Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft: Band 63 2019 9783110638943, 9783110633009

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German Pages 611 [612] Year 2019

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Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft: Band 63 2019
 9783110638943, 9783110633009

Table of contents :
Inhalt
TEXTE UND DOKUMENTE
Zwischen Briefen und Exzerpten: Charlotte Schillers Lektüren
Metaphern des Lebens in Gerhart Hauptmanns Briefen an Otto Brahm. Eine Nachlese
Was ist antimilitaristische Literatur? Das Beispiel Der Hauptmann von Köpenick, mit einem unbekannten Kommentar Carl Zuckmayers
Der Begriff des Stils, 1968. Ein bisher unveröffentlichter Vortrag von Emil Staiger
TEXT UND BILD
»Franz Kafka liest den Kübelreiter«. Ein Porträt des Autors als Autorenporträt?
Ricarda Huch und Sophie von Scheve: Das Marbacher Porträt
AUFSÄTZE
Emilias Andacht und Gretchens Gewissen. Goethes Auseinandersetzung mit Lessing in der Arbeit an der Faust-Tragödie
Journalpoetik. Kleists Erdbeben in Chili in Cottas Morgenblatt
Konstellationen der Zeitschrift – Die Amerikaberichterstattung in Cottas Morgenblatt für gebildete Stände/Leser (1807–1865).
Epigonalität. Anspruch und Scheitern in Karl Gutzkows Roman Wally, die Zweiflerin (1835)
»Das ist auch wohl Poesie!« Dinge sammeln und Gedichte schreiben bei Eduard Mörike
Eine entschlafene Zeitschrift (1911). Franz Kafkas Rezension der Zweimonatsschrift Hyperion (1908–1910) als frühe Poetik
Stimme, Varianz: Paul Celan liest in Jerusalem
»Es gibt kein richtiges Leben im valschen« – die Neue Frankfurter Schule und ihr komisierender Umgang mit Theodor W. Adorno bei Robert Gernhardt und Eckhard Henscheid
BERICHTE
Marbacher Schiller-Bibliographie 2018
Marbacher Vorträge
How far away was L.A.? Thomas Mann in Pacific Palisades 1942/43. Rede zur Eröffnung der Ausstellung Thomas Mann in Amerika am 22. November 2018
Für welche Zukunft sammeln wir? Schillerrede am 11. November 2018
ff oder F.f. Rede zum Abschied von Ulrich Raulff am 28. November 2018
Letzte Sätze oder Vom Aufhören. Abschiedsvortrag am 28. November 2018
Öffentliche Urteilskräfte und ihr Literaturarchiv. Rede zur Amtseinführung am 14. Februar 2019
Deutsche Schillergesellschaft
Jahresbericht der deutschen schillergesellschaft
Anschriften der Jahrbuch-Mitarbeiter
Zum Frontispiz
Impressum

Citation preview

jahrbuch der deutschen schillergesellschaft

Handschrift Eduard Mörikes mit einem unbekannten Gelegenheitsgedicht und einer Zeichnung von seiner Hand (DLA Marbach)

jahrbuch der deutschen schillergesellschaft internationales organ für neuere deutsche literatur im auftrag des vorstands herausgegeben von alexander honold ⋅ christine lubkoll steffen martus ⋅ ulrich raulff ⋅ sandra richter 63. Jahrgang 2019

de gruyter

ISBN 978-3-11-063300-9 e-ISBN (PDF) 978-3-11-063894-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-063514-0 ISSN 0070-4318

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der ­ Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar © 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG., Lemförde Druck und Bindung: Pustet, Regensburg www.degruyter.com

inhalt texte und dokumente HELENE KRAUS

Zwischen Briefen und Exzerpten: Charlotte Schillers Lektüren . . . . . . . . . . . . .

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PETER SPRENGEL

Metaphern des Lebens in Gerhart Hauptmanns Briefen an Otto Brahm. Eine Nachlese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

TILMAN VENZL

Was ist antimilitaristische Literatur? Das Beispiel Der Hauptmann von Köpenick, mit einem unbekannten Kommentar Carl Zuckmayers . . . . . . . . 59

JØRGEN SNEIS

Der Begriff des Stils, 1968. Ein bisher unveröffentlichter Vortrag von Emil Staiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93

text und bild SABINE FISCHER

»Franz Kafka liest den Kübelreiter«. Ein Porträt des Autors als Autorenporträt?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

MICHAEL STOLLEIS

Ricarda Huch und Sophie von Scheve: Das Marbacher Porträt . . . . . . . . . . . . . 145

aufsätze DOROTHEA VON MÜCKE

Emilias Andacht und Gretchens Gewissen. Goethes Auseinandersetzung mit Lessing in der Arbeit an der Faust-Tragödie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165

VI

inhalt

ASTRID DRÖSE / JÖRG ROBERT

Journalpoetik. Kleists Erdbeben in Chili in Cottas Morgenblatt. . . . . . . . . . . . . . 197

MORITZ STROHSCHNEIDER

Konstellationen der Zeitschrift – Die Amerikaberichterstattung in Cottas Morgenblatt für gebildete Stände/Leser (1807–1865). . . . . . . . . . . . . . . . . 217

FELIX WOYWODE

Epigonalität. Anspruch und Scheitern in Karl Gutzkows Roman Wally, die Zweiflerin (1835). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

SARAH RUPPE

»Das ist auch wohl Poesie!« Dinge sammeln und Gedichte schreiben bei Eduard Mörike. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

GABRIELE VON BASSERMANN-JORDAN

Eine entschlafene Zeitschrift (1911). Franz Kafkas Rezension der Zweimonatsschrift Hyperion (1908–1910) als frühe Poetik . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

LORENZ WESEMANN

Stimme, Varianz: Paul Celan liest in Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

ANDREAS LUGAUER

»Es gibt kein richtiges Leben im valschen« – die Neue Frankfurter Schule und ihr komisierender Umgang mit Theodor W. Adorno bei Robert Gernhardt und Eckhard Henscheid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353

berichte NICOLAI RIEDEL

Marbacher Schiller-Bibliographie 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 385

marbacher vorträge MEIKE G. WERNER

How far away was L.A.? Thomas Mann in Pacific Palisades 1942/43. Rede zur Eröffnung der Ausstellung Thomas Mann in Amerika am 22. November 2018 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463



inhalt

VII

ISABEL PFEIFFER-POENSGEN

Für welche Zukunft sammeln wir? Schillerrede am 11. November 2018. . . . . . . 473

JAN BÜRGER

ff oder F.f. Rede zum Abschied von Ulrich Raulff am 28. November 2018 . . . . . 483

ULRICH RAULFF

Letzte Sätze oder Vom Aufhören. Abschiedsvortrag am 28. November 2018. . . 491

SANDRA RICHTER

Öffentliche Urteilskräfte und ihr Literaturarchiv. Rede zur Amtseinführung am 14. Februar 2019 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 503

deutsche schillergesellschaft SANDRA RICHTER

Jahresbericht der Deutschen Schillergesellschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513

Anschriften der Jahrbuch-Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597 Zum Frontispiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 599 Impressum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 602

TEXTE UND DOKUMENTE

helene kraus

zwischen briefen und exzerpten: charlotte schillers lektüren Sie habe »eine Art heftige Sehnsucht recht viel zu treiben, u. habe auch schon wieder sehr viel geleßen, […] eine ganze Bibliothek durchgeleßen«1, räsonierte Charlotte Schiller in einem Schreiben an ihren Freund, den Bibliothekar Friedrich August Ukert im Februar 1809. Dass Charlotte Schiller, die 1766 im thüringischen Rudolstadt als Charlotte von Lengefeld geboren wurde und 1790 den Dichter Friedrich Schiller heiratete, zeitlebens nicht nur »sehr viel geleßen«, sondern auch geschrieben hat, zeigt ihr umfangreicher Nachlass, der – wie der Schiller-Bestand insgesamt – im Deutschen Literaturarchiv in Marbach sowie im Goethe- und Schiller-Archiv in Weimar verwahrt wird. Überliefert sind Romane und Dramen, Gedichte, autobiografische Schriften und theoretische Arbeiten, Übersetzungen, 5000 ein- und ausgegangene Briefe sowie ein Konvolut handschriftlich notierter Lektüreexzerpte. Die Leserin, Dichterin und Übersetzerin Charlotte Schiller stand insbesondere im Fokus der Forschung der letzten zehn Jahre. Reduzierten ältere sowie moderne, populärwissenschaftliche Darstellungen2 Schiller auf ihre Rolle als Dichtergattin, forcierten neuere biografische Arbeiten3 seit Gaby Pailers 2009 1

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Charlotte Schiller an Friedrich August Ukert, Brief vom 25.  Oktober 1809 (Im Folgenden zitiert: C. S.), in: GSA 83/1928. (GSA = Goethe- und Schiller-Archiv Weimar; im Folgenden zitiert: GSA). Dieses »klassische« Bild skizziert zuerst Charlotte Schillers Schwester Caroline von Wol­ zogen. Vgl. [Caroline von Wolzogen,] Schillers Leben, verfaßt aus Erinnerungen der Familie, seinen eigenen Briefen und den Nachrichten seines Freundes Körner. Zwei Teile, Stuttgart u.  a. 1830. In dieser Nachfolge stehen u.  a.: Eva Gesine Baur, »Mein Geschöpf musst du sein«. Das Leben der Charlotte von Schiller, Reinbek 2006; Kirsten Jüngling, Schillers Doppelliebe. Die Lengefeld-Schwestern Caroline und Charlotte, Berlin 2005; Hansjoachim Kiene, Schillers Lotte. Porträt einer Frau in ihrer Welt, Düsseldorf 1984; Ursula Naumann, Schiller, Lotte und Line. Eine klassische Dreiecksgeschichte, Berlin 2014. Vgl. u.  a. »Ich bin im Gebiet der Poesie sehr freiheitsliebend«. Bausteine einer intellektuellen Biographie Charlotte von Schillers, hg. von Helmuth Hühn, Ariane Ludwig und Sven Schlotter, Jena 2015; »Damit doch jemand im Hause die Feder führt.« Eine Biographie in Büchern, ein Leben in Lektüren, hg. von Silke Henke und Ariane Ludwig, Weimar 2015.

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helene kraus

erschienener Monografie Charlotte Schiller. Leben und Schreiben im klassischen Weimar4 deren schriftstellerische Aktivitäten. Dieses differenzierte Bild wurde durch Pailers Veröffentlichung der Literarischen Schriften5 ergänzt und soll in einer Edition aller brieflichen Zeugnisse komplettiert werden.6 Die weitgehend unerschlossenen Zeugnisse der lesenden Charlotte Schiller erweisen sich als gewinnbringendes Material für rezeptionsästhetische Analysen.7 Der folgende Beitrag intendiert  – rekurrierend auf sozialhistorischen Studien zu Lese- und Exzerpierpraktiken Jean Pauls, Johann Joachim Winckelmanns oder Johann Gottfried Herders – ,8 die Perspektive um weibliche Lektüreformen zu erweitern und an Charlotte Schillers Beispiel zu zeigen, was, wie und mit welcher Intention eine Frau um 1800 gelesen hat. Als Quellen der rezeptiven Erschließungsarbeit dienen persönliche Dokumente wie Notizen, Exzerpte oder Briefe, bibliothekarische Ausleihverzeichnisse sowie Bücher in Privatbibliotheken, die in ihrer Gesamtheit Lese- und Arbeitsweisen sichtbar machen. Charlotte Schillers Lektüren werden zunächst anhand von Exzerpten kategorisiert, um eine Art virtuelle Bibliothek zu rekonstruieren. Auf dieser Basis lassen sich die Entwicklung von Arbeits- und Textumgangsformen untersuchen (Kap. I). Die kommunikative Funktion der schriftlichen Lesepraxis wird anhand eines zwischen 1807 und 1820 verfassten, bislang unberücksichtigten Briefwechsels exemplifiziert (Kap. II). Die erstmals hier in Teilen gedruckte Korrespondenz mit Friedrich August Ukert gibt Aufschlüsse über Charlotte Schillers ›Witwenzeit‹ und über ihr Leben ›nach Friedrich Schiller‹.

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Gaby Pailer, Charlotte Schiller. Leben und Schreiben im klassischen Weimar, Darmstadt 2009. Charlotte Schiller. Literarische Schriften, hg. von Gaby Pailer, Darmstadt 2016. Vgl. Ariane Ludwig, Einleitung, in: »Damit doch jemand im Hause die Feder führt«, S. 12. Im Sinn einer empirischen Literaturwissenschaft plädieren Katja Mellmann und Marcus Willand für historische Rezeptionsanalysen, demnach die »Frage, wie ein Werk gelesen wurde«, durch welche das »Quellenstudium des Historiker[s]« fokussiert wird. Vgl. Katja Mellmann und Marcus Willand, Historische Rezeptionsanalyse. Zur Empirisierung von Textbedeutungen, in: Empirie in der Literaturwissenschaft, hg. von Philip Ajouri, Katja Mellmann und Christoph Rauen, Münster 2013, S. 263–281, hier: S. 264  f. Als wichtige Referenz dient die Exzerpierforschung, z.  B. Lesen, Kopieren, Schreiben. Lese- und Exzerpierkunst in der europäischen Literatur des 18.  Jahrhunderts, hg. von Elisabeth Décultot, übersetzt aus dem Französischen, Berlin 2014; Exzerpt, Plagiat, Archiv. Untersuchungen zur neuzeitlichen Schriftkultur, hg. von Elisabeth Décultot und Helmut Zedelmaier, Halle 2017.



zwischen briefen und exzerpten: charlotte schillers lektüren

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I. Exzerpierpraxis und Wissensaneignung »Sentenzen auf Karten geschrieben von Charlotte von Schiller. Ein theures Andenken« vermerkt Charlotte Schillers Tochter und Nachlassverwalterin Emilie von Gleichen-Rußwurm in einem mit 149 Karteikarten bestückten Holzkästchen.9 In diesem im Goethe- und Schiller Archiv verwahrten Objekt befinden sich meist einseitig notierte deutsche, französische und englische Zitate und Aphorismen. Vereint sind unter anderem Maximen und Lebensweisheiten von Aristoteles, Platon, Euripides, Johann Wolfgang von Goethe, Friedrich Schiller, Germaine de Staёl-Holstein, Johannes von Müller, Voltaire, Francis Bacon und Martin Luther. Die Gedankensammlung bildet innerhalb der überlieferten Lektürezeugnisse nicht nur deshalb eine Ausnahmeerscheinung, weil sie im Vergleich zu anderen Manuskripten dieses Bestandes nicht unsystematisch auf einzelnen Blättern und Bögen unterschiedlichen Formats steht, sondern auf gleich groß beschnittenen, materiell stabilen Karteikarten in einer eigens dafür vorgesehenen Box tradiert wurde. Es ist heute zwar nicht mehr sicher festzustellen, ob das mit Raffaels Putten10 verzierte Schatzkästchen von Charlotte Schiller selbst oder posthum angelegt wurde. Dennoch lassen zumindest die formatähnlich konzipierten Karten auf eine zielgerichtete Archivierung Charlotte Schillers schließen und verweisen auf einen exponierten Status.

1. Gegenstand: Einblicke in Schillers virtuelle Bibliothek Die umfangreiche Exzerpierarbeit Charlotte Schillers ist auf über eintausend handschriftlich beschriebenen Blättern dokumentiert, die Rückschlüsse auf deren Lektüren erlauben. Die Lesefrüchte gleichen einer »handgeschriebenen 9 Lektürekästchen Charlotte Schillers. Vgl. GSA 83/2134. 10 Die Außenseite der Holzschatulle zeigt die beiden Engel der Sixtina aus Raffaels Gemälde Die Sixtinische Madonna gespiegelt, die ab ca. 1815 auf Alltagsgegenständen zirkulierten. Johann Heinrich Meyer, bei dem Charlotte Schiller 1805 Kunstvorlesungen besuchte, verwendete einen der beiden Engel für die Nachempfindung von Carraccis »Genius des Ruhms« 1796. Das ursprünglich für die Ausstattung des Römischen Hauses in Weimar erstellte Gemälde fungierte schließlich für die Deckendekoration der Herzoglichen Bibliothek. Charlotte Schiller könnte durch Meyer mit den beiden Putten in Berührung gekommen sein. Vgl. Julia Bock, Die stille Macht vertrauter Motive. Bewusste und unbewusste Adaptionen, Zitationen und Wahrnehmungen von Kunst in der Populärkultur und ihr möglicher Nutzen für die Museumspädagogik, Göttingen 2013, S. 135–146. Derartige Kästchen kursierten im theologischen Kontext. Für den Hinweis danke ich Annika Hildebrandt. Vgl. Paul Raabe, Goethe und Bogatzky, in: Goethe und der Pietismus, hg. von Hans-Georg Kemper und Hans Schneider, Tübingen 2001, S. 1–11, hier: S. 6.

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helene kraus

Abb. 1: Lektürekästchen Charlotte Schillers, Goethe- und Schiller-Archiv Weimar

Bibliothek«, wie sie bereits seit der Antike bekannt ist.11 Schiller exzerpierte aus unterschiedlichen Literaturen: – griechisch-lateinisch (u.  a. Aristoteles, Aischylos, Homer, Petrarca, Platon, Tacitus), – deutsch (u.  a. Arnim, Fouqué, Goethe, Heinse, Klopstock, Körner), – französisch (u.  a. Lespinasse, La Fontaine, Staël-Holstein), – englisch (u.  a. Byron, Hobbes, Macpherson, Marlowe, Pascal, Pope).

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Vgl. Elisabeth Décultot, Einleitung, in: Lesen, Kopieren, Schreiben, S. 13.



zwischen briefen und exzerpten: charlotte schillers lektüren

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Zudem wertete sie Abhandlungen aus ganz unterschiedlichen Fachgebieten aus: – Theologie (u.  a. Augustinus, Leibniz, Luther, Villers), – Philosophie (u.  a. Garve, Fichte, Herder, Jacobi, Kant, Schelling), – Literatur- und Kunstgeschichte, Ästhetik (u.  a. Eichhorn, Schlegel, Winckelmann) – Geschichte (u.  a. Dippoldt, Guibert, W. Humboldt, Mallet, Marmontel, Millot, Müller) – Geographie (u.  a. Chateaubriand, Pausanias), – Naturwissenschaft und Medizin (u.  a. Buffon, Hufeland, A. Humboldt, Kluge, Lavater, Ritter, Rousseau, Saint-Pierre, Schubert).12 Scheint sich Charlotte Schiller in den 1780er Jahren primär für literarisch-philosophische Schriften antiker wie zeitgenössischer deutsch-, englisch- und französischsprachiger Autor(inn)en interessiert zu haben,13 wird das Spektrum nach 1805 auf die Bereiche Theologie, Geschichte, Literatur- und Kunstgeschichte, Politik, Philosophie extendiert bzw. intensiviert.14 12

Die Kategorisierung folgt der Rekonstruktion der Schiller Privatbibliothek: Vgl. Andreas Wistoff, Schillers Bibliothek. Versuch einer Rekonstruktion. Zusatzdruckwerk zum 41. Band von Schillers Nationalausgabe (NA), hg. von Andreas Wistoff, [Weimar] 2009. 13 Unter den Signaturen GSA 83/1987–2008 werden im Goethe- und Schiller Archiv Weimar Charlotte Schillers Literaturauszüge aus jüngeren Jahren« (d.  i. bis ca. 1805) verwahrt. Darin befinden sich u.  a. Abschriften und Exzerpte zu Buffon, Dalberg, Euripides, Locke, Longinus, Macpherson, Ovid, Petrarca, Pope, Schlosser, Seneca, Sterne, Stolberg, Vicqd’Azyr. Konkret konnten folgende exzerpierte Autoren und Titel ermittelt werden: [Anonym,] Abhandlung über alle Gegenstände der Kriegswissenschaft (1787), Versuch über den tugendhaften Mann (1787), Reisen in mehrere russische Gouvernements in den Jahren 178*, 1801, 1807 und 1815; Abbt, Vermischte Werke; Aischylos, Agamemnon; Garve, Sammlung einiger Abhandlungen (1779); Goethe, Gedichte (Die Geschwister; Zeitmaß; Philomele; Einsamkeit; Dem Ackermann; Die Natur. Ein Fragment); Goldsmith, Edwin and Angelina. A Ballad (1762); Henning, Philosophische Versuche (1780); Herder, Gott. Einige Gespräche (1787), Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784–91); La Fontaine, Les deux Pigeons. (1678); La Roche, Tagebuch einer Reise durch die Schweiz. (1787); Leibniz, Systéme nouveau de la nature (1695); Salis, Ulysses (1781); Schiller, Die Räuber (1782), Don Karlos (1787); Shaftesbury, Die Sitten-Lehrer oder Erzählung philosophischer Gespräche (1745); Shakespeare, Hamlet (1603); Upton, Ben and Kate of Invermay. Musical Dialog (1787). 14 Chronologie der Lektüreexzerpte: Nicht datierte, aufgrund von Schriftanalyse nach 1805 vermutete Entstehung: Buffon, Allgemeine Naturgeschichte, Übersetzung (1769); Camões, Sonette; Cazotte, Œuvres badines et morales (1788); Marlowe, The tragical history of Doctor Faustus (1604); François; Millot, Éléménts de l’histoire de France, depuis Clovis jusqu’ à Louis XV. (1767); Müller, Allgemeine Aussicht über die Bundesrepublik im Schweizerland (1776–1771); Rousseau, Lettres sur la Botanique (1771–1773); Tacitus, Annales; Vergil, Aeneis.

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helene kraus

Nicht datierte, aber aufgrund des Publikationsjahres der exzerpierten Schrift nach 1805 entstandene Exzerpte: Byron, The works of the Night Horrath (1816), Don Juan (1824); Motte-Fouqué, Kriegsgedicht; Fries, Von deutschen Bund und deutscher Staatsverfassung (1816), Wissen, Glaube, Ahndung (1805); Goethe, Gedichte; Heinse, Ardinghello, und die glückseligen Inseln (1794); Pausanias, Beschreibung Griechenlands; Tieck, Leben und Tod der heiligen Genoveva (1800); Wolf, Rede bei G.[oethe]; Maturin, Bertram or the castle of St. Aldobrand (1816). Nach Jahreszahlen erstellte Exzerpte: 1800: Alfieri, Vita di Vittorio Alfieri. 1802: Staёl-Holstein, Delphine. 1803: Hesiod; 1805: Diderot, Lettre sur les aveugles l’usage de ceux qui voient (1749); Diderot: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (1751–1780); Leibniz; Villers, Essai sur l’esprit et l’influence de la réformation de Luther (1808); Mallet, Historien; Marmontel, Nouveaux contes moraux par Marmontel (1765), Mémoires de Marmontel (1804); Plotin; Azyr, Nestors Grab. 1806: Augustinus; Aristoteles, Politique; Florus; Livius; Goethe, Winckelmann; Guibert, Éloge du Roi de Prusse (1788); Heinse, Hildegard von Hohenthal (1804); A. Humboldt, Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse (1806); Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798); Macpherson. 1807: Ancillon; Philemon; Paul, Levana oder Erziehlehre (1807); Schelling; Staёl-Holstein, Corinne. 1808: Marmontel, Memoires des Marmontel; Diderot, Sur les femmes, De l’interprétation de la nature (1753); Schelling, Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kriticismus (1795); Sismondi, Le grand Dictionnaire historique. 1809: Ancillon; Pindar; Lespinasse, Lettres de Mademoiselle de Lespinasse (1776); Fichte, Reden an die deutsche Nation (1808); Weiler; [Anonym], Sur les lettres d’allemagne; Müller, Vierundzwanzig Bücher Allgemeiner Geschichte, besonders der Europäischen Menschheit; Kepler; A. W. Schlegel, Trinklied. 1810: Barca, Standhafter Prinz; Klopstock, Die höheren Stufen, Briefe; Vesta, Kleine Schriften zur Philosophie des Lebens; Ritter, Fragmente aus dem Nachlass eines jungen Physikers (1810); Schelling, Philosophische Schriften (1809); Winckelmann. 1811: Müller, Briefe aus Genf und aus Bern (1784); A. W. Schlegel, Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur (1809–1811); Winckelmann, Geschichte der Kunst des Alterthums (1764), Allegorie, Was ist Religion?; Villers, Coup-d’œil sur les universités et le mond d’instruction publique de l’Allemagne protestante (1808). 1812: Hufeland, Guter Rat an Mütter über die wichtigsten Punkte der physischen Erziehung der Kinder in den ersten Jahren (1803); Lichtenberg; Müller. 1813: Augustinus; Chateaubriand, Le Génie du christianisme (1802); Cottin, Mathilde; Fénelon, Dialogues sur l’éloquence (1685); Körner, Jägerlied; Staël-Holstein, De l’Allemagne. 1814: Lavater, Physiognomische Fragmente; Pindemonte; Dippoldt, Skizzen der allgemeinen Geschichte. Vorlesungen (1811). 1815: Fichte: Über den Begriff des wahrhaften Krieges (1815); Bruno; Gall, Medizinische Vorlesungen; Kind. 1816: Platon, Protagoras; Theaitetos; Bruno; Fichte, Die Bestimmung des Menschen; Vergil, Aeneis; Pradt; Plank, Geschichte; Rochejaquelein, Mémoires de madame la marquise de La-Rochejaquelein (1772–1857). 1817: Jacobi, Etwas das Lessing gesagt hat (1782); Pascal; Platon, Gorgias; Sokrates, Phaidros; Saint-Pierre, Harmonies de la nature; A. W. Schlegel, Über den gegenwärtigen Zustand der Indischen Philologie; Zinzendorf. 1818: Goethe, Italienische Reise; Wetzel, Schriftproben; Sismondi, Histoire des républiques Italiennes du Moyen Age; Sokrates; Vogt, Rheinische Geschichten und Sagen (1817); Sailer; Schelling, Philosophie und Religion (1804), Ueber die Gottheiten von Samothrace (1818); Schlosser, Geschichte der Familie Herder; Schubert, Ansichten von den Nachtseiten der Naturwissenschaft; Dippoldt,



zwischen briefen und exzerpten: charlotte schillers lektüren

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In der ersten Rezeptionsphase standen vermutlich neben Thomas Abbts Vermischten Werken und Christian Garves Sammlung einiger Abhandlungen besonders Gedichte, Reisebeschreibungen und dramatische Arbeiten Jean de La Fontaines, Sophie von La Roches, Friedrich Schillers, Shakespeares und Uptons im Fokus des privaten Lesepensums. In späteren Jahren nach 1805 wurden sorgfältig Auszüge aus Denis Diderots Lettre sur les aveugles à l’usage de ceux qui voient, L’Encyclopédie, Sur les femmes und Pensées de l’interpretation de la nature, sowie Alexander von Humboldts Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse und Ansichten der Natur erstellt. Exzerpte aus den Jahren 1809 bis 1819 protokollieren akribisch philosophische Studien zu Fichtes Reden an die deutsche Nation, Über den Begriff des wahren Krieges und Die Bestimmung des Menschen sowie Schellings Philosophischen Schriften, Philosophie und Religion und Ueber die Gottheiten von Samothrace. In den Bereichen Geschichte und Politik wurden Jacob Friedrich Fries’ Wissen, Glaube, Ahndung, Von deutschem Bund und deutscher Staatsverfassung, Johannes von Müllers Bücher Allgemeiner Geschichte und Hans Carl Dippoldts Vorlesungen zu Skizzen der allgemeinen Geschichte wahrgenommen, neben naturphilosophischen Abhandlungen von Bernardin de Saint-Pierre und Gotthilf Heinrich von Schubert auch François-Réne de Chateaubriand sowie François de Fénelon gelesen. Für 1815 sind ausführliche Mitschriften zu Franz Joseph Galls medizinischen Vorlesungen über Blutzirkulation belegt, in Rekurs auf Diskussionen mit Goethe 1822 Überlegungen über Mineralogie angereiht. Schillers vielfältige Interessen entsprachen nicht den Normen zeitgenössischer Lektüreempfehlungen wie sie für Damen in moralischen Wochenschriften pro­pa­giert wurden.15 Erste Vergleiche mit Karoline von Günderrodes und Sophie von La Roches Rezeptionszeugnissen verifizieren aber, dass sowohl naturwissen-

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Leben Karls des Großen beschrieben durch H. K. Dippoldt (1810). 1819: Chateaubriand, Réflexions Politiques; Eichhorn, Geschichte der Künste und Wissenschaften (1796); Kluge, Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel (1815); Goethe, Über Kunst und Altertum; Hamann, Golgatha und Scheblimini; Klopstock, Grabinschrift Graf L. F. Stollberg; Reventlow, Gedichte; Saint Martin; Schelling; Windischmann. 1820: Sappho, Oden; Boileau-Despreaux, Violiu sur Éloge de Despreaux; Cellerier, La femme chrétienne; Dante Alighieri, Comedia. 1821: Joseph von Görres; Petrarca. 1822: Azais, Jugement impartial sur Napoléon (1820); Azais, Des Compensations dans Les Destinées Humaines par H. Azais (1818); Haller; Pindar; Goethe. 1823: Kant, Über Synthesis und Analysis; Goethe; Lavater, Grabinschrift. Vgl. Gunter Grimm, »Halb zog sie ihn, halb sank er hin …« Lektüre im Briefwechsel zwischen Johann Gottfried Herder und Caroline Flachsland, in: Geselligkeit und Bibliothek, S. 115– 133, hier: S. 132; Ariane Ludwig, Einleitung, S. 11.

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schaftliche Gegenstände als auch die konventionelle Lesemethode des Exzerpierens kein exklusiv männliches Terrain bildeten.16 Die Ars excerpendi etablierte sich im Zuge des Buchdrucks seit dem 16. Jahrhundert zu einem festen Bestandteil humanistischer Gelehrsamkeit, deren Entwicklung durch zahlreiche Exzerpieranleitungen begleitet wurde. Die mit starken Reglementierungen verbundene collectanea-Tradition sieht eine nach festen Kategorien kodifizierte Struktur von Exzerpten vor, die im Verlauf des 18.  Jahrhunderts aufgegeben wird. Die Kritik der Aufklärer, die Exzerpieren als Verlust von Originalität deklarieren, beförderte den Übergang von der schematisierten Form der collectanea in die individuelle der miscellanea.17 Autoren wie Winckelmann, Herder und Jean Paul fertigten zwar auch um 1800 Lektüreexzerpte an, die jedoch nicht mehr humanistischen Mustern, sondern subjektbezogen Dimensionen folgen.18 Charlotte Schillers 1780 bis 1823 entstandene Handschriften sind in diesem Kontext zu verorten.

2. Rezeptive Erschließungsarbeit Die miscellanea-Sammlung Charlotte Schillers besteht aus meist losen, nicht nummerierten Blättern und Bögen von unterschiedlichen Formaten und Umfängen, die nur rudimentär mit Faden geheftet und im Einzelfall (etwa Notate aus Goethes Œuvre) als kleines Notizbuch gebunden wurden. Die über eintausend Blatt umfassenden Manuskripte stehen teilweise mit, teilweise gänzlich ohne bibliografische Angabe; sind teils datiert, teils nicht datiert; bestehen sowohl aus flüchtigen, offensichtlich wahllos extrahierten Sentenzen und Versen als auch aus in Reinschrift säuberlich erstellten Abschriften ganzer Opera, die sich zielgerichtet einzelnen Autoren, Texten oder Themen widmen. Kurz: Das Konvolut

16 Freilich bleibt dies noch tiefgreifender zu prüfen. Günderrode las exzerpierend u.  a. naturphilosophische, religionsgeschichtliche, chemische, geografische Schriften. Zu La Roches Buchsammlung zählten neben belletristischen Texten ebenso naturwissenschaftlichmedizinische, naturphilosophische und historische Bücher und Enzyklopädien. Vgl. Walter Morgenthaler, Karoline von Günderrode. Sämtliche Werke und ausgewählte Studien. Historisch-kritische Ausgabe, Bd. 3, hg. von Walter Morgenthaler, Stroemfeld 1991, S. 313–361. Vgl. Barbara Becker-Cantarino, Die Lektüren Sophie von La Roches, in: Geselligkeit und Bibliothek. Lesekultur im 18. Jahrhundert, hg. von Wolfgang Adam und Markus Fauser in Zusammenarbeit mit Ute Pott, Göttingen 2005, S. 201–214, hier: S. 209–211. 17 Zur Geschichte des Exzerpierens: Vgl. Elisabeth Décultot, Einleitung, S. 7–47. 18 Beispielsweise gehören individuell erstellte Zettelkästen oder Register zu solchen Lektüreexzerpten. Vgl. Elisabeth Décultot, Einleitung, S. 24.



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erscheint als unsortierter Stapel, der nur bei genauerer Analyse gewisse taxonomische Beobachtungen zulässt.19 Die Archivalien veranschaulichen a) sukzessiv systematisches Exzerpieren; b) die Heterogenität der Lektüren; c) das Studium primär theoretischer statt belletristischer Schriften; d) intensiv-wiederholende, über Jahre andauernde Rezeptionen; e) die kombinierte Wahrnehmung mehrerer Texte eines Fach- oder Themenkomplexes; f) einen dokumentarischen statt wertenden Charakter der Lektürenotizen.

a) Zunehmende Systematik Erstaunlicherweise wurden etwa zwei Drittel der Archivalien von Charlotte Schillers Hand datiert, wodurch sie sich von anderen Exzerptoren ihrer Zeit abgrenzt.20 Bis auf zwei Ausnahmen wurden die Exzerpte nachweislich zwischen 1805 bis 1823 erstellt. Folgt man der inventarmäßigen, auf Schriftvergleichen beruhenden Erschließungsarbeit des Goethe- und Schiller-Archivs, notierte Schiller etwa die Hälfte der nicht explizit mit Jahreszahlen versehenen Skizzen vor 1790.21 Das sowohl hinsichtlich Anzahl als auch Umfang geringere, vor 1800 erarbeitete Konvolut ist weder mit Daten, noch Titeln oder Verfassernamen der Vorlagen versehen. Eine zielbewusste Rezeption wird ab 1800 ablesbar: Anzahl und Umfang der Materialien potenzieren sich, handschriftliche Annotationen werden sukzessive mit bibliografischen Angaben angereichert, die Datierung der Exzerpte konstituiert sich als elementarer Bestandteil. Die reglementierte Form kündigt die Bemühung um Systematik an, die bei Charlotte Schiller im Lauf der Zeit – diametral zu Winckelmanns und Jean Pauls Praxis – zu- statt abnimmt.22 Dies dürfte primär mit deren Applikation zusammenhängen: Anders als die beiden genannten Autoren verfolgte Charlotte Schiller mit ihrer Sammlung wohl kein konkre19 Dass dieses Sammelsurium selbst für die Verfasserin schwer handhabbar war, gesteht Schil­ler gegenüber Friedrich von Stein Ende 1807: »[Es] geschieht mir immer, daß ich, wenn ich eine Poesie suche, Rechnungen finde, und will ich eine Quittung […] so finde ich zuerst immer ein paar Poesien.« (GSA 122/99a,3). 20 Winckelmann, Jean Paul oder Herder datierten ihre Exzerpte nicht, Wilhelm Heinse teilweise. Vgl. Lesen, Kopieren, Schreiben. 21 Christa Rudnik betont, dass in den 1780er Jahren entstandene Exzerpte »sich von der Schrift her deutlich von späteren Aufzeichnungen abheben.« Vgl. Christa Rudnik, Literarische Exzerpte Charlotte von Schillers ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte um 1800. Versuch einer summarischen Auswertung der Quellen aus dem Goethe- und Schiller-Archiv, in: Im Vorfeld der Literatur. Vom Wert archivalischer Überlieferung für das Verständnis von Literatur und ihrer Geschichte, hg. von Karl-Heinz Hahn, Weimar 1991, S.  140–147, hier: S. 141. 22 Vgl. Elisabeth Décultot, Einleitung, S. 25–27.

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tes Projekt. Durchaus wurden immer wieder Übersetzungen vorgelegt, eigene Arbeiten durch fremde Texte inspiriert,23 dennoch lässt sich für den Großteil der exzerpierten Quellen keine unmittelbare Verwendung für die schriftstellerische Produktivität Schillers feststellen. Vielmehr dürfte ein autodidaktisch fokussierter Wissensdrang Hintergrund des exzerpierenden Lesens gewesen sein.

b) Heterogenität der Lektüren »[M]eine Philosophie ist die Welt erkennen zu wollen«24 vermerkt Charlotte Schiller 1817 in ihrem Tagebuch. Das hier formulierte Programm plausibilisiert, dass sich Schillers heterogene Lektüren gerade nicht auf bestimmte Themen oder Präferenzen für gewisse Schriftsteller oder Disziplinen reduzieren lassen. Ihr Rezeptionsspektrum akzentuiert ein möglichst divergentes Interesse, das einem interdisziplinär-universellen Bildungsanspruch entspricht. Das nach allumfassender Erkenntnis strebende Postulat scheint sich an Friedrich Schillers Konzept des ›philosophischen Kopfes‹ zu orientieren. In seiner 1789 gehaltenen Jenaer Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? kreiert Schiller diesen Typus als Antagonismus des sogenannten »Brodgelehrten«: Verliert letzterer durch fachliche Spezialisierung den Blick für das große Ganze, vermag nur der auf Interdisziplinarität ausgerichtete philosophische Kopf Verbindungen zwischen den Wissenschaften herzustellen, strebt nach einer höheren Erkenntnis der Welt, denn da, »[w]o der Brodgelehrte trennt, vereinigt der philosophische Geist.«25 Wie eng die literarische Zusammenarbeit zwischen Charlotte und Friedrich Schiller war, lassen besonders spätere Erinnerungen Charlottes erahnen.26 Vier Jahre nach Friedrichs Tod beklagt sie, nun »oft in Büchern das zusaen suchen [zu müssen], worauf [sie, H.K.] eine einzige mündliche Unterhaltung mit Schiller brachte.« (C. S., 12. 2. 1809) Eine analoge poetische wie wissenschaftliche Fokussierung beider Partner supponieren Rekonstruktionen der Schiller’schen Biblio23 Exzerpte aus Germaine de Staёl-Holsteins Corinne und Delphine waren evtl. für einen Aufsatz vorgesehen. Vgl. Christa Rudnik, Literarische Exzerpte, S. 145. 24 Charlotte Schiller, Tagebuch, »Den May 1817«, in: GSA 83/1944. 25 Friedrich Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? Eine akademische Antrittsrede, in: Schiller Nationalausgabe (NA). Begründet von Julius Petersen, hg. im Auftrag der Nationalen Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar (Goethe- und Schiller-Archiv) und des Schiller-Nationalmuseums in Marbach von Lieselotte Blumenthal und Benno von Wiese, Bd. 17, Historische Schriften, Bd. I, hg. von Karl-Heinz Hahn, Weimar 1970, S. 359–376, hier: S. 362. 26 Ob bzw. inwiefern Charlotte Schiller Friedrich Schiller assistierte, müssen weitere Untersuchungen klären.



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thek, deren Bestand in fachlicher wie auch thematischer Hinsicht mit Charlotte Schillers Lektüreauszügen korreliert. Vorhanden waren literarische, philosophische, historische, medizinische, geografische Journale und Bücher. Die von Charlotte Schiller rezipierten Autorinnen und Autoren waren tendenziell in der Privatbibliothek verzeichnet.27 Das mit Friedrich Schiller Diskutierte studiert sie nach 1805 schriftlich.

c) Theoretische Fokussierung Die Exzerptsammlung illustriert eine Konzentration auf theoretische Schriften. Zwar wurde aktuelle belletristische Literatur umfangreich rezipiert,28 exzerpiert aber primär theoretische Beiträge. Bezüglich Schellings Rede Ueber die Gottheiten von Samothrace wird etwa eine eingehende Textlektüre damit legitimiert, dass »man so etwas Gehaltreiches nicht flüchtig lesen kann, u. soll, denn dazu ist es auch nicht geschrieben, um nur Oberflächliche Eindrücke hervorzubringen.« (C. S., 20. 1. 1819) Offensichtlich wurden Lektüreabschriften insbesondere zu weniger leicht zugänglichen Schriften angefertigt, die eine differenzierte Beschäftigung geradezu einfordern. Allein die exzerpierende textuelle Wahrnehmung suggeriert, dass ein tieferes Textverständnis statt einer ephemeren Lektüre angestrebt wurde. Zusätzlich bestätigt sich dieser Eindruck durch wiederholende und über Jahre andauernde Rezeptionen.

d) Wiederholungslektüren Nach der Erwähnung einer »ergözenden« Tacitus-Relektüre reflektiert Schiller in einem Brief an Ukert die Beschäftigung mit den ein Jahr zuvor erschienenen Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft Gotthilf Heinrich von Schu­ berts, deren Beurteilung geradezu vernichtend ausfällt: Schließlich, so Schiller, »benuzen diese Herrn Naturphilosophen« im Grunde »abgerißne Stücken aus Goethes großen Ansichten.« Die Leserin bezweifelt, »ob sie weiter kommen?« und resümiert: »doch glaube ichs nicht.« (C. S., 24. 2. 1809) Dass diese vermutlich erste Berührung mit Schuberts Nachtseiten Charlotte Schiller nachhaltig prägen wird, veranschaulicht sich an der nachfolgenden Erschließung des Textes. Unter den Erinnerungsschriften tituliert ein Umschlag eines Manuskriptkonvoluts: Aus Schubarts Nachtseite der Natur wißenschaft. Die darin befind­lichen vierzehn Blätter belegen eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Schubert’schen 27 Vgl. Andreas Wistoff, Schillers Bibliothek. 28 Vgl. Ariane Ludwig, Eine Biographie in Büchern, ein Leben in Lektüren, in: »Damit doch jemand im Hause die Feder führt«, S. 13  f.

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Text als die kurze briefliche Erwähnung vermittelt. Mithin erfolgte die Rezeption der Nachtseiten nicht nur unmittelbar nach deren Publikation 1808, sondern mindestens auch 1816 und 1818. Überliefert das Schreiben an Ukert Charlotte Schillers zumindest anfänglich kritische Haltung gegenüber der naturphilosophischen Abhandlung, manifestiert sich in Form der persönlichen Skizze eine zehnjährige Rezeptionsgeschichte, die ebenso für andere gelesene Denker belegt werden kann. Verbunden mit der Wahrnehmung Schuberts war beispielsweise die umfassende Schelling-Rezeption, dessen Philosophische Schriften (1809), Philosophie und Religion (1804) sowie Ueber die Gottheiten von Samothrace (1818) Schiller nachweislich 1807, 1808, 1810, 1818 und 1819 schriftlich gelesen hat. Die Unabschließbarkeit der Lektüre wird zudem durch die fehlende bzw. fragile Bindung weniger Exzerpte pointiert. Die losen, heftartig ineinandergelegten Manuskripte deuten gleichsam den genetischen Charakter der Textrezeption an. Der Verstehensprozess lässt sich mithin nicht in eine geschlossene Form wie die der Heftung transferieren, die einzelnen Blätter sind potentiell immer erweiterbar.

e) Kombinierte Rezeption Die Exzerptsammlung konkludiert neben wiederholenden Lektüren kombinatorische Lesarten. Studieren Einzelanalysen französische Schriften von Ancillon, Byron, Chateaubriand, Diderot, Fénelon, Marmontel, Saint-Pierre, Sismondi, Staёl-Holstein und deutschsprachige von Kluge, Fries, Goethe, A. von Humboldt, Kant, Schelling, A. W. Schlegel, Schubert oder Winckelmann, nehmen verknüpfte Lektüren mehrere Texte und Autoren einer Disziplin, eines Diskurses oder Themas in den Blick. Unter den zusammengefügten Papierbögen finden sich handschrift­ liche Bemerkungen zu Fichte, Schelling und dem italienischen Renaissancephilosophen Giordano Bruno, die eine parallel-komplementäre Lesung induzieren. In einem zwanzig Seiten umfassenden Schriftstück zu Bruno wurden immer wieder Zitate aus Fichtes und Schellings Abhandlungen integriert.29 Das Zusammenspiel flankiert das von Schiller angestrebte tiefere Textverständnis, das neben der hermeneutischen Erschließung philosophisch-literarischer Kunstwerke deren Hintergründe und Referenzen erkennen will.30

29 Vgl. Charlotte Schiller, Literaturauszug zu Giordano Bruno u.  a., in: GSA 83/2020. 30 Intertextuelle Verfahren beobachtet Le Moёl für Wilhelm Heinse. Vgl. Sylvie Le Moёl, Die handgeschriebene Bibliothek Wilhelm Heinses, in: Lesen, Kopieren, Schreiben, S. 271–298, hier: S. 279.



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f) Dokumentation statt Wertung Der dokumentarische Charakter der Manuskripte lässt eine möglichst objektive, geradezu achtungsvolle Position der Leserin Charlotte Schiller gegenüber dem rezipierten Gegenstand erkennen, wie dies für die collectanea-Tradition charakteristisch war.31 Soweit sich dies aufgrund der ungenauen Provenienz nachweisen lässt, wurden exzerpierte Textauszüge wortgetreu wiedergegeben. Nur in wenigen Fällen sind Schriften – etwa englische Gedichte, die spracherwerbende Funktionen erfüllten32 – ganz übernommen worden.33 Die ständige Verfügbarkeit der exzerpierten Quelle durch Kopieren sowie inhaltliches Komprimieren scheint nach 1805 an Relevanz zu gewinnen. Die gleichzeitige Zunahme an Literaturauszügen bestätigt die bisherige Deutung, dass mit Friedrich Schillers Tod Charlotte Schillers produktive Phase beginnt.34 Der von der Forschung konstatierte Zeitmangel mag ein Grund sein, dass Charlotte Schiller vor 1805 kaum Lektürezeugnisse angefertigt, möglicherweise sogar weniger gelesen hat. Die parallel stärkere Nutzung öffentlicher Bibliotheksbestände ab 180835 könnte auf alternative Wege der Literaturbeschaffung nach Friedrich Schillers Tod verweisen. Die steigende Zahl geliehener Bücher korreliert mit der Expansion von Lektüreexzerpten. Für begrenzte Zeit verfügbare textuelle Artefakte wurden sukzessive manuell festgehalten, um zumindest eine in Ausschnitten zeitüberdauernde Anwesenheit zu imaginieren. Konnte Charlotte Schiller zwar auch nach 1805 auf die etwa 700-bändige Privatbibliothek ihres Mannes zurückgreifen, profitierte sie nicht mehr von dessen aktuellen Neuerwerbungen, die besonders durch freundschaftliche Ausleihen sowie Schenkungen zustande kamen. Das vorzugsweise Exzerpieren von Texten, die nicht im eigenen Buchbestand vorhanden waren,36 deutet neben Wissenserwerb und Textverständnis vor allem auf eine (ausschnittsweise) Sicherung der rezipierten Quellen hin, 31 Ähnlich auch bei Winckelmann. Vgl. Elisabeth Décultot, Einleitung, S. 33. 32 Vgl. Ariane Ludwig, Eine Biographie in Büchern, S. 14. 33 Vollständig abgeschrieben wurden z.  B. »Ben and Kate of Intermay« (GSA 83/2004) sowie Briefe von Lawrence Sterne (GSA 83/1996), die vermutlich aus einem englischen Journal übernommen wurden: Vgl. The english lyceum. A periodical work published by J. W. von Archenholtz, Volume the second, No. 5, November 1787. 34 Vgl. Gaby Pailer, Charlotte Schiller (2009), S. 144. 35 Dies belegen überlieferte Ausleihverzeichnisse der Herzogin Anna Amalia Bibliothek in Weimar. Vgl. Historische Ausleihjournale in der Herzoglichen Bibliothek in Weimar, M 2077 (5, 10, 11). Einen allgemeinen Überblick bietet: Stefan Hanß, Bibliotheksbesuche und Lesealltag in Weimar um 1800. Die Ausleihjournale der Herzoglichen Bibliothek Weimar, in: Weimar–Jena, die große Stadt: Das kulturhistorische Archiv, 3/1, hg. von Volker Wahl, Jena 2010, S. 5–28. 36 Vgl. Andreas Wistoff, Schillers Bibliothek.

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deren materielle Verfügbarkeit in Form des Exzerpts anvisiert wurde.37 Der soziale Statuswechsel von F. Schillers Ehefrau zu Schillers Witwe impliziert einen Wandel der intellektuellen Aktivitäten Charlotte Schillers. Die dadurch bedingte Lebensänderung zeigt Auswirkungen auf deren rezeptive Erschließungsarbeit, insofern als Lektüren vermehrt und systematischer schrift­lich fixiert werden. Briefliche Zeugnisse eruieren nicht nur die mnemonische Speicherung der Korpora, sondern zugleich deren Operationalisierbarkeit für den korrespondierenden Lektüreaustausch.

II. Kommunikative Funktion der exzerpierenden Lektüren: der Briefwechsel Schiller-Ukert Es können nicht alle Menschen Talente entwickeln, wie nicht alle Genie haben können, aber dem Geist ausbilden kann ein jeder, u. soll ein jeder nach dem Kreis der ihn umgiebt. (C. S., 5. 5. 1809) Der »Kreis«, der Charlotte Schiller umgibt, besteht aus Mitgliedern der Herzogfamilien und führenden Persönlichkeiten in Weimar, Rudolstadt und Jena wie Charlotte und Fritz von Stein, Goethe, Wieland, Herder, den Gebrüdern und Ehepaaren Schlegel und Humboldt, den Professoren Johann Jakob Griesbach und Lorenz Oken. In diesem Gesprächsumfeld ist auch die Brieffreundschaft mit dem Bibliothekar Friedrich August Ukert zu kontextualisieren, an den die oben rezitierten Zeilen im Mai 1809 adressiert sind. Ukert, der nach einer knapp einjährigen Anstellung als Hauslehrer und Erzieher der vier Schiller-Kinder Carl, Ernst, Caroline und Emilie sowie deren Cousin Wilhelm von Wolzogen Ende des Jahres 1807 nach Gotha versetzt wird, ist dort als herzoglicher Bibliothekar und Lehrer tätig. Der Wechsel nach Gotha ist mit einer wissenschaftlichen Laufbahn verbunden, Ukert publiziert geografische Arbeiten und tritt als Übersetzer spanischer, französischer und englischer Literatur hervor.38 Zwischen 1816 und 1846 veröffentlicht er vier Bände seines

37 Analog bei Herder und Jean Paul: Vgl. Hans Dieter Irmscher, Johann Gottfried Herders Exzerpte, in: Lesen, Kopieren, Schreiben, S.  187–198, hier: S.  189  f. Christian Helmreich: Die Geburt des Romans aus dem Geist der Gelehrsamkeit. Anmerkungen zu Jean Pauls Exzerptheften, in: Lesen, Kopieren, Schreiben, S. 243–270, hier: S. 251. 38 Friedrich August Ukert, »Ueber die Literatur Frankreichs im 18. Jahrhundert. Zwei Abhandlungen von Barante und Fay. Aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen herausgegeben« (1810), »Untersuchungen über die Geographie des Hekatäus und Demostes« (1814), »Bemerkungen über Homers Geographie« (1815).



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wohl bedeutendsten, jedoch fragmentarisch gebliebenen Opus’ Geographie der Griechen und Römer von frühester Zeit bis auf Ptolemäus. Die über dreizehn Jahre kontinuierlich geführte Korrespondenz mit Charlotte Schiller dürfte besonders in den Jahren zwischen 1808 und 1810 intensiv gewesen sein – etwa die Hälfte der überlieferten Manuskripte stammt aus diesem Zeitraum.

1. Austausch über Literatur Wir hätten manches zu besprechen, wenn wir uns wiedersähen, und ich könnte Ihnen vieles fragen, nach der alten Art und Weise, denn ich habe eigentlich wenige Freunde, mit denen ich so von allen sprechen kann, und die immer das lebendige Intereße an den Wißenschaften sich erhalten. (C. S., 5. 3. 1817) Wie Charlotte Schillers Brief im März 1817 an Ukert expliziert, intendiert die schriftliche Kommunikation bemerkenswerter Weise einen wissenschaftlichen Dialog.39 Mit Ukert, der »über so vieles schnell Auskunft geben« (C. S., 12. 2. 1809) kann, gewinnt Charlotte Schiller einen ausgewiesenen Experten auf dem Gebiet der Geografie des Klassischen Altertums, der zumindest teilweise den fehlenden intellektuellen Austausch mit Friedrich Schiller nach 1805 zu kompensieren vermag.40 Mit Aufmerksamkeit beobachtet Charlotte Schiller Ukerts Produktionen, freut sich »auf [seine] Abhandlung u. Taschenbuch« (C. S., 10. 6. 1810). Wiederholt insistiert sie: »Sagen Sie mir ja was sie lesen, und neues finden«, erkundigt sich nach aktuellen Lektüren, will konkret wissen, ob Ukert »Schellings neue Schriften gesehen« habe oder ihm »das Tagebuch eines jungen Physikers zu Gesicht gekoen« (C. S., 6. 12. 1809) ist. Nicht nur Ukert bewährt sich als Kontakt, auch er findet in Charlotte Schiller eine ebenbürtige Gesprächspartnerin, einen »wißenschaftlichen Umgang« (C. S., 12. 7. 1809), und wird nicht müde, die korrespondierende Freundin um eine Biografie Friedrich Schillers zu 39 Verglichen mit Johann Gottfried Herder und Caroline Flachsland, die v.  a. belletristische Texte besprochen haben. Vgl. Gunter Grimm, »Halb zog sie ihn, halb sank er hin …«, S. 132. 40 Dies suggeriert eine Briefstelle Charlotte Schillers an Friedrich Ukert vom 12. Februar 1809: »Aber das [xxx] viel umfaßende in Schillers Unterhaltung, gewöhnte mich auch // nach dem eben zu streben, wohin mich die Phantasie führte. Und ich muß jezt oft in Büchern das zusaen suchen, worauf mich eine einzige mündliche Unterhaltung mit Schiller brachte. – des wegen war mir Ihre Unterhaltung so lieb, lieber Ukert, weil ich nicht misverstanden wurde bey Ihnen. Und Sie selbst schnell die Räume der Iden durch laufen, weil Sie viel Stoff in sich haben. Sie konnten mir über so vieles schnell Auskunft geben, u. unser Gespräch war nicht leicht erschöpft.«

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bitten: »Wer giebt uns aber einmal von Schiller ein Leben? Möchten Sie nicht, liebe Frau Hofräthin41, wenn auch nur for einen ganz engen Kreis, einiges schriftlich niederlegen?«42 Fragen nach Charlotte Schillers Lektüren gehören ebenso zum klassischen Repertoire der Ukert’schen Briefe: »Haben Sie schon weiter in den N i e b e l u n ge n gelesen?« (F. U., 12. 2. 1808) oder »Jacobis neueste Schrift gesehen? Von den göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung?« (F. U., 22. 1. 1812). Von letzterer hat sich ein auf das Jahr 1812 datierter Literaturauszug Charlotte Schillers erhalten, der offenbar  – ähnlich wie bei Texten von A. v. Humboldt43 und Schelling44 – auf Ukerts Anregung45 verschriftlicht wurde. Dem Wunsch nach Mitteilung aktueller Lektüren wird meist entsprochen, insofern das Erkundigen nach neuen Vorschlägen das Geben eigener literarischer Hinweise sowie deren Bewertung inkludiert. So fordert Ukert Schiller dazu auf, »Kotzebues aelteste Geschichte Preußens« zu lesen, denn »es ist mehr als ich erwartete.« (F. U., 26. 3. 1810) Ganz ähnlich verfährt Schiller, wenn sie Ukert »ein sehr intreßantes Buch empfehlen will: Sur La Litterature du dix huitième Siecle. Im vorigen Jahr gedruckt.« (C. S., 7. 1. 1810) Der Empfehlung des anonym publizierten Titels, die übrigens in dem darauffolgenden Brief wiederholt wird (vgl. C. S., 10. 6. 1810), folgt unmittelbar deren Legitimation: »So etwas gedachtes u. klares über den Zu- // stand der Litteratur, u. über dem Einfluß der Litteratur in Frankreich, ist wohl nicht leicht erschienen.« (C. S., 10. 6. 1810). Charlotte Schiller inszeniert sich in den Schriften an Ukert als minutiös ­beobachtende Kritikerin ihrer Zeit, die den »recht rein[en] Schwanengesang« (C. S., 6. 12. 1809) von Johann Wilhelm Ritters Tagebuch eines jungen Physikers würdigt, bezüglich der Lettres de Melle de Lespinasse von einer »höchst merkwürdigen Lektüre« (C. S., 10. 6. 1810) berichtet oder Schellings »[e]igenthümliche Art«, seinen »Scharfsinn mit dem er alles behandelt« (C. S., 20. 1. 1819) beob-

41 Friedrich Schiller wird noch vor der Vermählung mit Charlotte von Lengefeld (22. 2. 1790) im Januar 1790 zum Hofrat ernannt. Vgl. Gaby Pailer, Charlotte Schiller (2009), S. 81. 42 Friedrich August Ukert an Charlotte Schiller, Brief vom 22. Januar 1812. (Im Folgenden zitiert: F. U.). Die Bitte nach einer Schiller-Biografie wird mehrfach verbalisiert. Dass Charlotte Schiller tatsächlich ein derartiges Projekt plante, bestätigt ihr handschriftlicher Fundus. Vgl. GSA 83/1657–1661. 43 Die Empfehlung des Textes erfolgte am 26. 6. 1808; ein auf 1808 datiertes Exzerpt liegt vor, in: GSA 83/2051. Zu Charlotte Schillers Humboldt-Lektüre vgl. Alexander Stöger, Humboldtlektüren, in: »Damit doch jemand im Hause die Feder führt«, S. 81–87. 44 Friedrich Ukert schickt die Rede in einem Brief an Charlotte Schiller vom 10.  Dezember 1818 mit; ein auf das Jahr 1818 datiertes Exzerpt findet sich in GSA 83/2091. Schiller nimmt wiederum Bezug zu dieser Schrift in einem an Ukert adressierten Brief vom 20. Januar 1819. 45 Die Empfehlung des Textes erfolgte am 22. Januar 1812. Ein auf 1812 datiertes Exzerpt liegt vor, in: GSA 83/2054.



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achtet. Bezüglich August Wilhelm Schlegels Dramatischen Vorlesungen rühmt sie die »Klarheit des Vortrags«, dass es »recht gut für uns alle [ist], daß er klar sein wollte, für sein Publikum, dadurch sind wir auch // seinem Schlegelischen Geist los geworden, der sehr selten seine Ansprüche offenbarte.« (C. S., 25. 10. 1809) In einem 1817 geäußerten Urteil hält sie beide Schlegel-Brüder für »nicht sehr bedeutend mehr für die Litteratur […], denn sie machen zu große Pausen, um sich nicht davon zu entfremden.« (C. S., 15. 8. 1817) Neben aktuellen philosophischen, historischen und literaturgeschichtlichen Studien werden ebenso politische Veröffentlichungen besprochen. Unter der Signatur H. v. St. diskutieren Schiller und Ukert die Schriften des russischen Kotzebue-Schülers Alexandre Stourdza Considérations sur la doctrine et l’esprit de l’Eglise orthodoxe (1816) und Mémoire sur l’état actuel de l’Allemagne (1818). Anfang 1819 lobt Schiller zunächst die »[e]rste Schrift des H. v. St.«, bevor sie sich bezüglich der zweiten, das deutsche Universitätswesen betreffenden, echauffiert: Die Art die Verhältniße immer declamatorisch beklagend vorzustellen, mit wohlmaynen die härtesten Mittel zum Beßer werden vorzutragen, ist mir die unerträglichste. Man sage, Er soll sagen, aber nicht es sollte, könnte, möchte.  – Wir sind in Deutschland, dans la panere Allemagne, nicht im Himmel, aber doch sind wir beßer dran denk ich, in einem Land, wo geistige Aufklärung erlaubt ist, wo die Stimme eines jeden beachtet wird, wenn auch nicht als Richtschnur aufgestellt.  – Als in Rußland, wo die mannigfachen Völker Sprachen, u. Sitten, […] allgemeine Cultur unmöglich machen. (C. S., 20. 1. 1819) Die zwischen Schiller und Ukert gewechselten Schreiben belegen eine Interaktion auf Augenhöhe. Der brieflich-soziale Akt des Lesens ist durchaus zeittypisch; spezifisch vielmehr Schillers offener Umgang mit literarischen Werturteilen. Eine eindimensionale Belehrung von Mann zu Frau sowie die Besprechung primär belletristischer Genres, wie dies für Korrespondenzen zwischen Johann Gottfried Herder und Caroline Flachsland46 oder Luise Mejer und Heinrich Christian Boie47 beobachtet werden kann, lassen sich für den vorliegenden Briefwechsel nicht bestätigen. Ausführliche Diskussionen betreffen tendenziell gegenwärtige Publikationen, darunter Ancillons Mélanges de Littérature et de Philosophie, Reise­ berichte von Chateaubriand und Pausanias, Goethes Die Wahlverwandtschaften, A. Humboldts Ansichten über die Natur, Jacobis Über die göttlichen Dinge und ihrer Offenbarung, Les Lettres de Melle di Lespinasse, [anonym] Sur la Litterature 46 Vgl. Gunter Grimm, »Halb zog sie ihn, halb sank er hin …«, S. 130  f. 47 Für diesen Hinweis danke ich Carlos Spoerhase.

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du dix huitième Siècle, Marmontels Mémoires, Müllers Über den Charakter der Reformatoren, Platons Phaidros, de Staint-Pierres Harmonies de la Nature, Ritters Tagebuch eines jungen Physikers, A. W. Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur, F. Schlegels Über die Sprache und Weisheit der Indier, Schellings Ueber die Gottheiten von Samothrace, Staël-Holsteins Delphine, Stourdzas Mémoire sur l’état actuel de l’Allemagne, Villers Coup d’œil sur les universités de l’Allemagne. Die Liste an erwähnten und rezensierten Titeln weist symptomatisch Übereinstimmungen mit Charlotte Schillers Exzerptkonvolut auf. Beinahe alle in den Briefen genannten Texte und Autoren sind in den Lektürezeugnissen vertreten. Exzerpt und Brief stehen in einem komplementären Verhältnis zueinander: Das in Form von Abschriften erworbene Wissen bildet Grundlage für Anschlussdiskussionen über Gelesenes, wodurch die persönliche Lektüre in eine interaktive mündet. Die Parallelität zwischen privater Notiz und gemeinschaftlicher Debatte veranschaulicht einen Transformationsprozess, insofern exzerpierte Textelemente Eingang in die briefliche Kommunikation finden. Gleichzeitig bedingt die dialogische Lektüre das individuell-private Leseverhalten.48

2. Austausch von Literatur Die enge Verbindung zwischen beiden Quellenarten – Exzerpt und Brief – kulminiert in der Integration direkter Zitate aus de Staёls Delphine, Villers Coup d’œil sur les universités de l’Allemagne, aus dem Goethe’schen und Schiller’schen Werk sowie den Briefen der französischen Schriftstellerin Julie de Lespinasse, wobei Charlotte Schiller kontinuierlich auf ihre Lektüremitschriften referiert. Einen kurzen, gegenüber Ukert dargebotenen Auszug aus den Lettres de Melle di Lespinasse kommentiert Schiller mit der Bemerkung, dass sie sich diese Zeilen »abgeschrieben« (C. S., 10. 6. 1810) hat.49 Die eigene exzerpierende Lektüre betreffende Reflexionen signalisiert auch Ukert, der zwischen den Zeilen an Charlotte Schiller ein ganzes Sonett abbildet. Das aus der von William Warburton herausgegebenen Shakespeare-Gesamtausgabe stammende Gedicht Der liebende Schäfer an sein Liebchen hat sich Ukert »neulich ab[ge]schrieb[en]« (F. U., 27. 2. 1808).50 Einen zweiten Hinweis auf das Kopieren fremder Texte artikuliert

48 Ähnliche Wirkung dürfte die Teilnahme an Lesegesellschaften gehabt haben. 49 Das Exzerpt zu den »Lettres de Mademoiselle de Lespinasse«, in: GSA 83/2034. 50 Der Nachlass Friedrich August Ukerts konnte nicht ermittelt werden, in Gotha haben sich nur einige Briefe erhalten.



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Ukert anlässlich Charlotte Schillers Bitte,51 ihr für die Großfürstin in Weimar die in Gotha verwahrten Briefe des Prinzen Bernhard52 mitzuteilen. Ukert, der dies verweigern muss, »da sie [die Briefe, H. K.] sich nicht in Einem Band befinden, sondern mit anderen Akten und Urkunden, den dreißigjährigen Krieg betreffend, in zwölf dicken Folianten zerstreut sind«, will zumindest »einige von den Briefen abschreiben« (F. U., 29. 8. 1809). Zwar hat sich ein derartiges von Ukert verfasstes Schriftstück nicht überliefert. Doch avanciert das stoffliche Übermitteln fremder Texte und Textstücke zu einem wesentlichen Moment literarischer Kommunikation. Erstrebenswert ist demnach nicht nur ein Austausch über, sondern auch ein Austausch von Literatur. Ukert, der als herzoglicher Bibliothekar »ankaufen kann was [er, H. K.] will« und »alles Intereßante wenigstens gleich zur Durchsicht« (F. U., 17. 4. 1809) erhält, schickt Charlotte Schiller im Dezember 1818 für »heute […] Schellings Rede über die Samothrakischen Götter« (F. U., 10. 12. 1818).53 »Mir würden Sie eine große Gefälligkeit erweisen« – heißt es im selben Brief weiter – »wenn Sie mir das neue Buch von dem H. v. Stourdza, wenn auch nur auf kurze Zeit anschaffen.« (F. U., 10. 12. 1818) An die materielle Zusendung des Schelling’schen Vortrags reiht sich unmittelbar die Reziprozitätserwartung, ein Exemplar der 1818 publizierten Mémoire sur l’état actuel de l’Allemagne zu erhalten.54 Die Logik des Büchertausches erscheint als gängige Praxis, wie auch die Charlotte-Schiller-Briefe attestieren. Schiller erkundigt sich im August 1817 für eine »Ausgabe der Wercke des B e r n a r d i n d e S t . P i e r r e […] in S t e r i o t y p e n «. Sie hofft, diese über Ukert »aus Paris, alt kaufen« zu können: »Wie viel kostet wohl das Werck, welches nach seinem Tode erschien. H a r m o n i e s d e l a N a t u r e ?« (C. S., 15. 8. 1817) Die von Schiller gestellte Frage wird sogleich fünf Tage später beantwortet: Ihre Frage Betreffend, so kosten die Werke des B e r n a n d i e d e S t . P i e r r e , P a r i s 1 8 0 4 . 5 Bd. 8: – 9 Th 1/2 R – und seine H a r m o n i e d e l a n a t u r e , 3 Bdn. im 8, – 8 Thaler; in Duodez, drei Bände, 6 Thaler. (F. U., 20. 8. 1817) 51 Am 9. August 1809 schreibt Charlotte Schiller an Friedrich Ukert: »Ich habe eine Frage an Sie zu thun, die mir gestern bey einem Gespräch mit der Grosfürstin auffiel. Sie erzählte daß sie die Briefe von Herzog Bernhard in der Bibliothek in Gotha gelesen habe und sie habe ein großes Intreße für sie. – Dürften Sie die Briefe wohl einmal mit bringen? der gäbe man sie der Grosfürstin vielleicht einmal zum sehen?« (C. S., 9. 8. 1809). 52 Herzog Bernhard von Sachsen-Weimar (1604–1639), Feldherr im Dreißigjährigen Krieg. 53 Gemeint ist Schellings Ueber die Gottheiten von Samothrace. Charlotte Schiller scheint die Rede unverzüglich zu exzerpieren, ein Literaturauszug ist eigenhändig auf das Jahr 1818 datiert. Vgl. GSA 83/2091. 54 Charlotte Schiller antwortet am 20. Januar 1819 auf die Bitte: »Sobald ich aber ein Exemplar auf längere Zeit haben kann, so sollten Sie es bekoen.« (C. S., 20. 1. 1819)

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Ob Charlotte Schiller eine der genannten Ausgaben über Ukert erworben hat, kann nur spekuliert werden. Ein dreiundzwanzigseitiges, 1817 erstelltes Exzerpt zu den 1815 posthum veröffentlichten Harmonies de la nature des französischen Schriftstellers Bernardin de Saint-Pierre belegt zumindest eine unmittelbar intensive Beschäftigung mit dem Text. Ukert nimmt nicht nur in diesem Fall eine mittelnde Position zwischen der Familie Schiller und seinem in Paris lebenden Bruder Adolf Albert ein, der 1816 die Verlagsbuchhandlung des verstorbenen Verlagshändlers Carl Wilhelm Ettinger übernommen hat.55 Für Charlotte Schillers Mutter und Schwester werden regelmäßig Buchkataloge und Bücher beigelegt, sogar der Rudolstädter Hof akquiriert über Charlotte Schiller und Friedrich Ukert französische Exemplare aus der ehemaligen Ettinger-Buchhandlung aus Paris. Auch Goethe profitiert von Charlotte Schillers Kontakt nach Gotha, über die erst Briefbeilagen, dann Bücher transportiert werden. In einem undatierten, wohl Anfang Januar verfassten Schreiben bittet Goethe seine »theure Freundin« Charlotte Schiller, »von H. Ukert in Gotha, den ich bestens zu grüßen bäte, den Antilucrece du Cardinal Polignac« zu besorgen.56 Am 7. Januar 1810 schreibt wiederum Schiller an Ukert: Goethe hat einen großen Wunsch, ich lege Ihnen sein Billet bey, und ich weiß Sie werden ihn erfüllen. Er wünscht das Buch bald zu haben; deswegen schreibe ich heute, denn Morgen möchte ich vielleicht abgehalten werden. Sie schicken es wohl noch in dieser Woche? Es würde ihn sehr freuen. – (C. S., 7. 1. 1810) Dass Ukert den »Wunsch« unverzüglich erfüllt und Goethe über Charlotte Schiller Melchior de Polignacs 1664 publizierte Widerlegung des Lukrez erhalten hat, konkludiert ein am 14. Januar verfasstes Schriftstück Goethes an Ukert, mit welchem er »das Buch sogleich zurückschick[t]«.57

55 Vgl. Helmut Roob, Carl Wilhelm Ettinger (1747–1804). Ein erfolgreicher Verlagshändler der Aufklärung in Thüringen, in: Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt, Bd. 7, hg. von Erich Donnert, Köln 2008, S. 237–241, hier: S. 240. 56 Johann Wolfgang von Goethe an Charlotte Schiller, undatierter Brief, in: Goethes Werke, Weimarer Ausgabe (WA). Nachträge und Register zur IV, Abteilung: Briefe, hg. von Paul Raabe, Bd. 1. München 1990, S. 267. Anders als die WA vermutet, ist der Brief nicht »Ende 1809«, sondern vermutlich Anfang Januar 1810 entstanden. Vgl. Charlotte Schiller an Friedrich August Ukert, Brief vom 7. Januar 1810. 57 Johann Wolfgang von Goethe an Friedrich August Ukert, Brief vom 14.  Januar 1810. WA, Bd. I, S. 270.



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Buchpakete und Textbeilagen versendet ebenso Charlotte Schiller, die Gedichte des Weimarer Autors Friedrich Wilhelm Riemer,58 Maskenspiele von Goethe sowie dessen erste Fassungen seines »neuen« Romans Die Wahlverwandtschaften zirkulieren lässt. Beide Briefpartner agieren als Mittlerfiguren, die für sich oder dritte Akteure schwer zugängliche Manuskripte und Bücher aus Gotha, Weimar oder Paris zu beschaffen vermögen. Während Schiller Ukert Bestände aus Weimar zukommen lässt, distribuiert Ukert wiederum Bücher aus Gotha sowie französischsprachige Originalausgaben. Spezifisch ›weibliche‹ bzw. ›männliche‹ Lek­ türe­formen lassen sich dementsprechend nicht eruieren; beide Korrespondenten konturieren ihr exzerpierendes Lesen, kommunizieren Leseeindrücke und Empfehlungen, übermitteln textuelle Artefakte.

III. Fazit »Man möchte ein Buch über das Buch schreiben« (C. S., 20. 1. 1819) – mit diesen Worten reflektiert Charlotte Schiller ihre Lektüre der Schriften Schellings im Januar 1819. Der an Friedrich Ukert formulierte Wunsch bleibt zumindest hinsichtlich der Schelling-Rezeption hypothetisch. In anderen Fällen wirken Lektüren produktiv, fließen in Übersetzungen, dramatische oder lyrische Arbeiten. Die fachlich diverse Exzerpierpraxis scheint nach einem tieferen Verständnis zu streben, die materielle Memorierung in Form des Exzerpts gleicht einem Surrogat »echter« Bücher. Charlotte Schillers Textumgang ist auf unterschiedlichen Ebenen zu sehen. Das autodidaktisch, sukzessive systematisch erworbene und exzerpierend gespeicherte Lesepensum bildet die Basis des intellektuellen Austausches, wodurch Schiller zwischen einer individuell-persönlichen und einer kommunikativen Lektüre changiert. Das still Gelesene wird Gegenstand der brieflichen Interaktion bzw. des vorlesend-mündlichen Dialogs, fungiert sozusagen als symbolisches Netzwerkkapital. In beiden Fällen ist eine Transformation von einer persönlichen in eine gemeinschaftliche Sphäre zu beobachten. Das wechselseitige Verhältnis zwischen ›privater‹ und brieflich-›öffentlicher‹ Lektüre plausibilisiert sich anhand literarischer Empfehlungen, die wiederum Einfluss auf die rezeptivexzerpierende Praxis nehmen. Die Briefmanuskripte suggerieren eine gesellige Lektüre, wodurch nicht nur Leseeindrücke, sondern auch gelesene Texte selbst kursierten. Die Briefe an Ukert können als schriftliches Gespräch gleichberechtigter Partner gedeutet werden, die Schiller als belesene Frau, Literaturkritikerin und -vermittlerin erkennen lassen. 58 Vgl. undatierter Brief Friedrich Wilhelm Riemers an Charlotte Schiller, in: GSA 83/1815.

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Die nachfolgenden fünf exemplarisch ausgewählten Briefe zwischen Charlotte Schiller und Friedrich August Ukert entstanden zwischen Oktober 1809 und Dezember 1818. Sie sind Zeugnis von Charlotte Schillers Leben zwischen Friedrich Schillers Tod († 1805) und ihrem eigenen 1826. In dieser über zwanzigjährigen Zeitspanne verfasste sie vermutlich einen Großteil ihrer Exzerptsammlung sowie ihr literarisches Werk, das sie im Gegensatz zu ihrer rezeptiven Arbeit gegenüber Dritten verschwieg.

IV. Editorische Notiz Die Transkription wurde auf Basis der im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar verwahrten, fünfzig Schreiben umfassenden Korrespondenz (21 von Schillers, 29 von Ukerts Hand) erstellt. Die Edition folgt einem möglichst textnahen Prinzip; Eingriffe in Orthografie und Interpunktion wurden, soweit dies aufgrund der undeutlichen Handschrift möglich ist, vermieden.59 Lateinische Buchstaben sind durch Sperrung, Seitenumbrüche durch  //,  Tilgungen sowie Unterstreichungen im Text als solche wiedergegeben. Unleserliche Textstellen sind durch »xxx«, unsichere Lesarten mit [?], sämtliche Editorangaben durch eckige Klammern markiert.

V. Briefe in Auswahl 1. Charlotte Schiller an Friedrich August Ukert [Brief vom 25. Oktober 1809, Mittwoch] 

Weimar den 25ten October 1809.

Ich fühle selbst lieber Ukert! daß ich Ihnen lange nichts gesagt habe, aber ich erwartete erst ein Lebenszeichen von Ihnen. Ob ich gleich weiß daß es Ihre Manier ist, wenn man glücklich ist zu schweigen, und so haben Sie sich das Schweigen Ihrer Freunde immer erkärt, ehmahls, so giebt es aber doch Fälle wo man gern weiß, von seinem Freunden selbst, daß Sie glücklich sind, u. so war mir Ihr Brief, 59 Die schlechte Leserlichkeit der Handschrift wird zusätzlich durch Charlotte Schillers inkonsistente Distinktion zwischen Majuskeln und Minuskeln, Akkusativ- und Dativflexionen und Verwendung von s-Lauten verstärkt. Auf diese editorischen Herausforderungen verweist auch Gaby Pailer, Charlotte Schiller (2016), S. 9.



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der mir Ihr Glück bestätigte auch recht herzlich willkoen. Wenn ich noch gern zu einem Feste dieser Art in der Welt gegangen wär, so wär es zu Ihrem Hochzeittag gewesen, weil Ihr Schicksal an meinem Herzen ruht. Aber es geht mir meinem Gefühl nach, wie dem Tell. Ein Ernster Gast, taugt nicht zum frohen Fest. – // Gedacht habe ich Ihrer meine lieben Freunde recht herzlich; und auch die Rede Ihres Schwieger Vaters60, die mir Ihre Fr. Schwägerin61 mitgetheilt hat, habe ich mit recht viel rührung gelesen. Es ist sein Gefühl seiner frühern Verhältniße, so rührend ausgesprochen, u. so einfach u. schmucklos, wie eigentlich die Reden sein sollen, um die gehörige Wirckung zu machen aufs Herz. Das ganze Hauß hat diesem Tag noch recht gefeyert durch Lesung dieser Rede, denn auch die Christine62 hat sie sich ausgelihen zum Lesen; und sie hat gewiß auch im Herzen Ihnen alles Gute gewünscht. Ich hoffe das alle die Wünsche Ihrer nahen und fernen Freunde in Erfüllung gehen, und daß Sie beyde so lange wie möglich  //  ohne Kränkung des Schicksals leben mögen, denn Ihr Herz wird Ihnen keine Störung bereiten hoffe ich immer, und übrigens ist es auch ein Trost das Unabänderliche mit denen die man liebt zu theilen, da es einmal Leiden geben muß. Ich bin seit drey wochen wieder hier, und bin fast eine ganze Woche krank gewesen, an einem heftigen Catharr, der mir die Nerven so angriff, daß ich mich einem Tag ganz zu Bette legte. – Uebrigens da ich mich wieder von der Natur wie verlaßen fühlte, u. nicht allein lange nicht gelebt hatte, habe ich eine Art heftiger Sehnsucht recht viel zu treiben, u. habe auch schon wieder sehr viel geleßen, die Abende durfte ich nicht ausgehen, u. las beständig, u. habe eine ganze Bibliothek durchgeleßen, die Wahlverwandtschaften habe ich recht mit inniger Rührung geleßen, Man könnte wieder ein ganzes Buch darüber schreiben, so ein Reichthum, so eine Tiefe des  //  Verstandes, und des Gefühls ist darin.  – welche Blicke ins Leben u. aus dem Leben! mit der größten ruhigsten Klarheit, u. Besonnenheit u. Einfachheit entsteht das Ganze, so daß es einem ist, als könnte man es selbst so componiren. Und doch wie verschlungen, wie weltklug wie tief im Gefühl; das man glaubt, es wäre nur da um zu Rühren. Recht wie das ganze Leben sich vor dem Blick bewegt, so schließt sich das Ganze mit der Ruhe des Grabes, mit dem Blick in eine andre schöne Welt. –

60 Josias Friedrich Christian Löffler (1752–1816), evangelischer Theologe. 61 Auguste Günther (1787–1855). 62 Christine Wenzel (bis 1814), 1794–1814 Kinder- und Hausmädchen der Familie Schiller.

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Abb. 2: C. Schiller an F. A. Ukert, Brief v. 25. October 1809, 5. Seite (19,0 cm × 11,7 cm); Goethe- und Schiller-Archiv Weimar

Es werden viele Menschen nicht alles verstehen oder billigen, aber ich denke für diese ists auch nicht geschrieben; das Hohe, und Einfache, und die höchste Wirckung hervor bringende ist aber in diesem wie in allen seinen werken. – wie sind die Charaktere der Frauen lieblich, u. zart gezeichnet, wie möchte man immer ausrufen, so ists! – Die Männer liebe ich weniger, und ich habe recht viel darüber gedacht, wie es zugehen mag, daß // G. eigentlich keinen männlichen Charakter ganz klar hinstellen kann, und daß sie wie die Frauen alle im hellem Lichte erscheinen? so bis auf



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die kleinsten Züge ausgemahlt; – der Charackter der mir am meisten Anziehendes hat, ist Werther, Es ist nicht Schwäche daß er seinem Leben ein Ende macht, nicht weil er die unglückliche Leidenschaft nicht ertragen kann, sondern weil er mit dem Leben nicht fertig ist, und sein reicher Geist keine Befriedigung mehr findet, die Leidenschaft ist nur der Anstoß. Eine Natur wie die Seine, kann keinen Frieden mehr finden, weil er für die Harmonie der Natur nicht mehr empfänglich war.  – Meister, Lothario, Eduard, geben mir kein Bild, wie zum Beispiel, Posa, Max, Don Casa von sich, von ihrem Dasein.  – Es wäre ein Problem, was intreßant zu lößen wäre. Ob es gleich für uns Frauen recht erfreulich ist, so gekannt, u. geschildert zu sein, so möchte man doch fragen, wenn man die männlichen Charaktere // dagegen hält, man liebt sie, man sagt voraus daß sie Helden sind, aber bey den weiblichen Carackteren sieht man wie sie es werden. – Behalten Sie dieses ja ganz für sich, denn andern würde es Partheilichkeit scheinen – u. Sie wißen wie ich Goethe und Schiller in ihren schönsten Erscheinungen gleich liebe u. schäze. – Aber andre könnten mich misverstehen. Ich konnte diese Nacht nicht schlafen, u. da fiel mir diese Idee so lebendig ein. – und beschäftigt mich immer. Etwas was Sie gewiß schon kennen, ist ein Buch welches mich auch sehr beschäftigt. Es sind die dramatischen Vorlesungen über die Griechische Tragiker, und Litteratur von A. Schlegel. – Es hat mich lange nichts so intreßirt, u. beschäftigt, und diese Klarheit des Vortrags, mit der Gelehrsamkeit ist recht erfreulich. Es ist recht gut für uns alle, daß er klar sein wollte, für sein Publikum, dadurch sind wir auch // seinem Schlegelischen Geist los geworden, der sehr selten seine Ansprüche offenbarte. – die Charackteristik der Tragiker ist äußerst bedeutend, und wie er von der Plastischen Kunst ausgeht, um sie zu verstehen, u. wieder die Kun Plastische Tragische Kunst, um die erstre hervorzubringen für nothwendig hält. – Sie werden noch vielmehr darüber sagen u. denken, als ich Ihnen sagen kann. – Ich muß eilen mit meinem Brief, ich bin diesem Abend zum Thee bey Wieland, mit der Griesbach, die jezt zum Samstag mit hier ist. Ich freue mich recht dem guten alten zu sehen, der so krank war. Ich habe seine Tochter Luise so lieb gewonnen vorigen Sommer. Wieland war sehr krank; wir waren alle in Sorgen um ihn. Es sind so böse Nerven fieber hier, u. man ist um alles besorgt was einem lieb ist. – wir sind noch alle wohl, das heißt wir fühlen // keine Anfälle. Und vielleicht ist der Ch Catharr auch eine Ableitung, Ernst u Carl sind wohl, und fleißig, Carolinchen ist bey der Großmutter63 geblieben, Emilie ist auch dick und lebenslustig, obgleich zuweilen mismuthig wenn sie zu lang im Zimmer bleiben

63 Charlotte Schillers Mutter Louise Juliane Eleonore Friederike von Lengefeld, geb. Wurmb (1743–1823).

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muß.64 Unser guter Gleichen65 war auch bedeutend krank, u. ich habe zu weilen für sein Leben gefürchtet, dies hat die lezten Tage meines Aufenthaltes in Rudolstadt getrübt. Es geht sehr langsam mit seiner Genesung. Ich war so glücklich mit ihm, da traf es mich um so schmerzlicher. Abeken läßt Ihnen bitten, die Frage ihm beantworten zu laßen, Ob vielleicht der Profeßor Werneburg66 hier, mathematische Bücher aus der Privat Bibliothek des J. v. G.67 erhalten könnte, und durch welchem Canal? Wollen Sie mir es auf ein eignes Zettelchen schreiben, wenn Sie antworten? Ich grüße Ihre Henriette herzlich, alle meine guten Wünsche für Sie, theilt sie nun, u. ich hoffe, sie gönnt mir ihre Freundschaft. – Charlotte Schiller // Die Kinder sagen Ihnen Beyden viel herzliches, von Wisbaden68 hören wir immer die traurigsten Nachrichten! – Es ist fürchterlich! –

[Brief vom 30. Dezember 1811, Montag] Weimar den 30ten                         December 1811. In sehr ungleichartigen Beschäftigungen die das Ende des Jahres mit sich bringt, muß ich doch die Feder ergreifen, und Sie lieber Uckert herzlich begrüßen. Allen Seegen u. Glück zu den neugebohren Sohn, und die herzlichsten Wünsche für sein Gedeihn. Ich war schon sorglich weil ich so lange nichts hörte und doch diese E p o c h e nahe wußte. Mag die Gegenwart und das heitre Leben des Kleinen, deßen Nahmen ich bald wißen möchte, alle trüben Eindrücke der frühern Erscheinungen auslöschen! Aber denken kann ich mir wohl, daß Sie dieses Kind doppelt // sorglich betrachten werden.69 – Aber man muß nichts zu ängstlich anfaßen noch beobachten, sonst verliehrt man die Freude. die Natur geht ihren Gang. die Pflanzen die man zu sehr pflegt gedeihen oft langsamer als die bey den Heißlüften der Sonne und Luft preisgegeben werden. 64 Die vier Schiller-Kinder Carl, Ernst, Caroline und Emilie. 65 Wilhelm Karl Heinrich von Gleichen-Rußwurm (1765–1816). 66 Johann Friedrich Christian Werneburg (1777–1851), Mathematiker am Pageninstitut in Weimar. 67 Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832). 68 Charlotte Schillers Schwager Wilhelm von Wolzogen ist auf Kur in Wiesbaden, er stirbt im Dezember 1809. 69 Ukerts erster Sohn starb nach nur wenigen Tagen: 21. 10.–2. 11. 1810. Vgl. Taufeinträge der Familie Ukert, Register Schlosskirche, Kirchenarchiv Gotha.



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Die Sonne ist heut recht freundlich, und die trüben Tage wo sie uns verborgen war, haben auf mich nicht freundlich gewirckt.  – Ich bin empfindlicher für Kälte u. Näße als sonst, u. mein Krankseyn von diesen Jahr hat mich von manchen  //  Nerven uebeln mehr frey gemacht; doch fühle ich mehr, eine gänzliche Ermattung und Erschöpfung, nach jeder ungewohnten Bewegung des Gemüths oder des Körpers. Man muß eben dieses alles nehmen wie es kommt. Wunderbar ist unser ganzes Wesen u. Leben u. wenn man sieht an wie zarten Fäden unsre Existenz hängt, so wundert man sich mehr darüber daß man so ohne Anstoß fortleben kann. Hufeland70 hat mir jezt ein Herz anatomirt u. die Circulation des Blutes demonstrirt, da staunt man recht über alle Bedingungen des Lebens. Und die Kreise in den Kreisen, // die am Himmel wie, in den Organischen Wesen, in einander laufen, dort um eine Welt im Schwung zu erhalten, und hier eine Maschine, die die Kraft sich jene zu denken in sich faßt. dies Iist eben so bewunderungswürdig u. erweckt unsre ruehrung für die Hand aus der wir kommen. – Welten u. Individuen. Ich habe jezt meine Freude auch an den Pauserias P au s a n i a s , dem ich zu lesen begierig wurde, nach dem ich C h a n t e au B r i a n d s Reise nach dem Heiligen Lande gelesen. Ihr Taschenbuch71 ist mir dabey auch recht erfreulich, weil ich nun auch die Nahmen und Zustände der Griechischen Inseln wie // sie jezt sind erfahre. welche schöne geistreiche Ideen findet man in den Beschreibungen der Griechischen Kunstwercke, und wie viel ist verlohren gegangen! – Ich lese auch eine Uebersezung des Platon, die mich anzieht. Doch finde ich die D i a l o ge n des ersten Theils noch belebender, die Hoheit, u. Anmuth des Phädros, die Grazie in den Wendungen und die Zartheit sind unendlich. Wie die Sprechenden den Schatten suchen, wie sie über die Cikaden sprechen, in diesen Gespräch, worinn der höchste Sinn liegt, dieses ist etwas, was niemand wieder so erreichen wird. das hohe und nieder hohe zu verbinden. // man fühlt den Zauber, ohne ihm in Worte faßen zu können. So viel hat wohl nie ein Volck wieder in sich vereint, wie die Griechen. Ich glaube wenn ich den Aristoteles, (für dem ich den größten Respect habe) auch so lesen könnte, so würde meine Ehrfurcht noch größer werden. Nun zu etwas 70 Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836), Arzt. Charlotte Schillers medizinisches Interesse besteht schon seit ihrer Jugend. An Friedrich von Stein schreibt sie 1787: »Wäre ich von Ihren geschlecht, ich müste anatomie, und Medicin studiren […]«. (Charlotte Schiller an Friedrich von Stein, Brief vom 27. 4. 1787, GSA 122/99a,1.) 71 Ukerts mit dem Göttinger Historiker Arnold Heeren (1760–1842) herausgegebenes »Handbuch der Geschichte des Europäischen Staatensystems und seiner Colonien« (1809).

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andern. – Von meiner Familie. Meine Kinder sind wohl, Ernst wird recht weltlich, und tanzt beynahe mit Leidenschaft. Er ist auch gesellig, und knüpft Bekanntschaften an, das freut mich im Stillen, denn ich sah ihm so oft als er leidend war so trüb, und untheilnehmend, daß ich  //  fürchtete er würde sich nie an etwas freuen, was außer seiner Reflexion läge. – Er ist fleißig, u. seine Lehrer loben ihm, doch meint er selbst immer er habe wenig zu thun, weil ihm alles leicht wird. Carolinchen wird sehr groß, u. fleißig, u. ist recht umgänglich. Emilie wird groß für ihr Alter, u. hat ihre Freude zu d e c l a m i r e n , u. wenn man von etwas dahin Bezug habendes spricht, so sagt sie gleich Gedichtchens her, u. sagt ganz Ernsthaft dazu, so spricht Hölty, so spricht Gellert. die Kinder mit ihren erwachenden Fähigkeiten machen mir viel Freude. Ihr Gemüther sind so gut, u. ich darf nie jede Sitte[?] zürnen, sondern nur Gelegenheit zum Irrthum entfernen. – // Carl ist auch recht brav, u. anhänglich, und fleißig. Er hört auch Rechtliche Dinge, bey Thibaut72, und Rechnungs und Finanzwesen, dabey besucht er aber auch fleißig der Mathematischen Collegien bey Doktor Schweins73, der sich sehr angelegen sein läßt, ihm zu rathen u. zu lehren. Er hat ihm selbst angeboten daß er einige Collegien noch hören sollte, ohne Honorar. voriges Jahr hatte er Privat Stunden bey ihm, das ist doch sehr gut, daß er sich nun für seine weitere Ausbildung in der Wißenschaft intreßirt, u. ist mir ein Beweiß, daß Carl durch seinen Fleiß sein Intreße erworben hat. Jezt ist Carl vielleicht noch bey seiner Tante in Aschaffenburg, wo auch Adolf Collegien hört.74 Carl hat 6 Tage Ferien da hat er diese Zeit zu einen Besuch benuzt. // Ich freue mich auf Briefe von Carl u. meiner Schwester, sie werden beyde von Aschaffenburg schreiben. die Schweizer Reise muß doch bedeutend auf Carl gewürckt haben, denn der Anblick so großer Natur Gegenstände ist sehr bildend. Er war bis Mailand, und auch in Turin, u. hat die höchsten Berge bestiegen, die meisten Schweizer Seen befahren u. die B o r r o m a e i s c h e n Inseln besucht. – den größten Theil seiner Reise hat er zu Fuß gemacht, das ist recht glücklich, ich möchte auch die Kräfte haben! – Nun leben Sie beyde wohl, begrüßen Sie Ihre Geliebte Henriette doppelt von mir, und sagen ihr wie ich mich freue mit ihr. // Ich hoffe, daß kein Jahr einen Wechsel in unsrer Freundschaft bezeichnen soll und bitte Sie beyde meiner und meiner Kinder immer freundlich zu denken. Charlotte S.

72 Friedrich Justus Thibaut (1772–1840), seit 1805 Professor für Jura in Heidelberg. 73 Franz Ferdinand Schweins (1780–1856), Professor für Mathematik in Heidelberg. 74 Charlotte Schillers Schwester Caroline von Wolzogen (1763–1847) hält sich Ende 1811 bei dem Fürstenprimas Carl Theodor Freiherr von Dalberg (1744–1817) in Aschaffenburg auf.



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Meine gute Mutter ist wohl, u. lebt ruhig fort, doch hat sie den Schmerz erlebt, ihren lezten Bruder zu verliehren. Mein Onkel ist Anfang dieses Monats gestorben, sie hat wie eine treue Schwester für ihm gesorgt, u. kann sich sagen, daß sie die lezten Jahre seines Lebens erheitert hat. –

[Brief vom 15. August 1817, Dienstag] Weimar den 15ten August 1817. Ich will es nun nicht länger aufschieben Ihnen zu schreiben lieber Uckert! Endlich möchte ich wißen wie Sie alle leben, und fragen ob wir nicht von Ihnen vergeßen sind? Ich war Sechs Wochen in Rudolstadt, wo ich mich über die Waldberge, wie über die Saale sehr erfreut habe und eigentlich mit Luft, Erde und Waßer lebte, denn ich wohnte für mich, bey meiner Mutter, die aus ihren Fenstern eine große Strecke über sieht. der Anblick der alten Berge, hat meine frühern Wünsche und Hofnungen in mir aufgefrischt, u. ich habe in schönen, doch auch rührenden Erinnerungen gelebt. – // Die Berge nach Francken u. Schwaben sind mir auch in späterer Zeit meines Lebens, ein Ziel der Sehnsucht, und ob ich gleich die Hofnungen die ich für mich selbst hegte jezt ablegte, so knüpfe ich neue Hofnungen für Carl dort an, die mir mit einer Höhren Hülfe auch erfüllt werden werden.75 Einst öffnete mir die Aussicht in diese Berge den Weg in die Schweiz76, und ich wähnte es sey alles gelungen, wenn ich sie überstiegen hätte; Jezt bewahre ich nur noch alle diese Erinnerungen in meinen Herzen, und mein Leben liegt aufgerollt vor mir. – doch ist die Freude die mir die Natur gewährte, sich immer // gleich, und wird mich bis dahin begleiten, wo auch in erhöhtem Lichte, noch die Welt mit ihren Beziehungen, unermeßlich erscheinen wird. – denn wir können uns nicht von den Großen erhebenden Eindrücken der Natur trennen. quoi cette belle nature ne dirait p l u s r i e n a n o s C œ r s? G. St.

75 Charlotte Schiller bemühte sich vergebens um eine Anstellung beider Söhne am Weimarer Hof. Carl von Schiller wird 1817 Oberförster im württembergischen Althausen. Vgl. Helmut Keine, Schillers Lotte, S. 298. 76 Erinnerung an eine Reise in die Schweiz 1783–1784.

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So sagt Frau von S t a e l , in der D e l p h i n e , über die Natur, die wir noch in eine andern Zustand zu empfinden hoffen sollen. Der Todt dieser geistreichen Frau, ist mir sehr schmerzlich. Manchen Unterschied ihrer Nationalität, ihrer Erziehung muß man annehmen, der sie von uns entfremdete. Aber ihr eignes Streben, // die Stimmung ihres Geistes war gewiß mit allem Großen und Schönen, wie mit dem Guten im Einklang. – Ich möchte nähere Umstände ihres Todes wißen. Ich hofte, sie sollte noch lange leben, und im Alter erst recht liebenswürdig für ihre Freunde erscheinen, wenn manche Ansprüche, und Täuschung entflohen wären. – Ob Wilhelm Schlegel, deßen Aufenthalt ich übrigens nicht weiß, sich nun nicht nach Deutschland flüchten wird? Ich sah voriges Jahr einen Reisenden der ihm in Florenz sah, als er mit F. v. S t a e l dort war, dieser beschrieb // ihn seltsam, sein Alter mit Kunst verbergend, und unendlicher Nöthe, und mit einem Blumen Strauß auf der Treppe einer schönen Reisenden Wienerin herum wanken.77 – Er hatte damahls große Lust sich nach Deutschland zu begeben, und im Süden des Landes zu leben. – Ich glaube daß Beyde Brüder nicht sehr bedeutend mehr für die Litteratur wircken werden, denn sie machen zu große Pausen, um sich nicht davon zu entfremden. Es giebt für eigentliche Kunstmenschen, die sich alles angeeignet haben, durch bloßen Verstand, nur E p o c h e n , da wo das freye Talent, die Gabe der Musen, ewig neu und belebend wirckt. // Ich habe mich in meiner Ahndung über diese Beyden Menschen nicht geirrt, und ihnen immer diesen Stillstand profezeit, in meinem Herzen. – Ich habe einen Auftrag von der verwittweten Fürstin von Rudolstadt, der Ihrem Bruder78 vielleicht lieb seyn könnte. Sie hat durch den Todt der M . P o l i e r 79 (die in 79ten Jahr gestorben ist) ihren Comißionier verlohren, durch welchen sie die französischen Bücher von H . P o u c h a n s 80 aus Paris bekam, die sie wünschte. Ich sagte ihr daß Ihr Bruder jezt in der Nähe sey, und die besten Quellen habe, die französischen Bücher koen zu laßen, und die schnellsten Wege kenne, sie zu haben.–// Sie wünscht sehr, daß Sie möchten die Güte haben u. meiner Mutter Catalogen von Zeit zu Zeit zuschicken, damit sie sähe was erschienen ist, damit sie als

77 Nach der Scheidung von seiner Ehefrau 1803 begleitet August Wilhelm Schlegel (1767–1845) Germaine de Staël Holstein (1766–1817) auf einer Italienreise. 78 Adolf Albert Ukert, Buchhändler in Paris. 79 Madame Polier, vermutlich eine Bedienstete am Rudolstädter Hof. 80 Charles Pougens (1755–1833), Buchhandlung und Druckerei in Paris.



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denn ihre Bestellungen machen könnte. Auch dem Geheimrath v. Beulwitz81 habe ich gesagt daß Ihr Bruder die Ettingerxxxgische Buchhandlung gekauft habe. Als denn möchte ich für mich wißen, ob es eine wohlfide Ausgabe der Wercke des B e r n a n d i n d e S t . P i e r r e gäbe, in S t e r i o t y p e n? oder vielleicht könnte man sie aus Paris, alt kaufen? Wie viel kostet wohl das Werck, welches nach seinem Tode erschien. H a r m o n i e s d e l a N a t u r e ?  //  Wenn Sie mir diese Fragen beantworten könnten, so wäre ich sehr dankbar. Nun leben Sie wohl, sagen Sie mir bald wie Sie leben, u. meine theure liebe Henriette? Ich denke Ihrer sehr oft. Ich hoffe die beyden artigen Geschwister sind auch wohl? Seyn Sie schön von uns allen gegrüßt. Ich hoffe vielleicht in mehren Wochen doch nach dem Herbst einige Tage in Rudolstadt zu zu bringen, da sind Sie nicht sicher für einen Besuch. Alles Gute sey mit Ihnen. Charlotte von Schiller.

2.2 Friedrich August Ukert an Charlotte Schiller [Brief vom 4. Juni 1809, Sonntag] Gotha d. 4 Juni, 1809. Eben xxx82 aus dem Strudel hervor, der mich in Schwindeln xxx herumtrieb, seitdem ich Weimar wieder xxx xxx xxx eilte Ihnen, liebe Frau Hofräthin, für Ihre so freundliche, herzliche Aufnahme zu danken. die vier Tage sind mir so schnell vergangen, und stehen nun da als ein schöner Traum, deßen Bilder man gerne sich zurückruft, um in der Gegenwart sich des fröhlichen, heiteren Lebens zu erfreuen. den herzlichsten Gruß den vier Lieben, die mich mit so inniger Liebe umfaßen, und deren Lehrer, wenn auch nur auf kurze Zeit, gewesen zu sein, mir so lieb ist. Alle vier sind auf gutem Wege, und wer des herlichen Vaters trefliche Kinder bleiben. So gefährlich es in mancher Hinsicht ist, einen großen Vater zu haben, da man gar zu gerne unter dem Schatten seiner erworbenen Siegeskränze mit fortwandelt, als ob ein Theil davon übergehen könnte ohne Mühe, und er für das ganze Geschlecht genug gethan habe; so ein mächtiger Sporn muß es auch

81 Friedrich Wilhelm Ludwig Freiherr von Beulwitz (1755–1829), erster Ehemann von Charlotte Schillers Schwester Caroline von Wolzogen. 82 Das Blatt weist auf der ersten Hälfte einen zirka vier cm langen Riss am oberen Papierrand auf.

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Abb. 3: F. A. Ukert an C. Schiller, Brief v. 4. Juni 1809, 1. Seite (18,4 × 11,4 cm); Goethe- und Schiller-Archiv Weimar



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wieder für edle Gemüther sein, denen die Erinnerung zuruft, wie Nestor seinem Zöglinge bei Homer, zu streben: Immer der erste zu sein und hervorzuragen von andern! da fällt mir bei Homer ein, daß Sie die Stelle, die wir in Weimar suchten, im dritten Gesang der Odyßee finden werden, vom 255 Verse an, wo Nestor dem Telemachos das traurige Geschick des Aga- // memnon erzählt. Das von Reinhold83 so geprießene Werk Niemeyers84 habe ich mir schon verschafft, noch xxx darin geleßen, wohl aber geblättert, aber ich glaube xxx daß es nicht so begeistern wird, vielleicht auch xxx ich Niemeyers andere Schriften alle kenne und mit xxx vergleiche. Reinhold hat sich wahrscheinlich, wie im Philosophiren, so auch in seiner religiösen Ansicht geändert, und der in Hollstein besonders unter den Adlichen herrschenden frommen Stimmung sich genähert. Es ziehen jezt in Hollstein predigende Apostel herum, Bauernknechte, die erstaunliche Reden halten. Es ist eine wunderbare Zeit, und sie giebt uns wieder den Beweiß wie die Extreme sich berühren, vom hohsten Unglauben geht man zum Glauben und zum xxx Glauben über, und wo Licht ist da ist der Schatten und dunkel grell und dicht dabei.85 Wie ich zu Hause kam, fand ich einen Brief von Villers, der mir ein Exemplar seiner neuen Schrift schenkte.86 Beim schnellen Ueberschriftlesen was in den lezten Jahren im Fache der Geschichte und Philologie und in der Poesie geleistet worden, ist sie recht artig. Uns Deutsche muß sein Eifer freuen, womit er deutsche Cultur und Wißenschaft den Franzosen empfiehlt und sein Streben auf diese oder jene Art den Eingang ihnen zu verschaffen. Ein hiesiger, vielschreibender

83 Karl Leonhard Reinhold (1757–1823), Philosoph. 84 August Hermann Niemeyer (ca. 1754–1828), Professor für Theologie in Halle und dessen 1809 publizierte Biografie des evangelischen Theologen »Leben, Charakter und Verdienste Johann August Nösselts«. 85 Das Herzogtum Holstein gehört nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deut­ scher Nation staatsrechtlich zwischen 1806 bis 1815 zum evangelisch geprägten Dänemark. Bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts kommt es aufgrund territorialer Verschiebungen zu konfessionellen Spannungen. Parallel dazu macht sich um 1800 eine weitere Entwicklung bemerkbar: Durch die Einführung des Staatskirchenrechts wird der Einfluss der Kirche auf das gesellschaftliche Leben beschränkt, die Bindung des Einzelnen an Religion und Glaube reduziert. Bereits durch die Romantiker kommt es ab 1815 wieder zu einer stärkeren Hinwendung zu Glaube und Religion. Vgl. Werner Hahn, Gebhardt Handbuch der deutschen Geschichte, Reformen, Restauration und Revolution 1806–1848/49, Bd. 14, Stuttgart 2010, S. 393–396. 86 Die 1809 des deutsch-französischen Schriftsteller Charles de Villers (1765–1815) publiziert Schrift »Coup-d’oeil sur l’état actuel de la littérature ancienne et de l’histoire en Allemagne. Rapport fait à la troisième Classe de l’Institut de France«.

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Gelehrter war ganz entrüstet über diese Schrift u. beschuldigte den Verfaßer der Partheilichkeit, weil er – keine seiner zahlreichen Schriften angeführt hatte. Bis jezt hat Werner sich hier noch nicht sehen laßen, vielleicht hat er einen anderen Weg genommen. Ob er in Rudolstadt jezt den Sieg davon-  //  getragen haben mag?87 – Göthe soll mißmuthig und krank sein, wie Silvie88 neulich schrieb, sie fand ihn blaß und trüber, haben Sie nicht gehört, liebe Frau Hofräthin, wie es ihm geht? Gebe der Himmel ihm doch neue Kraft und neuen Mut, daß er uns noch lange bleiben möge! Es wäre ein unersetzlicher Verlust, wenn er sterben sollte. Wie mancher der Herrlichen, die Weimar unsterblichen Namen gegeben haben, ist schon zur Unterwelt hinabgegangen, möchten doch die wenigen die noch da sind ihm lange erhalten werden! Auf Göthe könnte man, wie auf wenige andere, jenes Epigramm auf Homer anwenden: Jehn gebahr die Natur und ruhte nach der Geburt aus, Weil sie die ganze Kraft, wandt’ auf den einen Homer. Unsere Nation immer mehr mit Schiller, Göthe und den wenigen die mit ihnen wetteifern bekannt zu machen, das ist das Eine was Noth thut, damit wir unsere Sprache lieben und achten lernen und einsehen wie sie für Freude und Leid, für jede Art des Ausdrucks den paßenden Ton verleitet. Zu wenig geschieht dafür und darin liegt mit ein Grund unseres Verderbens. Die Fürsten schämten sich und schämen sich Deutsche zu sein, und sind Affen fremder Nationen und achten nur die die kein Deutsch können, u. in einer fremden Sprache leere Formeln herbeten, wie Katholiken das Paternoster. Was soll da das Volk thun? Friedrich der Große ist auch Schuld daran! Ich freue mich daß ich Lehrer bin, und lebe der Hoffnung daß jugendliche Gemüther, die für jeden Eindruck empfänglich sind und bei denen ein Wort zur rechten Zeit gesagt Frucht bringen kann, von mir wenigstens meine Liebe für unsere Sprache, meine Hochachtung gegen die Herren unserer // Litteratur erahnen sollen. Wenn ich mir denke daß ich täglich vor beinahe 200 Zuhörern spreche, daß so in wenig Jahren das Wort vor Tausenden vorübergeht u. daß von vielen aufgefaßt wird, so hebt mich das, aber drükt auch wieder nieder wenn man bedenkt was man gerne thun möchte und sollte und wie wenig man kann.

87 Zacharias Werner (1768–1823). Der Dichter und Theologe hielt sich zwischen 5.–11. Juni 1809 in Rudolstadt, von 11.–13. Juni 1809 in Gotha auf. Welcher »Sieg« hier gemeint ist, konnte nicht ermittelt werden. Vgl. Zacharias Werner, Die Tagebücher des Dichters Zacharias Wer­ ner, hg. von Oswald Flœck, Leipzig: Karl Hiersemann 1939, Einträge vom 4.–13. Juni 1809. 88 Silvia Ziegesar (1785–1855), Tochter des in Gotha lebenden Geheimen Rats August Friedrich Karl Freiherr von Ziegesar (1746–1813).



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Wie geht es jezt dem Herrn von Wohlzogen89? Empfelen Sie mich bestens Ihrer Frau Schwester u. Ihrer Frau Mutter, die wohl noch bei Ihnen ist. Ehegesten, war ich in Neudietendorf, zum ersten Mal, aber ich kann nicht sagen daß es mir dort gefallen hat, es schien mir als ob ich immer gähnen müßte. Wir sind nicht zur Ruhe geschaffen, Kampf und Anstrengung sind unser Loos, und wir können nur den gerne betrachten der ohne blaß zu werden ringt und strebt und nie ermattet noch verzweifelt. Hier ist der Kreis einmal gezogen, die Bahn ist angewiesen, als ein Uhrwerk geht das Ganze und wer einen Tag dort gewesen ist hat immer dort gelebt, dort heißt es recht: Und an ewig gleicher Spindel winden Sich um uns die Tage auf und ab. Nicht einmal glühende Andacht, das selige, zum Himmel hebende Gefühl kann dort, glaube ich, sich finden, die Mechanik des täglichen Lebens tödtet den Geist da wäre mir ein Kloster lieber. Haben Sie die Güte Carln zu sagen daß er seine Uhr noch in dieser Woche zurück erhalten sollte; wenigstens hat mir der Künstler es versprochen. Leben Sie recht wohl, und Schreiben Sie bald Ihrem F. Ukert

[Brief vom 10. Dezember 1818, Donnerstag] Gotha d. 10 Dec. 1818. Verehrte Frau Hofräthin, Von meinem Ausfluge nach Weimar, der mir auf so mannigfaltige Weise erfreulich war, bin ich froh und wohl zu den Meinigen wieder zurückgekehrt, die ich alle recht frisch und munter, und meiner harrend antraf. Jezt will ich wieder den langen abgerißenen Faden aufnehmen, von Ihnen freundlich aufgefordert; und da keine Franzosen die Briefe untersuchen, so darf auch ein kühneres Wort nicht zurückgehalten werden. Für heute sende ich Ihnen Schellings Rede über die Samathrakischen Götter, von der es gilt, was Göthe in anderer Beziehung sagt: und ist er gewaltig so liest er, aus dem Buch sich heraus! Mir würden Sie eine große Gefälligkeit erzeigen, wenn Sie mir das neue Buch von dem H. v. Stourdza90, wenn auch nur auf kurze Zeit anschafften. Nach den 89 Wilhelm von Wolzogen (1762–1809). 90 Vgl. [Alexandre Stourdza,] Mémoire sur l’état actuel de l’Allemagne, Paris 1818.

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Auszügen die einige Zeitungen geben, scheint er ein eifriger Schüler Kotzebue’s zu sein, und ist noch gefährlicher als dieser, da er leichter noch den Großen der Erde sich nähern kann. Wie kann ein Fremder sich erkühren über Deutschland und Deutsche abzusprechen, u. noch dazu einer, der entweder unter der Furcht von dem Türkischen Bastanade, oder der Moskowitischen Beute groß geworden. Er hat Kraft alles zu fürchten, wenn man Rußen und // Griechen solche Verfaßung, solche Freiheit gebe, wie die Deutschen haben und wollen; aber er kennt nicht was Freie und Gebildete und was Barbaren sind, diese hat er nur gesehen und begreift sie, jene kann er nicht faßen. – Welch eine unglückliche Scheidewand drängt sich doch überall zwischen Herscher u. Volk, u. will jene durch gefärbte Scheiben sehen laßen. Erlauben Sie mir, verehrte Frau Hofräthin, noch eine Frage. Wollten Sie die schönen Briefsammlungen u. was Sie sonst von und über Schiller besitzen, immer im Verschluß erhalten? Ich weiß wohl, daß was einem heilig ist, man nicht gerne der Menge hingiebt; aber hier würde es nicht preißgegeben, da so viele, mit so großer Liebe und Verehrung an Schiller hängen. Empfelen Sie mich beßtens Ihrer verehrten Frau Schwester. Jett- // chen und die Kleinen wünschen Ihrem Andenken empfolen zu sein, so wie ich selbst. Ihr ergebener F. Ukert Beiliegenden Catalog haben Sie wohl die Güte Ihrer Frau Schwester einzuhändigen.

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metaphern des lebens in gerhart hauptmanns briefen an otto brahm Eine Nachlese »Lieber Brahm.  //  Da hast Du ein sehr wunderliches  /  Weihnachtsgeschenk. Wenn Du das / Ohr auf / diese Maske legst, / so wirst Du das Meer unsres / Lebens darunter  /  rumoren hören.  //  Unter diesen 17 Dramen ist  /  keines, welches Du nicht zuerst / auf die Hände genommen / und dem Volke gezeigt hättest. / Das ist ein schöner, grosser Zug / des Geschickes, der mich mit / dankbarer Freude erfüllt // Dein / Gerhart Hauptmann. // Agnetendorf // Dezember // 1906«. So steht es, quer über die Falzung geschrieben, auf dem Schmutztitel und der gegenüberliegenden letzten Seite eines eigens vorgebundenen unbedruckten Viertelbogens in Band  I des fünften Exemplars der Vorzugsausgabe auf handgeschöpftem Büttenpapier, die der S.  Fischer Verlag von Hauptmanns erster Werkausgabe druckte.1 Eine hochkarätige Widmung für einen Empfänger, der sie sich in besonderer Weise verdient hatte. Denn ohne den unermüdlichen kämpferischen Einsatz Otto Brahms für das Drama des »Realismus« (wie er es ursprünglich nannte) hätte es weder den Verein Freie Bühne noch eine Uraufführung von Vor Sonnenaufgang, geschweige denn der Weber – oder überhaupt nur den Text dieses Dramas – gegeben. Ohne die prominente Stellung, die Brahm gerade dem Naturalismus Hauptmann’scher Prägung – durchaus auf Kosten anderer Varianten, wie etwa der Familie Selicke von Holz und Schlaf  – im Repertoire erst der Freien Bühne, dann des Deutschen Theaters Berlin (1894–1904) und des dortigen Lessing-Theaters (1904–1912) reservierte, hätte es auch die steile Karriere dieses Autors zum repräsentativen Dramatiker der Jahrhundertwende nicht gegeben,

1

Gerhart Hauptmann, Gesammelte Werke, 6 Bde., Druckanordnung und Titelvignetten von E. R. Weiß, Berlin 1906; vgl. Sigfrid Hoefert, Internationale Bibliographie zum Werk Gerhart Hauptmanns, Bd.  1, Berlin 1986, Nr.  1. Das Exemplar befindet sich heute im Besitz von Dr. Andreas Lohr und Dr. Dierk Rodewald, Berlin. Mein besonderer Dank gilt Dierk Rodewald für die Abbildungsvorlage und mehrere wichtige Hinweise.

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die ihren handgreiflichen Ausdruck im schlossartigen Anwesen Hauptmanns, dem sogenannten »Wiesenstein«, im schlesischen Agnetendorf fand. Mit diesen Andeutungen über die ökonomischen Dimensionen der Männer­ freundschaft als einer Geschäftsfreundschaft ist allerdings auch schon die Proble­ma­tik berührt, die das letzte Jahrzehnt der Beziehung Hauptmann-Brahm zunehmend überschatten, ja unterminieren sollte. Hauptmann, der sich aus seiner ersten Ehe 1904 durch einen üppig honorierten Zehnjahresvertrag mit Brahm freigekauft hatte, empfand diese Bindung und die damit einhergehende Festlegung auf einen naturalistischen Bühnenstil zunehmend als künstlerische Fessel. Seine wiederholten Bitten um eine Freigabe einzelner Dramen für Inszenierungen Max Reinhardts oder an dessen Bühnen stießen bei Brahm jedoch regelmäßig auf taube Ohren; dieser wusste nur zu gut um das Alleinstellungsmerkmal, das er dem Hauptmann-Monopol in der Konkurrenz der Berliner Privattheater verdankte, und zeigte sich entschlossen, mit eben diesem Pfund – und genauso sah das der betroffene Autor  – zu ›wuchern‹. Entsprechend quälend liest sich die Korrespondenz zwischen den zerstrittenen Freunden in den letzten Jahren vor Brahms frühem Krebstod; die Dokumente im Anhang der Edition der Korrespondenz2 lassen keinen Zweifel daran, dass Hauptmann, der nur wenige Tage danach den Nobelpreis entgegennahm, den Verlust seines einstigen Entdeckers in der Hauptsache geradezu als Befreiung empfunden haben muss. Die Briefwechselausgabe von 1985 enthält übrigens auch schon den Großteil des obigen Widmungstextes, nämlich als handschriftlichen Briefentwurf aus dem Manuskriptbuch zu Christiane Lawrenz, mit geschätzter Datierung auf 1905.3 Erst die kürzlich erfolgte Anzeige im Katalog Austria drei des Wiener Antiquariats Fritsch4 jedoch machte den vollen Wortlaut bekannt und gab seine pragmatische Funktion (nämlich als Dedikation der Werkausgabe) sowie die spezielle Bedeutung der »Maske« zu erkennen, zu der der Herausgeber der Briefedition ursprünglich nur Vermutungen anstellen konnte.5 Gemeint ist nämlich, wie die Abbildung auf einen Blick sichtbar macht, das Signet einer tragischen Theatermaske in der Mitte des Schmutztitels (wie auch auf dem Deckel des Pergamenteinbands), das Hauptmanns handschriftlicher Eintrag zunächst ausspart – die Worte »Ohr« und 2

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Otto Brahm und Gerhart Hauptmann, Briefwechsel 1889–1912. Erstausgabe mit Materalien, hg. von Peter Sprengel, Tübingen 1985. Zitate daraus im Folgenden mit Sigle OB/GH und Seitenzahl. Ebd., S.  197 (Nr.  170); vgl. Rudolf Ziesche, Der Manuskriptnachlaß Gerhart Hauptmanns, Teil 3, Wiesbaden 2000, S. 132. Dezember 2018, Nr. 34. Nämlich über Hauptmanns Interesse an Totenmasken und den entsprechenden Charakter des Geschenks.

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Abb. 1: Widmung für Brahm in Hauptmanns erster Werkausgabe 1906. Mit freundlicher Genehmigung von Andreas Lohr und Dierk Rodewald



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»auf« stehen weit auseinander –, dann aber mit den Worten »diese Maske« direkt überschreibt. Wörtlich genommen lädt die Widmung den Adressaten dazu ein, sein Ohr zentral auf die Seiten des Bandes zu legen, in dem die »Sozialen Dramen« Vor Sonnenaufgang, Die Weber, Der Biberpelz und Der rote Hahn gesammelt sind, und das »Meer unseres Lebens« darin »rumoren« zu hören. Offenbar ist weniger das Rauschen der Brandung gemeint als das abgründige Geräusch eines sich im Rhythmus der Wellen verschiebenden Kiesgrundes – ein Urlaut der Tiefe, in dem sich die aktuellen Spannungen der Gesellschaft (Gegenstand der sozialen Dramen Hauptmanns, die das antike Theatersymbol zu Erben der griechischen Tragödie erklärt) ebenso spiegeln wie das gemeinsame (Er-)Leben Hauptmanns und Brahms. Es ist die Geschichte ihrer so problematischen wie folgenreichen Freundschaft, die durch die Metaphorik dieser Widmung unübersehbar in den Bereich des Elementaren und Schicksalhaften (»Geschickes«) verschoben, verklärend literarisiert wird. Damit ist auch schon die Frage nach der Metaphorik und Emphase des Lebens als leitende Perspektive angedeutet, unter der auf den folgenden Seiten der aktuelle Stand unserer Kenntnis des Briefkorpus erörtert und dessen wichtigste Erweiterungen vorgestellt werden sollen. In editorischer Hinsicht stellte die mittlerweile mehr als drei Jahrzehnte alte Ausgabe zugegebenermaßen einen Kompromiss dar. In ihr stehen 133 Briefen, Postkarten und Telegrammen Brahms an Hauptmann (überwiegend aus dem Hauptmann-Nachlass der Berliner Staatsbibliothek) 57 als Original oder Kopie erhaltene Korrespondenzstücke Hauptmanns gegenüber, die sich auf neun verschiedene Standorte verteilen, im Wesentlichen aber den Handschriftenabteilungen der Staatsbibliothek und des Deutschen Literaturarchivs Marbach entstammen. Weitere rund fünfzig Nummern wurden lediglich aufgrund der Zitate oder inhaltlichen Angaben aus einer frühen Bibliographie und/oder aus Auktionskatalogen aufgenommen, wobei der Versteigerung von Brahms Nachlass bei S. Martin Fraenkel, Berlin, 1923 naturgemäß besondere Bedeutung zukam. Von diesem lange Zeit nur indirekt, fragmentarisch oder auch fehlerhaft6 überlieferten bzw. gedruckten Briefbestand ist aufgrund von

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Das Maximum in dieser Hinsicht stellt sicher der Florentiner Brief vom 13. 11. 1910 dar, der in die Briefausgabe als Nr. 225 aufgenommen wurde. Statt um »Regiestücke« (OB/GH, S. 238) geht es darin um Regiestriche (!) im II. Akt der Ratten: Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung (im Folgenden: SBB-PK), Autogr. I/4522, 33  f. Zu Fehlschlüssen verleitete auch der bisher bekannte Auszug aus Hauptmanns Brief an Brahm vom 25. 6. 1898; die Konjekturen des Herausgebers zu Nr. 93 (OB/GH, S. 87) sind angesichts des Originals (Landesbibliothek Speyer, Autogr. I/68-2) zurückzunehmen.



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Fortschritten der bibliothekarischen Erfassung7 und mehreren nachträglichen Erwerbungen8 der Staatsbibliothek zu Berlin  – Preußischer Kulturbesitz inzwischen gut die Hälfte öffentlich zugänglich. Darüber hinaus haben sich virtuell – Neukäufe und Neuerschließungen zusammengerechnet  – mindestens dreizehn Telegramme und Briefe Hauptmanns an Brahm angesammelt, von deren Existenz dem Herausgeber der Briefausgabe noch nichts bekannt war.9 Sogar ein BrahmBrief ist mittlerweile aus dem Autographenhandel aufgetaucht.10 Natürlich kann es hier nicht darum gehen, eine erweiterte Neuauflage der Korrespondenz zu veranstalten oder auch nur annähernd vollzählig die seither zusammengekommenen Addenda und Corrigenda aufzulisten  – zumal sich an den Rahmendaten und Grundproblemen der Beziehung durch die Einsicht in die neuen Brieftexte kaum etwas verändert hat. Wohl aber lernen wir den Briefschreiber Hauptmann besser kennen und die Profilierung seines Selbst- und Kunstverständnisses gerade gegenüber einem strategisch so wichtigen Korrespondenzpartner wie Brahm. Es ist doch ein Unterschied – um mit einem frühen Beispiel anzufangen –, ob wir aufgrund der Angaben im Katalog der Nachlassversteigerung erfahren: »Hauptmann teilt mit, daß er das Manuskript (zum Friedensfest) am gleichen Tage an Fischer übersandt hat« (OB/GH S. 101), oder ob wir auf einer am 23. Dezember 1889 gestempelten Postkarte aus Charlottenburg nach Berlin, Wilhelmstr. 43 das Folgende lesen:

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So wurde der Hauptmann-Bestand der Theatergeschichtlichen Sammlung der Universität Kiel erst in den letzten Jahren genauer erschlossen. Dazu gehören sechs Briefe oder Telegramme an Brahm, die bisher nicht oder nur unvollständig bekannt waren (OB/GH, Nr.  216, Nr.  218 und Nr.  240), sowie weitere Briefe, die nach Abschriften im HauptmannNachlass publiziert wurden (OB/GH, Nr. 201, Nr. 203 und Nr. 206). 8 SBB-PK, Autogr. I/1749, Autogr. I/2008, Autogr. I/2093, Autogr. I/2139 u. Autogr. I/4522 (passim); in der Zählung der Briefausgabe handelt es sich um die Nummern 9, Nr.  11  f., Nr. 33, Nr. 38, Nr. 45, Nr. 47, Nr. 49–51, Nr. 54  f., Nr. 57  f., Nr. 60, Nr. 66, Nr. 69, Nr. 94, Nr. 110, Nr. 120, Nr. 187  f., Nr. 199, Nr. 225, Nr. 238. Siehe auch die vorhergehende Anmerkung. 9 SBB-PK, Autogr. I/4522, 10, 19, 24–28, 32 u. 39–42 sowie Autogr. I/4732. Ein weiterer Brief an Brahm, der sich als Kopie im Heimann-Briefordner der SBB-PK angefunden hat (jetzt: GH Br Nl A: Otto Brahm, Nachlieferung), wurde veröffentlicht in: Peter Sprengel, »Ich hasse sie nicht«. Gerhart Hauptmanns Umgang mit literarischen Gegnern (Max Kretzer, Conrad Alberti), in: Carl und Gerhart Hauptmann-Jahrbuch 6 (2012), S. 45–60, hier: S. 58  f. Hinzu kommen die Kieler Briefe und Telegramme vom 14. 11. 1907, 17. 12. 1907 und 1. 1. 1909 (s. Anm. 7). 10 SBB-PK, Autogr. I/4731. Der Brief vom 6. 11. 1901 behandelt die Proben und letzte Textänderungen zum Roten Hahn.

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Liebster Brahm. Die Influenza hatte mich gepackt, daher die Stille über den Wassern. Ich konnte zwei Tage nicht über die Bettkante hinaus, die Übrigen nicht über die Zimmergrenze. Pech! Nun aber fängt es an wieder lichter um mich zu werden. Ich wachse wieder mehr in die Welt hinein. Heut oder morgen sende ich Manuscript an Fischer. – Wenn ich Dich bis dahin nicht mehr sehen sollte: Gesunde, frohe Feiertage! Hoffentlich bist Du noch auf den Beinen. Dein Gerh Hptm11 Die vorübergehende Erkrankung erhält hier ein Gewicht, das weit über ein bloßes Arbeitshindernis hinausgeht. Der Schriftsteller in den Fängen der Grippe (»gepackt«) wird auf die »Stille« eines weltlosen Daseins, gleichsam auf sich selbst zurückgeworfen und muss sich von dort aus erst schrittweise in die »Welt« zurückarbeiten – zurück »wachsen«. Mit dieser organologischen Bildlichkeit, die offenbar auch etwas mit dem Künstlertum des Genesenden zu tun hat, verbindet sich die Licht-Metaphorik als Ausdruck wiedergewonnener Arbeitskraft: »Nun aber fängt es an wieder lichter um mich zu werden.« In Hauptmanns Spätwerk wird die Polarität von Hell und Dunkel, Weiß und Schwarz bestimmende Bedeutung gewinnen.12 In Und Pippa tanzt!, seiner stärksten Annäherung an den Formtyp des symbolistischen Dramas, ist sie im Grunde schon im Titel erhalten; denn die Mädchenfigur Pippa sollen wir als einen Lichtfunken auffassen, der im kosmischen Dunkel aufleuchtet.13 Das Stück war die erste echte Novität, mit der Hauptmann (am 19. Januar 1906) die Bühne des Lessing-Theaters betrat. Sein Glückwunschschreiben zu dessen Eröffnung unter der neuen Leitung rund 14 Monate vorher rekurriert gleichfalls auf die Lichtmetaphorik, allerdings in einem eher didaktisch-volkspädagogischen, an die ›illuminatio‹ des 18. Jahrhunderts anknüpfenden Sinn: Brahms Theater, das nur wenige Wochen später die zweite – für den zeitweiligen Erfolg des Stücks 11 SBB-PK, Autogr. I/4522, 1. Ich danke der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek zu Berlin  – Preußischer Kulturbesitz für die Erlaubnis zur Publikation dieses und der im Folgenden edierten Hauptmann-Briefe. 12 Vgl. Rolf Michaelis, Der schwarze Zeus. Gerhart Hauptmanns zweiter Weg, Berlin 1962. 13 Als »kleenes Fünkla« wird sie zum Tanz aufgefordert; sie selbst fühlt sich, »als wär’ ich nur noch ein einziger Funke und schwebte ganz einsam verloren hin im unendlichen Raum«, Gerhart Hauptmann, Sämtliche Werke. Centenar-Ausgabe, hg. von Hans-Egon Hass u.  a., 11 Bde., Frankfurt a. M., Berlin und Wien 1962–1974 (im Folgenden: CA), Bd. 2, S. 316. Zu den Nietzsche-Implikationen dieser Symbolik vgl. Peter Sprengel, »Wille zum Kleinen« statt »Wille zur Macht«? Gerhart Hauptmann und Nietzsche, in: Friedrich Nietzsche und die Literatur der klassischen Moderne, hg. von Thorsten Falk, Berlin und New York 2009, S. 199–231, hier: S. 207–209.



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bahnbrechende – Inszenierung des Florian Geyer herausbringen sollte, erscheint darin als verlängerter Arm der Aufklärung:  WIESENSTEIN / AGNETENDORF I. RIESENGEB. Liebster Brahm Herrlich! Ich freue mich riesig, dass die Sache so verdientermassen begonnen hat. Sie haben Dir eine Ovation gebracht: das ehrt sie und beweist, dass ihnen ein Licht aufgegangen ist. So lebt und wirkt das Gute doch nicht umsonst! Freudig weiter, also, Liebster, keine Müdigkeit weiter vorschützen! Stecke ihnen [2r] noch einen ganzen Christbaum voller Lichter diesen Winter auf. Dein alter Gerhart Hauptmann d 4 Sept 1904 Agnetendorf14 Hauptmanns Briefe an Brahm erproben einen Brückenschlag zwischen Aufklärungserbe und Lebensphilosophie. So lassen sich jedenfalls die Referenzen auf Brahms nicht zu Ende geführte Schiller-Biographie15 verstehen, deren ersten Band Hauptmann während eines Bordighera-Urlaubs im Spätwinter 1889/90 liest – der ersten Schaffenspause, die sich der frischgebackene Dramatiker nach dem Uraufführungsskandal von Vor Sonnenaufgang und nach Niederschrift und Druck des Friedensfests gönnt. Vielleicht auch unter dem Einfluss der Reisegefährten Ferdinand Simon (Schwiegersohn Bebels) und Alfred Ploetz (Vorbild des sozialutopischen Reformers Alfred Loth in Vor Sonnenaufgang), setzt sich der Postkartenschreiber am 23.  Februar 1890 beim Blick auf die anstehenden Reichstagswahlen16 die Loth-Brille auf und ahnt einen politischen »Frühling« in Deutschland: Liebster Brahm! Selten in meinem Leben habe ich so gefaulenzt wie jetzt, – d:h: geistig, denn die Beine bewegen wir den ganzen Tag – daher auch augenblicklich mein Kopf wie eine unbewohnte Stube aussieht. Der Zustand fängt übrigens an mir über zu werden. Immer nur Bergsteigen, Strandlaufen und stundenlang bei Tische sitzen kann des Menschen Bestimmung unmöglich sein. Ich spüre zuweilen etwas wie Sehnsucht eines Verbannten, auch reißt es mich zu neuen dichterischen Thorheiten. Wir leben hier ganz unter uns, Anschluß nach keiner Seite. Die tägliche Post, so spärlich sie ist, bringt die 14 SBB-PK, Autogr. I/4522, 39  f. 15 Otto Brahm, Schiller, Bd. 1 und 2,1 [mehr nicht ersch.], Berlin 1888–1892. 16 Aus den Reichstagswahlen am 20. 2. 1890 ging die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands als nach Stimmen stärkste Partei hervor.

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einzige Abwechselung in die 14  Tageswachstunden. Deine Karten sind mir immer eine große Freude – (Dh nur die, welche ich erhalte). Irgend ein Russe will mein »Friedensfest« in seine Sprache übertragen: es würde mich freuen, wenn es zu stande käme. – Es ist Frühling hier, aber es kommt mir vor, als wäre bei Euch noch mehr Frühling: Den Wahlen gegenüber habe ich nämlich starke Loth=Gefühle. Warum überhaupt noch weiter um den Brei herum gehen? ich freue mich herzlich, in den Berliner Winter zurückzukehren. Mit Deinem Schiller bin ich hier fertig geworden. Ich habe schon jetzt von dem Manne ein klareres u schärferes Bild bekommen, als das war, welches andere Biographieen mir gegeben hatten, ja zum ersten mal ein scharfes Bild. Viele herzliche Grüße, auch von meiner Frau u Simon. Dein  Gerh Hptm.17 So weit der Text, der in enger Zeilenführung das Hochformat der Postkarte ausfüllt. Darüber steht aber quer in großen Zügen die für eine ideen- oder diskursgeschichtliche Einordnung von Hauptmanns Frühwerk sicher interessanteste Mitteilung des ganzen Schriftstücks: »›Also sprach Zarathustra‹ erbaut mich seit einigen Tagen Abend für Abend.«18 Hauptmann, der stets um den Anschein geistiger Unabhängigkeit bemüht war und phasenweise dazu neigte, die Kenntnis von Nietzsches Schriften ganz abzustreiten,19 hat sich selten so eindeutig und positiv über den Philosophen geäußert. Wenn sich unser Autor ein Jahr später für den nächsten (und letzten) Band von Brahms Schiller bedankt, glaubt man im bildlichen Ausdruck schon jene Ästhetisierung des Lebens zu erkennen, die sich unter dem Einfluss Nietzsches in der deutschsprachigen Literatur der 1890er Jahre ausprägte. Die elitär-erlesene Metaphorik (»Otternflies Deines Stils«) überrascht auf der Postkarte vom 2. März 1892 aus dem noch tief verschneiten Schreiberhau umso mehr, als Hauptmann damals vorrangig die vom gröbsten Schlesisch »gereinigte« Druckfassung der Weber herstellte – zum Ausgleich beschäftigte er sich nebenher allerdings auch schon mit der Idee eines Feenmärchens, aus dem später Die versunkene Glocke hervorgehen sollte. Der mundartlichen Diktion des Weber-Personals sind jeden-

17 SBB-PK, Autogr. I/4522, 2 (erstmals gestempelt Bordighera, 27. 2. 1890). Vgl. OB/GH, Nr. 13. 18 Vgl. das Faksimile in: Peter Sprengel, Abschied von Osmundis. Zwanzig Studien zu Gerhart Hauptmann, Dresden 2011, S. 218. 19 Vgl. Ingeborg Kaiser, Die Nietzsche-Rezeption Gerhart Hauptmanns, Ann Arbor, Mich. 1996; Sprengel, Wille sowie die überarbeitete Fassung unter dem Titel: »Also sprach Zarathustra erbaut mich seit einigen Tagen.« Gerhart Hauptmann und Nietzsche, in: Sprengel, Abschied von Osmundis, S. 177–219.



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falls die Eingangsworte20 des Kartengrußes angepasst, der auch den gemeinsamen Anwaltsfreund Paul Jonas und dessen (Brahm später sehr nahestehende) Frau Clara einbezieht, sich nach dem Kritiker (und künftigen Burgtheaterdirektor) Paul Schlenther erkundigt, eine halbe Einladung an den »Humoristen« Otto Erich Hartleben ausspricht und wie nebenbei auf die Proteste gegen das geplante neue Volksschulgesetz anspielt: Nu sag blos, sag blos! Kein Sterbenslaut. Nichts, gar nichts. Lebst Du noch? Was soll denn das heißen? Wir sitzen im Schnee. Ich reinige den letzten Act Weber, tändele mit der Feeerie und vertreibe mir so die öde Zeit. Ihr macht inzwischen zur Abwechselung Bisschen Revolution in Berlin. Ja, wie wird es unter solchen Umständen mit den Webern werden? Ich glaube, gar nicht. Grüß mir das verehrte Jonaische Ehepaar. Vielleicht – im Frühjahr – begleiten sie Dich auf ein Paar Wochen hierher!? Wäre das nicht zauberhaft? – Was macht Schlenther? Hartleben? Kannst Du den Humoristen nicht mal zu uns schicken? Dein Schiller ist mir ein Besitz. Ich bewundere die Kraft, lebend zu machen, die gelassene Klugheit, eine gewisse Goethesche Lebensweisheit in der Verfolgung des Lebensganges, das Mütterliche in Deinem Verhältniß zu Sch[iller], die Kunst der Composition und Darstellung: Schlägt man das Buch auf, überall ein eigner Puls, ein Lebendiges, Organisches, Besonderes; das Papier wird überall gänzlich verdeckt. Zuweilen öffne ich das Buch nur, um einen Augenblick lang über das weiche Otternflies Deines Stils mit der Hand zu streichen. Herzlichen Gruß.  Dein Hauptmann.21 Eine sinnliche Form der Aneignung, von der sich der positivistische Biograph und Rationalist Brahm sicher nichts hatte träumen lassen! Seine »einigermaßen populäre Darstellung«22 beginnt mit dem Bekenntnis »Als Student war ich ein Schiller-Hasser«,23 das noch ein Vierteljahrhundert später für Unmut sorgen sollte.24 Brahms Schwierigkeiten im Umgang mit dem Klassiker (auch noch in 20 Mit den Worten »Nu sag bloß, Jäger« wendet sich im IV. Akt Pfarrer Kittelhaus an den Anführer der Revolte: Gerhart Hauptmann (CA I, S. 427). 21 SBB-PK, Autogr. I/4522, 5 (erstmals gestempelt Schreiberhau, 2. 3. 1892). Vgl. OB/GH, Nr. 45. 22 Schiller – Zeitgenosse aller Epochen, hg. von Norbert Oellers, Teil II: 1860–1966, München 1976, S. XXX. 23 Brahm, Schiller, Bd. 1, S.  V. 24 Nämlich beim Schiller-Biographen Richard Weltrich; vgl. dessen Schiller-Rede (1905) in: Schiller – Zeitgenosse, Teil II, S. 215–226, hier S. 220. Brahm selbst benutzte die ersten Lie­fe­ run­gen von Weltrichs – gleichfalls Fragment bleibender – Biographie (1885–1899) für sein Schiller-Buch.

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seiner vorklassischen Entwicklungsstufe) bestätigten sich im Fiasko der halbnaturalistischen Neuinszenierung von Kabale und Liebe zur Eröffnung des Deutschen Theaters unter Brahms Leitung im September 1894.25 Hauptmanns ästhetisierende und identifikatorische Rezeption überspielt derlei innere Widersprüche und Widerstände. So gelten die einzigen Anstreichungen in seinem Exemplar des zweiten Bandes26 Schillers brieflichem Geständnis seiner Unzufriedenheit mit der bestehenden Bühne und seinem Bekenntnis zur Autonomie des Dramas gegenüber den Anforderungen der Theater: Der Weber-Autor, der sich die Existenz seines neuartigen Stücks auf der realexistierenden Bühne aus verschiedenen Gründen noch gar nicht vorstellen kann – auch dazu macht die Postkarte ja einige Andeutungen –, sieht seine Lage und die eigene Auffassung vom Primat der (naturalistischen) Literatur gegenüber dem (epigonalen zeitgenössischen) Theater in Schillers Dresdner Briefen an Friedrich Ludwig Schröder gespiegelt, etwa in der Erklärung: »Ich habe bis jetzt Forderungen an die Schaubühne gestellt, die noch keines von allen Theatern, die ich kenne, befriedigte.«27 Wie weit Hauptmanns Identifikation mit dem jungen Schiller damals geht, wird uns noch eine der nachfolgend vorzustellenden Postkarten zeigen, auf der »Göschen« als Deckname für Hauptmanns Verleger Samuel Fischer benutzt wird. Der Sache nach ist ein Otterfell natürlich gar nicht so weit von einem Biberpelz entfernt; Hauptmanns nach diesem benanntes – im ernsteren Subtext verschiedene »Lebenssachen« (CA I, S. 522) thematisierendes – Lustspiel sollte nur zehn Monate später beim Theater eingereicht werden. Freilich gehört Der Biberpelz zu den wenigen Dramen, die Brahm nicht als erster »auf die Hände genommen und dem Volke gezeigt« hat. Hauptmann hat das nicht auf spezielle Unterstützung der Freien Bühne angewiesene Stück gleich L’Arronge angeboten, dem Eigentümer und Vorgänger Brahms in der Leitung des Deutschen Theaters, und thematisiert es in der erhaltenen Korrespondenz auch kaum. Umso ausführlicher äußert er sich gegenüber Brahm zur Entstehung der Weber  – wohl desjenigen 25 Zu den Einzelheiten des »unverschleierten Mißerfolgs« (Brahm) vgl. OB/GH, S. 20  f. 26 SBB-PK, Sign. GHB 970404. Der erste Band hat sich nicht in Hauptmanns Bibliothek erhalten. 27 Aus Schillers Brief an Schröder vom 12. 10. 1786 zit. in: Brahm, Schiller, Bd. II/1, S. 37 (mit Anstreichung Hauptmanns zur Stelle). Vgl. auch die Zitate aus Schillers Brief an Schröder vom 18. 12. 1786: »Außerdem glaube ich überzeugt zu sein, daß ein Dichter, dem die Bühne, für die er schreibt, immer gegenwärtig ist, sehr leicht versucht werden kann, der augenblicklichen Wirkung den dauernden Gehalt aufzuopfern, Classicität dem Glanze […]. Besser ist es immer, wenn der erste Wurf ganz frei und kühn geschehen kann, und erst beim Ordnen und Revidiren die theatralische Beschränkung und Convenienz in Anschlag gebracht wird« (ebd., S. 39 mit Anstreichungen Hauptmanns).



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Dramas, das an erster Stelle Anspruch auf den Titel eines Gemeinschaftsprojekts beider Briefpartner erheben kann, denn ohne die Entschlossenheit und Umsicht, die Brahm im Umgang mit der Zensur an den Tag legte, und ohne die emotionalisierende Dramaturgie, mit der er das Revolutionsstück dem bürgerlichen Publikum nahebrachte, hätte es dieses avancierteste von allen Werken Hauptmanns weder auf die Bühnen des 19. Jahrhunderts geschafft noch darauf sich länger als wenige Tage behauptet. Die Weber (bzw. ihre Vorstufe De Waber) entstanden in der Hauptsache im Sommerhalbjahr 1891 im schlesischen Schreiberhau, wohin sich Hauptmann zu eben diesem Behuf mit Frühlingsbeginn aus Berlin zurückgezogen hatte. In den ersten sechs Monaten dieser Wiederaneignung der heimatlichen Bergwelt schreibt er zwei ihrer Textgestalt nach bisher unbekannte Postkarten an Brahm, die den mehr oder weniger offenen Bezug auf die Zeitschrift Freie Bühne gemeinsam haben und zugleich auf verblüffende Weise durch das Farbwort »grün« miteinander verbunden sind – sie werden daher auch zusammen vorgestellt:  [Schreiberhau, 26. März 1891] Lieber, hab Dank! Nicht dafür, daß Du mich gut behandelst sondern für Deine Behandlungsart. Denn je mehr ich bezweifle, daß ich eine Schätzung wie die Deinige verdiene, um so stärker wird mein Wille, und so reiner mein Wunsch. Mit dem grünen Heft in der Brusttasche werde ich heut, gestärkt und heiter auf die Berge steigen: Hab Dank für diese geschenkte Heiterkeit. Gestern nämlich erfuhr ich durch Bruder Karl von einem ⅔ bis ¾ Hause, erhielt [sic] also meinen Mißerfolg besiegelt. Es griff mich etwas. Heut hast Du die letzten Gespenster verjagt. Du Guter, denk meiner und raffe dich wenigstens in 8 Tagen einmal zu einer Karte auf. Grüß herzlich die Tafelrunde.  Dein Hauptmann28  [Schreiberhau, 1. September 1891] Ich hatte mir meinen Wagen etwas verfahren, ein Sonderschicksal aus dem Massenschicksal herausgehoben. Der Schnitzer ist nun verbessert dank des in mir lebendigen Proportionen= u Perspective=sinns. Nun geht es lustig … nein traurig weiter. Ich wittre nun schon manchmal in mitten des Wüstensandes der Arbeit die Oasenwasserluft. Vielleicht taucht bald was Grünes auf und die Reise ist beendet.

28 SBB-PK, Autogr. I/4522, 3. Vgl. OB/GH, Nr. 33. Die dort angegebene Datierung (27. 3.) entspricht dem Berliner Eingangsstempel; in Schreiberhau wurde die Karte jedoch schon am 26. 3. gestempelt.

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Sonst gehts uns allen gut. Große Freude haben wir über Deine fortschreitende Fettleibigkeit. Charlottenburg ist aufgeflogen; wir kommen aber. Wenn ich allein komme ist natürlich Brahmpalazzo Ziel. Hab Dank für die Einladung Es lebe die Forellenzucht, der Schneeschuhlauf und der deutsche Sect. Göschen schreibt übrigens Briefe. Discretion.  Dein Gerhart H.29 Die erste Karte stellt den Ängsten um die Bühnentauglichkeit der Einsamen Menschen,30 deren Aufführung im Deutschen Theater L’Arronges am 21. März 1891 der Verfasser noch in Berlin miterlebt hatte (und die tatsächlich nach sechs Vorstellungen abgesetzt wurde), die Bestätigung und Ermutigung gegenüber, die Hauptmann aus Brahms Besprechung in der Freien Bühne bezog.31 Darin wird die Frage der Bühnenwirksamkeit des eher »impressionistisch« angelegten Familiendramas mit diplomatischem Feingefühl erörtert, der »warme und einmütige Beifall einer tiefergriffenen Hörerschaft« dokumentiert und im Übrigen – gerade dieser Schluss musste dem jungen Dramatiker wie eine Fanfare in den Ohren klingen – das weitere Schicksal des Bühnenautors Hauptmann der allgemeinen Theatergeschichte überantwortet; der Theaterverein Freie Bühne habe bei dessen vermeintlicher »Entdeckung« nur seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit getan. Mit diesem Ritterschlag in der Brusttasche konnte Hauptmann umso eher – wie ein zweiter Zarathustra – auf die Berge steigen, als schon der Umschlag des Zeitschriftenheftes grün war, also auf Natur und Hoffnung verwies. Seit dem elften Heft vom 16. April 189032 trug die Freie Bühne für modernes Leben des S. Fischer Verlags die zukunftsfreudige Farbe auf dem Umschlag; mit der Übernahme der Redaktion durch den in Friedrichshagen am Müggelsee, also ›im Grünen‹, ansässigen Wilhelm Bölsche – mit einiger Verspätung offiziell deklariert zum Jahresbeginn 1891  – bekam die Rede von den »grünen Heften« für die eingeweihten Zeitgenossen noch einen Nebensinn, der allerdings zum Verständnis der vorliegenden Briefstelle kaum herangezogen werden muss.

29 SBB-PK, Autogr. I/4522, 4 (erstmals gestempelt Schreiberhau, 1. 9. 1891). Vgl. OB/GH, Nr. 38. 30 Dieser Bezug ist im Text der bisherigen Regesten verkannt worden: »Hauptmann dankt Brahm in herzlichen Worten für das Vertrauen, das er ihm trotz des Mißerfolgs des Friedensfestes bewahrt hat« (OB/GH, S. 115). 31 Otto Brahm, Deutsches Theater: Einsame Menschen, in: Freie Bühne, Jg. 2, H. 12 vom 25. 3. 1891, S. 292–294. 32 Drei Hefte später rekurriert Fontane auf den grünen Umschlag als Erkennungszeichen der Freien Bühne in seinem einzigen namentlich gezeichneten Beitrag zur Zeitschrift, der Beschreibung eines Frühlingsspaziergangs am Landwehrkanal. Vgl. Theodor Fontane, Auf der Suche, in: Freie Bühne, Jg. 1, H. 14 vom 7. 5. 1890, S. 396–398 (Hinweis von Dierk Rodewald).



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Mit der Umstellung der Freien Bühne von einer Wochen- zur Monatsschrift zum Jahreswechsel 1891/92 endete Brahms Herausgeberschaft, ohne dass ein Nachfolger nominiert wurde. Tatsächlich gab es jedoch einen Geldgeber, der überhaupt die Weiterführung des defizitären Blattes ermöglichte und in halb konspirativen Verhandlungen zwischen den Brüdern Hauptmann und Fischer behutsam als Quasi-Herausgeber inthronisiert wurde: den Wiener (später nach Prag berufenen) Gestaltpsychologen Christian Freiherr von Ehrenfels. Die von diesem angestrebte Neuausrichtung der Zeitschrift als Diskussionsforum für ethische Grundsatzfragen stieß beim Noch-Herausgeber Brahm im Sommer 1891 auf erheblichen Widerstand. Gerade Anfang September 1891 »spitzte sich« laut Gerd-Hermann Susen, dem diese grundlegend neuen Einsichten in die Geschichte der Zeitschrift zu verdanken sind, »der Konflikt zwischen den Kontrahenten zu.«33 Vor diesem Hintergrund erscheint es nahezu als selbstverständlich, dass der zuständige  – und mit seinen finanziellen Besorgnissen am Zustandekommen des Konflikts hauptschuldige  – Verleger Samuel Fischer zeitgleich an seinen Hauptautor (und nach Carl Hauptmann wichtigsten Kontaktmann in der Ehrenfels-Affäre) »Briefe schreibt«. Ebenso selbstverständlich mussten diese Verhandlungen mit Brahms Gegenspieler und De-facto-Nachfolger bei Hauptmann einen Loyalitätskonflikt oder jedenfalls die Wahrnehmung auslösen, dass ein solcher dem Anschein nach bestand. Er wirkt dem entgegen, indem er Brahm mit der nötigen »Discretion« – die bis zum Versteckspiel mit dem Namen (Fischer/ Göschen) reicht – von diesen Kontakten unterrichtet. In der Anlage der Postkarte ist der literaturpolitische Kassiber gut versteckt: wie ein Postskript am Schluss von launigen Bemerkungen über Riesengebirgsfreuden, denen ihrerseits unverbindliche Bemerkungen über den nächsten Berlin-Besuch vorangestellt sind. Die darin angesprochenen Quartierfragen haben ihre sachliche Grundlage in der Kündigung der 1889 bezogenen Wohnung in der Charlottenburger Schlüterstraße (»Charlottenburg ist aufgeflogen«). Ein ganz anderes Diskursformat bestimmt dagegen den ersten Absatz der Karte. Es handelt sich dabei trotz aller Lakonik zweifellos um die relevantesten Aussagen Hauptmanns zur ästhetischen Struktur der Weber im Umkreis des Entstehungsprozesses. Der oft als unintellektuell oder naiv eingeschätzte Autor verrät darin ein ausgeprägtes Bewusstsein von der konzeptuellen Besonderheit der Weber als Drama ohne individuellen Helden im Vorfeld der Massendramatik des 20. Jahr-

33 Wilhelm Bölsche, Briefwechsel mit Autoren der Freien Bühne, hg. von Gerd-Hermann Susen, Berlin 2010 (Werke und Briefe / Briefe, Bd. 1), S. 50.

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hunderts: »Ich hatte mir meinen Wagen etwas verfahren, ein Sonderschicksal aus dem Massenschicksal herausgehoben.«34 Wenn Hauptmann anschließend die Bereinigung dieses »Schnitzers« mit dem »in mir lebendigen Proportionen= u Perspective=sinn« begründet, fällt ein zweites für die Diskussion um dieses Hauptwerk richtungweisendes Stichwort. Denn offenbar ist diese besondere Kompetenz des Autors für die Herstellung jener ästhetischen »Objektivität« verantwortlich, die dem von der Zensur unter Tendenzverdacht gestellten Drama von der Mehrheit der Kritiker attestiert wurde.35 Man erinnere sich nur der Diskussionen um die Funktion des letzten Aktes, von dem etwa Fontane bemerkte, dass sich das Revolutionsstück hier gegen die Revolution selbst auflehne!36 Ist es Zufall, dass Hauptmann diesen Sinn für Proportionen und Perspektive als etwas in ihm »Lebendiges« bezeichnet? Lebensmetaphorik und künstlerischer Arbeitsprozess verbinden sich in den folgenden Sätzen des Postkartentextes zu einem komplexen Bild, das den dichterischen Vorgang zunächst mit einer fortschreitenden Bewegung im Raum vergleicht, also die Fahrt-Metapher des ersten Satzes wiederaufgreift. Der Schriftsteller des kolonialistischen Zeitalters sieht sich auf einer Expedition durch die  – nicht kartographierte, im Wortsinn Neuland darstellende  – Wüste, einer ›Durststrecke‹ gleichsam, an deren Ende er aber schon »Oasenwasserluft« wittert. Das künstlerische Gelingen wird also mit dem Anschluss an eine Sphäre fruchtbarsten Lebens assoziiert, die sich im Verhältnis zu ihrer Umgebung bzw. den vorher zu absolvierenden Arbeitsetappen als »grüne Stelle« bezeichnen ließe. Man kennt diese Wortprägung aus der Romantheorie des 19. Jahrhunderts; Friedrich Theodor Vischer bedient sich der 34 Vgl. die Einschätzungen Bölsches und Brahms in den ersten Rezensionen zur Buchausgabe: »›Die Waber‹ sind ihrer Technik nach eins der merkwürdigsten Stücke, die überhaupt jemals geschrieben worden sind. Ein Drama ohne einen durch alle Akte durchgehenden Helden, ja geradezu ohne durchgehende Personen überhaupt« – »Nicht die Stimmung des Einzelnen ist es, welche der Dichter also sicher auffaßt – er gibt Psychologie der Massen« (Gerhart Hauptmanns Weber. Eine Dokumentation, hg. von Helmut Praschek, Berlin 1981, S.  122 und 131). Noch 1955 heißt es bei Brecht über das »Standardwerk des Realismus«: »Der Proletarier betritt die Bühne, und er betritt sie als Masse« (Bertolt Brecht, Gesammelte Werke in 20 Bänden, Frankfurt a. M. 1967, Bd. 19, S. 364). 35 Von »künstlerischer Objektivität« spricht schon Brahms Rezension der Buchausgabe; Bölsches Besprechung zieht die Parallele zu Goethe: »Der Beobachter muß einigermaßen immer über alle Parteien erhaben sein« (Hauptmanns Weber, S. 121). 36 »Es ist ein Drama der Volksauflehnung, das sich dann wieder, in seinem Ausgange, gegen die Auflehnung auflehnt […] Daß dadurch etwas entstand, was revolutionär und antirevolutionär zugleich ist, müssen wir hinnehmen und trotz des Gefühls einer darin liegenden Abschwächung doch schließlich auch gutheißen. Es ist am besten so« (ebd., S. 196).



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Wendung im Rahmen von Überlegungen, wie auf dem Boden einer (laut Hegel) zur Prosa geordneten gesellschaftlichen Wirklichkeit der Poesie »ihr verlorenes Recht« zurückgewonnen werden könne. Er empfiehlt dafür »die Aufsuchung der grünen Stellen mitten in der eingetretenen Prosa, sei es der Zeit nach (Revolutionszustände u.s.w.), sei es dem Unterschiede der Stände, Lebensstellungen nach (Adel, herumziehende Künstler, Zigeuner, Räuber u. dergl.).«37 Darf man die Wahl der Weber-Revolte als Gegenstand von Hauptmanns Drama auch im Rahmen einer solchen hegelianischen Poetik sehen? Wenn die Entwürfe zum Bauernkriegsdrama Florian Geyer gelegentlich von der Poesie heroischer Aktionen in der Märzrevolution sprechen,38 scheint sich eine solche Vermutung im positiven Sinne zu bestätigen. Für die Vorbereitung des Florian Geyer hat Hauptmann in Begleitung seiner Frau 1892 – ähnlich wie zuvor für die Weber – eine regelrechte Studienreise durch Franken unternommen, auf der sich allerdings bald Kunsteindrücke in den Vordergrund drängten. Von seiner damaligen, eine lebenslange Wertschätzung39 begründenden Begegnung mit der Bildhauerkunst Peter Vischers d.  Ä. und Tilman Riemenschneiders zeugen zwei gleichfalls erst seit wenigen Jahren im Original zugängliche Postkarten:  [Nürnberg, 31. Juli 1892] (8 Tage noch Hotel rother Hahn Nürnberg[)] Lieber! Peter Vischer ist Shakespeare und Goethe und wer das bezweifelt, der hänge sich auf. Donnerwetter! Was wir suchen und erkämpfen, das war Ihnen ungesucht in Hand und Mund und Kopf. So ein bastelnder und handfertiger Meister bastelte und bastelte bis er schließlich auf die Idee kam dem lieben Gott gleich Himmel und Erde und heiligen Geist nachzumachen. Wer hier nichts lernt der soll sich begraben lassen. Ich lasse mich nicht begraben Gruß von Maus.  Dein Gerht Hptm40

37 Friedrich Theodor Vischer, Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, Dritter Theil: Die Kunst­lehre, Stuttgart 1857, S. 1305. 38 Vgl. die ungedruckten »Vorbemerkungen« (1894/95): SBB-PK, GH Hs 568, 530. 39 Vgl. Peter Sprengel, Wirklichkeit der Mythen. Untersuchungen zum Werk Gerhart Hauptmanns aufgrund des handschriftlichen Nachlasses, Berlin 1982, S.  147–151 (mit Abb. des Sebaldusgrabs auf Tafel 5). 40 SBB-PK, Autogr. I/4522, 7. Vgl. OB/GH, Nr. 49. Erster Stempel: Nürnberg, 31. 7. 1892.

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 [15. August 1892] Lieber, sei gegrüßt. Unter den Ideen, die mir reichlich kommen ist eine mir besonders lieb geworden: nämlich ein Bratwurst glöckle in Berlin zu er­rich­ ten. Im Übrigen schwöre ich jetzt neben Vischer auf Tillmann Riemenschneider. Es giebt ja viele, die aus Marmor und Metall hölzerne Heilige gemacht haben, aber niemanden, der, wie Riemenschneider, aus Holz freies, ungebundenes Leben schuf. Der Mann ist von einer göttlichen Zartheit und Schönheit. Ich wünschte Dir von ihm ein Paar Augen voll. Es macht einem licht daran zu denken, als ob man Diamanten verschluckt hätte. Das Deutsche Theater aber darf uns nicht entgehen. Und wenn wir einen Riesendramatischen Verein gründen müssten. Große freie Vereinigungen fördern eine freie, starke Kunst. Gruß von zweien,  Dein Gerhart41 Die Handwerkerkünstler der Renaissance, so darf man resümieren, stiften Leben und Licht42 und stehen in ihrem universalistischen Anspruch auf einer Höhe mit Goethe und Shakespeare – aber offenbar auch in einer Linie mit den Künstlern der Moderne, die um dieselben Ziele ringen (nur nicht »ungesucht«) und von den alten Meistern offenbar auch hinsichtlich des Nutzens sozialer Zusammenschlüsse lernen können. Der letzte Satz der zweiten Karte bezieht sich in diesem Sinne auf die Aussichten für eine Übernahme des Deutschen Theaters, für die erhebliche finanzielle Sicherheiten erforderlich waren. Statt des genossenschaftlichen Wegs in Potenzierung der Konstruktion der Freien Bühne, wie er Hauptmann hier vorzuschweben scheint, kam schließlich das privatkapitalistische Modell zum Tragen – mit den prekären Spätfolgen für die Beziehung zwischen Dichter und Theaterdirektor, von denen eingangs die Rede war, aber auch mit erheblichen Risiken für Brahm, von denen dieser Hauptmann noch im Frühjahr 1894 nach Amerika berichtet.43 41 SBB-PK, Autogr. I/4522, 9. Vgl. OB/GH, Nr.  51 (mit Datierung 14. 8. 1892). Erster Stempel: Bahnpost, 15. 8. 1892. 42 Die Formulierung »es macht einem licht […], als ob man Diamanten verschluckt hätte« schließt sich an die oben (mit Anm. 11 und 14) vorgestellten Belege für die Lichtmetaphorik in Hauptmanns Brahm-Korrespondenz an; zusätzlich ergibt sich ein Bezug zu Texten, in denen das Motiv des verschluckten Edelsteins konkrete Bedeutung gewinnt, wie Jean Pauls Leben Fibels (Kapitel 7) und Hebbels Lustspiel Der Diamant. 43 In seinem Brief vom 17. 3. 1894 heißt es dazu u.  a.: »Ich mußte also noch Geld auftreiben, mit der Peitsche hinter mir, und habe bittere Stunden durchgemacht, den ganzen Winter. […] na, nu is alles wieder gut« (OB/GH, S.  131). Hauptmann zitiert die letzte Formulierung im Brief vom 7. 4. 1894.



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Hauptmanns abrupter Aufbruch nach Amerika war ausgelöst durch die Flucht mit den drei Söhnen zum Ehepaar Ploetz/Rüdin in Meriden/Connecticut, mit der Marie Hauptmann auf Gerharts Eingeständnis seiner Liebe zur jungen Geigerin und Schauspielschülerin Margarete Marschalk reagierte. Die Reise markiert nicht nur räumlich eine erheblich vergrößerte Distanz zu Brahm; indem Hauptmann vor diesem den eigentlichen Grund seiner Ehekrise monatelang geheim zu halten versucht, riskiert er einen Vertrauensverlust, ja ein Kommunikationsloch zwischen den Briefpartnern, von dem sich ihre Korrespondenz nur langsam wieder erholen sollte. Bisher war aus der Zeit des Amerika-Aufenthalts nur der schon genannte Brief Brahms bekannt, der allerdings gewisse Rückschlüsse auf Hauptmanns vorangehendes – durch ein Regest überliefertes – Schreiben vom 13.  Februar 1894 erlaubte.44 Heute ist nicht nur dieser erste, sondern auch ein zweiter (in der Literatur nirgends verzeichneter) Brief Hauptmanns aus Meriden zugänglich. Beide Schriftstücke sind nur mit Schwierigkeiten zu entziffern45 und werden hier erstmals mitgeteilt:  Meriden Conn d 13. 2. 94. Lieber alter Freund, zunächst schreib. Was sagen »die Unbefriedigten« in Berlin von mir? Hält man mich wohl für übergeschnappt? – Ich bin hierher gekommen, ich weiss eigentlich kaum: wie? Lange Briefe zu schreiben habe ich leider auch hier noch nicht gelernt. Ich hätte wohl einigen Stoff, insoweit kann ich ehrlich sein, aber er ist unmittheilbar. Die Thatsache ist, dass meine Frau, die Kinder und meine Armseligkeit hier bei Freund Ploetz zum Besuch sind. Ob ich mich auf Jahre oder Monate vom lieben Vaterlande, wo es nicht verrückter zugeht wie anderwärts, fernhalten werde, weiss ich heut noch nicht. Jedenfalls thut der Wechsel an sich sehr wohl. Man muss auch mit den Irrenhäusern mal wechseln. Dr Ploetz und seine Frau leben von der Hand in den Mund. Es ist ein Jammer wieviel Kraft und Tüchtigkeit hier ungenützt liegt. Aber was rede ich: Du kannst ihn ja beim besten Willen nicht nach Berlin versetzen, wo er hingehört. Grüss Freund Schlenther und grüss seine hochverehrte Frau Conrad. Ich habe jüngst erst erfahren, dass ihre Mutter gestorben ist und herzlich mit

44 OB/GH, Nr. 61. 45 Brahm spielt darauf mit der Bemerkung »Übrigens: selbst Krähenfüße!« an, die Hauptmanns Bitte um möglichst viele »Krähenfüße« (d.  h. Worte in Brahms krakliger Handschrift) ironisch aufnimmt (OB/GH, S. 130).

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ihren Schmerz empfunden. An sie geschrieben habe ich nicht. Ich wollte so spät nicht noch das Trübe wiedererwecken. Ja, wenn ich nun wollte, könnt ich auch einen Amerikafahrer schreiben; unfreiwillige Studien dazu, die bekanntlich die besten sind, hätte ich in ausgiebigem Masse gemacht. Schluss damit. Ich will Dich nicht unnütz neugierig machen. Und wie ich Dir nichts sagen darf, so darfst Du auch Anderen nicht einmal sagen, dass es etwas Privates bei der Sache giebt, das[s] ein eigentlicher Grund vorhanden ist, der die Öffentlichkeit nichts angeht. Der New Yorker Herald hat mich interviewen lassen. Kommt die Geschichte bis zu Euch, dann brauch ich Dir wohl nicht erst zu sagen, dass ich keine Verantwortung für den Inhalt übernehmen kann. Der Interviewer sprach englisch, Ploetz dolmetschte und da ist das meiste drunter und drüber und sehr viel ganz verkehrt herausgekommen. Übrigens habe ich eine Menge gewaltiger, grossmächtiger Eindrücke gehabt und überdies Eisen ins Blut bekommen. Leb wohl und schicke mir recht viel von Deinen Krähenfüssen übers Meer Dein Hauptmann46

 Meriden d 7 April 94 Lieber, Dein Brief that mir gut. Ja Du hast Recht: nichts ist es mit dem Amerika und Ende Mai könnt Ihr mich wieder in Berlin erwarten. Ich bin nun wieder flott. Richtig, eine Weile haperte es mit mir. Es war so eine Art Rückenmarkleiden (nicht buchstäblich zu nehmen) aber so eine Chrise ist doch schliesslich Wiedergeburt. Am Schluss wünscht man nichts ungeschehen. Ich will Dir was ins Ohr sagen: Liebe –! Ich kann Dir also aus persönlicher Erfahrung versichern: dies Getränk hat von seiner alten Taumelkraft noch nichts eingebüsst und ist noch immer aller Süssigkeiten und Bitternisse Inbegriff. Aber bitte: discret wie das Grab!  Was ich an Büchern für den Geyer mitgehabt, ist durchgewurzelt. Ich muss nun bis Schreiberhau pausiren. Eine andere Sache – reines Märchen – ist mir inzwischen bis zu dem Punkte gediehen, wo es Jahr und Tag liegen bleiben muss um gut zu werden; wie Lebkuchen, den man zu diesem Zweck in der Erde vergräbt. Von Max Marschalk erfuhr ich, dass seine Schwester Grete Dir demnächst bei Frau Schlenther etwas vorsprechen soll. Wenn ich Dir etwas rathen darf: lass sie Dir nicht entgehen. Ich lasse mich henken, wenn da nicht ein stärks46 SBB-PK Autogr. I/4522, 14  f. Vgl. OB/GH, Nr. 60.



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tes Talent steckt. Glaub mir – trotz Hachmann – Du machst einen werthvollen Erwerb. Armer Kerle, Deiner Geldquälereien willen habe ich Dich herzlich bedauert. Gott sei Dank, dass »alles wieder gut« ist. Nun wird’s immer besser werden und was ich dazu thun kann, soll geschehen. Wir wollen uns auf die Hosen setzen und das übrige Gott anheim geben: so muss es gut werden. Alles was Du mir münchnerisches schreibst, hat mir viel Freude gemacht. München ist schön aber – Berlin ist doch besser – (aus der Ferne wirds einem ganz deutlich) – und wir hier haben uns für Berlin entschieden: dort werden wir von nun an 7 Monate im Jahre leben.  Also: auf Wiedersehen! Viele Grüsse von der Maus und den drei Mäuslein Gerhart47 Während der erste Brief in der Geste des Verschweigens erstarrt, nähert sich der zweite einem Liebesgeständnis. Die Angaben zur Person werden allerdings ausgelagert und in eine Empfehlung für eine begabte Schauspielschülerin Paula Conrad-Schlenthers verwandelt, der Brahm trotz der Skepsis seines Regisseurs Cord Hachmann eine Chance geben solle. Was er denn auch tat48  – kaum in Unkenntnis der weitergehenden Beziehung Margarete Marschalks zu Hauptmann. Säuberlich von diesen individuellen Daten getrennt, gibt der amerikamüde »Amerikafahrer«49 im selben Brief ein abstraktes Bekenntnis zur Liebe ab, das schon die beiden Haupttypen erkennen lässt, unter denen dieser Schriftsteller analoge Gefühlskonstellationen in Zukunft bearbeiten wird: nämlich einerseits das christlich-pietistische, durch Goethe popularisierte Modell der »Wiedergeburt«,50 andererseits die antikische Version des dionysischen »Taumeltranks«

47 SBB-PK, Autogr. I/4732. 48 In der ersten öffentlichen Aufführung der Weber (Deutsches Theater Berlin, 27. 9. 1894) spielte Margarete Marschalk die Gastwirtstochter Anna Welzel. Ein Brief von ihr an Brahm zu Urlaubsfragen hat sich erhalten: SBB-PK, Autogr. I/4522, 46  f. 49 Vgl. Max Halbe, Der Amerikafahrer. Ein Scherzspiel in Knittelreimen, Berlin 1894. Hauptmanns Bemerkung, er könne »auch einen Amerikafahrer schreiben«, lässt sich zugleich als erste Ankündigung des Romans Atlantis (1912) auffassen. 50 Der für spätere Texte Hauptmanns wie Deutsche Wiedergeburt (1921) grundlegende Begriff begegnet in ähnlicher Funktion schon in Einsame Menschen, nämlich in Johannes Vockerats Bekenntnis über die Folgen seiner Begegnung mit Anna Mahr: »Seit sie hier ist, erlebe ich gleichsam eine Wiedergeburt. Ich habe Mut und Selbstachtung zurückgewonnen. Ich fühle Schaffenskraft, ich fühle, daß das alles geworden ist unter ihrer Hand gleichsam. Ich fühle, daß sie die Bedingung meiner Entfaltung ist« (CA II, S. 229).

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und des schon von Sappho berufenen »bittersüßen« Eros.51 Insofern reicht der Werkkatalog, der im April-Brief aufgemacht wird, nicht nur bis zum Florian Geyer oder der  – hier als »reines Märchen« angesprochenen  – Mythendichtung Der Mutter Fluch, einer Vorstufe zum Märchendrama Die versunkene Glocke (1896), sondern letztlich weiter bis zur Novelle Der Ketzer von Soana (1918), dem Gipfel der vitalistischen Emphase und des Eros-Kults52 im Hauptmann’schen Œuvre. Während der Vitalismus im Frühwerk, wie an vielen Stellen der Brahm-Korrespondenz ersichtlich, als Paradigma des künstlerischen Schaffensprozesses diente, tritt er nunmehr ins thematische Zentrum bzw. in die Gegenständlichkeit der Texte ein und wird zu einer Verhaltensmaxime für den Autor und seine Protagonisten: Liebe, um (intensiv) zu leben. Daraus kann natürlich auch wieder Dichtung entstehen, so dass sich der Kreis zum älteren Modell schließt, das keineswegs obsolet geworden ist: Unter der Maske von Hauptmanns Dramatik sollen wir weiterhin das Meer des Lebens branden hören.

51 52

Vgl. das Gedichtfragment 137 (in Diehls Zählung) und die deutsche Wiedergabe in: Grie­chi­ sche Lyrik in einem Band, übertragen von Dietrich Ebener, Berlin und Weimar 1976, S. 114. Vgl. Wolfgang Riedel, »Homo Natura«. Literarische Anthropologie um 1900, Berlin und New York 1996, S. 263–270.

tilman venzl

was ist antimilitaristische literatur? Das Beispiel Der Hauptmann von Köpenick, mit einem unbekannten Kommentar Carl Zuckmayers Am 16.  Oktober 1906 verkleidete sich der Habenichts und notorische Kleinkriminelle Wilhelm Voigt als preußischer Hauptmann, brachte einen Trupp Soldaten unter sein Kommando und besetzte das Bürgermeisteramt von Köpenick. Dabei erbeutete er nicht nur eine größere Geldsumme, sondern offenbarte auch, welch weitreichende Handlungslizenzen das Militär in der Kaiserzeit besaß. Die Öffentlichkeit, die hinter diesem Hochstapler ein »modernes Genie[]« vermutete, reagierte mit Begeisterung, gar mit einer regelrechten »Hysterie« – selbst »Nachahmer« traten auf den Plan.1 Ikonische Gestalt haben diese Ereignisse in Carl Zuckmayers Erfolgsstück Der Hauptmann von Köpenick erhalten, in dem der Autor den Stoff nach eigener Auskunft »völlig frei« (VII, 323) behandelte.2 Unter anderem stellt sich sein Protagonist am Ende des Stücks, anders als das historische Vorbild, freiwillig den verblüfften Ermittlern und ist auch zu einem umfassenden Geständnis bereit, sofern ihm dafür ein Pass zugesichert wird. Heiter und leutselig zieht er auf allgemeinen Wunsch nochmals jene Uniform an, die ihm nach eigenem Dafürhalten »janz alleene« (VII, 443) seinen Coup ermöglicht hat. Das Dramengeschehen endet mit Voigts Reaktion, als er sich beim Blick in den Spiegel erstmals in Montur betrachtet: Er steht mit dem Rücken zum Publikum. Direktor tritt mit den anderen bei­seite, beobachtet ihn. Voigt steht zuerst ganz ruhig  – dann beginnen seine Schultern zu zucken, ohne daß man einen Laut hört – dann beginnt seine Gestalt zu schüttern und zu wanken, daß der Portwein aus dem Glas schwappt – dann dreht er sich langsam um – lacht – lacht immer mehr, lacht übers ganze Gesicht, mit dem ganzen Körper, aus dem ganzen Wesen – lacht, 1 2

Stephan Porombka, Felix Krulls Erben. Zur Geschichte der Hochstapelei im 20. Jahrhundert, Berlin 2001, S. 58  f. Im Folgenden wird unter Angabe der Bandnummer und der Seitenzahl zitiert nach Carl Zuckmayer, Werkausgabe in zehn Bänden, 1920–1975, Frankfurt a. M. 1976.

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bis ihm der Atem wegbleibt und die Tränen herunterlaufen. Aus diesem Lachen formt sich ein Wort  – erst leise, unverständlich fast  – dann immer stär­ker, deutlicher, endgültiger  – schließlich in neuem, großem, befreitem und mächtigem Gelächter alles zusammenfassend Unmöglich!! (VII, 445  f.) Das unbändige Lachen des Protagonisten wird von der Forschung zumeist unter politischen Auspizien kommentiert und etwa als »satirische[r] Hieb«3 oder als »ätzende[] Kritik«4 gewertet. Die Deutung des Dramenschlusses als satirische Entlarvung einer gesellschaftlichen Problemlage speist sich wesentlich aus der Annahme, dass Zuckmayer den »Militarismus im Wilhelminismus«5 darstellen und kritisieren wollte. Da das Dargestellte bekanntlich »vom Grauen der Geschichte eingeholt und überholt worden«6 ist, wird dem Autor aber mitunter auch der moralische Vorwurf gemacht, dass er in der satirischen Darstellung nicht weit genug gegangen sei und dadurch letztlich einer trügerischen Harmonisierung das Wort geredet habe.7 3

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Paul Riegel, Zuckmayer: ›Der Hauptmann von Köpenick‹, in: Europäische Dramen von Ibsen bis Zuckmayer. Dargestellt an Einzelinterpretationen, hg. von Ludwig Büttner, 3.  Aufl., Frankfurt a. M. 1965, S. 195–208, hier S. 208. Helmuth Kiesel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur, 1918–1933, München 2017, S. 1103. Gunther Nickel, Zuckmayer, Carl, in: Killy Literaturlexikon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes, Bd. 12, hg. von Wilhelm Kühlmann, 2. Aufl., Berlin und New York 2011, S. 710–712, hier S. 711. Vgl. auch Richard Albrecht, Carl Zuckmayer im Exil, 1933–1946. Ein dokumentarischer Essay, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 14 (1989), H. 1, S. 165–202, hier S. 177; Walter Dimter, Carl Zuckmayer: ›Der Hauptmann von Köpenick‹, in: Dramen des 20.  Jahrhunderts. Interpretationen, Bd.  1, Stuttgart 1996, S. 345–372, bspw. S. 357; Anthony Grenville, Authoritarianism Subverting Democracy. The Politics of Carl Zuckmayer’s ›Der Hauptmann von Köpenick‹, in: Modern Language Review 91 (1996), S.  635–647, bspw. S.  641  f. Gunther Nickel, »Ihnen bisher nicht begegnet zu sein, empfinde ich als einen der grössten Mängel in meinem Leben«. Der Briefwechsel zwischen Carl Zuckmayer und Ernst Jünger, in: Zuckmayer-Jahrbuch 2 (1999), S. 515–547, hier S. 517; Walter Schmitz, Das kleine Welttheater der Macht. Carl Zuckmayers ›Der Hauptmann von Köpenick‹, in: Zuckmayer-Jahrbuch 3 (2000), S. 377–415, bspw. S. 380; Dieter Cherubim, Der zackige Ton. Die Militarisierung der deutschen Sprache im 19. und 20. Jahrhundert, in: Zur Rolle der Sprache im Wandel der Gesellschaft, hg. von Matti Luukkainen, Helsinki 2002, S.  228–248; Bernhard Spies, Komik und komisches Drama bei Carl Zuckmayer, in: Zuckmayer-Jahrbuch 6 (2003), S. 423–451, hier S. 442 und Stefan Krammer, Das Drama mit der Uniform. Militarismus zwischen den Weltkriegen, in: Tropen des Staates. Literatur, Film, Staatstheorie, 1918–1938, hg. von dems., Stuttgart 2012, S. 175–192, hier S. 180–185. Harald Weinrich, Carl Zuckmayer als Dramatiker, in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Schönen Künste in München 13 (1999), H. 2, S. 613–619, hier S. 615. Dieser Vorwurf wurde besonders prononciert von DDR-Wissenschaftlern formuliert. Vgl. Paul Rilla, Zuckmayer und die Uniform, in: Dramaturgische Blätter. Monatsschrift für



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Wie auch immer Zuckmayers satirische Konsequenz beurteilt wird, der militarismuskritische Interpretationsansatz hat den älteren Leitfragen nach den literaturgeschichtsimmanenten Bezügen8 und den autorpoetischen Positionen9 in der jüngeren Forschung eindeutig den Rang abgelaufen. Da der historische Fall Voigts so prominenten Historikern wie Thomas Nipperdey, Hans-Ulrich Wehler oder Wolfram Wette geradezu als Paradefall des preußischen Militarismus gilt,10 Lite­ratur und Bühne 2 (1948), H. 7, S. 289–302 und Wilfried Adling, Die Entwicklung des Dramatikers Carl Zuckmayer, in: Schriften zur Theaterwissenschaft, Bd.  1, Berlin 1959, S. 9–286, hier S. 105–134, der u.  a. vom »schäbigen bürgerlich-liberalen Kompromißlertum« spricht (S.  112). Vgl. auch Mary Stewart, Zuckmayer: ›Der Hauptmann von Köpenick‹, in: Landmarks in German comedy, hg. von Peter Hutchinson, Oxford u.  a. 2006, S. 179–193, hier S. 191  f. 8 Vgl. v.  a. die gängige Klassifizierung als ›Volksstück‹ von Martin Greiner, Carl Zuckmayer als Volksdichter [1958], in: Theater und Gesellschaft. Das Volksstück im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Jürgen Hein, Düsseldorf 1973, S. 161–173, hier S. 168  f.; Walter Hinck, Das moderne Drama in Deutschland. Vom expressionistischen zum dokumentarischen Theater, Göttingen 1973, S. 139–141; Jürgen Hein, Zuckmayer: ›Der Hauptmann von Köpenick‹ [1977], in: Carl Zuckmayer. Materialien zu Leben und Werk, hg. von Harro Kieser, Frankfurt a. M. 1986, S. 47–70 und Thomas Schmitz, Das Volksstück, Stuttgart 1990, S. 39–43. – Einen etwas in die Jahre gekommenen Überblick über die Forschung gibt Hans Wagener, Carl Zuckmayer Criticism. Tracing Endangered Fame, Columbia 1995, S. 54–68. Vgl. ferner die bibliographischen Hinweise in Ingrid Bigler-Marschall, Zuckmayer, Carl, in: dies., Deutsches Theater-Lexikon. Biographisches und bibliographisches Handbuch, Bd.  7, Berlin und Boston 2012, S. 3870–3890, mit Hinweisen auf die gängigen Bibliographien, S. 3874, zum ›Hauptmann von Köpenick‹, S. 3883–3885. 9 Vgl. v.  a. Ingeborg Engelsing-Malek, Zuckmayers Dramen, Konstanz 1960, S. 48–64, Henry Glade, The Motif of Encounter in Zuckmayer’s Dramas, in: Kentucky Foreign Language Quarterly 10 (1963), S. 183–190 und E. Speidel, The Stage as Metaphysical Institution. Zuckmayer’s Dramas ›Schinderhannes‹ and ›Der Hauptmann von Köpenick‹, in: The Modern Language Review 63 (1968), H. 2, S.  425–436. Vgl. zu Zuckmayers Autorpoetik nach 1945 Henry Glade, Carl Zuckmayer’s Theory of Aesthetics, in: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur 52 (1960), H. 4, S. 163–170 und Hans Wagener, Vom metaphysischen und dichterischen Theater. Zuckmayers Dramentheorie [1983], in: Carl Zuckmayer. Materialien zu Leben und Werk, hg. von Harro Kieser, Frankfurt a. M. 1986, S. 136–146. 10 Vgl. Thomas Nipperdey, War die Wilhelminische Gesellschaft eine Untertanen-Gesellschaft? [1985], in: Nachdenken über die deutsche Geschichte. Essays, München 1986, S. 172–185, hier S. 173; Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 5 Bde., München 1987– 2008, hier Bd. 3, S. 821  f. und Wolfram Wette, Militarismus in Deutschland. Geschichte einer kriegerischen Kultur, Darmstadt 2008, S. 78  f. Bezeichnenderweise sind längere Passagen Wehlers abgedruckt bei Hartmut Scheible, Erläuterungen und Dokumente. Carl Zuckmayer: ›Der Hauptmann von Köpenick‹, Stuttgart 2000, S.  144–148, 152–154.  – Vom historischen Fall auf die fiktionale Gestaltung schließen u.  a. Thomas Rohkrämer, Der Militarismus der »kleinen Leute«. Die Kriegervereine im deutschen Kaiserreich, 1871–1914, München 1990, S. 36, Anm. 66 und Sabina Brändli, Von ›schneidigen Offizieren‹ und ›Militärcrinolinen‹.

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scheint dies auf den ersten Blick auch durchaus zwingend. Zuckmayers Absichtsbekundung in seiner Autobiographie von 1966, dass das Militär »nicht blindlings verdammt und verteufelt« (II, 458) werden sollte, steht der antimilitaristischen, satirischen Lesart des Stücks allerdings eher entgegen. Außerdem hatte er bereits wenige Jahre zuvor von der »liebenswerten Beschränktheit und ernsthaften Komik« einer der Militärfiguren des Stücks gesprochen und auf sein Wirkungsziel des »richtige[n] Lachen[s]« hingewiesen, das den »Keim des richtigen Denkens«, des »Nachdenkens« in sich trage.11 Ich werde im Folgenden argumentieren, dass die Kategorie des Militarismus für das Verständnis des Hauptmann von Köpenick wenig geeignet ist, wenn damit – so der gängige, aber äußert vage »Relationsbegriff« – pauschal die »Entartungen« und »Gefahren« bezeichnet werden, die aus einem »unangemessene[n] Übergewicht des Militärs in Staat und Gesellschaft« herrühren.12 Stattdessen erlaubt eine genaue, für die Geschichte des Militarismusbegriffs sensible Rekonstruktion von Zuckmayers Haltung zur wilhelminischen Gesellschaft und ihrer militärischen Prägung eine neue, im Hinblick auf den politischen Gehalt adäquatere Interpretation: Das Stück entlarvt nicht das Militär als eine repressive, gesellschaftsbestimmende Gewaltagentur, sondern vielmehr eine Zuckmayer zufolge spezifisch deutsche Neigung zur Verabsolutierung äußerer Regeln, die im Militär besonders deutlich zum Ausdruck kommt. Durch sein Schelmenstück behauptet der Protagonist Wilhelm Voigt den legitimen Anspruch, dass nicht lebensfeindliche, abstrakte Prinzipien, sondern der einzelne Mensch der Zweck der Gesellschaftsordnung zu sein habe. Insgesamt geht es Zuckmayer darum, im Moment des Aufstiegs der Nationalsozialisten humorvoll und versöhnlich an einen Patriotismus zu appellieren, der sich auf den universellen Wert der Humanität verpflichtet. Das Beispiel Zuckmayers soll auch allgemein für die Möglichkeiten und Grenzen der Kategorie Militarismus für literaturwissenschaftliche Untersuchungsinteressen sensibilisieren. Zu diesem Zweck werde ich in meinem ersten Argumentationsschritt die gängigen Etikettierungen der historischen Köpenickiade als Dokument des Antimilitarismus problematisieren, indem ich die zugehörigen geschichtstheoretischen und weltanschaulichen Rahmenannahmen aufzeige. Da die historische Forschung die Vorstellung des einen Militarismus heute weitgehend verabschiedet Aspekte symbolischer Männlichkeit am Beispiel preußischer und schweizerischer Uniformen des 19. Jahrhunderts, in: Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Ute Frevert, Stuttgart 1997, S. 201–228, hier S. 212. 11 Carl Zuckmayer, Die Judenfrage [1959/60], in: Hartmut Scheible, Erläuterungen und Dokumente, S. 55  f. hier S. 56. 12 Jutta Nowosadtko, Krieg, Gewalt und Ordnung. Einführung in die Militärgeschichte, Tü­bin­ gen 2002, S. 112.



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hat, sollte auch die Literaturwissenschaft den Begriff kontextgenau und diskursund ideenhistorisch skrupulös einsetzen (I). Auf der Grundlage dieser Überlegungen werde ich zweitens Zuckmayers Haltung zur Kategorie des Militarismus sowie zum Militär, vor allem während der Weimarer Republik, soweit rekonstruieren, als dies für das Verständnis des Hauptmann von Köpenick nötig ist. Der für den Autor konstitutive Gegensatz von pazifistischer Gesinnung und positiver Haltung zur eigenen Kriegserfahrung war, anders als die Forschung annimmt, keine Besonderheit, sondern durchaus zeittypisch und verband sich bei Zuckmayer mit einem prorepublikanischen Humanismus (II). Unter Einbezug eines der Forschung unbekannten Autorkommentars lässt sich schließlich drittens zeigen, dass in Zuckmayers Deutschem Märchen vom Militär nur insofern Gefahren ausgehen, als es auf Kosten des konkreten Individuums dem abstrakten Ordnungsprinzip Dignität verleiht. Voigts Belagerung des Köpenicker Rathauses ist bei Zuckmayer als eine listige Verteidigung des Menschen angelegt, der gegen die vermeintlich spezifisch deutschen Autonomisierungstendenzen sozialer Ordonnanz gefeit werden muss. Zuckmayers durchaus generell gemeinte Warnung vor den Gefahren einer Degeneration des deutschen Wesens bezieht sich auch konkret auf den Nationalsozialismus, der seit September 1930 die zweitstärkste Kraft im Reichstag bildete (III). Abschließend folgt viertens ein vollständiger Abdruck des erwähnten Autorkommentars, der über die Intentionen Aufschluss gibt, die Zuckmayer mit dem Hauptmann von Köpenick verband (IV).

I. Der Fall Voigt oder die Frage: Welcher Militarismus? Wilhelm Voigt war – so Winfried Löschburg – fraglos ein Opfer »antihumane[r] gesellschaftliche[r] Bedingungen« und wurde insofern »zu einem gut Teil schuldlos schuldig«. Doch als »ein mehrmals Rückfälliger, der zielbewußt gegen die bestehenden Normen des Rechtslebens verstieß«, kann er schwerlich als »moralische Autorität« gelten.13 Obgleich Voigt damals vor der Ausweisung aus Berlin stand, steht der »eindeutig materielle[] Zweck des Überfalles«14 außer Frage, der den vermeintlichen Millionen im Bürgermeisteramt von Köpenick gegolten hatte. Da seine Hochstapelei allerdings ein enormes Medienecho provozierte,15 begriff 13

Winfried Löschburg, Ohne Glanz und Gloria. Die Geschichte des Hauptmanns von Köpenick, Berlin 1978, S. 216. 14 Ebd., S. 35. 15 Vgl. die Auswahldokumentationen Denkwürdigkeiten des Hauptmanns von Köpenick. Der »Räuber-Hauptmann« in der internationalen Karikatur und Satire, hg. von Albrecht Brinitzer, Berlin 1906 und Der Fall Köpenick. Akten und zeitgenössische Dokumente zur Historie einer preußischen Moritat, hg. von Wolfgang Heidelmeyer, Frankfurt a. M. 1968,

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er sich seinem Anwalt Walter Bahn zufolge mehr und mehr als »heldenhafte Persönlichkeit im Mittelpunkt des internationalen öffentlichen Interesses«.16 Nach der aufgrund einer Begnadigung durch den Kaiser verkürzten Haftstrafe nutzte Voigt seine anhaltende Popularität, indem er sich  – so Stephan Porombka  – »[w]ie ein alter Medienprofi«17 im großen Stil international zu vermarkten begann. Als er »bei einer Mainzer Fastnacht im Jahr 1910« (II, 454) auftrat, kam er übrigens auch dem damals dreizehnjährigen Zuckmayer zu Gesicht. Die Tagespresse zeigte sich nicht zuletzt an der symptomatischen Bedeutung des Falls interessiert, wobei dessen Bewertung mit der jeweiligen politischen Gesinnung erheblich differierte. Als Beispiel für die liberale Presse mag die Frankfurter Zeitung gelten, für die der »willenlose[] Gehorsam« gegenüber (echten oder vermeintlichen) Soldaten »Zustände« enthüllte, »die nicht mehr erträglich genannt werden können«.18 Derartige Bedenken wurden in der konservativen Kreuzzeitung durch den Hinweis zerstreut, dass die Köpenicker Stadtverwaltung die Unrechtmäßigkeit des Vorgangs hätte bemerken müssen. Da es sich daher lediglich um ein Kompetenzdefizit gehandelt habe, könne der »Gaunerstreich in Köpenick« schwerlich »zu einer politischen Sensation aufgebauscht« und »gegen den Militarismus ausgenutzt werden«.19 Während es sich in den Augen der Konservativen also um einen Einzelfall handelte, der die Verhältnisse im Grunde rechtfertige, hoben die Liberalen auf den politischen Charakter der Ereignisse ab. Von dem Gedanken getragen, dass sich der Militarismus durch »die Entfaltung einer Industriegesellschaft im Rahmen eines liberalen politischen Systems« von selbst erledigen würde, erschien ihnen der Fall Voigt als Argument für die eigene Agenda. Eine ideologiekritisch zugespitzte dritte Position wurde von marxistischer Seite vertreten, der der Militarismus als ein Resultat der Klassengesellschaft galt und folglich auch nur durch eine »sozialistische[] Revolution« zu überwinden

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S. 84–96. Die Theateraufführungen sind dokumentiert bei Roswitha Flatz, Krieg im Frieden. Das aktuelle Militärstück auf dem Theater des deutschen Kaiserreichs, Frankfurt a. M. 1976, S. 102–104. Am umfassendsten ist Philipp Müller, Auf der Suche nach dem Täter. Die öffentliche Dramatisierung von Verbrechen im Berlin des Kaiserreichs, Frankfurt a. M. u.  a. 2005, S. 196–209, 216–228. Zit. nach Gerhard Prause, Niemand hat Kolumbus ausgelacht. Fälschungen und Legenden der Geschichte richtiggestellt, Frankfurt a. M. und Hamburg 1969, S. 182. Stephan Porombka, Felix Krulls Erben, S.  61.  – Vgl. nicht zuletzt die autobiographische Rechtfertigungsschrift Wilhelm Voigt, Wie ich Hauptmann von Köpenick wurde [1909], Berlin 1986. »Die Verhaftung des Köpenicker Hauptmanns«, in: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, Nr. 296, 26. 10. 1906, Abendblatt, S. 2. »Der Gaunerstreich in Köpenick […]«, in: Neue Preußische Zeitung, Nr.  489, 18. 10. 1906, Abend-Ausgabe, [S. 1].



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sei.20 Entsprechend meinte Karl Liebknecht: »[S]o wird die Lehre von Köpenick, die von der bürgerlichen Gesellschaft nicht befolgt werden kann, nichts andres bleiben, als ein schlagkräftiges Agitationsmittel des Antimilitarismus«.21 In den verschiedenen Einlassungen spielte der Militarismus eine wichtige Rolle, und zwar durchaus im Sinne des »pejorativ-polemische[n]«22 Ursprungs des seit den 1860er Jahren in der politischen Sphäre gebräuchlichen Begriffs. Allerdings waren die hieraus jeweils abgeleiteten Folgerungen aufgrund der unterschiedlichen gesellschaftstheoretischen Rahmenannahmen divers. Insgesamt scheinen die Köpenicker Ereignisse den Zeitgenossen – so resümiert der Historiker Benjamin Ziemann  – eher die »satirische[] Subversion des Militarismus« als dessen »ungebrochene Geltung« zu belegen.23 Dass mit der eingangs erwähnten Bewertung des historischen Falls Voigt unter antimilitaristischen Vorzeichen keineswegs eine heitere Episode in diesem Sinne, sondern vielmehr die Enttarnung einer militärfixierten autoritativen Gesellschaftsordnung gemeint ist, erschließt sich erst im Zusammenhang der Militarismusdiskussion nach 1945. In der nach dem Zweiten Weltkrieg kompromittierten und um Schuldabweis bemühten westdeutschen Gesellschaft verständigte sich das Gros der Historiker bald auf die These, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus als »historische[r] Betriebsunfall«24 anzusehen seien. Erst durch die Fischer-Kontroverse, die vor dem Hintergrund der deutschen Wiederbewaffnung, dem Eichmann-Prozess und wenig später den Frankfurter Auschwitz-Prozessen enorme Brisanz erhielt,25 20 Volker R. Berghahn, Militarismus. Die Geschichte einer internationalen Debatte, aus dem Engl. übers., Hamburg u.  a. 1986, S. 38. 21 Karl Liebknecht, Militarismus und Antimilitarismus unter besonderer Berücksichtigung der internationalen Jugendbewegung, Leipzig 1907, S. 35. 22 Werner Conze, Michael Geyer und Reinhard Stumpf, Militarismus, in: Geschichtliche Grund­begriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, hg. von Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck, Stuttgart 1978, S. 1–47, hier S. 1. 23 Benjamin Ziemann, Der ›Hauptmann von Köpenick‹. Symbol für den Sozialmilitarismus im wilhelminischen Deutschland?, in: Grenzüberschreitungen oder der Vermittler Bedrich Loewenstein. Festschrift zum 70. Geburtstag eines europäischen Historikers, hg. von Vilém Prečan, Prag und Brünn 1999, S. 252–264, hier S. 260. 24 Volker R. Berghahn, Militarismus, S. 69. 25 Siehe zur Fischer-Kontroverse u.  a. Immanuel Geiss, Zur Fischer-Kontroverse. 40  Jahre danach, in: Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen nach 1945, hg. von Martin Sabrow, Ralph Jessen und Klaus Große Kracht, München 2003, S. 41–57; Konrad H. Jarausch, Der nationale Tabubruch. Wissenschaft, Öffentlichkeit und Politik in der FischerKontroverse, in: ebd., S. 20–40; Matthew Stibbe, The Fischer Controversy over German War Aims in the First World War and its Reception by East German Historians, 1961–1989, in: The Historical Journal 46 (2003), H. 3, S. 649–668 und Klaus Große Kracht, Die zankende Zunft. Historische Kontroversen in Deutschland nach 1945, Göttingen 2005, S. 47–67.

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rückte die Frage nach der Kriegsschuld Deutschlands wieder in den Fokus der öffentlichen Geschichtsdeutung. Im Ergebnis der Debatte wurde der Militarismus zunehmend als innergesellschaftliches Phänomen begriffen und in den »Kontext der Modernisierungstheorie«26 gerückt. In diesem Sinne spricht Hans-Ulrich Wehler im dritten Band seiner Deutschen Gesellschaftsgeschichte von einem Militarismus im Zeichen des »deutschen ›Sonderwegs‹«: Militärische Gewohnheiten drangen im Deutschen Kaiserreich immer tiefer in das tägliche Leben ein: der Kommandoton und das Strammstehen, die herablassende Behandlung des Bürgers durch den Offizier […]. Im Verhaltensstil, in der Sprache und Denkweise wurde die Dominanz des Militärs bereitwillig akzeptiert, imitiert und verinnerlicht. Seine Werte und Normen rückten an die Spitze der Ansehensskala […]. Normative Lebensideale, Denkmuster und Habituszüge des Soldaten breiteten sich in der Gesellschaft aus. Der übermäßigen Hochschätzung des Militärs entsprach das zur Devotion neigende Unterlegenheitsgefühl des Zivilisten.27 Die von Wehler behauptete Kontinuität eines im ›Dritten Reich‹ mündenden spezifisch deutschen ›Sozialmilitarismus‹,28 den er bis in die Frühzeit des Königreichs Preußen zurückverfolgte,29 ist in den letzten Jahren so nachhaltig in Frage gestellt worden,30 dass Ute Frevert konstatieren kann: »[V]on einem seit dem 17. oder 18.  Jahrhundert ungebrochenen Regime des Militarismus kann nicht die Rede sein.«31 In der jüngeren Forschung hat man sich folgerichtig darauf verständigt, statt eines einzigen Militarismus eine Vielzahl von Militarismustypen anzunehmen.32 In Bezug auf die Kaiserzeit wurden beispielsweise die K ­ onzepte 26 Jutta Nowosadtko, Krieg, Gewalt und Ordnung, S. 116. 27 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 881  f. 28 Vgl. kritisch zu diesem Begriff u.  a. Benjamin Ziemann, »Sozialmilitarismus und mili­tä­ri­ sche Sozialisation im deutschen Kaiserreich, 1870–1914. Ergebnisse und Desiderate in der Revision eines Geschichtsbildes«, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 53 (2002), S. 148–164. 29 Vgl. Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1, S. 246. 30 Vgl. u.  a. Bernhard R. Kroener, »Eine Armee, die sich ihren Staat geschaffen hat«? Militärmonarchie und Militarismus, in: Friedrich der Große in Europa. Geschichte einer wechselvollen Beziehung, Bd. 2, hg. von Bernd Sösemann und Gregor Vogt-Spira, Stuttgart 2012, S. 233–249 und Benjamin Ziemann, Militarism, in: The Ashgate Research Companion to Imperial Germany, hg. von Matthew Jefferies, Farnham 2015, S. 367–382. 31 Ute Frevert, Der preußische Militärstaat und seine Feinde, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 5 (2011), H. 4, S. 23–36, hier S. 36. 32 Dies wird neben den im Folgenden genannten Beiträgen u.  a. auch gefordert von Detlef Vogel, Militarismus  – unzeitgemäßer Begriff oder modernes historisches Hilfsmittel? Zur



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des ›doppelten Militarismus‹,33 des ›synthetischen Militarismus‹34 oder des ›Integrationsmilitarismus‹35 vorgeschlagen, die bei allen Unterschieden im Detail betonen, wie sehr militärische Verhaltens- und Wertmuster von der Zivilgesellschaft freiwillig aufgegriffen und mit staatlichen Partizipationsforderungen verbunden wurden. Der Begriff des ›Folkloremilitarismus‹ betont mehr die von der Zivilgesellschaft selbst hervorgebrachte und von den Obrigkeiten bisweilen skeptisch beäugte »weitgehend unpolitische[] Militärbegeisterung«36 und militärische Festkultur, die einer »folkloristische[n] Logik« folgte, dabei »die kriegerische Zweckbestimmung des Militärs« ausblendete und keineswegs »als Ausweis einer allgemeinen ›Kriegsmentalität‹ mißverstanden werden« darf.37 Die eingangs angeführten antimilitaristischen Deutungen des Falls Voigts basieren auf der Kontinuitätshypothese des deutschen Sonderwegs, mit der im Licht der gegenwärtigen gesellschaftsgeschichtlichen Forschung schwerlich noch historische Wirklichkeit beschrieben werden kann. Der Begriff Militarismus sollte folglich auch von der Literaturwissenschaft stets im Hinblick auf den Bezugsbereich und das Erkenntnisinteresse konkretisiert werden. Dabei ist die Beschreibung des gesellschaftlichen Kontexts, die sich an der geschichtswissenschaftlichen Typologie orientieren sollte, von der Frage zu unterscheiden, wie der jeweilige Autor innerhalb der Ideengeschichte des Militarismus zu verorten ist. Im Hinblick auf das Beispiel Zuckmayers ist zu konstatieren: Indem die historische Köpenickiade nicht mehr ohne Weiteres als kritische, einen autoritativen

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Militarismuskritik im 19. und 20.  Jahrhundert in Deutschland, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 39 (1986), S. 9–35, hier S. 9 und Jutta Nowosadtko, Krieg, Gewalt und O ­ rdnung, S. 111. Vgl. neben anderen Beiträgen desselben Autors konzise Stig Förster, Militär und Militarismus im deutschen Kaiserreich. Versuch einer differenzierten Betrachtung, in: Militarismus in Deutschland, 1871 bis 1945. Zeitgenössische Analysen und Kritik, hg. von Wolfram Wette, Münster u.  a. 1999, S. 63–80. Vgl. u.  a. Frank Becker, Synthetischer Militarismus. Die Einigungskriege und der Stellenwert des Militärischen in der deutschen Gesellschaft, in: Das Militär und der Aufbruch in die Moderne, 1860–1890. Armeen, Marinen und der Wandel von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in Europa, den USA sowie Japan, hg. von Michael Epkenhans und Gerhard P. Groß, München 2003, S. 125–161. Vgl. Bernhard R. Kroener, Integrationsmilitarismus. Zur Rolle des Militärs als Instrument bürgerlicher Partizipationsbemühungen im Deutschen Reich und in Preußen im 19. Jahrhundert bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges [2004], in: ders., Kriegerische Gewalt und militärische Präsenz in der Neuzeit. Ausgewählte Schriften, hg. von Ralf Pröve, Paderborn u.  a. 2008, S. 83–107. Jakob Vogel, »En revenant de revue«. Militärfolklore und Folkloremilitarismus in Deutschland und Frankreich, 1871–1914, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 9 (1998), S. 9–30, hier S. 11. Ebd., S. 29.

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Gesellschaftszustand entlarvende Episode im kaiserzeitlichen Preußen gelten kann, ist auch die antimilitaristische Deutung des Hauptmann von Köpenick ihrer suggestiven Evidenz beraubt. Ob das Stück dennoch als antimilitaristisch gelten kann und was dies überhaupt heißen könnte, lässt sich nur hermeneutisch, also auf Basis einer genauen Rekonstruktion von Zuckmayers Haltung zum Militär und einer entsprechend revidierten Textinterpretation ermessen.

II. Zuckmayer und Der Hauptmann von Köpenick im Zeichen des Militarismus? Auf den ersten Blick scheint es hochplausibel, in Zuckmayer einen entschiedenen Antimilitaristen zu sehen, sei es in marxistischer oder liberaler Tradition oder gar im Sinne der Sonderwegsthese. Hierfür spricht nicht nur seine Charakterisierung des Hauptmann von Köpenick als »Warnung an das deutsche Volk vor neuem Nationalismus und Militarismus«,38 die sich in seinem für das amerikanische Kriegsministerium verfassten Deutschlandbericht anlässlich einer Heidelberger Aufführung des Stücks im Dezember 1946 findet. Bereits während der Novemberrevolution 1918 unterzeichnete er einen Aufruf in Franz Pfemferts Zeitschrift Die Aktion,39 in dem es hieß: »Der deutsche Militarismus liegt am Boden. Die Revolution marschiert.«40 Außerdem sprachen Ludwig Marcuse und Alfred Polgar kurz nach der Premiere des Hauptmann von Köpenick als ›erste Leser‹41 vom ›Fetisch‹42 Montur, während Zuckmayer in einem Brief an Albrecht Joseph die 38 Carl Zuckmayer, Deutschlandbericht für das Kriegsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika, hg. von Gunther Nickel, Johanna Schrön und Hans Wagener, Göttingen 2004, S. 118. 39 Vgl. zum politischen Profil der Aktion in der Weimarer Republik mit weiterer Literatur zuletzt Marcel Bois, »Jenseits des Expressionismus. Die Aktion als Zeitschrift kommunistischer Dissidenz während der Weimarer Republik«, in: Expressionismus 5 (2017), S. 25–36. 40 Vgl. »Aufruf der Antinationalen Sozialistischen Partei (A. S. P.) Gruppe Deutschland«, in: Die Aktion 8 (1918), H. 45/46, Sp. 583–586, hier Sp. 583. 41 Vgl. hierzu u.  a. Lutz Danneberg, Das Sich-Hineinversetzen und der sensus auctoris et primorum lectorum. Der Beitrag kontrafaktischer Imaginationen zur Ausbildung der hermeneutica sacra und profana im 18. und am Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens, hg. von Andrea Albrecht u.  a., Berlin u.  a. 2015, S. 407–458. 42 Vgl. Ludwig Marcuse, Ein deutsches Märchen [1931], in: Carl Zuckmayer. Das Bühnenwerk im Spiegel der Kritik, hg. von Barbara Glauert-Hesse, Frankfurt a. M. 1977, S. 170–172, hier S. 170 und Alfred Polgar, Carl Zuckmayer ›Der Hauptmann von Köpenick‹ [1931], in: ders., Kleine Schriften, Bd.  5, Theater 1, hg. von Marcel Reich-Ranicki und Ulrich Weinzierl, Reinbek 1985, S. 520–523, hier S. 521.



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»scheussliche[] Uniformmonomanie«43 kritisierte. Noch in seiner 1966 erstveröffentlichten und hocherfolgreichen Autobiographie Als wär’s ein Stück von mir brachte er das Stück mit dem durch »die Nationalsozialisten« initiierten »neuen Uniform-Taumel« in Verbindung (II, 455). Im erst kürzlich edierten deutschsprachigen Typoskript seiner 1940 in amerikanischer Übersetzung erschienenen autobiographischen Schrift Second Wind erblickt er überdies in manchem »preußischen Unteroffizier« eine »Art Vorstufe des Nazis«, »dem unbeschränkte Macht über andre gegeben ist und der sie desto ärger mißbraucht, je mehr er bei seinen Opfern eine qualitative oder menschliche Überlegenheit spürt«.44 Bei genauer Prüfung offenbart dieses Bild eines dezidierten Antimilitaristen gleich welchen Zuschnitts allerdings Brüche: So sind Zuckmayers Einlassungen jeweils kurz nach den Weltkriegen erkennbar am Erwartungshorizont seiner jeweiligen Zielgruppe orientiert: 1918 an sozialistischen Studentengruppen und 1946 an der US-amerikanischen Kulturpolitik für Deutschland. Außerdem spielte der in der Öffentlichkeit so präsente und kontroverse Begriff des Militarismus für Zuckmayer keine besondere Rolle.45 Wie eine Stelle im Typoskript von Als wär’s ein Stück von mir verrät, dürfte Zuckmayer überdies auch der Sonderwegsthese skeptisch gegenübergestanden haben: Nie hätte ich den ›Hauptmann von Köpenick‹ schreiben können, die Tragikomödie der Bürokratie und des Untertanengeistes, wenn ich die Preussen nicht hätte schätzen und die Haltung ihrer Militärs verstehen lernen. | Das deutsche Heer, unter preussischem Einfluss, war stramm bis zum Nähteplatzen, (und schliesslich platzten sie auch). Aber es fehlte jene abscheuliche Systematik der Demütigung, Verachtung, Erniedrigung des Menschen, die Misshandlung des Schwächeren, die Ausnutzung gemeinster Instinkte, die man für immer mit dem Wort ›Nazi‹ verbindet. Schinderei kam vor, in den Grenzen des Kasernenhofs, aber niemals gegen wehrlose Gefangene oder Zivilisten im Feindesland.46

43 Carl Zuckmayer an Albrecht Joseph, 11. 12. 1930, zit. n. Carl Zuckmayer und Albrecht Joseph, Briefwechsel, 1922–1972, hg. von Gunther Nickel, Göttingen 2007, S. 51–55, hier S. 52. 44 Carl Zuckmayer, Second Wind, in: Zuckmayer-Jahrbuch 12 (2013), S. 33–191, hier S. 63. Vgl. auch eine ähnliche Stelle in Als wär’s ein Stück von mir (I, 209). 45 Bezeichnenderweise fehlt in Zuckmayers nicht zuletzt im militärischen Milieu spielenden Erzählungen Eine Liebesgeschichte (1933) und Die Fastnachtsbeichte (1959) jeder Hinweis, den man auf den Militarismus beziehen könnte. 46 Zit. nach Carl Zuckmayer und Gottfried Bermann Fischer, Briefwechsel. Mit den Briefen von Alice Herdan-Zuckmayer und Brigitte Bermann Fischer, 2 Bde., hg. von Irene Nawrocka, Göttingen 2004, Bd. 2, S. 409–412, hier S. 409  f.

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Obgleich diese Passage auf die Initiative des Verlegers Gottfried Bermann Fischer gestrichen wurde,47 steht Zuckmayers Skepsis gegenüber der auf die deutsche Geschichte bezogenen Kontinuitätshypothese außer Frage. Denn er votierte ausdrücklich für den Begriff der »Kollektiv-Scham« (II, 468), mit dem Theodor Heuss dem Vorwurf der deutschen Kollektivschuld in letztlich exkulpatorischer Absicht begegnete.48 Zuckmayers Haltung zum Militär, die offenbar mit keinem der gängigen Lager der Militarismusdiskussion zu identifizieren ist, erschließt sich erst im Kontext seiner eigenen Kriegserfahrungen, die er in seinen autobiographischen Schriften wiederholt thematisiert und auf ihre individuelle, generationenspezifische und allgemeinmenschliche Signifikanz befragt.49 Betrachtete Zuckmayer den Militärdienst in seinen Jugendjahren als unliebsame unumgängliche Pflicht (vgl. u.  a. I, 145, I, 199), wurde auch er vom ›Augusterlebnis‹ erfasst. Die »ungeheure Kriegsbegeisterung« wollte er vom »Nationalismus« der 1930er Jahre allerdings streng getrennt und vielmehr als Ausdruck einer »revolutionäre[n] Seelenlage« verstanden wissen,50 die auf eine »Sprengung des Kastengeistes« und auf eine »demokratisch[e]« Erneuerung des Staats abzielte (I, 200  f.). Der Kriegsjahre an der Westfront erinnert er sich als einer Zeit »unmenschliche[r] Einsamkeit« (I, 236),51 aber auch des »Selbstbeweis[es]«, der »Kameradschaft«52 und der »Manneszucht« (I, 211). Bereits während des Kriegs habe er eine »merkwürdige Doppelexistenz« zwischen sozialistischer »Schwarmgeisterei« und »bedingungslos[er]« militärischer Pflichterfüllung geführt (I, 247). Als er 1918 schließlich als 47 Vgl. Gunther Nickel, Carl Zuckmayers Selbstzensur seiner Autobiographie Als wär’s ein Stück von mir im Kontext der geschichtspolitischen Instrumentalisierung des Ersten Weltkriegs, in: Im Banne von Verdun. Literatur und Publizistik im deutschen Südwesten zum Ersten Weltkrieg von Alfred Döblin und seinen Zeitgenossen. Internationales Alfred-DöblinKolloquium Saarbrücken 2009, hg. von Ralf Georg Bogner, Bern u.  a. 2010, S. 401–412. 48 Vgl. im Allgemeinen Jan Friedmann und Jörg Später, Britische und deutsche KollektivschuldDebatte, in: Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Libe­ra­li­sie­ rung, 1945–1980, hg. von Ulrich Herbert, Göttingen 2002, S. 53–90, S. 86  f. sowie zu Zuckmayer im Besonderen Gunther Nickel, Zuckmayer und Brecht, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 41 (1997), S. 428–459, hier S. 445–447 und Dagmar Barnouw, Gespenster statt Geschichte, in: Zuckmayer-Jahrbuch 5 (2002), S. 77–125, hier S. 116–125. 49 Vgl. als Darstellung einiger in dieser Hinsicht wichtiger biographischer Stationen Susanne Buchinger, Als wär’s ein Stück von mir. Carl Zuckmayer und seine Haltung zu Krieg und Revo­lution, in: Mainz und der Erste Weltkrieg, hg. von Hans Berkessel, Mainz 2008, S. 165– 176. 50 Carl Zuckmayer, Pro domo, in: ders., Die langen Wege. Betrachtungen, Frankfurt a. M. 1996, S. 67–132, hier S. 83. 51 Zuckmayer hat wiederholt betont, seine Kriegserfahrung nicht ausdrücken zu können. Vgl. etwa I, 214. 52 Carl Zuckmayer, Pro domo, S. 92.



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hochdekorierter Frontoffizier aus dem Krieg zurückkehrte, hatte er sich zu einem entschiedenen Pazifisten gewandelt, der in metaphysischen Kategorien denkend »die Einsamkeit der Kreatur durch eine große, schmerzhafte Liebe«, eine »Weltliebe« zu überwinden trachtete.53 Mit anderen ehemals »begeisterten Kriegsfreiwilligen«54 wie Carlo Mierendorff, Hans Schiebelhuth oder Theodor Haubach, die alle in der ›Gemeinschaft‹ Wilhelm Fraengers verkehrten,55 bildete Zuckmayer nach eigener Aussage einen Kreis von »Anhänger[n] der deutschen Revolution«, von »militante[n] Pazifisten und gläubige[n] Europäer[n]«.56 Dass Zuckmayer die Reichswehrminister Gustav Noske und Otto Geßler zudem als »Handlanger« des »republikfeindlichen Militärs« (II, 336) beziehungsweise als »militärhörig« (II, 397) verachtete, darf allerdings nicht über seine durchaus positive Haltung zur eigenen Kriegserfahrung hinwegtäuschen. Gemeinsam mit Mierendorff, der sich ebenfalls »ohne Bitterkeit oder Klage« an die Frontjahre erinnert habe, suchte Zuckmayer beispielsweise bei gemeinsamen Spaziergängen umliegende Hänge »nach guten Batteriestellungen« ab.57 Und mit Erich Maria Remarque und Ernst Udet fühlte er sich in durchzechten Nächten durch die geteilte Fronterfahrung verbunden (vgl. II, 440). In den frühen 1920er Jahren kämpfte er in den von »nationalen rechtsstehenden Gegner[n] der Republik«58 vereinnahmten Friedericus-Rex-Filmen in der »Schlacht bei Leuthen« (II, 357) mit, was er in seiner Autobiographie ohne jede Befangenheit berichtet. Bei deren Titel Als wär’s ein Stück von mir, der auch dem dortigen Kapitel über den Ersten Weltkrieg vorangestellt ist, handelt es sich im Übrigen um ein Zitat aus Ludwig Uhlands vor allem in der NS-Zeit nachhaltig ideologisch funktionalisiertem Gedicht Der gute Kamerad.59 Und in seinem Stück Rivalen, einer deutschen Bearbeitung von Maxwell Andersons und Laurence Stallings What Price Glory, ging es ihm ausdrücklich um die Darstellung des »elementaren Erlebnis[ses] der ›soldatischen Kameradschaft‹«.60 Denn anders 53 Carl Zuckmayer, Second Wind, S. 80. 54 Carl Zuckmayer, Carlo Mierendorff. Porträt eines deutschen Sozialisten [New Yorker Ge­ dächt­nis­rede, 12. März 1944], in: Aufruf zum Leben. Porträts und Zeugnisse aus bewegten Zeiten, Frankfurt a. M. 1976, S. 37–65, hier S. 45. 55 Vgl. Petra Weckel, Wilhelm Fraenger (1890–1964). Ein subversiver Kulturwissenschaftler zwischen den Systemen, Potsdam 2001, zur ›Gemeinschaft‹ S. 65–84. 56 Carl Zuckmayer, Carlo Mierendorff, S. 46. 57 Ebd., S. 44. 58 Philipp Stiasny, Das Kino und der Krieg. Deutschland 1914–1929, München 2009, S. 387. 59 Vgl. u.  a. Burkhard Sauerwald, Ludwig Uhland und seine Komponisten. Zum Verhältnis von Musik und Politik in Werken von Conradin Kreutzer, Friedrich Silcher, Carl Loewe und Robert Schumann, Berlin 2015, S. 246–280. 60 Carl Zuckmayer, Kameraden, in: ders., Katharina Knie. Theaterstücke, 1927–1929, Frankfurt a. M. 1995, S. 307–309, hier S. 309. Siehe auch die Kontextualisierung von Martin Bau-

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als in »jede[r] Antikriegspropaganda« beruhe in der »Kameradschaft« ein »Weltgefühl[]«, »wodurch allein das egozentrische Verhalten, durch das letzten Endes allein Kriege möglich sind, erledigt wird«.61 Dennoch kann schwerlich mit Ulrich Fröschle vom »Selbstbewußtsein des Frontoffiziers«62 auf eine »Ambivalenz Zuckmayers in seiner Stellung zum Krieg«63 geschlossen und seine liberale »republikanisch-demokratische[]«64 Gesinnung eskamotiert werden. Denn Fröschles Zuschreibung basiert auf der Annahme eines Gegensatzes von republikanischem Selbstverständnis und positivem Kriegsgedenken, was im Licht der gesellschaftsgeschichtlich instrumentierten militärhistorischen Forschung nicht aufrechterhalten werden kann. Zwar gab es im überwiegend republikfeindlich gesinnten Militär der Zwischenkriegszeit eine kriegsverherrlichende Wertsetzung und eine illegale Aufrüstung, bei der nicht zuletzt auf Weltkriegssoldaten zurückgriffen wurde.65 Doch die unbezweifelbare »Gewalterfahrung«, einschließlich ihrer »symbolische[n] Aufladung« und »traumatischen Folgen«,66 schlug sich bei den Soldaten keineswegs zwangsläufig in einer autoritären, brutalen und republikfeindlichen Gesinnung nieder. Vielmehr war das ideologische Spektrum der oftmals in Vereinen organisierten Veteranen bis 1933 durchaus breit und spannte sich von völkischen, nationalistischen und militanten bis zu kosmopolitischen, republikanischen und pazifistischen Positionen.67

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meister, Kampf ohne Front? Theatralische Kriegsdarstellungen in der Weimarer Republik, in: Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands, 1900–1933, hg. von Wolfgang Hardtwig, München 2007, S. 357–376. Carl Zuckmayer an Albrecht Joseph, Ende März, zit. nach Carl Zuckmayer und Albrecht Joseph, Briefwechsel, S. 33–38, hier S. 37. Ulrich Fröschle, Die »Front der Unzerstörten« und der »Pazifismus«. Die politischen Wendungen des Weltkriegserlebnisses beim »Pazifisten« Carl Zuckmayer und beim »Frontschriftsteller« Ernst Jünger, in: Zuckmayer-Jahrbuch 2 (1999), S. 307–360, hier S. 348. Ebd., S. 344. Ebd., S. 350. – Seine zunehmend liberale Position betont Zuckmayer auch im historischen Rückblick mit Nachdruck. Vgl. Albert Reif, Der Mensch ist das Maß. Ein Gespräch mit Carl Zuckmayer, in: Blätter der Carl-Zuckmayer-Gesellschaft 3 (1977), H. 1, S. 4–14, hier S. 4  f. Vgl. für einen knappen Überblick Bernhard R. Kroener, Militär, Staat und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, München 2011, S. 18–23. Benjamin Ziemann, »Vergesellschaftung der Gewalt« als Thema der Kriegsgeschichte seit 1914. Perspektiven und Desiderate eines Konzepts, in: Erster Weltkrieg – Zweiter Weltkrieg. Ein Vergleich, hg. von Bruno Thoss und Hans-Erich Volkmann, Paderborn u.  a. 2002, S. 735– 758, hier S. 743. Vgl. hierzu grundsätzlich Benjamin Ziemann, Contested Commemorations. Republican War Veterans and Weimar Political Culture, Cambridge u.  a. 2013, aber auch bereits Heinrich August Winkler, Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik, 1924 bis 1930, Berlin und Bonn, v.  a. S.  378–384 oder Benjamin



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Neben dem Stahlhelm, dem Jungdeutschen Orden, dem Kyffhäuserbund und anderen Korporationen einerseits beanspruchten andererseits etwa auch das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und der Reichsbund der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilnehmer und Kriegerhinterbliebenen die Deutungshoheit über den Weltkrieg. Letztere wurden weitgehend von Sozialdemokraten getragen, besaßen erheblich mehr Mitglieder und setzten sich intensiv für eine öffentliche Gedenkkultur ein, die im Zeichen eines schlichten Humanismus und eines diffusen Republikanismus stand. Dabei wurde der Status als Kriegsteilnehmer als wesentlich erachtet, um dem kollektiven Massensterben und den individuellen Entbehrungen legitimerweise Sinn abgewinnen zu können. Obgleich Zuckmayer zunächst keinem dieser Verbände offiziell angehörte, deutet sich seine ideologische Nähe in der Formulierung von den »militanten Kriegsgegner[n]« an, die sich »durch die gemeinsame Kriegserfahrung in einer besonderen Weise verschworen fühlten« (I, 275). Im Dezember 1930 bezog er mit seiner Rede Front der Unzerstörten in der politisch aufgeheizten Debatte um das Verbot der Verfilmung von Remarques Roman Im Westen nichts Neues auch öffentlich Position:68 Es ist in den Reihen der Rückschrittler heute vielfach vom »Frontgeist« die Rede, der sie zu Stahlhelmparaden und Kleinkaliberübungen anfeuert. Mit wahrhaftigem Frontgeist, mit dem Geist, den uns das unverlierbare und mit Worten oder Schilderungen nicht mittelbare Erlebnis der Front weckte, hat das aber nicht das geringste zu tun. Unser wahrhafter, echter Frontgeist […] fühlt sich durch den Remarque-Film, auch durch seine amerikanische Fassung, keineswegs verletzt, sondern in vielerlei Hinsicht bestärkt und bekräftigt. Die Schreihälse gegen diesen Film […] rekrutieren sich größtenteils aus zwei Parteien, nämlich aus denen, die den Film nicht kennen, und aus denen, die den Krieg nicht kannten. Die Jungen, die heute Heil rufen zu Ziemann, Republikanische Kriegserinnerung in einer polarisierten Öffentlichkeit. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold als Veteranenverband der sozialistischen Arbeiterschaft, in: Historische Zeitschrift 267 (1998), S. 357–398. 68 Vgl. für die Debatte um Remarque mit Verzeichnung der wesentlichen Literatur Thomas F. Schneider, »Endlich die Wahrheit über den Krieg!« Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues als Kulminationspunkt in der Diskussion um den Ersten Weltkrieg in der Weimarer Republik, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 62 (2015), H. 1, S. 87–102. – Zuckmayer hatte Im Westen nichts Neues bereits zuvor euphorisch rezensiert. Vgl. Carl Zuckmayer, Erich Maria Remarque, ›Im Westen nichts Neues‹ [1929], in: ders., Aufruf zum Leben, S. 93–97 und dazu auch Richard Albrecht, Persönliche Freundschaft und politisches Engagement. Carl Zuckmayer und Erich Maria Remarques ›Im Westen nichts Neues‹, 1929/30, in: Blätter der Carl-Zuckmayer-Gesellschaft 10 (1984), H. 2, S. 75–86.

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Deutschlands Unheil, […] wollen Soldat spielen, aber sie begreifen nicht, daß sie damit die Gefahr eines Krieges beschwören, gegen den der von 1918 ein romantischer, frischfröhlicher Feldzug war. Einen Krieg, der auch die letzte Spur eines persönlichen Heldentums auslöschen wird […].69 Zuckmayer reklamiert hier ganz im Sinne der linken prorepublikanischen Veteranenverbände die Deutungshoheit über den Ersten Weltkrieg und dessen künstlerische Gestaltung. Nach den in dieser Hinsicht ruhigen Goldenen Zwanzigern war es Helmuth Kiesel zufolge längst zu einer »›Wiedergeburt des Kriegs der Deutungen‹« in der Literatur gekommen, die lediglich scheinbar eine »pazifistische[] Wende« und »einhellige[] literarische[] Ächtung des Kriegs« bedeutete.70 Das zunehmende Übergewicht rechtsextremer Deutungsangebote spiegelte sich auch in der Vereinigung antidemokratischer, nationalistischer und völkischer Parteiungen zur Harzburger Front im Oktober 1931 wider. Die sich im Gegenzug als Zusammenschluss unter anderem des Reichsbanners und der SPD konstituierende Eiserne Front war »die einzige politische Organisation«, der Zuckmayer nach eigener Aussage »je angehört« hat (II, 466).71 Als diese Gruppierung einige Monate nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten zu existieren aufhörte, war er mit seiner Familie bereits fest nach Wiesmühl bei Salzburg übersiedelt. Doch inwiefern ist dies alles auf den Hauptmann von Köpenick zu beziehen, den Zuckmayer immerhin just in dem Monat abschloss, in dem er sich öffentlich in die Debatte um die Remarque-Verfilmung einmischte? Für diese Frage verspricht Friedrich Sieburgs 1933 erschienenes und seinerzeit »vieldiskutiertes« Buch Es werde Deutschland aufschlussreich zu sein. Denn noch vor Abschluss der Lektüre bekennt Zuckmayer sichtlich »begeistert« in einem Brief an Sieburg,72 dass in dem »Abschnitt: ›Nation? Machen wir!‹ […] haargenau das« ausgedrückt sei, was er »im ›Hauptmann von Köpenick‹« habe »dartun woll[en]«.73 In diesem Kapitel 69 Carl Zuckmayer, Front der Unzerstörten [1930], in: Blätter der Carl-Zuckmayer-Gesellschaft 10 (1984), H. 2, S. 87–90, hier S. 88  f. 70 Helmuth Kiesel, Geschichte der deutschsprachigen Literatur, S. 774. 71 Vgl. zur Eisernen Front Carsten Voigt, Kampfbünde der Arbeiterbewegung. Das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und der Rote Frontkämpferbund in Sachsen, 1924–1933, Köln u.  a. 2009, S. 456–464. 72 Harro Zimmermann, Friedrich Sieburg. Ästhet und Provokateur. Eine Biographie, Göttingen 2015, S. 187. 73 Carl Zuckmayer an Friedrich Sieburg, 1. 4. 1933. Zit. nach Gunther Nickel, Der Teufels Publizist – ein »höchst komplizierter und fast tragischer Fall«. Friedrich Sieburg, Carl Zuckmayer und der Nationalsozialismus. Mit dem Briefwechsel zwischen Sieburg und Zuckmayer, in: Zuckmayer-Jahrbuch 5 (2002), S. 247–279, hier S. 250.



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diagnostiziert Sieburg einen »deutschen Militarismus«, der unter dem Einfluss des Liberalismus und der »Triumphe der Technik« in den letzten Jahren vor dem Ersten Weltkrieg seiner sittlichen Qualität beraubt worden sei.74 Anstatt eine wahre »deutsche[] Kohäsion«75 zu bewirken, habe die »glänzende und verhätschelte Armee« einen »Mittelpunkt« des deutschen »Volk[s]« suggeriert, obgleich man lediglich »die Hacken zusammenklappte und den Bauch einzog«.76 Der Beiträger der liberalen Frankfurter Zeitung und bekennende Anhänger der Schleicher’schen Querfrontstrategie neigte seit Ende der 1920er Jahre zunehmend neunationalistischen, elitären und autoritären Anschauungen zu.77 Zuckmayers starke Resonanz auf Sieburgs Buch ist als Anpassung an die neuen politischen Realitäten in Deutschland und nicht als plötzlicher Meinungsumschwung zu verstehen.78 Bereits am 11.  Dezember 1930 hatte Zuckmayer gegenüber Albrecht Joseph vom »Versagen des Marxismus« gesprochen, der »nicht in der Lage war, die irrationalen Bedürfnisse der Menschen zu erregen, zu erfüllen und einem vernünftigen politischen Ziel zu kopulieren«.79 Und am 28.  März 1933 beklagt er sich bei Hans Schiebelhuth über die »historische und kaum wieder gut zu machende Schuld« der Sozialdemokratie, die die »Beziehung zum Volk verloren« habe. Somit könne sie »an die positiven, die elementaren und wohlmeinenden Kräfte, die in der nationalen Bewegung durchaus vorhanden sind«, nicht mehr »auf einer höheren Ebene« anschließen.80 In einem Brief an den in NS-Deutschland überaus erfolgreichen Regisseur Hanns Niedecken-Gebhard vom 5. April 1933 lehnt er folgerichtig ab, sich »rein kritisch« einzustellen. Er betont stattdessen seinen Glauben »an Deutschlands innere Substanz« und

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Friedrich Sieburg, Es werde Deutschland, Frankfurt a. M. 1933, S. 117. Ebd., S. 122. Ebd., S. 119. Vgl. zu ähnlich gelagerten politischen Überzeugungen bei Autoren der sogenannten Konservativen Revolution Stefan Breuer, Anatomie der konservativen Revolution, 2.  Aufl., Darmstadt 1995, zur Querfront-Strategie S. 156–166, zum neuen Nationalismus S. 180–202. 78 Dass die politischen Lager in der Weimarer Republik entlang einzelner Themen und Diskursformationen ohnehin permeabel waren, betonen etwa Manfred Gangl und Gérard Raulet, Einleitung, in: Intellektuellendiskurse in der Weimarer Republik. Zur politischen Kultur einer Gemengenlage, hg. von dens., 2. Aufl., Frankfurt a. M. u.  a. 2007, S. 9–53, hier S. 23–34. 79 Carl Zuckmayer an Albrecht Joseph, 11. 12. 1930, zit. nach Carl Zuckmayer und Albrecht Joseph, Briefwechsel, S. 51–55, hier S. 53. 80 Carl Zuckmayer an Hans Schiebelhuth, 28. 3. 1933, zit. nach »Mein Dach-Speckstein! MannSpeck-Watz! Mont-Speck-blanc!«. Carl Zuckmayers Briefe an Hans Schiebelhuth, 1921–1936. Ediert, eingeleitet und kommentiert von Gunther Nickel, in: Zuckmayer-Jahrbuch 6 (2003), S. 9–85, hier S. 55.

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zeigt sich optimistisch, dass das »Volk […] den rechten Weg finden« werde.81 Wie Zuckmayer, der im Rückblick auf diese Zeit von seiner Hoffnung auf »ein rasches Abwirtschaften der Nazis« sprach (II, 474), seine politischen und kulturellen Überzeugungen angesichts des Aufstiegs des Nationalsozialismus justierte, ist beispielweise in seinen Reden und Aufsätzen zu Gerhart Hauptmann zu fassen,82 auf den auch Der Hauptmann von Köpenick Bezug nimmt (vgl. VII, 365  f.). Sparte Zuckmayer noch 1922 und dann erneut 1957 und 1962 politische Aspekte fast vollständig aus,83 hielt er 1932 eine nach eigenem Dafürhalten »durchaus politische« (II, 463) Festrede für Gerhart Hauptmann. Dort wirbt er für eine Art ethischen Patriotismus, der eine Gemeinschaft aller Deutschen stiften solle: Deutsch-Sein hieß immer und in all den großen Erscheinungen, die allein eine Volkheit verewigen: Künder der Menschenwürde sein. | Menschenwürde heißt: Inkarnation all dessen, was den Menschen frei, groß, ewig macht  – was in ihm, dem Weltgeschöpf, den schöpferischen Funken schürt und hütet. | Menschenwürde heischt alles das, was der Mensch, an unverbrüchlichen Rechten zu fordern hat: die allgemeine, die persönliche und die geistige Freiheit, aus der eine höhere Ordnung, Bindung erst erwachsen kann. Dieses größere Deutschland, das Deutschland des Geistes, des Rechtes, der Freiheit,

81 Carl Zuckmayer an Hanns Niedecken-Gebhard, 5. 4. 1933, zit. nach Bernhard Helmich, Händel-Fest und Spiel der »10.000«. Der Regisseur Hanns Niedecken-Gebhard, Frankfurt a. M. u.  a. 1989, S.  143. Die Passage lautet im Zusammenhang: »Ich gehöre nicht zu den Leuten, die über die jüngste Entwicklung in Deutschland unglücklich sind. Ich kann mich der Größe, die dieser elementaren Bewegung innewohnt, einfach nicht entziehen. Ich halte es auch für falsch, sich jetzt rein kritisch einzustellen, wie das so viele aus dem geistigen Lager und vor allem die meisten der – wie ich – durch Mißverständnisse indirekt Betroffenen – tun! Ich glaube zu stark an Deutschlands innere Substanz, an die geistige, seelische, sittliche (d.  i. menschliche) Wertigkeit und Wertbedürftigkeit dieses Volkes, um mir einen kulturellen Niedergang vorstellen zu können. Im Gegenteil, es muß aus alledem etwas Neues, Besseres entstehen. Ein Volk, in dem eine solche Sehnsucht, eine solche Wunschkraft steckt, sich seinen lebendigen Mythos zu schaffen, wird und muß den rechten Weg finden. Daß vorläufig dabei allerlei durcheinander purzelt, muß man in Kauf nehmen. Im Grunde purzelt ja doch nur das, was keinen festen Standpunkt hat.« 82 Vgl. für einen Überblick Heinz Dieter Tschörtner, »Ein voller Erdentag«. Carl Zuckmayer und Gerhart Hauptmann (mit dem Briefwechsel), in: Zuckmayer-Jahrbuch 2 (1999), S. 461–491. 83 Vgl. Carl Zuckmayer, Gerhart-Hauptmann-Morgenfeier in Kiel 1922, in: ders., Ein voller Erdentag. Betrachtungen, Frankfurt a. M. 1997, S.  138–146, ders., Gerhart Hauptmann. 1862–1946, in: Die Großen Deutschen. Deutsche Biographien in vier Bänden, Bd. 4, hg. von Hermann Heimpel, Theodor Heuss und Benno Reifenberg, Berlin 1957, S. 227–244 und ders., Ein voller Erdentag. Zu Gerhart Hauptmanns hundertstem Geburtstag [1962], in: ders., Ein voller Erdentag, S. 147–179.



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brennt heute heißer und schmerzhafter in unseren Herzen denn je. Und mehr als zu allen Zeiten muß der Dichter heute sein Anwalt, sein Bewahrer und Verkünder sein.84 Nachdem sich Zuckmayers Hoffnungen zerschlagen hatten, dass der Nationalsozialismus nur verrohte Episode bleiben würde, betrachtete er ihn, so Gunther Nickel, zunehmend »aus einer metaphysischen Perspektive«85 als eine Art »Schicksalsschlag«.86 Während sein Freund Carlo Mierendorff im Untergrund für ein ›anderes Deutschland‹87 kämpfte, warb Zuckmayer im Exil dafür, Deutschland nicht pauschal mit dem Nationalsozialismus zu identifizieren. In seiner 1944 mit Erika Mann im Aufbau geführten Kontroverse, die sich an der umstrittenen Gründung des Council for a Democratic Germany entzündete, plädierte er dafür, den »Wahnwitz des Pangermanismus« nicht durch einen »ebenso krasse[n] Antigermanismus« zu ersetzen.88 Dieser Devise gemäß bemühte sich Zuckmayer in seinem Geheimreport, der zahlreiche im Auftrag des Office of Strategic Services angefertigte Dossiers über Kulturschaffende in Nazi-Deutschland vereint, um eine die moralische Verantwortlichkeit des Einzelnen voraussetzende »fallweise« Bewertung der »Motive für Konzessionen gegenüber dem NS-Staat«.89 Nach seiner Überzeugung war der Nationalsozialismus, der mit »viele[n] guten Kräfte[n] […] ungeheure[n] Missbrauch« treibe,90 im Grunde ein potenziell »international[es]« Phänomen, das nur durch eine »Selbsterziehung«, nicht aber durch eine Bestrafung des »deutsche[n] Volk[s]« zu überwinden sei.91 84 Carl Zuckmayer, Festrede für Gerhart Hauptmann [1932], in: Aufruf zum Leben, S. 177–183, hier S. 180. 85 Gunther Nickel, »Ihnen bisher nicht begegnet zu sein«, S. 531. 86 Gunther Nickel, »Des Teufels General« und die Historisierung des Nationalsozialismus, in: Zuckmayer-Jahrbuch 4 (2001), S. 575–612, hier S. 587. 87 Vgl. zu Mierendorff Richard Albrecht, Der militante Sozialdemokrat Carlo Mierendorff, Berlin und Boston 1987 sowie für einen Überblick zum deutschen Widerstand gegen den Nationalsozialismus Gerd R. Ueberschär, Für ein anderes Deutschland. Der deutsche Widerstand gegen den NS-Staat, 1933–1945, Frankfurt a. M. 2006. 88 Carl Zuckmayer, Offener Brief an Erika Mann, in: Aufbau, 12. 5. 1944, S. 7  f. hier S. 8. Vgl. auch Erika Mann, Eine Ablehnung, in: Aufbau, 21. 4. 1944, S. 7, und dies., Offene Antwort an Carl Zuckmayer, in: Aufbau, 12. 5. 1944, S. 7  f. 89 Gunther Nickel und Johanna Schrön, Carl Zuckmayers Geheimreport für das »Office of Strategic Services«, in: Carl Zuckmayer, Geheimreport, hg. von dens., Göttingen 2002, S. 407–477, hier S. 458. 90 Zuckmayer an Albrecht Joseph, 7. 11. 1941, zit. nach Carl Zuckmayer und Albrecht Joseph, Briefwechsel, S. 323–330, hier S. 327  f. 91 Carl Zuckmayer, Ein paar einfache Grundsätze zur Lösung des »deutschen Problems«, zit. nach. Gunther Nickel und Johanna Schrön, Carl Zuckmayers Geheimreport, S. 470–473, hier S. 471  f.

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Kurz nach der Machtübernahme konnte sich Zuckmayer noch ohne Zwischentöne für Es wurde Deutschland begeistern, analysiert Friedrich Sieburg dort doch eine aus der Balance geratene Gesellschaft. Dass das Wilhelminische Militär über das tatsächliche Fehlen von gesellschaftlichen Bindekräften hinweggetäuscht habe, dürfte dabei der maßgebliche Aspekt gewesen sein, den Zuckmayer mit dem Hauptmann von Köpenick in Beziehung setzte. Hierfür spricht auch ein anlässlich einer Theateraufführung im Jahr 1947 verfasster, bislang unbekannter Kommentar des Autors, in dem es heißt: »[A]ls das politische Verhängnis über Deutschland heraufzog«, war es der rechte und vielleicht der letzte Augenblick […], dem deutschen Volk im Spiegel des Humors und einer Vergangenheit, an deren bitteren Folgen unsere Gegenwart noch schwer genug zu tragen hatte, die Gefahren der Zukunft vorzustellen. Des Kaisers »bunter Rock« existierte nicht mehr, der milde Absolutismus der Monarchie hatte ausgelebt, – aber im braunen Hemd marschierte eine viel ärgere Gefahr durchs Land […] [E]s schien mir, damals im Jahre 30, daß der Deutsche nun zu wählen habe, nicht mehr zwischen der oder jener Partei, nicht mehr zwischen der einen oder der andern Staatsform, sondern zwischen der Entscheidung für das Lebendig-Menschliche, oder für die todbringenden Gewalten einer blinden Machtvergottung,  – zwischen Liebe und Haß, – ja zwischen Tod und Leben. (AA, 91)92 Nach der Septemberwahl 1930, in der die NSDAP Zuckmayer zufolge einen »beispiellosen Überraschungserfolg« (AA, 90) feierte, sei ein Konflikt metaphysischen Ausmaßes voll ausgebrochen. Im Angesicht der infamen Bedrohung durch den Nationalsozialismus habe er daher mit der Autorität des Kriegsteilnehmers an das moralische Gewissen jedes Einzelnen appellieren wollen. Mit seinem von den Nazis angefeindeten Stück,93 das dezidiert nicht als »Satire« gemeint war, wollte Zuckmayer die Öffentlichkeit an den wesenhaften Zwiespalt des »deutschen Charakters« erinnern, an »dessen helle und lautere Anlagen ebenso wie seine Trübheiten und Abgründe« (AA, 92). Gesellschaftszerstörerische Gefahren gingen – so wird man im Anschluss an Zuckmayers Sieburg-Lektüre ergänzen dürfen  – vor dem Ersten Weltkrieg nicht vom Militär als solchem aus. Wohl aber hatte das 92 Der unten mitgeteilte Text Anmerkung des Autors wird hier und im Folgenden unter Angabe der Sigle AA und der betreffenden Seitenzahl zitiert. 93 Vgl. insbesondere Joseph Goebbels, Der Hauptmann von Köpenick, in: Der Angriff, Nr. 51, 12. 3. 1931, [S. 1  f.]. Zum Verhältnis von Goebbels und Zuckmayer vgl. auch Tilman Venzl, Carl Zuckmayer und Joseph Goebbels. Ein Jahr in Heidelberg und die Folgen, in: Von Hölderlin bis Jünger. Politische Topographie des Literarischen im deutschen Südwesten, hg. von Thomas Schmidt, Stuttgart 2019, S. 229–240.



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Militär vermöge seiner Werte und Verhaltensmuster sowie seines Ansehens die existentielle Zerrissenheit der Gesellschaft kaschiert. Obgleich Zuckmayers Charakterisierung des Hauptmann von Köpenick als Beschwörung eines humanen Nationalismus aus dem Abstand von gut 15 Jahren erfolgt, ist sie für das Verständnis des Stücks hochaufschlussreich, wie nun zu zeigen ist.

III. Der Hauptmann von Köpenick als ›Märchen‹ über das ›deutsche Wesen‹ Kurz nach der Premiere äußerte sich Zuckmayer gegenüber dem Journalisten Erwin Kondor zum dramaturgischen Kernproblem, vor das er sich bei der Arbeit am Hauptmann von Köpenick gestellt sah. Er wollte neben dem »wunderliche[n] Schicksal eines armen Teufels« auch das deutsche »Volk« und »Deutschland« darstellen, »wie es vor einem Vierteljahrhundert war«.94 Diese Verknüpfung von Einzelschicksal und Gesellschaftspanorama stellt Zuckmayer, wie er wenige Wochen zuvor erläutert hatte, mittels der Uniform her, die gleichsam die zweite, ebenfalls in Berlin »leb[ende]«95 Hauptfigur sei, die mit Voigt schließlich den Hauptmann von Köpenick gezeugt habe. Diese Vermenschlichung der Uniform trägt dem Umstand Rechnung, dass ihre Gebrauchsgeschichte einen zweiten Handlungsstrang konstituiert, der gesellschaftsdiagnostische Momentaufnahmen erlaubt. Dies zeigt sich bereits in der Eingangsszene des Stücks, anhand derer ich meine Interpretationsthese entfalte. Die erste, expositorische Szene der dreiaktigen Komödie, die mit einem »Armeemarsch« (VII, 325) einsetzt und die zeittypische allgemeine »Begeisterung für das Militär«96 somit bereits durch den ›dramatischen Auftakt‹97 markiert, bedeutet gleichsam die Geburt der Gardeuniform.98 Während Wilhelm Voigt im Laden des Schneiders Wormser nach Arbeit als Schuster sucht, aber 94 Erwin Kondor, Wie der ›Hauptmann von Köpenick‹ entstand. Gespräch mit Karl [sic] Zuckmayer am 19. Mai, in: Neues Wiener Journal, 24. 5. 1931, S. 13. 95 Carl Zuckmayer, Ein deutsches Märchen [1931], in: Carl Zuckmayer. Das Bühnenwerk im Spiegel der Kritik, hg. von Barbara Glauert, Frankfurt a. M. 1977, S. 155–157, hier S. 156. 96 Ralf Pröve, Militär, Staat und Gesellschaft im 19. Jahrhundert, München 2006, S. 44. 97 Vgl. Manfred Pfister, Das Drama. Theorie und Analyse, 11. Aufl., München 2001, S. 124  f. 98 Die besondere Bedeutung der Gardeuniformen betont etwa Ute Frevert, Das Militär als Schule der Männlichkeiten, in: Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900, hg. von Ulrike Brunotte und Rainer Herrn, Bielefeld 2008, S.  57–76, hier S.  61. Vgl. zur zeittypischen Karikierung uniformierter Männer Andrea Jentsch, Der uniformierte Mann im Spiegel der Karikatur, in: Nach Rang und Stand. Deutsche Ziviluniformen im 19.  Jahrhundert. Eine Ausstellung im Deutschen Textilmuseum, 24.  März bis 23. Juni 2002, hg. von der Stadt Krefeld, Deutsches Textilmuseum, Krefeld 2002, S. 33–42.

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als »Schmeißfliege[]« (VII, 329) verjagt wird, fordert der Gardehauptmann von Schlettow Detailveränderungen an der von ihm in Auftrag gegebenen Uniform. Dass er dabei seiner vorgeblich bedeutungsschweren, im Grunde aber inhaltsleeren militärischen Pedanterie folgt,99 kommt prononciert in seiner Überzeugung zum Ausdruck: [A]n den Kleinigkeiten, daran erkennt man den Soldaten. Darauf is alles aufgebaut, da steckt ’n tieferer Sinn drin, verstehnse? Genau dieselbe Sache wie mit ’n Stechschritt. Leute glauben immer, is Schikane. Is keene Schikane, steckt auch tieferer Sinn drin, das muß man nur kapieren, verstehense? (VII, 328) Diese Meinung bestätigt Wormser mit den Worten: Meine Rede, Herr Hauptmann, meine Rede! Was sag ich immer? Der alte Fritz, der kategorische Imperativ und unser Exerzierreglement, das macht uns keiner nach! Das und die Klassiker, damit hammer’s geschafft in der Welt! (VII, 328) Diese Dialogsequenz besitzt eine Parallelstelle in Zuckmayers wenige Jahre nach dem Hauptmann von Köpenick erschienenen Rechtfertigungsschrift Pro domo. Dort berichtet er von einem später zum überzeugte Nationalsozialisten gewordenen preußischen Unteroffizier, der den militärischen »Stechschritt« als »genialste Emanation des Deutschtums überhaupt«, als »fleischgewordene Philosophie« und als »vollkommene Übertragung der Lehren Kants ins Dinglich-Leibhaftige« begreift.100 Die Überzeugung dieses Unteroffiziers, die sich ähnlich auch in frühen Faschismusanalysen findet,101 ist Zuckmayer zufolge ein Beispiel für eine bei den »Kriegsbegeisterten« des Ersten Weltkriegs so nicht gegebene Deformation, die im deutschen Wesen angelegt sei. Er spricht von einer »Leidenschaft zur vollkommenen Abstraktion«, einer »Neigung zu unbarmherziger, ja selbstzerstörender Systematik«, die als »besondere, außer-rationale Wesenheit des Deutschen« den 99 Vgl. hierzu Rainer Zimmermann, Das dramatische Bewußtsein. Studien zum bewußtseinsgeschichtlichen Ort der Dreißiger Jahre in Deutschland, Münster 1989, S. 102–131. 100 Carl Zuckmayer, Pro domo, S. 90. 101 Vgl. Joachim Schumacher, Die Angst vor dem Chaos. Über die falsche Apokalypse des Bür­ ger­tums [1937], Frankfurt a. M. 1978, S. 171  f. »Die Deutschen haben nicht nur den ka­te­go­ ri­schen Imperativ erfunden, sondern auch seine militärische Entsprechung, den Paradeschritt; also jenes Mittel, das am geeignetsten ist, den letzten Rest Individualismus und moralischen Bewußtseins aus den Leibern herauszustampfen. Und den gestirnten Himmel sehen sie nicht über sich, sondern vor sich auf der Brust des Vorgesetzten.«



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Keim sowohl für »Duckmäuserei oder Autoritätsgier« als auch für die »reinste[], freizügigste[] Geistes- und Seelengröße im Einzelfall« bilde. Hieraus ergibt sich Zuckmayer zufolge die ethische Aufgabe, diese »Gotteslast«, die zugleich »Fluch« und »Gnade« sei, »in Liebe und Haß« im Sinne einer Akzeptanz »der organischen Verschmolzenheit aller Dinge« zu überwinden.102 Zuckmayer beschwört »ein weltbürgerlich aufgeschlossenes, freiheitliches, geistig und menschlich verantwortliches Deutschtum«103 und spricht auch in Bezug auf den Hauptmann von Köpenick von einem »adelige[n] Deutschtum«, das »sein[em] inferiore[n] Gegenspiel« trotzt.104 Diese Überlegungen stehen im Kontext jenes »›Lebenspathos‹«, jener »Erfahrung der Einheit und Allverbundenheit des gesamten Seienden«, die laut Wolfdietrich Rasch für die Jahrzehnte um 1900 typisch waren.105 Zuckmayer greift konkret Friedrich Nietzsches Formel »›amor fati‹« auf und meint damit die »Liebe zum Schicksal« im Sinne einer Bejahung des »Leben[s] […] in seinem vollen unteilbaren Umfang, in seiner unfaßlichen Ganzheit, in seiner zeugenden und mörderischen Gewalt«.106 Pro domo und der Selbstkommentar von 1947 bilden einen konsistenten Gedankenzusammenhang, in dem auch der Hauptmann von Köpenick anzusiedeln ist. Im Anschluss an diese Kontextbildung lautet meine Interpretationsthese: In seinem Stück, an dessen Ausarbeitung er sich zur Zeit der Septemberwahl 1930 machte, deutet Zuckmayer die Tat Wilhelm Voigts im Sinne eines Widerstands gegen die deutsche Neigung zu ignoranter Abstraktion und unbedingter Prinzipientreue. Im Angesicht des Wahlerfolgs der Nationalsozialisten stellt Zuckmayer den hierin zum Ausdruck kommenden inhumanen Zügen im Spiegel der Köpenickiade auf humorvolle Weise ein ›anderes Deutschland‹ entgegen, in dem die einzelnen Menschen nicht Mittel, sondern Zweck staatlicher und gesellschaftlicher Ordnungsformationen sind. Bevor ich mich der Voigt-Handlung zuwende, werde ich zunächst vornehmlich anhand der Uniformszenen aufzeigen, dass das Wilhelminische Militär im Hauptmann von Köpenick keine Gewaltagentur ist, die der Gesellschaft aggressiv-kriegerische und hierarchisch-autoritäre Wertmuster oktroyierte. Aufgrund

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Carl Zuckmayer, Pro domo, S. 91  f. Ebd., S. 69. Ebd., S. 119. Wolfdietrich Rasch, Aspekte der deutschen Literatur um 1900, in: ders., Zur deutschen Lite­ ra­tur seit der Jahrhundertwende. Gesammelte Aufsätze, Stuttgart 1967, S. 1–48, hier S. 17  f. 106 Carl Zuckmayer, Pro domo, S. 107. Vgl. hierzu Ingeborg Engelsing-Malek, Zuckmayers Dra­ men und Erwin Rotermund, Zur Erneuerung des Volksstückes in der Weimarer Republik. Zuckmayer und Horvath, in: Volkskultur und Geschichte. Festgabe für Josef Dünninger zum 65. Geburtstag, hg. von Dieter Harmening u.  a., Berlin 1970, S. 612–633, hier S. 617  f.

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seines Prinzips von ›Befehl und Gehorsam‹107 im Sinne Max Webers leistet das Militär allerdings der vermeintlich spezifisch deutschen Neigung zu Abstraktion und Systematik Vorschub. Dies zeigt sich in dem kurzen von Zuckmayer als besonders bedeutsam ausgezeichneten Dialog von Schlettows mit dem Schneidergehilfen Wabschke (vgl. AA, 92): WABSCHKE […] Ick meine nur – fast zart, behutsam –, det Militär is ja sehr scheen, aber es is nu wirklich nich det einzige uff de Welt. De Welt is jroß, und jeden Morjn jeht de Sonne uff. Wenn eener jung is – und jesund – und grade Knochen hat – ick meine – wenn eener ’n richtiger Mensch is, det is doch de Hauptsache, nich? […] Ick meine, det is doch de Hauptsache, Herr Hauptmann. Ab, mit der Uniform VON SCHLETTOW allein Vielleicht – vielleicht hat er recht – Nee, pfui! (VII, 353  f.) Von Schlettow hatte zuvor in einem Vergnügungslokal einen pöbelnden Grenadier zur Räson bringen wollen, wurde aber in Zivil nicht als Militärperson erkannt, sondern selbst als vermeintlicher Ruhestörer »abgeführt« (VII, 349). Dergestalt seiner Ehre verlustig gegangen, sieht er sich zum Abschied gezwungen, weshalb er auch die bestellte Uniform nicht mehr brauchen kann. Sein in der zitierten Dialogsequenz deutlich werdendes unbedingtes Festhalten am Primat militärischer Werte ist nicht auf strukturellen Zwang zurückzuführen. Er entscheidet sich vielmehr bewusst und zum Nachteil des eigenen Selbstwertgefühls dafür, der überindividuellen Ordnungsformation des Militärs einen höheren Wert zuzugestehen als den Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen. Hierbei handelt es sich um eine Übersteigerung des deutschen Hangs zur Abstraktion und zur Systematik, der zwar nicht spezifisch militärisch ist, sich im Militär aber beispielhaft manifestiert. Auch in der Episode des entdeckten und inhaftierten »Deserteur[s] Gebweiler« zeigt sich, dass dem Verfügungsanspruch des Militärs ein zutiefst inhumaner Zug innewohnt, dass aber der kommandierende Feldwebel dennoch von liebenswerter »Gutmütigkeit« sein kann (VII, 364  f.). In der Lebensrealität der meisten Figuren des Hauptmann von Köpenick nimmt das Militär indes eine überwiegend positive Rolle ein, die sich mit dem oben erläuterten Begriff ›Folkloremilitarismus‹ adäquat fassen lässt. Die als »vaterländische[r] Unterricht« (VII, 371) gedachte Manöverübung im Gefängnis anlässlich des Sedanstags, der sich längst zu einem »allgemeine[n] national-

107 Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, hg. von Johannes Winckelmann, 5. Aufl., Tübingen 1972, S. 28  f.



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pädagogische[n] Gedenktag«108 gewandelt hatte, gerät zu einem Klamauk, bei dem sich Wilhelm Voigt einen Tag vor seiner Entlassung aus dem Gefängnis hervortun kann. Auch die eigentlich als »rein militärisch-monarchische[] Rituale«109 gedachten Kaisermanöver werden von den Dramenfiguren gemäß der gängigen Praxis im Zeichen »volksfesthafte[r] Geselligkeit«110 begangen. So tritt Auguste, die Tochter des Schneiders Wormser, in der Ballszene des zweiten Akts in der späteren Uniform Voigts als »puppig[er]« (VII, 396) Offizier auf und spiegelt auf diese Weise die auf Prunk und Sozialprestige abzielende zivile Militärbegeisterung. An eine Varietékünstlerin erinnernd, nimmt sie die anwesenden Männer für sich ein und lässt die kriegerische Zweckbindung des Militärs vergessen. Auch Bürgermeister Obermüller sieht sich als Oberleutnant der Reserve gerne in Uniform, ist aber deshalb noch lange nicht bereit, rechtzeitig für eine passende Montur zu sorgen, geschweige denn sich um eine schlanke, wehrfähige Konstitution zu bemühen (vgl. VII, 382–387). Bezeichnend ist überdies, wie Voigts Schwager Hoprecht mit der Enttäuschung umgeht, aufgrund einer »Etatverkürzung« in der Armee nicht zum repräsentativen, säbeltragenden Vizefeldwebel der Reserve befördert zu werden. Er besinnt sich auf das höhere Glück der Zweisamkeit mit seiner Frau und sinniert, dass »ja auch mal Krieg kommen« könne und »man vielleicht ganz wech« müsse (VII, 403). Ein Gespräch zweier Offiziere offenbart überdies, dass auch im Militär selbst keine besondere Kriegsneigung besteht: DER ERSTE Nein, Herr Kamerad, die Marokkokrise, und der Balkan, das ewige Pulverfaß. – Wenn’s mal hochgeht, dann stehn wir da mit unsrer ungedienten Ersatzreserve. DER ZWEITE Verzeihung, Herr Kamerad, Sie unken, seit ich Sie kenne. Is ja ganz ausgeschlossen, denkt doch in Europa heutzutage kein Mensch ernsthaft an Krieg. DER ERSTE Das is ja das Unglück, Herr Kamerad, daß keiner ernsthaft dran denkt! Man sollte daran denken – um es zu verhüten! DER ZWEITE Ausgeschlossen, Krieg is Wahnsinn. Denkense mal an die neuen weittragenden Dinger. Da wäre ja in vierzehn Tagen alles futsch. Nee, nee, Wilhelm bleibt Friedenskaiser. (VII, 415) Zuckmayers Protagonist, dessen Handlungsstrang ich im Folgenden rekonstruiere, leidet demgemäß auch nicht unter dem Militär als solchem, für das er 108 Jakob Vogel, Nationen im Gleichschritt. Der Kult der »Nation in Waffen« in Deutschland und Frankreich, 1871–1914, Göttingen 1997, S. 161. 109 Ebd., S. 130. 110 Ebd., S. 273.

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sich, hierin der historischen Vorlage gemäß,111 durchaus »interessiert«, zu dem er aber »selbst nie […] jekommen« ist (VII, 382). Sein Problem besteht vielmehr darin, dass er als ehemaliger Zuchthäusler nicht mehr in die Bahnen einer bürgerlichen Existenz findet, weil der selbstzweckhafte bürokratische Apparat für seine konkrete Lebenssituation keine adäquate Lösung vorsieht. Im Wirrwarr amtlicher Zuständigkeiten führt er »wie der ewige Jude« einen »ewig aussichtslosem Kampf um eine Erlaubnis zum Leben«.112 Die Handlungsgründe, auch die Vorgeschichte Wilhelm Voigts nehmen im Hauptmann von Köpenick viel Platz ein. So zeigt der erste, »um die Jahrhundertwende« (VII, 323) spielende Akt, wie sich der wegen seiner Liebe zur Heimat und zur »Muttersprache« (VII, 333) aus dem Ausland zurückgekehrte Voigt bei Amtsgängen und bei der Arbeitssuche verkämpft. Da er ohne Arbeit weder eine Aufenthaltsgenehmigung noch einen Pass zur erneuten Ausreise erhält, ohne diese Dokumente aber umgekehrt auch keine Anstellung findet, bricht er im Potsdamer Polizeirevier ein. Auf frischer Tat ertappt, erlangt er auch auf diesem Weg keinen Pass, sondern wird vielmehr zu zehn Jahren neuerlicher Haft verurteilt. Auch nach seiner Entlassung zu Beginn des zweiten Akts bemüht sich Voigt, der vorläufig bei seiner Schwester Marie und dessen Ehemann Friedrich Hoprecht unterkommt, um eine bescheidene bürgerliche Existenz. Da es Voigt, der unter »Polizeiaufsicht« (VII, 388) steht, aufgrund der unklaren Zuständigkeiten nicht gelingt, sich rechtzeitig behördlich zu melden, droht ihm abermals die Ausweisung. In dieser prekären Lage legt er in einem Gespräch mit dem totkranken ebenfalls bei seiner Schwester und seinem Schwager wohnenden Mädchen Lieschen eher beiläufig seine Ansichten vom legitimen Glücksanspruch des Einzelnen dar. Auf ihre Frage, warum es »da droben [auf den Bergen des böhmischen Riesengebirges] so scheen is«, erläutert er: »[W]at lebendig is, dat will rauf, dat will in de Höhe, dat will nach oben« (VII, 392). Als Voigt dem Mädchen aus den Bremer Stadtmusikanten vorliest, wird das von ihm imaginierte Lebensglück allerdings enttäuscht. Während ihn die befürchtete »Ausweisung« (VII, 395) erreicht, stirbt Lieschen innerhalb der verborgenen Handlung zwischen den folgenden Szenen. Nur unterbrochen durch die varietéhafte Ballszene folgt der »Höhepunkt des Stückes«,113 das Gespräch des Protagonisten mit seinem Schwager am Ende des zweiten Akts. Anlässlich der Ausweisung Voigts, der gerade von Lieschens Beer111 Wilhelm Voigt, Wie ich Hauptmann von Köpenick wurde, S. 5, bezeichnet sich selbst als »besondere[n] Verehrer des Militärs«. 112 Carl Zuckmayer, Ein deutsches Märchen, S. 155  f. 113 Wilfried Adling, Die Entwicklung des Dramatikers Carl Zuckmayer, S. 121. Schon ein kursorischer Blick in die Forschung zeigt, dass die Hoprecht-Voigt-Szene fast durchgängig als die zentrale Passage des Stücks begriffen wird, besonders deutlich etwa bei Hans Wagener, Mensch und Menschenordnung. Carl Zuckmayers »deutsches Märchen« ›Der Hauptmann



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digung heimkehrt ist, und der ausgebliebenen Beförderung Hoprechts entspannt sich eine Diskussion über den Wert der gesellschaftlichen Regeln und Gesetze, der »menschliche[n] Ordnung«. Auf »Recht und Ordnung« des preußischen Staats vertrauend, will Hoprecht die Schicksalsschläge nicht als »Unrecht«, sondern lediglich als »Unglück« verstanden wissen. Obgleich der Einzelne zugunsten des »Ganze[n]« gelegentlich das Nachsehen haben könne, unterscheide doch erst die Akzeptanz der staatlichen Ordnung den »Mensch[en]« von der »Wanze« (VII, 406  f.). Voigt schenkt den Appellen an seine »Opfer«-Bereitschaft, an seine »innere Stimme« und an sein »Pflichtgefühl« allerdings kein Gehör, da aus seiner Sicht eine Ordnung nur dann menschlich sein kann, wenn sie sich am »Menschen, mit Leib und mit Seele«, ausrichtet (VII, 408). Seine Ausweisung quittiert er mit einem »sonderbar[en]« Lachen und der Erklärung, dass er »nu langsam helle« werde (VII, 405). Die Erfahrung, »keene Heimat mehr, vor lauter Bezirke« zu sehen, lässt ihn nicht nur an der Einrichtung des »Janze[n]« der gesellschaftlichen Ordnung, sondern auch an seinem bisherigen Verhalten zweifeln (VII, 408). So schildert er einen Gedankengang, der ihm bei der Beerdigung Lieschens gekommen ist: Und denn, denn stehste vor Gott dem Vater, stehste, der allens jeweckt hat, vor dem stehste denn, und der fragt dir ins Jesichte: Wilhelm Voigt, wat haste jemacht mit dein Leben? Und da muß ick sagen – Fußmatte, muß ick sagen. Die hab ick jeflochten im Jefängnis, und denn sind se alle druff rumjetrampelt, muß ick sagen. Und zum Schluß haste jeröchelt und jewürcht, um det bißchen Luft, und denn war’s aus. Det sagste vor Gott, Mensch. Aber der sagt zu dir: Jeh wech! sagt er! Ausweisung! sagt er! Dafür hab ick dir det Leben nich jeschenkt, sagt er! Det biste mir schuldig! Wo is et? Wat haste mit jemacht?! Det biste mir schuldig! Wo is et? Wat haste mit jemacht?! (VII, 408  f.) Da Voigt im Anschluss an diese metaphysische Reflexion eine alternative Strategie im Umgang mit den Behörden still zu durchdenken scheint, befürchtet Hoprecht zunehmend verzweifelt, dass sein Schwager an die »Weltordnung« poche. Voigt, der ihn erfolglos zu beruhigen versucht, indem er eine solche »Dummheit« zurückweist, fasst in diesem Moment den Entschluss zu seiner Köpenickiade (VII, 409). Dabei geht es ihm um keine Rebellion gegen die preußischen Amtsorgane und erst recht nicht um eine Demaskierung des Militärs. Willens, nicht zum Opfer einer Ordnung zu werden, die durch Regelzwänge bestimmt und für seinen individuellen Fall blind ist, beschließt er vielmehr, aus Liebe zum Leben sein Schicksal nun selbstbestimmter und kreativer anzugehen. Um die legitimen von Köpenick‹, in: Deutsche Komödien. Vom Barock bis zur Gegenwart, hg. von Winfried Freund, München 1988, S. 226–240.

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Rechte des Individuums gegen die repressive Tendenz eines sich autonomisierenden Verwaltungsapparats durchzusetzen und sich das Aufenthaltsrecht in seiner Berliner Heimat durch einen Pass zu sichern, entschließt er sich zu einer paradoxen Intervention: Er macht sich selbst zu einem Vertreter des von ihm aufrichtig verehrten Militärs und richtet somit diejenige Institution, die dem pedantischen Systemdenken Dignität verleiht, gegen die Auswüchse dieses Systemdenkens selbst. Im abschließenden dritten Akt folgt jene – in Zuckmayers Metaphorik – Zeu­ gung des Hauptmanns von Köpenick durch Wilhelm Voigt und die betagte Garde­ uniform, die von Bürgermeister Obermüller und später von Auguste Wormser abgetragen wurde und die nun »auch keiner mehr haben«114 möchte: Nachdem sich Voigt in einem Ramschladen ausgestattet hat und bald die Vorteile der militärischen Maskerade genießt, nimmt er mit sieben abkommandierten Soldaten das Bürgermeisteramt Köpenicks ein. In vielen bühnenkomischen Dialogsequenzen zeigt sich Voigt auch in brisanten Momenten durch seinen virtuosen militärischen Auftritt als Herr der Lage. Dies macht ihm augenscheinlich Freude, da er seinen vorher gefassten Plan, den Bürgermeister als Gefangenen in die Neue Wache nach Berlin zu verbringen, auch dann noch konsequent durchführt, als sein eigentliches Anliegen hinfällig geworden ist. Auf die Information, dass es »hier leider keine Paßabteilung« gibt, bemerkt er lakonisch: »Na  – darauf kommt’s nu auch nich mehr an.« (VII, 427) Da Voigts Ziel, in den Besitz eines Passes zu gelangen, fehlgeschlagen ist, ist er trotz des öffentlichen Trubels um seine Tat zunächst niedergeschlagen. In der vierzehn Tage umfassenden verborgenen Handlung vor der Schlussszene kommt ihm allerdings die Idee, den Behörden unter Zusicherung eines Passes die Auslieferung des steckbrieflich gesuchten Täters anzubieten. Im Gespräch mit den zuständigen Ermittlern, das den Abschluss des Stücks bildet, legt Voigt in Reaktion auf die Vermutung, dass er sich aus »Gewissen« und »Reue« gestellt habe, seine Handlungsmotive dar: Da sein Fall mittlerweile eine »öffentliche Anjelegenheit« geworden sei, könne er sich auf die Zusicherung eines Passes im Gegenzug für seine Selbstauslieferung verlassen. Voigts schlaue Ausnutzung der medialen Aufmerksamkeit ist aus der Not geboren und zielt lediglich darauf ab, ihm endlich ein »richtiges Leben« in »Ruhe« und »Freiheit« zu sichern, wofür er auch eine neuerliche Haftstrafe billigend in Kauf nimmt (VII, 441  f.). Da es Zuckmayers Protagonist lediglich um die traditionellen liberalen Bürgerrechte zu tun ist, zahlt er seine Beute fast vollständig zurück und betont: »[I]ck hab in mein Leben noch keinem Mitmenschen wat wechjenommen. Ick habe immer nur mit der Behörde jekämpft.« Selbst den von ihm übertölpelten Bürgermeister Ober114 Carl Zuckmayer, Ein deutsches Märchen, S. 156.



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müller verteidigt er mit dem Hinweis, dass »man bei uns mitn Militär allens machen« kann und der Erfolg der Köpenickiade daher ganz einfach »in der Natur der Sache« liege (VII, 443  f.). Zu Beginn der Schlussszene hatten die Ermittler noch nach »gedienten Soldaten«, »geschaßten Offizieren« oder anderen besonders befähigten Personen fahnden wollen, denn »’n anderer bringt das ja gar nich fertig« (VII, 438). Da der Typus des Hochstaplers im Sinne eines virtuosen Täuschungskünstlers die Öffentlichkeit der Weimarer Republik faszinierte,115 ist es nur konsequent, dass vor Voigts Auftritt ein »militärisch aussehender Hochstapler mit aufgezwirbeltem Schnurrbart« unter Verdacht steht (VII, 437). Dass sich der wahre Täter sodann als armer Tropf, gleichsam als Hochstapler wider Willen entpuppt,116 erheitert die Ermittler. Der Kontrast zwischen seiner Erscheinung in Zivil und in Uniform löst schließlich auch bei Wilhelm Voigt ein ungläubiges »große[s], befreite[s] und mächtige[s] Gelächter« (VII, 446) aus, als er auf allgemeinen Wunsch nochmals die Hauptmannsuniform anlegt. Voigts paradoxe Intervention hatte die eminente gesellschaftliche Geltung des Militärs als Verkörperung eines abstrakten Ordnungsprinzips deutlich werden lassen und dadurch  – mit einer Formulierung Zuckmayers – »ein ganzes Land, ein Volk, eine Welt […] verblende[t] und in den Dreck« (AA, 91) geführt. Indem schließlich in Wilhelm Voigt der Hauptmann von Köpenick und im Hauptmann von Köpenick Wilhelm Voigt ansichtig wird, wird die Entlarvung der Gesellschaft als ein Sieg des menschlichen Glücksanspruchs über dieses selbstzweckhafte Ordnungsprinzip kenntlich. Voigts unbändiges Lachen ist als humorvolle Beglaubigung des Siegs der Humanität, als eine Vision der existentiellen Harmonie von Einzelnem und sozialem Gesamt zu deuten. Dies wird durch das der eigentlichen Dramenhandlung nachgestellte, im ›äußeren Kommunikationssystem‹117 von Zuckmayers Deut­ schem Märchen anzusiedelnde Zitat vollends deutlich: »›Kommt mit‹, sagte der 115 Vgl. u.  a. Stephan Porombka, Felix Krulls Erben, Michael Neumann, Der Reiz des Verwechselbaren. Von der Attraktivität des Hochstaplers im späten 19. Jahrhundert, in: Thomas Mann Jahrbuch 18 (2005), S. 71–90 und Jürgen W. Schmidt, Eine Hochstaplerin in Erfurt: Martha Barth alias »geschiedene Kronprinzessin von Griechenland« bzw. »Prinzessin Margarethe von Preußen«, in: Jahrbuch für Erfurter Geschichte 5 (2010), S. 149–180. 116 Dass nicht nur der historische Voigt, sondern auch Zuckmayers Protagonist als Hochstapler aufgefasst wurde, dokumentiert die Aufführungskritik von Ludwig Marcuse, Ein deutsches Märchen, S. 170, der die historische Person Wilhelm Voigt als »Domela« bezeichnet, also mit jenem unverbesserlichen Hochstapler Ludwig Oertel, alias Harry Domela vergleicht, der große Berühmtheit erlangte. Als sich Domela als Prinz ausgab, was er mit seinem Erfolgsbuch Der falsche Prinz. Leben und Abenteuer des Harry Domela auch auszumünzen verstand, wurde dies von den Medien prompt mit der Köpenickiade Wilhelm Voigts in Verbindung gebracht. Vgl. Stephan Porombka, Felix Krulls Erben, S. 70. 117 Vgl. Manfred Pfister, Das Drama, S. 67  f.

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Hahn, | ›etwas Besseres als den Tod werden wir überall finden!‹« (VII, 446).118 Verkörperten die Brüder Grimm für Zuckmayer eine »fortwährende Bezogenheit auf die Dinge, die Sachen, das lebendige Menschentum«,119 verstand er Märchen als »Symbol[e] für das, was nicht vergangen ist, und eine Verdichtung dessen, was nicht vergehen wird«, nämlich für die zeitlosen »Geschichten […] vom menschlichen Leben und Wesen« (AA, 92). Durch den bereits zuvor aufgegriffenen Satz aus den Bremer Stadtmusikanten am Ende der Schlussszene schreibt Zuckmayer seinem Stück überdies einen Wirkungsimpuls ein. Als Voigt am Ende von Szene zwölf Lieschen vorliest, heißt es, damit im Übrigen näher am Grimm’schen Original: »›Komm mit, sagte der Hahn  – etwas Besseres als den Tod werden wir überall finden.‹« (VII, 395) Am Ausgang des Stücks steht der Imperativ nicht mehr im Singular, sondern richtet sich an ein Kollektiv: »›Kommt mit‹« (VII, 446). Durch den aus der Dramenhandlung herausgehobenen und insofern ›auktorialen‹120 Kommentar versieht Zuckmayer seinen Hauptmann von Köpenick mit dem Appell an das Publikum, es dem Protagonisten gleichzutun und die Gefahr der Selbstzweckwerdung von Reglements und Ordnungsvorgaben zu verhüten. Die evozierte Versöhnung von individuellem Glücksanspruch und abstrakter staatlicher Ordnung stellt zugleich eine patriotische Vision dar. Im »Spiegel des Humors« wollte Zuckmayer, wie er in der Anmerkung des Autors ausführt, auf die »im Charakter und in der Geschichte dieses Volkes« steckende »gemeinsame Wurzel« hinweisen, die zwischen dem Ende der Weimarer Republik und dem Ende der Kaiserzeit bestehe (AA, 91). Zur Zeit der Septemberwahl 1930, in der die NSDAP als zweitstärkste Partei in den Reichstag einzog, gemahnt Zuckmayer an die Degenerationsgefahr der spezifisch deutschen Neigung zu unbedingter Befolgung abstrakter Prinzipien. Zugleich beschwört er den Gedanken des Lebendigen und Menschlichen, um das deutsche Volk auf humorvolle Weise auf humane Werte zu verpflichten und dergestalt zu sich selbst zu bringen. Hier von einer antimilitaristischen Haltung zu sprechen, verstellt die Sicht auf Zuckmayers pathetisches Politikverständnis, das er immer wieder auf die Formel des Homo-Mensura-Satzes gebracht hat: ›der Mensch als Maß aller Dinge‹.121 Wie er in 118 Ganz ähnlich leitet Zuckmayer auch seinen Text für das Programmheft zur Premiere des Hauptmann von Köpenick mit einem Zitat aus Rumpelstilzchen ein. Vgl. Carl Zuckmayer, Ein deutsches Märchen, S. 155. 119 Carl Zuckmayer, Die Brüder Grimm. Ein deutscher Beitrag zur Humanität [1948], in: Aufruf zum Leben, S. 249–291, hier S. 259. 120 Vgl. zu den Techniken epischer Kommunikation im Drama Manfred Pfister, Das Drama, S. 106–122. 121 Vgl. u.  a. Carl Zuckmayer, Pro domo, S.  108, II, 379 und Albert Reif, Der Mensch ist das Maß. Vgl. zur theologischen Dimension in Zuckmayers Denken Michael Meyer-Blanck, »Strahlend von Erden- und Himmelsliebe«. Carl Zuckmayer als Christ und Theologe, in:



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einem seiner letzten Interviews erläuterte, beruhte für Zuckmayer »das eminent Politische im Menschlichen«, wie auch die »Staatenbildung« und »Gruppenbildung« im Grunde »ein wesentliches menschliches Moment« sei.122 Der politische Gehalt des Hauptmann von Köpenick besteht in diesem Sinne gerade nicht in der Kritik eines Gesellschaftszustands, sondern in der Transzendierung der konkreten geschichtlichen hin zu einer allgemeinmenschlichen Konfliktkonstellation, in der  – so Zuckmayer in seiner Rede Jugend und Theater aus dem Jahr 1951  – Läuterung des »Aktuelle[n]« zum »Gegenwärtige[n]«.123

IV. Eine Anmerkung des Autors des Hauptmann von Köpenick Abgesehen von einem kurzen Text für das Programmheft der Berliner Uraufführung und einigen Passagen, die sich in den Briefen und autobiographischen Schriften finden, sind keine Dokumente bekannt, in denen sich Carl Zuckmayer mehr als nur beiläufig zu seinem Hauptmann von Köpenick äußert. Aus diesem Grund verspricht ein der Forschung bislang unbekannter als Anmerkung des Autors betitelter Text von hohem Interesse zu sein.124 Bevor dieser Text, den ich in meiner Interpretation bereits ausgewertet habe, als Ganzzitat wiedergeben wird, werde ich ihn kurz in der Aufführungsgeschichte des Stücks verorten. Nach der Premiere am 5.  März 1931 am Deutschen Theater in Berlin unter der Regie von Heinz Hilpert wurde Der Hauptmann von Köpenick vielerorts mit großem Erfolg gegeben, bis er 1933 in Deutschland verboten wurde. Bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konnte das Stück, das sich auf Jahre im Repertoire vieler Theater halten sollte, erneut »große Publikumserfolge«125 verbuchen. Zu den Bühnen, die das Stück nach 1945 wieder ins Programm aufnahmen, zählt auch das Schauspielhaus Zürich. Unter der Direktion von Oskar Wälterlin galt es während des Zweiten Weltkriegs wie auch in der Nachkriegszeit als »massstabsetzende Bühne für das deutschsprachige Theater«.126 Auch für den aus der

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Pastoraltheologie. Monatsschrift für Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft 78 (1989), S. 403–416. Zit. nach Albert Reif, Der Mensch ist das Maß, S. 4  f. Carl Zuckmayer, Jugend und Theater, in: Der Monat 3 (1951), S. 3–14, hier S. 11. Vgl. Carl Zuckmayer, Zur Première von Carl Zuckmayers ›Der Hauptmann von Köpenick‹. Anmerkung des Autors, in: Programmheft des Schauspielhauses Zürich, Spielzeit 1947/48, H. 4, S. 1–5 (Stadtarchiv Zürich VII.200.:7.3.8.). Vgl. zur Aufführungsgeschichte mit Abdruck einiger Kritiken Siegfried Mews, Carl Zuckmayer. ›Der Hauptmann von Köpenick‹, 6. Aufl., Frankfurt a. M. 1998, 67–88, Zitat S. 67. Marco Badilatti, Schauspielhaus Zürich, Zürich ZH, in: Theaterlexikon der Schweiz, hg. von Andreas Kotte, Zürich 2005, Bd. 3, S. 1585–1588, hier S. 1586.

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Emigration zurückgekehrten Zuckmayer, dessen Stück Des Teufels General hier bereits am 14.  Dezember 1946 uraufgeführt worden war,127 spielte »die Stadt Zürich« nach eigener Aussage »eine besondere Rolle«: »Denn in Zürich, da war das Theater« (II, 569). Die Neuinszenierung des Hauptmann von Köpenick unter der Regie von Leonard Steckel feierte nach Zuckmayers eigener Einschätzung am 18. Oktober 1947 »eine rauschvolle Premiere«.128 Für das Programmheft verfasste er folgenden Text: *

Anmerkung des Autors Im September 1930 besuchte mich ein Freund, der wußte, daß ich damals an einem Stück »Der Hauptmann von Köpenick« arbeitete, das Max Reinhardt schon nach der Vorlesung des ersten Entwurfs fürs »Deutsche Theater« angenommen hatte. »Du solltest dich lieber nach einem andern Stoff umsehen«, sagte er zu mir, »es ist nicht mehr die Zeit dafür.« »Warum?« fragte ich. »Ja, liesest du denn keine Zeitung?« Er hatte die Zeitung mitgebracht, sie enthielt den Bericht über jene berühmten Reichstagswahlen, durch welche die Nationalsozialisten, vorher eine kleine Stänkergruppe des Parlaments, in einem beispiellosen Überraschungserfolg von heute auf morgen die zweitstärkste Partei Deutschlands geworden waren. »Dann«, sagte ich, »ist es wohl grade Zeit für das Stück.« Es kam im März 1931 heraus und wurde bis Ende Januar 1933 an vielen deutschen Bühnen immer wieder gespielt. Dann wurde es verboten, und jener Freund schien endlich recht zu bekommen: es hatte mir den besonderen Grimm der neuen Machthaber eingetragen. – Ursprünglich war das Stück keineswegs aus einer tagespolitischen Absicht konzipiert. Seit Jahren trug ich mich mit der Idee, einen »Eulenspiegel« zu schreiben, ein Stück um jene deutsche Volksfigur, die in gespielter und echter Närrisch127 Vgl. für die Hintergründe Ute Kröger und Peter Exinger, »In welchen Zeiten leben wir!«. Das Schauspielhaus Zürich, 1938–1998, Zürich 1998, S. 98–100. 128 Carl Zuckmayer an Gottfried Bermann Fischer, 22. 10. 1947, zit. nach Carl Zuckmayer und Gott­fried Bermann Fischer, Briefwechsel, Bd. 1, S. 330–336, hier S. 332. – Vgl. zum Spielplan Das Schauspielhaus Zürich in der Ära Wälterlin, 1938/39–1960/61. Eine grosse Zeit, hg. von Fritz Lendenmann, Zürich 1995, S. 163.



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keit, durch die scheinbar einfältige Wörtlichnehmung des Wortes, die Wahrheit sagt und den Unsinn menschlicher Konventionen an den Tag bringt. Im Schuster Wilhelm Voigt glaubte ich einen modernen Eulenspiegel gefunden zu haben, der mit seinem Schelmenstück, ohne selbst dessen tiefere Bedeutung zu erkennen, die Blindheit seiner Mitwelt enthüllt, wie der Schalksnarr des Volksbuchs mit seinen Wunderbrillen. Damals aber, als das politische Verhängnis über Deutschland heraufzog, zeigte mir grade die Warnung dieses Freundes, – ich hatte nicht viele solche –, daß es der rechte und vielleicht der letzte Augenblick war, dem deutschen Volk im Spiegel des Humors und einer Vergangenheit, an deren bitteren Folgen unsere Gegenwart noch schwer genug zu tragen hatte, die Gefahren der Zukunft vorzustellen. Des Kaisers »bunter Rock« existierte nicht mehr, der milde Absolutismus der Monarchie hatte ausgelebt,  – aber im braunen Hemd marschierte eine viel ärgere Gefahr durchs Land, und ein viel unheilvollerer Fetisch malte sich an die Wände. Die gemeinsame Wurzel aber, die im Charakter und in der Geschichte dieses Volkes steckte, müßte bloßgelegt werden, sollte man das Wachstum eines neuen Übels verhindern. So entstand aus der Anekdote vom vorbestraften Schuster Voigt, der eine Stadt genasführt hatte, das »deutsche Märchen« von der Uniform, die stärker wird als der Mann, der sie trägt, – und die, holt man sie aus der Trödelbude des Altkleiderhändlers hervor, ein ganzes Land, ein Volk, eine Welt zu verblenden und in den Dreck zu führen vermag. Und um die Pole anzudeuten, zwischen denen mein »deutsches Märchen« kreiste, setzte ich es zwischen zwei Zitate aus den Volks- und Hausmärchen der Brüder Grimm: »Nein«, sagte der Zwerg, »laßt uns vom Menschen reden! Etwas Lebendiges ist mir mehr wert als alle Schätze der Welt!« und: »Komm mit uns«, sagte der Hahn, »etwas Besseres als den Tod werden wir überall finden!« Denn es schien mir, damals im Jahre 30, daß der Deutsche nun zu wählen habe, nicht mehr zwischen der oder jener Partei, nicht mehr zwischen der einen oder der andern Staatsform, sondern zwischen der Entscheidung für das Lebendig-Menschliche, oder für die todbringenden Gewalten einer blinden Machtvergottung, – zwischen Liebe und Haß, – ja zwischen Tod und Leben. Ich glaube nicht an Haß als produktive Kraft. Haß ist eine menschliche Reaktion, ein begreiflicher Affekt, der sich im Augenblick erschöpft, in dem er erregt wird, obwohl er tiefer greift als Zorn. Gewinnt er Dauer, wird er zum Handlungsantrieb oder zum seelischen Zustand, dann mag er sich in eine tragische Dämonie verwandeln, die zur Selbstzerstörung führt. Er richtet sich dann zwangsläufig

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nicht mehr gegen eine einzelne Person, oder gegen eine Gruppe von Personen und deren Sein und Tun, Denken und Handeln, sondern gegen das menschliche Geschlecht, gegen die Schöpfung schlechthin, also auch gegen seinen Träger. Was aus Haß entsteht, auch wenn es Größe hat, trägt den Todeskeim in sich selbst. Es mag grell aufflammen oder lange schwälen [sic], aber es bleibt nicht bestehen, es zeitigt keine Früchte und keine Nachkommenschaft. Dies gilt, glaube ich, auch in vollem Umfang für die künstlerische Gestaltung. Satire ist fast immer zeitgebunden und zur raschen Vergessenheit bestimmt, falls ihr nicht etwas Stärkeres innewohnt als Haß oder Bemängelung, nämlich das Element der Liebe, oder zum mindesten der Verliebtheit, – also der leidenschaftlichen Bezogenheit des Schaffenden zum menschlichen Wesen, zur Kreatur. Und damit auch zu seinem Schöpfer, zum creator spiritus. Solche leidenschaftliche Beziehung kann sich sehr wohl auch in Kritik, sogar in Verzerrung äußern, solange sie nicht von der unfruchtbaren Kälte des Hasses ertötet wird. Daumier ist kein gemütlicher Beobachter, kein behaglicher Zeitgenosse, er mag sogar den bösen Blick haben, aber ein Daumier, ein Goya, ist grausam vernarrt in die menschliche Erscheinung, wenn auch in den Ausdruck ihrer Schwächen, Mängel und Wüstheiten. Wer aus einer geheimen Liebe die Geißel schwingt, mag heilen statt zu verletzen. Ein Stück aber wie »Der Hauptmann von Köpenick« hat nicht die Absicht oder die Mission zu geißeln. Es ist keine Satire und darf auch in seinen satirischen Zügen nicht karikaturistisch gespielt oder aufgefaßt werden. Worauf es hier ankommt, ist nicht die Verulkung oder Verspottung, sondern die Spiegelung des deutschen Charakters, dessen helle und lautere Anlagen ebenso wie seine Trübheiten und Abgründe in den Gestalten dieses Stückes gemeint sind. Als Eigenschaftsworte zur Kennzeichnung der Satire benutzt man gewöhnlich die Worte »scharf« und »bitter«. Zu einem Märchen würden sie wenig passen. Im Märchen aber stellt sich ein Gleichnis dar. Es erzählt das längst Vergangene, das, was »einmal war«, – als ein Symbol für das, was nicht vergangen ist, und eine Verdichtung dessen, was nicht vergehen wird. Denn hinter den alten Geschichten stehen immer die neuen und jungen, vom menschlichen Leben und Wesen. Deshalb scheint es mir möglich, daß mein alter Wilhelm Voigt, der »Mann ohne Paß und ohne Aufenthalt«, dessen Schicksal vielen von uns inzwischen bedenklich nahe gekommen ist, auch heute noch etwas Lebendiges an sich hat. Und daß auch heute noch die simple Märchenwahrheit in uns anklingen mag, die der bucklige Schneider Wabschke einmal dem »echten« Hauptmann sagt: »Die Welt ist groß – und jeden Morgen geht die Sonne auf. Ick meine, – wenn Einer gesund ist und seine graden Knochen hat,  – ick meine,  – wenn Einer ’n richtiger Mensch ist, – das is doch die Hauptsache, Herr Hauptmann. Das is doch die Hauptsache.«

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der begriff des stils, 1968 Ein bisher unveröffentlichter Vortrag von Emil Staiger Neben Wolfgang Kayser ist Emil Staiger in die Geschichte der Germanistik eingegangen als Theoretiker und Hauptvertreter der sogenannten werkimmanenten Interpretation  – also jener Interpretationsweise, die in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg Konjunktur hatte und unter wechselnden Gesichtspunkten bis heute kontrovers diskutiert wird.1 Den Ausdruck ›Werk1

Zu Staiger als Literaturwissenschaftler vgl. Werner Wögerbauer, Emil Staiger (1908–1987), in: Wissenschaftsgeschichte der Germanistik in Porträts, hg. von Christoph König, HansHarald Müller und Werner Röcke, Berlin und New York 2000, S.  239–249. Der Ausdruck ›werkimmanent‹ wird in der Literaturwissenschaft unterschiedlich gebraucht. Zu den Facetten des Begriffs vgl. Axel Spree, Werkimmanente Interpretation, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd.  3, hg. von Jan-Dirk Müller, Berlin und New York 2003, S. 834–837, hier S. 835. Für eine interpretationstheoretische Analyse der werkimmanenten Ansätze von Staiger und Kayser vgl. Lutz Danneberg, Zur Theorie der werkimmanenten Interpretation, in: Zeitenwechsel. Germanistische Literaturwissenschaft vor und nach 1945, hg. von Wilfried Barner und Christoph König, Frankfurt a. M. 1996, S.  313–342; Werner Strube, Zur Struktur der Stilinterpretation, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 53.4 (1979), S.  567–579; Werner Strube, Die literaturwissenschaftliche Textinterpretation, in: Sinnvermittlung. Studien zur Geschichte von Exegese und Hermeneutik I, hg. von Paul Michel und Hans Weder, Zürich 2000, S. 43–69, bes. S. 45–52; Ekaterini Kaleri, Werkimmanenz und Autor, in: Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, hg. von Fotis Jannidis, Gerhard Lauer, Matías Martínez und Simone Winko, Tübingen 1999, S. 235–254; Tobias Klauk und Tilmann Köppe, Zur Struktur und Rolle ästhetischer Erfahrung in Emil Staigers ›Die Kunst der Interpretation‹ (1951), in: Scientia Poetica 21 (2017), S. 135–170; Jørgen Sneis, Phänomenologie und Textinterpretation. Studien zur Theoriegeschichte und Methodik der Literaturwissenschaft, Berlin und Boston 2018, Kap. 4. Aufschlussreich, wenn auch im Hinblick auf Emil Staiger nur indirekt einschlägig, sind außerdem die Überlegungen von Sigurd Burckhardt, Zur Theorie der werkimmanenten Deutung, in: Festschrift für Bernhard Blume. Aufsätze zur deutschen und europäischen Literatur, hg. von Egon Schwarz, Hunter G. Hannum und Edgar Lohner, Göttingen 1967, S. 9–28. Zur Argumentationsweise in werkimmanent verfahrenden literaturwissenschaftlichen Texten vgl. Harald Fricke, Die Sprache der Literaturwissenschaft. Textanalytische und philosophische Untersuchungen, München 1977; ferner die Interpretationsanalysen in: Interpretationsanalysen. Argumentationsstrukturen in li­te­ra­

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immanenz‹ hat Staiger selbst allerdings nicht verwendet, zumindest nicht in programmatischer Absicht. Die Bezeichnung, die er selbst zu präferieren scheint, ist vielmehr »Stilkritik«.2 Dies lässt sich auch daran ablesen, dass Staiger-Schüler wie Beda Allemann und Peter Szondi mit Selbstverständlichkeit von der »Stilkritik« ihres Zürcher Mentors sprechen.3 Der zentrale Stellenwert des Stilbegriffs in Staigers vieldiskutierter ›Kunst der Interpretation‹ wird vollends deutlich, wenn man bedenkt, dass er die literaturwissenschaftliche Interpretation ausdrücklich als stilbestimmende Interpretation beschreibt. Im Hinblick auf den zu interpretierenden literarischen Text hält er fest: »Der Gegenstand meiner Interpretation ist sein unverwechselbar eigener Stil«.4 Der hier erstmals abgedruckte Vortrag Der Begriff des Stils, den Staiger im Jahr 1968 auf einem Zürcher Kolloquium gehalten hat, führt somit direkt ins Zentrum seiner Interpretationstheorie. Aber mehr noch: Er führt auch ins Zentrum der international geführten interpretationstheoretischen Debatten dieser Zeit. Das überaus prominent besetzte Kolloquium, auf dem Staiger seinen Vortrag hält, wurde von Paul de Man organisiert und von der Johns Hopkins University geför-

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tur­wis­senschaftlichen Interpretationen, hg. von Walther Kindt und Siegfried J. Schmidt, München 1976. Zur Vorgeschichte wie auch zur Nachwirkung der werkimmanenten Interpretation vgl. Hans-Harald Müller, Zur Genealogie der werkimmanenten Interpretation, in: Konzert und Konkurrenz. Die Künste und ihre Wissenschaften im 19. Jahrhundert, hg. von Christian Scholl, Sandra Richter und Oliver Huck, Göttingen 2010, S. 269–282; Wilfried Barner, Literaturwissenschaft  – eine Geschichtswissenschaft? München 1990, bes. S.  13; Klaus L. Berghahn, Wortkunst ohne Geschichte. Zur werkimmanenten Methode der Germanistik nach 1945, in: Monatshefte 71.4 (1979), S. 387–398; Jost Hermand, Synthetisches Interpretieren. Zur Methodik der Literaturwissenschaft, München 1968, bes. S. 140–147; die Beiträge in: Emil Staiger und ›Die Kunst der Interpretation‹ heute, hg. von Joachim Rickes, Volker Ladenthin und Michael Baum, Bern [u.  a.] 2007. Emil Staiger: Die Kunst der Interpretation [1951], in: ders., Die Kunst der Interpretation, München 1982, S.  7–28, hier S.  7; Emil Staiger, Stilwandel. Studien zur Vorgeschichte der Goethezeit, Zürich und Freiburg i. Br. 1963, S.  13. Dass Staiger selbst nicht von Werkimmanenz, sondern von Stilkritik spricht, bemerkt auch Julian Schütt, Germanistik und Politik. Schweizer Literaturwissenschaft in der Zeit des Nationalsozialismus, Zürich 1996, S. 57. Vgl. Beda Allemann, Über das Dichterische, Pfullingen 1957, S. 74; Peter Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie I. Studienausgabe der Vorlesungen, Bd. 2, hg. von Senta Metz und Hans-Hagen Hildebrandt, Frankfurt a. M. 1974, S. 271. Staiger, Die Kunst der Interpretation, S. 15. In vergleichbarer Weise bemerkt er auch im Vorwort seiner dreibändigen Goethe-Monographie: »Unser Gegenstand ist das, worin Gedanke, Satz, Motiv, Aufbau, Rhythmus, Bild, aber auch das Leben einig sind: der ›Stil‹« (Emil Staiger, Goethe, Bd. 1: 1749–1786, Zürich und Freiburg i. Br. 1952, S. 8). Siehe auch Wolfgang Kayser, Das sprachliche Kunstwerk. Eine Einführung in die Literaturwissenschaft [1948], Tübingen und Basel 201992, S. 289–292 (»Stil als Werkstil«).



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dert. Wie etwa die Einleitung von The Structuralist Controversy deutlich zu erkennen gibt, handelt es sich bei der Zürcher Tagung von 1968 um ein Seitenstück zu der zweifellos viel berühmteren Tagung in Baltimore von 1966.5 Joseph Hillis Miller erinnert sich, mit explizitem Verweis auf »the celebrated Hopkins Symposium«: Early in 1968, de Man sponsored and organized, with money from the Humanities Center of the Johns Hopkins University […] an important international »Symposium on Interpretation«. It took place in Zürich from January 25 to January 27, 1968. […] That symposium brought together in one small room for the give and take of intimate dialogue (no audience was present) representatives of so-called deconstruction (Derrida, de Man), Geneva School criticism (Poulet, Starobinski, Richard), Konstanz reception theory (Jauss), German hermeneutics (Gadamer), Zürich Germanistics (Staiger), and British criticism (Donoghue, Tanner). I also gave a paper at that conference […].6 Dieser Zusammenhang ist in ideenhistorischer Perspektive bedeutsam, zumal die Tagung in Baltimore vielfach als das Initiationsereignis einer ›Epoche der Theorie‹ beschrieben worden ist. Beteiligt an der Diskussion ist zwei Jahre später auch Emil Staiger, der keine besondere Strömung zu vertreten scheint, sondern schlicht die Zürcher Germanistik – und seine eigene ›Kunst der Interpretation‹. Der Begriff des Stils ist insofern einzigartig, als es keinen weiteren Text aus Staigers Feder gibt, der sich in vergleichbarer Weise einer Explikation des Stilbegriffs widmet. Mit besonderer Klarheit werden hier im Rückblick theoretische Einsichten ausgesprochen, die sich verstreut in Publikationen aus den 1930er bis 1950er Jahren finden und für ein theoriegeschichtlich angemessenes Verständnis von Staigers Ansatz wesentlich sind. Deutlich wird unter anderem, dass Staiger konsequent zwischen Epochenstil, Nationalstil, Personalstil und dem Stil des 5

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Vgl. [Richard Macksey und Eugenio Donato]: Preface, in: The Languages of Criticism and the Sciences of Man. The Structuralist Controversy, hg. von Richard Macksey und Eugenio Donato, Baltimore und London 1970, S.  ix–xiii, bes. S. xii. Vgl. auch die Erinnerungen von Bernhard Böschenstein, Zwischen Hingabe und Zurechtweisung. Der Interpret Emil Staiger im Gespräch mit vier Dichtern, in: 1955–2005: Emil Staiger und ›Die Kunst der Interpretation‹ heute, hg. von Joachim Rickes, Volker Ladenthin und Michael Baum, Bern [u.  a.] 2007, S. 31–41, hier S. 38. Dementsprechend ist die Angabe von Werner Wögerbauer (Emil Staiger, S.  245), der Vortrag sei an der Johns Hopkins University gehalten worden, nicht zutreffend. J. Hillis Miller, Tales out of (the Yale) School, in: Theoretical Schools and Circles in the Twentieth-Century Humanities. Literary Theory, History, Philosophy, hg. von Marina Grishakova und Silvi Salupere, New York und London 2015, S. 115–132, hier S. 118 und 119.

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einzelnen literarischen Werks unterscheidet; dass er den Stilbegriff in Analogie zum Weltbegriff des Philosophen Martin Heidegger verwendet; und dass dieser Stil- bzw. Weltbegriff den Begriff der Weltanschauung ersetzen sollte, den Staigers akademischer Lehrer Emil Ermatinger im Rahmen seiner geistesgeschichtlichen Literaturbetrachtung propagiert hatte. An Hinweisen wie diesen ist zu erkennen, dass Staigers Interpretationstheorie in enger Auseinandersetzung mit philosophischen und literaturwissenschaftlichen Positionen der Zwischenkriegszeit entwickelt wurde. Auch wenn die allgemeine »Rückkehr zur Autonomie-Ästhetik« in der Literaturwissenschaft nach 1945 zweifellos im Zusammenhang mit politischen und gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen gesehen werden muss,7 ergibt sich in begrifflicher und methodologischer Hinsicht das Profil von Staigers Ansatz  – die ersten programmatischen Äußerungen finden sich in den späten 1930er Jahren8 – vor allem aus der Abgrenzung von einem bestimmten, historisch indizierten Verständnis von Literatur und Literaturwissenschaft. Somit liefert Der Begriff des Stils tatsächlich mehr als eine Erörterung des Stilbegriffs. Der Vortrag gibt auch Aufschluss über den Entstehungskontext und die Stoßrichtung von Staigers Literaturtheorie; und darüber hinaus wird erkennbar, dass Staiger nach drei Jahrzehnten immer noch damit befasst ist, seinen Stilbegriff zu präzisieren, um ihn für eine allgemeine Ästhetik fruchtbar zu machen.9 Dies gilt es im Folgenden kurz zu erläutern.10 7

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Spree, Werkimmanente Interpretation, S. 836. Vgl. auch Simone Winko, Methode, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd.  2, hg. von Harald Fricke, Berlin und New York 2000, S. 581–585, hier S. 583. Eine personelle und institutionelle Kontinuität in der Literaturwissenschaft trotz politischer Diskontinuität betont Wilhelm Voßkamp, Kontinuität und Diskontinuität. Zur deutschen Literaturwissenschaft im Dritten Reich, in: Wissenschaft im Dritten Reich, hg. von Peter Lundgreen, Frankfurt a. M. 1985, S. 140–162; Wilhelm Voßkamp, Literaturwissenschaft als Geisteswissenschaft. Thesen zur Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Die sog. Geisteswissenschaften. Innenansichten, hg. von Wolfgang Prinz und Peter Weingart, Frankfurt a. M. 1990, S. 240–247, bes. S. 242  f. Vgl. Emil Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Untersuchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller [1939], München 1976, S. 9–18 (»Von der Aufgabe und den Gegenständen der Literaturwissenschaft«). Vgl. Staigers eigene Aussage von November 1967, zit. nach Karl Friedrich Reimers, Emil Staiger, Zürich 1967, Film G 123 des IWF, Publikationen zu wissenschaftlichen Filmen, Sektion Geschichte/Publizistik, Serie 4, Nr. 23 (1979), S. 8: »Die Sache, die mich im Augenblick beschäftigt, ist eine Studie über den Begriff des Stils. Die Arbeit ist bestimmt als Vortrag für einen internationalen Kongreß von Interpreten, der von der John [sic] Hopkins University veranstaltet wird und im Frühjahr 1968 in Zürich stattfinden soll. Ich habe mich entschlossen, für diesen Kongreß, den die John [sic] Hopkins University veranstaltet, dieses Thema zu wählen, weil ich immer wieder sehe, daß gerade über den Begriff des Stils eine große Unklarheit besteht. Ich selber bin an dieser Unklarheit nicht ganz unschuldig. Ich



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In seinen interpretationstheoretischen Schriften ist Staiger darum bemüht, die Literaturwissenschaft auf einem Fundament zu errichten, das »dem Wesen des Dichterischen gemäß ist«.11 Als ein solches Fundament hat er bekanntlich das »unmittelbare[] Gefühl« des Interpreten ausgemacht – er spricht sogar vom »allersubjektivste[n] Gefühl« und von einem »unmittelbaren Sinn für Dichtung«.12 Für diese Auffassung ist Staiger von unterschiedlicher Warte aus kritisiert worden.13 Zu beachten ist allerdings, dass dieser Rekurs auf das Gefühl des Interpreten aufs Engste mit einer weiteren Annahme zusammenhängt, nämlich dass ein literarisches Werk nicht nach dem Vorbild der Naturwissenschaften als die Wirkung einer Ursache erklärt, also dass dessen Bedeutung oder ästhetischer Wert nicht kausal aus etwaigen Entstehungsbedingungen abgeleitet werden kann.14 »Nur wenn das Gebilde Mängel aufweist«, schreibt Staiger, »sind wir genötigt, Gründe zu nennen. Wenn dem Dichter sein Werk geglückt ist, trägt es

habe früher den Stil bestimmt als das eine, das sich im Wandel der Themen, der Stoffe, der Gattungen usf. erhält. Nun bin ich allmählich zu einer anderen Überzeugung gelangt, die der ersten nicht gerade widerspricht, die sie aber doch bedeutend modifiziert. Ich glaube eher, daß wir ihn als eine bewegliche Ordnung verstehen müßten, daß wir das Wandelbare mit dem Dauernden vereinigt im Stil denken sollten – und eben diesen Gedanken in den Rahmen einer allgemeineren Ästhetik einzuordnen, ist das Ziel der Studie, mit der ich zur Zeit beschäftigt bin«. Zum Plan einer Ästhetik vgl. auch Böschenstein, Zwischen Hingabe und Zurechtweisung, S. 38. 10 Siehe zum Folgenden auch Sneis, Phänomenologie und Textinterpretation, S. 120–133. 11 Staiger, Die Kunst der Interpretation, S. 10. 12 Ebd. 13 Jenseits der Frage nach einer wissenschaftstheoretischen Verhältnisbestimmung von subjektiven Emotionen und der Objektivität bzw. Intersubjektivität von wissenschaftlicher Erkenntnis ist Staiger  – nicht zuletzt in Folge des sogenannten Zürcher Literaturstreits  – vorgeworfen worden, eine zutiefst elitäre Empfindungskompetenz zur Voraussetzung des literaturwissenschaftlichen Arbeitens machen zu wollen. Zum Zürcher Literaturstreit vgl. die Dokumentation in: Sprache im technischen Zeitalter 22 (1967) sowie 26 (1968); ferner Erwin Jaeckle, Der Zürcher Literaturschock, München und Wien 1968; Michael Böhler, Der »neue« Zürcher Literaturstreit. Bilanz nach 20  Jahren, in: Kontroversen, alte und neue, Bd. 2, hg. von Albrecht Schöne, Tübingen 1986, S. 250–262; Gerhard Kaiser, »… ein männliches, aus tiefer Not gesungenes Kirchenlied…«. Emil Staiger und der Zürcher Literaturstreit, in: Mitteilungen des Deutschen Germanisten-Verbandes 47 (2000), H. 4, S. 382–394. Vgl. auch die (anders gelagerte) Rekonstruktion von Steffen Martus, Emil Staiger und die Emotionsgeschichte der Philologie, in: 1955–2005: Emil Staiger und ›Die Kunst der Interpretation‹ heute, hg. von Joachim Rickes, Volker Ladenthin und Michael Baum, Bern [u.  a.] 2007, S. 111–133. 14 Vgl. Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters, S. 12  f. In diesem Sinne auch Staiger, Die Kunst der Interpretation, S. 17; Staiger, Goethe, Bd. 1, S. 4; Staiger, Stilwandel, S. 10.

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keine Spuren seiner Entstehungsgeschichte mehr an sich«.15 Mit dem vielzitierten Ausspruch »Beschreiben statt Erklären«16 wendet sich Staiger so primär gegen ein (womöglich unbewusst mitgeführtes) Kausalitätsdenken im Bereich der Literaturinterpretation. In diesem Sinne kann man sagen, dass seine Interpretationstheorie einen anti-positivistischen Grundzug besitzt.17 Vor diesem Hintergrund fragt Staiger rhetorisch: »Was nehmen wir denn bei der ersten Begegnung mit Dichtungen wahr? Es ist noch nicht der volle Gehalt, den erst ein gründliches Lesen erschließt. Es sind auch nicht nur Einzelheiten, obwohl sich Einzelnes sicher schon einprägt. Es ist ein Geist, der das Ganze beseelt und – wie wir deutlich fühlen, ohne daß wir schon Rechenschaft ablegen könnten  – sich rein in den einzelnen Zügen bewährt«.18 Entscheidend ist an dieser Stelle eigentlich nicht die Frage, ob sich ein subjektives Gefühl mit Wissenschaftlichkeit verträgt. Entscheidend ist zunächst, wie dieses Gefühl konzeptualisiert ist und worauf es sich überhaupt bezieht. In überzeugender Weise ist dafür argumentiert worden, dass Staiger  – der Sache nach  – von ästhetischer Erfahrung spricht, wenn im Rahmen seiner ›Kunst der Interpretation‹ vom Gefühl die Rede ist.19 Aber wichtiger noch: In Staigers Theorie zeigt das Gefühl ausdrücklich den »Geist« des dichterischen Werks als einstimmige Ganzheit an – oder mit dem Ausdruck, den Staiger meist verwendet: den Stil. Seinen Stilbegriff hat Staiger dabei wie folgt bestimmt: »Wir nennen Stil das, worin ein vollkommenes Kunstwerk […] übereinstimmt. […] Im Stil ist das Mannigfaltige Eins. Er ist das Dauernde im Wechsel. […] Kunstgebilde sind vollkommen,

15 Staiger, Die Kunst der Interpretation, S.  17. Vgl. zu diesem Aspekt auch Danneberg, Zur Theorie der werkimmanenten Interpretation, S.  325.  – Dies bedeutet im Übrigen nicht, dass eine Interpretation für Staiger ahistorisch wäre. Vielmehr setzt die Literaturinterpretation im Sinne Staigers eine Historisierung voraus. So kann er behaupten, dass »die eigentlich literaturwissenschaftliche Arbeit erst beginnt, wenn wir bereits in die Lage eines zeitgenössischen Lesers versetzt sind« (Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters, S. 12). 16 Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters, S. 13. Eine erkenntnistheoretische Wende von der Erklärung hin zur Deskription gibt es im Übrigen nicht nur in den Geisteswissenschaften; vgl. Ulrich Majer, Hertz, Wittgenstein und der Wiener Kreis, in: Philosophie, Wissenschaft, Aufklärung. Beiträge zur Geschichte und Wirkung des Wiener Kreises, hg. von Hans-Joachim Dahms, Berlin und New York 1985, S. 40–66, hier S. 47. 17 Aufschlussreich, wenn auch ohne direkten Staiger-Bezug, sind die Beobachtungen von René Wellek, The Revolt Against Positivism in Recent European Literary Scholarship, in: Twentieth Century English, hg. von William Skinkle Knickerbocker, New York 1946, S. 67– 89. 18 Staiger, Die Kunst der Interpretation, S. 11. 19 Klauk und Köppe, Zur Struktur und Rolle ästhetischer Erfahrung, bes. S. 138  f.



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wenn sie stilistisch einstimmig sind«.20 An diesem Stilbegriff hängt auch letztlich die Aufgabe des Interpreten, die Staiger folgendermaßen beschreibt: »Ich habe nachzuweisen, daß und wie es [i.  e. das Kunstwerk] in sich selbst stimmt«.21 Der Stil erweist sich somit als die (unterstellte) Einheit bzw. Ganzheit des zu interpretierenden Werks, die »sich rein in den einzelnen Zügen bewährt«, aber selbst keine beobachtbare Größe ist. Vielmehr sei der Stil gerade das »UnaussprechlichIdentische meiner Beobachtungen«.22 Als Interpret kann man so nach Staiger lediglich beschreibend die »wechselseitige Resonanz«23 von Textbefunden aufzeigen, die durch die stilistische Einstimmigkeit verbürgt ist. Diese Einstimmigkeit ist wiederum nur dem Gefühl des Interpreten zugänglich bzw. wird in der ästhetischen Erfahrung angezeigt – und gerade in diesem Sinne hat das Gefühl als Basis der wissenschaftlichen Interpretationsarbeit zu fungieren. Ohne eine initiale Erfassung (oder Unterstellung) von Einheit kommt die Interpretationsarbeit gar nicht ins Rollen. Das zunächst undeutliche, sowohl fehlbare als auch korrigierbare Gefühl ist für Staiger insofern unentbehrlich, als es die Wahrnehmung lenkt und die Analyse anleitet: »Ohne die erste vage Begegnung nähme ich überhaupt nichts wahr. Ich sähe die Ordnung des Kunstwerks nicht. Ich wüßte nicht, was bedeutsam ist«.24 20 Staiger, Die Kunst der Interpretation, S. 11  f. Zu Staigers Stilbegriff siehe auch Claudia Stockinger, Lektüre? Stil? Zur Aktualität der Werkimmanenz, in: 1955–2005: Emil Staiger und ›Die Kunst der Interpretation‹ heute, hg. von Joachim Rickes, Volker Ladenthin und Michael Baum, Bern [u.  a.] 2007, S. 61–85, bes. S. 70; Detlev Lüders, Stil und Welt, Würzburg 2011, S. 61–63; Ekaterini Kaleri, Methodologie der literarischen Stilinterpretation. Versuch einer analytischen Durchdringung hermeneutischer Strukturen, Würzburg 1993, Kap. 5.1; Gerhard Kurz, Macharten. Über Rhythmus, Reim, Stil und Vieldeutigkeit, Göttingen 1999, bes. S. 56; Peter Salm, Drei Richtungen der Literaturwissenschaft. Scherer – Walzel – Staiger, übers. von Marlene Lohner, Tübingen 1970, bes. S. 77. Der Stilbegriff wurde bereits in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts intensiv diskutiert; vgl. stellvertretend P. Beyer, Stil, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, Bd. 3, hg. von Paul Merker und Wolfgang Stammler, Berlin 1928/29, S. 299–302 (mit weiteren Literaturhinweisen). 21 Staiger, Die Kunst der Interpretation, S.  15. Im Anschluss befindet sich der oben bereits zitierte Satz: »Der Gegenstand meiner Interpretation ist sein unverwechselbar eigener Stil.« 22 Staiger, Die Kunst der Interpretation, S. 19. 23 So die treffende Formulierung von Wögerbauer, Emil Staiger, S. 244. 24 Staiger, Die Kunst der Interpretation, S.  12. Zum Gefühl als Basis der Interpretation vgl. auch Emil Staiger, Kleists ›Bettelweib von Locarno‹. Zum Problem des dramatischen Stils, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 20 (1942), S. 1–16, hier S. 5; Emil Staiger, Zum Problem der Poetik, in: Trivium 6 (1948), S. 274–296, hier S. 285  f. Zur Einstimmigkeit des Werks vgl. etwa Emil Staiger, Versuch über den Begriff des Schönen, in: Trivium 3 (1945), S. 185–197, bes. S. 192 und 193; Emil Staiger, Das Problem der wissenschaftlichen Interpretation von Dichtwerken. Ein Radiovortrag, in: Worte und Werte. Bruno Markwardt zum 60.  Geburtstag, hg. von Gustav Erdmann und Alfons Eich­ staedt, Berlin 1961, S. 355–358, hier S. 357.

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In Staigers Ausführungen hängt der Stil des einzelnen Werks, der letztlich als Voraussetzung für dessen Interpretierbarkeit fungiert, mit dem Personalstil des betreffenden Autors eng zusammen.25 Während er den Begriff des Personalstils vor allem im Rekurs auf den Musikwissenschaftler Gustav Becking zu bestimmen versucht, ist der für das Einzelwerk reservierte Stilbegriff an Martin Heideggers Weltbegriff angelehnt. Mit explizitem Verweis auf Heidegger bemerkt Staiger, »daß die Ontologie Welt nennt, was in der Ästhetik ›Stil‹ heißt. Stil ist Welt in ästhetischer Hinsicht«.26 Den Weltbegriff, auf den sich Staiger bezieht, hatte Heidegger vor allem in zwei Vorträgen entwickelt: Vom Wesen des Grundes (1929) und Der Ursprung des Kunstwerks (1935). Letzteren hatte Heidegger auch im Januar 1936 in Zürich gehalten, mit Staiger im Publikum.27 In Heideggers Philosophie gehört der Weltbegriff mit einem weiteren Begriff zusammen, nämlich dem Begriff der Erde. In einem Zeitungsartikel aus dem Jahr 1944 über Die neuere Entwicklung Martin Heideggers hat Staiger diese beiden Begriffe wie folgt beschrieben: »›Welt‹ bedeutet […] den Sinnzusammenhang, in dem das Seiende erst vernehmlich wird […]. ›Erde‹ bedeutet das Seiende, in dem sich dieser Sinn erfüllt«.28 Ähnlich heißt es an anderer Stelle: »Alles Seiende ist nur innerhalb einer bestimmten Welt zugänglich. ›Welt‹ bedeutet nicht die Summe des Seienden überhaupt, sondern den Sinnzusammenhang, in dem es artikulierbar wird«.29 25 Zum Personalstil vgl. allgemein Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters; Staiger, Stilwandel, S. 7–24; Staiger, Goethe, Bd. 3, S. 473–487. Zum Zusammenhang von Personalund Werkstil bei Staiger vgl. Sneis, Phänomenologie und Textinterpretation, S. 125  f. 26 Staiger, Versuch über den Begriff des Schönen, S. 190. 27 Vgl. Wögerbauer, Emil Staiger, S.  242  f.  – Bekannt ist heute vor allem die Kontroverse zwischen Staiger und Heidegger bezüglich der Deutung der Schlussverse von Mörikes Gedicht ›Auf eine Lampe‹. Vgl. dazu etwa Markus Wild, »Schon unser Briefwechsel hat das Gedicht allzu schwer belastet.« Staiger und Heidegger über Mörikes »Auf eine Lampe«, in: Kontroversen in der Literaturtheorie  – Literaturtheorie in der Kontroverse, hg. von Ralf Klausnitzer und Carlos Spoerhase, Bern [u.  a.] 2007, S. 207–221. Der Briefwechsel zwischen Staiger und Heidegger wurde abgedruckt und von Werner Wögerbauer kommentiert in: Geschichte der Germanistik 24/25 (2004), S. 34–79. 28 Emil Staiger, Die neuere Entwicklung Martin Heideggers, in: Neue Zürcher Zeitung, 30. De­ zem­ber 1944 (ohne Paginierung). 29 Staiger, Versuch über den Begriff des Schönen, S.  189. Man liest weiter: »Ich brauche nicht zu sagen, dass dieser Weltbegriff eine Erweiterung des Kantischen a priori darstellt. Kants a priori bezieht sich nur auf die Mathematik und die Naturwissenschaft. Seit Husserl und Scheler wissen wir aber, dass keine Erkenntnis […] ohne a priorische Daten möglich ist. Und was die Phänomenologie in ausgebreiteter Forschung erarbeitet hat, schliesst Heideggers Weltbegriff einfach zusammen« (S. 190). In diesem Sinne handelt es sich – wie Staiger im Rekurs auf Max Scheler schreibt – um mehr als eine bloß additive »Bilderbuchphänomenologie« (Staiger, Zum Problem der Poetik, S.  293; im Original in Anführungszeichen).  – Noch unpubliziert ist Staigers am 14.  Juli 1952 gehaltener Rundfunkvortrag



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Analog zu Heideggers Weltbegriff zeigt sich der Stil bei Staiger somit als ein Sinnzusammenhang; als eine einstimmige Ordnung, die die einzelnen, beobachtbaren Elemente des Werks überhaupt erst wahrnehmbar werden lässt. Erst im Hinblick auf diese einheitliche Ordnung lassen sich die Textbefunde aufeinander beziehen bzw. gewinnen sie ihre Signifikanz. Die eigentliche Pointe an diesem Stilbegriff ist dabei, dass sämtliche Elemente des Textes in gleicher Weise dem Stil unterliegen: Statt mit »warum« und »deshalb« zu erklären, müssen wir beschreiben, beschreiben aber nicht nach Willkür, sondern in einem Zusammenhang, der ebenso unverbrüchlich und inniger ist als der einer Kausalität. Wir finden den Stil in der sprachlichen Fassung; wir finden ihn in der Idee, im Motiv. Der stilistische Sinn der Weltanschauung hat keinen Vorrang vor dem des Reims, doch ebensowenig umgekehrt. Je vollkommener eine Dichtung ist, desto eher wird jede Erscheinung allen anderen ebenbürtig sein. Doch jede gewinnt ihren eigentümlichen Sinn nur im Zusammenhang.30 Dass Staiger hier von »Weltanschauung« spricht, ist kein Zufall. Überaus aufschlussreich ist hierbei der nachträgliche Hinweis in Der Begriff des Stils, dass Emil Ermatingers Begriff der Weltanschauung, d.  h. ein literaturwissenschaftlich besetzter Weltanschauungsbegriff, gemeint ist.31 Im Grunde genommen wendet sich Staiger mit seinem Stilbegriff gegen eine bestimmte Auffassung von Form und Inhalt; gegen »die leidige Vorstellung eines Gefässes, in das ein Inhalt gegossen wird«:32 Der individuelle Stil des Werks ist nicht die Form und nicht der Inhalt […]. Sondern alles in einem; denn eben darauf […] beruht die Vollkommenheit eines Werks, daß alles einig ist im Stil. Es wäre auch unangemessen, das eine »Zum Denken Martin Heideggers«, verwahrt im Deutschen Literaturarchiv Marbach, A: Heidegger, Zugangsnummer 94.144.7, 12 Blätter; zum Weltbegriff, auch mit Verweis auf Kant, vgl. Bl. 4  f. 30 Staiger, Die Kunst der Interpretation, S. 17. 31 Vgl. dazu den knappen Hinweis von Wögerbauer, Emil Staiger, S.  245. Zur Gegenüberstellung von Welt (im Sinne Heideggers) und Weltanschauung (im Sinne Ermatingers) vgl. auch Staiger, Versuch über den Begriff des Schönen, S.  190. Zu Ermatingers Poetik vgl. Sandra Richter, A History of Poetics. German Scholary Aesthetics and Poetics in International Context, 1770–1960, Berlin und New York 2010, S. 194–197. Zu Ermatinger und Staiger vgl. Klaus Weimar, Literaturwissenschaftliche Konzeption und politisches Engagement. Eine Fallstudie über Emil Ermatinger und Emil Staiger, in: Literaturwissenschaft und Nationalsozialismus, hg. von Holger Dainat und Lutz Danneberg, Tübingen 2003, S. 271–286. 32 Staiger, Versuch über den Begriff des Schönen, S. 191; vgl. auch S. 194.

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vom anderen ableiten zu wollen, also die Form zum Beispiel von einer Idee oder einer Weltanschauung, oder den Stoff, die Motive und die Ideen von einem Gebot der Form.33 Staiger zufolge ist es eben nicht so, dass eine mehr oder weniger abstrakte Idee oder Weltanschauung im Werk ihren geformten Ausdruck findet. Mit dem Stilbegriff geht es also nicht zuletzt darum, die altbekannte Form-Inhalt-Problematik neu zu fassen, was sich letztlich auch auf die Interpretationspraxis auszuwirken habe. Es ist einer Anmerkung wert, dass sich Staiger in Der Begriff des Stils von Heidegger und dessen Weltbegriff wieder distanziert hat. An seiner Grundposition hält er allerdings weiterhin fest. Am Beispiel des Verses als »eines der elementarsten ästhetischen Phänomene« (siehe unten, Bl. 7) versucht er zu zeigen, wie die Eigenschaften des Werks im Stil ›aufgehen‹.34 Hierbei wird auch betont, dass gerade »der durchgeführte Stil« (Bl.  13) dafür verantwortlich ist, dass ein Sprachgebilde als Dichtung erscheint. Als wissenschaftlich hat aber eine Interpretation erst dann zu gelten, wenn sie nachzuweisen vermag, »wie alles im Ganzen und wie das Ganze zum Einzelnen stimmt«.35 Es wäre eine Aufgabe für sich, die Genealogie und die wechselnde theoretische Valenz von solchen Ganzheitsvorstellungen zu bestimmen. Beachtenswert ist aber, dass Staiger 1968 vor einem Publikum sprach, das derartige Vorstellungen von einem einstimmigen, ganzheitlichen Werk gerade destruieren wollte. Über das Kolloquium in Zürich ist wenig bekannt. Joseph Hillis Miller weist darauf hin, dass eine Publikation der Beiträge sowie von weiteren Materialien und Korrespondenzen geplant war, aber nie zustande gekommen ist.36 Dass das Kolloquium gerade in Zürich stattfand und dass Staiger dabei eingeladen war, 33 Staiger, Die Kunst der Interpretation, S. 16. Zum Stil- und Weltbegriff und zur Form-InhaltProblematik vgl. ferner Staiger, Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters, S. 16 und 206; Staiger, Die neuere Entwicklung Martin Heideggers (ohne Paginierung): »Die Begriffe Welt und Erde ersetzen […] Form und Stoff […]«; Staiger, Goethe, Bd. 3, S. 476  f.: »Wo vom Schönen oder allgemeiner von Kunst die Rede ist, werden immer wieder zwei Bereiche aufeinander bezogen: Form und Stoff, Dauer und Wechsel, Idee und Erscheinung, Welt und Erde«; Emil Staiger, Martin Heidegger zum 70. Geburtstag. Ein Rückblick, in: Neue Zürcher Zeitung, 27. September 1959 (ohne Paginierung). 34 Zum Vers als ästhetischem »Urphänomen« vgl. bereits Staiger, Goethe, Bd. 3, S. 477. Zum Erkennen als ›Aufgehen‹ vgl. auch Emil Staiger, Musik und Dichtung, in: Schweiz. Musikzeitung / Revue musicale Suisse, Jg. 82, Nr. 8/9, 1. September 1942, S. 241–247, hier S. 243. 35 Staiger, Die Kunst der Interpretation, S. 12. Vgl. auch Staiger, Goethe, Bd. 1, S. 11. 36 Vgl. Miller, Tales out of (the Yale) School, S. 119: »The proceedings of this Symposium have unfortunately never been published, though publication was intended. John N. Kim, of the University of California–Riverside, is assembling, with the aim of publishing them at last, what remains of the papers, discussion, and correspondence.«



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dürfte damit zusammenhängen, das Paul de Man zu diesem Zeitpunkt Ordinarius für Komparatistik in Zürich war und Staiger persönlich kannte.37 Überliefert ist immerhin, dass Staigers Vortrag von Hans Robert Jauß scharf kritisiert wurde.38 Man fragt sich, wie die anderen Teilnehmer wohl reagiert haben.

Editorische Notiz Der Begriff des Stils wird als Typoskript im Nachlass Emil Staigers in der Zentralbibliothek Zürich verwahrt (Inventarnummer 27.18).39 Es umfasst 15 durchnummerierte, einseitig beschriebene Blätter. Hinzu kommt als 16. Blatt eine Fotokopie der ersten Seite, versehen mit einer handschriftlichen Notiz in der oberen rechten Ecke: »Auf Wunsch Herrn de Mans mit freundlichem Gruß E. Staiger«. In der folgenden Transkription stehen die Seitenzahlen in eckigen Klammern. Alle Absätze, Einzüge und Zitate entsprechen dem Typoskript, so auch die von Staiger handschriftlich eingetragene Notenschrift und metrische Notation auf Bl. 5 (mit dem Zeichen am Ende des ersten und vierten Verses, hier als eine tiefgestellte 2 wiedergegeben, ist vermutlich eine Viertelpause gemeint). Die Fußnoten 41 bis 52, in denen die Zitate nachgewiesen werden, stammen von mir (Staigers Text enthält keine Anmerkungen/Nachweise).40 Handschriftliche Korrekturen im Typoskript, die offenbare Tipp- und Flüchtigkeitsfehler betreffen, wurden stillschweigend übernommen. Handschriftliche Streichungen sind markiert, indem das betreffende Wort durchgestrichen ist. Handschriftliche Ergänzungen stehen in . Herzlich danken möchte ich Eleonore Frey, die als Nachlassverwalterin den Abdruck genehmigt hat.

37 Vgl. Peter Rusterholz, Die Kunst der Interpretation und die Künste der Dekonstruktion, in: 1955–2005: Emil Staiger und ›Die Kunst der Interpretation‹ heute, hg. von Joachim Rickes, Volker Ladenthin und Michael Baum. Bern [u.  a.] 2007, S. 155–171, hier S. 164. 38 Vgl. Böschenstein, Zwischen Hingabe und Zurechtweisung, S. 38. 39 Vgl. die Bibliographie und das Nachlassverzeichnis der Zentralbibliothek Zürich: https:// www.zb.uzh.ch/spezialsammlungen/handschriftenabteilung/nachlaesse/einzeln-nachlaesse/003373/index.html.de (14. 12. 2018). 40 Es konnte nicht ermittelt werden, mit welchen Ausgaben Staiger gearbeitet hat. Etwaige Abweichungen von den konsultierten Ausgaben sind daher nicht markiert (mit einer Ausnahme, siehe Anm. 52).

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[1] Der Begriff des Stils Seit Buffons »Discours sur le style« vom Jahre 1753, Winckelmanns »Geschichte der Kunst des Altertums« und Goethes Aufsatz »Einfache Nachahmung der Natur, Manier, Stil« hat der Begriff, mit dem wir uns beschäftigen wollen, sich immer weiter ausgedehnt und umfaßt nun auch Erscheinungen aus dem Bereich der Kunst, der Technik, des Sports, der Gesellschaft. Obgleich es wohl nicht aussichtslos wäre, Wesenszügen nachzuspüren, die alle dem, was heute als »Stil« bezeichnet wird, gemeinsam sind, beschränken wir unsere Untersuchung auf das Gebiet der Literatur. Auch da bezieht das Wort sich aber auf ganz verschiedene Gegenstände. Es ist uns geläufig, von einem Zeitstil, einem Nationalstil, einem Personalstil und schließlich von dem Stil eines einzelnen Werks, ja wohl sogar eines einzigen Verses zu sprechen. Unter Zeitstil verstehen wir das, was ganz verschiedenen einer bestimmten Epoche gemeinsam ist; unter Nationalstil das, woran wir sonst vielleicht unvergleichbare Gebilde als französische, englische, italienische, spanische, deutsche erkennen. Der Personalstil Goethes etwa behauptet sich von den Straßburger Liedern bis zum zweiten Teil des »Faust«, so wenig diese Dichtungen sonst miteinander zu schaffen haben mögen. Und Werkstil nennen wir das, worin das Mannigfaltige einer künstlerischen Schöpfung übereinstimmt, was die kunstgerechte Interpretation als ein und dasselbe Wesen im Satzbau, in den Versen, in den Motiven, in der Idee, in allen erdenklichen Aspekten nachweist. Es sieht danach so aus, als ob der Stil ein Allgemeines sei, das sich behauptet, während das Besondere des Stoffs, der Gattung, der individuellen Gelegenheit wechselt. Und alsbald stellt sich die Frage, wie dies Allgemeine, Dauernde aufgefaßt und wie es bestimmt werden könnte. Emil Ermatinger hat darunter noch eine »Idee« verstanden, eine in allem, was eine stilistische Einheit bildet, mehr oder minder deutlich erkennbare Weltanschauung. Bei Goethe nannte er sie »dynamischen Pantheismus«. [2] Die Literatur des Rokoko begriff er im Geist der zeitgenössischen Philosophie. Das Allgemeine im Besondern, das Eine im Mannigfaltigen ließ sich damit manchmal gut umschreiben. Oefter nahm sich das Verfahren jedoch ein wenig gewaltsam aus. Bei weitem nicht alle Dichter gelangen zu einer klaren Idee, zu einer expliziten Weltanschauung. Paul Böckmann hat darum in seiner »Formgeschichte der deutschen Dichtung« als Allgemeines lieber eine Art »Vermögen« angesetzt, also z.Bsp. für das Rokoko statt »Rationalismus« »Witz« – in jener Bedeutung, die dem Wort bei Rabener, Gellert, Lessing zukommt. Ich habe mich seinerzeit entschlossen, statt »Weltanschauung« »Welt« zu sagen – in jenem Sinn, in dem wir etwa von der Welt des 12. Jahr-



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hunderts, der englischen Welt, der Welt der Romantik, der Welt Petrarcas, Dantes sprechen. Sage ich »Welt« statt »Weltanschauung«, so behaupte ich nicht, daß sich der Dichter seiner Art zu empfinden und die Dinge zu sehen, bewußt sei und daß sich die Eigenart einer Epoche zu abstrakten Begriffen verdichte. Ich meine nur ein mehr oder minder deutlich empfundenes Sinngefüge, eine alles durchwaltende Ordnung, eine, wenn man mir den Ausdruck gestatten will, seelische Gravitation, die schließlich, sofern wir die Zeit als allgemeinste Form der Anschauung verstehen, mit temporalen Begriffen dargestellt und erklärt werden kann. In diesem Sinne habe ich von der »ruhenden Zeit« Gottfried Kellers gesprochen, dem »Augenblick« Goethes, dem Futurum exactum, das Klopstocks Wesen bestimmt. »Stil« ließe sich in der Literatur, sofern wir der Voraussetzung, die hier gemacht wird, zustimmen wollen, als das bei allem Wandel im Grunde unveränderliche, mit temporalen Begriffen faßbare Gesetz der Einbildungskraft eines Dichters, einer Zeit, eines ganzen Volkes verstehen  – oder, um den Ausdruck »Welt« mit Martin Heideggers Worten zu erläutern, als die »Fuge, die alles fügt, was über uns verfügt ist«. Man kann bei einer Begriffsbestimmung nicht fragen, ob sie richtig, sondern eigentlich nur, ob sie zweckmäßig sei, das heißt, ob sie dem vorwissenschaftlichen Sprachgebrauch, der [3] ungefähren Meinung mehr oder minder entspreche, oder als terminologischer Gewaltakt besser vermieden würde. Ich habe mich nach und nach überzeugt, daß es der ungefähren Meinung, dem vorwissenschaftlichen Sprachgebrauch nicht ganz gemäß ist, wenn ich Stil in der geschilderten Art als »Welt«, als unverbrüchliche, alles Wandelbare durchwaltende Ordnung verstehe. Denn eine solche Ordnung, ein solches Gesetz ist starr, indes wir bei Stil doch lieber an etwas Elastisches, Lebendiges denken, an eine Ordnung zwar, doch eher, mit Goethe zu reden, an eine »bewegliche Ordnung«. Es fragt sich, was das heißen soll, ob diese Bestimmung exakt erklärt und wie sie in den Rahmen einer Aesthetik eingefügt werden kann. Da ich mich hier kurz fassen muß, empfiehlt es sich, von einer einzelnen, aber doch möglichst fundamentalen Erscheinung auszugehen, gleichsam von einem ästhetischen oder doch mindestens einem poetischen Urphänomen. Als solches bietet der Vers sich dar. Ich bin mir bewußt, daß Poesie nicht angewiesen ist auf den Vers, daß etwa der zweite Teil der »Illuminations« Rimbauds nicht minder Poesie ist als der erste. Ich meine aber, daß für alle Dichtung wesentliche Bezüge uns im Vers auf engstem Raum, in faßlichster Gestalt begegnen. Andreas Heusler hat den Vers als »takthaltige Rede« bestimmt. »Takt« heißt die Wiederkehr der starken Töne in gleichen Zeitabständen. Wir halten an dieser Bestimmung fest. Sie ist zweckmäßig, obwohl auch sie dem schwankenden Sprachgebrauch natürlich nicht nach allen Seiten gerecht wird. Ausgeschlossen werden durch sie z.Bsp. die Polymeter Jean Pauls, eine Zeile wie etwa die folgende:

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»Ihr Kleinen steht nahe bei Gott, die kleinste Erde ist ja der Sonne am nächsten.«41 Fraglich bleibt es, ob manche Gedichte Celans als Verse gelten könnem [sic]. Wie sollen wir etwa die Worte lesen: »Du darfst mich getrost Mit Schnee bewirten: [4] sooft ich Schulter an Schulter mit dem Maulbeerbaum schritt durch den Sommer, schrie sein jüngstes Blatt.«42 Es wäre möglich, hier so zu lesen, daß die starken Töne in gleichen Zeitabständen wiederkehren. Wir können uns aber auch freier verhalten. Dann anerkennen wir zwar einen dichterischen Text, aber eigentlich keine Verse im Sinn der Heuslerschen Bestimmung. Dagegen entspricht ihr alles, was Hexameter oder Pentameter, was Jamben oder Trochäen, Anapäste oder Daktylen heißt. Selbst Knittelverse und freie Rhythmen, wie sie sich in den späten Hymnen Hölderlins finden, sind ihr gemäß: »Nah ist Und schwer zu fassen der Gott, Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch…«43 Nun hat man dagegen eingewandt, daß auch in solchen Zeilen die starken Töne nicht regelmäßig fallen, ja, daß es in keinem einzigen Vers der Welt genaue Takte gibt. Eine Behauptung, die sich leicht mit Meßapparaten beweisen läßt. Nicht nur die Zeitabstände von einem starken Ton zum andern sind im strengsten Sinne ungenau. Man intoniert sogar ein und denselben Vers nie zweimal völlig gleich. Darüber ist kein Wort zu verlieren, wohl aber über die Folgerungen, die man hin und wieder aus diesem Tatbestand ziehen zu dürfen glaubt. Wenn man empirisch nachweist, daß es gleiche Zeitabstände nicht gibt, so folgt daraus keineswegs, daß Verse nicht takthaltige Rede sind. Wir stellen nur fest, daß sich der Takt 41 Jean Paul, Sämtliche Werke, Abt. I, Bd.  10: Flegeljahre, hg. von Eduard Berend, Weimar 1934, S. 54 (Nr. 9, Schwefelblumen). 42 Paul Celan, Atemwende, Frankfurt a. M. 1967, S. 7. 43 Friedrich Hölderlin, Patmos, in: Sämtliche Werke, Bd. 2.1, hg. von Friedrich Beissner, Stuttgart 1951, S. 165–178, hier S. 165.



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in einem Vers nie rein verwirklicht. Wir können aber nicht leugnen, daß er als vorausgesetztes Maß, als »regulative Idee« besteht. Oder, anders ausgedrückt: Wir lesen, sprechen und hören nie chronometrisch abgezirkelte Takte, aber wir lesen, sprechen und hören Verse im Hinblick auf einen Takt. [5] »Laß, o Welt, o laß mich sein! Locket nicht mit Liebesgaben, Laßt dies Herz alleine haben Seine Wonne, seine Pein!«44 Das sind vierhebige, alternierende Verse ohne Auftakt; Zeile 1 und 4 gehen männlich, Zeile 2 und 3 gehen weiblich aus. Mit den bekannten Strichen und Haken läßt sich das Metrum so darstellen:

In Notenschrift:

Gegen diese Aufzeichnung hat niemand etwas einzuwenden. Zugleich wird man aber zugeben müssen, daß schon in der ersten Zeile kein Takt genau gleich lang ist wie die andern, daß die zweite Zeile rhythmisch wiederum anders gegliedert wird und daß erst recht die folgenden Strophen, zumal die dritte, abermals einen ganz veränderten Anblick bieten: »Oft bin ich mir kaum bewußt, Und die helle Freude zücket Durch die Schwere, so mich drücket Wonniglich in meiner Brust.«45 44 Eduard Mörike, Verborgenheit, in: Sämtliche Werke, hg. von Herbert G. Göpfert, München 1964, S. 94. 45 Ebd.

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Das Tempo ist rascher. Ueber die dritte Silbe der ersten Zeile gleite ich rascher hinweg als über die entsprechende Silbe der ersten Strophe: »Oft bin ich mir kaum bewußt…« »Laß, o Welt, o laß mich sein…« Und so fort! Die Modifikationen sind so zart und mannigfaltig, daß keine Beschreibung zureicht. Dennoch bleibe ich mir stets des vorausgesetzten Maßes bewußt. Das eine Gesetz, das an keiner [6] einzigen Stelle rein in Erscheinung tritt, behauptet sich doch als Regulativ. Ja, der ästhetische Reiz der Verse ergibt sich gerade aus der Beziehung des Wandelbaren auf das Gleichmaß. Es ist deshalb falsch, gewisse stärkere Modifikationen als Wechsel des metrischen Schemas aufzufassen. Bei Goethe lesen wir den Vers: »Soll ich beschleunigen, was mich bedroht?« Stünde die Zeile für sich allein, so würde man sie vermutlich als eine Folge von Daktylen interpretieren. Sie findet sich aber in der endgültigen Fassung der »Iphigenie auf Tauris« und will als jambischer Blankvers gelten. Die Schauspielerin kann diesem Umstand Rechnung tragen, indem sie die Worte ein wenig jambischer intoniert: »Soll ich beschleunigen, was mich bedroht?« Auch wenn sie aber auf eine so starke Stilisierung verzichtet und dem natürlichen Sprechton näher bleibt, beziehen wir, durch die vorangegangenen Verse ange­leitet, die Zeile auf das jambische Maß und empfinden die kühne Tonbeugung, in der sich das von der Werbung des Königs bedrohte Gemüt der Priesterin mitteilt: »Arkas Der Skythe setzt ins Reden keinen Vorzug, Am wenigsten der König. Er, der nur Gewohnt ist, zu befehlen und zu tun, Kennt nicht die Kunst, von weitem ein Gespräch Nach seiner Absicht langsam fein zu lenken. Erschwerʼs ihm nicht durch ein rückhaltend Weigern, Durch ein vorsätzlich Mißverstehen. Geh Gefällig ihm den halben Weg entgegen.



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Iphigenie Soll ich beschleunigen, was mich bedroht? Arkas Willst du sein Werben eine Drohung nennen?«46 Nach dieser Erinnerung an heute leider oft verkannte Befunde gelangen wir zu einer für unser Thema wesentlichen Erkenntnis. Da das in dem metrischen Schema fixierte Gesetz die gebundene [7] Rede zwar nicht starr bestimmt, aber doch durchwaltet, da wir im Hinblick auf das Maß uns immer mehr oder minder dem Skandieren nähern, können wir sagen, daß im Vers die Prosa verschwindet. Weil aber in Wirklichkeit kein Takt dem andern gleicht, weil das akustisch Wahrnehmbare sich ständig wandelt, können wir ebenso sagen, daß im Vers das metrische Schema verschwindet. Anders ausgedrückt: der Vers vermittelt zwischen Takt und Prosa, zwischen Regel und Zufälligkeit. Deshalb ist jeder Vers als solcher normativ und individuell. Das Individuelle geht auf in der Norm; die Norm wird individualisiert. Nun ist uns klar geworden, warum der Vers als eines der elementarsten ästhetischen Phänomene gelten darf. Das Metrum ist das Dauernde, der weiterlaufende Text das Wechselnde, der Vers also »Dauer im Wechsel«. Die Formel »Dauer im Wechsel« jedoch steckt in den meisten Versuchen, das Wesen des Schönen oder allgemeiner des Kunstgerechten zu umschreiben, in Heraklits »Auseinanderstrebendem, das sich vereinigt zur Harmonie«, in der Erklärung, die Plotin versucht hat: »Wir sprechen von Schönheit, wenn die Natur des Einen die Teile beseelt«, in Augustins »consonantia«, in Schillers »Freiheit in der Erscheinung«, im »Durchscheinen der Idee«, wie Hegel und Friedrich Theodor Vischer es meinen, im Gegensatz »Form und Stoff«, mit dem sich die Schulästhetik, trotz manchen Unzukömmlichkeiten, behilft. Und damit kehren wir endlich, besser vorbereitet, zu der Frage nach dem Begriff des Stils zurück. Noch niemand ist es eingefallen, die Eigenart Goethes etwa im Schema des Hexameters oder im Schema des Jambus ausgeprägt zu finden. Das wäre zu allgemein. Auch andere Dichter schreiben Hexameter und brauchen im Drama den jambischen Blankvers. Sehr wohl aber erkennen wir Goethes dichterische Physiognomie an seiner Art, zwischen wechselnder Sprache und dem metrischen Schema zu vermitteln. Seine Hexameter klingen anders als die Hexameter Hölderlins; die Jamben im »Torquato Tasso« wird kein feineres Ohr mit denen in Schillers »Wallenstein« verwechseln. Die Unterschiede sind, in gewissen Grenzen, [8] nachweisbar. Bei Goethe herrschen andere Kola vor. Der Verseinsatz in »Hermann und Dorothea« ist bei weitem nicht so entschieden wie etwa in Schillers »Spaziergang«. Die starken Töne werden milder, die schwachen läßlicher behandelt. 46 Johann Wolfgang Goethe, Iphigenie auf Tauris, in: Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Abt. I, Bd. 10, Weimar 1898, S. 1–95, hier S. 9  f.

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Feinere Eigentümlichkeiten vermag die Schallanalyse zu zeigen. Nicht also im reinen Gesetz, im metrischen Schema gibt sich uns das Wesen eines Dichters zu erkennen, wohl aber im Vers als im Vermittler von Takt und Prosa, Dauer und Wechsel. Als ein solcher Vermittler ist der Vers ein Repräsentant des Stils. Dem eingangs festgelegten Ziel, mehr auf die vorwissenschaftliche Meinung zu achten, auf den Sprachgebrauch, sind wir damit schon näher gerückt. Der Stil erscheint als »bewegliche Ordnung«. Es bleibt zu untersuchen übrig, wie sich das am Vers erkannte Ineinander von Dauer und Wechsel auf der ganzen Breite der stilistischen Phänomene auswirkt. Ich gehe von einem bestimmten Vers, dem Goetheschen Hexameter, aus und versuche zu zeigen, wie seine bewegliche Ordnung sich auch in andern Aspekten von Goethes klassischem Stil bewährt. Goethe war mit dem Hexameter von früher Jugend an vertraut. Man kennt die hübsche Geschichte, wie er mit seiner Schwester einen Gesang aus dem »Messias« rezitiert und seinen Vater, der die Verse Klopstocks nicht ausstehen kann und in Zorn gerät, beim Rasieren gefährdet. Dennoch hat Goethe, von einigen Leipziger Exerzitien abgesehen, erst anfang [sic] der achtziger Jahre eigene Hexameter zu dichten begonnen. Sie sind noch ungeschickt. Er glaubt sie nur mit der Bezeichnung »Antiker Form sich nähernd« bestehen lassen zu können. Erst nach der italienischen Reise meistert er den Vers und bedient sich seiner mit Lust: im »Reinecke Fuchs« [sic], in »Hermann und Dorothea«, in der »Achilleis« und in dem Lehrgedicht »Die Metamorphose der Tiere«. Wenn wir das Distichon einbeziehen, so wären die Elegien und Epigramme noch hinzuzufügen. Nach der Jahrhundertwende jedoch verschwindet der Hexameter allmählich wieder aus Goethes Werk. Man hat gemeint, dafür Voß und Schlegel zur [9] Verantwortung ziehen zu müssen, deren peinliche Korrekturen dem an freieren Zug gewöhnten Dichter lästig geworden seien. Das trifft für die ersten Jahre nach 1800 einigermaßen zu. Schon 1807 jedoch entschließt sich Goethe, die Diktatur der beiden nicht länger zu dulden und wieder Hexameter und Distichen nach eigener Lust und Laune zu schreiben. Dennoch entstehen jetzt und später keine Hexameterdichtungen mehr. Die Zeit für dieses Maß ist unwiderruflich vorüber, obwohl sich Goethe nach wie vor zu Homer bekennt und sich nichts Schöneres wünschen kann, als treuer Homeride zu sein. Demnach entspricht der Hexameter nicht Goethes Wesen im Ganzen, sondern nur einer Stufe seiner Entwicklung – jener nämlich, auf der sich ihm die Wahrheit seiner geistigen Welt vor allem als sinnliche Gegenwart zeigt – in Rom, an den Küsten Siziliens, im Idyll der deutschen Bürgerlichkeit. Der Hexameter ist recht eigentlich der Vers, der sinnliche oder noch besser optische Gegenwart darstellen kann – weshalb er zum Beispiel in Klopstocks »Messias« fehl am Platz ist und weshalb wir uns leicht befremdet fühlen, wenn Goethe in »Hermann und Dorothea« auf einmal Hermanns Inneres zu schildern beginnt – nicht in der Form



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eines Zwiegesprächs mit dem lieben Gemüt, wie Homer dergleichen bewältigt, sondern unmittelbar: »Denkend schaute Hermann zur Erde; dann hob er die Blicke Ruhig gegen sie auf und sah ihr freundlich ins Auge, Fühlte sich still und getrost. Jedoch ihr von Liebe zu sprechen, Wär ihm unmöglich gewesen; ihr Auge blickte nicht Liebe …«47 Das ist nicht ganz hexametergerecht. Wohl aber sind versgerecht die klar umrissenen bildlichen Vorstellungen »Als nun der wohlgebildete Sohn ins Zimmer hereintrat, Schaute der Prediger ihm mit scharfen Blicken entgegen…«48 [10] »Sauber hat sie den Saum des Hemdes zur Krause gefaltet, Die ihr das Kinn umgibt, das runde, mit reinlicher Anmut; Frei und heiter zeigt sich des Kopfes zierliches Eirund; Stark sind vielmal die Zöpfe um silberne Nadeln gewickelt…«49 Was den Vers zu einer solchen Folge von klar umrissenen Bildern befähigt, ist einmal seine Länge, die ungefähr der Länge eines mittleren deutschen Hauptsatzes entspricht, ferner seine plastische Gliederung, insbesondere die Zäsur, die jeden einzelnen Vers, jedes einzelne Bild wie mit einem Stiftchen befestigt. Es ist kein Zufall, daß Klopstock, der sonst in metrischen Dingen doch ein Pedant war, sich von der Wichtigkeit der Zäsur noch keine deutliche Vorstellung macht und Verse wie die folgenden schreibt: »Dort war Gott. Dort betetʼ er. Unter ihm tönte die Erde…«50 »In der Stille der Ewigkeit, einsam und ohne Geschöpfe…«51 Solche Verse ohne Zäsur sind eher geeignet, ein Bild zu vernebeln oder einen Gedanken zu trüben  – wobei wir denn freilich zugeben müssen, daß wogende Nebel wiederum ausgezeichnet zu Klopstocks Weltbild stimmen.

47 Johann Wolfgang Goethe, Hermann und Dorothea, in: Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Abt. I, Bd. 50, Weimar 1900, S. 187–267, hier S. 245  f. 48 Ebd., S. 198. 49 Ebd., S. 229. 50 Friedrich Gottlieb Klopstock, Werke, hg. und mit Anm. begleitet von Robert Boxberger, Bd. 1: Der Messias, Berlin 1879, S. 54. 51 Ebd., S. 55.

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Goethe beachtet stets die Zäsur, bedient sich aber auch jeder Lizenz, die das Regelbuch des Hexameters vorsieht, also zum Beispiel des Umstands, daß im Deutschen die Zäsur an vier verschiedene Stellen gesetzt werden kann. Man höre den Anfang des »Reinecke Fuchs« [sic]: »Pfingsten, das lieblich Fest, war gekommen; es grünten und blühten Feld und Wald; auf Hügeln und Höhn, in Büschen und Hecken Uebten ein fröhliches Lied die neuermunterten Vögel; Jede Wiese sproßte von Blumen in duftenden Gründen, Festlich heiter glänzte der Himmel und farbig die Erde…«52 Von dieser Möglichkeit macht Schiller keinen so ausgedehnten Gebrauch. Er neigt dazu, die Zäsur nach der dritten oder der [11] vierten Hebung zu setzen, wodurch er seinen Hexametern einen viel gewollteren Klang verleiht. Und eben dies macht uns auf einen weiteren Wesenszug des Goetheschen Hexameters aufmerksam. Die Regel des Verses ist sehr kompliziert. Zugleich gestattet sie aber eine mannigfaltige Auslegung. Die Silbenzahl schwankt zwischen zwölf und siebzehn. In den meisten Füßen können eine oder zwei Senkungen stehen. Und so fort! Es handelt sich also um ein höchst liberales Gesetz, das sich nach einiger Uebung wohl auch improvisierend verwirklichen läßt. Gesetz und Improvisation! Das ist auf metrischem Gebiet die Einheit von Gesetz und Neigung, in der sich, wie wir aus dem »Tasso« wissen, die höchste Sitte zeigt. Und was das Improvisieren der Hexameterregel zustandebringt, ist ein gegliedertes Gebilde von einer gewissen Selbständigkeit, das jedenfalls viel selbständiger ist als ein gereimter Vers oder gar die kaum profilierten fünffüßigen Jamben. Dennoch lassen Hexameter sich auch gern in einer möglichst langen Folge aneinanderreihen. Und so entstehen dann Dichtungen, die aus lauter selbständigen und zugleich untergeordneten Einzelgebilden bestehen, das heißt, die »Organismen« sind. Man braucht das Wort »organisch« oft gedankenlos als Wertprädikat. Ich möchte es hier genau so verstanden wissen, wie Goethe es ausgelegt hat. Goethe versteht unter Organismen selbständige individuelle Gebilde, deren Teile alle Selbstzweck und zugleich Mittel zum Zweck, das heißt, die aufeinander bezogen sind. Dieser Idee entspricht am ehesten eine Dichtung, die aus einer Folge von 52 Johann Wolfgang Goethe, Reineke Fuchs, in: Goethes Werke, hg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Abt. I, Bd.  50, Weimar 1900, S.  5–186, hier S.  5. An dieser Stelle heißt es allerdings: »Pfingsten, das liebliche Fest […]«. Dass sich also ein Fehler eingeschlichen zu haben scheint, der auch noch das Metrum betrifft, ist insofern ironisch, als Staiger selbst darauf hingewiesen hat, dass »[e]ntstellte Zitate« stilverändernd wirken können; vgl. Emil Staiger, Entstellte Zitate, in: Trivium 3 (1945), S. 1–17, bes. S. 1  f.



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Hexametern oder aus einer Distichenfolge besteht. Ein Organismus ist aber nun auch der menschliche Kreis inmitten der Natur in »Hermann und Dorothea«, gegliedert in lauter selbständige und doch aufeinander bezogene Teile: Vater und Mutter, das Liebespaar in der Mitte, am Rand der Apotheker, der Geistliche als Sprecher einer über dem Ganzen waltenden Macht, das Haus, die Landschaft und der vage Hintergrund der Zeitgeschichte. [12] Als unablässig organisierende Kraft faßt Goethe den Weltgeist auf. Wir sind also unversehens von den metrischen Untersuchungen aus in die Weltanschauung hineingeraten, begegnen überall derselben Ordnung und wissen, was dies besagt. Es heißt, daß sich in der Konzeption der Natur als einer organischen Ordnung dasselbe Kräftespiel darstellt, das auch den Hexameter organisiert, daß also im Hexameter sich dieselbe Einbildungskraft bewährt, die Goethe befähigt, die Natur als Organismus zu erkennen und das Leben in der Kunst als organisch gegliedertes darzustellen, mit anderen Worten: daß dieser Vers nur einen Aspekt des überall, in der Erfindung und in der Weltanschauung bezeugten Goetheschen Stiles ist. Ich verzichte darauf, auch noch die temporale Deutung anzuschließen. Sie hätte zu zeigen, daß dem Organismus der »Augenblick« entspricht, der Augenblick, wie Goethe ihn als in sich selber sinnvoll und zugleich bezogen auf Vergangenes und Künftiges, also als »Stufe«, versteht. Für eine Bestimmung des Stilbegriffs genügt es, wenn deutlich geworden ist, daß sich in allen Aspekten von Goethes Schaffen und Denken nur immer ein-und [sic] dasselbe zeigt, ein selbiges aber, das sich »vielfach offenbart«, als Weltanschauung, in der Erfindung einer Fabel, im Bau der Verse, in der »Sitte« – ich hätte auch mit dem Satzbau, mit der Wortwahl oder was immer exemplifizieren können. Besinnen wir uns nun auf unsern Gedankengang. Wir haben den Vers als Repräsentanten des Stils betrachtet. Wir haben uns klargemacht, wie im Vers der Takt, das Eine, das alles durchwaltet, durch die ständig weiterlaufende Rede modifiziert wird oder wie umgekehrt die wechselvolle Rede im Hinblick auf den Takt eine gewisse Regulierung erfährt, und wie sich gerade aus diesem Ineinanderspielen von Dauerndem und Wechselndem die individuelle Eigenart eines Verses ergibt. Wir demgemäß unter »Stil« nicht mehr das Sinngefüge, die Ordnung oder die »Welt«, in Martin Heideggers Deutung dieses Begriffs, verstehen, sondern die Vermittlung des allgemeinen, dauernden Sinngefüges [13] und des mannigfaltigen »Stoffs«, des a priori der Welt und des a posteriori der Erfahrung, also der Art, wie das Mannigfaltige in dem Einen, Dauernden »aufgeht«. Der Ausdruck »aufgeht« möge dabei in zwiefachem Sinne aufgefaßt werden. »Aufgehen« heiße zunächst einmal: »es geht auf«, wie eine Rechnung aufgeht. So geht der Zufall der wechselnden Rede in der Regel des Taktes auf oder geht die Regel des Taktes in der wechselvollen Rede auf. So, um nun allgemeiner

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zu sprechen, geht das mannigfaltige Leben in Goethes organischem Weltbild auf oder ungekehrt [sic] das, was Goethe »Idee« nennt, in dem mannigfaltigen Leben. Beide Kontrahenten spielen frei ineinander und dieses Ineinanderspielen nennen wir »Stil«. »Aufgehen« heißt aber weiterhin: es geht mir etwas auf, es offenbart sich mir etwas, ich finde den Zugang zu bisher verschlossenen Dingen. So geht dem Dichter nur auf Grund des a priori seiner Welt ein Wesen, ein Sinn der Dinge auf, und umgekehrt geht ihm seine Idee, sein Sinngefüge nur auf anhand der Erfahrung der mannigfaltigen Dinge. Was haben wir nun aber mit einer solchen Begriffsbestimmung gewonnen? Ich glaube, nur sie wird dem gerecht, was ein Kunstwerk als solches konstituiert. Ein echtes Kunstwerk ist zugleich individuell, einzig, unwiederholbar und allgemein gültig für eine Gemeinschaft. Wenn wir überzeugt sind, daß der durchgeführte Stil es ist, der ein Sprachgebilde zur Dichtung macht, so müssen wir mit dem Namen beides, das Einzigartige, Unwiederholbare und das Gültige, Allgemeine bezeichnen. Das Allgemeine, im Vers der Takt, in andern Aspekten der Poesie die Weltanschauung, die Idee, der Gedankengehalt, die äußere Form, was immer eine »Critische Dichtkunst« als richtig und gut verzeichnen mag, das kann von jedermann übernommen und allenfalls sogar nachgeahmt werden. Hexameter-, Jambentakte auf eine Platte zu klopfen, ist keine Kunst. Das organische Weltbild Goethes nachzudenken, bereitet einem guten Kopf keine ernstliche Schwierigkeit. Er soll aber ja nicht meinen, er sei [14] schon damit auch nur in den Vorhof von Goethes Dichtertum eingedrungen. Ebenso sprechen wir alle, wie Monsieur Jourdain, unsere alltägliche Prosa. Sie mag sogar im Tonfall, in der Wortwahl individuell gefärbt sein. Verbindlich aber, gültig in einem höheren Sinne ist sie nicht. Das ist sie nur, sofern sich auch in ihr die Ordnung darstellt, die wir ebenso in der Folge der Motive und in den Gedanken erkennen, sofern sie also von einem alles durchwaltenden Allgemeinen geprägt ist. Das braucht kein metrisches Schema zu sein. Sonst würden wir ja behaupten, daß nur Verse als dichterisch gelten können. Wohl aber verstehen wir darunter eine Grundstruktur der Sprache, deren Sinn uns im Zusammenhang mit dem Ganzen des Werks einleuchtet – so wie wir zum Beispiel die ungeheuerliche Syntax in der Prosa Kleists als sprachliche Realisation seiner tödlich-tragischen Welt erkennen. Fragen , wie sich unsere Begriffsbestimmung weiterhin bewährt, so werden wir auf den Konflikt von Originalität und Nachahmung aufmerksam. Soll der Dichter sich nach Mustern richten und ihre für immer gültige Schönheit zu erreichen suchen oder soll er sich selbst ausdrücken und unbekümmert um alle Regeln und Muster eigenartig sein? Man weiß, wie diese Frage, die verschwiegen oder mißverstanden, unzählige Dichter seit der Antike beschäftigt und beunruhigt hat, um 1770 in dem Gegensatz von Lessing und Herder und ein Menschenalter später im Protest der Frühromantik gegen die Klassik Gestalt gewinnt. Les-



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sings Forderungen an den Epiker und Dramatiker und Goethes und Schillers Bemühung um einen Kanon des Epos und des Dramas sind nur möglich auf Grund des Glaubens an ein allgemeines Element in aller Dichtung, also an jenen Kontrahenten, für den uns als Beispiel das metrische Schema gedient hat. Auf der andern Seite läßt man Dichtung nur als Ausdruck gelten und pflegt darum die einzigartige, unwiederholbare Individualität. Nach unserm Stilbegriff werden nur die vereinigten Lehren beider Lager dem vollen Wesen der Dichtung gerecht. Denn wie der Vers vermittelt zwischen der Regel und der laufenden [15] Rede, so muß in der Poesie überhaupt das Individuelle normativ und das Normative individuell sein – so schwer dergleichen auch dem gesunden Menschenverstand eingehen mag. Tatsächlich stimmen wir stillschweigend in unserm Verhältnis zu den größten Meisterwerken der Menschheit zu. Wir nennen sie vorbildlich und wissen doch, daß sie nachgeahmt werden dürfen und können, ohne daß gerade Wesentliches verloren ginge. Weniger deutlich ist uns heute die Einseitigkeit der individuell-romantischen Auffassung bewußt. Wir stehen alle mehr oder minder im Banne Friedrich Schlegels und meinen, es genüge, wenn eine Dichtung interessant und originell ist. Im Hinblick auf die zweieinhalb Jahrtausende europäischer Dichtung sollten wir aber, als Historiker, einsehen, daß dies nur die begrenzte Meinung unserer Zeit sein dürfte und daß von höchster Poesie nur dann die Rede sein kann, wenn, nach Hölderlins Wort, die Gedanken eines gemeinsamen Geistes in der – individuellen Seele des Dichters enden. Es scheint, man sei zu dieser Erkenntnis heute hie und da unterwegs – in einer Richtung zwar, die das Ziel auf andere Weise wieder verfehlt. Man meint, daß eine Dichtung berechnet und künstlich hergestellt werden könne. Ich wage nicht zu entscheiden, ob Gebilde, die so entstehen, irgendwie bedeutsam und nötig sind. Kunstwerke jedenfalls, wie wir das Wort verstehen, sind sie nicht. Als solche nämlich lassen wir, nach unserm Stilbegriff, nur gelten, was in eines Gesetz und unberechenbare Zufälligkeit ist, Plan und Geschenk, Verdienst und Gnade.

TEXT UND BILD

sabine fischer

»franz kafka liest den kübelreiter« Ein Porträt des Autors als Autorenporträt? Aus dem Nachlass des Kunsthistorikers J[osef] P[aul] Hodin erwarb das D ­ eutsche Literaturarchiv Marbach vor einigen Jahren eine kleine Tuschpinselzeichnung. Sie zeigt einen jungen Mann mit Anzug und Krawatte, der in einem Sessel sitzt, bekannt als Franz Kafka »bei der Lesung des ›Kübelreiters‹« (Abb. 1).1 Von Klaus Wagenbach 1958 auf diese Weise erstmals in der deutschsprachigen Literatur vorgestellt,2 wurde die Zeichnung lange Zeit (und wird es mitunter heute noch) auf 1917, also in das Entstehungsjahr von Kafkas Erzählung Der Kübelreiter, datiert und als das einzige zu Lebzeiten entstandene, nichtfotografische Porträt des Autors rezipiert. So einfach lässt sich dieses Kafkaporträt des tschechischen Malers Friedrich Feigl jedoch nicht verorten. Denn bisher ist die Authentizität der Darstellung keineswegs eindeutig geklärt. Ebenso ist zu fragen, inwieweit Feigls Porträt des Autors als Autorenporträt bezeichnet werden kann.

I. Authentisches Porträt oder Erinnerungsbild? Zunächst ist festzuhalten, dass das Kafkaporträt von Klaus Wagenbach im Grunde nur unvollständig wiedergegeben wurde. Die zugehörige, unterhalb der Zeichnung notierte Widmung des Malers blieb ausgeblendet beziehungsweise erschien, wie oben zitiert, nur in der Bildlegende und dort verkürzt paraphrasiert. Tatsächlich lautet der vollständige Widmungstext »Franz Kafka liest den ›Kübelreiter‹ | Dr.  J. P. Hodin in Freundschaft | Friedrich Feigl | London 1946«.

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Klaus Wagenbach, Franz Kafka. Eine Biographie seiner Jugend 1883–1912, Bern 1958, S. 160. Im Vorwort (ebd. S. 11) gilt Wagenbachs Dank auch dem Maler Friedrich Feigl. Ein realer Kontakt hat gleichwohl nie bestanden (tel. Auskunft Hans-Gerd Koch vom 3. Juli 2017). Als Vorlage muss die 1956 erschienene Reproduktion des Blattes in: J. P. Hodin, The Dilemma of Being Modern (London 1956, Abb. nach S. 44) gedient haben. Die Herkunft der Reproduktion in Klaus Wagenbachs Bildarchiv zu Franz Kafka lässt sich nicht mehr rekonstruieren (tel. Auskunft Hans-Gerd Koch vom 3. Juli 2017).

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Das Blatt muss also nicht bereits 1917, sondern könnte 1946 entstanden sein. Jürgen Born wies denn auch 1992 darauf hin, dass dieses angeblich authentische Porträt erst auf »Anregung« des ursprünglichen Besitzers J. P. Hodin »im Mai 1946« gezeichnet worden sei3 – ohne dadurch etwas an seiner fortgesetzten Rezeption als bildbiografisches Zeitzeugnis ändern zu können.4 Selbst Hartmut Binders große Lebenschronik in Bildern (2008) oder die jüngste Monografie über den Urheber der Zeichnung (2016) bewegen sich hinsichtlich der Datierung weiterhin zwischen 1917 und 1946 und ziehen letztlich das frühe Entstehungsdatum vor.5 Friedrich Feigl (1884–1965) und Franz Kafka (1883–1924) sind nahezu gleichaltrig als deutschsprachige Juden im Prag des ausgehenden 19.  Jahrhunderts aufgewachsen und haben sich zwar nicht gut, aber doch mehr als nur flüchtig gekannt.6 Zu einer ersten Begegnung war es 1912 über Kafkas Freund Max Brod gekommen, anlässlich einer Ausstellung der avantgardistischen Künstlergruppe Osma [Die Acht], der auch Feigl angehörte. Weitere Berührungspunkte sind für den Spätsommer 1916, und Feigls Anwesenheit in Prag ist für den Winter 1916/17 belegt. Allerdings hat Kafka, der immerhin zwei Gemälde erwarb,7 nicht so sehr Feigls farbintensive Figürlichkeit interessiert als vielmehr, inwieweit dieser Ehe

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Jürgen Born, Kafka und die Prager deutsche Literatur, in: Kafka und Prag. Colloquium im Goe­the-Institut Prag 24.–27.  November 1992, hg. von Kurt Krolop und Hans Dieter Zimmermann, Berlin 1994, S. 3. Die Zitatstellen aus Hodins Brief an Born vom 8. Februar 1990, Kopie Deutsches Literaturarchiv Marbach (DLA). So etwa bei Detlef Schöttker mit 1918 (Vielfältiges Sehen. Franz Kafka und der Kubismus in Prag, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 4 (2010) H. 4, S. 86). Peter-André Alt formuliert offen, dass von Feigl »ein Bild einer Lesung des Kübelreiter-Textes [stammt], die der Autor vermutlich nach dem [Ersten Welt]Krieg« veranstaltet habe (Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie, München 2005, S. 441). Hartmut Binder, Kafkas Welt. Eine Lebenschronik in Bildern, Hamburg 2008, S.  513 bzw. Zuzana Duchková, Feigl in Berlin, in der Lichterstadt (S. 194, dazu ebd. Anm. 84 sowie die Legende zur Abbildung S. 173) und außerdem Rachel Dickson u. Sarah MacDougall, Feigl in England. »Die moderne Kunst ist ein Sputnik« (S. 249), beides in: Friedrich Feigl 1884–1965, Prag 2016, hg. von Nicholas Sawicki. Zuzana Duchková danke ich für ihre Bereitschaft, Auskunft und schwer zugängliche Literatur weiter zu geben. Zur Biografie Feigls und der Beziehung zwischen beziehungsweise den Begegnungen von Kafka und Feigl s. Friedrich Feigl, hg. von Nicholas Sawicki, S. 296–324, v.  a. S. 296, 304, 307–308, 318 sowie Hartmut Binder, Kafkas Welt, S.  513 und die entsprechenden Briefe von Kafka an Felice Bauer zunächst vom 28. November 1912, dann später im August und September 1916, in: Franz Kafka. Briefe. 1900–1912, S.  281 bzw. Franz Kafka. Briefe April 1914–1917, S.  204 und 212–215, 218, hg. von Hans-Gerd Koch: Franz Kafka. Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe Bd. 1 bzw. 3, Frankfurt 1999 bzw. 2005. Eines der beiden Gemälde war als Hochzeitsgeschenk für einen Vetter gedacht.



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Abb. 1: Porträt Franz Kafka von Friedrich Feigl, 1946, Tuschpinsel auf Papier, 25,2 × 20,2 cm (DLA Marbach © Marion Feigl, New York, bis 2018 – der derzeitige Inhaber der Bildrechte an Friedrich Feigl war nicht zu ermitteln)

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und künstlerische Schaffenskraft zu vereinbaren wusste, wie er seiner künftigen Verlobten Felice Bauer schrieb: »Dieser Maler […] hat großes Verlangen sich in, innerlich gewiß wahrhaftigen, äußerlich aber ebenso gewiß matten und wie Kerzenlicht auszublasenden Kunstteorien [!] zu verbreiten. Ich aber wollte  […] nur davon hören, daß er seit einem Jahr verheiratet ist, glücklich lebt, den ganzen Tag arbeitet […] und andere solche Dinge, die den Neid und die Kräfte wecken.«8 Friedrich Feigl wurde 1939, also 15  Jahre nach Kafkas Tod, durch den Einmarsch der deutschen Truppen in Prag zur Flucht gezwungen. Im Londoner Exil fand der Maler schon bald in seinem Nachbarn J. P. Hodin einen guten Freund und wichtigen Förderer. Bereits 1948 publizierte der Kunsthistoriker, der ebenfalls aus Prag geflohen war, Feigls Erinnerungen an Franz Kafka.9 Diesen ist hinsichtlich des Porträts allerdings nicht mehr zu entnehmen als der feiglschen Widmung. Berichtet wird nur, dass der Maler an einer privaten Lesung teilgenommen habe: Kafka, so Feigl, »was associated with a group of writers who used to read their work to each other«, und er erinnere sich, »hearing Kafka there when he read his sketch ›The Scuttle-Rider‹ [Den Kübelreiter].«10 Dass Kafka neue Werke seinen Freunden und auch in größerem Kreis vorgelesen hat, ist bekannt und entsprechend davon auszugehen, dass auch der wohl noch im Januar 1917 niedergeschriebene Kübelreiter schon im Februar zu hören war.11 Feigls Anwesenheit während einer solchen Lesung kann in Verbindung mit einer ganzen Reihe von Porträtstudien gesehen werden, die der Maler in jener Zeit für Oskar Wieners 1919 erschienenen Sammelband Deutsche Dichter in Prag geschaffen hat.12 Dagegen spricht auch nicht, dass unter den Beiträgern der Anthologie ausgerechnet Kafka nicht vertreten ist. Denn auf Kafka bezieht sich, was Otto Pick, der für die Auswahl der Autoren verantwortlich gewesen ist, noch Jahre später bedauernd unterstreicht: Er habe schließlich Wiener gebeten, den

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Brief vom 28. November 1912, in: Franz Kafka. Briefe 1900–1912, hg. von Hans-Gerd Koch, Kritische Ausgabe Bd. 1, S. 281–282. 9 Memories of Franz Kafka. Notes for a definite biography, together with reflections on the problem of decadence, in: Horizon 17 (1948), S. 31–35. 10 Beide Zitatstellen J. P. Hodin, Memories of Franz Kafka, in: Horizon, S. 32. 11 S. Franz Kafka. Drucke zu Lebzeiten. Apparatband, hg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann, Kritische Ausgabe, Frankfurt 1996, S. 543; s. außerdem Max Brod, Über Franz Kafka, Frankfurt 1966, S. 139–140 sowie Hartmut Binder, Kafkas Welt, S. 513. 12 Dazu Zuzana Duchková: »Man darf vermuten, dass Feigl fast alle persönlich kannte und die Möglichkeit hatte, sie direkt zu porträtieren, für den Rest benutzte er fotografische Porträts.« (Feigl in Berlin, in: Friedrich Feigl, hg. von Nicholas Sawicki, S. 193–194 (Zitat), Abb. S. 172). Von Feigl stammt auch das Einbandmotiv (ebd., Abb. S. 170).



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Band herauszugeben, »da ein Autor, der in dieser Sammlung nicht hätte fehlen dürfen, mir aus persönlichen Motiven seine Mitwirkung versagte.«13 Auch wenn Feigls Schilderungen einer fast dreißig Jahre zurückliegenden Zeit im biografischen wie chronologischen Detail mitunter irrtümlich sind,14 besteht kein Anlass, sie grundsätzlich zu bezweifeln. Indirekt bestätigen sie sogar die in der Widmung enthaltene Datierung der Zeichnung auf 1946. Wäre das Blatt tatsächlich 1917 entstanden, hätte der Maler sicherlich nicht nur die Lesung erwähnt, sondern auch, dass der im England der 1940er Jahre längst bekannte, zusehends international berühmte Autor15 damals schon von ihm porträtiert worden sei. Feigls ebenso schmaler wie hochgewachsener, eigentümlich fragil im Sessel sitzender und mit seinem dunklen Haarschopf ausgesprochen jungenhaft wirkender Kafka machte nach der Veröffentlichung durch Klaus Wagenbach rasch Karriere.16 Jedoch nicht nur als »zeitgenössische Zeichnung«17, die den Dichter »Anfang 1917 beim Vorlesen des Kübelreiters«18 zeige und zu seinen »verbreitetsten Bildnissen« gehöre. Nachdem der damalige Besitzer J. P. Hodin 1964 darauf hingewiesen hatte, dass es sich hier um »the only portrait of Kafka in existence«19 handle, galt die Zeichnung auch als einzige zu Lebzeiten des Autors entstandene,

13 Otto Pick, 20  Jahre deutsches Schrifttum in Prag, in: Witiko 2 (1929) H. 3, S.  119. S. dazu den Briefwechsel zwischen Max Brod und Kafka vom 3. bzw. 5. März 1918, in dem Brod von seiner Absage hinsichtlich einer Beteiligung an Picks Anthologie berichtet und Kafka sich dieser Absage anschließen will (Franz Kafka. Briefe 1918–1920, hg. von Hans-Gerd Koch, Kritische Ausgabe Bd. 4, Frankfurt 2013, S. 32 und 700). Im Unterschied zu Kafka war Brod in der von Wiener herausgegebenen Anthologie dann doch vertreten. Jürgen Born führt Kafkas Abwesenheit auf dessen damals noch zu geringen Bekanntheitsgrad zurück (Kafka und die Prager deutsche Literatur, S. 2) 14 Irrtümlich erinnert Feigl u.  a., dass Kafkas Mutter ihren Sohn nach der Schule abgeholt habe, dass Der Kübelreiter den Kohlenmangel nach dem Ersten Weltkrieg thematisiere und dass er Kafka in Berlin wieder begegnet sei. 15 Dieter Lamping, Franz Kafka als Autor in der Weltliteratur. Einführung, in: Franz Kafka und die Weltliteratur, hg. von Manfred Engel und Dieter Lamping, Göttingen 2006, S. 18–19. 16 Die kaum bemerkte Erstveröffentlichung erfolgte durch J. P. Hodin (The Dilemma of Being Modern, Abb. nach S. 44). 17 Richard Hiepe, Kat. Bilder und Graphik zu Werken von Franz Kafka, München 1966, S. 24. 18 Diese und die folgende Zitatstelle Wolfgang Rothe, Kafka in der Kunst, Stuttgart u. Zürich 1979, S. 21. Rothe hält das Porträt zwar für zeitgenössisch (S. 21), dokumentiert es zugleich aber als »angeblich zu Lebzeiten entstanden« (S. 109, Nr. 2). Wagenbach vertritt erstmals in der 3., 2008 erschienenen Auflage von: Franz Kafka. Bilder aus seinen Leben (1. Auflage Berlin 1983), dass es sich nicht um ein zeitgenössisches Porträt, sondern um »eine ›Erinnerungs‹-Zeichnung aus den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts« handle (S. 215). 19 Diese und die folgende Zitatstelle: J. P. Hodin, Feigl, in: Kat. Feigl. 80th Birthday Exhibition, London 1964, o. S.

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Abb. 2.: Porträt Franz Kafka von unbekannt, Reproduktion einer Fotografie von 1916 im Werbeprospekt des Kurt Wolff Verlags von 1927 (DLA Marbach)

künstlerische Dokumentation von Kafkas äußerer Erscheinung.20 Hodins Zusatz »although made from memory« wurde prompt überlesen.21 Kurzfristig war man sogar im Deutschen Literaturarchiv trotz Jürgen Borns Berichtigung versucht, in Feigls Porträt kein Erinnerungsbild der KübelreiterLesung, sondern doch eine zeitgenössische Quelle von 1917 zu sehen: Bei eingehender Betrachtung war aufgefallen, dass die locker über eine zugrunde liegende Bleistiftskizze hinweg getuschte Lavierung, die die hagere Gestalt akzentuiert und die Darstellung durch kräftige Hell-Dunkel-Kontraste dramatisiert, nicht einfach nur aus einer dunkleren über einer helleren Schicht besteht. Unter den die Darstellung nach rechts ausbalancierenden Schwärzungen ist vielmehr eine weitere Signatur zu erkennen. Es schien so zumindest denkbar, dass Feigl 20 S. Wolfgang Rothe, Illustrationen und Porträts, in: Kafka-Handbuch, Bd. 2, hg. von Hartmut Binder, Stuttgart 1979, S.  849 oder Klaus Wagenbach, Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben, Berlin 1983, S. 163. Bei Wolfgang Rothe (Kafka in der Kunst, S. 21, Abb. 5c) werden zwei weitere Porträts anderer Künstler erwähnt, die zu Lebzeiten Kafkas entstanden sind. Von diesen ist jedoch das eine verschollen und kann das andere, unbeholfen das Gesicht skizzierende, vernachlässigt werden. 21 So heißt es bereits wenig später in The Jewish Chronicle vom 17. April 1964 (No. 4956, S. 36): »Feigl did a brush drawing of him […] that is the only portrait of Kafka in existence.«



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den lesenden Kafka skizzenhaft festgehalten hatte und seine Zeichnung bereits 1917 lavierte und signierte, um sie rund 30 Jahre später für J. P. Hodin zu überarbeiten, neuerlich zu signieren und schließlich mit einer Widmung zu versehen. Anhand formal-stilistischer Kriterien ließ sich all das für diesen frühen Zeitpunkt jedoch nicht belegen.22 Auch reflektographische Untersuchungen ergaben nur, dass von den unterschiedlichen Tuschen die obere, dunklere Lavierung mit der für den Widmungstext verwendeten, nicht aber mit der darunterliegenden Tusche identisch ist.23 Dafür kam ans Licht, dass die der zweifachen Lavierung zugrunde liegende Bleistiftzeichnung keine flüchtige Porträt-, sondern eine nüchterne Figurenstudie zeigt, bei der es folglich nicht um die rasche Fixierung einer erlebten Situation, sondern um die gestalterische Umsetzung einer gedanklichen Konzeption gegangen ist  – eine Beobachtung, die dazu passt, dass das Kafkaporträt auf J. P. Hodins Wunsch entstanden ist. Die schon in dieser Bleistiftskizze ansatzweise vorhandenen, im lavierten Endzustand dann Kafkas fotografisch überlieferter Physiognomie entsprechenden Charakteristika belegen jedoch nicht, dass Hodins »only portrait of Kafka in existence« ausschließlich »made from memory«24 ist. Sie verweisen vielmehr auf eine Fotografie, die Anfang Oktober 1916 entstanden sein muss25 und damit auf das erste Porträt des Autors, das überhaupt – und zwar 1927 – veröffentlicht wurde.26 (Abb. 2) Obgleich der direkte Blickkontakt zwischen Dargestelltem und Betrachter aufgegeben wurde, ist die Nähe zur fotografischen Vorlage offensichtlich. Und zwar nicht nur hinsichtlich der orthogonal gesetzten physiognomischen 22 23

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Vergleichbares ist auch während Feigls Londoner Jahre entstanden, die Werke des Künstlers sind oft nur signiert und die Signaturen zeitlich wiederum kaum einzuordnen. Dafür, dass entsprechende Verfahren 2011 im Institut für Schrift- und Urkundenuntersuchung der Universität Mannheim sowie im Labor für Zerstörungsfreie Untersuchung von Kunstobjekten an der Fachhochschule Köln eingesetzt werden konnten, gilt mein Dank der Papierrestauratorin Sandra Munck sowie Gudrun Bromm und Doris Oltrogge. J. P. Hodin, Feigl, in: Kat. Feigl, o. S. Hartmut Binder, Kafkas Welt, S. 406, Nr. 749. Diese in der Literatur unterschiedlich datierte Aufnahme, Binder etwa datiert »um 1916«, gehört zu Kafkas Antrag vom 3. Oktober 1916 auf Erlaubnis zur »Grenzüberschreitung« anlässlich der für den 10. November in der Münchner Galerie Hans Goltz geplanten Lesung aus seinen Werken (s. Brief vom 3. Oktober 1916, in: Franz Kafka. Briefe April 1914–1917, hg. von Hans-Gerd Koch, S. 245–246 (Zitat)). Für diesen Hinweis und eine Kopie des Briefes mit Foto danke ich Hans-Gerd Koch. Dass Feigl auch für Wieners Anthologie Deutsche Dichter aus Prag z.  T. nach fotografischen Vorlagen arbeitete, wurde bereits erwähnt. Auch das Porträt Gestalt des Dichters Verlaine (Abb. in: Friedrich Feigl, hg. von Nicholas Sawicki, S. 174) ist nach fotografischer Vorlage entstanden. Veröffentlicht wurde das Foto in einem Werbeprospekt des Kurt Wolff Verlags, s. Sandra Oster, Das Autorenfoto in Buch und Buchwerbung. Autorinszenierung und Kanonisierung mit Bildern, Berlin 2014, S. 185–186 und 244.

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Abb. 3.: Porträt Franz Kafka von Friedrich Feigl, 1950er Jahre, kolorierte Kohlezeichnung auf Papier, 34,5 × 24 cm (The Magnes Collection of Jewish Art and Life, University of California, Berkeley)

Details im großflächigen Gesicht, sondern auch in Bezug auf das ungewöhnlich hoch gekämmte Haar. Wie es scheint, hat Kafka diese für ihn ansonsten nicht belegte, weder streng gescheitelte noch flach getrimmte Frisur nur kurz getragen.27 Wenig wahrscheinlich ist deshalb, dass Feigl ihn im Winter 1916/17 derart »haarprächtig« gesehen hat.28 Auch ein zweites, bisher nahezu unbekanntes und in die 1950er Jahre zu datierendes Kafkaporträt des Malers (Abb. 3), eine in The Magnes Collection of Jewish Art and Life (Berkeley) befindliche, kolorierte Kohlezeichnung,29 ist ohne die Fotografie von 1916 nicht zu denken, wenngleich nur mittelbar, da sich diese 27 Die zur Ausstellung eines Reisepasses für die Münchner Lesung am 10. November not­wen­ dige »Persons-Beschreibung« zeigt im Unterschied zu Kafkas Antrag vom 3. Oktober 1916 die bekannte gescheitelte Variante, Abb. s. Hartmut Binder, Kafkas Welt, S. 507. 28 Feigl könnte auch der Holzschnitt vor Augen gestanden haben, der auf dieser Fotografie basiert und 1929 in der tschechischen Zeitschrift Archy (Nr.  15) veröffentlicht wurde, s. Wolfgang Rothe, Kafka in der Kunst, S. 110 Nr. 10. 29 In The Magnes Collection wird als Entstehungszeit um 1916 angenommen, die ursprüngliche Provenienz des aus Privatbesitz gestifteten, zuvor aus dem Kunsthandel erworbenen Blattes ist nicht rekonstruierbar (Auskunft Mira Z. Amiras, der Tochter der einstigen Besitzer, Mail vom 15. November 2016, DLA).



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Zeichnung als variierende Wiederholung vorrangig auf das Marbacher Blatt bezieht. Ein Vergleich der beiden Varianten ist äußerst aufschlussreich, da er erkennen lässt, worum es Feigl ursprünglich gegangen ist: Anders als der »amerikanische« wirkt der »Marbacher« Franz Kafka geradezu körperlos fragil und wenn nicht einsam, so doch unnahbar und sehr für sich, ohne festen Boden unter den nicht einmal mehr angedeuteten Füßen und auf spürbare Distanz zu seinem Betrachter in die unbestimmte Tiefe des leeren Blattraums gesetzt. Sein »amerikanisches« Pendant hingegen füllt, obgleich kaum mehr als halbfigurig auf seinem Sessel angedeutet, wie selbstverständlich den Vordergrund des Blattes aus, fest verankert in einem räumlichen Gefüge, das durch das Himmelsblau im Hintergrund gegeben ist.30 Selbst die Skizzenhaftigkeit, so hingeworfen sie noch immer wirkt, hat sich hier markant verfestigt und wird durch eine freundlich akzentuierende Farbigkeit anekdotisch-realitätsbezogener, etwa mit dem auffallenden Weiß bei dem Gegenstand, der hier nun unmissverständlich als Blatt Papier zu erkennen ist. Auch herrscht kein atmosphärisches Hell-Dunkel mehr, das die an sich recht harmlose Darstellung von 1946 suggestiv inszeniert. Kafkas feinnervige Anspannung schließlich, die sich nicht zuletzt im wachsamen Blick und seiner gegen die bequeme Sesselrundung behaupteten, aufgerichteten Haltung vermittelt, wird unter Feigls dekorativ überformender Kolorierung in der Wiederholung zu nachdenklicher Gelassenheit. Auf Kosten der spürbaren Melancholie seines Marbacher Vorbilds, dieses jüng­ lings­ haften Intellektuellen, hat der »amerikanische« Kafka an kräftiger Sta­tur und Selbstbewusstsein gewonnen. Er ist das Ergebnis einer zweifach vor­lagengestützten Erinnerung und dennoch  – wie auch das Marbacher Erinnerungsbild  – authentisch insofern, als Maler und Modell einst miteinander bekannt gewesen sind.

II. Vom Prototyp der Dekadenz zum Klassiker der Weltliteratur Entstehung und Rezeptionsgeschichte des Marbacher Kafkaporträts sind eng mit J. P. Hodin – der nicht nur die Erinnerungen seines Freundes, sondern auch dessen Kafkaporträt mehrmals veröffentlicht hat – verbunden. Im Verlauf dieser Veröffentlichungsgeschichte haben Feigls Erinnerungen, diese Mischung aus Erlebnisbericht und kunsttheoretischer Reflexion, und hat mit ihnen das Kafkaporträt einen entscheidenden Bedeutungswandel erfahren. 30 Das Marbacher Blatt (Inv.nr. B 2011.0139) hat die Maße 25,2  × 20,2  cm, das Blatt in The Magnes Collection (Inv.nr. 75.57), Kohle mit Aquarell und Gouache auf Papier, misst 34,5 × 24 cm.

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Die vollständige Version der feiglschen Erinnerungen veröffentlichte Hodin erstmals 1948 in einem Beitrag für Horizon31 als Vorgriff auf seine »definite biography«32 des Autors Franz Kafka. Schon im folgenden Jahr wurde der Beitrag für Der Monat übersetzt, wo er in leicht abgeänderter und, was Hodins Anteil und Feigls Erinnerungen betrifft, wesentlich gekürzter Form erschienen ist.33 Diese Kurzform wiederum – und nicht die 1968 in Hodins Essaysammlung Kafka und Goethe. Zur Problematik unseres Zeitalters erschienene, vollständige Version der Erinnerungen34 – fand 1995 Aufnahme in den von Hans-Gerd Koch herausgegebenen Sammelband »Als Kafka mir entgegenkam…«: Erinnerungen an Franz Kafka.35 In ihrer gekürzten Version konnten Feigls Erinnerungen als anschauliches Dokument eines Zeitzeugen rezipiert werden. Tatsächlich hatte ihre vollständige Fassung Hodin zur Untermauerung seiner »reflections on the problem of decadence«36 gedient, die maßgeblich anhand von Person und Werk Franz Kafkas exemplifiziert werden sollten: So hoch Hodins Wertschätzung der »artistic merits« auch war, den Autor selbst zählte er zu den »grave-diggers«, den Totengräbern der Menschheit.37 Im Gegensatz zu Goethe, der ausgezeichnet sei durch »a drive towards activity, towards renewal, towards health«, durch »the urge to unite opposites into a higher unity«, habe Kafka die Suche nach neuerlicher Harmonie und seelischer Gesundung nicht nur nicht unterstützt, sondern »passive and broken« schlichtweg alles in »a negative relation to life« gestellt.38 Dass auch Friedrich Feigl in Franz Kafka den destruktiven Nihilisten sah, ist der gekürzten Übersetzung seiner Erinnerungen im Monat nur ahnungsweise zu entnehmen. So könnte man ohne Kenntnis des Gesamtzusammenhangs, um nur ein Beispiel zu nennen, unter Unverständnis des Malers für den Autor verbuchen, dass sich Kafka »an den Kausalitätsverhältnissen dieser Welt […] mit 31 J. P. Hodin, Memories of Franz Kafka, S. 26–45. 32 So der Untertitel, s. J. P. Hodin, Memories of Franz Kafka, S. 26; die Biografie wurde nie geschrieben. 33 J. P. Hodin, Erinnerungen an Franz Kafka, in: Der Monat 1 (1948/49) H. 8/9, S. 89–96, Feigls Erinnerungen S. 89–90. 34 J. P. Hodin, Kafka und Goethe. Zur Problematik unseres Zeitalters, London und Hamburg 1968, S.  15–20. Nach der Veröffentlichung in Horizon und Der Monat war Hodins Beitrag noch ein weiteres Mal abgedruckt worden in: The Golden Horizon, hg. von Cyril Connolly, London 1953, S. 366–380. 35 »Als Kafka mir entgegenkam…«: Erinnerungen an Franz Kafka, hg. von Hans-Gerd Koch, Berlin 1995, darin die Erinnerungen unter dem Titel: Friedrich Feigl. Kafka und die Kunst, S. 136–139. 36 So die zweite Hälfte des Untertitels, s. J. P. Hodin, Memories of Franz Kafka, S. 26. 37 J. P. Hodin, Memories of Franz Kafka, S. 26–31, die Zitatstellen S. 27 und 28. 38 J. P. Hodin, Memories of Franz Kafka, S. 29.



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seiner mikroskopisch scharfen analytischen Methode«39 gerächt habe. Tatsächlich hatte Feigl in den gestrichenen Passagen seiner Erinnerungen ausführlich präzisiert: Everything, that only underlines egotism, everything merely subjective – the asocial approach gives the impression of genius, but it remains asocial – is of an unhealthy influence. It ran wild in politics, almost like futurism. The whole era was ripe for such ideas, which brought it to the edge of the abyss in politics and in an evolutionary sense to the atomic bomb and to the triumph of analysis. Analysis is a great poison. It is a rhythm of corrosion, a rhythm of the brain. True art is always synthesis. Kafka’s mind was basically corrosive and analytic. Why is analysis as an end in itself not a mark of genius? Because it has no real content. It has no real meaning. Analysis pretends to be both content and form. Kafka’s object was nothing, it was nothingness; he analysed analysis. It was exactly the same in cubism and surrealism.40 Es ist unschwer zu erklären, weshalb in der 1949 erschienenen deutschen Übersetzung der Memories of Franz Kafka letztlich alles ausgeklammert bleibt, was in der ursprünglichen Publikation Hodins »reflections on the problem of decadence« und Feigls ins Allgemeine zielende Ausführungen betrifft. Da in dieser Ausgabe des Monat Franz Kafka anlässlich seines fünfundzwanzigsten Todestags gewürdigt werden sollte, wäre neben entsprechenden Beiträgen aus der Feder von Thomas Mann, Max Brod oder Franz Werfel die hodinsche Kategorisierung unter dem Vorzeichen der Dekadenz zweifellos ebenso fehl am Platz gewesen wie die Meinung eines einstigen Bekannten, der aufgrund seiner Welt- und Kunstanschauung an Kafkas Werk »all the signs of a deformed imagination«41 zu er­ ken­nen glaubte. Hans-Gerd Kochs Rückgriff auf die Kurzversion von 1949, die sich auf den faktischen Kern von Feigls Erinnerungen konzentriert, ist vor diesem Hintergrund nur zu verständlich.42 Abgesehen davon ist bemerkenswert, dass hier das längst vielfach reproduzierte Kafkaporträt erstmals in unmittelbarem Zusammenhang mit den Erinnerungen des Malers veröffentlicht wurde.43 Anders jedoch als in diesem Kontext zu vermuten, erweist sich das Porträt vor dem Hintergrund von 39 40 41 42

J. P. Hodin, Erinnerungen an Franz Kafka, S. 89. In: J. P. Hodin, Memories of Franz Kafka, S. 34. Friedrich Feigl in: J. P. Hodin, Memories of Franz Kafka, S. 34. Bei Friedrich Feigl in: »Als Kafka mir entgegenkam…« (hg. von Hans-Gerd Koch, S.  136) fehlt auch Hodins in Erinnerungen an Franz Kafka (S. 89) noch vorhandener Vorspann. 43 Friedrich Feigl in: »Als Kafka mir entgegenkam…« hg. von Hans-Gerd Koch, S. 137.

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J. P. Hodins Betrachtung des kafkaschen Werks unter dem Signum der Dekadenz44 und Hodins wie Feigls kulturkonservativem Pessimismus45 keineswegs als unverfängliches Erinnerungsbild. Es muss deshalb unter dem Vorzeichen der »reflections on the problem of decadence« noch einmal neu betrachtet werden. Wie ausgeführt, ist Friedrich Feigls Aufenthalt in Prag im Winter 1916/17 hinreichend belegt und die Anwesenheit bei Kafkas Kübelreiter-Lesung mit seinen Porträtstudien für Oskar Wieners Deutsche Dichter in Prag zu erklären. Was die »torturing quality of Kafka’s art« betraf, die Feigl rückblickend beschreibt,46 konnte sich der Maler hinsichtlich seiner grundsätzlichen Anerkennung einer literarischen Größe bei gleichzeitiger heftiger Ablehnung ihrer inhaltlichen Dimension in seiner Freundschaft mit Hodin bestätigt sehen. So hatte sich Hodin, wie er später resümierte, in seinem Beitrag für Horizon »die Aufgabe gestellt, mit dem transzendenten Nihilismus, der jüdischen Melancholie, der depressiven und pessimistischen Theologie Kafkas abzurechnen«.47 Ganz ähnlich war es Feigl darum gegangen, den »decisive ethical standpoint in life«48 wiederzufinden. Und während Kafka für Hodin als analytischer Geist zu den »Antipoden des Schöpferischen«49 gehörte, war der Autor des Kübelreiter für Feigl eben deshalb letztlich mitverantwortlich für das Zeitalter der Atombombe.50 Dass Friedrich Feigl diesen in seinen Augen äußerst zweifelhaften Autor überhaupt porträtierte, ist, wie schon erwähnt, J. P. Hodins »Anregung«51 zu verdanken. Im Gegensatz zur Widmung verrät Feigls Zeichnung allerdings nichts von einer Autorenlesung. Verfolgt man die Publikation der feiglschen Erinnerungen 44 Wie eine direkte Vorlage für Hodin und Feigl klingt, was der Münchner Philosoph Theodor Lipps Zur Psychologie der Dekadenz 1903 publizierte (in: Deutschland 3 (1903/04) S. 412): »Wohl aber ist ein Zeichen der Dekadenz die zum Charakterzug gewordene Sucht des Zweifels, die Lust am Zersetzen, das Behagen am Negieren und der Drang, alles Objektive und Gültige in ein Subjektives, Relatives aufzulösen.« 45 Einen vergleichbaren Standpunkt vertrat in Deutschland zur selben Zeit der Kunsthistoriker Hans Sedlmayr, dessen Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit (Salzburg) im selben Jahr wie Hodins Reflections, also 1948, erschienen ist. 46 In: J. P. Hodin, Memories of Franz Kafka, S. 34. 47 J. P. Hodin, Kafka und Goethe, S. 92. 48 J. P. Hodin, Memories of Franz Kafka, S. 34. 49 J. P. Hodin, Kafka und Goethe, S. 7. 50 In J. P. Hodin, Memories of Franz Kafka, S.  35; ebd. sucht Feigl abschließend sein hartes Urteil abzumildern, indem er unterstreicht: »The forces of which one gains possession, through analysis, can after all lead to good as well.« 51 J. P. Hodin an Jürgen Born, Brief vom 8. Februar 1990, Kopie DLA. Kafkas äußere Erscheinung ist noch Mitte der 1940er Jahre in Abbildungen kaum bekannt gewesen, s. Sandra Oster, Das Autorenfoto in Buch und Buchwerbung, S. 244–247.



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beziehungsweise die Art und Weise, wie Hodin dessen Kafkaporträt kontextualisierte, wird denn auch deutlich, dass Feigls Porträt zwar als optischer Beleg der Kübelreiter-Lesung verstanden werden konnte, in erster Linie aber die kunst- und literaturtheoretischen Äußerungen des Freundespaares illustrieren sollte. Zum ersten Mal ließ Hodin die Zeichnung 1956 publizieren, allerdings nicht im Zusammenhang mit Feigls Text, sondern 40 Seiten später als Teil des Bildblocks.52 Auch 1968 steht das Kafkaporträt nicht neben Feigls Bericht, sondern ist Hodins Essay über die Dekadenz Franz Kafkas zugeordnet.53 Mehr noch, Hodin, der es schon 1956 mit der Bildlegende nicht sonderlich genau genommen, die Lesung des Kübelreiter auf Kafkas Todesjahr (1924) und die Zeichnung auf 1948 datiert hatte, beließ es unter der nun mitsamt ihrer Erläuterung reproduzierten Zeichnung beim schlichten (eigentlich redundanten) Verweis auf diese »Widmung von Friedrich Feigl«. Möglicherweise begnügte sich Hodin mit sparsamen Angaben in der Annahme, der abgebildete Widmungstext erkläre sich selbst. Die Reproduktion eines Goetheporträts dagegen dokumentierte er mit umfänglichen Hinweisen zu Dargestelltem, Künstler, Technik und Entstehungsdatum54  – wohl deshalb, weil Goethe als literarische Vorbildgröße längst historisch und als solche im weit zurückliegenden Todesjahr 1832 zu verankern war, während die skizzenhafte Darstellung des den Kübelreiter lesenden Kafka ohne Angabe solch nüchterner Daten und Fakten nahezu gegenwärtig wirken konnte. Als Prototyp nihilistischer Dekadenz sollte Kafka dem Leser von Hodins Ausführungen Zur Problematik unseres Zeitalters55 unmittelbar vor Augen stehen.56 Wie erfolgreich Hodins Kommentierung in dieser Hinsicht gewesen ist, zeigt sich an all den vielen, ein Entstehungsjahr 1917 mehr oder weniger direkt implizierenden 52

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J. P. Hodin, The Dilemma of Being Modern, S. 8–12 (Feigls Text), Abb. nach S. 44, Bildlegende S. ix. Seit 1956 fehlt der ursprüngliche Haupttitel Memories of Franz Kafka. Stattdessen heißt es nur noch Franz Kafka. Reflections on the problem of decadence. J. P. Hodin, Kafka und Goethe, S. 9 (hier auch die Bildlegende), die Kapitelüberschrift S. 7. J. P. Hodin, Kafka und Goethe, S. 39. So lautet, wie bereits angegeben, der vollständige Buchtitel zu Kafka und Goethe. Dabei hatte Hodin schon 1948 betont, dass Kafka sich dagegen verwahrt hätte, »to be canonized by decadent intellectuals, for whom thinking is nothing but acrobatics and an end in itself.« (J. P. Hodin, Memories of Franz Kafka, S. 30 – 1968 (S. 13) übersetzt als: »daß Kafka es wohl nicht gewünscht hätte, zu einem Heiligen für dekadente Intellektuelle zu werden, denen Denken nur Akrobatik und Selbstzweck ist.« 1948 sprach Hodin noch von einem Umdeuten in Richtung »subjective and pessimistic« (S. 27), 1968 heißt es dann, dass Kafka das »Mystisch-Ewige« ins »Subjektiv-Nihilistische« umgedeutet habe (S. 8). Entsprechend hatte Hodin im Katalog zu Feigls 80.  Geburtstag von der Bekanntschaft zwischen Maler und Autor, Feigls Erinnerungen und dessen Darstellung der KübelreiterLesung berichtet, jedoch nur in Klammern und durchaus nebulös erwähnt, dass dieses Porträt im Nachhinein entstanden sei (J. P. Hodin, Feigl, o. S.).

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Reproduktionen der Zeichnung und nicht zuletzt an ihrer Wiedergabe in Kochs Sammelband: Unter dem neuerlich ohne Widmung präsentierten Porträt heißt es nur noch und damit auf eine toposartige Vergegenwärtigung zielend: »Kafka liest. Zeichnung von Friedrich Feigl«.57 Kafka jedoch liest keineswegs. Leicht angespannt sitzt er in seinem Sessel, ein stiller Beobachter, dessen Blick ebenso nach innen wie ins Leere gerichtet scheint, zumindest nicht auf dem angedeuteten Schriftstück in seinen Händen ruht. Nur die Art, wie dieses gehalten wird, lässt ahnen, dass es sich hier um eine Lesung handeln könnte. So unbestimmt wie Kafkas Blick ist folglich das Thema dieser Darstellung, die ein Davor so gut wie das Danach beschreibt, nicht aber den lesenden Autor wiedergibt, der in der Widmung behauptet wird. Einige Jahre später schuf Feigl die bereits erwähnte »amerikanische« Porträtvariante sowie ein Gemälde58 (Abb. 4), dem die letzte Aufnahme des todkranken Autors von 1923 als Ausgangspunkt gedient haben muss,59 brachte jedoch selbst die Zeichnung nicht mehr mit Kafkas Lesung in Verbindung.60 Stattdessen betonte Feigl die persönliche Bekanntschaft zwischen Maler und Modell: Unter der Zeichnung wurde vermerkt »Mein Mitschüler am Prager Alst.[!] Gymnasium | Franz Kafka« und auf der Rückseite des Gemäldes festgehalten »Franz Kafka | mein Mitschüler vom | Prager Altst. Gymnasium 1890 | wie ich ihn sah | Friedrich Feigl«. Dabei ist der jüngere Feigl zwar auf derselben Schule, jedoch nur für zwei Jahre und nicht in derselben Klasse wie Kafka gewesen61 und kann sein nach57 Friedrich Feigl, in: »Als Kafka mir entgegenkam…«, hg. v. Hans-Gerd Koch, S.  137. Bei Wagenbach hatte es bereits ansatzweise so geklungen: »Bei der Lesung des ›Kübelreiters‹.« (Klaus Wagenbach, Franz Kafka, S. 160). Friedrich Feigls Erinnerungen sind bisher nur in Kochs Sammelband ausschließlich unter eigenem und nicht in Verbindung mit, das heißt unter J. P. Hodins Namen, erschienen (ebd. S. 136–139). 58 Öl auf Pappe, 34,7 × 25,5 cm, Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg / Leihgabe der Bundesrepublik Deutschland (Inv.nr. 6236). Wie die beiden Zeichnungen ist auch das Porträtgemälde nur signiert, aber nicht datiert (s. Kat. Oskar Kokoschka und die Prager Kulturszene, hg. von Agnes Tietze, Regensburg 2015, S. 137). Überliefert ist das Entstehungsjahr 1940, das im Vergleich zu den Arbeiten der 1950er Jahre aber nicht zwingend erscheint. Vermutlich stammt das Gemälde aus dem Besitz des Londoner Kunstsammlers Siegfried Oppenheimer (Gerhard Leistner, Kunstforum, Mails vom 7.  April 2017 und 14.  Mai 2019, DLA). 59 So auch Gerhard Leistner (Mail vom 7.  April 2017), der außerdem das 1917 entstandene Doppelporträt mit Felice Bauer als Vorlage in Betracht zieht; Abb. s. Hartmut Binder, Kafkas Welt, S. 661, Nr. 1180 bzw. S. 519. 60 Ohne Kenntnis der Vorlage sähe man in der »amerikanischen« Kafkazeichnung wohl eher einen nachdenklichen John F. Kennedy als den mageren Autor des Kübelreiter. 61 S. die Biografie in: Friedrich Feigl, hg. von Nicholas Sawicki, S. 296. Tatsächlich war Feigls Bruder Karl Kafkas Klassenkamerad, s. Franz Kafka. Briefe April 1914–1917, hg. von HansGerd Koch, S. 568.



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Abb. 4: Porträt Franz Kafka von Friedrich Feigl, 1950er Jahre, Öl auf Pappe, 34,7 × 25,5 cm (Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg; © Wolfram Schmidt Fotografie Regensburg für das Kunstforum Ostdeutsche Galerie Regensburg)

drückliches »wie ich ihn sah« nicht wirklich überzeugen, da Feigl Kafka nach 1917 nie wieder und somit auch nicht, wie er sich zu erinnern meint, noch einmal in Berlin gesehen hat.62 Dass bei Feigls späteren Porträts ein Hinweis auf die Kübelreiter-Lesung unterblieb, liegt durchaus nahe angesichts der wachsenden Resonanz auf Kafkas Schaffen, die den Prager Dichter in einen Klassiker der Weltliteratur zu verwandeln begann.63 Kafkas Physiognomie war allmählich als bekannt voraus- und deshalb vom Maler auch ohne Werkbezug ins Künstlerische umzusetzen. Hodin dagegen illustrierte noch 1968 seinen Essay zur literarischen Dekadenz mit der asketischen Erscheinung des angeblich prototypischen Autors, was ebenfalls 62 Friedrich Feigl in: J. P. Hodin, Memories of Franz Kafka, S. 33. 63 Dieter Lamping, Franz Kafka als Autor der Weltliteratur, in: Franz Kafka und die Weltliteratur, hg. von Manfred Engel und Dieter Lamping, S. 17–23.

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f­ olgerichtig ist.64 Denn nur in dieser ersten Version von 1946 wird Kafkas Porträt als in sich gekehrter Intellektueller eindeutig literarisch definiert: »Kafka liest den Kübelreiter«. Es ist letztlich dieser prägnante Kommentar, dem sich das Renommee der feiglschen Zeichnung verdankt. Durch ihn wird aus einem nur für Vorgebildete identifizierbaren jungen Mann mit – ja, mit was eigentlich – in den Händen der Autor Franz Kafka. Zugleich wird die allgemein gehaltene Aussage, dass hier ein Autor porträtiert worden ist, durch einen konkreten Werkbezug präzisiert. Feigls Widmung unterstreicht, dass dieser Kafka nicht zufällig in der Tradition des nachdenklich-sinnend sitzenden, durch ein Manuskript oder Buch charakterisierten Mannes porträtiert, sondern bewusst in die spezifische Tradition eines Darstellungstypus’ des Autorenporträts gestellt worden ist. Kafkas Porträt soll folglich als solches verstanden werden, selbst wenn dieser Typus spätestens mit dem Aufkommen der Fotografie nicht mehr nur für die Porträts der Dichter und Denker reserviert und insofern unverbindlich geworden ist.65 Darüber hinaus suggeriert die Widmung, dass das solcherart als Autorenporträt definierte Bildnis ein gegenwärtiges Geschehen dokumentiere, das rasch, deshalb skizzenhaft und summarisch, festgehalten werden muss: Franz Kafka liest sozusagen in eben diesem Augenblick seinen Kübelreiter und liest ihn damit auch für den Betrachter. In diesem Zusammenhang ist Feigls Hinweis auf den Kübelreiter und damit auf eines der noch heute weniger bekannten Werke im Vergleich etwa zu Das Urteil, Die Verwandlung oder Der Prozess ein weiterer, indirekter Beleg dafür, dass der Maler tatsächlich bei einem Vortrag im kleinen Kreis dabei gewesen ist. Seine Schilderung der Lesung unterscheidet sich allerdings deutlich von dem, was andere Zuhörer oder Kafka selbst berichtet haben. Auch Feigl attestiert dem Autor ein »right feeling for the fine points«66 und bestätigt damit Max Brod, der, kurz nachdem der Kübelreiter entstanden und ihm wohl auch vorgetragen worden war, notierte: »Er liest schön vor.«67 Außer einer jungenhaften Stimme fand Feigl jedoch nichts weiter anzumerken, was insofern überrascht, als diese Beurteilung mit den übrigen Schilderungen privater Leseabende kaum in Einklang zu bringen ist. Kafka etwa berichtete Felice Bauer Anfang März 1913 von einem Abend bei Max Brod: »Ich las mich an meiner Geschichte [Die Verwandlung] in 64 Die beiden späteren Porträts hat Hodin, soweit erkennbar, nie erwähnt. Ob zu Lebzeiten des 1965 gestorbenen Künstlers eines seiner drei Kafkaporträts ausgestellt wurde, konnte nicht geklärt werden. 65 So konstatiert Sandra Oster für das 19.  Jahrhundert (dies.: Das Autorenfoto in Buch und Buchwerbung, S. 75): »Sowohl die Darstellung des Autors im Bruststück als auch im Ganzfigurporträt weicht formal nicht von der Ikonografie des Bürgers ab […]«. 66 Diese wie die übernächste Zitatstelle in: J. P. Hodin, Memories of Franz Kafka, S. 32. 67 Max Brod, Über Franz Kafka, S. 139.



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Raserei.«68 Und Oskar Baum, in dessen Wohnung die feiglsche Kübelreiter-Lesung vermutet wird,69 erinnert sich: »Wenn er vorlas – das war seine besondere Leidenschaft – unterordnete sich der Ausdruck des einzelnen Worts bei voller Klarheit jedes Lautes, in zuweilen schwindelerregendem Zungentempo, ganz einer musikalischen Breite der Phrasierung von endlos langem Atem und gewaltig sich steigernden Crescendi der dynamischen Terrassen  – wie sie ja auch seine Prosa hat, deren abgeschlossene Stücke zuweilen wie >Die Zirkusreiterin< im Wunderbau eines einzigen Satzes gewachsen sind.«70 Derartige Vortragskünste eines »Virtuosen, dem ein beträchtliches Stimmvolumen und eine ausgefeilte Artikulationstechnik zu Gebote«71 standen, sind Feigls verhaltenem Kafka schwerlich zuzutrauen. Dieser Kafka entspricht vielmehr dem Bild, das von dessen Münchner Lesung im November 1916 überliefert ist: Kafka habe »auf einer Rampe am Vortragspult [gesessen], schattenhaft, dunkelhaarig, bleich, eine Gestalt, die ihre Verlegenheit über die eigene Erscheinung nicht wirklich zu bannen wusste«,72 wobei vor allem »seine ruhige, ungewollte, fast bescheidene, in sich zusammengehaltene Art«73 auffallend gewesen sei, ein »sehr natürliche[r] Ausdruck«, was »sich nicht nur im Wesen, sondern auch in der Kleidung und allem« wiedergefunden habe. Kafkas Vortragsweise muss gleichwohl dem »expressiven deklamatorischen Stil, wie wir ihn aus Tondokumenten seiner Zeitgenossen Karl Kraus und Franz Werfel kennen«,74 verwandt gewesen sein, kann also den eben zitierten Schil68 Kafka an Felice Bauer, Brief vom 1. und 2. März 1913, in: Franz Kafka, Briefe 1913–März 1914, hg. von Hans-Gerd Koch, S. 115. 69 Hartmut Binder, Kafkas Welt, S. 513, basierend auf einem unveröffentlichten Brief Feigls an Binder von 1956, der allerdings nicht mehr aufzufinden ist (tel. Auskunft Hartmut Binder im Frühjahr 2011). Oskar Baum erinnert keine Lesung des Kübelreiter, s. ders., Rückblick auf eine Freundschaft, in: »Als Kafka mir entgegenkam…«, hg. von Hans-Gerd Koch, S 77. 70 Oskar Baum, Erinnerungen an Franz Kafka, in: Witiko. Zeitschrift für Kunst und Dichtung 2 (1929) H. 3, S. 127. 71 So Lothar Müllers Kommentar zu dieser Schilderung Oskar Baums, s. ders., Die zweite Stimme. Vortragskunst von Goethe bis Kafka, Berlin 2007, S. 102; s. dort auch S. 87–115. 72 Max Pulver, Spaziergang mit Kafka [1954], zitiert nach: Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten 1912-1924, hg. von Jürgen Born, Frankfurt a. M. 1979, S. 118–119. 73 Dies und das Folgende: Eugen Mondt, München-Dachau, ein literarisches Erinnerungsbüchlein [unpubliziert], zitiert nach: Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Leb­zei­ ten, hg. von Jürgen Born, S. 119. 74 Hans-Gerd Koch, Brods erlesener Kafka, in: Franz Kafka und die Weltliteratur, hg. von Manfred Engel und Dieter Lamping, S. 171.

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derungen des Münchner Leseabends nur sehr bedingt entsprochen haben. Bedenkt man, dass nicht nur Feigls Erinnerungen samt Kafkaporträt, sondern auch die Aufzeichnungen der Münchner Augenzeugen Jahrzehnte später entstanden sind, wird man den Verdacht nicht los, dass hier wie dort »die kranke Lunge […] im Bewußtsein der Nachwelt so sehr ins Zentrum der physischen Existenz Kafkas gerückt [ist], daß sie die gesunde Lunge, die der Autor Kafka in seinen Anfängen in den Dienst seines Werkes stellte, weitgehend überschattet.«75 Während Kafka nachgerade »brüllen«76 konnte, meinte Feigl eine »boyish voice« gehört zu haben – wohl deshalb, weil sie der »boyishness«77 entsprach, die dem Maler rückblickend als das Charakteristikum erschien, »that clung to him all his life«. Feigls Erinnerungen an den lesenden Kafka sind somit ebenso fragwürdig wie der Authentizitätsgrad seiner Zeichnung, die die klassische Formel des Autorenporträts mit der Physiognomie einer Fotografie von 1916 kombiniert. Einzig dadurch, wie der Text mit beiden Händen auf Schoßhöhe gehalten wird,78 ist das eigentliche Geschehen angedeutet  – wobei Franz Kafka eben nicht wirklich seinen Kübelreiter liest, sondern in einer habachtartige Stellung (einer Lesepause?) verharrt. Abgesehen davon ist keine Erweiterung des traditionellen Autorenporträts um den Aspekt der Lesung auszumachen. Selbst wenn die imaginäre Beleuchtung, die Kafkas Gesicht hälftig verschattet (auch das ein signifikantes Merkmal des melancholischen, daher schöpferischen Menschen)79 noch als Auszeichnung des Vortragenden gegenüber seinen Zuhörern zu verstehen wäre, es fehlen alle wichtigen Elemente einer Lesung. Weder unterstreicht eine begleitende Geste den Vortrag des Autors, noch ist dieser aktiv einem Publikum zugewandt oder sitzt gar an einem Tisch mit Lampe. Die somit alles andere als realitätsgesättigte Wiedergabe der Kübelreiter-Lesung spiegelt gleichwohl die Intention des »Auftraggebers«: Für Hodin war Kafka der exemplarische Ver-

75 Lothar Müller, Die zweite Stimme, S. 108 und S. 115 (zur Münchner Lesung). Zur Münchner Lesung und zur Einschätzung von Max Pulver s. auch S.  153–155 sowie die zugehörige Anmerkung 9, S. 638. 76 Kafka an Felice Bauer, Brief vom 4. Dezember 1912, in: Franz Kafka. Briefe 1900–1912, hg. von Hans-Gerd Koch, S. 298, wobei unter »brüllen« hier zu verstehen ist, dass Kafka sich während seiner öffentlichen Lesung von Das Urteil gegen »die Musik, die von den Nebensälen her mir die Mühe des Vorlesens abnehmen wollte« (ebd.), zu behaupten suchte. 77 In: J. P. Hodin, Memories of Franz Kafka, S. 32. 78 Im Februar 1917 könnte Kafka bereits eine erste typographische Abschrift seiner Erzählung für die Lesung verwendet haben (s. Franz Kafka. Drucke zu Lebzeiten, hg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann, S. 543). 79 S. Kat. Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst, hg. von Jean Claire, Ostfildern-Ruit 2005, S. 154.



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treter einer literarischen Dekadenz, die in Feigls Porträt optisch fassbar werden sollte. Hodin interessierte keineswegs – zumindest legt das die Verwendung der feiglschen Zeichnung als Illustration seiner Betrachtungen nahe – die Dokumentation einer einmaligen Abendveranstaltung in Prag. Ihm ging es um eine Aussage von allgemeiner Gültigkeit, um eine zeitlos-repräsentative Formulierung, die auf das anekdotische Detail verzichtet. Nicht von ungefähr ist die dem Alltag zugehörige Lesung kein Thema des klassischen, die Nachwelt als Adressaten bereits einbeziehenden Autorenporträts80 und sind Gemälde in dieser Hinsicht rar.81 Dagegen wird sie graphisch dokumentiert,82 auch in flüchtigen Strichen für die Presse,83 und ist seit deren Siegeszug vor allem in der Fotografie zu finden als Zeugnis eines ebenso lebendig-gegenwärtigen wie vergänglichen Augenblicks.84 Dass Feigls Kafka auf dem überzeitlichen Muster des nachdenklichen Autors basiert, während seine Widmung die Wiedergabe eines flüchtigen Augenblicks suggeriert, birgt eine Ambivalenz, die der Rezeption der Darstellung entgegenkam. Bis zur ersten Publikation des Blattes 1956 (Hodin) beziehungsweise 1958 (Wagenbach) war von Franz Kafka kein einziges Porträt bekannt, das ihn als Autor charakterisiert hätte.85 Im Unterschied zu Thomas Mann oder Hermann Hesse, die vielfach im Gestus melancholicus (das heißt mit aufgestütztem Arm und in die Hand gelegtem Kopf), mit Buch oder am Schreibtisch, teils lesend,

80 S. die Beispiele zum idealen Autorenbild und zum Autorenporträt in: Roland Kanz, Dichter und Denker im Porträt. Spurengänge zur deutschen Porträtkunst des 18.  Jahrhunderts, München 1993, Abb. 3–13, 22–41. 81 Als ein in diese Richtung weisendes Beispiel könnte Marie Elisabeth Vogels 1792 entstandenes Porträt Friedrich Gottlieb Klopstocks gelten, das ihn mit einem Manuskript in der Rechten und skandierender Linken zeigt (s. Abb. in: Gisela Jaacks, Gesichter und Persönlichkeiten. Bestandskatalog der Porträtsammlung im Museum für Hamburgische Geschichte I, Hamburg 1992, S. 205): Klopstock gilt als Begründer der Autorenlesung, s. Harun Maye: Eine kurze Geschichte der deutschen Dichterlesung, in: Sprache und Literatur 43. Jhg. (2012) H. 110, S. 39–40. 82 S. die Abb. in: Dichter lesen, hg. von Reinhard Tgahrt, Bd.  1: Von Gellert bis Liliencron, Marbach 1984, S. 119, 174, 178 sowie Bd. 2: Jahrhundertwende, Marbach 1989, S. 72, 110, 125. 83 S. etwa Emil Stumpps Porträts von Max Brod, Karl Kraus, Else Lasker-Schüler oder Franz Werfel, Abb. in: Emil Stumpp. Zeichner seiner Zeit, hg. von Detlef Brennecke, Berlin und Bonn 1988, S. 64, 160, 53 und 73. 84 Entsprechend fündig wird man im Internet unter dem Stichwort (Autoren)Lesung. 85 Vgl. Sandra Oster, Das Autorenfoto in Buch und Buchwerbung, S. 244. Zwei von Kafkas eigenen Zeichnungen könnten, der reinen Anschauung folgend, als abstrahierte Kürzel unter »Autor am Schreibtisch« oder »Autor im Gestus melancholicus« verbucht werden; das tatsächliche Selbstporträt beschränkt sich auf sein en face gezeigtes Gesicht (vgl. Friederike Fellner, Kafkas Zeichnungen, Paderborn 2014, S. 152–169 (Abb. S. 163 und 164) sowie S. 210 (Abb. S. 207)).

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teils schreibend in einem der tradierten Autorenmuster überliefert sind,86 war diesbezüglich bei Kafka nichts zu finden. Ebensowenig – und auch das im Unterschied zu Mann und Hesse –, ist seine Stimme »zu einem Zeitpunkt, an dem die Koppelung von Stimme und Buch eine Blütezeit erlebt und zugleich die Ära der akustischen Überlieferung beginnt«,87 je aufgezeichnet worden. Erst mit Feigls assoziationsträchtig bewidmeter Zeichnung stand der Kafkaikonographie ein regelrechtes Autorenporträt zur Verfügung, das noch dazu die atmosphärische Vorstellung einer Lesung hervorzurufen vermochte. Seither galt und gilt teilweise heute noch Feigls Zeichnung als zu Franz Kafkas Lebzeiten entstanden und muss dieser getuschte Kafka, obgleich laut Feigl der Kübelreiter im Freundeskreis zum Besten gegeben wurde, auch den öffentlich aus seinem Werk Rezitierenden repräsentieren.88 Da diese Rezeption ohne tiefere Kenntnis der Entstehungsumstände und ikonographischen Zusammenhänge erfolgte, ist sie so nachvollziehbar wie verständlich. Dies umso mehr, als sie der klischeehaften Vorstellung entsprungen scheint, die auch J. P. Hodins und Friedrich Feigls wenig freundliches Urteil über den Menschen und Autor Franz Kafka grundierte. Schon Oskar Baum hatte betont, wie sehr Max Brod daran gelegen war, die »vielfach entstandene[] Meinung, daß Kafka ein schwermütiger, weltabgewandter, von unglücklichen Träumen und bizarren Phantasien verzehrter Mensch gewesen sei«,89 zu widerlegen. Doch auch Jahrzehnte später galt noch immer, dass sich im »kulturellen Vorbewussten die Stereotype einer Dichter-Imago erhalten [hat], die Kafka zu einer Art Alien macht: weltfremd, neurotisch, introvertiert, krank, ein Mann, der unheimlich ist und Unheimliches hervorbringt«, wie Kafkas Biograph Reiner Stach zusammenfasst.90 Es handle sich dabei zwar nur um »ein Abziehbild«, doch sei dieses Abziehbild äußerst »wirkungsmächtig« und mache es deshalb »auch für erfahrene Leser außerordentlich schwierig, sich dem Sog der kulturellen Stereotype zu entziehen.« Denn, so Stach, eine solche Stereotype »entfaltet ihre Wirkung vor allem über bildhafte Vorstellungen, und diese bleiben lebendig, solange wir sie attraktiv finden«. 86 S. etwa in: Kat. Thomas Mann und die bildende Kunst, hg. von Alexander Bastek und Anna Marie Pfäfflin, Petersberg 2014, die Abb. S. 55, 60, 63 und in: Hermann Hesse. Sein Leben in Bildern und Texten, hg. von Volker Michels, Frankfurt a. M. 1979, die Abb. S. 90, 140, 255, 266, 298. 87 Lothar Müller, Die zweite Stimme, S. 12. 88 Lothar Müller, Die zweite Stimme, S. 109. Selbst Hodin, der es nun wirklich besser wissen müsste, spricht 1964 irrtümlich von einer öffentlichen Lesung, s. J. P. Hodin, Kat. Feigl, o. S. 89 Oskar Baum: Das Leben Franz Kafkas, zitiert nach dem Wiederabdruck in: Das Wort. Literarische Monatszeitschrift 3 (1938) H. 2, S. 129. 90 Diese und alle folgenden Zitatstellen: Reiner Stach, Ist das Kafka? 99 Fundstücke, Frankfurt a. M. 2012, S. 14.



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In Stachs dreibändiger Biografie taucht das feiglsche Kafkaporträt, dieses Amalgam aus Erinnerung, fotografischer Vorlage, kulturpessimistischem Klischee und ikonographischer Tradition, deshalb an keiner Stelle auf.91

III. Sinnender – Autor – Autorenporträt? Friedrich Feigls Kafkaporträt wurde vielfach rezipiert, weil man in ihm nicht nur das einzige zu Lebzeiten entstandene, nichtfotografische Bildnis, sondern auch die einzige Darstellung des aus seinem Werk lesenden Autors sah. Als Kafkas einziges Autorenporträt wurde es dennoch nicht wahrgenommen, obgleich es das mit Blick auf Rezeptionsgeschichte und Bekanntheitsgrad letztlich bis heute ist.92 Für Franz Kafka fehlen nicht nur plastische, gemalte oder grafische Porträts, die als fraglos authentisch eingestuft werden könnten. Wie Sandra Oster unterstreicht, sind auch keinerlei »explizite Autorenfotos bekannt«.93 Denn, so Oster, »die nicht eben zahlreichen [!] überlieferten Porträtfotografien des Autors verbindet, dass sie allesamt keine Inszenierung des Autors für ein anonymes Lesepublikum beinhalten: Es handelt sich um mehr oder minder offizielle Aufnahmen, wie Passbilder und Familienfotos, die zu repräsentativen Anlässen in Prager Ateliers angefertigt wurden. Daneben sind auch private Amateuraufnahmen und Schnappschüsse, die häufig auf Reisen entstanden sind, erhalten.« Mit anderen Worten: Es gibt zwar eine ganze Reihe von Fotografien, auf denen Kafka zu erkennen ist, jedoch nicht eine, die ihn als Autor, das heißt kompositorisch wie ikonographisch als solchen charakterisiert und damit in einem tradierten Typus94 festgehalten hätte. 91 Reiner Stach, Kafka, 3  Bände, Frankfurt a. M. Die frühen Jahre 2014, Die Jahre der Entscheidungen 2003, Die Jahre der Erkenntnis 2008. 92 Im Sinne des hier verwendeten Typus’ Autorenporträt wird Kafka äußerst selten dargestellt. Ein ähnlich frühes Beispiel stammt von Hans Fronius (1903–1988): Die 1951 entstandene Lithographie zeigt den halbfigurigen Autor nächtens in seinem Zimmer am Schreibtisch stehend; vgl. dagegen Fronius’ just zur selben Zeit wie Feigls, also 1946 gezeichnetes Porträt des Autors im Brustbild vor der Prager Stadtkulisse (Abb. s. Richard Hiepe, Kat. Bilder und Graphik zu Werken von Franz Kafka, S. 20, Nr. 36 und 31). 93 Dies und das folgende Zitat: Sandra Oster, Das Autorenfoto in Buch und Buchwerbung, S. 244. 94 S. dazu die Definition unter »Schriftsteller«, in: Lexikon der Kunst (Neubearbeitung) Bd. 6, München 1996, S. 534–535; Roland Kanz, Dichter und Denker, vor allem das Kapitel »Traditionen des Gelehrten- und Dichterporträts«, S. 25–58; Gunter E. Grimm, Dichterbilder. Strategien literarischer Selbstinszenierung, vor allem den Abschnitt »Ikonographie der Selbstinszenierung«, http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/epoche/grimm_dichter bilder.pdf 2005 (Zugriff am 3.  März 2018); Michael Diers, Der Autor ist im Bilde. Idee,

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In der wachsenden Literatur zum porträtierten Autor werden gerade dort, wo es um die Frage geht, inwieweit das Porträt eines Autors ein Autorenporträt ist, Begriffliches und Definitorisches mitunter nicht scharf konturiert. Dass diese Frage weniger selbsterklärend ist als sie klingt, zeigt sich schon daran, wie unspezifisch die Begriffe Porträt und Autorenporträt verwendet werden. So titelt etwa Sandra Oster neutral und allgemein gehalten Das Autorenfoto in Buch und Buchwerbung, unterscheidet im weiteren Textverlauf dann aber nicht mehr konsequent zwischen Fotografie und Porträt. Nur ist eine Fotografie nicht zwangsläufig ein Porträt und ein Porträt nicht zwangsläufig ein Autorenporträt, jedenfalls dann nicht, wenn man das Autorenporträt typusspezifisch sehen will. Und zwar typusspezifisch in einer Tradition, die sich über die Jahrhunderte hinweg variantenreich ausdifferenzierte und schon früh durchlässige Konturen bekam,95 die aber dennoch bis heute als auratischer Bezugs- und Ausgangspunkt für die Inszenierung von Autoren funktioniert. Und das deshalb, weil das Autorenporträt als Typus tief in der bis weit in die Antike zurückreichenden Geschichte des sinnbildlichen, überindividuellen Autorenbildes verwurzelt ist.96 Die Bezeichnung Autorenfotografie besagt (selbst bei »expliziten Autorenfotos«) zunächst nicht mehr, als dass ein Schriftsteller fotografiert worden ist. Erst die Kombination von Berufs- und Gattungsbezeichnung, also von »Autor« und »Porträt« konkretisiert, dass es sich um einen Spezialfall, einen Typus handelt  – allerdings auch das wiederum nur, solange nicht jedes Porträt eines Autors als Autorenporträt bezeichnet wird. Sinn und Zweck einer typusbezogenen Darstellung sollte schließlich sein, dass sie sich auch ohne personenspezifische Vorkenntnisse zumindest ansatzweise erschließt. Ein Atelierfoto, das ohne jegForm und Geschichte des Dichter- und Gelehrtenporträts, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 51 (2007) S. 551–585. Vgl. dazu: Bildnispolitik der Autorschaft. Visuelle Inszenierungen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, hg. von Daniel Berndt, Lea Hagedorn, Hole Rößler, Ellen Strittmatter, Göttingen 2018. Hier wird weniger der Bildtypus als solcher untersucht als vielmehr der »Einsatz von Bildern, um Autorschaft zu behaupten, auszustellen und mithin einem Subjekt das damit verbundene soziale und symbolische Kapital zuzueignen« (s. ebd. S. 12). 95 Man denke nur an die vielfach allgemein gehaltene Charakterisierung im Porträt durch das Attribut des Buches und/oder den Gestus melancholicus im Sinne von sowohl schöpferisch (geistig wie künstlerisch) oder forschend tätig, als auch intellektuell oder nur schlicht gebildet. 96 Daher die bevorzugte Verwendung der Bezeichnung Autorenporträt für jegliches Porträt eines Autors, wozu die antike Vorstellung vom Dichter und Denker als Mittler zwischen den Göttern und Menschen gehört, die sich im Inspirationsbild der christlichen Ikonographie wiederfindet. Weit weniger wirksam wäre dagegen, ein Porträt von Paul Bocuse als Kochporträt zu titulieren, selbst wenn man dieses in der Zwischenzeit wohl als Typus etablieren könnte.



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lichen Bezug zur tradierten Autorentypologie Eduard Mörike und dessen Freund Wilhelm Hartlaub wiedergibt, kann in dem, wie sich die beiden gegenübersitzen, eine Vorstellung von ihrer Beziehung vermitteln: Mörike thront gelassen auf einem erkennbar aufwendig gedrechselten, repräsentativen Möbel, während sich der »kerzengerade«97 Hartlaub mit einem harten Thonet-Stuhl begnügen muss. Dass es sich aber bei einem der beiden um einen Autor handelt, ist anhand der Aufnahme nicht zu erkennen. Ebenso, um ein weiteres Beispiel zu nennen, porträtierte Georg Grosz 1925 seinen Freund Max Herrmann-Neisse ohne jeglichen Hinweis darauf, dass das in einem geblümten Sessel untergebrachte, ebenso bucklige wie eindrucksvolle Männlein ein Autor ist, während ihn Erich Büttner vier Jahre zuvor dezidiert als solchen festgehalten hatte, nämlich eingerahmt von Büchern und im Gestus melancholicus.98 Wie ein Autorenporträt definitorisch zu fassen wäre  – das ist ein äußerst weites Feld. Doch wo sich keine exakten Grenzen ziehen lassen, können Markierungen weiterhelfen, weshalb Michael Davidis schon 1989 eine entsprechende Ausstellung im Deutschen Literaturarchiv Marbach unter dem Titel Der photographierte Dichter kuratierte.99 Will man nicht, dass das Autorenporträt in »den allgemeinen Reigen der ›Leute von heute‹-Kategorie ein[rückt]«100 und damit 97 Hans-Ulrich Simon, Mörike in Porträts seiner Zeit, Stuttgart 2004, S.  100; die zugehörige Abb. s.  S. 99. Zur Interpretation der 1865 entstandenen Fotografie s. ebd. S. 96–100; anders als Simon meint, hält Hartlaub allerdings kein Buch in seiner Hand – im Gegensatz zu einer Variante dieser Aufnahme (Abb. ebd. S.  98). Eine weitere Aufnahme derselben Zeit aus demselben Atelier zeigt Mörike wiederum ohne Buch, während seine Frau neben ihm ein solches in ihren Händen hält (ebd. Abb. S. 102). 98 S. Joachim Heusinger von Waldegg, Kat. Georg Grosz. Porträt des Schriftstellers Max Herrmann-Neisse 1925, Mannheim 1979, Abb. o. S. sowie für das Porträt von Erich Büttner https://sammlung-online.stadtmuseum.de/Details/Index/167256 (Zugriff am 2. März 2018). 99 Während damals der Untertitel noch Schriftstellerportraits des 19. und 20. Jahrhunderts aus der Photographischen Sammlung des Schiller-Nationalmuseums und des Deutschen Literaturarchivs lautete (Marbacher Magazin 51, Marbach 1989), vertrat Michael Davidis zehn Jahre später in Bezug auf das 19. und damit auch das folgende Jahrhundert: »Das Dichterportrait als eigener, gesonderter Typus ist, wenn es als solcher überhaupt jemals existiert hat, in diesem Zeitraum jedenfalls nicht auszumachen.« (Zitiert nach Sandra Oster, Das Autorenfoto in Buch und Buchwerbung, S. 75). 100 Michael Diers, Der Autor ist im Bilde, in: Jahrbuch, S. 585. Diers zufolge umfasst das Autorenporträt, das er begrifflich schließlich mit dem zunächst behandelten, überindividuellen Autorenbild gleichsetzt, alles »vom allegorischen und anekdotischen Schreiberbild bis zur berufsspezifisch uncharakteristischen photographischen Großaufnahme« (ebd. S.  584). Das heißt, für Diers ist auch das sich auf die Wiedergabe der Physiognomie konzentrierende Porträt ein Autorenporträt, obgleich hier die zuvor entwickelten typologischen Charakteristika fehlen (ebd. S. 581–584). Auch Ulrike Vedder subsumiert in ihrem Beitrag Autorenporträt. Ikonographie und Inszenierung von Autorschaft (in: Kat. Das Gesicht. Bilder,

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auch Fotografien von Kafka mit Hund und Hansi Szokoll oder am Strand von Travemünde einbezieht101  – will man also nicht, dass das Autorenporträt, insbesondere als Autorenfotografie, kategorial ununterscheidbar wird vom Porträt jeder x-beliebigen Berühmtheit beim Einkaufen, auf Reisen oder am heimischen Herd,102 wäre jeweils und immer wieder aufs Neue zu fragen: Handelt es sich bei dem Porträt eines Autors um eine der vielen möglichen »Inszenierungen als Schreibender«103 und damit um einen Typus, der ohne die Geschichte des Autorenporträts nicht denkbar ist? Oder handelt es sich um repräsentative Darstellungen, die ausschließlich die Physiognomie »als Markenzeichen zur Geltung zu bringen« haben, wie man sie von Politikern, Wissenschaftlern oder Schauspielern kennt? Damit aber handelte es sich hier um nichts anderes als um biografische Zeugnisse, die nicht den Autor, sondern den Menschen dokumentieren – um je unterschiedliche Beispiele der Gattung Porträt also, jedoch nicht um einen spezifischen Typus des Autorenporträts. Deshalb ist Kafkas Fotografie, mit der 1927 in einem Prospekt des Kurt Wolff Verlags für seine Werke geworben wurde, ein Porträt des Autors, aber kein Autorenporträt. Friedrich Feigls Kafkaporträt, das kaum ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs für den Kunsthistoriker J. P. Hodin als paradigmatische Verkörperung eines literarischen Nihilisten entstanden ist, steht in der Darstellungstradition des sinnenden (melancholischen) Autors. Bekannt, wenn nicht berühmt, wurde die skizzenhafte Zeichnung zwar auch, weil man in ihr »the only portrait of Kafka in existence«104 sah, vor allem aber, weil man aufgrund der Widmung davon ausging, dass Feigl sie bei einer »privaten Lesung«105 aufs Blatt geworfen habe. Übersehen wurde dabei der ursprüngliche Entstehungszusammenhang unter dem Vorzeichen der Dekadenz.

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Medien, Formate, hg. von Sigrid Weigel, Göttingen 2017, S. 23–27) unter Autorenporträt sowohl den Typus als auch das ausschließlich physiognomische Darstellungsinteresse. Abb. in: Hartmut Binder, Kafkas Welt, S. 161, Nr. 265 und S. 417, Nr. 770. Letztlich bleibt in dieser Hinsicht auch für Sandra Osters kontextbasierte Definition des Autorenporträts (Das Autorenfoto in Buch und Buchwerbung) nicht nachvollziehbar, worin sich dieses, abgesehen von seinem »Paratext«, dann noch von den Porträts anderer Berühmtheiten unterscheidet. Diese und die folgende Zitatstelle: Karin Bedenig, »Es kommt darauf an, den Leuten sein Profil einzuprägen…«. Thomas Mann als Dichterdarsteller, in: Dichterdarsteller. Fallstudien zur biographischen Legende des Autors im 20. und 21. Jahrhundert, hg. von Robert Leucht und Magnus Wieland, Göttingen 2016, S.  85. Was Bedenig hier zu den »Foto-Porträts« schreibt, lässt sich verallgemeinern. Zum Verschwinden des »Wie, Wo und Was der Tätigkeit eines Schriftstellers« zugunsten des »Wer, demnach der Person des Autors« s. Michael Diers, Der Autor ist im Bilde, in: Jahrbuch, S. 573–580 (die Zitatstellen S. 573). So Hodin verkürzt zitiert in: The Jewish Chronicle vom 17. April 1964 (No. 4956, S. 36). Klaus Wagenbach, Bilder aus seinem Leben, S. 163.



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Ohne Widmung wäre dieses Porträt, das Feigl kaum treffsicherer hätte kommentieren können, nur halb so interessant: Mit einer Lesung des Kübelreiter, die im Februar 1917 stattgefunden haben muss und die verzweifelte Bitte eines Frierenden um ein wenig Kohle zum Ausgangspunkt hat,106 steht nicht nur der Autor selbst, sondern zugleich Kafkas bitterkalte Behausung in der Prager Alchimistengasse im Hungerwinter des Ersten Weltkriegs vor Augen. Diese Vorstellung wiederum entspricht dem zum Klischee verflachten Bild vom schwindsüchtigen Autor unabhängig davon, dass Kafkas Erkrankung erst im Spätsommer des Jahres 1917 zum Ausbruch kam. Nicht zuletzt gehört zur Strahlkraft der feiglschen Widmung, dass die Entstehung des Kübelreiter in eine von Kafkas produktivsten Phasen fällt, die ihn ein »imaginatives Feuerwerk ohnegleichen«107 hatte zünden lassen. Weil aber nun all das in der getuschten Gestalt nach dem Leben festgehalten schien, ist im ersten, 1966 erschienenen Bildband zu Franz Kafka unter lauter fotografischen Porträts des Autors dies eine gezeichnete – als einziges Autorenporträt – zu finden.108

106 Sabine Schindler, »Der Kübelreiter«, in: Franz Kafka. Romane und Erzählungen, hg. von Michael Müller, Stuttgart 1994, S. 233–252 (speziell S. 233–235), zum genaueren Zeitpunkt der Lesung s. Max Brod, Über Franz Kafka, S. 139. 107 Reiner Stach, Kafka. Die Jahre der Erkenntnis, S. 171. 108 Klaus Wagenbach, Kat. Franz Kafka 1883–1924. Manuskripte. Erstdrucke. Dokumente. Photographien, Berlin 1966, Abb. S. 89; Reproduktion ohne Widmung, aber mit dem Zusatz »Beim Vorlesen des ›Kübelreiter‹. Zeichnung von Friedrich Feigl«. In der Folge wurde das Porträt teilweise ohne Widmung, mitunter auch ohne Erwähnung des Kübelreiter-Bezugs reproduziert.

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ricarda huch und sophie von scheve: das marbacher porträt

Porträt der Ricarda Huch, 1903, Ölgemälde von Sophie v. Scheve (DLA Marbach)

Im Deutschen Literaturarchiv in Marbach hängt ein Porträt der Ricarda Huch, gemalt und signiert von Sophie von Scheve, 1903, ein Ölbild auf Leinwand, 90 × 112 cm. Das Bild blieb in der Familie von Ricarda Huch. 1968 kam es, zusammen mit dem literarischen Nachlass, aus den Händen ihrer Tochter Marietta Böhm geb. Ceconi (1899–1978) nach Marbach.

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Das Bild zeigt die Dichterin im Alter von 39 Jahren. Es vermittelt durch sanfte Farbigkeit und weiche Konturierung einen jungen, fast mädchenhaften Eindruck. Die Figur sitzt in einem Lehnstuhl, beugt sich weit nach rechts, stützt sich mit dem rechten Arm auf die Seitenlehne, so dass die ganze Person in Schräglage erscheint. Gekleidet ist sie in einen dunklen Rock mit schmaler Taille, die ausgeschnittene Bluse in einem warmen Goldton, weitgebauschte Ärmel, in rosa Inkarnat die Halspartie, das Gesicht und die rechte Hand, die eine duftige weiße Chrysantheme, ähnlich einer Federboa, an Kinn und Wange hält. Eine Kommode mit Vase und Blumenstrauß ist im rötlichen Hintergrund angedeutet. Aus allem spricht eine Atmosphäre von Intimität. Die Schräglage der Figur nach links wird farblich durch den dominanten Goldton rechts ausbalanciert. Mittelpunkt des Bildes, wenn auch zur Seite gerückt, ist der nach hinten gebogene Kopf der Dichterin. Ihr Blick aus halb geschlossenen Augen und mit hochgezogenen Augenbrauen ist nicht unfreundlich, aber distanziert, ja in vager Richtung herausfordernd. Sie spielt mit der Blume, als wollte sie sich dahinter zurückziehen. Ihr Blick ist aufmerksam und abwartend. Hinter dem eleganten modischen Auftritt vermutet man eine eigenwillige Person. Noch 1910 wird Ricarda Huch in einem Brief von Hanna Wolfskehl an das Ehepaar Verwey ähnlich beschrieben: … von ihrem Mann ist sie fort! Sie hat viel durchgemacht wie man an ihrem Gesicht sehen kann – aber über allem liegt ein mädchenhafter Zauber. Soviel Schicksal! Zwischen allen Schleiern aber das alte girrende Lachen, der schwebende Gang und die elegante Schlankheit und ein liebes Geplauder.1 Das Bild hat im innersten Kreis um Ricarda Huch allerdings auch missfallen. Marie Baum schreibt in ihrer Huch-Biographie, merklich distanziert, nach der Abreise von Sophie von Scheve »zeugte von ihrer Gegenwart noch ein Papagei, der als fremder Gast in Ricardas Wohnung zurückblieb, und ein Bildnis, das, da die Malerin Ricarda nur von der erotischen Seite aufgefaßt hatte, mich und andere Freunde verdroß«.2 Ein solcher Verdruss ist heute nur schwer zu verstehen. Sah Huchs engste Freundin, genannt »Bäumchen«, das Andenken ›ihrer Ricarda‹ verzerrt, spielte Eifersucht eine Rolle oder galt die Malerin wegen ihres »Liebhabers« als anstößig? Auch Huchs Ehemann Ermanno Ceconi hatte in dieser Richtung moralische Vorbehalte gegen »die Scheve«. Die Frage, wer jene Malerin war, führt zunächst in ein biographisches Dun­kel. Sophie von Scheve ist eine Unbekannte geblieben. Die Künstlerlexika verzeich1 2

Wolfskehl–Verwey. Die Dokumente ihrer Freundschaft. 1897–1946, hg. von Mea NijlandVerwey, Heidelberg 1968, S. 93. Brief aus München vom 10. 10. 1910. Marie Baum, Leuchtende Spur. Das Leben Ricarda Huchs, Tübingen 1950, S. 180.



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nen nur wenige Werke.3 In der reichen Literatur zur Schwabinger literarischen und malerischen Welt um 1900 blieb sie eine Randfigur. Die biographischen Werke zu Thomas Mann oder Katia Mann-Pringsheim nennen sie nicht. In den Tagebüchern von Katias Mutter Hedwig Pringsheim wird sie zwischen 1893 und 1912 zwar häufig erwähnt, aber gewissermaßen nur als ein schwacher Stern in einer Wolke anspruchsvoller Geselligkeit. Sie war eine enge Münchner Freundin von Huch; sie sahen sich oft, weshalb es nur wenige Briefe gibt. Die Bilder, Zeichnungen und Fotos von Sophie von Scheve scheinen fast ganz verschollen.4 Insofern kann es sich im Folgenden nur um einen Umriss ihres Lebens handeln. Sophie von Scheve stammte aus mecklenburgischem Adel. Ihr Großvater Theodor von Scheve (1786–1855) war Direktor der Justizkanzlei von MecklenburgStrelitz, Kammerherr und Majoratsherr. Das barocke Palais in Neustrelitz war der Stammsitz der Familie; es wurde zuletzt von der NSDAP als »Braunes Haus« genutzt und im Weltkrieg zerstört. Sophies Vater war der Schweriner Justizrat Hermann von Scheve (1819–1884), der in seinen letzten drei Lebensjahren als Präsident des Landgerichts Schwerin amtierte.5 Ihre Mutter Hedwig Agnes von Scheve, geb. von Stralendorff (1824–1901), war eine in Güstrow geborene Mecklenburgerin aus altem Adel. Geheiratet hatten sie 1852 in der heute nicht mehr existierenden Jakobi-Kirche in Rostock. Das Ehepaar hatte drei Töchter und zwei Söhne,6 Sophie war die älteste. Gleich nach der Geburt am 25. April 1855 wurde Sophie (Theodora Philippine Friederike Emilie) am 2. Mai 1855 von ihrem Vater für das evangelische Kloster und Damenstift Dobbertin angemeldet. Dazu waren der Adelsnachweis, deutsche Herkunft und die lutherische Taufe zu dokumentieren und das Einschreibgeld von hundert Talern zu zahlen. So geschah es unter der Nr.  1379. Dieses rasche

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Friedrich von Boetticher, Malerwerke des 19.  Jahrhunderts: Beitrag zur Kunstgeschichte. 2 Bände, Dresden 1891–1898, nennt folgende Werke »Schutzengel« (1888), »Abendsegen«, »Eierfrau« (1890), »Circe« und »S. Caecilia« (1897), »Holländerin« (1898). Bei Hans F. Schweers, Gemälde in deutschen Museen, München 1994, wird nur das Marbacher Porträt von Ricarda Huch genannt. Die Angaben bei Thieme-Becker und im Allgemeinen Künstlerlexikon (AKL) sind teils unrichtig, teils führen sie nicht weiter. Befragt wurden: Lenbachhaus (München), Sammlung Schack (München), Bayerische Staatsgemäldesammlungen (München), Zentralinstitut (München), Bröhan-Museum (Berlin), Museum (Wiesbaden), Frauen-Museum (Wiesbaden), Museum der bildenden Künste (Leipzig), Städelsches Kunstinstitut (Frankfurt), Kulturhistorisches Museum (Rostock), Auktionshaus Villa Grisebach (Berlin), alle mit negativem Ergebnis. Auch eine Umfrage unter den Namensträgern von Scheve führte zu nichts. 1885 blieb das Präsidentenamt unbesetzt. 1886–1892 folgte E. von Monroy. Sophie (1855–1925), Friedrich Theodor (1856–1879), Philippine (1857–1935?) verh. Frfr. v. Rodde, Hermann (1860), Marie (1863).

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Verfahren war üblich, um eine möglichst günstige Rangstelle für die spätere Aufnahme in das Damenstift zu sichern. Es handelte sich um die in adeligen Familien Norddeutschlands praktizierte Lebensversicherung der Töchter, die, wenn sie unverheiratet blieben, dort finanziell versorgt waren, geräumige Wohnungen bezogen und über Personal verfügten.7 Für Bürgerliche waren in Dobbertin erst seit 1737 drei Stellen vorgesehen. Grundlage der Einkünfte der Damen waren die sog. Hebungen, die das Klostergut erwirtschaftete. Als von Scheves Vater 1884 starb, war sie 29 Jahre alt. Ihre malerische Ausbildung erfuhr sie in Düsseldorf bei dem Baltendeutschen Eduard von Gebhardt (1838–1925), der seit 1873 als Professor an der Düsseldorfer Akademie ein beliebter Lehrer war. Sein Hauptgebiet war eine realistische und protestantische Variante christlicher Malerei.8 Von Düsseldorf wechselte von Scheve nach München, dem damals attraktivsten Ort für Malerinnen. Hier mischten sich akademische Kunst und Avantgarde, Kunstbetrieb und Kunstkommerz.9 »München leuchtete«, und »Jedes fünfte Haus läßt Atelierfensterscheiben in der Sonne blinken« – so skizzierte und karikierte Thomas Mann 1902 die damalige Szene.10 Er war übrigens 1894 als junges Dichtertalent etwas später als die zwanzig Jahre ältere Sophie von Scheve nach München-Schwabing gekommen, hatte 1897 mit den Buddenbrooks begonnen und den Roman 1900 beendet. Im Münchner Adressbuch finden wir Sophie von Scheve 1891/92 als »Baronesse«, wohnhaft zunächst Adalbertstraße 76/0.11 Gleichzeitig erscheint sie als ordentliches Mitglied im 1882 gegründeten Künstlerinnenverein München. Bis 1903/04 war sie dort aktiv, als Ausschussmitglied, Jurorin und Ersatz-Rechnungsrevisorin.12 1897 stellte sie im Münchner Glaspalast unter Nr. 1461 eine Circe und

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Hatte eine Familie des mecklenburgischen Adels mehrere Töchter, wurde die älteste in Dobbertin, die nächste in Malchow, die nächste in Ribnitz angemeldet. So geschah es auch mit den beiden Schwestern Philippine (*1857) und Marie von Scheve (*1863). 8 Heinrich Ernst Kromer: Eduard von Gebhardt, in: Die Rheinlande: Vierteljahrsschrift des Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein 1 (1900), S. 6–11. 9 Ab nach München. Künstlerinnen um 1900, hg. von Antonia Voit, Katalog der Ausstellung im Stadtmuseum München 2014. Auch Margarete Susman (1872–1966) wechselte von der Düsseldorfer Akademie nach München, wo sie mit George und Wolfskehl in Berührung kam; zu ihr Jürgen Egyptien, Margarete Susman und der George-Kreis. Persönliche Beziehungen, Dichtungstheorie und Weiblichkeitsentwurf, in: Frauen um Stefan George, hg. von Ute Oelmann und Ulrich Raulff, Göttingen 2010, S. 157–171, hier S. 158  f. 10 Thomas Mann, Gladius Dei, Die Erzählungen, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1967, S. 149. 11 Baronesse bzw. Freiin/Freifrau war sie nicht. Siehe (Gothaisches) Taschenbuch der Adeligen Häuser, Bd.  16 (1922), S.  768. Auch mit Angaben über ihr Alter gab sie sich locker, indem sie das Geburtsjahr 1869 in Umlauf setzte, sich also 14 Jahre jünger machte. 12 Yvette Deseyve, Der Künstlerinnenverein München e.V., München 2005.



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unter Nr.  1462 eine Heilige Cäcilie aus,13 also ein antikes und ein christliches Motiv. In den Jahren 1898 bis 1903 waren zwar keine Bilder von ihr im Glaspalast zu sehen, ebenso von 1905 bis 1913. Doch sie malte weiter. 1899 wurden mehrere Bilder in Wiesbaden ausgestellt.14 1900 zog sie in eine neue Wohnung in der Rottmannstraße 17, in ein Haus, das dem Maler Hugo Kauffmann (1844–1915) gehörte, der dort auch sein Atelier hatte. Dort wohnte sie auch noch 1907. Das Atelier mag so ausgesehen haben wie dasjenige der Malerin Lisaweta Iwanowna in einem »Rückgebäude der Schellingstraße«, das Thomas Mann in Tonio Kröger (1903) beschreibt: Ungehindert überflutete das goldige Licht des hellen Nachmittags die weitläufige Kahlheit des Ateliers, beschien freimütig den ein wenig schadhaften Fußboden, den rohen, mit Fläschchen, Tuben und Pinseln bedeckten Tisch unterm Fenster und die ungerahmten Studien an den untapezierten Wänden.15 Ricarda Huch beschreibt in »Unser Mannochen« die hübsche Wohnung von der älteren Art in der Rottmannstraße, mit überraschenden Gängen und Winkeln, eingerichtet mit Möbeln, die alt und kostbar, aber zum Teil sehr verschlissen waren. Das Ganze machte einen höchst behaglichen und vornehmen Eindruck, wenn es auch sehr unordentlich war. In diesem Raum malte sie mich in einer gelben Sammetbluse, die ihr gehörte, den Kopf auf die Seite geneigt, unzählige Zigaretten rauchend. Sie hat dieses Porträt immer für eines ihrer besten gehalten.16 Als Vorlage verwendete sie auch ein von ihr aufgenommenes Foto.17 Im Jahr darauf wurde das Bild unter der Katalognummer 1035 im Münchner Glaspalast ausgestellt. 13 Internationale Kunstausstellung im Königlichen Glaspalaste, Ausstellungskatalog, Mün­ chen 1897, Katalog. Das Bild wurde 1899 auf der Großen Berliner Kunstausstellung von 1899 gezeigt (Katalog Nr.  1043). Heute befindet es sich im Staatlichen Museum Schwerin (Inventar-Nr.  941), wohin es als Geschenk von Herrn »Lange«, München, 1898 gelangte. Möglicherweise ein Schreibversehen; denn es dürfte sich um den mit ihr befreundeten Verleger des Simplicissimus Albert Langen gehandelt haben. 14 Siehe in: Die Kunst für alle, 1899, S. 165 und Kunstchronik NF 10 (1988), S. 347. 15 Thomas Mann, Tonio Kröger (1903), Kap. 4. 16 Ricarda Huch, Erinnerungen an das eigene Leben, Taschenbuchausg., Frankfurt, Berlin und Wien 1982, S. 311. 17 Abbildung in Jutta Bendt und Karin Schmidgall, Ricarda Huch 1864–1947. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar, Marbach

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Der Münchner Künstlerinnenverein spaltete sich 1905, so dass es nun daneben auch einen Verband Münchner Künstlerinnen gab, dessen Vorsitzende die schweizerische Landschaftsmalerin Betty (Bertha) Nägeli (*1854) war.18 Die neue Gruppe präsentierte sich in der Berliner Kunsthandlung Fritz Gurlitt, Behrenstraße 29. Darüber las man in der Zeitschrift Die Kunst für alle: Eine eben begründete ›Verbindung bildender Künstlerinnen‹ veranstaltet ihre erste Ausstellung im Salon Fritz Gurlitt. Wer von dieser weiblichen Sezession erwartet hat, daß sie das festeingewurzelte Vorurteil oder Mißtrauen gegen die malenden Damen siegreich überwinden würde, wird angesichts des Gebotenen eine starke Enttäuschung erleben. Die Ausstellung starrt von mittelmäßigen Leistungen.… Die leicht zu erringenden Erfolge sind ihnen die liebsten, und daher übernehmen sie in der Regel skrupellos Anschauung und Malweise fertig von ihren Lehrern. Was könnte z.  B. S. von Scheve leisten, wenn ihr phantastischer Sinn und ihr eigenartiges Farbengefühl durch energische Selbstzucht zur Entwicklung gebracht würden. Sie ist offenbar eine Persönlichkeit, aber nicht als Malerin.19 Das war nicht gerade ermutigend. Dennoch arbeitete sie weiter in München, fotografierte und malte.20 1906 schrieb Ricarda Huch an ihren Vetter Richard »Eben hat Schevchen mich photographiert, sie braucht es für ein Bild«. Das hatte mit dem Porträt in Marbach nichts mehr zu tun. Vermutlich handelte es sich um eine Aktaufnahme, was Ricarda aber gegenüber Richard nicht aussprechen wollte.21 Die Malerin stellte 1906 auch weiter aus, so im Leipziger Kunstsalon Del Vecchio, der großen »Kgl. Sächsischen Hofkunsthandlung«. Die Ausstellung trug den Titel Werke Deutscher Malerinnen. In einer Rezension wird eine Landschaft »Am Ammersee« von Sophie von Scheve »besonders hervorgehoben«.22

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1994, S.  235 sowie bei Anne Gabrisch, In den Abgrund werf ich meine Seele. Die Liebesgeschichte von Ricarda und Richard Huch, Zürich 2000, S. 241. Yvette Deseyve, Der Künstlerinnenverein München e.V., S. 100. Die Kunst für alle 1905/1906, S. 282  ff., Hervorhebung im Original. Siehe zu den zeit­ge­nös­ si­schen Urteilen auch Katja Behling, Die Malweiber  – unerschrockene Künstlerinnen um 1900, München 2009. 1900 war durch Georg H. Emmerich (1870-1923) in München eine private Lehr- und Versuchsanstalt für Photographie gegründet worden. Emmerich betonte die Gleichrangigkeit von Malerei und Fotografie. Ab 1905 nahm seine Anstalt auch Frauen auf. Anne Gabrisch, In den Abgrund werf ich meine Seele, S. 241. Die Kunst für alle 22. Jg., 1906/1907, S. 365.



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Baronesse von Scheve bewegte sich offenbar mühelos in verschiedenen Milieus, in der wohlhabenden und kunstbeflissenen Oberschicht, aber auch in der Frauenbewegung,23 für die Huch Vorträge hielt, sowie im Schwabinger Kreis der »Kosmiker«. Zu letzteren gehörten näher oder ferner der mit Thomas Mann befreundete Friedrich Huch (1873–1913), Ricardas Vetter,24 ihr Neffe Roderich Huch, der dort als »Konstantin der Sonnenknabe« verehrt wurde,25 der Niederländer Albert Verwey (1865–1937), Karl Wolfskehl (1869–1948), Alfred Schuler (1865–1923), Oscar A. H. Schmitz (1873–1931), Friedrich Gundolf (1880–1931), Ludwig Klages (1872–1956) – und natürlich als Zentralfigur Stefan George (1868– 1933). In diesem bunten Zirkel ereignete sich 1904 der »Schwabinger Krach«, ausgelöst durch antisemitische Angriffe gegen Karl Wolfskehl. Auch Frauen spielten dabei eine wichtige Rolle, als »Musen«, Katalysatoren, selbständige Künstlerinnen oder als Streitobjekte.26 Hedwig Pringsheim (1855–1942), Grande Dame der Münchner intellektuellen Szene, traf sich im Dezember 1903 erstmals mit dem Ehepaar Wolfskehl, mit dem von Scheve befreundet war. Gegenseitige Einladungen zum Tee folgten. Sophie von Scheve machte Hedwig Pringsheim dann auch mit Stefan George bekannt – aber das war ein Zusammentreffen, das offenbar beiderseits misslang. Hedwig Pringsheim jedenfalls mokierte sich über die ihr »peinliche Gesellschaft; mit ihren gewollten u. gemachten Bohémien-Allüren, bei denen der Bourgeois an allen Ecken u. Enden hervorspitzt, dem falschen Pathos und dem Getu« (24. März 1904). Damit endete auch die Beziehung zwischen den Pringsheims und den treu zu George haltenden Wolfskehls.27 Auch Huch war kritisch:

23 1899 bis 1904 ist sie Mitglied in der »Gesellschaft zur Förderung geistiger Interessen der Frau«, bald umbenannt in Verein für Fraueninteressen, e.V., bis 1912 geleitet von Ika Freu­ den­berg. 24 Friedrich Huch, in: Neue Deutsche Biographie Bd. 9, Berlin 1972, S. 704. Zu ihm ein­ge­hen­ der Peter de Mendelssohn, Der Zauberer: das Leben des deutschen Schriftstellers Tho­mas Mann, Erster Teil 1875–1918, Frankfurt a. M. 1975, S. 353–357. Siehe auch Viktor Mann, Wir waren fünf. Bildnis der Familie Mann, Berlin 1962 (Neuauflage Frankfurt a. M. 1976) im Kapitel »Freund Fritz vom Ungererbad«. 25 Franziska Gräfin zu Reventlow, Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil, München 1913, Neuauflage Wiesbaden 2014; Roderich Huch, Alfred Schuler, Ludwig Klages und Stefan George. Erinnerungen an Kreise und Krisen der Jahrhundertwende in München-Schwabing, Amsterdam 1973. 26 Siehe Ute Oelmann und Ulrich Raulff, Frauen um Stefan George. 27 Hedwig Pringsheim, Tagebücher 1898–1904, hg. von Cristina Herbst, Bd. 3, Göttingen 2016, S. 33. – Auch ihr Schwiegersohn Thomas Mann fühlt sich von dem Zirkel abgestoßen, wie seine Erzählung Beim Propheten (1904) belegt. Der dort porträtierte Ludwig Derleth (unten Anm. 31) taucht im Dr. Faustus als Daniel zur Höhe wieder auf.

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Mir widerstand die Geheimnistuerei des Kreises, die Absonderung von der Menge durch ein feierliches, weihevolles Verhalten, das gelegentlich über ein ganz banales hessisches oder frankfurterisches Hausmannsbenehmen übergestülpt wurde. Mir mißfielen die jungen Leute, die sich durch geziertes, aufgeblasenes Betragen als Georgejünger auswiesen, und es mißfiel mir sehr, daß George sich auf geschmacklose Art wie ein Hohepriester oder Halbgott huldigen ließ.28 Dass Huchs Ehemann Ceconi auf einem Faschingsfest sich zu dem Scherz animieren ließ, parallel zu Stefan George als »Dante« aufzutreten, war natürlich eine Kränkung des Meisters.29 Sophie von Scheve dürfte darüber zusammen mit Ricarda Huch gelacht haben; denn Ceconi machte sich auch sonst über den »Moister« lustig. Andererseits berichtete von Scheve, vermittelt durch Wolfskehl, dem Meister recht vertraut, sie liege »seit gestern mit Influenza zu Bett, darf morgen wieder auf«, aber es sei noch unklar, wann sie wieder werde arbeiten können. Und sie trauere um ihren Hund: »jeder der selbst einen Hund hat, weiß wie ich trauere«.30 Im Stadtpalais Pringsheim in der Arcisstraße 12 war die Malerin von 1893 bis 1925 Dauergast, außerdem war sie Mitreisende nach Paris und Venedig. Hedwig Pringsheim besuchte allein oder zusammen mit Ricarda Huch ihr Atelier. Es ging hin und her, mit wechselnden Begleitpersonen.31 Die von Cristina Herbst seit Jahren mit größter Sorgfalt edierten und kommentierten Tagebücher von Hedwig Pringsheim zeigen eine großbürgerliche Besuchs- und Repräsentationskultur, in der Kunstgenuss sich mit Konzerten, mit Atelier- und Galeriebesuchen, GalaDiners, sonntäglichen Teegesellschaften, Ausritten in den Englischen Garten, Fahrradfahrten und anderem in dichter Folge abwechseln. Alle bekannten Namen jener Zeit finden sich dort ein. Sophie von Scheve tauchte erstmals am 26.  Februar 1893 auf, zusammen mit einer Miss Conghtrie. Schon am nächsten Tag nehmen die beiden Damen an einem von Pringsheims gegebenem Essen mit 110 Personen teil. Im Dezember 1898 gibt es drei Besuche und Teestunden mit »Baronin Scheve«, die am 19.  Februar 1899 dann »Frl. v. Scheve« genannt

28 Ricarda Huch, Erinnerungen an das eigene Leben, Taschenbuchausg. Frankfurt, Berlin und Wien 1982, S. 386. 29 Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009, S. 248 nennt »solche Spiele…Teile der Schwabinger Kultur, sofern man sie nicht dem verbreiteten Histrionentum des Kaiserreiches zuschreiben will«. 30 Eine über Wolfskehl an George vermittelte Postkarte vom 27. 2. 1905, frdl. Hinweis von Dr. Birgit Wägenbaur, Stefan George Archiv, Württembergische Landesbibliothek Stuttgart. 31 Plastisch beschrieben bei Peter de Mendelssohn, Der Zauberer, S. 557.



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wird, sodann während des ganzen Jahres nur »Scheve«. Im März, April und Dezember 1900 findet man erneut »Frl. v. Scheve«, nun auch zusammen mit dem Ehepaar Ceconi-Huch; der Zahnarzt Ermanno Ceconi ist übrigens inzwischen »Leibdentist der gesamten Sippe Mann«.32 Im Mai 1901 kommt wieder »Baronin Scheve« zum Tee. Bei einem Besuch in Paris im März 1903 trifft man den dort seit 1899 im »Exil« prachtvoll wohnenden Verleger Albert Langen mit seiner schwedischen Frau Dagny Björnson-Langen und »die Scheve«. Mit ihr dinieren sie kurz darauf im »Grand Guignol«, am 4. April 1903 wieder bei Albert Langen, wohl in dessen neuer Wohnung 187, Rue de la Pompe. Zurück in München folgen wieder »Thees« mit von Scheve und Besuche bei ihr, aber auch zu Huchs »Jour«. 1904 dann Besuche, bei denen »Bierbaums, Mann, Gulbranson, Scheve, Maurice etc.« anwesend sind, ebenso die gewohnten Teestunden 1904 und 1905 bei und mit »Scheve«. Am 12. April 1907 geht Hedwig Pringsheim in Venedig in den »giardini publici« spazieren und notiert, sie habe »Scheve mit ihrem amant« getroffen. Am 21.  Dezember 1910 sieht sie sich wieder mit »Baronin Scheve«, ebenso am 18. Oktober 1912. Zwei Tage später »Besuch bei Scheve-Ricarda Huch«, und am folgenden Tag werden »die Scheve u. (Ernst v.) Bassermann-Jordan«, der Kunsthistoriker und Spezialist für Uhren, zu Tisch geladen. Aber Sophie von Scheve bleibt nicht nur den Pringsheims weiter verbunden, sondern ist auch, unbeirrt vom »Schwabinger Krach«, befreundet mit den Wolfskehls, insbesondere in den Jahren 1903 bis 1915. Hanna Wolfskehl (1878–1946) schreibt am 20. November 1906 an das Ehepaar Verwey: »Die Scheve ist wieder besessen von ihrer Malerei und wohnt in Ricardas verlassenem Haus«, also in Grünwald. Am 12.  Januar 1909 berichtet sie an Stefan George nach Bingen, sie habe einen ergreifenden Brief von Scheve aus Taormina erhalten, der sich auf die Erdbebenkatastrophe von Messina und in Kalabrien bezog.33 Dieser Brief vom 5. Januar, heute im Nachlass von Wolfskehl in Marbach, berichtet in der Tat vom Unglück und den tausenden von Opfern, vom freiwilligen Samariterdienst, in den alle »Fremden« sofort eingetreten seien. Sie wolle sich freilich nicht der arbeitenden Bevölkerung widmen, sondern den Wohlhabenderen, denen das »Comité« nichts gibt und denen es besonders schwer werde, sich eine neue Existenz aufzubauen… »nur für diese möchten wir besonders sorgen«, eben für »die vornehmeren Familien«; denn »das Volk wird immer Arbeit finden«, wie die Baronesse mit großer Naivität sagt. So bittet sie um Geldsammlungen,

32 Klaus Harpprecht, Thomas Mann. Eine Biographie, Reinbek 1995, S. 143. 33 Von Menschen und Mächten. Stefan George – Karl und Hanna Wolfskehl. Der Briefwechsel 1892–1933, hg. von Birgit Wägenbaur, München 2015, Brief Nr.  626. Das Erdbeben vom 28. 12. 1908 verwüstete die ganze Region und kostete 200.000 Tote.

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um Benefizveranstaltungen von »Bernus Schattenspielen«,34 »die Not ist zu furchtbar«. 1910 folgt ein weiterer Brief von Hanna Wofskehl an die Verweys: Hier [in München, Anm. d. Verf.] war die erste Person die lang entbehrte Baronin Scheve (die Sie ja kennen vom Waldhäuschen und vom Erzählen) mit ihrem Freund und Grafen. Die Scheve sah strahlend aus wie eine Herzogin. Die Haare waren noch weißer, die Haut noch jünger und die Augen voll von Welt! Als die Anna Derleth35 hinzukam sagte sie: Wie ein Pfirsichspalier sehen Sie aus! Und damit wollte sie wohl was Schönes sagen, die Baronin merkte aber das Strotzen heraus und bekreuzigte sich gleich. Es war ein schöner Münchener Tag – herrlich confus!36 Im Januar 1911 wohnte sie bei den Wolfskehls in der Römerstraße 16.37 Der Antisemitismus, wie er etwa bei dem in Schwabing (»Wahnmoching«) so dominanten Ludwig Klages immer stärker und wahnhaft zutage trat, stieß sie ab. Auch die konvulsivischen weltanschaulich-ästhetischen Auseinandersetzungen der »Kosmiker« dürften ihr als Malerin eher ferngelegen haben. Der sie begleitende »Freund und Graf« galt als Italiener mit dem polnischen Namen »Graf Walewski, Waletsky oder Waletzki«,38 aber er war vielleicht weder Italiener noch Graf. Man nahm es nicht so genau. Er war Maler, Innenarchitekt, Modemacher, eine Art »Kulturgigolo«.39 Hedwig Pringsheim schreibt am 34 Der Schriftsteller Alexander von Bernus (1880–1965) lebte damals in München, befreundet mit Ricarda Huch, dem Ehepaar Wolfskehl, Stefan George und vielen anderen. Von 1907 bis 1912 betrieb er in der Ainmillerstraße 32 ein kleines Theater, die »Schwabinger Schattenspiele«. Siehe Alexander von Bernus, Meine Begegnung mit Karl Wolfskehl, in: Die Wandlung 3, Heidelberg 1948, S. 416. 35 Anna Maria Derleth (1874–1955), die ihren Bruder Ludwig Derleth (1870–1948) umsorgte. In München wohnten beide Marienplatz 2. Ludwig Derleth gehörte im weiteren Sinn zum George-Kreis, war Lyriker, Autor von Die Proklamationen (Leipzig, Insel, 1904), selbster­nann­ ter Prophet, der später noch Der fränkische Koran schrieb. Siehe Ludwig Derleth, Gedenk­ buch, Amsterdam 1958; Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch, hg. von Achim Aurn­ hammer, Wolfgang Braungart, Stefan Breuer und Ute Oelmann, Bd. 1, Berlin 2016, S. 1338. 36 Mea Nijland-Verwey, Wolfskehl–Verwey, S. 93. 37 Mea Nijland-Verwey, Wolfskehl–Verwey, S. 45 und S. 96. 38 Erwähnt auch bei Mea Nijland-Verwey, Wolfskehl–Verwey sowie bei Birgit Wägenbaur, Von Menschen und Mächten, Brief 579 vom 26. 11. 1906: »… der junge Graf mit der jugendlichen Baronin sind uns weiter lieb & teuer«. Sophie von Scheve verwendet in ihren Briefen die Schreibweise Waletsky. 39 Anne Gabrisch, In den Abgrund werf ich meine Seele, S.  215. Auch Thomas Mann in der Erzählung Beim Propheten erwähnt eingangs »der polnische Maler und das schmale Mäd­ chen, das mit ihm lebte«.



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22. Oktober 1912 in ihr Tagebuch, sie habe bei Nebel und Regen Brackels Kunstsalon aufgesucht und »die seltsamen Bilder von Scheves’s Walecky angesehen«.40 Die Münchner Neuesten Nachrichten berichteten allerdings sehr positiv über die »wissenschaftlich gesehenen südlichen Landschaften« von Lengnik-Walecky, er male »eigentlich nicht Landschaft, sondern Terrain-Gebirge und Küstengebiete, die er mit solcher verständnisvollen Genauigkeit durchmodelliert, daß ein Geologe nach seinen Bildern arbeiten könnte«.41 Vermutlich handelte es sich um den im Münchner Adressbuch von 1892 als einzigen dieses Namens verzeichneten Prof. Leon Peter Walecki, Hochbrückenstr. 16. Wenn Sophie von Scheve mit ihm auftrat, dann wurde dies im Künstlermilieu jener Jahre als offene Beziehung akzeptiert. Nur Ermanno Ceconi, der notorisch eifersüchtige Ehemann von Ricarda Huch, sah die Freundschaft zwischen seiner Frau und der Malerin mit Zurückhaltung wegen deren angeblicher Laxheit in Fragen der Moral.42 Auch die eingangs zitierte Marie Baum dachte wohl so. Aber von Scheve hielt zu ihrem Grafen. Noch nach 1906 richtete sie an »[m]ein liebes Wolfskehlchen« (Hanna W.), die Bitte, diese möge doch »an Ihre Freunde Lepzius oder Lepsius, in Berlin schreiben«, in der Galerie Gurlitt seien Waletzkys Bilder ausgestellt, die Lepsius’ möchten sie doch bitte anschauen und auch andere dazu animieren. Es interessiere sie auch »persönlich« das Urteil über die Bilder. »Heut zu Tage, wo sogar wir alten Freunde mit unseren Kunstansichten auf einander platzen, interessiert mich ein Ausspruch von Lepsius sehr.« (Briefnachlass Wolfskehl, Marbach). Eine Verwandte, Luise von Scheve-Kosboth, geboren 1859 in Neiße und gestorben vor 1936, war ebenfalls Malerin und wohnte in Schwabing.43 Auch sie war Mitglied des Künstlerinnenvereins München e. V. von 1913/14 bis 1919/20. Ob sie Vertraute oder eher Konkurrentin von Sophie von Scheve war, wissen wir nicht. Luise von Scheve-Kosboth stellte jedenfalls mehr Bilder aus als von Scheve, etwa im Münchner Glaspalast 1898 eine Holländerin, auf der Großen Berliner Kunstausstellung 1899 ein Pastell Damenbildnis, erneut im Münchner Glaspalast 1900 eine Dorfstraße, Westpreußen und 1902 Brandung an der Küste von Cornwall, 1903 bei der Zürcher Kunstgesellschaft ein Ölgemälde Meditation und eine Zeichnung Junge Holländerin.44 Weder im Kreis um die Pringsheims noch bei den »Kosmikern« scheint sie aufgetaucht zu sein. 40 Es handelte sich um die »Moderne Kunsthandlung« des Sängers und Galeristen Franz Joseph Brakl (1854–1935), Goethestr. 64, später Brakls Kunsthaus, Beethovenplatz 1. 41 Zitiert nach Hedwig Pringsheim, Tagebücher 1911–1916, hg. von Cristina Herbst, Bd.  5, Göttingen 2016, S. 238, Anm. 183. 42 Anne Gabrisch, In den Abgrund werf ich meine Seele, S. 241. 43 Zunächst Amalienstr. 4, dann (1902) Theresienstr. 136. 44 Hans Wolfgang Singer, Allgemeines Künstlerlexikon, Bd.  6 (1922); Thieme-Becker, XXX (S. 1936).

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Der in Marbach verwahrte Briefwechsel zwischen Sophie von Scheve und Ricarda Huch45 reicht von 1905 bis 1924. Seinen Schwerpunkt hat er in Briefen von 1905 aus Italien (Venedig, Florenz, Taormina), aber auch in solchen von 1906 aus München (Großhesselohe, Grünwald) in die Schweiz, wohin Huch nach ihrer Trennung von Ermanno Ceconi gezogen war.46 Es sind Briefe zwischen Freundinnen, in denen Reisen und Erinnerungen, Geld- und Wohnungsprobleme, aber auch die Beziehung zu »W«(aletzky) ihren Platz finden. Die Briefe von Ricarda Huch kennen wir nicht, aber Sophie von Scheve lässt häufig Klagen hören, sie schreibe zu wenig oder zu kurz. Wenn man weiß, dass auch Ricarda Huch in ihren Ehen mit Ermanno Ceconi und Richard Huch wahre Dramen zu bewältigen hatte, dass sie oft ihren Ort wechselte und kein festes Einkommen hatte, wundert das nicht. Die Briefe zeigen eine ganz auf sich gestellte Frau, die sich ohne familiären Rückhalt behaupten musste. »Glaube mir«, schreibt sie 1905 aus Venedig an Huch, »leicht ist mein Leben nicht, ich hätte nie geglaubt, dass man so im Leben kämpfen muss.« Sie will frei sein, um malen zu können, ist aber gebunden an jenen Waletsky, der sie festhält und auch zu brauchen scheint. Sie wünschte sich, Ricarda Huch noch einmal zu malen, das wäre ein Genuss für sie, »denn ich fürchte, die Künstlerin geht ganz caput in mir«. Kurz darauf in einem Brief aus Florenz über Waletsky, es sei ihr klar geworden, dass »ich einen vollständig innerlich kranken Menschen vor mir habe, der sich gewissermaßen an meine gesunde Natur instinctiv anklammert«. Aber sie kommt nicht los von ihm, quält sich, will dennoch mit ihm so lange wie möglich Huchs Haus in Grünwald bewohnen, bevor sie mit Waletsky wieder nach Italien geht, weil die Münchner Wohnung gekündigt wurde. Als Trost stellt sie sich das Bild Ricarda Huchs, von dem hier die Rede ist, in ihrem Zimmer auf und fährt fort: »Was sagst Du nur, dass wir noch immer hier sind? Es ist aber solch ein herrlicher Herbst dies Jahr u. wir sind so unendlich gerne hier, dass uns der Gedanke fort zu gehen, gar noch nicht kommt«.47 1907 überlegt sie, das Grünwalder Haus auf Dauer zu mieten, aber es wird nichts daraus. Offenbar hat Waletsky auch Depressionen, muss zudem, selbst mittellos, angeblich einen Freund unterstützen, der im Sanatorium in Davos liegt. Von Venedig aus erklärt sie, München ganz verlassen zu wollen. Dann zieht sie mit Waletsky nach Taormina auf Sizilien, obwohl sie brieflich schon im Juli 1906 ihre Unzufriedenheit über das Zusammenleben mit ihm gebeichtet hatte. Auch während des Erdbebens von Messina ist er bei ihr und lässt Huch grüßen. Die Briefe von 1908 und 1909 gehen nun nach Braunschweig, wo Ricarda Huch seit 45 DLA (Deutsches Literaturarchiv Marbach), A:Huch, Sign. 68.2035,1–18 und 68.2035, 19–28. 46 Anne Gabrisch, In den Abgrund werf ich meine Seele, S. 245  ff. 47 Brief Sophie von Scheve an Ricarda Huch vom 24. 11. 1906, DLA, A:Huch, Sign. 68.2015/12.



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Juli 1907 als Ehefrau ihres Vetters Richard zeitweise lebt. 1912 wird Huchs zweite Ehe geschieden. Sie zieht dann wieder in ihr Haus in Grünwald. 1911 kehrt auch von Scheve noch einmal nach München zurück. Eine Wohnung hat sie nicht mehr, aber das Ehepaar Wolfskehl bietet ihr Unterkunft. Waletsky ist am Ende aus der Korrespondenz und wohl auch aus ihrem Leben verschwunden. Der einst so vertraute Briefwechsel mit Ricarda Huch bricht ab. Dann finden wir von Scheve etwa seit 1912 auf Malta. Von dort schreibt sie Postkarten, wie etwa Hedwig Pringsheim am 27. November 1912 notiert.48 Dass sie noch malt, ist eher unwahrscheinlich; denn auch früher klagte sie oft über Krankheit und äußerte Zweifel, ob ihr wieder etwas gelingen könne. Immerhin: In einem Brief aus Taormina vom 29.  Mai 1908 bittet sie Hanna Wolfskehl um Farben der Fa. Brugger in der Münchner Theatinerstraße, weil die Qualität der in Sizilien erhältlichen Farben sie nicht befriedige und Teile einer Sendung gestohlen worden seien. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verändert alles. Der Malerin droht in der britischen Kronkolonie Malta entweder Internierung oder Ausweisung. Sie reist sofort ab und aktiviert noch im Herbst 1914 ihre Anwartschaft als Stiftsdame im Kloster Dobbertin. Das war lange geplant – und von ihr gefürchtet worden. Marie Baum schrieb 1950 mit deutlicher Distanz und den Namen verhüllend: Die einzige von der Bohème – oder Schwabing – geprägte unter diesen Malerinnen war eine Baronin X., und gerade hier wollte es der Zufall, daß ihre Alterssicherung aus einem Freiplatz in einem der norddeutschen Klöster bestand, die seit der Reformation der Versorgung adeliger Fräulein dienten. Die Erörterungen, wann sie die herrliche Freizügigkeit ihres Daseins aufgeben und aus Mangel an Einkünften in die Verbannung gehen müsse, nahmen in ihren Gesprächen breiten Raum ein.49 Am 23. November 1915 zog sie offiziell in das Kloster ein und bekam die Wohnung der am 21. August 1914 verstorbenen Priorin Melanie von Hobe.50 So war sie nun »Conventualin«, eventuell noch im Wartestand. Sie hatte sich unter der Domina Gräfin von Bassewitz und der Priorin Frau von dem Knesebeck in den Rhythmus des Stifts einzufügen, nicht anders als ihre vielen Vorgängerinnen, von denen wohl nur die von Theodor Fontane in den Wanderungen durch die Mark Brandenburg liebevoll porträtierte Mathilde von Rohr (1810–1889) eine gewisse literarische Berühmtheit erlangte. 48 Hedwig Pringsheim, Tagebücher 1911–1916, S. 248. 49 Marie Baum, Leuchtende Spur, S. 179  f. 50 Freundliche Auskunft von Dipl.-Ing. Horst Alsleben, Schwerin.

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Während des Weltkriegs und erst recht danach wurden die Lebensumstände zwar bescheidener, aber es war doch das alte Landleben, fern vom Kriegsschauplatz, in jenem vorrevolutionären Mecklenburg, in dem Ritterschaft und Landschaft das Leben bestimmten und die führenden Kreise des kleinen Landes gewissermaßen naturhaft Monarchisten waren. Weder die konstitutionelle Monarchie noch gar die parlamentarische Demokratie waren hier angekommen. Seit 1897 herrschte Großherzog Friedrich Franz IV. (1882–1945), der 1901 mündig geworden war. Dass er am 14. November 1918 abdanken sollte, ahnten weder er selbst noch die Damen im Kloster Dobbertin. Nach Ausbruch der Revolution in Berlin trat im Januar 1919 die Nationalversammlung in Weimar zusammen. In Dobbertin mag davon wenig zu spüren gewesen sein. Umso konkreter war die schlechte Versorgungslage. Lebensmittel mussten rationiert werden. 1916 hatte die Kartoffelfäule die Ernte dramatisch reduziert. Im Winter 1916/17 wurden Steckrüben gegessen. Im Frühjahr und im Herbst 1918 wütete die Spanische Grippe in zwei Wellen, eine dritte folgte 1919. Im Klosterbetrieb Dobbertin war noch Holz zum Heizen da, aber von Streitigkeiten um Rehkeulen konnte nicht mehr die Rede sein.51 Die »Diener« oder Schauerleute hielten den äußeren Betrieb aufrecht, während die »Dienerinnen« sich den häuslichen Arbeiten widmeten. In Mecklenburg war die Revolution besonders einschneidend. Das notleidende Agrarland war ein vormoderner Ständestaat geblieben. Nun musste erstmals ein moderner Staat aufgebaut werden.52 Bis 1920 regierte eine Koalition aus Demokratischer Partei (DDP) und Sozialdemokraten (SPD).53 In der Verwaltung häuften sich die Probleme, etwa die Übertragung des Bodeneigentums der Ritterschaft, die Auflösung der Familienfideikommisse, das Ende des Lehnrechts, die Übernahme ritterschaftlicher und landschaftlicher Beamter in den Staatsdienst, die Trennung von Staat und Kirche, die Verstaatlichung der Polizei. Die Damen in Dobbertin werden dies alles nur kopfschüttelnd und mit Distanz zur Kenntnis genommen haben, vor allem die Beseitigung der Vorrechte des Adels. Sophie von Scheve schreibt am 20.  November 1918 noch einmal an Ricarda Huch, von der sie gehört hat, sie sei mit ihrer Tochter aus der Schweiz nach Deutschland zurückgekehrt, obwohl es doch, wie von Scheve bemerkt, in der Schweiz bessere Verpflegung gegeben haben müsse. Nun aber möchte von 51 Horst Alsleben, Zäher Streit um Wildlieferungen beigelegt: jede Konventualin des Klosters Dobbertin erhielt 250 Reichsmark, in: Schweriner Volkszeitung 59 (2004) 253, S. 19. 52 Thomas Klein, Freistaat Mecklenburg-Schwerin, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. IV, Stuttgart 1985, S. 613–619. 53 Siehe Helge zur Wieden, Die mecklenburgischen Regierungen und Minister 1918–1952, Köln u.  a. 1978.



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Scheve ein Lebensmittelpaket nach München schicken, deklariert als Buch, damit es nicht geplündert werde. Dann fährt sie fort: Was denkst Du nun von diesem allen, ein Volk, das so gesiegt, verliert den Krieg, ist doch unverantwortlich. Wenn es nun nur keinen Bürgerkrieg noch giebt, dann mag ja manches besser als früher werden. Es ist hier auch nicht ruhig, die Klöster sind schon aufgehoben u. werde ich wohl ein 2tes mal ausgewiesen;54 doch weiss man noch nichts Genaues. Die Bevölkerung der Nachbarorte ist sehr gegen uns, so dass es nicht gerade gemütlich ist. Was Mano jetzt wohl sagt, den Italienern, so gerne ich sie mag, gönne ich diesen schamlosen Sieg nicht. Sei mit Bussi innigst umarmt von Deinem Schevchen.55 Die materiellen Probleme der Konventualinnen wurden drängender. Schon durch Bekanntmachung vom 18.  November 191856 unterstellte die neue Staatsregierung die Vermögen ehemaliger Landesklöster und der früheren Stände ihrer Verwaltung. Die Verfassung von Mecklenburg-Schwerin vom 17. Mai 192057 bestätigte dies. Zwar »gewährleistete« sie in § 17 Abs. 7 kirchliche »Anstalten, Stiftungen und sonstige Vermögen«. Aber zugleich wurden die Landesklöster Dobbertin, Malchow und Ribnitz sowie das Kloster zum Heiligen Kreuz in Rostock aufgehoben. Ihr Vermögen ging in den Staatshaushalt über.58 Dobbertin war ein 1238 gegründetes Zisterzienserinnenkloster, das 1556 evangelisch geworden war. Nun wurden die mecklenburgischen Klöster weltliche Versorgungsanstalten des öffentlichen Rechts. Das Einführungsgesetz zur Verfassung vom 17.  Mai 192059 sagte unmissverständlich: »Alle vermeintlichen Ansprüche auf Verwaltung und Genuß des Vermögens der Landesklöster Dobbertin, Malchow und Ribnitz und des Klosters zum Heiligen Kreuz in Rostock sind ausgeschlossen« – »Entschädigung wegen Entziehung solcher Ansprüche wird nicht gewährt«.60 Die im Kloster 54 55 56 57 58

Vermutlich auf Malta im August 1914 bezogen. DLA, A:Huch, Sign. 68.2035, 22. Regierungsblatt 1918 II, S. 1525. Regierungsblatt 1920, S. 653–671. §  75 Verf.  – Mecklenburg-Strelitz prozessierte dagegen vor dem Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich, weil es nicht beteiligt worden war. Der Staatsgerichtshof wies dies zurück; denn das Mitbestimmungsrecht von Mecklenburg-Strelitz sei »durch die Revolution erloschen.« Da die Landesklöster auf dem Territorium von Mecklenburg-Schwerin lagen, könne der neue Staat allein über deren Zukunft entscheiden (Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen, Bd. 114, 1*). 59 Gesetz über Einführung der Mecklenburg-Schwerinschen Verfassung mit Übergangsbestimmungen vom 17. Mai 1920, Regierungsblatt 1920, S. 671–679. 60 Ebd., Art. 6 Abs. 1, 2.

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wohnenden Damen erhielten zwar weiter ihre Gelder, »Hebungen« genannt (250 Taler, halbe Hebung 125 Taler), aber es gab kein Aufrücken von Anwärterinnen mehr. Die im Gesetz so genannten »landschaftlichen Jungfrauen«, die von der Landschaft zur Hälfte unterhalten wurden, behielten ihren Anspruch, aber »unter Vorbehalt des Widerrufs, bis ihre Hebungsberechtigung erlischt«. Wer nur eine Anwartschaft auf Aufnahme hatte, konnte allenfalls die von den Familien gezahlten Einschreibgelder verzinst zurückerhalten. Das betraf 16 Damen. Naturalleistungen gab es weiter, vorbehaltlich einer gesetzlichen Ablösung. Ein Landtagsausschuss sollte Härten dieser Regelung ausgleichen. Sophie von Scheve jedenfalls gehörte ausweislich der Eintragung im mecklenburg-schwerinschen Staatskalender von 1914 zu den Damen, die bereits ihre vollen »Hebungen« erhielten, sie also nach 1920 behalten konnten.61 Die Stiftsdamen protestierten in einer Eingabe vom 25. August 1920, sie wollten auch ihre Rechte auf Dienstleistungen nicht schmälern lassen, »denn Diener und Schauerarbeiter sind für uns, zum größten Teil sehr alten Damen, eine sehr große, nicht zu ersetzende Hilfe, so beantragen wir, daß an den bestehenden Verhältnissen nichts geändert werden möge«. Nach der Domina Gräfin von Bassewitz und der Priorin Julie von dem Knesebeck hatten alle zwölf Damen unterschrieben,62 auch Sophie von Scheve. Am 8. August 1924 gratuliert von Scheve ›ihrer Ricarda‹ von Dobbertin aus mit großer Freude zu den Ehrungen, die ihre Freundin zum 60. Geburtstag erfahren hat, fährt aber fort, die Geldverhältnisse seien so miserabel »daß man sich kein Buch kaufen kann, was ich sehr entbehre«. Sie bittet deshalb auch Huch um deren neue Publikationen und klagt über Einsamkeit. Ein letztes Mal reist von Scheve vom Kloster Dobbertin in das geliebte München. Hedwig Pringsheim notiert unter dem 15. Januar 1925, es sei »sehr kalt« und sie sei »um 7 mit Alfred zu Kaula’s, wo es bei vorzüglicher Aufnahme mit Lietzmann’s, Munckers u. Baronin Scheve sehr nett und gemütlich war«.63 Sieben Tage später, am 22. Januar, stirbt Sophie von Scheve in Dobbertin als Siebzigjährige, vielleicht in der Folge einer Lungenentzündung in der Kälte Münchens oder auf der Zugfahrt nach Hause. Die letzte Nachricht lautet, sie sei am 26. Januar 1925 auf dem Klosterfriedhof Dobbertin beigesetzt worden. Pastor Karl Weinreben (1867–1935) hielt den Gottesdienst 61 Staatskalender 1914, Nr. 1370. Frdl. Mitteilung von Herrn Horst Alsleben, Schwerin. 62 A.v. Bassewitz, Domina; J. von dem Knesebeck, Priorin; Ottilie von Restorff; E. v. Maltzan; L. v. Voss; Ina v. Bülow I; B. v. Quitzow; Gräfin Blücher; von Holstein; von Oertzen; S. von Scheve; L. v. Heyden, W. Langfeld; Freiin von Hammerstein. 63 Hedwig Pringsheim, Tagebücher (1923–1928), hg. von Cristina Herbst, Bd. 7, Göttingen 2018, Eintrag vom 15.  Januar 1925. »Kaula’s« waren eine jüdische Münchner Bankiersfamilie, Hans Lietzmann (1872–1955) war Maler und Sänger, der ab 1896 in München, später am Gardasee lebte, Franz Muncker (1855–1926) Professor für Literaturgeschichte in München (siehe Ernst Osterkamp, Neue Deutsche Biographie 18, Berlin 1997, S. 585–587).



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und trug den Todesfall in das Kirchenbuch ein.64 Einen Grabstein gibt es heute nicht mehr  – wenn es je einen gab. Ein Foto von Sophie von Scheve ist bisher nicht aufgetaucht, wohl aber gibt es ein kleines Aquarell-Porträt von Luise von Kehler aus dem Jahr 1926, gemalt nach einem früheren Foto.65 Es zeigt sie im Kreis von Freundinnen von Ricarda Huch, nobel und etwas streng, weniger eine Malerin als eine Dame der Münchner Gesellschaft.

64 1925, S. 368. – Ebenso der Vermerk im Sterbebuch der Gemeinde Dobbertin. Freundliche Auskunft von Dipl.-Ing. Horst Alsleben, Schwerin. 65 Das sog. Tanten-Bild, siehe Jutta Bendt und Karin Schmidgall, Ricarda Huch 1864–1947. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar, Marbach 1994, S. 230  f.

AUFSÄTZE

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emilias andacht und gretchens gewissen Goethes Auseinandersetzung mit Lessing in der Arbeit an der Faust-Tragödie Mit diesem Aufsatz soll der Versuch unternommen werden, Goethes mehr als drei Jahrzehnte umspannende Arbeit an Faust. Der Tragödie erster Teil als Niederschlag einer produktiven Auseinandersetzung mit Lessings Emilia Galotti zu lesen.1 Obwohl Goethes Wertschätzung für Lessings Drama wohlbekannt ist, sind die deutlichen Anspielungen auf Emilia Galotti in Faust bisher unbeachtet geblieben. Dabei muss man sich allerdings nur die Szene Dom vergegenwärtigen, in der die Belästigung Gretchens durch den bösen Geist während des Totenamtes dargestellt wird, und diese Szene mit dem ersten Auftritt von Lessings Titelheldin vergleichen, in dem Emilia aufgeregt ihrer Mutter von der übergriffigen Annäherung des Prinzen während des Morgengottesdienstes berichtet, um zu realisieren, wie in beiden Dramen die Belästigung der Heldin während des Gottesdienstes ganz entscheidend mit der Frage nach Schuld, Gewissensbissen und Verantwortung verknüpft wird. Das tragische Potential der weiblichen Hauptfigur ist in beiden Dramen aufs engste mit dieser Exposition einer bei der Andacht gestörten Subjektivität verknüpft. Folgende zunächst einmal durch diese Parallelstellen angeregte Analyse von Goethes Gretchentragödie soll vor allem zu der neueren Goetheforschung beitragen, die sich näher mit der Figur Margaretes und ihrer Funktion für Goethes Arbeit an der Tragödie befasst.2 1

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Für anregende Gespräche und konstruktive Kritik bin ich besonders Frauke Berndt, Chris Cullens, Helmut Schneider und Niklas Straetker zu Dank verpflichtet. Zitiert wird nach Johann Wolfgang von Goethe, Faust: Zwei Teilbände. Texte und Kommentare, hg. von Albrecht Schöne, 8.  Aufl., Frankfurt a. M. 2017 (im Folgenden zitiert: Goethe, Faust); Gotthold Ephraim Lessing, Emilia Galotti, in: Werke und Briefe in 12 Bänden, hg. von Wilfried Barner u.  a., VII, Werke 1770–1773, hg. von Klaus Bohnen, Frankfurt a. M. 2000, S. 291–371 (Im Folgenden zitiert: Lessing, Emilia Galotti). Da die Verszählung in den verschiedenen Emilia-Galotti-Ausgaben nicht einheitlich ist, wird hier bei Zitaten noch zusätzlich auf die entsprechende Seite der DKV-Ausgabe verwiesen. Zu Goethes Arbeit an der Tragödienform siehe David E. Wellbery, Goethes Faust 1. Reflexion der tragischen Form, München 2015. Siehe auch Bernhard Greiner, Margarete in Weimar. Die Begründung des Faust als Tragödie, Euphorion 93/3 (1999), S. 169–191 und Maike Orgel,

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Bei der motivischen Parallele zwischen der Dom-Szene im Faust und Emilias Bericht von der gestörten Andacht beim Morgengottesdienst handelt es sich allerdings nicht einfach um einen direkten »Einfluss« der einen auf die andere Szene, bzw. um ein nachweisbar bewusstes Zitat. Vielmehr scheint in der Dom-Szene Goethes kritische Auseinandersetzung mit der Gattung des bürgerlichen Trauerspiels durch, für die Emilia Galotti einen zentralen Stellenwert behauptet. Wie sich Goethe immer wieder kulturkritisch mit dieser Gattung auseinandersetzt und dazu Lessings Emilia Galotti ins Spiel bringt, zeigt sich auch schon besonders deutlich in Die Leiden des jungen Werther und in Wilhelm Meisters Lehrjahre. Für Werther, der Emilia Galotti aufgeschlagen auf seinem Pult liegen lässt, bevor er sich erschießt, spielt Emilias tragischer Tod eine entscheidende Rolle in der Inszenierung seines Selbstmords als tragischer Freitod; Emilia Galotti dient Werther gewissermaßen zur Rechtfertigung und Idealisierung seines Selbstmords. Somit übernimmt Lessings Drama in Goethes Werk schon 1774 die Funktion eines kulturellen Marksteins, der die tragische Aspiration genauso wie die fehlgeleitete Lesepraxis des Protagonisten seines Briefromans bezeichnet. Emilia Galotti steht damit schon in der frühsten Phase von Goethes Arbeit am Faust, die sich ja mit der Arbeit am Werther überschneidet, zum einen für einen Komplex kultureller Praktiken, initiiert und propagiert mit Hilfe der Gattungsinnovation des bürgerlichen Trauerspiels, zum anderen für die kritische Reflexion auf ebendiese.3 Wilhelm Meisters Lehrjahre, gut zwanzig Jahre nach der Erstveröffentlichung von Werther und gleichzeitig mit der Wiederaufnahme von Goethes Arbeit an Faust erschienen, markiert mit der Erzählung von Serlos Inszenierung von Emilia Galotti das Ende der Gattung des bürgerlichen Trauerspiels für Serlos Truppe. Nach der Aufführung von Emilia Galotti soll eine andere Art von Theaterstücken inszeniert werden, und Wilhelm wird zur Einsicht gelangen, dass das Theater letztlich doch nicht sein Metier ist. Darüber hinaus wird vergleichbar mit Werthers fehlgeleiteter Emilia-Galotti-Rezeption auch in Wilhelm Meister eine verabsolutierte, pathologische Subjektivität, die sich in der Identifikation mit einer dramatischen Person äußert und ebenfalls in einem höchst unglücklichen Tod endet, zur Darstellung gebracht. Aurelie, Serlos Schwester, eine ehrgeizige Schauspielerin, von ihrem Liebhaber verlassen, stürzt sich in die Rolle der Orsina, verausgabt sich bei der Aufführung und eilt anschließend, ohne vorher in wärmere Kleidung gewechselt zu haben, auf die Straße in den kalten Wind und stirbt kurz

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The Faustian ›Gretchen‹. Overlooked Aspects of a Famous Male Fantasy, in: German Life and Letters 64/1 (2011), S. 43–55. Zu Werthers Verhältnis zur Literatur und Kultur seiner Zeit siehe auch David Wellbery, Pathologies of Literature, in: A New History of German Literature, hg. von David Wellbery u.  a., Cambridge/MA 2004, S. 386–393.



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darauf in Folge einer schweren Erkältung. Sowohl Werther als auch Aurelie, zwei zutiefst enttäuschte, jugendlich leidenschaftliche Charaktere beenden ihre Verzweiflung im Tod und leihen sich für ihr selbstzerstörerisches Ausagieren das tragische Pathos und den Heldennimbus, die sie mit Lessings Emilia Galotti assoziieren. Dass sie damit Lessings Stück geradezu pathologisch fehldeuten, ja seine Kritik dieser Art Heldentums ausblenden, die sich von Philotas bis zu Nathan durch sein Gesamtwerk verfolgen lässt, ist nun auch für die nicht mehr nur textimmanente Dimension von Goethes produktiver Emilia-Galotti-Rezeption ausgesprochen wichtig.4 Gerade was die theaterhistorische und -kritische Dimension Wilhelm Meisters angeht, dient Emilia Galotti dazu, den Endpunkt der Theaterauffassung zu markieren, welche sich in der Inszenierung bestimmter Dramen oder auch realer Lebensumstände äußert, die als familiäre Doku-Dramen aufgefasst und realisiert werden. Emilia Galotti steht im Wilhelm Meister am Ende der Theaterkarriere des Protagonisten, die, so könnte man behaupten, auch mit Wilhelms Ausagieren der prototypischen dramatischen Konventionen der Gattung des bürgerlichen Trauerspiels ihren Anfang nimmt. So beginnt Wilhelms Theaterkarriere mit der finanziellen Unterstützung Melinas und seiner Frau, denen er zunächst nicht auf der Bühne, sondern zufällig anlässlich eines Besuches von Bekannten und Schuldnern seines Elternhauses begegnet. Dabei erfährt er von dem Skandal einer Mesalliance, die in der gegen die soziale Konvention und den Wunsch der Eltern eingegangenen Beziehung der Stieftochter seiner Bekannten mit einem Schauspieler besteht, weshalb er es sich zur Aufgabe macht, das unglückliche Liebespaar zu retten. Kurz darauf trifft Wilhelm dann auch tatsächlich Melina und seine Geliebte, als diese festgenommen und zum Gemeindesaal transportiert werden. Nachdem er die öffentliche gerichtliche Verhandlung der beiden Liebenden mit großer Anteilnahme wie ein Melodrama oder bürgerliches Trauerspiel verfolgt hat, bei dem er mit besonderem Mitgefühl den Auftritt der jungen Frau während ihres amtlichen Verhörs als ein besonders rührendes Bild der verlorenen Unschuld verfolgt hat, bietet er sich als Vermittler mit der Familie des Mädchens an und überzeugt Melina, mithilfe seiner finanziellen Unterstützung zum Theater zurückzukehren.5 So kommt Wilhelm gewissermaßen zu seinem ersten Theaterengagement, indem er unmittelbar von einer Zuschauerrolle 4

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Eine sehr genaue Diskussion von Emilia Galotti als Anti-Märtyerdrama findet sich bei Raimund Neuß, Tugend und Toleranz. Die Krise der Gattung Märtyrerdrama im 18.  Jahrhundert, Bonn 1989, S. 189–234. Siehe Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: Sämtliche Werke, Briefe Tagebücher und Gespräche. Vierzig Bände, Bd. IX, hg. von Friedmar Apel u.  a., Frankfurt a. M. 1992, S. 355–992, hier: Buch 1, Kapitel 13 und 14.

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in eine Mitspielerrolle überwechselt. Dieser Umstand trifft sich nun genau mit der dramaturgischen Innovation Diderots, wie diese in den Entretiens sur le fils naturel ausführlich dargelegt wird: Das drame bourgeois soll als ein Kontinuum zur Alltags- und Familienwirklichkeit der Zuschauer vorgestellt werden, d.  h. nicht als artifizielles Theater. Auch später als Mitglied von Serlos Theatertruppe bei der Inszenierung von Hamlet behandelt Wilhelm Shakespeares Tragödie, als würde es sich um ein bürgerliches Trauerspiel handeln. D.h. er hält sich an die in Diderots Entretiens sur le fils naturel so anschaulich dargestellte programmatisch anti-theatralische Einstellung gegenüber dem Schauspiel, die alles darauf setzt, den Zuschauer völlig in die dargestellte Welt aufzunehmen, was heißt, dass so gespielt wird, als würde sich der Vorhang nie heben. Diderots Text macht besonders deutlich, dass bei dieser Art von Schauspiel die getrennten Rollen von Zuschauer, Schauspieler und handelnder Person nahtlos ineinander übergehen bzw. miteinander vertauscht werden können.6 Die auf die Hamlet-Aufführung folgende Inszenierung von Emilia Galotti markiert in Wilhelm Meister nun das Ende dieser Illusionspraxis, nach dem das Theater dann wieder theatralischer werden darf und ein homogenes Zeichenrepertoire durch andere, nichtverbale, nicht-realistische künstlerische Medien aufgebrochen wird. In Wilhelm Meisters Lehrjahre ist diese Öffnung durch den Hinweis angedeutet, dass sich Serlo im weiteren Verlauf für Oper und Singspiel interessieren wird. Emilia Galotti steht somit im theatergeschichtlichen und dramenkritischen Diskurs von Wilhelm Meisters Lehrjahren für das Ende des geschlossenen Illusionsraums des bürgerlichen Trauerspiels sowie am Übergang zu völlig anderen theatralischen Formen. Was nun Goethes eigene Praxis als Dramenschriftsteller betrifft, so lässt sich Faust 1 gerade im Hinblick auf die sogenannte Gretchentragödie ebenfalls als eine Auseinandersetzung mit diesem anti-theatralischen homogenen Illusionsraum verstehen. Durch die deutlichen Anspielungen auf Emilia Galotti wird das Drama um Gretchen bzw. Margarete sowohl als Arbeit an der Tragödie – bzw. Verabschiedung des bürgerlichen Trauerspiels – als auch in seiner geschlechterpolitischen Dimension reflektiert. Da dieser Zugang zu Faust von der eingangs erwähnten motivischen Parallele zwischen der Szene Dom und dem ersten Auftritt der Titelheldin in Lessings Emilia Galotti ausgeht, soll meiner Analyse der zweiten Hälfte der Gretchentragödie, d.  h. der Szenenfolge Am Brunnen, Zwinger, Nacht. Straße vor Gretchens Tür, Dom, in der Margarete vor allem als Zuhörerin dem Diskurs anderer ausgesetzt ist oder auch als Andacht­

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Siehe hierzu Dorothea von Mücke, Virtue and the Veil of Illusion. Generic Innovation and the Pedagogical Project in Eighteenth-Century, Stanford 1991, S. 91–105.



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suchende gezeigt wird, eine genauere Analyse der entscheidenden Szene aus Emilia Galotti vorangeschickt werden.

I. Emilia Galotti: eine »bürgerliche Virginia« Obwohl Emilia Galotti keineswegs als prototypisches bürgerliches Trauerspiel verstanden werden kann, ist es doch das bürgerliche Trauerspiel, das sich am deutlichsten und genausten mit eben jenem anti-theatralischen von der Gattung propagierten geschlossenen Illusionsraum und der damit eng verbundenen Geschlechterpolitik befasst. Es benutzt diesen, um dann kritisch darauf zu reflektieren, was das Bild und die Tragik der unrechtmäßig angeklagten verlorenen Unschuld des gefallenen oder verführten Mädchens betrifft. Emilia Galotti ist als Lessings Abrechnung mit der von ihm mitinitiierten Gattung zu verstehen. Hierzu bedient er sich der damals sowohl in der Literatur als auch bildenden Kunst populären Virginia-Legende. Denn in der Virginia Legende ist es nicht, wie üblich im bürgerlichen Trauerspiel, die höfisch codierte Figur der femme fatale einer Marwood oder Milford, die letztlich den tragischen Tod der Titelheldin herbeiführt, sondern der liebende, aber auch um die Unschuld seiner Tochter hoch besorgte Familienvater, der seine Tochter mit deren Einvernehmen ersticht. Damit bringt Lessing die geschlechterpolitische Dimension der »Bürgerlichkeit« des bürgerlichen Trauerspiels, und damit auch des aufklärerischen bürgerlichen politischen Selbstverständnisses, das sich an den Idealen der römischen Republik orientierte, ins Zentrum seines Dramas. Diese Absicht formuliert Lessing auch schon in einem Brief an Friedrich Nicolai vom 21. Januar 1758: Sein jetziges Sujet ist eine bürgerliche Virginia, der er den Titel Emilia Galotti gegeben. Er hat nemlich die Geschichte der römischen Virginia von allem abgesondert, was sie für den ganzen Staat interessant macht; er hat geglaubt, daß das Schicksal einer Tochter, die von ihrem Vater umgebracht wird, dem ihre Tugend werter ist, als ihr Leben, für sich schon tragisch genug, und fähig genug sei, die ganze Seele zu erschüttern, wenn auch gleich kein Umsturz der ganzen Staatsverfassung darauf folgte.7

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Gotthold Ephraim Lessing, Brief an Friedrich Nicolai vom 21. 1. 1758, in: Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. XI/I, hg. von Wilfried Barner u.  a.: Briefe von und an Lessing 1743–1770, hg. von Helmut Kiesel, Frankfurt a. M. 1987, S. 267.

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Lessing, der hier von sich in der dritten Person redet, präsentiert den Gegenstand seiner Tragödie unter einem äußerst sachlichen Gesichtspunkt, als ginge es ihm um eine Darstellung der Grenzen und Möglichkeiten der Tragödie. Was offenbar bei dieser »bürgerlichen Virginia« erprobt werden soll, ist die dramatische Adaption der römischen Virginia-Legende in die »bürgerlichen« Werte der Aufklärung. Das Stück macht es sich gewissermaßen zur Aufgabe, die Tragik einer Werteskala zu analysieren, die es einem Vater ermöglicht, die Tugend seiner Tochter für höher als deren Leben einzustufen.8 Wenn Odoardo Galotti seine Tochter umbringt, damit sie nicht in die Hände des Prinzen fällt, handelt er nicht wie sein Vorbild in der römischen Legende öffentlich vor einer Volksversammlung, um damit den Aufstand gegen den Tyrannen anzustacheln, sondern er tötet seine Tochter ohne Zuschauer in den privaten Gemächern des Prinzen, d.  h. Lessing zeigt uns in diesem Stück, wie Odoardo Galotti die Virginia-Legende als bürgerliches Trauerspiel inszeniert.9 In Lessings »bürgerlicher Virginia« wird der Charakter Odoardo Galottis durch­gehend in seiner politischen Dimension, seiner antihöfischen Selbststili8

So betont auch schon Gisbert Ter Neddens sehr detaillierte Analyse von Emilia Galotti, dass es sich bei Lessings Behandlung der Virginia-Legende nicht um die typischen Klischees der Hofkritik, und auch nicht um deren moralisierende Kritik, sondern um eine Kritik der herrschenden bürgerlichen Moral handelt. Siehe »Emilia Galotti« in Gisbert Ter Nedden, Lessings Trauerspiele. Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik, Stuttgart 1986, S.  164–238. Siehe auch auf Ter Nedden aufbauend Albert Meier, Die Befreiung von allem Staatsinteresse. Gotthold Ephraim Lessings Emilia Galotti, in:  Dramaturgie der Bewunderung. Untersuchungen zur politisch-klassizistischen Tragödie des 18.  Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1993, S. 280–302. 9 In dieser Hinsicht widerspricht mein Zugang zu Lessings Drama ganz entschieden Christopher J. Wilds Lesart von Emilia Galotti, die in folgender Gleichsetzung von Lessing und Odoardo Galotti kulminiert: »Ihr [Emilias] Leben wird für ihre Jungfräulichkeit eingetauscht und dessen Opfer fungiert als ökonomische Transaktion. Weibliche Ehre, also Virginität, bildet das Relais für die tragische Identifikationsstiftung. Indem Lessing historisch-politische Wirkung (›Umsturz der ganzen Staatsverfassung‹) und ästhetischen Effekt (›die ganze Seele zu erschüttern‹) parallelisiert, und damit die Grenze zwischen Geschichte und dramatischer Fiktion, ›Leben‹ und Kunst verwischt, stellt er das Opfer der jungfräulichen Tochter theatralisch nach. Ähnlich Diderot, dessen Le Fils naturel (von Lessing ins Deutsche übersetzt) als alljährliches Ritual den Tod des Familienvaters erinnert und damit immer wieder wiederholt, macht sich Lessing gewissermaßen mitschuldig am (Theater-)Tod seiner Heldin. Während bei Livius das Opfer Virginias die Absetzung der Decemvirn und ›den Umsturz der ganzen Staatsverfassung‹ legitimiert, rechtfertigt Emilias Opfer Lessings Reorganisation bürgerlicher Subjektivität im Zeichen des Mitleids. Deutlicher noch als beim römischen Vorbild wird die sexuelle Gewalt gegen die jungfräuliche Tochter durch das ästhetisch-politische Programm legitimiert.« Christopher Wild, Theater der Keuschheit. Keuschheit des Theaters. Zu einer Geschichte der Anti-Theatralität von Gryphius bis Kleist, Freiburg i. Br. 2003, S. 290.



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sierung als ein Bürger im Sinne von citoyen gekennzeichnet, d.  h. als ein Bürger, der sich ganz bewusst an den Werten des römisch-republikanischen Bürgers orien­tiert. Am deutlichsten wurde diese aufklärerische Vorstellung von römisch tugendhafter Männlichkeit von Rousseau in seinem anti-theatralischen Pamphlet, der Lettre à M. d’Alembert sur les spectacles dargestellt. Dort argumentiert Rousseau gegen das die Sitten einer tugendhaften Republik wie Genf korrumpierende Theater, da die sich in der Öffentlichkeit zur Schau stellenden Schauspielerinnen die Ehrbarkeit und Verantwortlichkeit der männlichen Staatsbürger dieser Stadtrepublik gefährden würden.

Abb. 1: William Hogarth, Strolling Actresses Dressing in a Barn, Bild/Druck 1738.

Und hier zeigt sich dann auch, dass das römisch-republikanische Tugendideal nur Männern den Zugang zur Öffentlichkeit gewähren darf, während Frauen, um ihre Keuschheit zu wahren und auch um zu verhindern, dass sie die verantwortlichen männlichen Staatsbürger von ihren öffentlichen Pflichten ablenken, in den Privatraum verbannt werden müssen und strengstens der Kontrolle des Ehemanns oder Familienvaters unterstellt sind.10

10 Zu Rousseaus Geschlechterpolitik als Teil seiner republikanischen Medienpolitik siehe Dorothea von Mücke, Mediation and Authority, in: Virtue and the Veil of Illusion. Generic Innovation and the Pedagogical Project in Eighteenth-Century, S.  48–61. Siehe auch Isabel V. Hull, Sexuality, State, and Civil Society in Germany, 1700–1815, Ithaca 1996, S. 251– 256.

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Zweifelsohne bildet diese Vorstellung vom verantwortungsvollen, stimmberechtigten Staatsbürger, dem ›citoyen‹ eines Rousseau oder ›Mitgesetzgeber‹ eines Kant, der einen gewissen Grad an finanzieller Unabhängigkeit hat und, im Gegensatz zum ›Untertanen‹ oder ›Menschen‹, nicht nur mündig, sondern auch männlich sein muss, einen zentralen Kern der »progressiven,« republikanischen Aufklärungspolitik.11 Doch folgt daraus allerdings keinesfalls, dass Lessing diese Konzeption des Bürgers zusammen mit der für sie so zentralen Geschlechterpolitik unterstützte bzw. den römisch-republikanischen Tugendbegriff, der weibliche Tugend fast ausschließlich als Keuschheit versteht, übernähme und verträte oder gar, wie neuerdings so gern behauptet wird, dass es mit Emilia Galotti für Lessing – und nicht nur Odoardo Galotti – darum ginge, einen republikanischen Gründungsmythos zu inszenieren.12 Ganz im Gegenteil, in Emilia Galotti, Lessings letztem bürgerlichen Trauerspiel, wird gezeigt, dass sich dieses römisch-republikanische Tugendmodell nur mit verheerenden Folgen in die zeitgenössische Welt eines von empfindsamer Kultur geprägten absolutistischen Kleinstaates verpflanzen lässt.13 Kurz, Lessing dokumentiert in seiner »bürgerlichen Virginia«, wie die zeitgenössische aufklärerische bürgerliche Werteskala mit einer geradezu, im Lessing’schen Sinne, unmenschlichen Geschlechterpolitik einhergeht. Die Szene, die von Emilias Belästigung in der Kirche handelt, ist für Lessings kritische Auseinandersetzung mit der Gattung des bürgerlichen Trauerspiels entscheidend, weil sie Emilias Tragik in den sie bestimmenden Grundzügen ent-

11 »Derjenige nun, welcher das Stimmrecht in dieser Gesetzgebung hat, heißt ein Bürger (citoyen, d.  i. Staatsbürger, nicht Stadtbürger, bourgeois). Die dazu erforderliche Qualität ist außer der natürlichen (daß es kein Kind, kein Weib sei), die einzige: daß er sein eigener Herr (sui iuris) sei, mithin irgend ein Eigentum habe (wozu auch jede Kunst, Handwerk, oder schöne Kunst, oder Wissenschaft gezählt werden kann), welches ihn ernährt; d.  i. daß er, in denen Fällen, wo er von andern erwerben muß, um zu leben, nur durch Veräußerung dessen was sein ist erwerbe, nicht durch Bewilligung, die er andern gibt, von seinen Kräften Gebrauch zu machen, folglich daß er niemanden als dem gemeinen Wesen im eigentlichen Sinne diene.« Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a. M. 1977, S. 125–172, hier: S. 151. 12 So z.  B. Judith Frömmer, Vom politischen Körper zur Körperpolitik. Männliche Rede und weibliche Keuschheit in Lessings Emilia Galotti, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 79 (2005), S. 170–195 [im Folgenden als DVjs]; auch Susanne Lüdemann, Weibliche Gründungsopfer und männliche Institutionen Verginia-Variationen bei Lessing, Schiller und Kleist, in: DVjs 87 (2013), S. 589–599, beide in Anlehnung an die Diskussion von Emilia Galotti in Wild, Theater der Keuschheit. 13 Siehe auch Klaus Detlef Müller, Das Erbe der Komödie im bürgerlichen Trauerspiel. Lessings ›Emilia Galotti‹ und die commedia dell’arte, in: DVjs 46 (1972), S. 28–60.



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wickelt und aufzeigt, wie diese entsteht, wenn die anti-theatralische Illusionspoetik des bürgerlichen Trauerspiels für ein Bündnis zwischen Empfindsamkeitskultur, protestantischer Pflichtethik und patriarchalischem Tugendideal römisch republikanischen Stils mobilisiert wird. Während im ersten Akt dieses Stücks die Figur der Emilia vor allem in Form des sie als natürliche Unschuld darstellenden Gemäldes auf die Bühne kommt  – ein Bild, das sowohl der Prinz als auch ihr Vater besitzen und eifersüchtig bewachen wollen –, hat die weibliche Hauptfigur schließlich in der Kirchen-Szene ihren ersten wirklichen Auftritt. Dieser zeigt die tragische Heldin zutiefst in ihrem Innern aufgerührt und verletzt. Dabei wird Emilias Belästigung während des Gottesdienstes nicht auf der Bühne dargestellt, sodass wir davon erst erfahren, als die aufgeregte Emilia ihrer Mutter darüber berichtet. Mithin sind Leser oder Zuschauer gezwungen, sich gänzlich auf Emilias Perspektive einzulassen und sich den Angriff auf Emilias Innerlichkeit, die übergriffige Störung ihrer Andacht im Innenraum der Kirche, selbst vorzustellen. Dass Emilia bei der Andacht gestört und unterbrochen wird, spielt hierbei die entscheidende Rolle. Denn im Gegensatz zum ausgesprochenen oder gesungenen Gebet handelt es sich bei der Andacht um die stille, in sich versenkte Sammlung und Ausrichtung der Gedanken auf das Gebet. Andacht als eine die äußere umgebende Welt ausschließende Konzentration und Versenkung nach innen stellt somit das perfekte Gegenteil zur theatralischen Selbstinszenierung oder Koketterie dar. Die malerische Darstellung dieser Art von nach innen gerichteter Konzentration oder Gedankenverlorenheit wie auch Bekümmernis wurden nun gerade in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Genremalerei sehr beliebt und auch zum Beispiel dafür, wie der Bildbetrachter einen geradezu unmittelbaren (d.  h. nicht inszenierten oder kodifizierten) Zugang zum »authentischen« Seelenzustand des dargestellten Subjekts bekommt. In dieser Hinsicht berührt sich der Aspekt der Kunstgeschichte mit der dramaturgischen Innovation des drame bourgeois, wie dies dann auch Diderot sowohl in den Bildbesprechungen seiner Salons als auch in seiner Theaterpoetik genau ausführt.14 Ganz besonders interessant, ja geradezu pikant, sind für Diderot in diesem Kontext Jean-Baptiste Greuzes Gemälde eines jungen Mädchens, das einen toten Kanarienvogel beweint oder La cruche cassée  – das Bildnis eines Mädchens, das jung und schön, einen zerbrochenen Krug im Arm, mit den Händen ihre verrutschten Kleider und ein paar Blumen festhält und nach Diderot den Verlust ihrer Jungfräulichkeit zu betrauern scheint: »Mais, petite, votre douleur est bien profonde, bien réfléchie! Que signifie cet air rêveur et mélancolique? […] Ça, petite, ouvrez-moi votre cœur, parlez-moi vrai […]. Vous baissez les yeux, vous ne 14 Siehe hierzu auch Michael Fried, Absorption and Theatricality. Painting and Beholder in the Age of Diderot, Berkeley 1980.

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Abb. 2: Jean Massard nach Jean-Baptiste Greuze, La cruche cassée, Druck 1773.

me répondez pas. Vos pleurs sont prêts à couler. Je ne suis pas père, je ne suis ni indiscret ni sévère« (Salon de 1765).15 Die nicht-theatralische Pose, die keinen Zuschauer adressiert, sowie der nach innen gerichtete Blick wird hier von Diderot genauso begrüßt und behandelt wie das nicht-theatralische Drama des Fils naturel, das den zufälligen Zuschauer mit in seine Familiengeschichte aufnimmt. Der Betrachter spricht das Mädchen an und dringt in ihre Intimsphäre ein, indem er sich ihr als eine diskrete, nicht väterlich richtende Vertrauensperson anbietet. Diderots Bildbeschreibung inszeniert gewissermaßen die Urszene der Illusionsdramaturgie des bürgerlichen Trauerspiels und illustriert auch die eng mit dieser verwandten Familien- und Geschlechterpolitik: Das schöne, junge Mädchen, das sich ganz natürlich verhält, auf sich selbst allein konzentriert und sich nicht theatralisch für Betrachter zur Schau stellt, sondern mit seiner eigenen Sache beschäftigt ist, zieht erst recht die Aufmerksamkeit und Annäherung eines von seiner Sinnlichkeit faszinierten Betrachters auf sich, ja lädt diesen geradezu ein, in es einzudringen. Damit wäre auch schon der Grund geliefert, weshalb eine junge Frau sich nicht in die Öffentlichkeit begeben darf, auch gerade dann nicht, wenn sie nur zur Morgenandacht geht. Mit Emilia Galottis erstem Auftritt, in dem sie ihrer Mutter von der Belästigung während der Morgenandacht berichtet, wie der Prinz (in Emilias Bericht 15 Gallica, Les essentiels de la littérature, 2003, http://gallica.bnf.fr/essentiels/album-13 (24. 2. 2019).



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allerdings nur als ein »es« bezeichnet) sich von hinten her an sie herangedrängt hat und anfing, ihr von ihrer Schönheit zuzuflüstern, ohne dass sie sich wehren konnte, da sie sich sonst zu einem Spektakel in der Kirche gemacht hätte, wird nun genau diese »Urszene« des bürgerlichen Trauerspiels zitiert. Sie wird allerdings, wie schon erwähnt, nicht selbst auf die Bühne gebracht, sondern im Gespräch zwischen Mutter und Tochter genauer beleuchtet. Emilias Bericht vom Zwischenfall in der Kirche wird ein kurzer Wortwechsel zwischen Mutter und Tochter vorangestellt. Claudia Galotti will ihre verstörte Tochter schützen und trösten, doch letztere kann die Zuwendung der Mutter nicht annehmen. Dieser kurze Austausch enthüllt allerdings noch wesentlich mehr: Emilia: Nie hätte meine Andacht inniger, brünstiger sein sollen als heute: nie ist sie weniger gewesen, was sie sein sollte. Claudia: Wir sind Menschen, Emilia. Die Gabe zu beten ist nicht immer in unserer Gewalt. Dem Himmel ist beten wollen auch beten. Emilia: Und sündigen wollen auch sündigen. Claudia: Das hat meine Emilia nicht wollen! Emilia: Nein, meine Mutter; so tief ließ mich die Gnade nicht sinken. – Aber daß fremdes Laster uns, wider unsern Willen, zu Mitschuldigen machen kann! (Lessing, Emilia Galotti, II, 6, 314  f.) In ihrem sehr unterschiedlichen Verständnis von Verantwortung und Schuld zeigt sich, dass Mutter und Tochter keineswegs dieselben moralischen Grundauffassungen teilen. Als Emilia beklagt, dass sie sich ausgerechnet an ihrem Hochzeitsmorgen nicht mit der bei diesem Anlass erforderlichen Intensität ihrer Andacht widmen konnte, versucht Claudia, sie mit dem Hinweis zu trösten, dass sie dies nicht als persönliches Versagen missverstehen dürfe. Bei der Tatsache, dass wir nicht immer alle unsere seelischen und geistigen Fähigkeiten vollständig kontrollieren können, handle es sich um eine allgemein menschliche Unzulänglichkeit. Damit bittet sie ihre Tochter, die eigene Schwäche zu akzeptieren, statt sich einer unmenschlichen moralischen Forderung zu unterwerfen. Sie versucht ihr zu suggerieren, auch aus göttlicher Sicht werde menschliche Schwäche als solche akzeptiert, indem sie tröstend hinzufügt, dass aus Sicht des Himmels auch aufrichtiges Beten-Wollen gleichwertig mit tatsächlich ausgeführtem Beten sei. Doch Emilia kann diesen Trost nicht annehmen und entgegnet, dass aus himmlischer Perspektive auch sündigen wollen und sündigen dasselbe seien.16 Und als 16 Die Auffassungen von Mutter und Tochter trennen sich hinsichtlich der Frage, wie die Tatsache, dass der gute Wille, der allein ethisch entscheidend sein soll, immer nur begrenzt realisiert werden kann, eingeschätzt wird. Dieser Gegensatz ließe sich auch mit dem

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Claudia, ihre Tochter verteidigend, einwendet, sie könne sich nicht vorstellen, dass Emilia die Intention zu sündigen gehabt hätte, gibt diese ihr nur scheinbar recht, indem sie nämlich den sie rettenden Einwand der Mutter in diesem Moment ganz explizit in der Terminologie und Perspektive der lutherischen Orthodoxie geradezu überspitzt wiedergibt und damit in sein Gegenteil verkehrt. Emilia ersetzt somit die mütterliche Akzeptanz ihrer menschlichen Schwächen durch den Verweis auf die göttliche Gnade, die allein die Rechtfertigung des menschlichen Sünders herbeiführen kann. Sola fides und sola scriptura sind ausgeklammert, und sola gratia erscheint in Emilias überspitzter Formulierung geradezu als ein kapriziöses, willkürliches Urteil von oben, das sie, obwohl jeder eigenverantwortlichen Handlungsmöglichkeit beraubt, prinzipiell immer schon schuldig findet. Doch damit ist der eigentliche Punkt der tiefsten Verletzung von Emilias Innerlichkeit noch nicht gekennzeichnet. Emilias rigorose Pflichtethik im Gewand lutherischer Rechtfertigungslehre verwehrt ihr nicht nur, menschliche Schwächen zu akzeptieren, sondern – und dies ist das brutale Resultat des Übergriffs in der Kirche – sie bedingt es auch, dass Emilia sofort die Schuld für eine jegliche Übertretung bei sich sucht, ja sogar, wenn es sich bei dieser Übertretung um einen Angriff auf sie selbst handelt. Im Gespräch mit ihrer Mutter ahnt Emilia diese verheerende Implikation, doch scheint sie noch nicht ganz dazu bereit zu sein, sich dieser Art von Schuldverständnis völlig unterzuordnen, wenn sie die traumatische Wirkung des Vorfalls in der Kirche folgendermaßen kommentiert: »Aber daß fremdes Laster uns, wider unsern Willen, zu Mitschuldigen machen kann!« – In dieser Formulierung einer noch offenen Überlegung wird klar, dass Emilia plötzlich die Resonanz und potentielle Übereinstimmung zwischen protestantischem Schuldmodell und der patriarchalischen Logik erkennt, nach der nämlich ein Opfer einer sexuellen Belästigung für die Tat Verantwortung und Strafe zu übernehmen hat. Die Rechtmäßigkeit dieser Sichtweise scheint Emilia jedoch zu diesem Zeitpunkt weder bewusst zu akzeptieren noch anzuzweifeln. Für diesen kurzen Moment des offen gelassenen Satzes scheint sich Emilia schockiert mit der grausamen Logik dessen, was wir heute als »Ehrenmord« bezeichnen, konfrontiert zu fühlen.17 Unterschied zwischen Lessings Maxime aus der frühen Schrift Das Christentum der Vernunft von 1753 – »handle deinen individualischen Vollkommenheiten gemäß« – und dem Kant’schen kategorischen Imperativ veranschaulichen, wobei Claudias Position der Lessings entspräche und Emilias rigorose Pflichtethik protestantischer Couleur der Kants. 17 Es handelt sich hier um die in patriarchalischen Gesellschaften weitverbreitete Sitte, dass vor allem weibliche Familienmitglieder, die mit oder wider ihre Einstimmung außereheliche sexuelle Kontakte eingegangen sind, von einem männlichen Familienoberhaupt umgebracht werden, um die Familienehre wiederherzustellen. Dieses männliche Vorrecht, dass heutzutage fälschlicherweise fast ausschließlich mit nahöstlichen Traditionen assoziiert



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Emilias Einsicht in die Möglichkeit, sich wider Willen  – durch fremdes Laster – zur Mitschuldigen gemacht zu haben, zeigt sich zunächst als spontane Reaktion auf den Übergriff in der Kirche. Nachdem sie den Vorfall ihrer Mutter berichtet hat, stellt sie die Rechtmäßigkeit der dieser Möglichkeit zugrundeliegenden Logik sogar zunächst einmal in Frage. Allein die Tatsache, den Vorfall einer mit Empathie Zuhörenden berichtet zu haben, scheint ihr potentielles Schuldgefühl eingedämmt zu haben. Doch diese Möglichkeit der Distanznahme verschwindet dann auch sofort wieder, indem nur die Möglichkeit der väterlichen Perspektive auf den soeben berichteten Vorfall erwähnt wird. Nachdem nämlich Emilia ihren Bericht beendet hat, macht Claudia ihrer Erleichterung darüber Luft, dass ihr Ehemann während Emilias Schilderung nicht anwesend war: Emilia: Nun, meine Mutter? – Was hätt’ er an mir strafbares finden können? Claudia: Nichts; eben so wenig, als an mir. In seinem Zorne hätt’ er den unschuldigen Gegenstand des Verbrechens mit dem Verbrecher verwechselt. In seiner Wut hätt’ ich ihm geschienen, das veranlaßt zu haben, was ich weder verhindern noch vorhersehen können. (Emilia Galotti, II, 6, 31) Wie genau Claudia damit den Charakter ihres sich zur Verkörperung des römischrepublikanischen Tugendideals stilisierenden Mannes erfasst hat, sollte den Leserinnen und Zuschauern des Stücks völlig klar sein. Denn gerade in Odoardos Gespräch mit seiner Frau – unmittelbar vor dem Auftritt von Mutter und Tochter und damit auch vor der Nachricht vom Übergriff des Prinzen – bezichtigt Odoardo seine Frau, ihre Tochter in der städtischen und höfischen Umgebung der Kompromittierung ihrer Unschuld ausgesetzt zu haben. Nach Odoardos Logik macht sich nämlich eine sich in der Öffentlichkeit zeigende, frei bewegende Frau sofort der Herausforderung von sexuellen Übergriffen schuldig. Odoardo war auch keinesfalls damit einverstanden, dass seine Tochter sich an ihrem Hochzeitsmorgen allein auf den Weg zur Morgenandacht in die Kirche gemacht hat. Dies heißt nun, dass Odoardos proleptisch urteilende Perspektive, in der Autorität des Vaters und Ehemanns, die soeben von Emilia bezeichnete Rolle einer willkürlichen göttwird, wurde z.  B. im römischen Recht verankert, wo es dem pater familias (d.  h. dem männlichen Familienoberhaupt) zugestanden wurde, außereheliche sexuelle Übertretungen von unverheirateten Familienmitgliedern (stuprum), vor allem Töchtern, zu ahnden, wenn nötig sogar die Tochter zu ermorden. Es wurde interessanterweise aber auch im Code Napoleon wiederaufgenommen, in der Form, dass dem Ehemann das Recht zugestanden wurde, seine Ehefrau, die sich des Ehebruchs schuldig gemacht hatte, umzubringen. Siehe Jane F. Gardner, Women in Roman Law and Society, London 1986 wie auch Matthew A. Goldstein, The Biological Roots of Heat-of-Passion Crimes and Honour Killings, in: Politics and the Life Sciences 21/2 (2002), S. 28–37.

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lichen Instanz der ›Gnade‹ bzw. auch Verurteilung übernehmen kann, und dann auch tatsächlich übernimmt. Gerade auch deshalb, weil es sich bei Odoardo um einen liebenden, um seine Tochter höchst besorgten Vater handelt, genügt es, dass Claudia diese Perspektive nur kurz evoziert und dann im anschließenden Gespräch ihrer Tochter suggeriert, Odoardos Standpunkt sei auch durch kein weiteres vertrauliches, erklärendes Gespräch zu ändern. Damit wird die tragische Ausweglosigkeit von Emilias Schicksal schon in diesem Gespräch endgültig festgelegt: Emilia ist bereits am Ende ihres ersten Auftritts in ihrer Innerlichkeit völlig gefangen und in ihren Handlungsmöglichkeiten paralysiert, jedoch auch gerade dadurch als kompromittierbar und kompromittiert gekennzeichnet. Schon beim ersten Auftritt der Titelheldin werden die entscheidenden Konturen für die unausweichliche tragische Verstrickung dieser Figur kenntlich, indem Emilia letztlich allein darin ihre Autonomie und Unschuld behaupten kann, dass sie von ihrem Vater den Tod verlangt und ihn dazu anstiftet, indem sie ihn an seine römisch-republikanischen Werte erinnert und ihm dabei die Rolle des Virginius anbietet. Emilia darf sich keine menschliche Schwäche gestatten. Stattdessen ist ihr Tugendideal von der Sicht eines übereifrigen, unmenschlichen Über-Ichs geprägt, das die Perspektive der lutherischen Rechtfertigungslehre genauso wie die Perspektive der väterlichen Autorität im Sinne römisch-republikanischer Männlichkeit einnehmen kann. Odoardo Galotti kann seine Tochter aus ihrer Verstrickung nur dadurch befreien, dass er sie ersticht und mit dieser Tat das Privileg des pater familias einlöst: die männliche Ehre des freien römischen Bürgers, die auf der Keuschheit der weiblichen Familienmitglieder gegründet ist, durch einen »Ehrenmord« zu behaupten. Beim tragischen Ende des Stückes werden genau die Punkte wiederaufgenommen, die schon in den ersten Auftritten des 2. Aktes, die um Emilias Bericht von der gestörten Morgenandacht zentriert sind, entwickelt werden. So ist Emilias Appell an ihren Vater, er müsse sie töten, um sie vor einer Vergewaltigung seitens des Prinzen, aber auch vor ihrem eigenen sexuellen Begehren zu schützen, schon in den Szenen um den ersten Auftritt der Titelheldin angelegt. Man beachte auch den prophylaktischen, vorwegnehmenden Aspekt dieses Arguments. Denn weder das eine noch das andere ist tatsächlich eingetreten, es sei denn man übernimmt die Logik des »Ehrenmords.« Beim tragischen Ausgang von Emilia Galotti geht es vor allem um die tragischen Verstrickungen von Emilias Innerlichkeit sowie um die medialen Implikationen einer solchen Innerlichkeit. Letztere zeigen sich auch, wenn die Inszenierung der Ermordung Virginias in die abgeschlossenen Innenräume des Lustschlosses des Prinzen verlegt werden. Mit dem Tochtermord beabsichtigt Odoardo keinen Volksaufstand und Regierungswechsel, sondern vielmehr, die Imagination des Tyrannen sowie dessen Stellvertreter und Opfer zu programmie-



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ren. So verkündet Odoardo dann auch, dass der Anblick der erstochenen Emilia jegliche Möglichkeit erotischer Vergnügungen seitens des Prinzen für immer verhindern soll.18 Entgegen dem externen, öffentlichen Schauspiel der Ermordung Virginias betont Lessings Stück die überwältigende und anhaltende Macht von internalisierten, erinnerten Schreckensbildern.

II. Die Gretchentragödie Während in beiden Dramen die Heldin dem Zuschauer in ihrem ersten Auftritt soeben aus der Kirche kommend – bei Goethe »von Ihrem Pfaffen kommend« – gezeigt wird, sehen wir in Goethes Tragödie die Heldin auch in der Kirche. Dabei stellt die Szene Dom die letzte Szene der um Gretchen zentrierten Gruppe Am Brunnen, Zwinger, Nacht auch zugleich die vorletzte Szene des Dramas dar, in der die weibliche Heldin lebend auftritt. Emilias Tragik ist eine vor dem und diesen (mit väterlicher/lutherischer Hilfe durch das Über-Ich) verhindernden Akt aktiver weiblicher Sexualität, Gretchen dagegen nach der  – als solcher nie bereuten  – sinnlichen Erfüllung. Das macht Gretchen auch zu einem sozialen Opfer, und es öffnet die Bühne (der vierten Wand und der »Keuschheit des Theaters«) vom intim Familiären des Lessing’schen Dramas zur sehr deutlich gezeichneten kleinstädtischen Gesellschaft von Goethes Theaterstück. Während wir in der Konstruktion von Emilias Tragik mit einem komprimierten, nicht szenisch gezeigten, doch überdeterminierten und überinterpretierten Vorfall zu tun haben, wird Gretchens Tragik in aneinandergereihten Szenen entfaltet. Sie wird nicht nur im überfüllten Dom beim Totenamt beim Beten gezeigt, sondern auch allein an einem Marienschrein an der Stadtmauer. Und sie wird nicht nur einmal mit der gehässigen sexuellen Doppelmoral von Seiten ihrer Altersgenossinnen am Brunnen konfrontiert, sondern auch ein zweites Mal nachts auf der Straße in den gewaltsüchtigen 18 So Odoardo, nachdem er seine Frau zurück in die Stadt geschickt hat und von Orsina nicht nur den Dolch bekommen hat, sondern auch die Information, dass der Prinz seine Tochter schon am Morgen in der Kirche gesprochen habe: »Deine Sache [an den ermordeten Appiani gerichtet] wird ein ganz Anderer zu seiner machen! Genug für mich, wenn dein Mörder die Frucht seines Verbrechens nicht genießt. – Dies martere ihn mehr, als das Verbrechen! Wenn nun bald ihn Sättigung und Ekel von Lüsten zu Lüsten treiben, so vergälle die Erinnerung, diese eine Lust nicht gebüßet zu haben, ihm den Genuß aller! In jedem Traume führe der blutige Bräutigam ihm die Braut vor das Bette; und wann er dennoch den wollüstigen Arm nach ihr ausstreckt: so höre er plötzlich das Hohngelächter der Hölle, und erwache!« (Lessing, Emilia Galotti, V, 2, 359–360.) Und auch als Emilia schon erstochen ist, richtet er folgende Worte an den Prinzen: »Nun da Prinz! Gefällt sie Ihnen noch? Reizt sie noch Ihre Lüste? Noch, in diesem Blute, das wider Sie um Rache schreiet?« (Lessing, Emilia Galotti, V, 8, 371).

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Verwünschungen ihres nach »Ehrenmord« durstenden Bruders. Entsprechend verschiebt sich auch, was in Lessings Drama das Zentrum der Tragik bildet, d.  h. Emilias auf die eigene Sündhaftigkeit gerichtete Selbstreflexion, auf Gretchens Verzweiflung an der völligen Isolation und Verlassenheit, der sie in der auf Dom hinführenden Szenensequenz ausgesetzt wird. Allerdings ist auch Gretchen keinesfalls ohne Selbstreflexion, obgleich dies bisher kaum beachtet wurde. Ja, Gretchens Selbstreflexion ist – vergleichbar mit der Emilias – ebenfalls das entscheidende Element in der Transformation dieser Figur in eine tragische Heldin. Im Folgenden soll dies an der um Gretchen zentrierten Szenenfolge nachgezeichnet werden. Da der Vergleich mit Emilia Galotti meinen Ausgangspunkt darstellt, werde ich meine Analyse dieses Szenenkomplexes mit Dom beginnen und der Frage nachgehen, inwiefern sich das aufdringliche Einreden des bösen Geistes auf Gretchen während des Gottesdienstes mit der übergriffigen Belästigung Emilias seitens des Prinzens vergleichen lässt. In Lessings Drama wird Emilias tragische Subjektivität in der Diskussion genau dieses Vorfalls mit ihrer Mutter zum Thema, indem sich Emilia religiöse Saumseligkeit vorwirft und sich nicht verzeihen kann, dass sie nicht mit der erforderlichen Inbrunst beten konnte. In der Szene Dom wird nun eine vergleichbare Anklage religiöser Insuffizienz vom bösen Geist Gretchen gleich eingangs, noch vor dem Einsatz des Chors mit dem Dies irae-Hymnus, zugeflüstert: Wie anders, Gretchen, war dir’s, Als du noch voll Unschuld Hier zum Altar tratst Aus dem vergriffnen Büchelchen Gebete lalltest, Halb Kinderspiele, Halb Gott im Herzen! Gretchen! Wo steht dein Kopf? In deinem Herzen Welche Missetat? Betst du für deiner Mutter Seele, die Durch dich zur langen, langen Pein hinüberschlief? Auf deiner Schwelle wessen Blut? – Und unter deinem Herzen Regt sich’s nicht quillend schon Und ängstet dich und sich Mit ahnungsvoller Gegenwart? (Goethe, Faust, V. 3776–3793)



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Der böse Geist kontrastiert hier Gretchens zerstreutes, halb spielerisches, halb unbewusstes Nachsprechen der Gebete ihrer Kindheit mit Gretchens momentaner Situation, ihrem Beten für das Seelenheil der an der Überdosis des Schlaftrunks verstorbenen Mutter, ihrer Wahrnehmung des sich in ihr regenden Fötus und ihren Ängsten und Sorgen für die Zukunft. Dabei geht es dem bösen Geist um ein Modell von kindlicher Unschuld, das er mit einem kindlichen Verhalten zur Religion gleichsetzt. So privilegiert er dann auch nicht, wie Emilia, konzentriertes, andächtiges Beten, sondern die kindliche unproblematische Akzeptanz der rituellen Praktiken, und markiert das bewusste selbständige Beten sowie die selbstbewusste Wahrnehmung der eigenen körperlichen Empfindungen und Sorgen als Symptom eines irreversiblen Sündenfalls. Er setzt in seinen Beobachtungen zu Gretchens verändertem Seelenzustand die Tatsache, dass sie sich sorgt, mit dem Beweis einer irreversiblen Schuld in eins. Beide Dramen bieten eine kritische Darstellung der Umstände, die dazu führen, dass die jeweilige Heldin sich durch Rekurs auf eine irreversible Sündenfalllogik verurteilt fühlt und verdammt wird. Lessings Stück untersucht, wie Emilias Tragik in ihrem Gewissen ihrer Sündhaftigkeit als mangelnde Kontrolle über ihre seelischen und sinnlichen Regungen letztlich in einer protestantischen Verurteilung der Sinnlichkeit verankert ist; in Goethes Drama ist Gretchen in den Worten des bösen Geistes für immer aus dem Paradies unschuldiger Kindheit verbannt, weil sie sich bewusst wird, dass sie von Vorwürfen und ängstlicher Sorge um die Zukunft heimgesucht wird. Was die beiden Szenen sehr eng aneinander rückt und ähnlich macht, ist die Tatsache, dass in beiden Fällen die junge Frau in eine Situation gebracht wird, in der sie völlig wehrlos einem Fremden ausgesetzt ist, der rücksichtlos ihre Privatsphäre verletzt, und letztlich dafür auch noch sie selbst verantwortlich gemacht und für schuldig befunden wird. In Dom geschieht dies in der Instanz des »bösen Geistes« vielleicht auf noch perfidere Weise, da dieser sich einerseits erdreistet, Gretchens innere Wahrnehmung und Gedanken laut zu artikulieren, und andererseits die schon auf die gnadenloseste Enthüllung aller Sünden und deren härteste Bestrafung reduzierte lateinische Version des Dies irae-Hymnus dann noch verstärkend in deutscher Übersetzung auf Gretchen persönlich paraphrasierend zuschneidet. Der böse Geist zerstört für Gretchen die Möglichkeit der Relativierung der sie belastenden Wahrnehmungen und Gedanken, indem er für sie die Unterscheidung zwischen Innen- und Außensicht unmöglich macht. Ja, Gretchen wird durch die amplifizierten Sorgen und Selbstzweifel geradezu erdrückt oder erstickt, indem diese mit der Verurteilung durch das Jüngste Gericht gleichgesetzt werden, wobei auch jede Aussicht auf Gnade gestrichen ist. In der Figur des bösen Geistes wird gewissermaßen die Personalunion der väterlich urteilenden Beobachterperspektive eines Odoardo Galotti mit einer grundsätzlich sowie

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ausweg- und gnadenlos verurteilenden Instanz der Kirche. Der böse Geist bedient sich Gretchens Fähigkeit zur Selbstreflexion, um sie zu vernichten. GRETCHEN Mir wird so eng’! Die Mauern-Pfeiler Befangen mich! Das Gewölbe Drängt mich! – Luft! BÖSER GEIST Verbirg’ dich! Sünd’ und Schande Bleibt nicht verborgen. Luft? Licht? Weh dir! CHOR quid sum miser tunc dicturus? quem patronum rogaturus? cum vix justus sit securus. BÖSER GEIST Ihr Antlitz wenden Verklärte von dir ab. Die Hände dir zu reichen, Schauert’s den Reinen. Weh! (Goethe, Faust, V. 3816–3832) Gleich darauf fällt Gretchen in Ohnmacht. Man könnte auch sagen, sie wird erstickt, oder, wie es schon von Brecht beschrieben wurde, die Szene Dom zeigt Gretchens moralische Hinrichtung.19 Genau diesem Hinweis möchte ich genauer nachgehen; zunächst werde ich aber die Dom vorausgehenden Szenen analysieren, um zu verdeutlichen, wie das schrecklich faszinierende Bild der hingerichteten Margarete am Ende von Walpurgisnacht zu verstehen ist.

19 So in den Erläuterungen der Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags zu Faust I, die Brechts Arbeitsjournal vom 7. 5. 49 zitiert: Es sei (nach Brecht) nicht schwierig, »die domszene etwa als seelische und körperliche execution Gretchens durch die kirche zu spielen und vor allem als moralische execution – sie wird hier zum mord angestiftet.« Wobei die Erläuterungen dann noch genauer ausführen, wie diese »moralische execution« zu verstehen sei: »Nur hat sie sich die hier zur Sprache kommenden kirchlichen Vorstellungen ganz zu eigen gemacht: an sich selber vollzieht sie diese ›moralische execution.‹« Goethe, Faust, S. 340.



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In Am Brunnen, der ersten Szene des in Dom endenden Szenenkomplexes, kommt Gretchen kaum zur Sprache, sondern muss sich Lieschens Getratsche über Bärbelchens Schwangerschaft anhören: Sie erfährt den durch Neid und Ressentiment gesteuerten Hass, der die Bestrafung »gefallener Mädchen« von weiblicher Seite her unterstützt. D.h. nun aber auch, dass es in dieser Szene nicht um eine Verdammung von Sexualität und Sinnlichkeit in einem religiösen Register geht, sondern einzig um eine sexuelle Doppelmoral, nach der junge Mädchen bis zur Ehe streng zu Hause gehalten und überwacht werden sollen, während jungen Männern vor der Ehe Freiheit in jedem Sinne zugestanden wird. Gretchen setzt sich allerdings ganz entschieden von dieser Doppelmoral ihrer kleinstädtischen Gesellschaft ab. So bekundet sie die Hoffnung, dass für das schwangere Bärbelchen nochmals alles gut ausgehen und ihr Liebhaber sie ehelichen würde, worauf Lieschen antwortet: Er wär’ ein Narr! Ein flinker Jung’ Hat anderwärts noch Luft genung, Er ist auch fort. GRETCHEN Das ist nicht schön! LIESCHEN Kriegt sie ihn, soll’s ihr übel gehn. Das Kränzel reißen die Buben ihr, Und Häckerling streuen wir vor die Tür! (Goethe, Faust, V. 3571–3576) Offenbar ist es nicht genug, dass uneheliche Mütter geächtet werden. Das Maß an Ressentiment und Hass zeigt sich nämlich ganz besonders in Lieschens letzter Wendung, die zunächst einmal Gretchens Hoffnung auf einen guten Ausgang mit der Rechtfertigung der Doppelmoral entgegnet. Ein flinker Jung, also ein aufgeweckter, tüchtiger junger Mann, der eine Zukunft vor sich hat wird sich nach Lieschen doch nicht seine Luft bzw. Mobilität nehmen lassen und auf eine vorschnelle Ehe festlegen. Ja, und wenn dann Gretchen diese Doppelmoral als unschön anklagt, so widerspricht ihr Lieschen, indem sie die Frauenfeindlichkeit dieser Doppelmoral noch verstärkt und ihren Willen kundtut, dass, auch wenn der junge Mann Bärbelchen ehelichen sollte, sie dennoch der schlimmsten Ächtung ausgesetzt werden solle. Schon durch ihre kurzen Einwendungen gegenüber Lieschen wird klar, dass Gretchen durchaus eine eigene kritische Stellung vertreten kann. Nach dem Abtritt Lieschens verstärkt sich diese dann zur kritischen Selbstreflexion:

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Wie konnt’ ich sonst so tapfer schmälen, Wenn tät ein armes Mägdlein fehlen! Wie konnt’ ich über andrer Sünden Nicht Worte g’nug der Zunge finden! Wie schien mir’s schwarz, und schwärzt’s noch gar, Mir’s immer doch nicht schwarz g’nug war, Und segnet’ mich und tat so groß, Und bin nun selbst der Sünde bloß! Doch – alles was dazu mich trieb, Gott! war so gut! ach war so lieb! (Goethe, Faust, V. 3577–3586) Äußerst wichtig und interessant an diesem kurzen Selbstgespräch Gretchens ist, dass hier zwar einerseits ihre Fähigkeit, selbstkritisch Verantwortung für ihr Verhalten zu übernehmen, bewiesen wird, doch diese Selbstkritik andererseits nicht in völliger Selbstvernichtung oder -verdammung mündet, sondern, ganz im Gegenteil, dass Gretchen die dieses Fehlverhalten fördernden und die menschliche Sexualität verurteilenden gesellschaftlichen Normen kritisch bewertet. Gretchen kommt aufgrund ihrer eigenen Erfahrung zu einer völlig anderen Einstellung gegenüber ihrer Sinnlichkeit als z.  B. Emilia Galotti. Die kritische Diskussion dieser Szene ist vornehmlich auf die grausamen Ächtungsrituale fokussiert, denen uneheliche Mütter angeblich ausgesetzt waren.20 Gretchen hat aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen kritische Distanz zu diesen Ritualen gewonnen, was es ihr erlaubt, sich mit den Opfern dieser Doppelmoral solidarisch zu fühlen. Ihr Bedauern sowie ihre Einsicht und Selbstreflexion werden jedoch in der Forschungsliteratur kaum zur Kenntnis genommen. Und doch wären genau diese Fähigkeiten Gretchens bei einer umfassenderen Interpretation von Faust 1 mit den unterschiedlichen Strategien, mit denen sich der Titelheld einer kritischen Selbstreflexion entzieht, zu kontrastieren.

20 Obwohl die Sekundärliteratur zu Faust immer wieder Gretchens Handlung als hilflose Reaktion auf angedrohte Ächtungsrituale liest, stimmt diese Lesart keinesfalls mit Goethes Darstellung der Figur Gretchens überein, wie sie auch die historische Realität fälschlicherweise auf den weitverbreiteten und lebhaften Diskurs zum Kindsmord reduziert. Siehe auch Hull, Sexuality, State, and Civil Society, S. 281, die diese reduktionistische Lesart kontert: »The infanticide literature was as fictional as the masturbation tracts. The social portrait it drew bore little relation to reality. Historical research has shown that infanticide was not a widespread practice, most illegitimate mothers and illegitimate fathers were of the same age and social origins, few were bourgeois, and the mother’s motive to kill her baby was more likely to be economic and generally social, than to save her (sexual) honor.«



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III. Gretchens Isolation: Das Bild der verlorenen Unschuld Im Vergleich mit den anderen Gretchenszenen kommt Gretchen in Zwinger am meisten zum Sprechen. Der Ort von Gretchens Gebet, vor einem Andachtsbild der Mater dolorosa in einer Nische der Stadtmauer, ist in dieser Szene an die Peripherie des Städtchens verlegt, einen Ort, der gewissermaßen genau das Gegenteil zu Dom, dem Bischofssitz und damit auch Zentrum patriarchalischer Machtverhältnisse, bildet. Im Gegensatz zu Gretchens durch den bösen Geist und das Getöse des Dies irae-Hymnus verhinderter Andacht in Dom handelt es sich hier um ein ganz persönliches Gebet vor einem Andachtsbild der Mater dolorosa, das sich von der Schmerzerfahrenen Zuwendung und Mitleid für ihren Seelenzustand erbittet: Ach neige, Du Schmerzenreiche, Dein Antlitz gnädig meiner Not! Das Schwert im Herzen, Mit tausend Schmerzen Blickst auf zu deines Sohnes Tod. Zum Vater blickst du, Und Seufzer schickst du Hinauf um sein’ und deine Not. (Goethe, Faust, V. 3587–3595) Doch – und dies wird kaum je zur Kenntnis genommen – Gretchens Gebet bleibt unerhört. Die Schmerzensreiche neigt sich ihr nicht zu, ihr Blick bleibt, wie zweimal wiederholt wird, nach oben, auf den Tod des Sohnes und den Vater gerichtet. Die solidarische Zuwendung unter Frauen, zu der sich Gretchen selbst kurz davor am Brunnen fähig gezeigt hat und derer hier auch sie selbst bedarf, bleibt aus. Gretchen wird von der Mater dolorosa nicht anerkannt. D.h. die ihr spezifische, sie individualisierende Erfahrung von Schmerz und Angst wird von der Angebeteten nicht wahrgenommen, obwohl gerade sie diese aus eigener Erfahrung kennen sollte: Wer fühlet, Wie wühlet Der Schmerz mir im Gebein? Was mein armes Herz hier banget, Was es zittert, was verlanget, Weißt nur du, nur du allein!

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Wohin ich immer gehe Wie weh, wie weh, wie wehe Wird mir im Busen hier! Ich bin, ach! kaum alleine, Ich wein’, ich wein’, ich weine, Das Herz zerbricht in mir. (Goethe, Faust, V. 3596–3607) Gretchen ist in ihrem Leid somit völlig isoliert und muss sich allein ihren Tränen überlassen. Doch sie unternimmt einen allerletzten Versuch, die Aufmerksamkeit und Zuwendung der Angebeteten zu erhalten: Die Scherben vor meinem Fenster Betaut ich mit Tränen, ach! Als ich am frühen Morgen Dir diese Blumen brach. Schien hell in meine Kammer Die Sonne früh herauf, Saß ich in allem Jammer In meinem Bett schon auf. Hilf! rette mich von Schmach und Tod! Ach neige, Du Schmerzenreiche, Dein Antlitz gnädig meiner Not! (Goethe, Faust, V. 3608–3619) In diesem letzten Versuch erfleht sie sich das Mitleid der Angebeteten, indem sie diese an ihre Opfergabe, die Blumen, die sie ihr zum Andachtsbild gebracht hat, erinnert und erzählt, wie sie beim Blumenpflücken über den Scherben bzw. dem Tonkrug vor ihrem Fenster geweint hat. Die darauffolgende Strophe, die thematisiert, wie sie bereits bei Sonnenaufgang allein mit ihrem Kummer aufwacht, könnte so gedeutet werden, dass mit diesem winzigen Narrativ der Angebeteten nochmals eindringlich Gretchens völlige Isolation, d.  h. der Umstand signalisiert werden soll, dass ihr Geliebter ihr nicht die Zuwendung und Anerkennung zuteilwerden lässt, die sie sich von der Mater dolorosa erfleht. Wenn wir die aufeinanderfolgenden Szenen Am Brunnen und Zwinger zusammen betrachten, wird darüber hinaus klar, dass die Ursache für Gretchens um Luft ringende Ohnmacht in Dom nicht in ihrer Fähigkeit zur kritischen und selbstkritischen Reflexion zu suchen ist, sondern in ihrer Isolation, genauer: in der Tatsache, dass sich ihr kein mitfühlendes Ohr zur Verfügung stellt, niemand, der helfen könnte, ihre Ängste in eine angemessene Perspektive zu rücken,



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indem er die sie individualisierenden Umstände verstünde. Diese Art von radikaler Verlassenheit ist es dann auch, die es dem bösen Geist in Dom ermöglicht, Gretchens Fähigkeit zur kritischen Reflexion und Abstandnehmen mit der absoluten Verdammung der Sünde, der Stimme des letzten Gerichts gleichzusetzen und sie geradezu in ihrer Individualität zu vernichten. Und dieses Defizit ist es auch – wie ja gerade der verzweifelte letzte Anlauf vor dem Andachtsbild zeigt –, das Gretchen, wie sie ganz allein, zutiefst betrübt und verlassen dasteht, zumindest für die Zuschauer oder Leser des Dramas in der Pose der verlorenen Unschuld erscheinen lässt. Während nun diese Pose durch das durch weitverbreitete Drucke wohlbekannte Gemälde La cruche cassée von Greuze bekannt wurde, so wurde sie ebenfalls, wie bereits erwähnt, durch Diderot’s Besprechungen von Greuze mit der Illusionsdramaturgie des bürgerlichen Trauerspiels assoziiert.21

IV. Die zwei Versionen von Nacht: Das Opfer Gretchens und der Abschied vom Bild der verlorenen Unschuld In der früheren Fassung von Faust, in der die Szene Nacht auf Dom folgt, besteht die wesentlich kürzere Szene nur aus zwei zeitlich aufeinanderfolgenden Teilen: und zwar zunächst aus einem Monolog von Gretchens Bruder Valentin, der den Rufverlust seiner Schwester als gefallenes Mädchen als Verletzung seiner männlichen Ehre beklagt; und dann lose darauffolgend aus dem Gespräch zwischen Faust und Mephisto, in dem Faust seine bedrückte Stimmung mitteilt, während Mephisto sich mit der Frühlingsstimmung der Katzen identifiziert und seinen Kumpanen tadelt, dass er sich dem Stelldichein mit seinem Liebchen wie dem Tode nähert. Daraufhin scheint sich Faust ein Herz zu fassen, indem er seine seelische Verfassung anders schildert und sich mit einer Naturgewalt identifiziert. Dabei entwirft er sich als unbehausten »Unmensch«, der gleich einem »Wassersturz« alles, auch »sie mit kindlich dumpfen Sinnen, / Im Hüttchen auf dem kleinen Alpenfeld« mit sich ins Verderben reißt: »Sie! Ihren Frieden musst ich untergraben, / Du Hölle wolltest dieses Opfer haben.« In der letzten Fassung wird allerdings genau dieser Monolog Fausts in die Szene Wald und Höhle vorverlegt, d.  h. vor Fausts ersten nächtlichen Besuch bei Gretchen gestellt. Damit 21

»La cruche cassée«, entstanden in den frühen 1770er Jahren, ist und war mit Sicherheit das bekannteste Gemälde des seinerzeit europaweit berühmt-berüchtigten Greuze. Daran lässt Anita Brookner in ihrer immer noch maßgeblichen Monografie, Greuze. The Rise and Fall of an Eighteenth-Century Phenomenon, New York 1972, S. 73, keinen Zweifel. Während Greuze seine Werke zu deren weiterer Verbreitung in der Regel vielfach in Drucken nachmachen ließ, finden sich zur konkreten Verbreitung von »Cruche«-Kopien nur schwerlich Informationen. Der Papiernachdruck von Jean Massard ist allerdings ebenfalls weithin bekannt.

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wird dann auch die »Opferlogik« des Titelhelden, der in diesem Monolog seine Bereitschaft ausdrückt, seine Geliebte dem Tod zu übergeben, wenn er sich nur seinem Genie entsprechend ausleben kann, von der »Opferlogik« des Stückes genauer getrennt. Gerade im Hinblick auf die Gretchentragödie wird dadurch eine genauere Unterscheidung zwischen der gesellschaftlich herrschenden Sexualmoral, nach der außerehelicher Geschlechtsverkehr von Frauen gnadenlos verurteilt wird, während Männern sexuelle Freizügigkeit im Namen von Mobilität durchaus zugestanden wird, und der Tendenz des Titelhelden, sich aller Verantwortung für die »Opfer« seiner Selbstverwirklichung zu entziehen sowie dessen Fähigkeit, sich seine Beweglichkeit bei deren Behinderung durch zunächst imaginative Projektionen in einen anderen Raum und eine andere Zeit zu sichern, betont. Andererseits wird aber auch erst in der letzten Version Gretchen noch deutlicher zum Opfer der allgemeineren, weit verbreiteten sexuellen Gewalttätigkeit, die als fester Bestandteil und Grundtenor des »Volkes« in Faust in den Szenen Auerbachs Keller sowie Vor dem Tor aufgezeigt wird. Die ausführlichere Darstellung der Figur Valentins sowie die Anspielungen auf Emilia Galotti in der zweiten Fassung von Nacht sind dabei entscheidend. In der letzten Fassung ist die Szene Nacht. Straße vor Gretchens Tür im Ganzen wesentlich länger. Wie schon in der frühen Fassung beginnt diese Szene mit Valentins Klage über seinen Ehrverlust, daraufhin tauchen die beiden Herren auf und Faust teilt zunächst einmal Mephisto seinen düsteren Seelenzustand mit: Wie von dem Fenster dort der Sakristei Aufwärts der Schein des ew’gen Lämpchens flämmert Und schwach und schwächer seitwärts dämmert, Und Finsternis drängt ringsum bei! So sieht’s in meinem Busen nächtig. (Goethe, Faust, V. 3650–3654) Mephisto kontrastiert Fausts Beklemmung mit der geschmeidigen Beschreibung seiner katzenhaften Gelüste.22 Fausts Antwort auf diese Herausforderung resultiert in dieser letzten Fassung dann nicht mehr in der »entschuldigenden« Projektion und Identifikation mit dem rauschenden, angeschwollenen Bergbach im Frühling, sondern in Fragen nach der bevorstehenden Walpurgisnacht. 22

»Das an den Feuerleitern schleicht, Sich leis dann um die Mauern streicht; Mir ist’s ganz tugendlich dabei, Ein bißchen Diebsgelüst, ein bißchen Rammelei. So spukt mir schon durch alle Glieder Die herrliche Walpurgisnacht.« (Goethe, Faust, V. 3655–3661)



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Als Mephisto dann Fausts Geliebter ein Ständchen anstimmt, für das er zynisch ein »moralisches Lied« gewählt hat, erscheint Valentin und es kommt zu Handgreiflichkeiten, bei denen Valentin tödlich verletzt wird, was Mephistos und Fausts unverzügliche Flucht erfordert. Im letzten Segment dieser Szene erscheinen Marthe und Gretchen durch den Aufruhr herbeigerufen auf der Straße. Der schwerverletzte Valentin wird von den Beistehenden umringt und stirbt nach einer langen hasserfüllten Schimpftirade gegen seine Schwester, in der er eine Hure sieht und der er, auch im Fall, dass Gott ihr verzeihen sollte, alle erdenkliche Schmach und Ächtung auf Erden wünscht. Auf der Handlungsebene wird Faust durch den Mord an Valentin zu einem Gesetzesflüchtigen, was damit notwendig auch seinem Kontakt mit Gretchen ein Ende setzt. Doch darüber hinausgehend bietet der mittlere Teil dieser Szene im Gespräch zwischen Faust und Mephisto einen Kommentar auf einer intertex­tuel­ len Ebene, die nur in dieser letzten Version ganz gezielt auf Emilia Galotti verweist. Wenn nämlich Faust in Antizipation der Walpurgisnachtfeierlichkeiten bei Mephisto nachfragt, ob er nicht dort ein »Geschmeide« oder gar einen »Ring« für seine Geliebte erwarten könne, so entgegnet Mephisto, dass ein derartiger Schmuck für Gretchen nicht zu erhoffen sei, dass er allerdings auch »so ein Ding« … »wie eine Art von Perlenschnüren« gesehen habe. Vom Brautgeschmeide, das sich in Perlen verwandelte, hat nun gerade Emilia, wie sie am Hochzeitsmorgen ihrer Mutter berichtet, dreimal geträumt. Aus diesem Grund, so teilt sie auch ihrem Bräutigam mit, werde sie den ihr von ihm geschenkten Schmuck nicht zur Hochzeit tragen. Denn Perlen, so erläutert sie, bedeuten Tränen. Wozu dann ihre Mutter noch hinzufügt, dass nichtsdestotrotz Emilia gerade für Perlen eine besondere Vorliebe hege. In Lessings Stück wird mit dem Motiv der Perlen Emilias tragischer Tod am Hochzeitstag vorbereitet. Über dieses Motiv wird ausgeführt, weshalb Emilia nicht den Brautschmuck trägt, sondern, wie sie dann ihrem Verlobten erklärt, sich so kleiden wird, wie er sie zuallererst gesehen hat und – wie er ihr beteuert – auch seither immer vor seinem geistigen Auge sieht. In genau dieses Bild wird sie sich an ihrem Hochzeitstag verwandeln: ein fließendes Kleid, offene, natürliche Locken und eine Rose im Haar: Ein Bild von Jugend und Unschuld, das damit bekräftigt und festgehalten werden soll, das aber gerade auch, wenn es zur Hochzeit kommen sollte, vernichtet werden müsste. Wenigstens dann, wenn unter Unschuld sexuelle Unberührtheit verstanden wird, wie dies eben gerade Emilias, Odoardos und Appianis Verständnis kennzeichnet und wie dies schon durch die Belästigung in der Kirche für Emilia grundlegend in Frage gestellt ist. Neben Emilias Hochzeitskostümierung ist an dem Perlenmotiv hinsichtlich dieser Szene in Faust allerdings genauso wichtig, dass es auch dazu dient, den Seelenzustand des Bräutigams genauer zu beleuchten. Als sich Claudia

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nach Appianis melancholischem Zustand erkundigt, gesteht er ihr, dass er sich sorgt, dass es nicht zur Eheschließung kommen sollte. Er habe nämlich seinen Freunden, die ihn dazu drängten, versprochen, beim Prinzen vorzusprechen und diesen von seinen Heiratsplänen zu unterrichten. Bei Appianis Melancholie handelt es sich um seine Trauer darüber, dass er sich schon im Voraus mit der Gefährdung der Eheschließung, ja dem Verlust seiner Braut geradezu abgefunden findet. Bei Fausts melancholischer Stimmung, die am Anfang von Nacht im Bild des flimmernden ewigen Lämpchens angesprochen wird, handelt es sich ebenfalls darum, dass er durchaus bereit ist, Gretchen zu verlieren, wenn er die Aussicht vor sich sieht, neue Schätze auf dem Blocksberg zu finden. Auch antizipiert das Bild vom flimmernden »Lämpchen« (nicht mehr die »flimmernde Lampe« wie in der früheren Fassung) schon das flackernde Irrlicht, das Faust durch den von Frühjahrstürmen heimgesuchten Wald zum Blocksberg leitet. Er ist innerlich gewissermaßen schon auf dem Weg. Dass er sich dies nicht ganz einzugestehen vermag, den Verlust seiner Geliebten aber bereits antizipierend akzeptiert und betrauert, macht ihn in diesem Sinne durchaus vergleichbar mit Appiani. Während nun Lessings Titelheldin am Hochzeitsmorgen als tragisches Kostüm die Erscheinung wählt, die sie ihrem Bräutigam bei ihrer ersten Begegnung war, wird Gretchen von Mephistos »moralischem« Ständchen genau zu dem gefallenen Mädchen der Doppelmoral, das schon von Lieschen angesprochen wird, das den Liebhaber sowie alle Eheaussichten verlieren wird und der sogar noch Schlimmeres bevorsteht. In der Gegenüberstellung des gefallenen, verlassenen Mädchens, zu dem Gretchen geworden ist, auf der einen Seite und dem »flinken Jungen,« der noch »Luft« hat und sich daher auch nicht vorzeitig auf eine Ehe festlegen lassen muss, sowie des frei herumziehenden, »ehrlichen« Soldaten, für den sich Valentin hält, wird in dieser Version von Nacht auch noch ganz explizit ein Platz für Faust freigehalten, da auch dieser ständig in Bewegung bzw. unterwegs sein muss. Auf meta- und intertexueller Ebene wird hier Fausts Bereitschaft, sich auf das neue Abenteuer der Walpurgisnacht einzulassen, auch als Einwilligung in das »Opfer« oder den melancholischen Abschied vom Bild der (verlorenen) Unschuld markiert. Obwohl Gretchen gerade nicht wie Emilia Galotti unter dem erdrückenden Einfluss eines sie liebenden Vaters steht, der sich als freier republikanischer Bürger behaupten will, wird diese patriarchalische Instanz dennoch ganz entschieden von der Figur Valentins vertreten. Gretchens Bruder nimmt lautstark das patriarchalische Privileg des »Ehrenmords« für sich in Anspruch, wobei er auch betont, dass sein Ausagieren von Ächtung und Aggression gegen seine Schwester sowie gegen Marthe bei weitem all die Ächtungsrituale der traditionellen Kirchenzucht übertreffen soll. Entgegen der herrschenden germanistischen Forschung zu Faust, die die Figur Valentins in Einklang mit den traditionellen



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Ächtungsritualen gegen uneheliche Mütter bringt, möchte ich die Lesart Isabel Hulls hervorheben, die das Drama Faust 1 sowie auch die Figur des Titelhelden schon im Zeichen der ›liberalen‹ Gesetzgebung des ausgehenden 18. und frühen 19.  Jahrhunderts liest. So betont Hull, dass einerseits die Kirchenzucht und die Hinrichtung von Kindsmörderinnen gegen Ende des 18.  Jahrhunderts entschieden nachgelassen hat, dass aber auch andererseits gerade mit der neuesten und progressivsten Gesetzgebung der Jahrhundertwende, wie sie sich z.  B. im Allgemeinen Preussischen Landrecht äußert, eine ganz andere Sexual- und Familienpolitik verfolgt wird: Den unehelichen Kindsvätern darf nicht mehr nachgeforscht werden, was sich, wie Isabel Hull anmerkt, sehr gut mit Fausts ›Freiheit‹ und moderner Mobilität verträgt.23 Und auch der Napoleonische Code Pénal von 1810, Zeichen einer ›liberalen‹ Gesetzgebung, verleiht dem Ehemann das Privileg, seine inflagranti beim Ehebruch erwischte Frau umzubringen, ohne Strafverfolgung fürchten zu müssen.24 Den letzten Verweis auf das Bild von der verlorenen Unschuld sowie auf Lessings kritische Auseinandersetzung mit demselben in Emilia Galotti finden wir nun auch tatsächlich in der turbulenten Walpurgisnachtfeier, in der Faust, zwi23 Siehe »The Infanticide Debate«, in Isabel V. Hull, Sexuality, State, and Civil Society, S. 111– 116, und »Infanticide«, S. 280–285. Hull beschäftigt sich mit den Diskrepanzen zwischen dem weitverbreiteten Diskurs zum Phänomen des Kindsmords, der Aufnahme dieses Diskurses in fiktionale, literarische Texte sowie mit den tatsächlichen, historisch nachweisbaren Ereignissen, sozialen Praktiken sowie rechtlichen Regelungen. Ihre Forschung hat gezeigt, dass es historisch nicht haltbar ist, wenn Germanisten die literarische Darstellung der Kindsmörderinnen im ausgehenden 18.  Jahrhundert einfach als Widerspiegelung der tatsächlichen historischen Verhältnisse interpretieren. Stattdessen liest sie die literarische Bearbeitung des Phänomens im Hinblick auf ein Experiment mit den beginnenden Reformen nach denen nicht nur die Kirchenzucht zunehmend abgeschafft wurde, sondern auch der Kindsvater unehelicher Kinder letztlich nicht mehr zur Verantwortung gezogen wurde. »The infanticide tales, like the prescriptive literature, occur in a world of pure fantasy, where the man is the only active subject.« (S. 284) So liest sie dann auch Faust als Vertreter des liberalen Bürgers des kommenden 19.  Jahrhunderts, dessen Mobilität und auch sexuelle Freiheit mit der Zurücknahme staatlicher Regulierung von Sexualität einerseits und der Einschränkung weiblicher Sexualität andererseits einhergeht. Siehe hierzu bes. S.  282: »The infanticide literature is a harbinger, a rehearsal of the potential consequences of this development in civil society, a development which reached its logical conclusion in section 340 of the Code Napoleon, forbidding state inquiry into out-ofwedlock paternity.« 24 Siehe die explizite Regelung in Sektion 324 des Code Pénal De L’Empire Français, Paris 1810: »[D]ans le cas d’adultère, prévu par l’article 336, le meurtre commis par l’époux sur son épouse, ainsi que sur le complice, à l’instant où il les surprend en flagrant délit dans la maison conjugale, est excusable.« Digitalisiert verfügbar unter http://gallica.bnf.fr/ ark:/12148/bpt6k57837660 (03. 02. 2018).

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schen all den Hexen und mythologischen Gestalten, ganz plötzlich von einer Gretchen ähnelnden, stummen Figur fasziniert wird: »Ich kann von diesem Blick nicht scheiden. / Wie sonderbar muß diesen schönen Hals / Ein einzig rotes Schnürchen schmücken, / Nicht breiter als ein Messerrücken!« (Goethe, Faust, V. 4202–4205) Das »rote Schnürchen« greift hier nämlich die »Perlenschnürchen« aus der Szene Nacht wieder auf, nur dass es sich ganz offensichtlich um das Schreckensbild der geköpften Kindsmörderin handelt, die im Kerker ihre Hinrichtung wie ihren Hochzeitstag erwartet. Weiterhin spielt die Vision der hingerichteten Margarete auch auf die von Odoardo Galotti inszenierte Schreckensvision der erstochenen Emilia an, die ja gerade in ihrer anti-theatralischen Inszenierung darauf abzielte, die Lust des Prinzen für immer zu vergällen. Und genau diese Kastrationsdrohung, die mit diesem schrecklichen Anblick verknüpft ist, scheint sich sogar bis auf Mephistos Empfinden zu erstrecken. Mephisto, der sonst über alle Erscheinungen des Hexensabbats eine gewisse Gewalt ausübt, ist gegenüber diesem vom ihm als lebloses Zauberbild und Idol bezeichneten Phänomen machtlos und drängt Faust, sich abzuwenden und weiterzugehen, da es sich hier um die versteinernde Macht der von Perseus enthaupteten Medusa handle.25 Und tatsächlich endet mit dieser Gestalt auch schon fast der ganze bunte Trubel auf dem Blocksberg, wenngleich dieser anti-theatralischen Figur zunächst einmal, gewissermaßen als Gegengift, das Meta-Theater von Walpurgisnachtstraum entgegengesetzt wird. Das faszinierende Schreckensbild der hingerichteten Margarete am Ende von Walpurgisnacht markiert das Ende von Goethes Auseinandersetzung mit Lessings Kritik der Gattung des bürgerlichen Trauerspiels in Emilia Galotti. Man könnte auch sagen, dass in Dom die weibliche Protagonistin des bürgerlichen Trauerspiels à la Brecht »moralisch hingerichtet« und in Walpurgisnacht das Bild von der verlorenen Unschuld à la Greuze (allerdings als schon geköpftes Mädchen) nochmals abschließend kritisch auf die Bühne gebracht wird.

V. Gretchen als tragische Heldin Wenn es nun stimmt, wie ich zu zeigen versucht habe, dass Goethe mit seiner Arbeit am ersten Teil von Faust, die in Faust. Der Tragödie erster Teil ihren Abschluss findet, sich mit der Frage auseinandersetzt, welche Art von weibli25

Gerade im moralisierenden anti-theatralischen Diskurs des 18. Jahrhunderts findet sich die Kastrationsdrohung der Medusa eng assoziiert mit der Figur der frei zirkulierenden Schauspielerin. Siehe hierzu besonders anschaulich William Hogarths weitverbreiteter Druck »Strolling Actresses in a Barn«, bei dem im Zentrum des Bildes hinter einer mit geschürztem Rock tanzenden Schauspielerin das Bildnis der Medusa zu sehen ist.



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cher Figur eine tragische Statur haben kann, ohne die Klischees der Gattung des bürgerlichen Trauerspiels zu übernehmen, so gilt es noch kurz abschließend auf Gretchen in der letzten Version von Kerker zu schauen. In dieser letzten Szene des Stücks hat Gretchen nun jegliche Ähnlichkeit mit den Protagonistinnen des bürgerlichen Trauerspiels abgelegt und begegnet uns vielmehr als Heldin einer anderen Form von Theater. So hat sie in dieser Szene mehr als in den meisten ihr vorausgehenden das Wort, und, was noch wichtiger ist: Sie verfügt über eine Vielzahl diskursiver Möglichkeiten, die nicht an den unmittelbar sie umgebenden Kontext gebunden sind. Hier liegt nun auch der Unterschied zu den von mir hier nicht behandelten Gretchenszenen, in der sie als Liebende gezeigt und – mit Ausnahme von Gretchens Stube – im Text der Bühnenanweisungen Margarete genannt wird. Bernhard Greiner und Maike Orgel, die ihre Untersuchungen zu Goethes Revision der Gretchenfigur während seiner Arbeit an der Tragödie vor allem auf diese erste Hälfte der um Gretchen zentrierten Szenen fokussieren, haben überzeugend dargelegt, dass das tragische Potential dieser Figur in ihrer von den Klischees des männlichen Bildes vom unschuldigen Naturkind, der Jungfrau und Mutter abweichenden, ja diese herausfordernden Sprache und Sprechweise liegt, was ganz besonders in Gretchens Gesang der Ballade vom König von Thule sowie in ihrem Lied am Spinnrad zum Ausdruck kommt. Allerdings unterscheiden sich diese Szenen von Kerker, in dem die Protagonistin auch Margarete genannt wird, darin, dass sie als Szenen einen einheitlich definierten Kontext für eine jeweilige Sprechsituation und Sprechweise vorgeben. Bei der letzten Szene Kerker nimmt die Protagonistin im Gegensatz dazu viele unterschiedliche, ja sogar miteinander unvereinbare Sprecherpositionen ein. Hier ließe sich nun einwenden, dass Kerker bereits zu den allerersten Szenen von Goethes Arbeit am Faust gehört.26 Ja, dass Gretchens unterschiedlichste Sprechweisen, ihre Vokalisierung der Perspektive des ermordeten Kindes im volkstümlichen Märchenton, ihr Erschrecken über Faust, in dem sie den vorzeitig erschienenen Henkersknecht sieht, die anschmiegsame Verliebtheit, als sie Faust an seiner Stimme erkennt, ihre Verzweiflung über den Tod der Mutter und die Tatsache, dass sie das Ertrinken des Kindes nicht mehr rückgängig machen kann, dass all dies und noch mehr sich völlig sinnvoll und kohärent als Ausdruck von Gretchens verzweifelter Lage erklären lässt, die sie in den Wahnsinn getrieben hat. All dem lässt sich natürlich zustimmen, doch nicht, wenn es um 26 So heißt es im Kommentar der Faust-Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags zur Szene Kerker: »Entstanden möglicherweise schon 1772 unter dem unmittelbaren Eindruck des Prozesses gegen die im August 1771 in Frankfurt eingekerkerte, im Januar 1772 öffentlich enthauptete Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt.« Siehe Albrecht Schöne, Er­läu­te­ run­gen, in: Goethe, Faust, II, V. 149–1068, hier 375.

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die wesentlich erweiterte, in Verse gefasste Version von Kerker in Faust 1 geht. Denn bei dieser letzten Version geht es um wesentlich mehr als nur darum, die »unmittelbare Wirkung des ungeheuren Stoffes« zu dämpfen.27 Auch lässt sich diese Fassung nicht einfach psychologisch, realistisch als die zuletzt doch einheitliche Darstellung von Gretchens Verzweiflung und Wahn in den Worten der Regieanweisung »Es singt inwendig« (Goethe, Faust, V. 4411) fassen. Im Gegenteil, in der versifizierten und erweiterten Fassung wird genau auf die unterschiedlichen Aspekte dieses »es« von Gretchen reflektiert, sobald sie sich nicht mehr allein glaubt. Sobald Faust in ihrem Kerker ist, scheint Margarete in der Lage, in ihrer Rede und Sprechweise Situationen und Personen in Bezug auf die unterschiedlichsten Aspekte zu schaffen, die die Person Faust für sie bedeutet hat. In der ersten Version von Kerker verwechselt Margarete das Erscheinen Fausts mit dem eines Henkerknechts, der gekommen ist, um sie zur Hinrichtung abzuholen, und bittet diesen dann mädchenhaft, verführerisch um Mitleid und Gnade ob ihrer kindlichen Unschuld, während sie gemäß der Bühnenanweisung vor ihm auf dem Boden liegt. Hingegen vermag sie sich in der letzten Version eines völlig anderen, wesentlich beherrschteren und beherrschenderen Umgangstons zu bemächtigen. So erhebt sie sich und fordert, tadelt, klagt an, urteilt und beurteilt: »Bist du ein Mensch, so fühle meine Not. […] Wer hat dir Henker diese Macht / Über mich gegeben! […] Nah war der Freund, nun ist er weit; / Zerissen liegt der Kranz, die Blumen zerstreut. […] Ich bin nun ganz in deiner Macht.« (Goethe, Faust, V. 4425–4442) Der Unterschied zwischen der ersten und letzten Version könnte nicht drastischer sein. In der ersten ist Margaretes Sprechen von ihrem Wahnsinn markiert und fast durchgehend reaktiv, je nachdem darauf bezogen, was sie in ihrer Gegenwart wahrnimmt und mit welchen Erinnerungsfetzen sie es assoziiert. In der letzten Version nimmt sie aktiv an der sich entfaltenden Situation durch ihre Rede teil. Dabei verfügt Gretchen über ein breites Spektrum an Ausdrucksmöglichkeiten. Als die Stimme Fausts sie an den Geliebten erinnert, gestattet sie sich, diesen Geliebten in der Person dessen, der in ihr Gefängnis gekommen ist, wiederzubeleben, wobei sie sich der Sprache des Hohen Lieds in Goethes Übersetzung bedient. Gretchen entschuldigt Faust nicht, doch sie unterscheidet ihre und seine Lage ganz genau. Im Gegensatz zu ihm kann sie nirgendwohin fliehen, da sie überall von den Schreckensbildern ihres ertränkten Kindes und ihrer toten Mutter heimgesucht wird. Als Faust nicht daran erinnert werden will, dass er Blut an seinen Händen hat – »Laß das Vergang’ne vergangen sein. Du bringst mich um«  – antwortet sie: »Nein, du mußt übrig bleiben.« (Goethe, Faust, V. 4518– 27 Ebd.



emilias andacht und gretchens gewissen

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4520) Daraufhin gibt sie ihm genaue Anweisungen, wie sie und ihre Familienmitglieder bestattet und ihre Gräber angeordnet werden sollen. Dann schaut sie ihrem letzten Tag, dem Tag ihrer Hinrichtung als ihrem Hochzeitstag entgegen. Die Gretchenfigur in Kerker bricht zwar nicht aus ihrem Gefängnis aus, doch ist sie nicht mehr an eine eng definierte, vorgeschriebene Sprechsituation gebunden. Sie leiht ihre Stimme dem ertränkten Kind in der volkstümlichen Sprache des Märchens, aber sie ist sich auch der Tatsache bewusst, dass dieselbe Sprache das Material für höhnische Lieder hergibt – wie sie schon die männlich aggressive Stimmung in Auerbachs Keller beherrscht  –, deren Doppelmoral auch sie zum Opfer gefallen ist. Sie kann das Bild ihres Liebhabers in der Sprache des hohen Lieds wiederbeleben, und sie vermag die tragische Statur einer Antigone anzunehmen, wenn sie der Vollstreckung ihres Todesurteils als ihrem Hochzeitstag entgegengeht. In vielerlei Hinsicht ließe sich kaum ein größerer Gegensatz als der zwischen dem Titelhelden Faust und der Figur Gretchens denken. Während Faust sich durch seine unhaltbare Mobilität auszeichnet, ist Gretchens Mobilität räumlich sehr stark beschränkt. Das Drama beginnt, indem Faust aus der Welt seines als Kerker verstandenen Studierzimmers ausbricht. Das Drama endet damit, dass Margarete im Kerker Fausts Befreiungsangebot zurückweist. Während Faust nicht in der Gegenwart verweilt, sondern sich, sobald er sich beengt fühlt, in eine freiere, andere Umgebung projiziert, setzt sich die Margarete der Kerkerszene mithilfe der ihr neu zugeordneten Macht frei, Sprechsituationen zu setzen und damit sowohl sich als auch ihr angeredetes Gegenüber zu definieren. Dieser Aspekt der Gretchenfigur hat fast nichts mehr mit der Heldin des bürgerlichen Trauerspiels gemeinsam. Das Einzige, was sie auch am Ende noch mit Emilia Galotti verbindet, ist die Tatsache, dass sich auch Gretchen außerhalb ihres Kerkers nicht frei bewegen kann.

astrid dröse / jörg robert (tübingen)

journalpoetik Kleists Erdbeben in Chili in Cottas Morgenblatt1

1. Journalpoetik und Schemaliteratur Ende September 1807 erhält Johann Friedrich Cotta einen Brief aus Dresden. Sein Absender, Heinrich von Kleist, äußert eine Bitte, die Cotta irritieren musste. Erfüllen konnte er sie ohnehin nicht mehr: Ew. Wohlgeboren haben durch den Hr. v. Rühle, während meiner Abwesenheit aus Deutschland, eine Erzählung erhalten, unter dem Titel Jeronimo und Josephe, und diese Erzählung für das Morgenblatt bestimmt. So lieb und angenehm mir dies auch, wenn ich einen längeren Aufenthalt in Frankreich gemacht hätte, gewesen sein würde, so muß ich doch jetzt, da ich zurückgekehrt bin, wünschen, darüber auf eine andre Art verfügen zu können. Wenn daher mit dem Abdruck noch nicht vorgegangen ist, so bitte ich Ew. Wohlgeboren ergebenst, mir das Manuskript, unter nachstehender Adresse, gefälligst wieder zurückzusenden. Ich setze voraus, daß dieser Wunsch Ew. Wohlgeboren

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Dieser Beitrag skizziert ein Projekt, das am Lehrstuhl für Literaturgeschichte der Frühen Neuzeit (Deutsches Seminar/Tübingen) in Kooperation mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) entwickelt wird. Es widmet sich der Erschließung von Cottas erfolgreichstem Zeitschriftenprojekt, dem Morgenblatt für gebildete Stände (bzw. gebildete Leser). Die Überlegungen wurden in Vortragsform auf folgenden Tagungen zur Diskussion gestellt: Die Zeitschrift. Sinn, Form, Konjunktur (DLA, 17.–18. Dezember 2016), Interpretation nach der »digitalen Wende« (Rikkyo-Universität/Tokyo, 25.–26.  Februar 2017), Cottas Journalpoetik – Forschung und Erschließung zwischen Globalgeschichte und digitaler Wende (DLA, 22.–23. Februar 2018). Wir danken dem DLA für die kontinuierliche Unterstützung bei der Konzeption des Beitrags und den Vorarbeiten für das Projekt sowie allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagungen in Marbach und Tokyo für Kritik, Impulse und Anregungen.

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in keine Art der Verlegenheit setzt, und bin mit der vorzüglichsten Hochachtung […].               Ew. Wohlgeboren ergebenster               Dresden, den 17. September                                                             Heinrich von Kleist, Pirnsche Vorstadt, Rammsche Gasse Nr. 123.2 Die in diesem Brief erwähnte Erzählung war einige Tage zuvor, zwischen dem 10. und 15. September 1807, unter dem vollständigen Titel: Jeronimo und Josephe. Eine Scene aus dem Erdbeben zu Chili, vom Jahr 16473 in fünf aufeinander folgenden Lieferungen (Nr. 217–221) im ersten Jahrgang des Morgenblatts für gebildete Stände erschienen.4 Der Autor des Textes und Verfasser des Briefes befand sich zuvor in französischer Kriegsgefangenschaft, zuletzt im Lager Châlons-sur-Marne. Erst im Juli 1807, nach dem Abschluss des Friedens von Tilsit, war Heinrich von Kleist freigekommen. Um seinen Lebensunterhalt in Gefangenschaft zu bestreiten und die Rückreise zu finanzieren, hatte er sich über seinen Freund Otto August Rühle von Lilienstern um den Verkauf diverser Manuskripte bemüht. Dass die Erzählung Jeronimo und Josephe in der Zwischenzeit bei Cotta erschienen war, muss Kleist dabei verborgen geblieben sein. Seine anderweitigen Absichten lassen sich dem Brief an Cotta nicht entnehmen; ein Antwortschreiben des Verlegers ist nicht überliefert. Auch das Manuskript wurde offenbar nicht zurückgesandt. Kleist konnte sich schließlich ein Exemplar des Morgenblatts besorgen, in das er seine Korrekturen einarbeitete. 1810 publizierte er dann die revidierte Fassung in der Buchausgabe seiner Erzählungen, jetzt unter dem Titel Das Erdbeben in Chili, der möglicherweise auf Georg Andreas Reimer, den Berliner Verleger der Erzäh-

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Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe, 2 Bde., hg. von Helmut Sembdner, Darmstadt ³1985, Bd. 2, S. 791 (im Folgenden zitiert: SW, Bandnummer, Seitenzahl.); bzw. digital: http://www.kleist-digital.de/brief?id=letters/b_112.xml. Letzter Zugriff 29. 05. 2019. Heinrich von Kleist, Jeronimo und Josephe. Eine Scene aus dem Erdbeben zu Chili, vom Jahr 1647, in: Morgenblatt für gebildete Stände, Nr. 217, 10. September 1807, S. 866. Über den Zeitpunkt der Abfassung lassen sich nur Vermutungen anstellen. Norbert Oellers, ›Das Erdbeben in Chili‹, in: Interpretationen. Kleists Erzählungen, hg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1998, S. 85–110, hier S. 106 votiert für eine frühe Abfassung 1801/1802 und führt neben Kleists Wallenstein-Lektüre (Pessimismus- und Theodizee-Motiv) die dichte Folge der Briefe an, »in denen sich Kleists verzweifelt pessimistisches Welt- und Geschichtsbild ähnlich artikuliert wie im Erdbeben«. Hinzu kommt die Nähe zum 1799/1800 entstandenen Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden. Ausführlich zu Entstehungs- und Druckgeschichte vgl. die ausgezeichnete Dokumentation in: Erläuterungen und Dokumente. Heinrich von Kleist. Das Erdbeben in Chili, hg. von Hedwig Appelt und Dirk Grathoff, Stuttgart 1990, S. 80–91.



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lungen, zurückgeht.5 Beide Abdrucke differieren im Textbestand kaum, wohl aber in der Gliederung.6 Der Zeitschriftendruck erfolgt in fünf Lieferungen und weist 31 Absätze auf, in der Buchfassung finden sich nur drei große Abschnitte – eine Unterteilung, die der Autor vermutlich selbst arrangierte, zumal sie der Erzähllogik des Textes entspricht.7 Inhaltlich ist die Änderung des Titels sicher die gravierendste Abweichung, da sie auf einen Perspektiv- und Genrewechsel verweist. Während der Journaltitel, wie Kleists Brief an Cotta zeigt, auf den Autor selbst zurückgeht, könnte der Untertitel – Eine Scene aus dem Erdbeben zu Chili, vom Jahr 1647 – ein Zusatz der Redaktion sein. »Es sollte nicht um die (private) Geschichte von zwei einzelnen Personen gehen, sondern um ein Geschichts(oder gar Welt-)Ereignis von allgemeiner (öffentlicher) Bedeutung.«8 Diese Fakten zur Entstehungs- und Druckgeschichte des Erdbebens in Chili sind in der Kleist-Forschung meist nur eine Fußnote – zu Unrecht. Die folgende Untersuchung nähert sich der Erzählung von ihrem Publikationskontext ›Zeitschrift‹ her.9 Kleists Text wirft ein exemplarisches Licht auf die Frühphase von 5 6

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Vgl. Claudia Liebrand, ›Das Erdbeben in Chili‹, in: Kleist Handbuch. Leben – Werk – Wir­ kung, hg. von Ingo Breuer, Stuttgart und Weimar 2009, S. 114–120, hier S. 114. In der Ausgabe des Deutschen Klassiker Verlags, die im Folgenden als Textgrundlage dient, werden Journal- und Buchfassung parallel abgedruckt. Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, hg. von Klaus Müller-Salget, Frankfurt a. M. 1990, hier Bd. 3, Erzählungen. Anekdoten. Gedichte. Schriften, S. 187–221 (im Folgenden zitiert: DKV, Bandnummer, Seitenzahl). Helmut Sembdner hat die neue Absatzgliederung dagegen auf den Umstand zurückge­ führt, dass bei Bewahrung der ursprünglichen Gliederung ein neuer Halbbogen hätte angebrochen werden müssen (SW9, Bd. 2, S. 902). Norbert Oellers, ›Erdbeben‹, S. 87. Die Journalforschung hat in den letzten Jahren einen bemerkenswerten Aufschwung genommen. Dies bezeugt etwa die DFG-Forschergruppe Journalliteratur: Format­be­din­ gun­ gen, visuelles Design, Rezeptionskulturen, deren Programmatik dokumentiert ist in Nicola Kaminski und Jens Ruchart, Das Pfennig-Magazin zur Journalliteratur. Erstes Heft: Journalliteratur – ein Avertissement, Hannover 2017. Die Forschergruppe zielt zum einen auf die Analyse der Materialität journalliterarischer Textformen (»Materialphilologie«), zum anderen auf die Rekonstruktion der zeitgenössischen Rezeption. Dabei wird der Einzeltext in seinem (para-)textuellen Umfeld untersucht. Vgl. auch den Sammelband Zeitschriftenliteratur/Fortsetzungsliteratur, hg. von Nicola Kaminski, Nora Ramtke und Carsten Zelle, Hannover 2014. Die neueste Einzelstudie zur Erschließung eines konkreten Zeitschriftenkorpus bietet Claudia Stockinger, An den Ursprüngen populärer Serialität. Das Familienblatt ›Die Gartenlaube‹, Göttingen 2018 – ebenfalls unter besonderer Beachtung der zeitgenössischen Rezeption sowie mit Blick auf ›Serialität‹; vgl. darüber hinaus auch: Jürgen Wilke, Zeitschrift, in: Handbuch Populäre Kultur. Begriffe, Theorien und Diskussionen, hg. von Hans-Otto Hügel, Stuttgart und Weimar 2003, S. 517–520; Vergessene Konstellationen literarischer Öffentlichkeit zwischen 1840 und 1885, hg. von Katja Mellmann und Jesko Reiling, Berlin und Boston 2016; Katja Lüthy, Die Zeitschrift. Zur Phänomenologie und Ge-

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Cottas Morgenblatt, in diesem Fall: den Gründungsjahrgang 1807. Es handelt sich um eine Phase, die infolge des 1810 vollzogenen Umzugs von Tübingen nach Stuttgart und dem damit verbundenen Verlust an Dokumenten bislang nur in Umrissen rekonstruiert werden konnte.10 Heuristischer Ansatzpunkt der Untersuchung ist das analytische Konzept der ›Journalpoetik‹.11 Unter ›Journalpoetik‹ verstehen wir die Gesamtheit jener Faktoren, die Umfang und Auswahl, Gliederung und Proportion sowie Komposition und (ko-)textuelles Arrangement einer Zeitschrift betreffen  – von der regulativen Gesamtprogrammatik bis zur Struktur der einzelnen Lieferung. Ein Aspekt der ›Journalpoetik‹ betrifft etwa das  – qualitative wie quantitative  – Verhältnis (Konkurrenz bzw. Kookkurrenz12) von fiktionalen zu faktualen, von literarischen zu pragmatischen Texten. ›Journalpoetik‹ ist dabei nicht einfach mit dem Willen des Herausgebers und/ oder der Redaktion gleichzusetzen, sondern resultiert aus dem Zusammenspiel von Kalkül, Konzeption und Kontingenz (z.  B. Eingang von Manuskripten). Sie konstituiert sich im Abgleich von Produzenten und Rezipienten sowie in Rückkopplungen mit sich wandelnden technischen Rahmenbedingungen. Für das hier vorgestellte Beispiel liegt der Akzent auf Fragen der Kotextualität und der Wechselwirkungen zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Texten, auf denen die Journalpoetik des Morgenblatts wesentlich beruhte. In einer »Instruction für die Redaction« des Morgenblatts hatte Cotta die Programmatik der Zeitschrift in diesem Sinne zusammengefasst:

schichte eines Mediums, Konstanz 2013; aus anglistischer Perspektive: Doris Lechner, Histories for the Many. The Victorian Family Magazine and Popular Representations of the Past. ›The Leisure Hour‹, 1852–1870, Bielefeld 2017. Ein instruktiver Beitrag der älteren Forschung ist Ulrich Kinzel, Die Zeitschrift und die Wiederbelebung der Ökonomik. Zur ›Bildungspresse‹ im 19. Jahrhundert, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 67 (1993), H. 4, S. 669–716. 10 Vgl. Bernhard Fischer, Cottas ›Morgenblatt für gebildete Stände‹ in der Zeit von 1807 bis 1823 und die Mitarbeit Therese Hubers, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 43 (1995), S. 203–239, hier S. 203. 11 Vgl. Astrid Dröse und Jörg Robert, Editoriale Aneignung und usurpierte Autorschaft. Friedrich Schillers ›Thalia‹-Projekt, in: Zeitschrift für Germanistik N.F. 27 (2017), S. 108–131. 12 Claudia Stockinger adaptiert diese Kategorie, die Moritz Baßler für Text-Kontext-Analysen entwickelt hat, für den konkreten Bereich der Journaltext-Analyse. Claudia Stockinger, Pater Benedict/Bruno von Rhaneck und Martin Luther, Zur Kookkurrenz von fiktionalen und faktualen Artikeln in der ›Gartenlaube‹, in: Zwischen Literatur und Journalistik. Generische Formen in Periodika des 18. bis 21. Jahrhunderts, hg. von Gunhild Berg, Magdalena Gronau und Michael Pilz, Heidelberg 2016, S. 175–193, hier S. 176  f. Moritz Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-KontextTheorie, Tübingen 2005.



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Es ist der Plan des Mbl. u. die Erwartung des Publikums d[urch] dieses Institut alles zu erhalten, was es von den Ereignissen, Erscheinungen im liter[arischen], Kunstfach p. interessiren kann, das Politische ausgenommen, es muß also […] alles andre benuzen um dasjenige zu ersezen, was sie durch eigne Correspondenz nicht erhalten […]. Das Mbl. muß d[urch] dise Benuzung u. d[urc]h die Correspondenz jeden Leser gleichsam in den Stand sezen, alles andre zu entbehren. Allen Etwas ist das HauptGesez das jeder Numer zur Norm dienen muß, man darf also annemen, daß in jeder derselbigen der Gelehrte, der Kaufmann, halb oder ganz gebildet der Geschäftige Müssigganger der Mann von Welt die Dame von Geist der Künstler etwas finde –.13 Das Morgenblatt verband die unterschiedlichsten Themengebiete und Lesererwartungen zu einem »Journal neuen Typs, das den Bedürfnissen des ›extensiven‹ Lesers entgegenkam.«14 Der Anschluss an das Programm der – von 1795 bis 1797 ebenfalls von Cotta verlegten – Horen zeigt sich nicht zuletzt in der Zurückhaltung gegenüber allen politischen Themen.15 Die beeindruckende Lebensdauer des am 1.  Januar 1807 begonnenen Unternehmens, das bis ins Jahr 1865 fortgeführt werden sollte (seit 1837 unter dem Titel: Morgenblatt für gebildete Leser), beruhte auf eben diesem Kalkül von »Kurzweiligkeit und Abwechslung«.16 13 Johann Friedrich Cotta, Instruction für die Redaction, zitiert nach: Helmuth Mojem, Über H. Clauren, das römische Kulturleben und die Meuterer der ›Bounty‹. Zum ›Morgenblatt für gebildete Stände‹, in: Johann Friedrich Cotta. Verleger – Unternehmer – Technikpionier, hg. von dems. und Barbara Potthast, Heidelberg 2017, S. 231–249, hier S. 231  f. 14 Helmuth Mojem, Über H. Clauren, das römische Kulturleben und die Meuterer der ›Bounty‹, S. 233. Zu den unterschiedlichen Lektürepraktiken eines ›konzeptionell‹ ge­dach­ten Lesers vgl. Claudia Stockinger, ›Gartenlaube‹, S. 24  ff. 15 »In der Tat scheinen die Zeitumstände einer Schrift wenig Glück zu versprechen, die sich über das Lieblingsthema des Tages ein strenges Stillschweigen auferlegen […] wird […].« Friedrich Schiller, Ankündigung. Die Horen, eine Monatsschrift, von einer Gesellschaft verfaßt und herausgegeben von Schiller, in: Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd.  22: Vermischte Schriften, hg. von Herbert Meyer, Weimar 1958, S. 106–109, hier S. 106. Ob diese politische Enthaltung tatsächlich ein durchgängiges Merkmal des Morgenblatts ist, bleibt zu untersuchen. 16 Helmuth Mojem, Über H. Clauren, das römische Kulturleben und die Meuterer der ›Bounty‹, S.  233. Zur Geschichte des Morgenblatts: Ludwig Salomon, Geschichte des deutschen

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Kleists Jeronimo und Josephe sollte nicht das letzte literarische Hauptwerk des 19. Jahrhunderts bleiben, das zuerst in Cottas Morgenblatt publiziert wurde. Texte wie Annette von Droste-Hülshoffs Die Judenbuche (1842), Teile von Heinrich Heines Reisebildern (1828), Theodor Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg (1860–1864)17 oder Gottfried Kellers Am Mythenstein (1861) sind im Journalkontext neben eher anspruchsloser Schemaliteratur zu finden, die mit ihren stereotypen Figuren- oder Handlungskonstellationen den Erwartungen der Leser entgegenkommt. Die Grenzen zwischen Trivial- und Hochliteratur, aber auch die zwischen fiction und non-fiction sind im Morgenblatt fließend.18 Fiktionales trifft auf Faktuales wie Korrespondenz-Nachrichten, Reportagen oder wissenschaftlichen Abhandlungen. Auch die vermeintliche »Dichotomisierung von hoher und niederer Literatur«19 stößt an Grenzen, wie nicht zuletzt Kleists Erdbeben zeigen wird. Methodisch gilt es an dieser doppelten Entgrenzung  – gegenüber nonfiction und Schemaliteratur – anzusetzen, will man die Wechselwirkungen zwischen Journal- und Gattungspoetik, aber auch zwischen ›editorialer Aneignung‹ und auktorialer ›Werkherrschaft‹20 neu in den Blick nehmen, eine Wechselwir-

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Zeitungswesens von den ersten Anfängen bis zur Wiederaufrichtung des Deutschen Rei­ ches, Bd.  2, Oldenburg und Leipzig 1906, S.  230–237; Frieda Höfle, Cottas ›Morgenblatt für gebildete Stände‹ und seine Stellung zur Literatur und zur literarischen Kritik, Berlin 1937; Sabine Peek, Cottas ›Morgenblatt für gebildete Stände‹. Seine Entwicklung und Bedeutung unter der Redaktion der Brüder Hauff (1827–1865), in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 6 (1964), Sp. 1427–1660; Dietmar Jacobsen, Literarische Kommunikationsverhältnisse und Zeitschriftenkritik. Die Reflexion des Funktionswandels der Literatur am Ausgang der Kunstperiode in der Belletristik-Kritik der ›Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung‹ und des Literaturblatts zum ›Morgenblatt für gebildete Stände‹ (1815–1830), ErfurtMühlhausen 1985; Dietrich Kerlen, Cotta und das ›Morgenblatt‹, in: »O Fürstin der Heimath! Glükliches Stutgard«. Politik, Kultur und Gesellschaft im deutschen Südwesten um 1800, hg. von Christoph Jamme und Otto Pöggeler, Stuttgart 1988, S. 353–381; Bernhard Fischer, Cottas ›Morgenblatt‹, S. 203–239. Roland Berbig, Fontane als literarischer Botschafter der brandenburgisch-preußischen Mark. Die ›Wanderungen‹-Aufsätze im ›Morgenblatt für gebildete Leser‹, in: »Geschichte und Geschichten aus Mark Brandenburg«. Fontanes ›Wanderungen durch die Mark Brandenburg‹ im Kontext der europäischen Reiseliteratur. Internationales Symposium des Theodor-Fontane-Archivs in Zusammenarbeit mit der Theodor Fontane Gesellschaft 18.–22.  September 2002 in Potsdam, hg. von Hanna Delf von Wolzogen, Würzburg 2003, S. 325–350. Vgl. Nicola Kaminski, Nora Ramtke und Carsten Zelle, Zeitschriftenliteratur/Fortsetzungsliteratur. Problemaufriß, in: Zeitschriftenliteratur/Fortsetzungsliteratur, hg. von dens., Hannover 2014, S. 7–39, hier S. 8. Peter Nusser, Art. Trivialliteratur, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von Harald Fricke u. a., Bd. 3, Berlin und New York 2003, S. 691–695, hier S. 692. Vgl. Heinrich Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft, Paderborn u.  a. 1981, der den Akzent auf die juristischen und ökonomischen Hintergründe des Urheberrechts legt. Zum Werk-



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kung, die sich in Kleists Fall im Dualismus von Journaldruck und Werkausgabe (im Rahmen der Erzählungen, 1810) sichtbar manifestiert. Kleists Text ist in der Morgenblatt-Fassung keineswegs ein autonomes Werk, sondern eine Koproduktion, an der Autor, Redaktor und Verleger in unterschiedlichem, heute nur noch schwer bestimmbarem Umfang Anteil haben. Diese kollaborative Autorschaft zeigt sich  – wie gesehen  – im Hinzufügen von Paratexten (Titel/Untertitel), in der Absatzgestaltung und in der Segmentierung des Textes zum Zweck der seriellen Publikation. Kleists eingangs zitierter Brief belegt Cottas entschiedene Appropriation des Textes, die dem Autor die Verfügungsgewalt über seinen Text entreißt. Auch die ›aufgeschobene‹ Nennung des Verfassernamens, der erst am Ende des abschließenden Teils (Nr. 221, S. 884) enthüllt wird, macht Autorschaft zum Bestandteil der Finalspannung. Autoren schreiben sich ihrerseits bewusst in journalpoetische Kontexte ein, indem sie bestimmten gattungs- und genrebedingten Schemata und Strukturen (z.  B. empfindsamen Semantiken) gehorchen (wollen). Darüber hinaus schlagen sich mediale Bedingungen  – Umfang der Lieferung, Layout, innere Verteilung der Artikel bzw. Themen usw.  – in Faktur und Struktur der Texte nieder. Medienstruktur wirkt auf Werkpoetik zurück. Da die literarischen Texte sehr häufig in mehreren, aufeinander folgenden Lieferungen erscheinen, stellen sich hier die bekannten Fragen des seriellen Erzählens21 (Absatzgliederung, cliffhanger,22 entrelacement usw.), wie sie zuletzt auch am Beispiel von Schillers Geisterseher diskutiert wurden.23 Finalspannung ließe sich begriff vgl. Das Werk. Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs, hg. von Lutz Danneberg, Annette Gilbert und Carlos Spoerhase, Berlin 2019. 21 Literatur bei Henrike Schaffert, Der Amadisroman. Serielles Erzählen in der Frühen Neuzeit, Berlin 2015, S. 59  ff.; Christine Mielke, Zyklisch-serielle Narration. Erzähltes Erzählen von 1001 Nacht bis zur TV-Serie, Berlin und New York 2006; Jörg Türschmann, Spannung und serielles Erzählen. Vom Feuilletonroman zur Fernsehserie, in: Gespannte Erwartungen. Beiträge zur Geschichte der literarischen Spannung, hg. von Kathrin Ackermann und Judith Moser-Kroiss, Wien 2007, S.  201–220; Frank Kelleter, Five Ways of Looking at Popular Seriality, in: Media of Serial Narrative, hg. von Frank Kelleter, Columbus 2017, S.  7–34; Nicola Kaminski, Nora Ramtke, Carsten Zelle, Zeitschriftenliteratur/Fortsetzungsliteratur, S. 7–39. 22 Martin Jurga, Der Cliffhanger. Formen, Funktionen und Verwendungsweisen eines seriellen Inszenierungsbausteins, in: Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch, hg. von Martin Jurga und Herbert Martin Willems, Opladen und Wiesbaden 1998, S. 471–488; Vincent Fröhlich, Der Cliffhanger und die serielle Narration. Analyse einer transmedialen Erzähltechnik, Bielefeld 2015. 23 Zum Fortsetzungscharakter des Geistersehers vgl. Marie Rademacher, »Ihr sollt heut alle nicht erfahren, was es gewesen ist«. Die erste Lieferung von Schillers ›Geisterseher‹ in der ›Thalia‹, in: Zeitschriftenliteratur/Fortsetzungsliteratur, hg. von Nicola Kaminski, Nora Ramtke und Carsten Zelle, S. 97–110; Roland Borgards, »(Die Fortsezzung folgt).« Fragment und Serie in Schillers ›Geisterseher‹, in: »Ein Aggregat von Bruchstücken«. Fragment

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aber auch durch den seit langem üblichen »fragmentarischen Abdruck« eines Textes erzielen, den Kleist im Falle des Amphitryon gegenüber Cotta ins Spiel brachte, »weil es der Wiener Bühne zum Aufführen überlassen worden ist«.24 Nach erfolgter Drucklegung waren die Stücke bekanntlich tantiemenfrei. Dass diese Interaktion von Journal- und Werkpoetik am Ende mit der ›Werkpolitik‹ (Steffen Martus) des Autors konkurrieren kann  – Publikation des Erdbebens in der Buchfassung der Erzählungen –, die dann wieder eigene mediale Bedingungen schafft, fügt der Spannung von Konstellation und Kookkurrenz eine weitere Dimension hinzu. Eine journalpoetische Lektüre des Erdbebens müsste vor dem skizzierten Hintergrund auf zwei Ebenen ansetzen: Eine intensive Analyse betrachtet einzelne Texte in ihrem engeren Journal-Umfeld, in diesem Fall: Jeronimo und Josephe im Text-Ensemble der Nummern 217 bis 222 des Morgenblatts. Hier wäre nach der oben beschriebenen doppelten Aufhebung der Dichotomien von fiction/nonfiction bzw. hoher/niederer Literatur zu fragen. Will man jedoch dem Morgenblatt insgesamt gerecht werden, müssen die intensiven Lektüren durch extensive Erkundungen flankiert werden, die weiträumigere Beziehungen und Korrespondenzen aufspüren und quantitativ-statistische Aspekte ins Spiel bringen.25 Dies betrifft – um nur Einzelnes zu nennen – statistische Erhebungen über die synchrone (pro Jahrgang) oder diachrone Verteilung und Häufigkeit von Themen, Autoren, Textsorten und Gattungen (z.  B. Vers vs. Prosa), anonymen bzw. namentlich unterzeichneten Beiträgen, Rekurrenzen und Konjunkturen bestimmter Sachkomplexe, das Verhältnis faktualer und fiktionaler Texte, Clusterbildungen aller Art (z.  B. Polemiken wie die Auseinandersetzung mit der Frühromantik26) u.v.m. Erst ein solcher makroskopischer Blick ist geeignet, die oft bemerkte »Vielstimmigkeit«27 des Morgenblatts systematisch zu erfassen und zu beschreiben.

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und Fragmentarismus im Werk Friedrich Schillers, hg. von Jörg Robert unter Mitarbeit von Marisa Irawan, Würzburg 2013, S. 101–111; Fotis Jannidis, »und die Erwartung ist aufs höchste gespannt«. Populäre Erzählexperimente in Schillers ›Geisterseher‹, in: Würzburger Schiller-Vorträge 2009, hg. von Wolfgang Riedel, Würzburg 2011, S. 83–107. DKV, Bd. 4, S. 395. Für solche extensiven Erschließungsverfahren bieten sich daher in besonderem Maße Verfahren der digitalen Philologie an. Vgl. Bernhard Fischer, ›Morgenblatt‹, S. 213. Ebd., S. 206.



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2. Mediengeschichte und Modellanalyse Kleists Erdbeben in Chili ist durch David E. Wellberys 1985 erschienenen Modellanalysen-Band28 »zum ›Probierstein‹ für verschiedene methodologische und lite­ raturtheoretische Zugangsweisen«29 avanciert. Im Abstand von über 30  Jahren fällt die Konvergenz der acht Aufsätze des Bandes auf. Die behauptete Methodenvielfalt, das »bunte Nebeneinander von methodologischen Subdiskursen«,30 ist relativ. Alle Beiträge geben sich entschieden antihermeneutisch. Die »Deutungskalamitäten« des Textes verwiesen  – so der Tenor  – auf das »Skandalon einer Hermeneutik«.31 Statt einer Interpretation ist Christa Bürgers Essay im Band überschrieben.32 Quer durch die Beiträge dominiert eine dekonstruktive Lesart, die den Text von autonomieästhetischen Prämissen ausgehend eindeutig der Hochliteratur zuordnet. In der Vorbemerkung wird entschieden festgestellt: »[E]­s handelt sich bei dieser Novelle um ein Kunstwerk ersten Ranges, das auch den heutigen Rezipienten zu ergreifen vermag.«33 Die Anlage des Bandes – Modellanalysen eines kanonischen Werkes der deutschen Literatur – unterstützt die Isolierung des autonomen Einzelwerks von historischen Kontexten. Am deutlichsten wird dieses radikale close reading in Wellberys semiotischem Ansatz, der die »Verarbeitung kultureller Sinnzusammenhänge«34 postuliert, aber den konkreten Weg vom Hochkunstwerk zum kulturellen, publizistischen oder literarischen Kontext schuldig bleibt. Dagegen hebt sich  – als anderes Extrem  – Friedrich 28 Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists ›Das Erdbeben in Chili‹, hg. von David E. Wellbery, München 52007. 29 Claudia Liebrand, Das Erdbeben in Chili, S. 119. 30 David E. Wellbery, Vorbemerkung, in: Positionen der Literaturwissenschaft, hg. von David E. Wellbery, S. 7–10, hier S. 7. 31 Norbert Altenhofer, Der erschütterte Sinn. Hermeneutische Überlegungen zu Kleists ›Das Erdbeben in Chili‹, in: Positionen der Literaturwissenschaft, hg. von David E. Wellbery, S. 39–53, hier S. 53. 32 Christa Bürger, Statt einer Interpretation. Anmerkungen zu Kleists Erzählen, in: Positionen der Literaturwissenschaft, hg. von David E. Wellbery, S. 88–109. Bürgers ideologiekritischer Essay ist der einzige Beitrag, der auf die publizistischen Kontexte, die Schemata der Un­ ter­hal­tungsliteratur und die Dichotomie zwischen »Kunstwerk und Unterhaltungsliteratur« hinweist, ohne diese Aspekte zu einer Gesamtinterpretation des Textes zu führen. Vgl. ebd., S.  106. Kleists Novelle wurde bekanntlich in den folgenden Jahren mehrfach nachund umgeschrieben. Auf die methodische Bedeutung dieser Transpositionen weist Christa Bürger zu Recht hin: »Einen Hinweis auf das Besondere des Kleistischen Erzählens können wir gewinnen, wenn wir uns ansehen, was in der oben genannten Nacherzählung ausgelassen wird bzw. welche Elemente bei Kleist ausgearbeitet werden.« Ebd., S. 107. 33 David E. Wellbery, Vorbemerkung, S. 9. 34 David E. Wellbery, Semiotische Anmerkungen zu Kleists ›Das Erdbeben in Chili‹, in: Posi­ tionen der Literaturwissenschaft, hg. von dems., S. 69–87, hier S. 86.

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Kittlers diskursanalytische Annäherung ab, die Cottas Morgenblatt als primären »Diskursraum« immerhin erwähnt.35 Seine Analyse ist ein inspiriertes Virtuosenstück, das  – immer wieder aufs Biografisch-Anekdotische zurückgreifend  – punktuelle Handlungsmotive mit ebenso punktuellen Außenbezügen verknüpft (»die preußische Armee mit ihren Exerzierreglements«36). Kittler ist, wie schon sein im Jahr zuvor (1984) erschienener Essay Carlos als Carlsschüler37 beweist, der Meister dieser neuen diskursanalytischen Biographik, die mit unerwarteten Engführungen zwischen Autor und Protagonist(en) verblüfft. Jedenfalls ist auch hier das Erdbeben erst einmal nicht das, was es laut Morgenblatt-Titel behauptet zu sein: das Erdbeben zu Chili, vom Jahr 1647, sondern das Erdbeben in Chili und Preußen. In beinahe allen Analysen wird der Bezug der Novelle auf das Erdbeben in Lissabon von 1755 behauptet. Kleists Erdbeben erscheint so als deutsche Antwort auf Voltaires Candide38  – obwohl die Novelle hinsichtlich Handlungsstruktur und Motivik in erster Linie auf einem Roman Jean-François Marmontels (Les Incas, 1777) fußt.39 Doch der Wellbery-Band sucht nicht in den ›nahen‹ Kontexten der Literaturgeschichte des 18.  Jahrhunderts, sondern visiert den intertextuellen Höhenkamm-Dialog auf der Basis der Theodizee-Kritik an. Folglich erscheint Kleist in den Modellanalysen vielfach als enttäuschter Sinnsucher, der als Dekonstruktivist avant la lettre die neueste Anti-Hermeneutik vorweggenommen hat.40 In der Vorbemerkung heißt es dezidiert und programmatisch: »Nicht alle der vertretenen literaturwissenschaftlichen Forschungsrichtungen arbeiten am Text (obwohl alle mit Texten arbeiten)«41. Das Gros der Beiträge betreibt 35 Friedrich Kittler, Ein Erdbeben in Chili und Preußen, in: Positionen der Literaturwissenschaft, S. 24–38, hier S. 34. 36 Ebd. 37 Friedrich Kittler, Carlos als Carlsschüler, in: Unser Commercium. Goethes und Schillers Lite­raturpolitik, hg. von Wilfried Barner, Eberhard Lämmert und Norbert Oellers, Stuttgart 1984, S. 241–273. 38 Vgl. Hedwig Appelt, Dirk Grathoff, Erläuterungen, S. 70–76. 39 Auch in Marmontels Roman Les Incas. Ou la Destruction de l’Empire du Pérou (1777) stehen eine verbotene Liebe sowie ein Erdbeben im Zentrum der Handlung. Der Stoff der kolonialen Romanze wurde unter anderem von Kotzebue (Die Sonnen-Jungfrau; Der Spanier in Peru oder Rollas Tod 1789 und 1794/95) adaptiert. Vgl. Susanne M. Zantop, Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770–1870), Berlin 1999, S.  144–164. Zu den literarischen Prätexten ist auch Friedrich Theodor Nevermanns Alonzo und Elvira, oder Das Erdbeben von Lissabon zu zählen. Vgl. Claudia Liebrand, ›Das Erdbeben in Chili‹, S. 115. 40 Vgl. auch die ›Rückschau‹ von Claudia Liebrand, Das suspendierte Bewußtsein. Dissoziation und Amnesie in Kleists ›Erdbeben in Chili‹, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 36 (1992), S. 95–114, v.  a. S. 97  f. 41 David E. Wellbery, Vorbemerkung, S. 8.



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dagegen eine Allegorese, die das Erdbeben zur hermeneutischen Reflexionsfigur der Dekonstruktion werden lässt. Dies wird, wie gesagt, mehrfach schon im Titel signalisiert: Im Erdbeben spiegle sich Der erschütterte Sinn (Norbert Altenhofer), Das Beben des Bewusstseins (Karlheinz Stierle) oder gar Der Zusammensturz des Allgemeinen (Helmut J. Schneider) und – für sich und doch für alle stehend – Das Beben der Darstellung (Werner Hamacher). Im Bann der Modellanalysen, deren Beiträger bald schon zu den führenden Köpfen einer poststrukturalen ›Wende‹ der Germanistik wurden, tut sich die Kleist-Forschung schwer, andere Akzente jenseits von Autoreferentialität, Autonomieästhetik und Allegorese zu setzen.42 Das Sinn-Problem bleibt das alles dominierende, mitunter zum Glaubensartikel verfestigte Sinn-Zentrum.43 Der Text wird geschichtsphilosophisch interpretiert, auf biblische Allusionen untersucht und – wenn überhaupt Kontextualisierung vorgenommen wird – als Replik auf Zeitereignisse gelesen: Das Erdbeben als Verweis auf das ›politische Beben‹ der Revolution – auch hier zeigt sich also die allegorische Lesart.44 Selten genug kamen Kleists Quellen in den Blick: seine Rezeption von Reisebeschreibungen45 oder  – um nur ein ganz offensichtliches Phänomen an der Textoberfläche zu nennen  – seiner Konfessionspolemik. Kleists Auseinandersetzung mit Religion und Metaphysik geht über die sogenannte Kant-Krise hinaus. Schon Thomas Mann bemerkte die »mörderische Sühn- und Strafwut« durch den »Fanatismus eines Dominikaner-Predigers« und sprach (mit Blick auf den »Findling«) von

42 Wer das von Ingo Breuer herausgegebene Kleist-Handbuch durchsieht, wird diesen Eindruck überall bestätigt finden. Die dekonstruktive Allegorese ist von den Modellanalysen aus der methodische Königsweg der Kleist-Forschung geworden, eine Entwicklung, die Kleist als Sonder- und Ausnahmefigur, als Überwinder der Klassik, in gefährlicher Weise aus der Literatur um 1800 ausgegrenzt hat. Einen neuen und eigenen Akzent aus wissens­ poetologischer Perspektive setzen dagegen Maximilian Bergengruen und Roland Borgards, Bann der Gewalt. Theorie und Lektüre (Foucault, Derrida, Agamben/Kleists Erdbeben in Chili), in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 81 (2007), H. 2, S. 228–256. 43 Vgl. Dirk Grathoff, Die Erdbeben in Chili und Lissabon, in: Kleist. Geschichte, Politik, Sprache. Aufsätze zu Leben und Werk Heinrich von Kleists, hg. von Dirk Grathoff, Opladen und Wiesbaden 1999, S. 96–111; Harald Weinrich, Literaturgeschichte eines Weltereignisses. Das Erdbeben in Lissabon, in: Literatur für Leser. Essays und Aufsätze zur Literaturwissenschaft, hg. von dems., Stuttgart u.  a. 1971, S. 64–76. 44 Vgl. Helmut Koopmann, Das Nachbeben der Revolution. Heinrich von Kleist. ›Das Erdbeben in Chili‹, in: Deutsche Romantik und französische Revolution, hg. von Gerhard Kosellek, Wrocław 1990, S.  85–108; Helmut J. Schneider, Der Zusammensturz des Allgemeinen, in: Positionen der Literaturwissenschaft, S. 110–129. 45 Vgl. die erhellende Dokumentation in Hedwig Appelt und Dirk Grathoff, Erläuterungen, S. 39–52.

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»Invektiven gegen römisches Priestertum und Kuttenmoral«.46 Die Dekadenz und zugleich archaische Sittenlosigkeit, die in der Hochburg der jesuitischen Missionsregion herrscht, findet ihr Spiegelbild in den Zentren des Katholizismus im Reich. Kleists Würzburger Eindrücke färben das Santiago der Novelle. Bischöfliche Residenz und dominikanische Prachtklöster in Übersee werden überblendet. Auch Kleists Auseinandersetzung mit tagesaktuellen Fragen wie mit Autoren der zweiten Reihe (siehe Marmontel) bleibt zu entdecken. Notwendig ist dazu ein grundsätzlicher Perspektivwechsel, auch was die Materialgrundlage angeht. Während Kontextforschung  – qualitative oder quantitative  – auf Einbettung in Korpora zielt, isoliert die Dekonstruktion ihren Text, indem sie ihn autonomieästhetisch auratisiert und zersetzt, um seine zersetzende Kraft zu zeigen. Wo die Sinndestruktion zum eigentlichen Sinn des Textes wird, erübrigt sich auch der Blick auf »publizistische Umgebungsbedingungen«.47

46 Thomas Mann, Schriften und Reden zur Literatur, Kunst und Philosophie, in: Thomas Mann, Werke. Das essayistische Werk. Taschenbuchausgabe in acht Bänden, Bd. 3, hg. von Hans Bürgin, Frankfurt a. M. 1968, S. 308. 47 Gunhild Berg, Magdalena Gronau und Michael Pilz, Das generische Potential der Journale. Zum Problemhorizont des Bandes, in: Zwischen Literatur und Journalistik:  Generische Formen in Periodika des 18. bis 21. Jahrhunderts, hg. von dens., Heidelberg 2016, S. 7–26, hier S.  15. Nicola Kaminski hat in einer neueren Studie zur Verlobung in St. Domingo das interpretatorische Potenzial einer medialen Perspektivierung gerade im Hinblick auf die Kleist’schen Erzählungen aufgezeigt: Nicola Kaminski, Zeitschriftenpublikation als ästhetisches Versuchsfeld oder: Ist Kleists ›Verlobung‹ eine Mestize? in: Zeitschrift für deutsche Philologie 130 (2011), S. 569–597. Allein Marianne Willems hat in zwei rezenten Beiträgen das (ko-)textuelle Umfeld der Erdbeben-Novelle im Morgenblatt in den Blick genommen. Hier kann sie zeigen, dass Kleist einerseits auf ähnliche Motive und Deutungsmuster zurückgreift, die in den meist trivialliterarischen Erzählungen der ersten Jahrgänge 1807/1808 des Morgenblatts zu beobachten sind, diese aber andererseits – so die These – unterlaufe. Trotz der innovativen Erschließungsmethode bleibt Willems im Wesentlichen den Topoi der KleistForschung – Theodizeefrage und Teleologiekritik – verpflichtet. Die konstatierten Brüche mit konventionellen Deutungsmustern interpretiert sie als Ausdruck des Verlusts eines normativen »Naturkonzept[s]«, den Kleist durch »aggressiven, xenophoben Nationalismus« kompensiere. Hervorgerufen sei diese Hinwendung »durch die Zeitereignisse, die Kleist das Versagen der kosmologischen Naturvorstellung als umfassendes Orientierungsmodell  – das bereits in der sogenannten ›Kantkrise‹ erschüttert wurde – noch einmal in drastischer Weise augenfällig machen.« Marianne Willems, ›Das Erdbeben in Chili‹ in seinem Veröffentlichungskontext. Zum Zusammenhang von Naturkonzeption und Nationalismus bei Heinrich von Kleist, in: Aufklärung 25 (2013), S.  247–282, hier, S.  251; vgl. auch Marianne Willems, Geschichte und Geschichten. Die Inszenierung von Geschichte in den Erzählungen des ›Morgenblatts für gebildete Stände‹ (1807–1808), in: Heuristiken der Literaturwissenschaft. Disziplinexterne Perspektiven auf Literatur, hg. von Uta Klein, Katja Mellmann und Steffanie Metzger, Paderborn 2006, S. 393–428.



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Welche neuen Deutungsperspektiven ergeben sich nun, wenn man dezidiert von diesen ›Umgebungsbedingungen‹ ausgeht und sich der Erzählung einmal versuchsweise mit dem Blick des zeitgenössischen Morgenblatt-Lesers nähert? Zunächst einmal hat der Leser (oder wahrscheinlicher: die Leserin) des Jahres 1807 keine Kenntnisse über die Hintergründe der Publikation, im konkreten Fall erfährt er oder sie in der ersten Lieferung nicht einmal den Namen des Autors und nimmt folglich den Text kaum als ›Werk‹ im emphatischen Sinn wahr, sondern als Gebrauchs- und Unterhaltungsliteratur, die Rührung, Spannung, vielleicht auch Belehrung über globale, exotische Schauplätze verspricht. Das liegt natürlich an den kontingenten Umständen der Publikation. Wie oben angedeutet, erschien Kleists Erzählung unautorisiert im Morgenblatt. Der eingangs zitierte Brief an Cotta belegt, dass der Titel Jeronimo und Josephe vom Verfasser stammt. Der Untertitel, Eine Scene aus dem Erdbeben zu Chili, vom Jahr 1647, könnte – muss aber nicht  – redaktionelle Ergänzung sein. Für die Wahrnehmung des historischen Lesers spielt das keine Rolle. Auch eine literarische Gattungsbezeichnung wie ›Novelle‹48 wird nicht genannt. Ob es sich um einen fiktionalen oder faktualen Text handelt, bleibt zunächst noch offen. Die Paratexte lassen an historische Anekdoten oder Reiseberichte aus fernen überseeischen Ländern denken. Kleists unmittelbare Quellen dieser Art sind nicht exakt bestimmbar  – mutmaßlich schöpfte auch er aus Journalen.49 Allenfalls lässt sich ein bestimmter Lese- und Wissenshorizont rekonstruieren.50 Im Kontext des Journals ist Kleists Erzählung keineswegs ein Fremdkörper. Ihr Erscheinen musste durchaus nicht als jenes ›Erdbeben‹ der Literaturgeschichte 48 Die Gattungsbezeichnung ist hier problematisch. Vgl. Nicola Kaminski, Zeit­ schrif­ ten­ pu­bli­kation, S.  582, Anm.  39; andererseits greifen bereits Zeitgenossen den Terminus für Kleists Erzählungen, insbesondere für das Erdbeben, auf: »Es verdienen diese Dichtungen vorzugsweise Novellen genannt zu werden, im eigentlichsten Sinne dieses Wortes; denn das wahrhaft Neue, das Seltne und Ausserordentliche in Charakteren, Begebenheiten, Lagen und Verhältnissen wird in ihnen dargestellt, mit einer solchen Kraft, mit einer so tiefen Gründlichkeit und anschaulichen [sic], individuellen Leben, daß das Ausserordentliche als so unbezweifelbar gewiss und so klar einleuchtend erscheint wie die gewöhnlichste Erfahrung.« Leipziger Literaturzeitung, 28. September 1812, zitiert nach: Hedwig Appelt und Dirk Grathoff, Erläuterungen, S. 97. 49 Vgl. ebd., S. 37. 50 Hier ist an die  – der Kleist-Forschung längst bekannten  – Augenzeugenberichte des Bischofs von Santiago, Gaspar de Villarroel, zu denken (Relaciòn del terremoto que assoló la ciudad de Santiago de Chili, 1656/57; ²1738). Giovanni Ignazio Molinas Saggio sulla storia naturale del Chili (Bologna 1782) war 1791 ins Deutsche übersetzt worden. Der Bericht Amédée François Freziers (Relation du voyage de la mer du sud aux coste du Chily e du Perou […]) war bereits 1718 auf Deutsch erschienen; Jagemann übertrug 1782 eine Landesbeschreibung des Jesuiten de Viadaurre. Vgl. ebd., S. 114.

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wahrgenommen werden, als das sie im Nachhinein erscheinen konnte. Gerade das Fremde und Exotische des Schauplatzes fügte sich gut ins Bild des Journals: Das Morgenblatt entwickelte von Anfang an eine globale Perspektive; die Nachrichten aus dem nahen und fernen Ausland waren fester Bestandteil des Programms.51 Im Zeitalter der großen Entdeckungsfahrten und der progressiven Verwandlung bzw. Unterwerfung der Welt zogen Reportagen von exotischen Schauplätzen  – Rubrik: Beiträge zur Sitten- und Kultur-Geschichte einzelner Städte und Völker sowie kleine Reisebeschreibungen  – die Aufmerksamkeit auf sich. Das Thema ›Länder- und Völkerkunde‹ im globalen Maßstab wirkte in alle Formate und Textsorten hinein, verband faktuale und fiktionale Beiträge. Therese Huber, von 1817 bis 1823 Redakteurin des Morgenblatts,52 war als verwitwete Ehefrau Georg Forsters (1754–1794) prädestiniert, Artikel wie den Bericht Captain Wiliam Blighs über die Meuterei auf der Bounty, der Schiller zu seinen Seestücken anregte, zu übersetzen und zu bearbeiten.53 Oft genug mischten sich die Themen und Interessen in merkwürdigen Hybriden: Schon im ersten Jahrgang (Nr. 233, 1807) findet sich als Probestück das Fragment (Beginn des 1. Gesangs) eines homerisierenden Versepos aus der Feder des dänischen Dichters Jens Immanuel Baggesen (1764– 1826) über den Entdecker James Cook (Titel: Oceania). Das auf fünf Gesänge angewachsene Epos wird 1808 in Baggesens Heideblumen. Vom Verfasser der Parthenaïs. Nebst einigen Proben der Oceania in Amsterdam erscheinen. Es steht in der Tradition der neulateinischen Kolumbusepen, verweist aber zugleich auf die zeitgenössische Faszination für Seehelden, wie sie Hölderlin in seiner unvollendeten Ode Kolomb im Homburger Folioheft erkennen lässt.54 Schwäbischer Post-Klassizismus und global journalism sind um 1800 also kein Gegensatz, sondern bedingen sich gegenseitig. Für die Journalpoetik des Morgenblatts ist diese Synthese von Weimar und Welt ein zentrales Organisationsprinzip. Cotta selbst wird 1828 als Ableger des Morgenblatts die Zeitschrift Das Ausland ins Leben rufen, ein Kulturmagazin, das über ethnologische, politische, topographische und historische Besonderheiten aus aller Welt berichtete.55 Die Faszination für entfernte ›globale‹ Schauplätze  – bei gleichzeitigem Appell an die stereotypen Handlungsmuster 51 52 53 54 55

Vgl. zu diesem ›globalen Journalismus‹ Cottas und des Morgenblatts den Beitrag von Moritz Strohschneider in diesem Band. Zu Therese Huber eingehend Bernhard Fischer, Cottas ›Morgenblatt‹, S. 203–239. Vgl. Helmuth Mojem, Über H. Clauren, das römische Kulturleben und die Meuterer der ›Bounty‹, S. 247–249. Elena Polledri, Hölderlins ›Kolomb‹, in: Hölderlin-Jahrbuch 40 (2016/2017), S. 115–141. Alexander Ritter, Nachrichten aus Übersee. Charles Sealsfield: Publizist, politischer Aufklärer und seine amerikanische Korrespondentenrolle für Cottas Periodika ›Morgenblatt‹, ›Ausland‹, ›Allgemeine Zeitung‹ und ›Allgemeine politische Annalen‹ (1824–1830), in: Immermann Jahrbuch 14/16 (2013/2015), S. 55–83.



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der Schemaliteratur – musste Kleists Erzählung als geeignet für das Morgenblatt erscheinen lassen. Aus der Provinz richtete sich der Blick auch und gerade in die Neue Welt. Genau diesen Aspekt bemerkten auch Rezensenten des Erdbebens nach dessen erneuter Publikation in Kleists Ausgabe: Die Erzählung versetze, so der Rezensent der Vossischen Zeitung (20. Oktober 1810), den Leser »in die neue – und in eine neue Welt«.56

3. Weltliteratur und Globalgeschichte Im Fall von Jeronimo und Josephe sind die hier nur skizzierten globalgeschichtlichen bzw. globaljournalistischen Bezüge besonders aufschlussreich. Schon das exotische Kolorit der historischen Erzählung, das im Untertitel der Journalfassung so auffällig markiert wird, musste auf den ersten Blick die Grenzen zwischen Fiktionalem und Faktualem, zwischen historischer Novelle und Historiographie bzw. historischer Landes- und Völkerkunde (à la Molina oder Alexander von Humboldts Ansichten der Natur) einebnen. Dass Kleist dabei die Anknüpfung an die historischen Fakten mit beinahe demonstrativer Lässigkeit oder Unzuverlässigkeit betrieb,57 ist von der Forschung immer wieder zur auktorialen Strategie erklärt worden. Auch hier sind Zweifel an der These vom ›unzuverlässigen Erzählen‹ erlaubt. Im Erdbeben wie in anderen Texten (v.  a. Michael Kohlhaas) sind es mehr die pragmatischen Bedingungen des Schreibens – wie der Blick auf rasche Publikation in Journalen aufgrund ökonomischer Bedürfnisse –, welche Brüche und Inkohärenzen in Details und Erzählstruktur provozieren. Wenn Kleists Erzählung gegenüber anderen Bezeichnungen wie zum Beispiel ›Novelle‹ oder ›Anekdote‹ im Journal als ›Scene‹ bezeichnet wird, so scheint dies auf den gesamten Text bezogen das Ausschnitt- und Momenthafte der Ereignisse und die Anschaulichkeit der Darstellung hervorzuheben. Narration verwandelt sich in dramatische Aktion und szenische Performanz. Die Erzählung wird zum Tableau, zur Beschreibung einer imaginären Bildvorlage.58 Dieser szenischen Qualität entspricht es, dass die Erzählung im Morgenblatt in fünf Einzelfolgen (in 31 Absätzen) gegliedert wird. Der Druck im Journal suggeriert also eine dra-

56 Kommentar DKV, Bd. 4, S. 807. 57 Vgl. Norbert Oellers, ›Erdbeben‹, S. 86. 58 Systematisch ist an August Langens klassische Untersuchung zu denken, die gezeigt hat, wie sehr das Erzählen seit dem 18. Jahrhundert durch eine Semantik der Perspektive und das Modell des Guckkastens geprägt ist. August Langen, Anschauungsformen in der deutschen Dichtung des 18.  Jahrhunderts. Rahmenschau und Rationalismus, Jena 1934, Nachdruck Darmstadt 1965, S. 32  f.

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matisch-szenische Struktur, während Kleist in den Erzählungen (1810) auf diese Einteilung verzichtet und drei Abschnitte bildet. Die Forschung hat diese dreiteilige Disposition als entscheidendes Indiz dafür betrachtet, dass der Novelle ein triadisches Geschichtsmodell zugrunde liege. Die an Rousseau gemahnende Abfolge  – Naturzustand, entfremdete Gegenwart, wiederzugewinnendes Paradies – würde dieser These zu Folge von Kleist sarkastisch ironisiert.59 Die Journalfassung zeigt jedoch, dass ein alternatives Textarrangement – also fünf statt drei Abschnitte – sofort andere Assoziationen und Rezeptionsoptionen eröffnet. Die erste Lieferung enthält die analeptisch erzählte Exposition, die verbotene Liebe zwischen dem Hauslehrer Jeronimo und seiner Schülerin Josephe, die Vereinigung im Klostergarten und die spektakuläre Geburt des gemeinsamen Kindes während einer Fronleichnamsprozession. Darauf folgt der Sprung in die erzählte Gegenwart: Das sündhafte Liebespaar wartet auf seine Hinrichtung, die durch das Erdbeben verhindert wird. Beide können sich und ihr gemeinsames Kind retten, vor den Toren der Stadt trifft man sich zufällig wieder. »Mit welcher Seligkeit umarmten sie sich, die Unglücklichen, die ein Wunder des Himmels gerettet hatte!«60 – lautet der letzte Satz der ersten Folge. Bemerkenswert ist der Erzählabbruch im Moment der Beruhigung, der eine Art Trugschluss produziert. Der cliffhanger, der sich zum Beispiel im Moment des Erdbebens noch vor der Rettung angeboten hätte, wird vermieden. So wird nicht Spannung erzeugt, sondern ein empfindsames Handlungsschema aktualisiert und ein Schlusstableau angeboten – freilich nur zum Schein. Die Apostrophierung des Paares als »die Unglücklichen«61 am Ende der ersten Lieferung (Nr. 217, 10. September 1807, S. 868) deutet proleptisch an, dass der Glückszustand nicht von Dauer sein wird. Der Erzählerkommentar schafft jene Spannung, die durch die Rhythmisierung der Lieferungen nicht eintritt. Das Erdbeben ist hier kein Einzelfall: Eine ähnliche Segmentierung findet sich auch bei vergleichbaren Fortsetzungserzählungen im Journal, beispielsweise in der »italischen Anekdote« von »Solarino und Teana« (Nr. 171/172 vom 20./21. Juli 1807), als deren Verfasser sich Friedrich Haug (1761–1829) identifizieren lässt, ab 1811 leitender Redakteur des Journals. Das Schema – Beruhigung und Trugschluss als Abschnittsende – entsprach also unmittelbar einer sich konstituierenden journalpoetischen Grundlinie des Morgenblatts. Der in zwei Folgen präsentierte Text handelt von einer tragischen Liebesgeschichte, die im Mantua der Renaissance situiert ist. Die Erzählung ist zugleich eine Künstleranekdote, der Protagonist Solarino ist Maler – Referenzen auf Goethes Torquato Tasso (im Februar 1807 uraufgeführt!) 59 DKV, Bd. 4, S. 809  f. 60 DKV, Bd. 5, S. 196. 61 ebd.



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sind ebenso erkennbar wie Elemente des Romeo-und-Julia-Stoffes. Aus unbegründeter Eifersucht will Teana Rache an ihrem Verlobten, besagtem Solarino, nehmen, indem sie sich mit dem in Liebe zu ihr entbrannten Lorenzo umgibt. Doch dies erzielt nicht die erhoffte Wirkung: Solarino zeigt nicht den geringsten Anflug von Eifersucht, sondern beteuert Teana sein unzerstörbares Vertrauen und seine unbeirrbare Liebe. »Welche Sicherheit! Ach, die Männer lieben nicht wie wir«, (S.  687) stellt Teana irritiert fest  – auch hier ein Moment der Beruhigung, mit dem die erste Folge schließt. Doch wie bei Kleist markiert der Erzählabbruch bereits den Umschlag, der auf das Telos verweist: »Es mußte anders werden, und  – bald!  –« (ebd.), lauten die letzten Worte der ersten Folge, die das Unheil andeuten. Der zweite Teil in der folgenden Lieferung des Morgenblatts mündet in die Katastrophe: Teana treibt ihr aus wahnhafter Eifersucht motiviertes Intrigenspiel auf die Spitze, bis Solarino, nun selbst im Wahn, den gemeinsamen Selbstmord auf einer Bootsfahrt plant. Zu spät erkennt Teana ihren Irrtum, Solarino ertrinkt, sie wird gerettet und bleibt unglücklich zurück (Nr. 172, S. 692). Diese auf Trugschluss zielende, peripetiebetonte Präsentationsstrategie bei Jeronimo und Josephe wiederholt sich in den nächsten Folgen. Die Idylle vor der Stadt bildet Teil zwei, Teil drei setzt mit den empfindsamen Unterhaltungen der Geretteten ein. Diese Episode wiederum endet mit den hoffnungsvollen Plänen der beiden Liebenden. Nach »dem Umsturz aller Verhältnisse« ist die Versöhnung mit Josephes Vater ebenso möglich wie das »Versöhnungsgeschäft mit dem Vice-König«, das eine Rückkehr nach Santiago ermöglichen würde. Die »heiteren Momente der Zukunft überfliegend«, erfahren sie von der Dankmesse in der Stadt (Nr. 219, 12. September 1807, S. 875). Einen Tag müssen sich nun die MorgenblattLeser gedulden, denn am Sonntag (13.  September 1807) wird das Journal nicht geliefert. Eine effektvolle Massenszene eröffnet dann wiederum die vierte Lie­ ferung: Flüchtlingsscharen pilgern nach St. Jago, um der Dankesmesse beizuwohnen. Während der wütenden Rede des Dominikaners gegen den Sittenverfall der Stadt und der straftheologischen Auslegung des Unglücks werden Josephe und Jeronimo erkannt, letzterer aber zunächst mit dem Freund verwechselt. Jeronimo gibt sich daraufhin zu erkennen: Und mehrere der Umstehenden wiederholten: wer kennt den Jeronimo Rugera? Der trete vor! Nun traf es sich, daß in demselben Augenblicke der kleine Juan, durch den Tumult erschreckt, von Josephens Brust weg Don Fernando in die Arme strebte. Hierauf: Er ist der Vater! schrie eine Stimme; und: er ist Jeronimo Rugera; eine andere; und: sie sind die gotteslästerlichen Menschen! eine dritte; und: steinigt sie! steinigt sie! die ganze im Tempel Jesu versammelte Christenheit! Drauf jetzt Jeronimo: Halt! Ihr Unmenschlichen!

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Wenn ihr den Jeronimo Rugera sucht: hier ist er! Befreit jenen Mann, welcher unschuldig ist! –62 (Nr. 220, 14. September 1807, S. 879) Hier endet Teil vier. Die Katastrophe, der blutige Lynchmord an Josephe, Jeronimo und ihren Freunden bildet auf etwas mehr als zwei Spalten die im Untertitel beschworene Finalszene in der folgenden Ausgabe (Nr. 221, 15. September 1807, S. 866–868). Gegen Ende der Erzählung wird damit doch das Schema der finalen Beruhigung durchbrochen und von einer Dynamik abgelöst, die zur Raffung der Episoden entsprechend dem beschleunigten Gang der Erzählung führt. Die letzte Lieferung umfasst nur noch zwei Spalten. Diese Schlussepisode ist wiederum mit ihrem kotextuellen Umfeld im Morgenblatt eng verwoben: Mit diesem bildet sie ein literarisches Themenheft zum Sujet ›Verbotene Liebe mit tödlichem Ausgang‹. Die Ausgabe beginnt nämlich programmatisch mit einer ›Pyramus-und-Thisbe‹Romanze in Stanzen. Dazu wählt die Redaktion passend ein Epigramm aus Andreas Tschernings Deutscher Gedichte Frühling (Breslau 1642, hier S. 286) als inscriptio der gesamten Ausgabe: »Kein Unfall / keine Zeit wird rechte Liebe trennen: Die Liebe die [im Original: so] zergeht / ist Liebe nicht zu nennen«.63 Nicht umsonst lautet also der Titel der Journalfassung auch Jeronimo und Josephe, analog zu Pyramus und Thisbe oder Solarino und Teana. Im Oktober finden wir eine ›Romanze‹ von Friedrich Heinrich Bothe mit dem Titel Serena und Theobald, die an Schillers Hero und Leander erinnert: Die Liebenden werden getrennt, finden sich wieder und ertrinken im reißenden Strom, erhalten jedoch vom mitleidigen Flussgott »ewig ungetrennte Tage« in seinem »Kristallpalast« unter Wasser.64 In der Buchausgabe der Erzählungen wird das Erdbeben dagegen von solchen Isotopien und narrativen Stereotypen isoliert. Durch den Wechsel des Titels setzt Kleist andere Akzente: Nicht die individuelle Liebesgeschichte, sondern das Ereignis, an dem sich der ›Ausnahmezustand‹65 in der sozialen Welt zeigt, wird ins Zentrum gerückt. Da das Manuskript von Jeronimo und Josephe verloren ist, muss Spekulation bleiben, ob Kleist selbst eine fünfteilige Segmentierung vorgesehen hat oder ob es sich um eine editoriale Maßnahme handelt. Dass Kleist die Novelle primär für eine Journalpublikation – wenn auch nicht für diese – konzipierte, ist mehr als wahrscheinlich. So lassen sich an Kleist exemplarisch die beiden typischen Formate der Journalpublikation beobachten: Fortsetzungsgeschichte (Jeronimo 62 DKV, Bd. 5, S. 216. 63 Andreas Tscherning, ohne Titel, in: Morgenblatt für gebildete Stände, Nr. 221, 15. September 1807, S. 881. 64 Vgl. Friedrich Heinrich Bothe, Serena und Theobald, in: Morgenblatt für gebildete Leser, Nr. 251, 20. Oktober 1807, S. 1001  f. 65 Vgl. Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüren zu Heinrich von Kleist, hg. von Nicolas Pethes, Göttingen 2011.



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und Josephe) und ›fragmentarischer Abdruck‹ (z. B. Amphitryon im Phöbus). Auch fast alle anderen Erzählungen Kleists (eine Ausnahme bilden nur Der Findling und Der Zweikampf) erschienen in Journalen, zum Teil in seinen eigenen:66 Die Marquise von O. erschien 1808 in Kleists Zeitschrift Phöbus (bekanntlich beginnt die Novelle mit einer Zeitungsannonce!), Die Verlobung in St. Domingo 1811 in acht Lieferungen des Freimüthigen (25. März–5.April 1811, Hefte 60–68), ein erster Teil des Michael Kohlhaas, das sog. Phöbus-Fragment, erschien ebenfalls im Phöbus (Juni 1808), die Heilige Cäcilie 1810 in den Berliner Abendblättern (15.–17. November 1810, Blatt 40–42). Wir stehen hier am Beginn einer Entwicklung, die für die Evolution des literarischen Feldes zentral ist: Das Journal wird im Laufe des 19. Jahrhunderts zum literarischen Leitmedium. Die Gründe für diese Form der Erstpublikation sind in erster Linie ökonomischer Natur. Zugleich wird ein hohes Maß an Aufmerksamkeit erreicht, ein Autor kann sich im literarischen Feld etablieren und somit seinen Marktwert steigern, das Journal wird zur »literarische[n] Probebühne«.67 Dass die gesammelten Erzählungen in zwei Bänden erscheinen, nachdem sie bereits in Periodika publiziert waren, scheint weder für den Autor noch für die Verleger ein Verkaufsnachteil gewesen zu sein, im Gegenteil. Romane in Buchformat erhöhten ihren Marktwert erheblich, wenn sie dem Publikum vorab durch Journalabdrucke bekannt gemacht worden waren.68 Kleist schreibt jedenfalls medienaffin bzw. mediensensibel, mit Blick auf die Publikation im Journal, ohne ›werkpolitisch‹69 die Buchpublikation aus den Augen zu verlieren. Damit entspricht er dem Typus des »multiple[n] Medienautor[s]«,70 wie ihn später Fontane, Gutzkow oder Storm repräsentieren.71 Für den Text selbst ist dabei eine bemerkenswerte Beweglich66 Zu Kleist als Herausgeber und Redakteur von Journalen vgl. Anton Philipp Knittel, Zeitungen und Zeitschriften, in: Kleist Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Ingo Breuer, Stuttgart und Weimar 2009, S. 162–172; Christian Meierhofer, Hohe Kunst und Zeitungswaren. Kleists journalistische Unternehmen, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 131 (2012), S. 161–190. 67 Christine Haug, Formen von literarischer Mehrfachverwertung im Presse- und Buchverlag. Mit einem Seitenblick auf Arthur Zapps Roman ›Zwischen Himmel und Hölle‹ (1900), in: Vergessene Konstellationen literarischer Öffentlichkeit zwischen 1840 und 1885, hg. von Katja Mellmann und Jesko Reiling, Berlin und Boston 2016, S. 149–176, hier S. 155. 68 Christine Haug, Mehrfachverwertung, S.  154: »Die zunehmende Komplexität der Ver­wer­ tungs­möglichkeiten, das Geflecht an medialen Beziehungen, die Ausnutzung von viel­fäl­ ti­gen Verlagskontakten und die damit verbundenen Wechselbeziehungen innerhalb des Verwertungskreislaufes wurden hauptsächlich von den Autoren aufmerksam verfolgt und analysiert.« 69 Vgl. Steffen Martus, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert, Berlin und New York 2007. 70 Ebd. Christine Haug, Mehrfachverwertung, S. 155. 71 Vgl. ebd., S. 154  ff.

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keit festzustellen: Ohne dass substantielle Änderungen vorgenommen würden, wird aus Jeronimo und Josephe durch Modifikation von a) Paratexten und b) Kobzw. Kontexten ein neues Sinngefüge. Es erscheint je nach Präsentationsform als autonomes Kunstwerk oder serielle Schemaliteratur mit exotischem Anstrich.72 Die Erzählung fügt sich durchaus in die Journalpoetik des Morgenblatts ein. Ihre ›Widerständigkeit‹ zeigt sich erst auf einer höheren Ebene und im bewussten Kontrast zwischen hoher und niederer Literatur. Auch hier reflektiert die »Machart des Textes […] präzise auf […] seinen publizistischen Ersterscheinungsort«.73 Das Morgenblatt ist keineswegs ein Journal, das sich nach den Vorstellungen des Herausgebers an eine kleine Elite richtet; Literatur und die schönen Künste sind zwar ein zentrales, aber nicht ausschließliches Thema, wie oben dargelegt. Der Leser des Morgenblatts dachte bei der Lektüre von Jeronimo und Josephe also sicher weniger an Voltaire und Kant als an Ovid, eher an Abaelard und Héloise bzw. Pyramus und Thisbe als an die – immerhin ein halbes Jahrhundert zurückliegenden  – Theodizee- und Teleologiekrisen, mehr an lateinamerikanische Exotik und katholische Rückständigkeit als an triadische Geschichtsphilosophie und Unlesbarkeit der Zeichen. Kleists Erzählung erweist sich als Weltliteratur, gerade weil sie aus dem Kontakt mit der Globalgeschichte74 hervorgeht – und die Nähe zur Schemaliteratur75 nicht verleugnet. 72

Für den hier vorgetragenen Ansatz ist der Hinweis entscheidend, dass die Opposition ›autonomes Kunstwerk‹ vs. Schemaliteratur nur analytischen und idealtypischen Charakter hat. Zwischen beiden Polen ergeben sich vielfältige Mischungen und Abstufungen, die es im Einzelfall zu beurteilen gilt. Die teilweise bestürzten Reaktionen auf Kleists Erdbeben deuten an, dass die Erzählung bei allen konventionellen Elementen doch in entscheidenden Punkten die Erwartungen der Leser konterkarierte. Aber auch dieses Durchkreuzen der Rezeptionserwartung wird erst vor dem Hintergrund der ›Normalerwartung‹, die sich aus Schema-nahen Erzählungen rekonstruieren lässt, verstehbar. 73 Kaminski, Versuchsfeld, S. 574 in Hinblick auf die Erstpublikation der Verlobung von St. Do­ mingo in der Zeitschrift Der Freimüthige (1811). Vgl. dazu ebd., 582  ff. Kaminskis Charak­ te­risierung des Freimüthigen-Publikums dürfte  – anders als sie vermutet (vgl. S.  584)  – weit­gehend auch auf den Adressatenkreis des Morgenblatts zutreffen. Die »gebildeten, un­be­fangenen Leser«, an die sich das Berliner Blatt wendet, werden ja auch von Cotta angesprochen. 74 Zur Globalgeschichte exemplarisch Sebastian Conrad, Globalgeschichte. Eine Einführung, München 2013; Andrea Komlosy, Globalgeschichte. Methoden und Theorien, Wien, Köln und Weimar 2011. 75 Wenn Peter Nusser für die Trivialliteratur ein »wohlkalkuliertes Wechselspiel von span­ nungs­auf­bauenden und spannungslösenden Momenten« konstatiert, so trifft dies auf Kleist zweifellos zu. Die folgende Aufzählung von Ingredienzien liest sich beinahe wie eine Nacherzählung des Erdbebens: »Die Darstellungen beispielsweise von Gefangenschaft und Befreiung, Verfolgung, Flucht und Rettung, von Sehnsucht und Begegnung, Trennung und Vereinigung (im Liebesroman) halten den Leser in fortwährender emotionaler Bewegung.« Peter Nusser, Art. Trivialliteratur, S. 691 (beide Zitate).

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konstellationen der zeitschrift – die amerikaberichterstattung in cottas morgenblatt für gebildete stände/leser (1807–1865) Texte, die in Zeitschriften publiziert werden, unterliegen hinsichtlich ihres Umfangs, ihrer Informationsvergabe oder ihrer textuellen Rahmung besonderen Bedingungen. Wenn nicht der Autor gleichzeitig der Redakteur und Verleger der Zeitschrift ist, wie im Fall von Karl Kraus und der von ihm herausgegebenen und über Jahre hinweg weitgehend allein bespielten Zeitschrift Die Fackel (1899– 1936), dann sind am Schreibprozess möglicherweise mehrere Akteure beteiligt. Sie prägen die endgültige Gestalt der Artikel, wählen die zu veröffentlichenden Texte aus und stellen die einzelnen Hefte zusammen. Auf diese Weise sind Journalpublikationen Teil eines Netzwerks verschiedener Texte, mannigfacher Autoren und Redakteure sowie vielfältiger Publikationsformen. Im Folgenden möchte ich diese journalpoetischen Konstellationen,1 die für die einzelnen Zeitschriftenartikel prägend sind, da sie ihre Gestalt bestimmen, an dem im Verlag J. G. Cotta zwischen 1807 und 1865 erschienenen Morgenblatt für gebildete Stände, seit 1837 für gebildete Leser erarbeiten. Für meine Fragestellung bietet sich diese Zeitschrift an, da sie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu den einflussreichsten Kulturjournalen in Deutschland gehörte.2 Das Blatt, für

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Astrid Dröse und Jörg Robert, Journalpoetik. Kleists ›Erdbeben in Chili in Cottas Morgenblatt‹, S. 197–216 in diesem Band, bezeichnen mit dem Begriff ›Journalpoetik‹ »die Gesamtheit jener Faktoren, die Umfang und Auswahl, Gliederung und Proportion sowie Komposition und (ko-)textuelles Arrangement einer Zeitschrift betreffen« ebd. S. 200. Zur Publikationsgeschichte des Journals vgl. Sabine Peek, Cottas Morgenblatt für gebildete Stände. Seine Entwicklung und Bedeutung unter der Redaktion der Brüder Hauff (1827– 1865), in: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Frankfurter Ausgabe 21,42/1965 (Archiv für Geschichte des Buchwesens, Bd. XLIV), S. 947–1063. Helmuth Mojem, Über H. Clauren, das römische Kulturleben und die Meuterer der ›Bounty‹. Zum ›Morgenblatt für gebildete Stände‹, in: Johann Friedrich Cotta. Verleger  – Unternehmer  – Technikpionier,

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das die wichtigsten Autoren der Zeit schrieben, bot seinen Lesern eine Vielzahl an Themen und Texten aus den unterschiedlichsten Wissensgebieten. Es lässt sich daher mit dem von Frank, Podewski und Scherer entwickelten Konzept der Zeitschrift als ›kleinem Archiv‹ beschreiben, insofern es Wissensfelder auf eine spezifische Weise formatiert, anordnet und präsentiert.3 Nur Tagespolitik und Philosophie sollten nach dem Willen des Verlegers Johann Friedrich Cotta, der die Gestalt des Morgenblatts persönlich konzipierte und zeitlebens auf die Redaktion Einfluss nahm,4 ausgeschlossen bleiben.5 Sein Schwerpunkt lag auf Nachrichten über kulturelle, soziale, historische oder wissenschaftliche Entwicklungen nicht nur aus den deutschsprachigen Ländern, sondern auch aus europäischen wie außereuropäischen Städten und Staaten. Auf diese Weise verortet sich die Zeitschrift in einem globalen Wissensdiskurs, für den sie sich auf das weitverzweigte Korrespondentennetzwerk der ebenfalls bei Cotta verlegten Allgemeinen Zeitung stützen konnte.6 Die angesprochenen Konstellationen, die für die textuelle Gestalt des Journals von Bedeutung sind, erarbeite ich im Folgenden anhand der vom Umfang her überschaubaren Berichterstattung über den ›wilden Westen‹ Nordamerikas. Nach einem Überblick über die wesentlichen Motive und Themen der US-Berichterstattung im Morgenblatt (1), untersuche ich zwei Artikelserien, die aus anderen Publikationen übernommen wurden. Ich frage nach den personalen Netzwer-

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hg. von dems. und Barbara Potthast, Heidelberg 2017 (Beihefte zum Euphorion, Bd.  98), S. 231–249, hier S. 232  f. weist darauf hin, dass sich Cotta bei der Konzeption der Zeitschrift an bereits existierenden Journalprojekten wie A. von Kotzebues Der Freimüthige (1803–1806) orientierte. Mojem betont, dass die Leserschaft sehr viel größer war, als die höchstens 2000 Stück umfassende Auflagenhöhe, da die Zeitschrift kaum in Privathaushalten, sondern in Lesezirkeln und Clubs auslag, wo zahlreiche Rezipienten Zugang hatten (ebd., S. 246  f.). Vgl. Gustav Frank, Madleen Podewski und Stefan Scherer, Kultur – Zeit – Schrift. Literaturund Kulturzeitschriften als »kleine Archive«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 43,2/2010, S. 1–45, hier S. 41–45. Der Aufsatz bietet daneben einen Überblick über die Geschichte der Kulturzeitschrift im 19. und 20. Jahrhundert, in dem das Morgenblatt allerdings nicht vorkommt. Vgl. zur Entstehungsgeschichte Bernhard Fischer, Johann Friedrich Cotta. Verleger  – Entrepreneur – Politiker, Göttingen 2014, S. 289–301. Das Profil der Zeitschrift entwirft der Ankündigungstext aus dem Winter 1806, der im Mor­ gen­blatt für gebildete Stände/gebildete Leser 1807–1865. Nach dem Redaktionsexemplar im Cotta-Archiv (Stiftung ›Stuttgarter Zeitung‹). Register der Honorarempfänger/Autoren und Kollationsprotokolle, hg. von Bernhard Fischer, München 2000, S. 10  f. abgedruckt und be­spro­chen wird. Dass die Abwendung vom politischen Tagesgeschäft durchaus Spielraum bot und zugleich kein Desinteresse Cottas am politischen Journalismus bedeutet, zeigt Helmuth Mojem, Über H. Clauren, das römische Kulturleben und die Meuterer der ›Bounty‹, S. 238. Vgl. Bernhard Fischer, Morgenblatt für gebildete Stände/gebildete Leser 1807–1865, S. 15.



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ken, innerhalb derer diese Beiträge zum Morgenblatt kamen, und erarbeite die redaktionellen Eingriffe, um die Eigenlogik des Journals und die Zielvorstellungen seiner Redaktion zu erhellen (2). Von den dabei gewonnenen Ergebnissen ausgehend, entwerfe ich abschließend drei Ebenen der Textgenese, auf denen sich – so meine These – Zeitschriftenbeiträge nicht nur des Morgenblatts verorten lassen (3).

I. Die Amerikabegeisterung des 19. Jahrhunderts und zentrale Motive der Berichterstattung im Morgenblatt Obgleich insbesondere im ersten Drittel des 19.  Jahrhunderts, bedingt durch die napoleonischen Kriege, die Kontinentalsperre und das Fehlen eigener Korrespondenten, die Informationslage über die USA und ihre kulturelle Entwicklung in Deutschland mager war,7 gehören die Vereinigten Staaten von Amerika dennoch zu den Weltgegenden, über die das Morgenblatt seine Leser zu informieren versuchte. Dabei mussten sich die Redakteure allerdings zumeist auf Quellen aus zweiter Hand stützen.8 Erst ab den späten 1820er Jahren verbesserte sich die Nachrichtenlage in Deutschland, unter anderem durch den Einsatz ständiger oder zeitweiser Korrespondenten. Für das Morgenblatt, in dem die Artikel meist anonym erschienen, sind in Amerika beispielsweise Charles Sealsfield und Franz Lieber in den 1820er und frühen 1830er Jahren tätig, nach der Jahrhundertmitte dann besonders Ottilie Assing.9 Die Artikel dieser und anderer Autoren stellen dem deutschen Leser soziale oder kulturelle Ereignisse sowie die Literatur Nordamerikas vor und thematisieren – wenngleich nur am Rande – die Besonderheiten des demokratischen Systems der USA. Oft schwingt dabei die Enttäuschung der Berichterstatter über die beobachteten sozialen, kulturellen und politischen Zustände mit, die nicht den aus Europa mitgebrachten Idealvorstellungen ent7 8

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Vgl. Volker Depkat, Amerikabilder in politischen Diskursen. Deutsche Zeitschriften von 1789 bis 1830, Stuttgart 1998 (Sprache und Geschichte, Bd. 24), S. 66–97. Vgl. Britta Behmer, »Such is life hier in Amerika.«  – Die Amerikaberichterstattung des ›Morgenblatt für gebildete Stände‹, Diss. masch., München 2002, S. 27; Volker Depkat, Amerikabilder in politischen Diskursen, S. 71–89. Über die Biografien der einzelnen Amerikakorrespondenten und ihre Texte für das Morgenblatt informiert Britta Behmer, »Such is life hier in Amerika«, S. 57–66 (Sealsfield), S. 66–80 (Lieber), S.  182–202 (Assing). Die Rolle Sealsfields als Korrespondent Cottas untersucht Alexander Ritter, Nachrichten aus Übersee. Charles Sealsfield: Publizist, politischer Aufklärer und seine amerikanische Korrespondentenrolle für Cottas Periodika ›Morgenblatt‹, ›Ausland‹, ›Allgemeine Zeitung‹ und ›Allgemeine politische Annalen‹ (1824–1830), in: Immermann-Jahrbuch 14–16/2013–2015, S. 55–83.

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sprechen. So kritisiert Sealsfield beispielsweise das Leben in den städtischen Zentren der Ostküste als klassenbewusst und auf teure Repräsentation der Oberschicht zielend, was für einen republikanischen Staat unangemessen sei.10 Demgegenüber favorisiert er das Farmerleben in den westlichen und südlichen Staaten, die auch in anderen Artikeln in den Blick geraten. Damit partizipierte das Journal an der Faszination, die die scheinbar grenzenlose Weite der nordamerikanischen Natur und die Lebensweise der Ureinwohner auf den Betrachter im 19. Jahrhundert ausübten und die in Europa auf verschiedenen Wegen vermittelt wurde. Zu nennen sind an erster Stelle die von Amerikanern wie Europäern verfassten Reiseberichte, aus denen auch das Morgenblatt immer wieder schöpfte. Dazu traten literarische Texte, für die die seit den 1820er Jahren erschienenen ›Lederstrumpf‹-Romane James Fenimore Coopers stilbildend wirkten.11 Das Aussehen der Wildnis und der sie bevölkernden Indianer wurde den Europäern vor allem durch Gemälde und die Illustrationen der Reiseberichte vermittelt.12 Von besonderer Bedeutung waren die Bilder von Georg Catlin, der seine Darstellungen amerikanischer Ureinwohner nicht nur in den USA, sondern in den 1840er Jahren auch in verschiedenen europäischen Städten präsentierte und sie darüber hinaus als Reproduktionen in Buchform erfolgreich vertrieb.13 Die Ursachen für das besondere Interesse, das die nordamerikanische Natur und die Indianer erfuhren, sind vielschichtig. Das Morgenblatt versuchte Ende November 1858 eine Begründung des Phänomens und leitete damit den Abdruck einer Reihe von Artikeln aus dem Buch Amerikanische Jagd- und Reiseaben10 »In den Seestädten ist das häusliche Leben der reichern Klasse auf großem, in New York auf viel zu großem Fuße für einen republikanischen Staat.« Abgedruckt als »Skizzen aus Amerika«, in: Morgenblatt für gebildete Stände vom 25. 1. 1827, Nr. 22/1827, S. 86  f. hier S. 86. Ich zitiere das Morgenblatt im Folgenden mit der Sigle MBL unter Angabe des Erscheinungsdatums, der Nummer und des Jahrgangs. 11 Vgl. H. Glenn Penny, Illustriertes Amerika. Der Wilde Westen in deutschen Zeitschriften 1825–1890, in: I Like America. Fiktionen des Wilden Westens, hg. von Pamela Kort und Max Hollein, München u.  a. 2006, S. 141–157, hier S. 141. Auch im Morgenblatt wurden Coopers Romane rezipiert. So findet sich bspw. im Literaturblatt vom 8. 2. 1825, Nr.  11/1825, S. 41–43 eine sehr positive und ausführliche Rezension von Die Ansiedler. Noch im selben Jahr werden im Literaturblatt vom 29. 3. 1825, Nr. 25/1825, S. 97–100 weitere Romane Coopers besprochen (Der Lotse, erneut Die Ansiedler, Der Spion). Der Ausgabe vom 13. 4. 1836, Nr. 89/1836, S. 1 ist dann ein Zitat aus Coopers Der letzte Mohikaner vorangestellt. 12 Einzelnen Nummern des Morgenblatts waren zwar bildkünstlerische Darstellungen beigegeben, davon bezieht sich allerdings, soweit ich sehe, keine auf einen Amerikabeitrag. Zu den Darstellungen des wilden Westens in deutschen Zeitschriften vgl. H. Glenn Penny, Illustriertes Amerika, S. 141–157. 13 Vgl. Peter Bolz, Indianerbilder für den König. George Catlin und Europa, in: I Like America, S. 69–85.



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teuer aus meinem Leben in den westlichen Indianergebieten ein. Der vermeintlich autobiographische Abenteuerbericht stammt aus der Feder des Schriftstellers Friedrich Armand Strubberg, der ihn, unter Angabe nur seines mittleren Namens Armand, im selben Jahr 1858 bei Cotta als Buch veröffentlichte.14 Dem ersten Auszug im Morgenblatt wurde am 28.  November eine etwa zweiseitige Analyse der Ursachen deutscher Amerikabegeisterung vorangestellt, in der es heißt: Wenn die poetisch angeregte Jugend dort [im Mittelalterroman, M.S.] die Edlen im eisernen Gewand, hier [im Indianerroman, M.S.] die grimmig bemalten Krieger der Alleghanis mit den Staatsbürgern vergleicht, unter denen sie leben muß, so wird ihr zu Muthe, als ob sich jene zu diesen verhielten wie das bunte Zebra zum einfärbigen Esel, wie das wilde flüchtige Pferd der Prairien zum gelehrigen Zuggaul und der schäumende Büffel zum geduldigen Stier. Wenn wir den rothen Mann mit der ganzen reichen Thierwelt, auf die er sein Leben stützt, zum historischen Tode verurtheilt sehen, wenn wir mit ansehen, wie ein weit verbreiteter, eigenthümlich geprägter Menschenstamm, roh, aber von eigenthümlichem Schwung der Seele, mit einfachen, aber seltsam abgestuften Sitten, furchtbar rasch im scharfen, chemisch unerbittlichen Dunste der Cultur sich verzerrt und zerrinnt, so ist es, als ob der geschichtliche Hergang, der in der alten Welt das Mittelalter mit all seinen großartigen Formen allmählig in die Gestaltungen der Neuzeit aufgelöst hat, sich in der neuen Welt gleichsam parodisch, in schnellerem Verlauf, in flacheren, flüchtigeren und grelleren Zügen wiederholte. Kein Wunder, daß dieses bedeutungsvolle, ergreifende Schauspiel zu poetischer Ausbeutung reizt, und so besteht denn auch eine ganze Literatur, welche den Todeskampf des Ureinwohners der neuen Welt mit der vordringenden Cultur episch und lyrisch in den mannigfachsten Tonarten behandelt[.]15 Zwei Argumente werden miteinander verbunden, um die Begeisterung für Amerika zu begründen: Zum einen lasse sich an den Indianern und ihrem Schicksal das fesselnde Schauspiel einer untergehenden Lebensform und der sich ausbreitenden europäischen Zivilisation verfolgen. Hier wird ein Topos aufgegriffen, der im 18. Jahrhundert in der Diskussion um den ›edlen Wilden‹ etabliert wurde: Das gegenwärtige Schicksal der Indianer ermögliche den Blick auf die eigene

14 Vgl. Armand, Jagd- und Reiseabenteuer aus meinem Leben in den westlichen Indianergebieten. Mit 24 vom Verfasser nach der Natur entworfenen Skizzen, Stuttgart und Augsburg, J. G. Cotta’scher Verlag 1858. 15 MBL vom 28. 11. 1858, Nr. 48/1858, S. 1129–1134, hier S. 1129.

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europäische Vergangenheit und die Gründe ihres Untergangs.16 Damit verbinde sich zum anderen die Exotik der fremden indianischen Kultur und der amerikanischen Fauna, die im Gegensatz zur Gegenwart der zumeist jugendlichen Leser in Deutschland stehe, die deutlich als eine biedermeierliche gezeichnet wird. Dass der Zeitschriftenmarkt an der Begeisterung für die wildromantische Lebensform der Indianer und die amerikanische Westexpansion partizipierte, ist vor dem skizzierten Hintergrund kaum verwunderlich. Im Morgenblatt erschienen zwischen 1807 und 1865 weit über achthundert Texte unterschiedlicher Gattungen, in denen die USA in den vielfältigsten Kontexten thematisiert wurden.17 Dies mag auf den ersten Blick ein umfangreiches Textkorpus sein, berücksichtigt man aber die fast sechzigjährige Erscheinungsdauer des Journals, dann wird deutlich, dass Nordamerika keinesfalls eine herausragende Stellung im Rahmen der weltweiten Berichterstattung zukommt. Für die folgende Darstellung habe ich knapp einhundert Artikel aus der gesamten Publikationsspanne des Journals ausgewertet, in denen Themen wie die amerikanischen Ureinwohner, der ›wilde‹ Westen und seine Erschließung, die Situation an der ›frontier‹18 als der KulturNatur-Grenze oder die unberührte Natur der USA behandelt werden.19 16 Vgl. zur Herkunft und kulturgeschichtlichen Relevanz dieser Formel Nicola Gess, Sie sind, was wir waren. Literarische Reflexionen einer biologischen Träumerei von Schiller bis Benn, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 56/2012, S. 107–125. Wie verbreitet die im Morgenblatt postulierte Nähe von Ritter- und Indianerromanen unter den Zeitgenossen war, zeigt sich auch daran, dass James Fenimore Cooper, der als Erster Romane über die Geschichte Nordamerikas und das Verhältnis von Europäern und Eingeborenen verfasste, von den Zeitgenossen immer wieder als der ›amerikanische Walter Scott‹ bezeichnet wurde; vgl. zum Vergleich der beiden Autoren MBL-Literaturblatt vom 29. 3. 1825, Nr. 25/1825, S. 97– 100 im Rahmen einer Rezension von Coopers Romanen. 17 Die Publikationszahl nach Britta Behmer, »Such is life hier in Amerika«, S. 12. 18 Der Begriff wurde durch F. J. Turner 1893 in Bezug auf die US-amerikanische Westexpansion und die schrittweise Verdrängung der Natur – die zu dieser Zeit als abgeschlossen galt – geprägt. Jürgen Osterhammel definiert die ›frontier‹, die es im 19.  Jahrhundert nicht nur in Nordamerika, sondern bspw. auch in Russland oder Australien gab, als »ein sich großräumig, also nicht bloß lokal begrenzt manifestierender Typus einer prozesshaften Kontaktsituation, in der auf einem angebbaren Territorium (mindestens) zwei Kollektive unterschiedlicher ethnischer Herkunft und kultureller Orientierung meist unter Anwendung oder Androhung von Gewalt Austauschbeziehungen miteinander unterhalten, die nicht durch eine einheitliche und überwölbende Staats- und Rechtsordnung geregelt werden. Eines dieser Kollektive spielt die Rolle des Invasoren. Das primäre Interesse seiner Mitglieder gilt der Aneignung und Ausbeutung von Land und/oder anderen natürlichen Ressourcen.« (Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2011, S. 471). 19 Der erste Artikel, der im Folgenden Berücksichtigung findet, stammt aus dem MBL vom 15. 1. 1807, Nr. 13/1807 und ist zugleich der erste der jungen Zeitschrift, der sich mit einem



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Den entscheidenden Meilenstein bei der Erschließung des mittleren Westens markiert die Vollendung einer durchgehenden Eisenbahnverbindung zwischen der amerikanischen Ost- und Westküste 1869. Die sich dadurch wandelnden Reise-, Transport- und Kommunikationsbedingungen in den USA verändern auch das Aussehen des von der Eisenbahn durchquerten Landes, in dem »[d]ie Zeit der Trapper und Fallensteller […] endgültig vorbei [war] und das Zeitalter der Cowboys begann.«20 Zwar berichtet das 1865 eingestellte Morgenblatt von den politischen Debatten im Vorfeld des Bahnbaus,21 seinen Abschluss aber kann es ebenso wenig konstatieren wie die endgültige Verdrängung der Indianer aus ihren natürlichen Lebensräumen in die Reservate in den 1890er Jahren oder die gleichzeitige ›Schließung‹ der westamerikanischen ›frontier‹.22 Das Journal kann seinen Lesern daher nur den ersten Abschnitt der Westexpansion der USA vorstellen, der durch die Auseinandersetzung zwischen dem sich konsolidierenden Staat und den im Westen und Süden Nordamerikas siedelnden Indianern sowie die Erforschung ihres Territoriums geprägt war. In den seit 1807 erschienenen Ausgaben der Zeitschrift werden die dafür wichtigen Entwicklungen und Prozesse thematisiert. In der Zusammenschau entwerfen die Artikel das nicht einheitlich bewertete Bild einer ursprünglich rauen, zunehmend aber zivilisierten Natur mit extremen Lebensbedingungen. In ihr tummeln sich Indianer, Pelzhändler und Abenteurer, die sich teilweise gegenseitig bekämpfen und Jagd auf eine exotische Tierwelt machen. Währenddessen führen die Ansiedler ein zwar entbehrungsreiches, aber nicht selten wirtschaftlich erfolgreiches Farmerleben. Eine systematische Auseinandersetzung mit und Berichterstattung über die Westexpansion der USA ist dennoch nicht zu konstatieren. Vielmehr handelt es sich  – den bereits angeführten Einschränkungen entsprechend, denen das Wissen über die USA zumindest im ersten Drittel des Jahrhunderts unterworfen war – um sporadische Artikel oder Artikelserien, die einzelne Aspekte des amerikanischen Westens beschreiben. Erst seit den 1850er Jahren kam es, vor allem durch die vor Ort lebenden Korrespondenten, zu einer regelmäßigeren Berichterstattung. Zwei Themenbereiche waren in diesem Kontext für das Morgenblatt von Interesse. Zum einen geht es, überwiegend in der Gestalt von Reiseberichten und Abenteuererzählungen, um Kriegs- und Jagderlebnisse in der Wildnis und die

nicht-europäischen Land beschäftigt. Der letzte von mir zum wilden Westen ausgewertete Artikel erschien im MBL vom 24. 12. 1861, Nr. 52/1861. 20 Alexander Emmerich, Der Wilde Westen. Mythos und Geschichte, Stuttgart 2009, S. 78. 21 Vgl. z.  B. MBL vom 27. 2. 1859, Nr. 10/1859, S. 214–216, hier S. 216. 22 Zur Geschichte des wilden Westens vgl. die Darstellung von Alexander Emmerich, Der Wilde Westen.

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Lebensform der amerikanischen Ureinwohner,23 die nicht einheitlich dargestellt wurde.24 So werden sie in manchen Artikeln in die Tradition des ›edlen Wilden‹ gestellt und zeichnen sich durch ein naturnahes und wildromantisches Leben, große Freiheit, Tapferkeit und Treue aus,25 die die Autoren sehnsuchtsvoll in ihrem eigenen Leben vermissen.26 Andere Artikel dagegen entwerfen das Bild des kulturfeindlichen Barbaren, der sich durch Grausamkeit, Gefräßigkeit und eine häufig kannibalistische Ernährungspraxis auszeichne.27 Dieser Befund verrät nicht nur etwas über die Unsicherheit der Europäer im Umgang mit den amerikanischen Ureinwohnern. Er sagt auch etwas über die Schwierigkeiten der Nachrichtenbeschaffung aus,28 beruht doch ein wesentlicher Teil der Artikel über die Indianer auf der Übersetzung zumeist englischer oder amerikanischer Zeitungsnotizen, die je eigene Absichten verfolgen. Die uneindeutige Art der Darstellung lässt sich aber auch dahingehend interpretieren, dass eine einheitliche Meinungsbildung nicht im Interesse des Morgenblatts lag. Cottas berühmte Formulierung, das Morgenblatt solle »Allen etwas« bieten,29 hat nicht nur hinsichtlich der thematischen Auswahl die Arbeit der Redaktion bestimmt, sondern gewährleistete auch die divergierende Bewertung einzelner Phänomene im Journal. Dies gilt nicht nur für die Ureinwohner, sondern auch für andere Themengebiete, beispielsweise die Chancen und Risiken der im Verlauf des 19. Jahrhunderts stark 23

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Die Jagdgeschichten sind zumeist als Reiseberichte ausgegeben, haben aber wiederholt vermutlich stark fiktionalen Charakter; vgl. z.  B. die Artikelserie Abenteuer in Nordwest=Amerika, die sich um eine Pelzhandelsstation dreht, im MBL vom 24.–27., 29. und 30. 10. 1821, Nr.  255–260/1821 oder den Teilabdruck von Washington Irvings A Tour on the Prairies im MBL vom 2., 4.–6., 15.–16., 19.–20. sowie 26. 5. 1835, Nr. 105–108, 116–117, 119–120, 125/1835. Ich werde mich im weiteren Verlauf der Untersuchung ausführlicher mit diesem Text auseinandersetzen. Vgl. daneben MBL vom 16. 3. und 16. 4. 1839, Nr. 65, 91/1839; MBL vom 20. und 27. 2. sowie vom 6. 3. 1853, Nr. 8–10/1858; MBL vom 28. 11., 5. und 12. 12. 1858, Nr. 48– 50/1858. Vgl. Britta Behmer, »Such is life hier in Amerika«, S. 31–33. Vgl. MBL vom 27. 6. 1812, Nr. 154/1812, S. 614  f. MBL vom 17. 2. 1813, Nr. 41/1813, S. 161; MBL vom 1. 5. 1823, Nr. 104/1823, S. 415. Dies wird besonders in dem Auszug aus François-René de Chateaubriands Reisebericht deutlich, in dem die Freiheit der amerikanischen Wildnis und der Indianer vor dem einengenden Leben des europäischen Kulturmenschen bejubelt wird; vgl. MBL vom 15. 2. 1816, Nr. 40/1816, S. 157–159. Vgl. MBL vom 11. 1. 1812, Nr. 10/1812, S. 38; MBL vom 3. 12. 1814, Nr. 289/1814, S. 1155; MBL vom 29. 7. 1816, Nr. 181/1816, S. 722  f. Die ambivalente Bewertung der Indianer lässt sich auch in einzelnen Artikelserien beobachten, vgl. MBL vom 4., 6. und 7. 7. 1825, Nr. 158, 160–161/1825. Zitiert nach Bernhard Fischer, Morgenblatt für gebildete Stände/gebildete Leser 1807– 1865, S. 19. Die dabei abgedeckte Bandbreite zeigt Helmuth Mojem, Über H. Clauren, das römische Kulturleben und die Meuterer der ›Bounty‹.



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zunehmenden europäischen Auswanderung nach Amerika. Sie wird teilweise als ein aussichtsreiches und nachahmenswertes Unternehmen angepriesen, teilweise aber wird – aus wirtschaftlichen wie patriotischen Gründen – deutlich davor gewarnt, Deutschland zu verlassen.30 Mit den Einwanderern ist ein zweiter Themenbereich angeschnitten, der für die Darstellung des amerikanischen Westens im Morgenblatt neben der unberührten Natur und ihren Bewohnern von Interesse ist: die schrittweise Ausbreitung des amerikanischen Staates und seiner agrarischen Kultur von der Ostküste und die Urbarmachung des Landes. Dies schlägt sich zum einen in einer Vielzahl von Artikeln nieder, die von der Wanderung nach Westen und der Gründung einer neuen Farm berichten.31 Der Leser erhält beinahe handbuchartige und umfangreiche Informationen über das Aussehen eines solchen Trecks, die Gefahren der Reise, die nötigen finanziellen Mittel oder die Gesichtspunkte, unter denen das zu besiedelnde Land ausgewählt werden sollte. Die Artikel schildern, welche Schritte im ersten Jahr der Ansiedlung nötig seien, welche Dinge man vor Ort erhalte und was man aus dem Osten mitnehmen müsse, auf welche Weise man den Urwald fällen und Felder anlegen könne oder welche Pflanzen auf diesen anzupflanzen sinnvoll sei. Dass dabei häufig die Erfahrungen deutscher Pioniere geschildert werden, hängt sicherlich mit den Erwartungen des Lesepublikums zusammen, dem auf diese Weise ein höherer Grad an Identifikationsmöglichkeiten geboten wurde.32 Über die Lebensweise der wichtigsten Akteure der vordringenden Zivilisation wie Auswanderer, Farmer, Bodenspekulanten33 und Fellhändler wird der Leser ebenso informiert34 wie über zentrale Entwicklungen im Rahmen der Westexpansion – keinesfalls aber über alle. Der kalifornische Goldrausch von 1849 beispielsweise kommt, obwohl er eine starke Westwanderung auslöste, im Morgenblatt soweit ich sehe nicht vor.35 Thematisiert werden dagegen mehrere offizielle Expeditionen zur Erschließung des mittleren

30 Vgl. dazu Britta Behmer, »Such is life hier in Amerika«, S. 239. 31 Vgl. z.  B. MBL vom 18.–19., 21. und 22. 5. 1827, Nr. 119–122/1827; MBL vom 2.–3. sowie vom 17.–21. 12. 1833, Nr. 288–289, 301–305/1833; MBL vom 8. 3. 1848, Nr. 58/1848, S. 229  f. 32 Die Eigenheiten deutscher Siedler, ihre schlechten Englischkenntnisse und ihr merk­wür­ di­ges, nur ihnen verständliches Kauderwelsch werden bspw. in den Artikeln im MBL vom 8. und 15. 1. sowie 7. 5. 1854, Nr. 2–3, 19/1854 besprochen. Eine kritische Haltung ist dabei unverkennbar. 33 Vgl. MBL vom 15. 1. 1854, Nr. 3/1854, S. 71  f. zum Boden- und Landspekulanten als cha­rak­ te­ristischem Personal des amerikanischen Westens vgl. Jürgen Osterhammel, Die Ver­wand­ lung der Welt, S. 487. 34 Beispielsweise in einer Artikelserie »Eine kleine Stadt im Westen« im MBL vom 8. und 15. 1. sowie 7. 5. 1854, Nr. 2–3, 19/1854. 35 Vgl. Alexander Emmerich, Der Wilde Westen, S. 58–62.

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Westens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts,36 der für die Ausweitung des amerikanischen Einflussgebietes nach Süden wichtige Santa Fé-Trail der 1820er und -30er Jahre,37 die Doktrin des ›Manifest Destiny‹, nach der es die ›höhere Bestimmung‹ der USA sei, das Land und die Ureinwohner zu zivilisieren,38 oder die Fertigstellung der ersten vollständigen Telegrafenleitung von New York nach San Francisco im Jahr 1861.39 Fast allen Artikeln über den Westen der USA im Morgenblatt ist gemein, dass sie die Zerstörung der Natur, die Situation der sich entweder dem Anpassungsdruck beugenden oder verdrängten Indianer sowie die sich etablierende Landwirtschaft als eine positive und notwendige Entwicklung beschreiben.40 Nur in wenigen Ausnahmefällen werden die Schattenseiten der Westexpansion  – wie das Aussterben von Tieren und die Vernichtung von Lebensraum  – überhaupt sichtbar, ohne aber kritisch reflektiert zu werden.41 Dies zeigt sich exemplarisch an einem Artikel über die schwindende Vielfalt von Jagdtieren in Illinois, den das Morgenblatt aus einer amerikanischen Zeitschrift übernimmt und 1832 abdruckt. 36 Ein Bericht über die von Robert Stewart geleitete Pelzhändlerexpedition von New York nach Astoria in den Jahren 1812/13 wird in den Heften vom 7.–9. und 11. 7., Nr. 161–164/1814 wiedergegeben. Im selben Jahrgang des Morgenblatts werden am 21.–22. und 28. 11. sowie am 5., 7., 14., 23. und 24. 12. 1814, Nr. 278  f. 284, 289, 292, 298 sowie 306  f./1814 in insgesamt acht Artikeln Auszüge aus dem Bericht der Lewis-Clarke-Expedition (1804–1806) abgedruckt. Erwähnt wurde diese bereits am 15. 1. 1807, Nr. 13/1807. An der nicht chronologisch geordneten Abfolge dieser beiden umfangreichen Artikelserien zu den Entdeckungsreisen in den amerikanischen Westen im Jahrgang 1814 zeigt sich, dass das Interesse des Morgenblatts nicht darauf zielte, den Lesern einen historisch korrekten Einblick in die Entwicklung der amerikanischen Westexpansion zu bieten. 37 Vgl. MBL-Literaturblatt vom 10. 1. 1846, Nr. 3/1846, S. 9  f.; vgl. dazu Alexander Emmerich, Der Wilde Westen, S. 41–43. 38 Vgl. MBL vom 20. 1. 1856, Nr. 3/1855, S. 68–71, hier S. 69  f.; vgl. dazu Alexander Emmerich, Der Wilde Westen, S. 47 sowie Pamela Kort, »Die unbewältigte Vergangenheit des Mordes an den Indianern«, in: I Like America, S. 45–67, bes. S. 45. 39 Vgl. MBL vom 24. 12. 1861, Nr. 51/1861, S. 1245–1247, hier S. 1245  f. 40 Die explizit positiven Folgen der Zivilisierung und Christianisierung der Indianer beschreiben bspw. zwei Artikel im MBL vom 2. und 3. 8. 1827, Nr.  184–185/1827. Auch an anderer Stelle wird, wenn der Untergang der indianischen Kultur konstatiert wird, dies zwar bedauert, die fortschreitende Zivilisation aber nicht hinterfragt; vgl. MBL vom 13. 4. 1836, Nr. 89/1836, S. 353  f. 41 Anders ist es im Fall von J. F. Coopers The pioneers (1823). Hier wird die Verwendung von Zuckerahorn zum Heizen des Ofens durch die positiv gezeichnete Figur des Richters Temple kritisiert, der davor warnt, das Brennmaterial sei binnen zwanzig Jahren aufgebraucht, wenn der Wald weiterhin so extensiv genutzt werde; vgl. James Fenimore Cooper, Die Ansiedler an den Quellen des Susquehanna, nach der durchgesehenen und ergänzten Übersetzung von C. Kolb, mit einem Essay und einer Bibliographie von Hans-Joachim Lang, Reinbek 1961 (Amerikanische Literatur, Bd. 3), S. 90  f. (Kapitel 9).



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Er konstatiert zwar den Rückgang des Wildes, an negativen Folgen aber hebt er nur die für Jäger beschwerliche Notwendigkeit hervor, nun in andere Bundesstaaten reisen zu müssen, wenn man jagen wolle.42 Keinesfalls aber ist diese Betrachtungsweise ein Spezifikum der Journalberichterstattung. Vielmehr war der Glaube, dass die Zähmung des Wilden zumindest in bestimmten Grenzen richtig und nötig sei, für das 19. Jahrhundert prägend und bestimmte in Gestalt des ›Manifest Destiny‹ wesentlich die offizielle US-amerikanische Expansionsund Indianerpolitik der Zeit.

II. Redaktionelle Kriterien der Berichterstattung im Morgenblatt Das Morgenblatt vermittelt seinen Lesern, so wurde deutlich, ein vielschichtiges Bild des amerikanischen Westens, ohne zugleich eine bestimmte Deutung des Geschehens in jedem Fall festzuschreiben. Im Folgenden werde ich an zwei Fallbeispielen verfolgen, woher und auf welchen Wegen einzelne Artikel in das Morgenblatt übernommen wurden und wie sie redaktionell eingeleitet oder bearbeitet wurden. Dafür bieten sich solche Texte an, die aus anderen Quellen entnommen wurden, während im Fall der zahlreichen Korrespondenzartikel aus den USA weder die ursprünglichen noch die nicht übernommenen Einsendungen der Berichterstatter vorhanden sind, der Wissenstransfer mithin unklar bleibt.43 Ziel ist es, die journalpoetischen Eigenlogiken und Zielvorstellungen des Morgenblatt zu erarbeiten und die Konstellationen zu rekonstruieren, auf denen die publizierten Artikel beruhen und die ich im abschließenden dritten Abschnitt meines Beitrags systematisch beschreiben werde.

1. Erstes Beispiel: Wilhelm von Humboldt über die Kultur der Indianer (1827) Mein erstes Beispiel sind zwei Artikel, die am 2. und 3. August 1827 unter dem Titel »Fortschritte in der Kultur unter den Indiern Nordamerikas« publiziert wurden.44 Der erste Artikel beginnt mit einem einleitenden Satz, der die Quelle benennt: »Wilhelm von Humboldt theilt in der Hertha sehr merkwürdige Notizen über die Fortschritte der Kultur unter den auf dem Gebiete der Vereinigten Staaten leben-

42 Vgl. MBL vom 14. 8. 1832, Nr. 194/1832, S. 773  f. 43 Dies deutet sich bei Alexander Ritter, Nachrichten aus Übersee, S. 55–83, bes. S. 66 an. 44 MBL vom 2.–3. 8. 1827, Nr. 184–185/1827, S. 735  f., 737  f.

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den Indiern mit.«45 Auf diesen Hinweis folgt nach einem Geviertstrich zunächst ein Bericht über bisherige Versuche, die Indianer an die amerikanisch-europäische Zivilisation und das Christentum heranzuführen. Nachdem der Autor die Gründe angegeben hat, warum dies in der Vergangenheit scheitern, in jüngster Zeit aber gelingen musste, wird der Brief eines jungen Cherokee-Indianers abgedruckt, der erst seit kurzer Zeit Christ ist und Englisch spricht. Er berichtet von den wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen der Cherokee-Nation und ihrer Anpassung an die amerikanische Kultur. Der Brief wird im zweiten Artikel der kurzen Serie im folgenden Heft des Morgenblatts fortgesetzt. Daran schließt sich ein kurzer Hinweis auf die neuerfundene Alphabetschrift der Cherokee-Sprache an, mit dem der Abdruck beendet wird. Der Einleitungssatz des ersten Artikels benennt, im Schriftbild gesperrt gedruckt und so hervorgehoben, die autoritative Quelle: Es handelt sich um einen von Wilhelm von Humboldt zusammengestellten Aufsatz, der den gleichlautenden, wenn auch anders geschriebenen Titel »Fortschritte in der Kultur unter den Indiern Nordamerika’s« trägt. Er wurde im April 1827 im vierten Heft des neunten Jahrgangs der monatlich ebenfalls im Verlag J. G. Cotta erscheinenden Hertha. Zeitschrift für Erd-, Völker- und Staatenkunde veröffentlicht.46 Der Text gehört in den größeren Zusammenhang von Humboldts Interesse für die indianischen Sprachen.47 Dies wird besonders am – im Morgenblatt stark gekürzten – Schluss des Aufsatzes über die neue Schrift der Cherokee deutlich. Er ist, so zeigen briefliche Aussagen,48 der Ausgangspunkt von Humboldts Arbeit an dem Aufsatz, in 45 MBL vom 2. 8. 1827, Nr. 184/1827, S. 735; Hervorhebungen im Original gesperrt. 46 Fortschritte in der Kultur unter den Indiern Nordamerika’s. Nach handschriftlichen Notizen, mitgetheilt von dem Hrn. Geh. Staatsminister, Freiherrn Wilh. v. Humboldt, in: Hertha 9,4/1827, S. 320–328. 47 Zu Humboldts Sprachstudien vgl. Jürgen Trabant, Weltansichten. Wilhelm von Humboldts Sprachprojekt, München 2012, zu den amerikanischen Sprachen bes. S. 90–106. 48 Dass dies der Ausgangspunkt der Veröffentlichung ist, macht eine briefliche Mitteilung Alexander von Humboldts an den Herausgeber der Hertha, den Geographen und Kartographen Heinrich Berghaus vom Dezember 1826 deutlich, in der er von einem Besuch bei seinem Bruder Wilhelm berichtet, der plane, in der Hertha die Erfindung der CherokeeSchrift mitzuteilen. Wohl aus dem Zusammenhang dieser Mitteilung mit dem Brief des jungen Cherokee in den von Wilhelm von Humboldt verwendeten Quellen ergibt sich die Gestalt des dann veröffentlichten Artikels, dessen sprachgeschichtlicher Kern im Titel nicht angedeutet wird; vgl. Briefwechsel Alexander von Humboldts mit Heinrich Berghaus aus den Jahren 1825 bis 1858, Bd. 1, Leipzig 1863, S. 116  f. (Brief Nr. 15). Humboldts Interesse an der Cherokee-Sprache zeigt sich nachdrücklich daran, dass er  – auf Vermittlung des preußischen Botschafters in den USA – die zweisprachige Zeitschrift The Cherokee Phoenix abonniert hatte, mit dessen Herausgeber, einem Cherokee, er auch korrespondierte; vgl. dazu Kurt Mueller-Vollmer, Wilhelm von Humboldts Sprachwissen-



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dem das Thema wiederholt vorkommt, so wenn es um die Methoden des Spracherwerbs und -unterrichts bei den Indianern, indianische Grammatiken oder die Übersetzungen christlicher Texte geht. Humboldt stellte den Aufsatz, so heißt es am Schluss,49 durch Übersetzung eines offiziellen Berichts zusammen,50 den der im US-Kriegsministerium angesiedelte Superintendant of Indian Affairs Thomas L. McKenney über die kulturelle Entwicklung der Cherokee-Indianer verfasste.51 Dieser ursprünglich politisch motivierte Text wird in der Hertha, nur wenig verändert und um zusätzliche Informationen aus anderen Quellen ergänzt, als sprachwissenschaftlicher Aufsatz in einer geographisch-ethnologischen Fachzeitschrift publiziert. Das Morgenblatt kürzt den kurz zuvor im selben Verlag erschienenen Artikel und teilt ihn, seinen eigenen Publikationsbedingungen entsprechend, auf zwei Hefte auf, wobei die auf das US-Kriegsministerium verweisende Quellenangabe gestrichen wird. Zusätzlich werden für die Übernahme Änderungen vorgenommen, die den wissenschaftlichen Anspruch des HerthaAufsatzes zugunsten eines stärker anekdotisch-informierenden Leseeindrucks abschwächen sollen.52

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schaft. Ein kommentiertes Verzeichnis des sprachwissenschaftlichen Nachlasses. Mit einer Einleitung und zwei Anhängen, Paderborn u.  a. 1993, S. 60–68. Vgl. Hertha 9,4/1827, S. 326: »[der] Bericht, aus dem wir diese Notizen überhaupt entlehnen, ist datirt aus dem Department of War, Office of Indian affairs, December 13, 1825.« Humboldt hat die Dokumente, die sich in seinem Nachlass befinden, vermutlich von dem US-amerikanischen Sprachforscher John Pickering (1777–1846) erhalten, von dem nach Kurt Mueller-Vollmers Meinung die handschriftlichen Notizen stammen, die sich auf ihnen befinden; vgl. Kurt Mueller-Vollmer, Wilhelm von Humboldts Sprachwissenschaft, S. 241  f. Zu Humboldts Kontakten nach Nordamerika, von denen er sprachwissenschaftliches Material erhielt, vgl. ders., Wilhelm von Humboldt und der Anfang der amerikanischen Sprachwissenschaft. Die Briefe an John Pickering, in: Universalismus und Wissenschaft im Werk und Wirken der Brüder Humboldt, hg. von Klaus Hammacher, Frankfurt a. M. 1976 (Schriften zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 31), S. 259–334 sowie ders., Humboldts linguistisches Beschaffungsprogramm: Logistik und Theorie, in: Wilhelm von Humboldt und die amerikanischen Sprachen. Internationales Symposium des Ibero-Amerikanischen Instituts PK, 24.–26.  September 1992 in Berlin, hg. von Klaus Zimmermann und Kurt Mueller-Vollmer, Paderborn u.  a. 1994 (Humboldt-Studien), S.  27–42, bes. S. 34  f. sowie Ute Tinteman, Von Tegel bis Santiago de Chile. Wilhelm von Humboldts Netzwerke, in: Kennen Sie Preußen – wirklich? Das Zentrum »Preußen – Berlin« stellt sich vor, hg. von Bärbel Holtz und Wolfgang Neugebauer, Berlin 2009, S. 179–188. Dokumentiert ist der Bericht in: American State Papers. Documents, Legislative and Executive, of the Congress of the United States. From the First Session of the Fourteenth to the Second Session of the Nineteenth Congress. Class II: Indian Affairs. Volume II, selected and edited, under the Authority of Congress by Walter Lowrie/Walter S. Franklin, Washington 1835, S. 650–653. Gustav Frank, Madleen Podewski und Stefan Scherer, Kultur – Zeit – Schrift, S. 28 sehen darin eine Hauptaufgabe von Kulturzeitschriften, in denen »Wissen nicht nur wieder ent-

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Der explizit fachwissenschaftliche Charakter der Vorlage in der Hertha zeigt sich an mehreren Punkten: So sind erstens in die Ausführungen am Beginn des Artikels über die bisherigen und gegenwärtigen Versuche, die Indianer zu ›zivilisieren‹, englische Vokabeln in Klammern eingefügt, die den Wortstand der amerikanischen Vorlage aufzeigen. Im Morgenblatt wird dieser Teil vor Beginn des Briefes des jungen Cherokee zwar weitgehend vollständig  – wenn auch in eigenen Worten  – wiedergegeben,53 die englischen Ausdrücke aber werden gestrichen. Ähnliches gilt zweitens für den Brief selbst, der in der Hertha im englischen Original abgedruckt wird,54 da die »Originalsprache« dokumentarischen Charakter für den Fortschritt der Cherokee-Nation in der amerikanischen Kultur und Sprache habe.55 Demgegenüber wird im Morgenblatt eine vermutlich durch spezialisiert und verständlich gemacht, damit popularisiert, sondern vor allem in der literarischen Artikulation auch in lebensweltliche Zusammenhänge eingestellt und insofern auf seine Haltbarkeit oder Haltlosigkeit befragt [wird].« 53 Die Paraphrase ist allerdings teilweise sehr nah am Original und verändert mitunter bloß einzelne Vokabeln; so wird z.  B. »betrachten« durch »ansehen« ersetzt. 54 Die Hertha übernimmt den Text ebenfalls aus den angeführten amerikanischen Akten, wobei sich allerdings gleich im ersten Satz zwei Rechtschreibfehler einschleichen. Heißt es in den Akten des US-Ministeriums »In my last letter …« (American State Papers, Class II, Volume II, S. 651) so steht in der deutschen Zeitschrift »I may last letter …« (Hertha 9,4/1827, S. 323). Das Morgenblatt übersetzt korrekt »In meinem letzten Briefe …« (MBL vom 2. 8. 1827, Nr. 184/1827, S. 735). Unklar ist allerdings, ob bereits Humboldts amerikanische Vorlage, die aus chronologischen Gründen nicht die von mir zitierte Ausgabe der State Papers sein kann, die Rechtschreibfehler enthielt. Der – in der Hertha gestrichene – Name des Autors wird in den zugrundeliegenden Akten mit »David Brown« angegeben. Brown (1800–1829), ein Cherokee, war zusammen mit seiner Schwester Elisabeth maßgeblich für die Christianisierung seines Stammes verantwortlich und an der Standardisierung seiner Sprache beteiligt; vgl. Art. »Brown, David«, in: The Encyclopedia Americana. A Library of Universal Knowledge in Thirty Volumes, Bd. 4, New York und Chicago 1918, S. 604. Der von Humboldt zitierte Brief, der ursprünglich in der in Richmond/Virginia erscheinenden Wochenzeitschrift Family Visitor publiziert wurde, ist ein sehr frühes Zeugnis der Christianisierung der amerikanischen Ureinwohner aus der Hand eines Ureinwohners. Daher wurde er nicht nur in die US-Kongressakten übernommen – aus denen Humboldt ihn entnimmt – sondern auch in zahlreichen US-amerikanischen Zeitschriften nachgedruckt. Zur Christianisierung der Cherokee und der Bedeutung des zitierten Briefes vgl. Joel W. Martin, Crisscrossing Projects of Sovereignty and Conversion. Cherokee Christians and New England Missionaries during the 1820s, in: Native Americans, Christianity, and the Reshaping of the American Religious Landscape, hg. von Joel W. Martin und Mark A. Nicholas, Chapel Hill/NC 2010, S. 67–89. Teile der von David Brown angefertigten Bibelübersetzung des ersten Kapitels der Genesis sind in Humboldts Nachlass erhalten; vgl. Kurt Mueller-Vollmer, Wilhelm von Humboldts Sprachwissenschaft, S. 241  f. 55 Hertha 9,4/1827, S. 322: »Wir geben ihn [den Brief, M.S.] in der Originalsprache, um von dem Style des Briefstellers nichts zu verlieren.«



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die Redaktion übersetzte, leicht gekürzte Version geboten,56 wobei die Tatsache der Übersetzung nicht kenntlich gemacht wird. Einige Fußnoten, mit denen in der Hertha der Brief um Tatsachen erweitert wird, die Humboldt aus anderen Quellen entnommen hatte,57 werden drittens im Morgenblatt in den übersetzten Brieftext integriert, die Quellenangaben gestrichen.58 Die Transformationen, die am Hertha-Artikel für den Abdruck im Morgenblatt vorgenommen werden, lassen sich als die Rücknahme eines wissenschaftlichen Anspruchs und damit als Veränderung der Textintention interpretieren.59 Diese Tendenz wird bereits an der Auswahl gerade dieser Vorlage deutlich. Denn im selben Heft der Hertha folgt auf den Artikel Humboldts eine umfassende tabellarische Darstellung der geographischen Verteilung einzelner Indianersprachen und -dialekte, die im Morgenblatt keine Berücksichtigung fand.60 Kriterium der Auswahl ist weniger die Mitteilung sprachwissenschaftlicher Erkenntnisse, wie in der Hertha, als vielmehr der Umstand, dass es sich bei dem von Humboldt mitgeteilten Brief um – so heißt es im Morgenblatt explizit – »sehr merkwürdige Notizen« über die Entwicklung der nordamerikanischen Ureinwohner handle. Nicht die wissenschaftliche Aktualität, sondern gerade die Kuriosität des Mitgeteilten  – immerhin handelt es sich um den englischsprachigen Text eines getauften Indianers  – ist im Sinne eines gleichzeitigen delectare und docere leitend bei der Auswahl. Dies entspricht inhaltlich der im Dezember 1806 veröffentlichten Ankündigung des neuen Journals, in der sein Zweck dahingehend bestimmt wird, »auf dem Wege der Unterhaltung die angenehmste Belehrung [zu]

56 So fehlt vom ersten Absatz des Originalbriefes (Hertha 9, 4/1827, S. 323) in MBL 184/1827, S. 735 der größte Teil. 57 Die von Humboldt verwendeten Materialien sind in seinem Nachlass erhalten; vgl. Kurt Mueller-Vollmer, Wilhelm von Humboldts Sprachwissenschaft, S. 309  f. 58 Vgl. Hertha 9,4/1827, S. 324, es geht um Details zur Bevölkerungsstruktur der Cherokee. 59 Der Transferprozess ist damit keinesfalls abgeschlossen, vielmehr wird der MorgenblattArtikel selbst zum Ausgangspunkt nunmehr wieder wissenschaftlicher Publikationen. In Alexander Lips, Statistik von Amerika oder Versuch einer historisch-pragmatischen und raisonirenden Darstellung des politischen und bürgerlichen Zustandes der neuen StaatenKörper von Amerika, Frankfurt a. M.: Heinrich Wilmans 1828, S. 473–479 wird er in § 210 »Von den Indianern Nodamerika’s« ausführlich und über weite Strecken wörtlich zitiert. Auch der Brief des Cherokee wird hier in der Übersetzung des Morgenblatts, das allerdings nicht als Quelle genannt wird, inklusive der in den Fließtext übernommenen, in der Hertha in den Fußnoten wiedergegebenen Ergänzungen abgedruckt. 60 Vgl. »Albert Gallatin’s tabellarische Übersicht der Indierstämme in den vereinigten Staaten von Nordamerika, ostwärts von den Felsgebirgen (»Stony Mountains«) nach den Sprachen und Dialekten geordnet«. 1826. (Mitgetheilt von dem Freiherrn Alexander von Humboldt), in: Hertha 9,4/1827, S. 328–334.

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gewähren.«61 Ein weiterreichender Anspruch, ein Themengebiet wie die amerikanischen Ureinwohner umfassend darzustellen, wird nicht verfolgt, die Kenntnis der englischen Sprache beim Leser nicht vorausgesetzt. Da beide Zeitschriften im Verlag J. G. Cotta erschienen, lässt sich daneben über das verlegerische Profil des Hauses sagen, dass die Journale wechselseitig aufeinander zurückgreifen konnten, weil sie das Material ihren je eigenen redaktionellen Leitlinien anpassten.62 Sie richteten sich nicht nur an unterschiedliche Lesergruppen, sondern verfolgten auch spezifische Schwerpunkte. Daneben diente das Verfahren der Bezugnahme auch der Eigenwerbung, wird doch die Quelle annähernd genau angegeben, so dass der interessierte Leser bei Bedarf in der Hertha die Details verfolgen kann.63 Diese redaktionelle ›Eigenlogik‹ des Journals zeigt sich nicht nur in der Überarbeitung des Originalbeitrags, sondern auch in dessen Rekontextualisierung durch die Aufnahme in zwei Zeitschriftenhefte des Morgenblatts, die daneben weitere Beiträge präsentieren. Dies wird exemplarisch am zweiten Teil des Artikels deutlich, der als Eröffnungstext des Heftes vom 03.  August 1827 erschien, das daneben einen Bericht über eine urtümliche skandinavische Gerichtspraxis sowie Korrespondenznachrichten aus Leipzig und Genf bringt, mithin ein weites räumliches Panorama aufspannt. Zwischen die Kopfzeile der Zeitschrift und den Eröffnungsartikel über die Cherokee sind daneben acht Verse eingeschoben:64 Freyheit liebt das Thier der Wüste, Frey im Aether herrscht der Gott. Ihrer Brust gewalt’ge Lüste Zähmet das Naturgebot; Doch der Mensch in ihrer Mitte Soll sich an den Menschen reih’n. Und allein durch seine Sitte Kann er frey und mächtig seyn.                                                                                                                                                                                    Schiller. 61 Zitiert nach Bernhard Fischer, Morgenblatt für gebildete Stände/gebildete Leser 1807–1865, S. 10. 62 Claudia Stockinger, An den Ursprüngen populärer Serialität. Das Familienblatt ›Die Gartenlaube‹, Göttingen 2018, S.  71–75 spricht mit Blick auf den Verlag Ernst Keil und sein verlegerisches Programm von einem verlegerischen »Multiversum«, innerhalb dessen die verschiedenen Zeitschriften über einander überlappende Profile verfügen konnten. 63 Bernhard Fischer, Morgenblatt für gebildete Stände/gebildete Leser 1807–1865, S. 17 spricht davon, der Verlag erscheine durch die Rezension eigener Publikationen in den hauseigenen Zeitschriften als ein »autonome[r] Kosmos«. 64 MBL vom 3. 8. 1827, Nr. 185/1827, S. 737.



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Es handelt sich um die Verse 201–208 aus Friedrich Schillers Gedicht »Das eleusische Fest« (entstanden 1798), das im ebenfalls bei Cotta erschienenen MusenAlmanach für das Jahr 1799 unter dem Titel Bürgerlied erstveröffentlicht wurde. Der Abdruck von Gedicht(-ausschnitten) nach der Titelei der Zeitschrift, aber vor dem ersten Artikel, von beidem jeweils durch einen dicken Strich im Druckbild getrennt, gehört zu den konsequent beibehaltenen Eigenheiten des Morgenblatts seit dem ersten Jahrgang.65 Dabei sind die Verse keinesfalls zufällig ausgewählt, sondern beziehen sich »in aller Regel kommentierend auf den jeweiligen Hauptbeitrag des Blattes«.66 Auch die zitierten Verse Schillers lassen sich mit Bezug auf den unmittelbar folgenden Aufsatz über die Cherokee-Indianer lesen und bieten eine Deutung des dort präsentierten Wissens: Der Gedichtausschnitt legt dem Leser ein Verständnis der von Humboldt mitgeteilten Anpassung der Ureinwohner an die dominante amerikanische Sprache und Kultur nahe, nach dem es positiv als für die menschliche Entwicklung notwendiges Geschehen im Rahmen einer Kulturanthropologie zu lesen sei. Die Leserlenkung stammt nun aber weder von Humboldt, noch ist sie bereits Teil der Erstpublikation in der Zeitschrift Hertha. Es handelt sich vielmehr um eine genuine Zutat der Morgenblatt-Redaktion, die in der Verbindung von lyrischer Kulturgeschichte und wissenschaftlicher Information die spezifisch kulturelle Stoßrichtung des Journals unterstreicht.

2. Zweites Beispiel: Washington Irvings Ritt über die Prärie (1835) Im Mai 1835 wurden im Morgenblatt in neun Heften unter dem Titel Die Prairien umfangreiche Auszüge aus dem kurz zuvor auf Englisch erschienenen Reisebericht A Tour on The Prairies67 von Washington Irving veröffentlicht.68 Mit diesem Teilabdruck traf das Journal einen Trend der Zeit. Zwar hielt das Literaturblatt am 24. August 1835 in einer Rezension zu einer Übersetzung von Irvings Bericht fest: »Schilderungen dieser Art sind sehr interessant, wenn man sie zum ersten Mal liest. Doch haben Cooper und seine Nachahmer dafür gesorgt, daß sie uns nicht mehr neu sind.«69 Dennoch wurden allein im Literaturblatt des Morgenblatts bis zum Januar 1836 drei unabhängig voneinander erarbeitete Übersetzungen von 65 Vgl. die Zusammenstellung dieser Texte bei Hans-Ulrich Simon, Titelgedichte des Cot­ ta’schen Morgenblatts für gebildete Stände, 2 Bde., Stuttgart 1987. 66 Helmuth Mojem, Über H. Clauren, das römische Kulturleben und die Meuterer der ›Bounty‹, S. 242. 67 Vgl. Washington Irving, A Tour on the Prairies, Paris: Baudry’s European Library, 1835 68 Vgl. MBL vom 2., 4.–6., 15.–16., 19.–20. sowie 26. 5. 1835, Nr.  105–108, 116–117, 119–120, 125/1835. 69 MBL-Literaturblatt vom 24. 8. 1835, Nr. 86/1835, S. 344.

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Irvings Werk rezensiert,70 davon eine, die bei J. G. Cotta erschienen ist. Mindestens eine weitere ist in diesem Zeitraum im Rahmen einer Gesamtausgabe Irvings publiziert worden,71 die Teilübersetzung des Morgenblatts muss als zusätzliche fünfte Übertragung gelten.72 Auch wenn sich zwischen den beiden bei Cotta erschienenen Übersetzungen, im Morgenblatt und als Monografie, eine deutliche und kaum zufällige Verwandtschaft feststellen lässt, wird das chronologische Verhältnis der beiden Drucke nicht klar. Die bei Cotta erschienene Gesamtübersetzung folgt jedenfalls weitgehend der englischen Fassung, ohne die im Morgenblatt vorgenommenen Variationen zu übernehmen, um die es im Folgenden gehen wird.73 Die Rezeption, die Irvings Bericht über seine Reise an die ›frontier‹ aus dem Jahr 1832 in Deutschland erfuhr, erklärt sich vermutlich mit der Anlage des Werkes: Es verbindet den detailreichen und eine Vielzahl an geographischen, ethnologischen und geschichtlichen Fakten enthaltenden Bericht über einen Ritt mit US-amerikanischen Grenzjägern im wilden Westen mit der Schilderung von Indianerbegegnungen und Jagdabenteuern. Dazu kommen skurrile Figuren wie ein Kreolisch sprechender französischer Bedienter und Koch, ein dauer70 Neben der im Literaturblatt Nr.  86/1835 besprochenen Ausgabe Washington Irving, Ausflug auf die Prairien zwischen dem Arkansas und Red=river, Stuttgart und Tübingen, J. G. Cotta 1835 wird im MBL-Literaturblatt vom 25. 1. 1836, Nr. 9/1836, S. 36 noch das Erscheinen der Ausgaben Die Wanderung in die Prairien, aus dem Englischen von H. Roberts, Braunschweig: Vieweg und Sohn 1835 sowie »Dasselbe Werk. Aus dem Englischen. Berlin, Veit und Comp., 1835« zumindest mitgeteilt. 71 Vgl. Washington Irving’s sämmtliche Werke. Achtundvierzigstes bis fünfzigstes Bändchen. Eine Reise auf den Prairien, Frankfurt a. M., J. D. Sauerländer 1835. 72 Der Vergleich zeigt, dass die Übertragung des Morgenblatts keinesfalls von der bei Veit und Comp. 1835 erschienenen Ausgabe abhängt. Die bei Vieweg und Sohn im selben Jahr erschienene Übertragung von H. Roberts war mir nicht zugänglich. Sie erschien als erster Band einer Miscellaneen betitelten zweibändigen Ausgabe von Werken Irvings. Im zweiten Band kam der vom selben Übersetzter erarbeitete deutsche Text des Reiseberichts Abbotsford, und Newstead-Abtei (engl. 1835) zum Abdruck; vgl. dazu Verlagskatalog von Friedr. Vieweg & Sohn in Braunschweig 1786–1911, hg. aus Anlass des hundertfünfundzwanzigjährigen Bestehens der Firma, Braunschweig 1911, S. 194. 73 Ich vermute, dass die Übersetzung des Morgenblatts nicht von der Buchpublikation bei Cotta, sondern vom englischen Original abhängt. Leitend für die Annahme ist die Beobachtung, dass die Buchpublikation des Cotta-Verlags die Kapitelgliederung des Originals aufgibt und sie durch größere Spatien im Text ersetzt, die der ursprünglichen Gliederung entsprechen. Zugleich fallen auch die dem Original und den anderen Buchübersetzungen beigegebenen Stichworte weg, mit denen Irving unterhalb der Kapitelangabe den Inhalt des folgenden Abschnitts angibt. Obwohl die im Morgenblatt eingefügten Überschriften in dieser Gestalt redaktionelle Zutat sind – ich komme darauf zurück –, beziehen sie sich doch hinsichtlich der Wortwahl deutlich auf die originalen Inhaltsstichworte.



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haft schlechtgelaunter Jäger oder ein leichtsinniger deutscher Graf, der sich den Indianern anschließen will. Die sich hier andeutende Nähe des Berichts zum Roman steuerte, gegen die Intention des Autors, auch die Rezeption des Werkes im Morgenblatt. So heißt es am Beginn des ersten Auszugs in einer redaktionellen Einführung in die Hintergründe von Irvings Buch, dieses sei zwar »einfach […] angelegt und gehalten«, dennoch »erkennt man […] in der Ausführung überall den Dichter.«74 Die postulierte poetische Qualität, die das Werk für den Journalleser interessant mache, bestreitet Irving dagegen in einer knappen Einleitung zu seinem Buch, wenn er schreibt, dieses sei »a simple statement of facts, pretending to no high-wrought effect.«75 Erneut lässt sich das Interesse des Morgenblatts weniger an wissenschaftlichen Fakten als an literarisch gehaltvollen und unterhaltenden Erzählungen erkennen. Dieser Leitlinie entsprechend, fasste die Zeitschrift die Auszüge aus Irvings Text zu fünf Geschichten zusammen. Die einzelnen Abschnitte verteilten sich zumeist auf zwei aufeinanderfolgende Nummern und tragen neben der allen gemeinsamen Überschrift »Die Prairie« eigene Zwischenüberschriften: Am 02. und 04. Mai 1835, Samstag und Montag, konnten die Leser – neben der knappen Einführung in das Werk durch die Redaktion am ersten Tag  – den Bericht Das Lager und der Marsch lesen. Am 05. und 06.  Mai schloss sich der Artikel Das wilde Pferd unmittelbar an. Nach einer Pause folgte am 15. und 16. Mai der mit Der Allarm [sic!] überschriebene Bericht, am 19. und 20. Mai trug der Auszug den Titel Die Büffeljagd. Den Abschluss machte am 26. Mai 1835 ein Der Prairiehund betitelter Artikel. In der im Morgenblatt abgedruckten Form findet sich keiner der Texte bei Irving, auch die von der Redaktion gewählten Überschriften haben keine Entsprechung in seinem Bericht, der in 35 durchnummerierte Kapitel gegliedert ist. Allerdings steuern sie die Aufmerksamkeit des Lesers, indem sie bestimmte Themengebiete anreißen: Der gefahrvolle Aufenthalt in der Wildnis wird in Vokabeln wie ›Lager‹, ›Marsch‹ und ›Alarm‹ angedeutet, während Titel wie Das wilde Pferd, Die Büffeljagd und Der Prairiehund Geschichten über die Jagd auf die Tierwelt des mittleren Westens verheißen – mithin zwei Themen, die für die Amerikaberichterstattung des Morgenblatts, ich habe darauf im zweiten Abschnitt hingewiesen, von besonderem Interesse waren. Die Tendenz der Auswahl unterstreicht auch das Titelgedicht im Morgenblatt vom 02.  Mai, in dem der Abdruck aus Irvings Bericht, der erste Text dieses Heftes, beginnt:76

74 MBL vom 2. 5. 1835, Nr. 105/1853, S. 417  f. hier S. 417. 75 Washington Irving, A Tour on the Prairies, S. VI. 76 MBL vom 2. 5. 1835, Nr. 105/1835, S. 417.

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Zu solchen Seligkeiten,     Vom Weichling nie erkannt, Winkt täglich dem Geweihten     Dianens Zauberhand.                            v. Wildungen. Die Verse stammen aus einem Natur betitelten Gedicht des unter anderem mit Forstfragen befassten westfälischen Regierungsrats Ludwig von Wildungen (1754–1822).77 Mit der Nennung der Göttin Diana und ihrer glücksverheißenden Wirkung wird weniger auf den folgenden ersten Auszug aus Irvings Reisebericht verwiesen, in dem es nicht zu einer Jagd kommt, sondern Marsch und Lager der Grenzjäger geschildert werden. Allerdings richten die Verse von Wildungens die Aufmerksamkeit des Lesers auf ein Thema, das in den weiteren Auszügen aus Irvings Werk, die in den folgenden Wochen präsentierten werden, eine zentrale Rolle spielen wird. Dieser Grundtendenz folgend, finden die ersten neun Kapitel des Berichts, in denen die Reisevorbereitungen, die Ziele und Pläne der Reisenden, die Reisegesellschaft sowie der Aufbruch geschildert werden, im Journalabdruck ebenso wenig Berücksichtigung78 wie die bei Irving zahlreichen Begegnungen mit Indianergruppen und die darin eingestreuten ausführlichen Bemerkungen zu indianischen Kleidungsstücken, Waffen oder Ritualen.79 Ähnlich wie ich dies bereits für den Abdruck von Humboldts Aufsatz über die fortschreitende An­ passung der Cherokee-Indianer festgestellt habe, ging es der Redaktion auch bei der Auswahl aus Irvings Werk um die anekdotisch-unterhaltenden Passagen, das dem Reisebericht eigene belehrende Moment fiel demgegenüber weitgehend weg. Auf diese Weise wird der Bericht in den für das Morgenblatt bearbeiteten Passagen zum Abenteuerroman. Dazu tritt ein weiteres Element des Wissenstransfers, das mit der spezifischen Publikationsform des täglich erscheinenden Journals mit begrenztem Umfang zu tun hat. Es wird exemplarisch an der Art deutlich, wie das 22. Kapitel von Irvings 77 Publiziert in: Lieder für Forstmänner und Jäger. Neue vermehrte Sammlung, hg. von Ludwig Karl Eberhard Heinrich Friedrich von Wildungen, Leipzig 1811, S.  1–5, hier S.  5. Im MBL vom 19. 5. 1835, Nr. 119/1835, S. 474, der erste Artikel des Heftes ist der Beginn des Textauszugs Die Büffeljagd aus Irvings Bericht, werden erneut auf die Jagd bezogene Verse zitiert, die aus den ersten beiden Strophen des Gedichtes Jagdunglück kompiliert wurden, die von Wildungen in derselben Sammlung veröffentlichte; vgl. ebd., S.  99–101, hier S.  99  f. Der aufmerksame Leser kann so bereits nach der Lektüre der Verse den wenig erfolgreichen Ausgang von Irvings Jagdabenteuer vermuten. 78 Vgl. Washington Irving, A Tour on the Prairies, S. 1–55. 79 Dieser Themenkomplex ist besonders für die ersten neun, im Morgenblatt weggelassenen Kapiteln von Irvings Monografie zentral.



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Bericht in die Zeitschrift übernommen wird: Es schildert, wie das Lager zunächst durch ein Präriefeuer, das schnell wieder gelöscht werden kann, und dann durch einen vermeintlich bevorstehenden Indianerangriff in panische Aufregung versetzt wird, die sich am Ende als Missverständnis herausstellt.80 Im Morgenblatt wird das Kapitel, teilweise gekürzt, auf zwei Nummern verteilt und mit dem Titel Der Allarm überschrieben.81 Der Stoff wird aber nicht gleichmäßig zwischen den beiden Heften aufgeteilt. Vielmehr endet der erste, deutlich kürzere Teil mitten in der größten Aufregung und vermeintlichen Gefahr und die umfangreichere aber unspektakuläre Auflösung kann erst am nächsten Tag im folgenden Heft nachgelesen werden. Damit wird ein Cliffhanger konstruiert, der die Spannung steigert und zugleich den monografisch fortlaufenden Text an die Publikationsbedingungen des Journals anpasst.82 Die Datumsangaben, die sich bei Irving wiederholt als ein spezifisches Element des chronologisch gegliederten Reiseberichts finden, fallen dementsprechend im Morgenblatt stets weg.83 Die Neukonzeption von erzählerischen Zusammenhängen für den Journaldruck, die in dieser Form keine Entsprechung im Originaltext haben, lässt sich auch an anderen Stellen beobachten. So entsteht die Erzählung Das wilde Pferd durch Verbindung von Passagen aus dem 19. und 20. Kapitel von Irvings Bericht. Sie beginnt mit den Spannung aufbauenden Worten »Während des Marsches durch eine weite, prächtige Prairie waren Spuren von Büffeln bemerkt wor­ den,  […].«84 Die Szene mit der Sichtung der Büffelspuren findet sich im englischen Original als Teil einer längeren Passage im 19. Kapitel, in der die Erlebnisse während des Ritts am 21. Oktober 1832 referiert werden. Der zitierte Teilsatz ist allerdings nicht die Übersetzung eines englischen Äquivalents, sondern eine freie Ergänzung des Morgenblatts. Er dient dazu, der Erzählung über die Jagd auf 80 Vgl. Washington Irving, A Tour on the Prairies, S. 153–165. 81 Vgl. MBL vom 15.–16. 5. 1835, Nr. 116–117/1835, S. 461  f., 466  f. 82 Gunhild Berg, Strukturwandel der Leseerwartung. Eine Mediengeschichte des frühen Cliff­hangers in Moralischen Wochenschriften, in: Periodische Erziehung des Menschengeschlechts. Moralische Wochenschriften im deutschsprachigen Raum, hg. von Misia Sophia Doms und Bernhard Walcher, Bern u.  a. 2012 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Bd. 110), S. 315–337, hier S. 315  f. betont, die literarische Technik des Cliffhangers wurde insbesondere von Autoren des 19.  Jahrhunderts perfektioniert, die ihre Werke für den »in Fortsetzungen erscheinenden Feuilletonroman« produzierten. Hier wird – wie im Fall des Morgenblatts – die eine Spannung verstärkende erzählerische Lücke dadurch gesteigert, dass der Leser auf die Fortsetzung warten muss und die weitere Lektüre, anders als bei monografisch fortlaufenden Werken, nicht selbst in der Hand hat. 83 Vgl. bspw. die Übernahme des Beginns von Irvings elftem Kapitel (Washington Irving, A Tour on the Prairies, S. 63) im MBL vom 4. 5. 1835, Nr. 106/1835, S. 423. 84 MBL vom 5. 5. 1835, Nr. 107/1835, S. 425  f. hier S. 425; vgl. dagegen Washington Irving, A Tour on the Prairies, S. 134.

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Wildpferde einen klaren und zugleich das Interesse der Leser weckenden Anfang zu geben, der im Originaltext ob des größeren Erzählbogens innerhalb eines Kapitels nicht gegeben ist. Der knappe Raum der Zeitschrift zwingt dazu, die ausgewählten Passagen aus dem monografischen Zusammenhang herauszulösen und die dem Original eigenen Gliederungselemente zu ignorieren. Es entstehen neue Handlungsbögen, die dem Bericht Irvings zwar folgen, ihn aber dem Journal anpassen und die Spannung beim Leser, mithin die fortgesetzte Lektüre am nächsten Tag, bewirken.

III. Konstellationen der Zeitschrift – Perspektiven zukünftiger Forschung Die beiden aus dem Kontext der Amerikaberichterstattung des Morgenblatts stammenden Beispiele zeigen die Eigenlogiken, denen die Publikation von Beiträgen in einer Zeitschrift unterliegt, und verweisen auf verschiedene kommunikative Konstellationen, die für die Produktion wie Rezeption von Journalartikeln bedeutsam sind.85 Hier lassen sich menschliche – beispielsweise Autor, Verleger, Herausgeber, Redakteur, Drucker etc. – wie nicht-menschliche – etwa Publikationsbedingungen, Kontexte etc.  – Akteure erkennen, weshalb sich ein Anschluss an die von Bruno Latour vorgeschlagene Akteur-Netzwerk-Theorie anbietet. So wird es möglich, die unterschiedlichen ›Knotenpunkte‹ einer Journalpublikation zu erarbeiten:86 Dazu gehören (1) das intertextuelle Verhältnis der 85 Claudia Stockinger, Pater Benedict/Bruno von Rhaneck und Martin Luther. Zur Kookkurrenz fiktionaler und faktualer Artikel in der ›Gartenlaube‹, in: Zwischen Literatur und Journalistik. Generische Formen in Periodika des 18. bis 21. Jahrhunderts, hg. von Gunhild Berg, Magdalena Gronau und Michael Pilz, Heidelberg 2016 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd. 343), S. 175–193 analysiert unter dem von M. Baßler entlehnten Begriff der ›Kookkurrenz‹ drei Netzwerk-Bezüge der Zeitschrift: (a) zwischen Lesern und Blattmachern; (b) zwischen verschiedenen Produzenten sowie (c) zwischen verschiedenen Texten im Zeitschriftenheft. Diese relationale Differenzierung ähnelt den von mir vorgeschlagenen Konstellationen, vernachlässigt m.  E. aber die im Folgenden zu entwickelnde epistemologische Ebene des Wissenstransfers zwischen unterschiedlichen Publikationsformen. 86 Die Unterscheidung von gleichberechtigten personalen und a-personalen ›Knotenpunkten‹ im Netzwerk entwickelt Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie. Aus dem Englischen von Gustav Roßbach, 4. Aufl., Frankfurt a. M. 2017 (stw, Bd. 1967), S. 121–127. Er schlägt für sie die Bezeichnung ›Aktant‹ vor, »[u]m sich vom Einfluß der ›figurativen Soziologie‹ frei zu machen« (ebd., S. 95). Auch Claudia Stockinger, Pater Benedict/Bruno von Rhaneck und Martin Luther, S. 176 betont: »In methodischer Hinsicht insgesamt hilfreich […] sind Bruno Latours Überlegungen zu einer Akteur-Netzwerk-Theorie«.



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einzelnen Artikel innerhalb eines Zeitschriftenheftes oder – im Fall von Fortsetzungen – auch zwischen mehreren Heften eines Journals; dann (2) die auktoriale Beziehung zwischen dem eigentlichen Verfasser, der Redaktion, den Verlegern und Herausgebern sowie schließlich dem Leser einer Zeitschrift. Dazu tritt (3) die epistemologische Konstellation zwischen unterschiedlichen Publikationsformen des annähernd gleichen Textes, wie verschiedenen Zeitschriften, anderen Sammelpublikationen und Monografien, die ich als Wissenstransfer beschrieben habe. Die erste, intertextuelle Relation ergibt sich aus der Beobachtung, dass der Leser in einem Zeitschriftenheft des Morgenblatts stets mehrere Beiträge unterschiedlicher Autoren lesen kann. Umfangreichere Texte wurden nicht in einem einzelnen Heft publiziert, sondern verteilen sich als Fortsetzungstexte über mehrere Lieferungen – und zwar auch dann, wenn der Umfang eines Beitrages den Abdruck als einzelnen Text in einer Nummer der Zeitschrift zuließe. Die Verbindung von Texten unterschiedlicher Gattungen, Themen oder Problemstellungen sowie Autoren muss demnach nicht nur als konstitutives, sondern als bewusst eingesetztes Charakteristikum der Zeitschriftenpublikation gelten.87 Der einzelne Artikel, beispielsweise der dritte Abdruck aus Irvings Reisebericht im Morgenblatt am 05. Mai 1835, steht damit in einem zweifachen Bezugssystem: Der Leser liest ihn einerseits als einen von mehreren Texten innerhalb des einzelnen Heftes, das ihm an einem Tag in die Hand kommt, und andererseits in Hinblick auf die beiden in den vergangenen Tagen bereits von ihm gelesenen sowie auf die zu erwartenden folgenden Auszüge. Diese werden durch ein den Abdruck abschließendes »Die Fortsetzung folgt« für einen unbestimmt bleibenden Zeitpunkt angekündigt.88 Für diese doppelte Kontextualisierung des Journalartikels schlagen Kaminski, Ramtke und Zelle im Anschluss an Gérard Genette die Bezeichnungen Para- und Peritext vor.89 Von Genettes Terminologie abweichend, beschreiben sie »das (externe) Nebeneinander der Texteinheit innerhalb einer Zeitschrift(ennummer)« als Paratext, während sie »das unmittelbar auf den 87 Vgl. dazu den Sammelband Zeitschriftenliteratur/Fortsetzungsliteratur, hg. von Nicola Kaminski, Nora Ramtke und Carsten Zelle, Hannover 2014 (Bochumer Quellen und For­ schungen zum 18. Jahrhundert, Bd. 6). 88 Die Serialität der Zeitschrift und die Fortsetzungslogiken ihrer Artikel analysiert Claudia Stockinger, An den Ursprüngen populärer Serialität am Beispiel der Gartenlaube als wesentliches Charakteristikum von Journalpublikationen des 19. Jahrhunderts und untersucht in diesem Rahmen auch die redaktionellen Verfahren der ›Brückenbildung‹ zwischen mehreren aufeinander aufbauenden Artikeln; vgl. ebd., S. 157–179. 89 Vgl. Nicola Kaminski, Nora Ramtke und Carsten Zelle, Zeitschriftenliteratur/Fortsetzungsliteratur: Problemaufriß, S.  7–39, hier S.  32–39. Claudia Stockinger, An den Ursprüngen populärer Serialität, S. 20–22 adaptiert diese Bezeichnungen.

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Text oder die Texteinheit bezogene, peripher umgebende ›Beiwerk‹ als Peritext« bezeichnen,90 durch den beispielsweise der Fortsetzungsabdruck strukturiert oder redaktionell begleitet wird. Die Produktivität dieser Rahmungen habe ich an den das Morgenblatt jeweils eröffnenden Gedichten gezeigt, die eine bestimmte Deutungsperspektive implizieren und zugleich die neuartigen Informationen der Artikel häufig auf literarische Klassiker wie Schiller oder Shakespeare beziehen,91 deren Werke zwar nicht notwendigerweise, aber sehr häufig im Verlag J. G. Cotta in monografischer Form veröffentlicht wurden. Aus der para- wie peritextuellen Rahmung der Artikel ergibt sich die zweite Konstellation, der die Journalartikel unterliegen: Denn der einzelne Text stammt keineswegs von einem einzelnen Autor,92 selbst wenn der Name des Verfassers in seltenen Fällen angegeben oder mit einer Chiffre angedeutet wird. In den von mir untersuchten Texten werden zwar Humboldt und Irving als Autoren der Vorlage und zugleich als bekannte Autoritäten angeführt. Die redaktionellen Bearbeiter und Übersetzer allerdings bleiben dem Leser bei beiden Artikelserien ebenso unbekannt wie in den meisten anderen Fällen. Dass dies nicht immer unproblematisch für die Rezipienten war und diese beispielsweise im Fall kritischer oder polemischer Rezensionen brieflich um Aufklärung über den Autor baten, hebt eine Mitteilung Adolf Müllners aus dem Februar 1830 hervor. In der ironischerweise namentlich gezeichneten »Erklärung« setzt sich der damalige Herausgeber des Literaturblattes mit dem Zweck der Anonymität auseinander: Denjenigen meiner Privat-Korrespondenten, welche gern auf den Busch schla­ gen, um den Verfasser dieser oder jener Beurtheilung zu erfahren, machʼ ich hiermit bekannt, daß auf dergleichen Voraussetzungen und implicirte Anfragen von mir nie eine Antwort ertheilt wird, und daß sie mithin fehlschließen, wenn sie das Stillschweigen für bejahend, für ein: Getroffen! auslegen. Anschließend analysiert er das Bedürfnis, den Kritiker namentlich zu kennen, und schließt: »Darum scheint es mir als Regel richtig, daß die Kritik nichts sey, als eine Stimme, eine rein literarische Person, ein Domino, den der Wirth des 90 Nicola Kaminski, Nora Ramtke und Carsten Zelle, Zeitschriftenliteratur/Fortsetzungs­lite­ra­ tur: Problemaufriß, S. 33  f., Hervorhebung im Original. 91 Verse aus der fünften Szene des fünften Aktes aus Shakespeares Macbeth werden im MBL vom 15. 5. 1835, Nr. 116/1835, S. 461 veröffentlicht. Sie folgen weitgehend der Übersetzung von Heinrich Voß, die erstmals 1810 als erster Band der Ausgabe von Shakespeares Schauspielen bei Cotta in Tübingen erschien. 92 Vgl. Nicola Kaminski, Nora Ramtke und Carsten Zelle, Zeitschriftenliteratur/Fortsetzungsliteratur: Problemaufriß, S.  32, die von der »Notwendigkeit grundsätzlichen Umdenkens vom teleologischen Autor-Werk-Syndrom« sprechen.



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Balles nicht verrathen darf, so langʼ er nicht durch sein Betragen den Ball be­ schimpft.«93 Ziel der Literaturbeilage – und des gesamten Morgenblatts – ist die identische »Stimme«, die durch die Anonymität der Beiträger ermöglicht wird. Indem sie die Integration der Artikel aus diversen Wissensgebieten und Weltgegenden in das einheitliche Erscheinungsbild der Zeitschrift gewährleistet, nivelliert sie zugleich die Vorstellung eindeutiger auktorialer Zuschreibungen. Dementsprechend ist im Fall des Morgenblatts und anderer Journale des 19. Jahrhunderts von einer »skalierten Autorschaft« zu sprechen, wie sie für vormoderne Texte charakteristisch ist,94 die in der Regel keinen individuell wirkenden Verfasser haben, sondern in mehreren Stufen von einem Autor, dem Herausgeber, dem Verleger, dem Drucker oder dem Holzschneider der beigefügten Illustrationen gestaltet werden. Auf vergleichbare Weise werden die Artikel im Morgenblatt im Neben- und Miteinander von Autor, Redaktion und Verlag gestaltet, der Eigenlogik des Journals angepasst und innerhalb einer Heftlieferung platziert. Inwiefern die redaktionellen Veränderungen diskursiv zwischen dem Autor und der Redaktion ausgehandelt werden oder wo diese ohne Rücksprache eingreift, lässt sich nur eruieren, wenn – was nicht durchgehend der Fall ist – Druckvorlagen, Briefwechsel, Protokolle, Notizen u.  ä. erhalten sind.95 93 Beide Zitate nach MBL-Literaturblatt vom 18. 2. 1830, Nr.  14/1820, S.  56, Hervorhebungen im Original. Vgl. dazu Helmuth Mojem, Über H. Clauren, das römische Kulturleben und die Meuterer der ›Bounty‹, S. 233–238. 94 Vgl. Gudrun Bamberger, Poetologie im Prosaroman. Fortunatus  – Wickram  – Faustbuch, Würzburg 2018 (Poetik und Episteme, Bd. 2), S. 38–48, das Zitat auf S. 39. Die Studie zeigt dies am Beispiel des deutschsprachigen Prosaromans im 16. Jahrhundert. Steffen Martus, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20.  Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin und New York 2007 (Historia Hermeneutica. Series Studia, Bd.  3), S.  24 betont, dass »sich nach 1700 individualisierte Autormodelle mit ebenso individualisierten Werkkonzepten [etablierten]«. Susanne Düwell, »die verschiedenen Stimmen denkender Köpfe über wichtige, aber noch streitige Puncte zu sammeln«. Textstrategien im philanthropischen Zeitschriftendiskurs im Kontext der Allgemeinen Revision des gesammten Schul- und Erziehungswesens, in: Zwischen Literatur und Journalistik. Generische Formen in Periodika des 18. bis 21. Jahrhunderts, hg. von Gunhild Berg, Magdalena Gronau und Michael Pilz, Heidelberg 2016 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Bd.  343), S.  67–88 spricht von »kollektiver Autorschaft« und meint damit »die Anreicherung der Beiträge [in Zeitschriften des späten 18. Jahrhunderts, M.S.] mit Fallbeispielen und Erfahrungswerten mehrerer Autoren.« (ebd., S. 74  f.). Dies unterscheidet sich allerdings von dem, was hier ›skalierte Autorschaft‹ heißen soll, insofern »der Beitrag einzelner Autoren in der Gesamtkomposition« stets namentlich gekennzeichnet und so erkennbar bleibe (ebd., S. 85). 95 Dies für das Morgenblatt zu erproben, ist das Ziel eines Forschungsprojekts, das ich für den Sommer 2019 plane. Es wird durch ein dreimonatiges Cotta-Postdoktorandenstipendium des Deutschen Literaturarchivs Marbach großzügig unterstützt.

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Die ›skalierte Autorschaft‹ gründet daneben in der dritten, epistemologischen Konstellation, die es im Hinblick auf die einzelnen Zeitschriftenartikel in den Blick zu nehmen gilt: dem Verhältnis ähnlicher bis gleichlautender Texte in unterschiedlichen Publikationsformen. Dabei ist das Morgenblatt nicht nur Endpunkt eines solchen Transferprozesses, sondern wird selbst zum Katalysator von Wissen, das anschließend in andere Zeitschriften übernommen oder in monografischer Form publiziert werden kann.96 Letzteres gilt insbesondere für literarische Texte wie Heinrich von Kleists Erzählung »Das Erdbeben in Chili«, die im Journal ihre Erstpublikation erfuhren und anschließend in Büchern veröffentlicht wurden.97 Die Untersuchung dieser dritten Bezugsebene ermöglicht zum einen Aussagen über die Eigenlogiken der jeweils im Fokus stehenden Zeitschrift, die sich auf diesem Weg im kaum überschaubaren Feld der zahlreichen Journale verorten lässt, die im 19. Jahrhundert den Lesern zur Verfügung standen. Dass die drei kommunikativen Ebenen, auf denen die Genese einzelner Artikel einer Zeitschrift zu verorten ist, nicht getrennt voneinander in den Blick geraten, hat sich im Rahmen meiner exemplarischen Analyse gezeigt. Zwar konzentrierte sie sich auf die dritte, epistemologische Dimension. Notwendigerweise aber gerieten die beiden anderen Konstellationen ebenfalls in den Blick. Inwieweit sich die dabei gewonnenen Ergebnisse verallgemeinern lassen, wäre weiterhin zu untersuchen.

96 Gustav Frank, Die Legitimität der Zeitschrift. Zu Episteme und Texturen des Mannigfaltigen, in: Zwischen Literatur und Journalistik. Generische Formen in Periodika des 18. bis 21. Jahrhunderts, S.  27–45, hier S.  28 sieht in der »epistemischen und kulturellen Funktion« der Zeitschriften – deren Herstellung meine dritte Konstellationsebene zu beschreiben sucht – den Grund für die Existenz von Journalen. 97 Vgl. dazu den Aufsatz von Astrid Dröse und Jörg Robert, Journalpoetik, die auf die Vorteile für Autoren wie Verleger durch eine solche Doppelpublikation verweisen (ebd., S. 215). Kleist hat auch andere seiner Novellen auf diese doppelte Weise publiziert, vgl. Nicola Kaminski, Zeitschriftenpublikation als ästhetisches Versuchsfeld oder: Ist Kleists »Verlobung« eine Mestize?, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 130, 4/2011, S. 569–597.

felix woywode

epigonalität Anspruch und Scheitern in Karl Gutzkows Roman Wally, die Zweiflerin (1835) Innerhalb von »vier Wochen« bringt ein 24-Jähriger einen Roman zu Papier, mit dem er eine »Epoche« seiner »innern Kultur« abzuschließen gedenkt. Passend dazu endet das Buch mit dem Selbstmord des Protagonisten, eines »fühlenden Jüngling[s]«1, was neben einem platonischen Liebesverhältnis mit einer vergebenen Frau die moralische Anstößigkeit der Schrift begründet. Geistliche, ein Hamburger Pastor im Besonderen, der beinahe denselben Namen trägt wie der Dichter, melden sich zu Wort, bezeichnen den Roman als »Lockspeise[] des Satans«2; Verbote werden gefordert und erteilt: Das poetische »Zündkraut[]« des jungen Autors hat eine »Explosion« im »Publikum«3 hervorgerufen. Dekaden später wird er von »Brandraketen«4 sprechen, um die Wirkung des Romans zu verbildlichen. Der Dichter ist Goethe, die Schrift sein Werther, das Jahr 1774. Fast genau 60 Jahre später greift erneut ein 24-Jähriger zur Feder, sein Name gleichanlautend, zweisilbig und ungewöhnlich wie der von Goethe, um einen Roman zu verfassen, »in den ich meine Seele hinein schreibe.«5 Er spricht nicht von innerer Kultur, aber von »Stadien [s]einer innern Gährungen«.6 Eine »vulkanische Eruption«7 sei dieser Roman gewesen, wird er im Nachhinein behaup1

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Johann Wolfgang von Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: ders., Sämt­ liche Werke. Münchner Ausgabe, hg. von Karl Richter u.  a., Bd. 16, München 1985, S. 621, 628, ebd., 613 (fortan MA). Johann Melchior Goeze, Kurze aber nothwendige Erinnerungen über die Leiden des jungen Werthers, über eine Recension derselben, und über verschiedene nachher erfolgte dazu gehörige Aufsätze. Aus den freyw. Beytr. zu den Hamb. Nachr. aus dem Reiche der Gelehrsamkeit, um solche gemeinnütziger zu machen, besonders abgedruckt, Hamburg 1775, S. 6. Goethe, MA 16, S. 623. Im Gespräch mit Eckermann vom 2. Januar 1824. Goethe, MA 19, S. 490. In einem Brief an Gustav Schlesier vom 7.  Januar 1835. Zitiert nach: Heinrich Hubert Houben, Jungdeutscher Sturm und Drang. Ergebnisse und Studien von Dr. H. H. Houben, Leipzig 1911, S. 26. In einem Brief vom 13. Februar 1837. Zitiert nach: ebd., S. 537. So hat er es angeblich in seinem Tagebuch formuliert, das er in seiner Haftzeit schrieb und Teile daraus 1839 in Vergangenheit und Gegenwart veröffentlicht hat, wobei vorangegangene

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ten. Innerhalb von »3 Wochen«8 habe er ihn vollendet und zwar derart, »daß es wie Raketen aufprasseln mußte«.9 Das ist er, nicht zuletzt, weil auch hier ein die Ehe unterlaufendes Verhältnis angedeutet wird und die Protagonistin durch Selbstmord endet. Diesmal meldet sich gleich der Papst, wenn auch nur der der Literatur: Es ist Wolfgang Menzel, vormals Förderer des nun Attackierten, der über den »Schmutzroman«, dessen »Gotteslästerei«, »Immoralität« und »Nuditätenmaler[ei]«10 wütet. Wieder folgen Verbote: in Preußen am 14. November und bundesweit am 10. Dezember. Der junge Delinquent wird sicherheitshalber gleich inhaftiert: Es handelt sich um Karl Gutzkow, den Roman Wally, die Zweiflerin und das Jahr 1835. Betrachtet man Entstehung und Wirkung beider Romane, beschleicht einen der Eindruck, dass ihre Zeiten zusammenrücken und bei Wally alles schon einmal da gewesen ist. Bereits einem zeitgenössischen Konfidentenbericht ist etwa zu entnehmen, dass Menzel sich im moralisierenden Wüten gegen Gutzkow und seinen Roman die »abgeschabte fuchsige Perücke des seligen Herrn Hauptpastor Goeze auf sein […] Haupt gestülpt« habe.11 Während Menzel so zum »Nachfolger Johann Melchior Goezes«12 wird, erscheint Gutzkow hingegen als Nachfolger der Goeze-Gegner Lessing und Goethe, als ihr Epigone. Schon Gutzkow selbst hat diesen Bezug direkt hergestellt. So habe sich sein »poetisches Bewusstsein« erst über die produktive Aneignung Goethes seit 1834 »zur volleren Klarheit«13 entfaltet, was 1836 in Über Göthe im Wendepunkte zweier Jahrhunderte zur publizistischen Auseinandersetzung mit Goethe führt, dem »Gränzstein, in welche[m] das Alte enden, aber auch das Neue beginnen müßte«.14 Altes und Neues sind jedoch nicht ohne Weiteres zu identifizieren und zu trennen, wie Gutzkow verdeutlicht, wenn er über Goethe schreibt, dass dieser

Bearbeitungen nicht unwahrscheinlich sind. Karl Gutzkow, Junges Deutschland (1839), in: ders., Schriften, Bd.  2, Literaturkritisch-Publizistisches, Autobiographisch-Itinerarisches, hg. von Adrian Hummel, Frankfurt a. M. 1998, S. 1221. 8 Brief an Büchner vom 23. Juli 1835. Georg Büchner, Werke und Briefe. Münchner Ausgabe, hg. von Karl Pörnbacher u.  a., 13. Auflage, München 2009 (1988), S. 339. 9 Karl Gutzkow, Deutschland, S. 1221. 10 Karl Gutzkow, Wally, die Zweiflerin, Roman, Studienausgabe mit Dokumenten zum zeit­ge­ nös­si­schen Literaturstreit, hg. von Günter Heintz, durchgesehene und ergänzte Ausgabe, Stuttgart 1983 (Anhang), S. 282, 276–278. 11 Vom Dezember 1835. Ebd., S. 272. 12 Karl Gutzkow, Unter dem schwarzen Bären. Erlebtes 1811–1848, hg. von Fritz Böttger, Berlin 1971, S. 370. 13 Karl Gutzkow, Über Göthe im Wendepunkte zweier Jahrhunderte, in: ders., Schriften, Bd. 2, S. 1938. 14 Ebd., S. 964.



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in einem »Wendepunkte« gelebt und gewirkt habe, einer epochalen Schwellen­ situation, die sich dadurch auszeichne, »von Ereignissen in einem Kreise herumgedreht zu werden« und »wo man nicht mehr weiß, ob im Januskopfe das jugendliche Angesicht der Zukunft, oder das Profil des Greisen der Vergangenheit angehört.« Am verwendeten Präsens, das an dieser Stelle das Präteritum der Darstellung unterbricht, ist zu erkennen, dass Gutzkow seine eigene Zeit beschreibt, in der eine an Goethe erfolgende Neuorientierung nötig ist, da »allgemeine[] Begriffsverwirrung« vorherrsche und sich »[a]lle literarischen Definitionen […] auf der Flucht«15 befänden. Wally ist das Abbild dieser verworrenen literaturgeschichtlichen Schwellensituation, in der die Entfaltung des Neuen durch eine Überlast des Alten verstellt ist. Altes und Neues vermischen sich in diesem Roman zu einem dissonanten Gemenge, in dem die Zeitordnung zusammenfällt und den Eindruck erweckt, dass es kein Weiterkommen gibt, da die Zukunft magnetisch an der Vergangenheit haftet. Diese erdrückende Stillstandserfahrung resultiert aus dem vergangenheitsfixierten Gefühl der Nachkommenschaft, dem Epigonalitätsbewusstsein, das, so die These dieses Aufsatzes, Wally inhaltlich und formal bestimmt und das anhand des »Psychogramm[s] einer Epoche«16 in seiner Voraussetzungsfülle, seiner Vielschichtigkeit und in seiner Unüberwindbarkeit vorgestellt werden soll.

I. Epigonale Langeweile und Kälte Verbunden mit der Frage nach der dichterischen Schwäche ist Epigonalität für die Gutzkow-Forschung ein doppelt anstößiges Thema, ist sie doch maßgeblich für die literaturwissenschaftliche Marginalisierung von Gutzkows Schriften bis etwa Mitte der 1990er Jahre verantwortlich.17 Sie berührt das Verhältnis von Poesie und Reflexion, das für Gutzkows Schriften konstitutiv ist, die von einem Übermaß an Reflexion und einem Mangel an poetischer Qualität gekennzeichnet zu sein scheinen. Epigonalität wirft damit die Frage auf, ob, wie Gutzkow es in seinen Lebenserinnerungen formuliert, »das ›Dichterische‹ in mir vorhanden war oder nicht«.18 Goethe hatte Reflexion 1812 in einer Abrechnung mit der Epoche 15 Ebd., S. 1060  f., 1072, 1068. 16 Günter Heintz, Nachwort, in: Gutzkow, Wally, S. 457  f. 17 Das 1997 an der Keele University abgehaltene Symposion, dessen Ergebnisse in Karl Gutzkow. Liberalismus  – Europäertum  – Modernität, hg. von Roger Jones und Martina Lauster, Bielefeld 2000 dokumentiert sind, hat den entscheidenden Gegenimpuls gesendet. 18 Karl Gutzkow, Bären, S. 409.

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der forcierten Talente19 leicht pietätlos am Beispiel seines verstorbenen Freundes Schiller folgenschwer der Poesie gegenübergestellt und seine Position zuvor besonders mit seinem »ziemlich unbewußt«20 verfassten Werther dichterisch veranschaulicht: »Selbst Schiller, der ein wahrhaft poetisches Naturell hatte, dessen Geist sich aber zur Reflexion stark hinneigte und manches, was beim Dichter unbewußt und freiwillig entspringen soll, durch die Gewalt des Nachdenkens zwang […]«.21 Die ältere Forschung ist Goethes poetischer Ächtung der Reflexion gefolgt. Gutzkows Schriften wurden als dichterisch schwach abgetan und damit aus dem Fokus literaturwissenschaftlichen Interesses gerückt.22 Die jüngere Forschung begegnet dieser Verdrängung mit einem Abwehrreflex, der sie vom Untersuchungsschwerpunkt der Epigonalität Abstand nehmen lässt. Gutzkows Werke, gerade Wally, seien »einfach mehr als […] ästhetisch mißlungen[]«23 und ihre »Neubewertung«24 erforderlich. Was bis dahin als epigonale dichterische Schwäche eines »halben Talente[s]«25 ausgelegt wurde, wird nun im Gegenteil als »Leistung«26 Gutzkows gewertet, der Dichtung journalistische Qualitäten abgewonnen, gar eine »›neue Schreibweise‹ der journalistischen Prosa«27 begründet zu haben.

19 Veröffentlicht wurde sie zwar erst 1837, dies mindert aber ihren Aussagewert für Wally nicht, zumal Gutzkow sie später zur Kenntnis genommen und in bezeichnender Weise verarbeitet hat, wie am Ende dieses Aufsatzes gezeigt wird. 20 Goethe, MA 16, S. 621. 21 Goethe, MA 9, S. 640. 22 Von Friedrich Sengle etwa, der in seiner dreibändigen Monumentalstudie zur Biedermeierzeit Wally nur beiläufig behandelt und ihr »dichterische Schwäche« bescheinigt. Trotzdem hat er zur Umwertung von Gutzkows Werken beigetragen, da er die Biedermeierzeit nicht als »Epigonen-, sondern als Pionier- oder Progonenzeit« darzustellen bemüht ist und den Epigonalitätsaspekt daher übergeht, obwohl er im Kontext Wallys auf die »Werther-Tra­di­ tion« und darauf hinweist, dass Gutzkow sich als »Fortsetzer Lessings« verstanden habe. Vgl. Friedrich Sengle, Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848, Bd. 1, Allgemeine Voraussetzungen, Richtungen, Darstellungsmittel, Stuttgart 1971, S.  184  f. sowie ders., Bd.  2, Die Formenwelt, Stuttgart 1972, S. 804. 23 Gert Vonhoff, Vom bürgerlichen Individuum zur sozialen Frage. Romane von Karl Gutzkow, Berlin u.  a. 1994, S. 38. 24 Ebd., S. 72. 25 Friedrich Sengle, Biedermeierzeit, Bd. 1, S. 108. 26 Günter Heintz, Nachwort, S. 450. 27 Roger Jones und Martina Lauster, Einleitung, in: dies. (Hg.), Karl Gutzkow, S. 10.



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Ebenfalls seit Mitte der 1990er Jahre hat sich in der Forschung eine Umwertung des Epigonalitätsverständnisses vollzogen. Statt als »Kehrseite«28 der Schaf­fens­kraft des Genies, als gestalterisches Unvermögen, wird sie seitdem als »ästhetisches Vermögen«29 verstanden, als Ausdruck einer neuen, heterogenen Subjektivität, wie sie auch die Struktur der Wally abbildet. Anders als Werther wird sie nicht von »innere[r] Begründung«30 zusammengehalten, sondern setzt sich aus auffällig kurzen Romankapiteln, Tagebucheinträgen, Binnenerzählungen und teils authentischen Essays zusammen, in die sie am Ende, ähnlich wie Werther, übergeht. Die Frage nach der Epigonalität als dichterischer Schwäche scheint somit für Gutzkows Werke erledigt.31 Und doch bleiben Zweifel, ob damit nicht der Blick auf eine literaturgeschichtlich bedeutsame Problemkonstellation und auf Gutzkows Schriften verstellt wird. So schreibt Gutzkow 1836 über das 18. Jahrhundert: »alle diese Anfänge«.32 Auch bemerkt der Protagonist der Briefe eines Narren an eine Närrin, eine in Goethes Todesjahr geschriebene »jeanpaulisierende Arbeit«33 auf den Spuren Börnes: »Ich erwarte immer nur Altes, und weiß, daß selbst das scheinbar Neue im Grunde nur alt ist.«34 Gänzlich visionslos schreibt Gutzkow 28 Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, Bd. 2, Von der Romantik bis zum Ende des Dritten Reichs, Darmstadt 1985, S. 83. 29 So der Titel der diesbezüglich wegbereitenden Dissertation von Matthias Kamann, Epigonalität als ästhetisches Vermögen. Untersuchungen zu Texten Grabbes und Immermanns, Platens und Raabes, zur Literaturkritik des 19. Jahrhunderts und zum Werk Adalbert Stifters, Stuttgart 1994. 30 Karl Gutzkow, Wally, S. 75. 31 Inzwischen gibt es wieder Ausnahmen. Etwa Ben Hutchinson, Lateness and Modern European Literature, Oxford 2016. Auch Peter Stein, der die größtenteils gerade »nichtexperimentelle«, also der Tradition verhaftete lyrische Produktion von Gutzkows frühen Jahren untersucht. Vgl. Peter Stein, Im ›Waffendienst der Zeit‹. Karl Gutzkow und die vormärzliche politische Lyrik, in: Karl Gutzkow and His Contemporaries. Karl Gutzkow und seine Zeitgenossen. Beiträge zur Internationalen Konferenz des Editionsprojektes Karl Gutzkow vom 7. bis 9.  September 2010 in Exeter, hg. von Gert Vonhoff, Beke Sinjen und Sabrina Stolfa, Bielefeld 2011, S. 139. Auch Wolfgang Lukas verweist auf das Epigonalitätsproblem in Gutzkows Erzählungen, da sich in ihnen »die kollektive Zerrissenheit als spezifische Krise der ›Übergangsepoche‹ [ausdrücke], die sich aus tradierten goethezeitlichen Denkpositionen zu lösen beginnt, zugleich aber emotional noch in ihr verhaftet ist.« Karl Gutzkow, Die Selbsttaufe. Erzählungen und Novellen, hg. von Stephan Landshuter, mit einem Nachwort von Wolfgang Lukas, Passau 1998, S. 392. 32 Karl Gutzkow, Göthe, S. 1022. 33 Karl Gutzkow, Bären, S. 304. 34 Karl Gutzkow, Briefe eines Narren an eine Närrin (1832), hg. von Alfred Estermann, Frankfurt a. M. 1973 (fotomechanische Reproduktion der Erstausgabe), S. 97.

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in der Vorrede zu Schleiermachers Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde (1835): »Es wird nichts Neues kommen«.35 Auch der Sadduzäer von Amsterdam (1834), der zuweilen als Beispiel dafür angegeben wird, dass Gutzkow doch eine formvollendete Novelle schreiben könne, ist der gescheiterte Versuch, es mit Goethes Novelle (1828) aufzunehmen. Gab es in dieser Gattungsklarheit vorführenden Erzählung gleich zwei unerhörte Begebenheiten zu berichten, eine erinnerungsbildlich übersteigerte und die eigentliche, in sich gespiegelte, sind es im Sadduzäer nur scheinbar zwei, die sich in der bloßen Wiederholung von Uriels Ausschluss aus der jüdischen Gemeinde erschöpfen. Selbst das Gutzkow noch von Arno Schmidt36 zugesprochene Verdienst, den Roman des Nebeneinander begründet zu haben, wird beschattet von den Wanderjahren, denn schon dort ist das Nebeneinander Gestaltungsprinzip.37 Besonders Wally ist für das Ringen mit dem Epigonalitätsbewusstsein in den 1830er Jahren vielleicht noch aufschlussreicher als Immermanns die Epochensignatur im Titel tragender Roman von 1836.38 So weisen schon die eingangs konturierten Entstehungsumstände Wallys zu viele Übereinstimmungen mit denen des Werther auf, um bloßer Zufall zu sein: Gutzkow bewegt sich bewusst auf den bereiteten Bahnen Goethes, imitiert ihn gezielt. Während aber Goethe Werther geschrieben hat, um sich von einem inneren Erlebnisdruck zu befreien und diesen daher zu einer dichterischen Artikulation authentischen Gefühls geformt hat, aus der sich die »Brandraketen« als unweigerliche Nebenwirkung ergeben haben, wird in Gutzkows Äußerungen deutlich, dass er diese Raketen schon vor der Niederschrift von Wally »berechnete«39 und es sich nicht aus der inneren Gestaltung des Gegenstandes ergeben hat, dass er genau eine Woche weniger an seinem Wurf geschrieben hat als Goethe an seinem. 35 Karl Gutzkow, Vorrede zu Schleiermachers Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde (1835), in: Friedrich Schlegel, Lucinde, Friedrich Schleiermacher, Vertraute Briefe, hg. von Eike Midell mit Dokumenten-Anhang und Nachwort, Stuttgart 1970, S. 231. 36 »Er schuf nämlich sich den Begriff, und das Ding=selbst nicht minder: den ›Roman des Nebeneinander‹[.]« Arno Schmidt, Zur deutschen Literatur, Bd.  4, Karl Ferdinand Gutzkow, Heinrich Albert Oppermann, Theodor Fontane, Karl May, Paul Scheerbart, Gustav Frenssen, Gottfried Benn, Alfred Andersch, Bargfeld 1988, S.  31. Bereits Gutzkow-Gegner Julian Schmidt, und mit ihm die jüngere Forschung, bezweifelt 1850, dass Gutzkow »eine neue Phase des Romans herbeigeführt« habe und sieht darin eine Verkaufsstrategie des unterhaltungsorientierten »Feuilletonromans«. Julian Schmidt, Deutsche Romane, in: Karl Gutzkow, Liberale Energie. Eine Sammlung seiner kritischen Schriften, Ausgew. und eingeleitet von Peter Demetz, Frankfurt a. M. u.  a. 1974, S. 225  f. 37 Vgl. Waltraud Maierhofer, Wilhelm Meisters Wanderjahre und der Roman des Nebeneinander, Bielefeld 1990, S. 225. 38 Vgl. Günter Heintz, Nachwort, S. 459. 39 Karl Gutzkow, Deutschland, S. 1221.



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Anders als Werther hat Wally jedoch kein Fieber hervorgerufen, beruht ihr Skandal vor allem auf der öffentlich geführten Fehde zwischen Gutzkow und Menzel, auf Rezeptionssteuerung, nicht auf der Sprach- und Gefühlskraft des Romans. Dieser ist im Gegenteil durch Kraftlosigkeit, durch Kälte gekennzeichnet, die neben dem Gefühl der stillstehenden Zeit der zweite zentrale Indikator des Epigonalitätsbewusstseins ist, die hier untersucht werden sollen und die auf dasselbe bewusstseinsgeschichtliche Problem zurückzuführen sind. Die Kälte in Wally folgt einer programmatischen Intention und äußert sich in symptomatischen Facetten. Theodor Mundt verweist auf den programmatischen Aspekt der Kälte, wenn er über Gutzkows Roman schreibt, dass er »wie alle seine Bücher den Leser nur zu einem mühsam abgerungenen Anteil« bewege. Grund hierfür sei die kalkulierte, die »raffinierte Kälte«40 des Werks. Gutzkow bestätigt diese intendierte Kälte und ergänzt sie um ihren symptomatischen Gehalt in einem Brief aus dem Jahr 1837. Darin bemerkt er zunächst im Rückblick über seinen Roman Maha Guru. Geschichte eines Gottes (1833), dass dieser ihn selbst »kälter« gelassen habe, »als […] nicht einmal den beßern Theil der Leserwelt.« Daraufhin verweist Gutzkow auf die bewusstseinsgeschichtliche Tiefendimension der Kälteproblematik, die alle seine bisherigen Werke betreffe: »die Wärme, die meinen Schriften fehlt, liegt ganz tief im Grunde«.41 Die Tiefe dieses Grundes meint in empfindsamer Tradition, in der Wally steht, den für die Figuren des Romans als endgültig erfahrenen Verlust des tradierten »Sinnzentrums«42: ihrer graduell verinnerlichten Gotteserfahrung. Die Erosion des göttlichen Sinnzentrums ist eine der Kernproblematiken bereits des 18. Jahrhunderts und damit für die Figuren der Wally selbst eine epigonale Last. Sie zeichnete sich nicht zuletzt im Werther in ihrer desaströsen Tragweite ab und hat vierzig Jahre vor Wally in Ludwig Tiecks Briefroman William Lovell (1795/96), auf den Gutzkow sich in der Appellation an den gesunden Menschenverstand (1835) bezieht,43 ein anhand der Figurentode quantitativ zu bemessendes fatales Maximum erreicht. Zwar begrüßen die Wally-Figuren den Zerfall des christlichen Integrationssystems, jedenfalls Cäsar, dessen Perspektive an vielen Stellen mit der des Erzählers übereinstimmt, da er politische Gestaltungsperspektiven und vor allem die Möglichkeiten dazu eröffnet. Doch wird die untergrabene Glaubensgewissheit 40 Karl Gutzkow, Wally (Anhang), S. 301. 41 Brief an Oskar Ludwig Bernhard Wolff vom 13. Februar 1837. Zitiert nach: Heinrich Hubert Houben, Jungdeutscher Sturm und Drang. Ergebnisse und Studien von Dr. H. H. Houben, Leipzig 1911, S. 536  f. 42 Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, 7. Aufl, Frankfurt a. M. 2014 (1994), S. 10. 43 Vgl. Wally (Anhang), S. 153.

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von ihnen, selbst von Cäsar und seiner »Eiseskälte«44, noch immer als Verlust empfunden. Denn durch ihre Bewusstseinsprägung, ihre Bildung, können sie sich nicht von ihren theologisch geprägten Denkmustern, ihrer ebenso geformten Gefühlskultur und damit einhergehend auch nicht von den tradierten literarischen Vorbildern lösen, die zum christlichen Referenzsystem in Beziehung stehen und für Gutzkow von Goethe repräsentiert werden. Sie tragen daher einen »Friedhof toter Gedanken«45 mit sich herum und können die »christliche Idee«46 als Sinnzentrum nicht einfach verabschieden, sondern müssen an ihre Leerstelle notwendig eine neue Idee setzen, wieder einen »ideellen Schutzwehr[]«47 gegen und für die Nöte der Wirklichkeit errichten, da es ein »ewige[s] Bedürfnis des Menschen [sei], ein Gesetz, eine Idee, die Alle zusammenhalte, an die Spitze jeder Gemeinschaft zu stellen.«48 Daraus ergibt sich für die Figuren ein paradoxes Verarbeitungsverfahren ihrer Verlusterfahrung. Sie versuchen einerseits, das tradierte Sinnzentrum symptomatisch zu erhalten, weil sie darauf angewiesen sind, wollen es andererseits aber auch programmatisch verabschieden, da es seine weltordnende Verbindlichkeit eingebüßt hat. Zerrissen zwischen Altem und Neuem, verfangen in einem Labyrinth sinnentleerter Vergangenheitsbezüge, die das Neue zurückhalten und verdecken, sind die Figuren der Wally auf ein neues Sinnzentrum angewiesen, gelangen jedoch nur dahin, die seelische Problematik ihres bewusstseinsgeschichtlichen Zwischenzustands mithilfe der Reflexion zu durchdringen, ohne einen Ausweg zu finden. Daher bleibt ihnen nur, sich in durchweg reflexionsbestimmte Bewältigungsmodi zu werfen, die gegen diese epigonale Verlusterfahrung aufgestellt werden, in ihrem zwanghaften Abgrenzungsbestreben aber zugleich zu ihrem Erhalt beitragen. Zu diesen Bewältigungsversuchen, die den Verlust des göttlich beseelten Gefühls des Werther zu verarbeiten versuchen, gehört die Kälte, aber auch der Enthusiasmus, die Ironie, das Ausweichen auf naturwissenschaftliche Gleichnisse sowie die Historisierung des ohnehin Vergangenen, das sich jedoch mit erdrückender Präsenz in der Gegenwart hält (vgl. 5.). Auch deswegen wird die hervorstechende Kälte Wallys programmatisch abgrenzend dem enthusiastischen Gefühlsüberschwang Werthers, den Gutzkow einmal als »Triumpf der Empfindsamkeit«49 bezeichnet, gegenübergestellt. Da 44 45 46 47 48 49

Karl Gutzkow, Wally, S. 96. Ebd., S. 6. Ebd., S. 115. Ebd., S. 37. Karl Gutzkow, Briefe, S. 219. Karl Gutzkow, Göthe, S. 1003.



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die Kälte aber zugleich Ausdruck eines symptomatischen Erhaltungsversuchs des entschwundenen Sinnzentrums ist, lässt Wally sich als programmatische und symptomatische Kontrastschrift zum Werther lesen, ohne dass Wally auf die Empfindsamkeitstradition beschränkt ist. Dem Roman geht es ums Ganze: um die Verabschiedung des in der Wahrnehmung der Figuren überkommenen »Religionssystem[s]«50, des christlichen Integrationssystems von Ich und Welt und des ästhetischen Literaturverständnisses, das sich auf dieses System beruft. Daher nimmt er die jüngere Tradition der Empfindsamkeit, der Romantik, aber auch etwa der Bukolik ins Visier; ablehnend, aber auch klammernd. Denn trotz ihrer programmatischen Verabschiedungsabsichten und ihrer symptomatischen Kompensationsversuche bekommen die Figuren das epigonale Bedürfnis eines theologisch geprägten, weltordnenden Sinnzentrums nicht aus ihrem Bewusstsein, können es in der ihnen bekannten Form jedoch auch nicht erhalten. Das Epigonalitätsbewusstsein kann daher nur bewältigt werden, indem es befriedigt wird: Wieder wird eine Idee, die aber nicht mit der alten identisch sein kann, zum wirklichkeitsübergeordneten Sinnzentrum erhoben. Dass es sich bei dieser neuen Idee, die die alte christliche ersetzen soll und muss, um den Liberalismus handelt, wird im Ergebnis nicht überraschen. Die Komplexität dieses wechselseitigen Verabschiedungs- und Einsetzungsvorgangs ist jedoch kaum zu erfassen und erfordert eine textnahe und detailbedachte Vorgehensweise. Denn anders als Werther fügt Wally sich nicht zu einem suggestivstimmigen Ganzen zusammen. Vielmehr überträgt sich die epochale Zerrissenheit der Figuren auf die formale Heterogenität und inhaltliche Inkonsistenz des Romans, weshalb jeder Kleinigkeit literaturgeschichtliche Bedeutung zukommt. Um sich einen Weg zur innersten Leerstelle des Wally-Labyrinths zu bahnen, soll im Folgenden zunächst der Titel analysiert werden, dessen Implikationen in der Forschung kaum beachtet wurden (2.). An ihm lässt sich anhand der diversen Werther- und Faust-Bezüge zeigen, wie voraussetzungsreich und voraussetzungsgebunden der Roman schon ist, bevor er überhaupt begonnen hat. Dann soll versucht werden, den kryptischen Romananfang zu entschlüsseln, in dem die literarische Vergangenheitslast in ihrem ganzen Gewicht gegenwärtig ist und konfus überlagerte Sinnebenen zur romanbestimmenden Paralyse führen (3.). Anschließend wird das Epigonalitätsbewusstsein anhand seines zentralen Symptoms konkretisiert, dem Eindruck, dass es nicht weitergeht und nicht weitergehen kann: der Erfahrung der Langeweile (4.). Dies erfolgt über einen kurzen Exkurs zu Tiecks Lovell. An ihm lässt sich zeigen, dass die epigonale Zeiterfahrung und die 50 Ludolf Wienbarg, Zur neuesten Literatur. Von Ludolf Wienbarg, Verfasser der ›ästhetischen Feldzüge.‹, Mannheim 1835, in: ders., Ästhetische Feldzüge, hg. von Walter Dietze, Berlin und Weimar 1964, S. 209.

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konstitutive Kälte Wallys aus demselben bewusstseinsgeschichtlichen Problem resultieren: dem Transzendenzverlust. Anschließend sollen die durchweg reflexionsbestimmten Bewältigungsversuche vorgestellt werden, die zur Verarbeitung des Epigonalitätsbewusstsein eingesetzt werden (5.). Im letzten Schritt wird die Kirchen- und Konventionskritik und ihre Auswirkung auf das Zeitbewusstsein der Figuren untersucht (6.). Dies wird die Frage beantworten, ob der Roman trotz seiner Vergangenheitsfokussierung und der erdrückenden Stillstandserfahrung, die schon Tieck ein halbes Jahrhundert zuvor ausführlich thematisiert hat, eine Antwort darauf geben kann, ob und wie es nun weitergehen kann und soll. Mit der epigonalen Erfahrung der Langeweile lässt sich auch klären, was da eigentlich genau geschieht, als Gutzkow sich durch die Julirevolution in einen »enormen Politisierungsschub versetzt«51 findet. In der Forschung beruft man sich dabei in der Regel auf Gutzkows eigenen Bericht, demzufolge er durch dieses eindrückliche Ereignis eine Preisverleihung durch Hegel links liegen gelassen und »zum ersten Male eine Zeitung vors Gesicht« genommen habe. Doch ist auffällig, was ihn an den Neuigkeiten vornehmlich interessiert, denn das ist erstens, »wieviel Tote und Verwundete es in Paris gegeben [hat]«, zweitens, »ob die Barrikaden noch ständen,« drittens, »ob noch die Lunten brennten,« und erst zu guter Letzt: ob »der Palast des Erzbischofs rauchte, ob Karl seinen Thron beweine,« und ob es eine »Monarchie oder Republik«52 geben würde: Am Anfang von Gutzkows politischer Initiation stehen die sich überschlagenden Ereignisse, steht die Erlösung von der Last der Langeweile. Deren Ursachen gilt es zu klären. Zunächst soll jedoch der vergangenheitsverhaftete Titel entschlüsselt werden.

II. Der Romantitel und seine Funktion: Überlegenheitsgestus und Dissonanz In der Vorrede zur zweiten Auflage (1852) Wallys schreibt Gutzkow, dass der Roman in einer Zeit entstanden sei, als ihr Autor »den leitenden Faden seines inneren bewußten Selbsts im Literaturlabyrinthe fast verlor.«53 Das ist nicht nur intentionsverschleierndes Kalkül, denn ohne vermittelndes Sinnzentrum wird die Vergangenheit zur »negativen Unendlichkeit«54 sinnentleerter Bezüge und Epigonalität ein Problem des Anfangens. So lässt sich die Vergangenheitsfixie51 Wolfgang Rasch im Nachwort zu Karl Gutzkow. Briefe und Skizzen aus Berlin (1832–1834), hg., kommentiert und mit einem Nachwort von Wolfgang Rasch, Bielefeld 2008, S. 116. 52 Alle Zitate dieser Passage: Karl Gutzkow, Bären, S. 271. 53 Karl Gutzkow, Wally (Anhang), S. 145. 54 Günter Heintz, Nachwort, in: ebd. (Anhang), S. 459.



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rung des Romans bereits am Titel Wally, die Zweiflerin ablesen, in den Tendenzen eingearbeitet sind, die die Vergangenheit verabschieden und fortführen. Diese Überlagerung und Widersprüchlichkeit ist auf die Schwierigkeit zurückzuführen, sich von der Vergangenheit loszusagen, das Neue vom Alten zu trennen. »Unaufgelöste[] Dissonanz«55, von der in den Briefen die Rede ist, ist damit schon dem Titel eingeschrieben und dem Roman thematisch übergeordnet. Bereits das erste Wort des Titels ist mit Blick auf die erdrückende Vergangenheitsgebundenheit des Romans aufschlussreich. Es handelt sich bei Wally zum einen um eine Verniedlichungsform, die den thematisch romanbestimmenden Bewältigungsmodus gegenüber der Vergangenheitslast ausdrückt. In der Vorrede zur zweiten Auflage bemerkt Gutzkow, dass »der nicht abgekürzte« Name »Walpurgis«56 hieße und stellt somit die »polemische Tendenz gegen die Ansprüche des Theologen- und Kirchentums« als »Hauptsache«57 heraus. Denn die Verwendung des Diminutivs zeigt eine ironisch-herablassende Haltung und Respektsverweigerung gegenüber dem katholisch-kirchlichen Verehrungskult der heiligen Walpurga und eine Aberkennung päpstlich-priesterlicher Autorität an, die die Institution Kirche zusammenhält. Das »allmähliche Herunterkommen der Romantik«58 und der Nachhall ihrer Rekatholisierungstendenzen begünstigen hier Gutzkows Luther-Imitatio.59 Der Name Walpurgis stellt darüber hinaus  – verniedlichend  – den Bezug zu Goethes Lebenswerk Faust her, bildet die Walpurgisnacht doch ein zentrales Strukturelement beider Teile. Dieser Verweis nicht nur auf Goethes Hauptgeschäft, sondern auf das tollbunte, diabolische Treiben der Walpurgisnächte, deutet ebenfalls auf die kirchenkritische Tendenz des Romans hin. Allerdings wird hierbei das weniger programmatische denn provozierende und nicht zuletzt verkaufsförderliche Potential dieses Bezugs deutlich, wenn Mephistopheles selbst in der Walpurgisnacht des Faust I sagt: »Es ist zu toll, sogar für Meinesgleichen.«60 In Verbindung mit dem Diminutiv, nach dem die Walpurgisnächte des goethischen Faust an teuflisch-frivolem Durcheinander und unchristlich-

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Karl Gutzkow, Briefe, S. 49. Karl Gutzkow, Wally (Anhang), S. 144. Ebd. (Anhang), S. 142. Ebd., S. 23. Luther ist eines der Vorbilder Gutzkows. So schreibt er z.  B. in seiner Autobiografie, dass Luther schon »der Held des Hauses« seiner Kindheit gewesen sei und nutzt dies, um in der Beschreibung seines Helden ein idealisierendes Selbstporträt zu geben. Gutzkow, Bären, S. 115. 60 Johann Wolfgang Goethe, Faust, hg. von Albrecht Schöne, Bd. 1, Texte, Frankfurt a. M. 2005, S. 173.

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obszöner Drastik61 wohl überboten werden sollen, dürfen die Leser also einiges erwarten. Der Faust-Bezug steckt auch im zweiten Teil des Titels: die Zweiflerin. So fragt Wally in einem Brief an ihre Freundin Antonie, »warum wir den ›Faust‹ nicht lesen sollen? Die Schilderung jener Zweifel, die eines Menschen Brust durchwühlen können […]«62, womit die Zweifel der Wally in eine literaturgeschichtliche Tradition gestellt werden. Dies widerspricht jedoch der ablehnenden Überlegenheitshaltung, die der Diminutiv dieser Tradition gegenüber vorgibt. Es handelt sich hier um ein publikationsstrategisches Täuschungsmanöver. Denn der Traditionsbezug dient in erster Linie dazu, den religionskritischen Zweifeln Wallys literaturgeschichtliche Legitimität zu verleihen und der religionspolitischen Agitation des Romans Freiraum zu verschaffen. Ähnlich wird Gutzkow in der Sigunen-Szene vorgehen (vgl. 6.). Außerdem weitet erst der Faust-Bezug die kirchenkritische zur religionskritischen Tendenz aus, wie den Briefen zu entnehmen ist, in denen es heißt: »Religion! Es gibt einen Gränzstein, wo sie Lüge wird, wo ist der? Auf welcher Station bin ich noch im Gebiete Gottes, auf welcher schon im Gebiete des Teufels? Solche Fragen nannte meine Zeit Zweifel, Doctor Faustthum.«63 Noch ein weiterer Bezug auf ein Werk Goethes verbirgt sich im Titel, der in der Zweisilbigkeit und dem Anlaut des Namens Wally liegt. Sie verweisen auf den Werther, der für Gutzkow den »Triumpf der Empfindsamkeit«64 repräsentiert. Goethes Roman dient damit als Kontrastfolie für die programmatische und symptomatische »Eiseskälte«65 Cäsars und deutet auf die krisenhafte Erfahrung, deren Abgrenzungs- und Bewältigungsmodus diese Kälte ist. Schon in den Briefen war Werther Gegenstand spöttischer Abgrenzung, wenn der Narr an die Närrin schreibt: »Ich könnte mich zu Tod ängstigen, wenn Dir einmal so ein Buch, wie Werthers Leiden, aus dem Kopfe flöge! Thu‹ mir nur den Gefallen, und bestelle mich nicht zu deiner Hebamme!« Nur als »Kritiker«66 könne der Narr sich zu einem solchen Werk in Bezug setzen. Und doch könnte Wally nicht »Wallys Leiden«67 heißen. Denn dies würde den Vergangenheitsbezug entgegen dem 61 In seiner autobiografischen Rückschau erinnert sich Gutzkow im Kontext des Faust u.  a. an einen delikaten Vers in der Hexenküche: »Jetzt kam ein zynischer Reim [auf »au«]. Gerade dieser wurde angestaunt und bewundert in der Möglichkeit, gedruckt zu werden und ordentlich in Büchern zu stehen.« Karl Gutzkow, Bären, S. 126. 62 Karl Gutzkow, Wally, S. 42. 63 Karl Gutzkow, Briefe, S. 229. 64 Karl Gutzkow, Göthe, S. 1003. 65 Karl Gutzkow, Wally, S. 96. 66 Karl Gutzkow, Briefe, S. 169. 67 Karl Gutzkow, Wally, S. 70.



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An­spruch des Romans, den totalen Bruch mit der Vergangenheit zu vollziehen und den Durchbruch des Neuen zu ermöglichen, auf eine Werther-Parodie verengen. Goethes Werk dient Gutzkow hier als »Vereinigungspunkt«68 des 18. Jahrhunderts: der Vergangenheit, mit der er radikal zu brechen versucht, ohne es zu können. Dass dies das zentrale Anliegen von Wally ist, wird am Romananfang besonders deutlich, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

III. Der Romananfang: christlich-ästhetische Wirklichkeitsdeutung und epigonale Bewusstseinsproblematik Der erste Satz Wallys greift die Tendenzen des Titels auf und fährt vergleichbar voraussetzungsbezogen fort, wenn es zunächst enigmatisch und um poetische Bildlichkeit bemüht heißt: »Auf weißem Zelter sprengte im sonnengolddurchwirkten Walde Wally […]«.69 Es erfolgt keine klare raumzeitliche Bestimmung der Romanhandlung durch den Erzähler, sondern die Leser werden unvermittelt ins Geschehen geworfen und ihrer Orientierungslosigkeit überlassen. Diese ist zugleich die der Figuren und ihrer Zeit und wird im Wald verbildlicht. »Wald« und »Wally« sind darüber hinaus zu einer Alliteration zusammengezwungen, die wichtiger als herkömmliche Wortreihung und harmonische Sprachmelodie zu sein scheint, aus denen sich poetischer Zauber entfalten könnte. Hier sind sie nur holpriges »romantisches Zitat«70. Denn es geht im ersten Satz nicht primär um die Darstellung eines »Bildes«, wie der Erzähler es bezeichnet, sondern um die Deutung der Wirklichkeit als Bild durch Cäsars literarische und literarisierende Erwartungshaltung, durch die er Begegnungen im Leben »wie eine Romanenepisode nehmen«71 will, sowie um das christliche Bezugssystem, an das diese Erwartungshaltung gebunden ist. Das theologische Referenzsystem wird im »sonnengolddurchwirkten« Wald verbildlicht, der ausdrückt, dass die verworrene Wirklichkeit, in der sich die Figuren bewegen, göttlich durchdrungen ist. Eben dieses göttlichen Sinn gebende, der Wirklichkeit sonnengoldverleihende Licht ist jedoch für die Verworrenheit verantwortlich, da es die Figuren blendend in die falsche Richtung weist: in die Vergangenheit. Dem überstrahlenden göttlichen Licht werden daher die resemantisierten »Lichtritzen« entgegengesetzt, die Cäsar in Wallys »Haltung« zu erkennen 68 Karl Gutzkow, Bären, S. 374. 69 Karl Gutzkow, Wally, S. 5. 70 Gert Vonhoff, Individuum, S. 79. Vonhoff verengt dies und die Topografie jedoch darauf, dass sie »zur sozialgeschichtlichen Kennzeichnung der Hauptfigur« dienten. Ebd. 71 Karl Gutzkow, Wally, S. 69.

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meint und die für ihn den Durchbruch des Neuen aus der überlebten Gestalt des Alten ankündigen. Noch wird das Neue aber vom Alten verdeckt, weshalb der Zelter, auf dem Wally voranreitet, richtungs-»blind«72 ist, nicht zuletzt für die Zukunft. Die theologische Dimension des romaneröffnenden Bildes wird dadurch verstärkt, dass der erste Satz an der Stelle fortfährt, wo die Briefe aufgehört hatten und so einen neuen, zweifachen Bezug einschleust: auf Gutzkows ersten Roman und auf die Apokalypse. In den Briefen schließt der Narr seine Mitteilungen an die Närrin mit der Verkündigung des nun, Ostern 1832, unmittelbar bevorstehenden »neue[n] Heil[s] der Welt«, dessen Hereinbruch für Jahr 1836 zu erwarten sei: »Jetzt bricht die Revolution an.« Die frohe Botschaft, dass »jetzt endlich […] das siebente Siegel geöffnet werde[]«, unterstützt er mit einer schrittweisen Exegese der Offenbarung Johannes’, die für den Narren auf den finalen Kampf zwischen der Frau und dem Drachen (Offb  12) hinausläuft, den Kampf zwischen »Volkssouveränität« in Gestalt der Frau und dem »Königthum«, das der »rothe[] Drache[]«73 repräsentiere. Die Frau wird in Offb 12,1 so beschrieben: »Und es erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet, und der Mond unter ihren Füßen und auf ihrem Haupt eine Krone von zwölf Sternen.« Dies ist ein weiterer Grund, weshalb Wally durch einen »sonnengolddurchwirkten Walde« sprengt und dabei an ihrer Reitgerte ausgerechnet zwölf Ringe stecken. Sie reitet aber nicht allein, sondern von »zahlreichen Kavalieren«74 umgeben und verstärkt damit den Bezug zur Apokalypse: auch dort erscheint ein »Reiter auf dem weißen Pferd« (Offb 19,11), dem »das Heer des Himmels« folgt und der selbst das »Wort Gottes« ist, das als »König aller Könige und Herr aller Herren« die »Völker [zu] schlage[n]« und sie zu »regieren mit eisernem Stabe« (Offb 19,15–16) gekommen sei. Indem der Roman dieses apokalyptische Bild zitiert, wird zum einen Wally zur Repräsentantin des weltumfassenden Herrschaftsanspruches des christlichen Glaubenssystems, seiner Moral und des Literaturverständnisses, das sich auf dieses beruft. Wally ist jedoch keineswegs Botin der christlich-heilsgeschichtlichen Richterstunde, da sie, der Roman-Titel gibt es vor, von Zweifeln befallen ist, die ihren eschatologischen Siegeszug ausbremsen und sie ein wertheriadisches Ende nehmen lassen. Zum anderen wird dadurch, dass dieses Offenbarungsbild zitiert, ihm aber seine heilsgeschichtliche Durchschlagskraft entzogen wird, die Autorität der Heiligen Schrift ausgehebelt. Wally, als Figur und als Roman, kommt so als intendierte Verkünderin eines neuen Literatur- und Moralverständnisses in 72 Ebd., S. 5. 73 Karl Gutzkow, Briefe, S. 324, 305, 310, 312  f. 74 Karl Gutzkow, Wally, S. 5.



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altem Gewand herbeigeprescht, dessen Durchbruch ihren eigenen Untergang zur Voraussetzung hat. Die umgedeutete christlich-endzeitliche Sinndimension wird mit einem weiteren Bezug auf Goethes Faust kontrastiert. In der klassischen Walpurgisnacht des zweiten Teils gelangt Faust an die Ufer des Flusses Peneius, wo es zunächst kein Weiterkommen zu geben scheint. Dann aber »Ist mir doch als dröhnt‹ die Erde / Schallend unter eiligem Pferde. / […] Ein Reuter kommt herangetrabt, […] / Von blendend-weißem Pferd getragen«. Es handelt sich um Chiron, der »bereit« ist, Faust »durch den Fluß zu tragen«. Chiron ermöglicht ihm so eine gerichtete Weiterbewegung, die Faust aus der Orientierungslosigkeit holt, die ihn an diese Übergangsstation – den Fluss – gebracht hat, wie Chiron erkennt: »Die verrufene Nacht / Hat strudelnd ihn hier hergebracht.«75 Christlich-heilsgeschichtlicher Bewegungsabbruch und dichterisch-antikisierender Bewegungsvollzug hebeln sich gegenseitig aus, treten in ein dissonant-desorientierendes Wechselverhältnis. Daraus erklärt sich ein aufschlussreicher Widerspruch im romaneröffnenden »Bild«. Die Frage nämlich, warum Gutzkow anstelle von Zelter nicht einfach »weiße Stute« wie schon am Ende des ersten Absatzes oder »Schimmel«76 wie am Ende des kurzen ersten Kapitels schreibt. Zelter meint laut Grimm’schem Wörterbuch eigentlich ein Pferd, das den Zeltgang geht, also trabt.77 Wenn es aber trabt, kann Wally nicht mit ihm durch Wälder sprengen. In dieser stürmischen und zugleich stockenden Bewegung drückt sich die Dissonanz der sich überlagernden Sinnebenen des Bildes aus, die sich gegenseitig aufheben. Neben der Dissonanz wird so die verhinderte Bewegung78, die Paralyse, zu einem zentralen Thema des Romans. Anders als Chiron oder der Himmelsreiter kann Wally dem in dieselbe Richtung gehenden Cäsar eben keine Orientierung im Wald bieten, sondern nur zu ihrem eigenen Ende führen. Auch deshalb schreitet Cäsar nicht auf dem, sondern »[a]m Wege«, der ein bewusstseins- und literaturgeschichtlich gebahnter ist; Cäsar ist sich durch Reflexion dieses Umstands bewusst und versucht, sich von diesem eingeschlagenen Weg zu entfernen – vergeblich: Er bleibt am Wege. Die wunderwirkende Walpurgis, die in der Heiligenlegende auf stürmischer See in Not Geratene sicher ans andere Ufer bringt, wird hier auf ihre irdische Ohnmacht reduziert und die Heiligenlegende demontiert – wie Cäsar es in seinen Geständnissen mit Jesus machen wird, für dessen Geschichte er nur den wun75 76 77 78

Goethe, Faust II, S. 296, 301. Karl Gutzkow, Wally, S. 5, 7. Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 31, Leipzig 1956, Sp. 623–627. Vgl. Gert Vonhoff, Individuum, S.  76. Gert Vonhoff versteht darunter in erster Linie die »sozialgeschichtlich[e]« Bewegungslosigkeit. Ebd., S. 114.

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derbefreiten »historische[n] Kern«79 gelten lassen will. Zugleich wird auch die Literatur in ihrer tradierten Form verabschiedet. So heißt es im ersten Satz weiter, Wally sei ein Bild, das die Schönheit Aphroditens übertraf, da sich bei ihm zu jedem klassischen Reize, der nur aus dem cyprischen Meerschaume geflossen sein konnte, noch alle romantischen Zauber gesellten: ja selbst die Draperie der modernsten Zeit fehlte nicht, ein Vorzug, der sich weniger in der Schönheit selbst als in ihrer Atmosphäre kundzugeben pflegt.80 Anders als in der klassischen Walpurgisnacht des Faust II werden Klassik und Romantik hier nicht zur Darstellung gebracht, sondern als referenzlose Zuschreibungen am »Bild« montiert81, zu dem Wally erhoben wird. Anstatt sie dichterisch zu realisieren, ist schlicht die Rede von »jedem klassischen Reize« und »alle[n] romantischen Zauber[n]«, nicht zuletzt von der »Draperie der modernsten Zeit«, die offenbar das Resultat der Vermengung von Klassik und Romantik ist  – die bereits Goethe im Faust vollzogen hat. Es ist nicht die Darstellung, sondern die Deutung des Bildes durch den ästhetischen und ästhetisierenden Blick eines an der jüngeren und jüngsten literaturgeschichtlichen Vergangenheit geschulten Betrachters, die hier zum Ausdruck kommt; hervorstechend ist der auf das romantische Theorem der progressiven Universalpoesie verweisende Totalitätsanspruch: »alle« Zauber der Romantik, »jede[r] klassische[] Reiz[]«. Erst im zweiten Abschnitt wird deutlich, dass es keine übergeordnete Erzählerbeschreibung, sondern Cäsars »abstrakt-ästhetisch[er]«82 Blick ist, der hier vorgeführt,83 mit der Perspektive des Erzählers überblendet und dem Leser zunächst unbemerkt zur Identifikation vorgesetzt wird. Zugleich ist das »Bild« Wally damit als klassisch-romantische »Phantasmagorie« ausgeschildert, als ein Trugbild einer literarisierten und literarisierenden Erwartungshaltung, das sich »in Nichts auflös[en]« wird. Dass es ein tiefsitzendes Bedürfnis Cäsars ist, Wally in diese klassisch-romantische »Nebelgestalt« zu verwandeln, verdeutlicht der Erzähler am Ende des ersten Kapitels: »Er [Cäsar] gefiel sich darin, an eine alte 79 Karl Gutzkow, Wally, S. 110. 80 Ebd., S. 5. 81 Für David Horrocks ist Wally der »Vorläufer der Montage-Technik«. David Horrocks, Maskulines Erzählen und feminine Furcht. Gutzkows »Wally, die Zweiflerin«, in: Gutzkow, hg. von Roger Jones und Martina Lauster, S. 152. 82 Herbert Kaiser, Karl Gutzkow, Wally, die Zweiflerin (1835), in: Romane und Erzählungen zwi­ schen Romantik, Realismus, hg. von Paul Michael Lützeler, Stuttgart 1983, S. 189. 83 So auch Horrocks, Maskulines Erzählen und feminine Furscht, S. 160. Horrocks fokussiert dies jedoch geschlechterpolitisch und interpretiert Wally als Emanzipationsdokument.



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Sage zu glauben, an die Prinzessin im Walde, und sich selbst mit irgendeinem Zauber in Verbindung zu bringen.«84 Dieses Bedürfnis ist demnach Ergebnis seiner literaturgeschichtlichen Bewusstseinskonditionierung, aus der eine entsprechende Erwartungshaltung erwächst. Wegen ihr ist Cäsar bestrebt, besondere Begegnungen wie eine »Romanenepisode«85 aufzufassen, wobei diese Erwartungshaltung die Begegnung erst zu einer besonderen macht. Dass der Roman-Beginn die Perspektive Cäsars mit der des Erzählers in eins setzt, sie somit zu derjenigen wird, mit der die Leser sich identifizieren, hat seinen Grund darin, dass diese ästhetisierte und ästhetisierende Betrachtungsweise dem lesenden Bewusstsein ausgetrieben werden soll. Auch deswegen trägt Cäsar den Titel des »großen Römers«86 als Namen, denn vom republikanisch-demokratischen Standpunkt aus ist dieser Titel, der eines Tyrannen, nicht ein Vollendendes, sondern ein zu Überwindendes. So liebäugelt etwa der Narr in den Briefen mit dem »Revolutionswerk, wie es bei Brutus und Cassius einst stehen geblieben«87 sei und inszeniert sich in seinem letzten Brief gar selbst als Brutus.88 Die Tendenz des Romans, den ästhetischen Blick zu bekämpfen, wird in eine poetologische Programmatik übersetzt, als Cäsar und Wally im trostlosen Schwalbach zur Kur sind und Cäsar Wally zur Ablenkung und Manipulation zwei Schauergeschichten erzählt. Nach der ersten Erzählung, in der frommes Verhalten in den Wahnsinn führt, erwidert Wally: »,Oh, ich bitte sie, erzählen Sie Geschichten, die sich runden und einen Schluß haben!‹«89 Nach der zweiten Erzählung, die von einem unglücklich verliebten, schließlich Suizid begehenden und als Gespenst seine Geliebte heimsuchenden Tambour handelt, heißt es vom Erzähler, dessen Perspektive hier erneut mit der reflexiv durchdringenden Cäsars übereinstimmt: »Wally hatte von dieser Erzählung erwartet, daß sie in einer Beziehung mit Schwalbach stünde, und allem, was auf diese Erwartung keine Rücksicht nahm, nur eine oberflächliche Aufmerksamkeit geschenkt.«90 Wally hat wie Cäsar ihre literarische Bildung so tief verinnerlicht, dass die darin begründeten Erwartungshaltungen nicht mehr hinterfragt, sondern unmittelbar angewendet werden und im Falle ihrer Enttäuschung einen vehementen Abwehrreflex hervorrufen. Cäsar hingegen ist einen Schritt weiter und hat seine literatur-

84 85 86 87 88 89 90

Karl Gutzkow, Wally, S. 57, 64, 7. Ebd., S. 69. Ebd., S. 46. Karl Gutzkow, Briefe, S. 229. Vgl. ebd., S. 318. Karl Gutzkow, Wally, S. 26. Ebd., S. 29  f.

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geschichtlich konditionierte Erwartungshaltung reflektiert, wodurch er sie manipulierend gegen Wally einsetzen kann. Denn diese Miniatur-Binnengeschichten erzählt Cäsar nicht wegen ihres künstlerischen Gehalts, sondern um Wallys Zweifel zu verstärken, in denen er den Keim des Neuen erkennt. Und sie werden erzählt, um den programmatischen Anspruch des Romans auszudrücken, die überkommenen ästhetischen Kategorien der Vergangenheit zu verabschieden. Wallys Hinwendung zum literarischen Interpretations- und Integrationssystem von Ich und Welt, das im Motiv des Büchertischs verbildlicht wird, »worauf die Erzeugnisse der neuesten Literatur lagen« und »der so viel Widersprechendes friedlich umschloß«, ist jedoch bereits in ihren Zweifeln begründet. So sitzt sie an einem Sonntag allein in ihrem Zimmer und blättert in der Bibel: Ihr »Auge haftete stier auf den Buchstaben: sie schlug eine Seite nach der andern um: dann lehnte sie sich zurück, eine Träne stand in ihrem Auge.« Daraufhin »sah [sie] mit einem flehenden, verzweifelnden Blick«91 auf ihren Büchertisch, weil sie aufgrund ihrer verlorenen Glaubensgewissheit ihr Trost- und Anleitungsbedürfnis von der Heiligen Schrift auf die profane Literatur überträgt, da sie dieses religiöse Bedürfnis nicht loszuwerden vermag. Ein längst historisches und nicht gerade erfolgversprechendes Unterfangen, denn schon im Lovell schlug dieser in religiösem Zweifel begründete biblischliterarische Übertragungsversuch fehl und kann für Wally also erst recht keine Lösung mehr sein. Wallys epigonale religiös-literarische Zweifel werden literaturgeschichtlich angemessen in der sich kaum noch bildenden Träne Wallys verbildlicht, die den Tränenstürzen der Empfindsamkeit gegenüberzustellen ist. Die literaturgeschichtliche Stufung dieses Motivs wird durch Jeronimo verstärkt, den Bruder von Wallys späterem Ehemann Luigi, der ebenfalls einen Tisch besitzt, auf dem sich »einige Bücher« befinden, die aber »mit Staub bedeckt waren und deshalb ahnen ließen, daß Jeronimo noch aus sich selbst Trost und Unterhaltung schöpfen konnte.«92 Auch Cäsar verfängt sich im Erwartungshorizont des tra­ dierten Literatursystems, trotzdem er dies reflektierend erkennt. Im Folgenden soll der Grund dafür untersucht werden, denn hier kommt das Epigonalitätsbewusstsein der Figuren in Reinform zur Geltung: als Zeitbewusstsein.

91 Ebd., S. 9  f. 92 Ebd., S. 74.



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IV. Epigonales Zeitbewusstsein: Langeweile als Symptom des Transzendenzverlusts Wie Wally hat auch Cäsar seinen Wunsch nach einem weltordnenden Integrationssystem aufgrund einer Glaubenskrise von der Religion auf die Literatur übertragen. So will er bestimmte Begegnungen »wie eine Romanenepisode nehmen«, »um sein[em] ewige[n] Selbstennui«93 damit etwas entgegenzuhalten. »Selbstennui«: »Dies ist die Langeweile.« Die hier gemeinte Langeweile ist eine christlich-theologische und zugleich historische Problemgröße, da »die Alten« für dieses »moderne[]« Phänomen »gar keinen Ausdruck hatten«94 und die Langeweile in ihrer theologischen Dimension bereits 40 Jahre zuvor in Tiecks Lovell die Krisenerfahrung ist, mit der die Figuren sich zu arrangieren haben. Die Langeweile ist hier das Resultat davon, dass die Jenseitserwartung, auf die das christlich sozialisierte Bewusstsein der Figuren konditioniert ist, durch die aufklärerische Religionskritik untergraben und in die Diesseitserfahrung zurückgeworfen wird.95 Daher haben die Garten-Imaginationen im Lovell ihren heilsgeschichtlichen, zeittranszendierenden Sinn verloren, sind aber wegen der christlich geprägten Erwartungshaltung der Figuren für sie nicht ohne diesen Sinn zu denken.96 Dadurch verschränken sich Diesseits und Jenseits ineinander, fallen Anfang und Ende einer vormals chronologisch strukturierten Zeitordnung zusammen: Die Gegenwartserfahrung weitet sich zur Ewigkeit aus, ohne diese ausfüllen zu können. Das Resultat ist das »langweilige, ewige Einerlei«97, das 93 Ebd., S. 69. 94 Ebd., S. 14. 95 Dies ist auch Wallys Problem, deren »religiöser Schmerz letztlich nur eine Äußerung ihrer Zurückgeworfenheit auf sich selbst« ist. Kaiser, Wally, S.  190. Da dies Ausdruck einer schwerwiegenden literaturgeschichtlichen Problematik ist, ist das vereinfachende »nur« hier unangebracht. 96 Karl Wilmont, es könnte aber auch jede andere Figur des Romans sein, bringt dieses Problem auf den Punkt, wenn er mit dem ästhetisierten Auge des Schwärmers die transzendierende Gartenimagination in die rettungslos weltliche Gartenwirklichkeit zu überführen bestrebt ist: »[I]ch suche indes von einem Ende des Gartens zum andern […] ein Etwas, das ich selbst nicht kenne«. Ludwig Tieck, William Lovell, hg. von Walter Münz, Stuttgart 1986, S.  331. Dieser horizontalen Evasionsbewegung ist das vertikale Transzendierungsstreben der Figuren zur Seite zu stellen, das in Andreas Testament – es könnte aber auch an jeder anderen Stelle des innerer und äußerer Form entbehrenden Romans stehen – festgehalten wird: »Ich hatte von der großen Liebe Gottes zu den Menschen gehört, und dies Gefühl hielt ich für diese Liebe, denn es war, als wenn mein Herz ein magnetischer Mittelpunkt wäre, der vom Himmel unwiderstehlich angezogen würde und den die körperliche Hülle kaum noch auf der Erde zurückhielte.« Ebd., S. 609. 97 Ebd., S. 300.

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sich endgültig anfühlt, es aber nicht sein kann, weil die Konditionierung des Bewusstseins auf das Zwei-Welten-Schema ewige Endlichkeit nicht zulässt. Die Langeweile wird so zur »Qual der Hölle«, verlagert in die Gegenwart als endlos ausgeweitete Entleerungserfahrung des Jetzt, bei der man nur […] dasitzen und die Nägel betrachten, im Zimmer auf und nieder gehen [kann], um sich wieder hinzusetzen, die Augenbraunen reib[t], um sich auf irgend etwas zu besinnen, man weiß selbst nicht worauf; dann wieder einmal aus dem Fenster […] s[ieht], um sich nachher zur Abwechselung aufs Sofa werfen zu können, – […] nenne mir eine Pein, die diesem Krebse gleichkäme, […] wo man Minute vor Minute mißt, wo die Tage so lang und der Stunden so viel sind[.]98 Auch Wally bewegt sich »in ewig gleichen Kreisen«99, Cäsar schreibt in seinen Geständnissen: »Wir werden uns, solange die Erde kreist, in Zirkeln bewegen«.100 Die zur leeren Ewigkeit gestreckte Momenterfahrung ergibt sich daraus, dass die »christliche Idee«, wie es in Wally heißt, nicht aufgegeben werden kann: »Die Vorstellung eines über uns thronenden Werkmeisters ist ein Bedürfnis, das unsere Phantasie immer geltend machen wird.«101 Um diesem endlosen unerfüllten Augenblickserlebnis zu entgehen, versuchen die Figuren im Lovell und in Wally, das theologische durch ein literarisches Integrationssystem zu ersetzen und sich an literarischen Vorbildern zu orientieren. Gleich zu Beginn etwa gibt Wally »sich das Ansehen, als wäre sie mit ihrer Situation [dem romantisch-klassizistischmodernen: phantasmagorisierenden Blick Cäsars, F. W.] verschwistert«.102 Nicht zuletzt die Literatur der Empfindsamkeit scheint ihnen als poetische Blaupause für ihr Bewusstsein geeignet zu sein, da sie es ihnen erlaubt, sich in die Schwärmerei als »übertreibende Empfindung«103 zu werfen. Diese übertreibende Empfindung erfährt mit der persönlichen oder schriftlichen Anwesenheit des sie im Idealfall spiegelnden geliebten Menschen einen intensitätsverstärkenden Rückkopplungseffekt und lässt im so gesteigerten Selbstgefühl die Ahnung einer möglichen Jenseitserwartung aufkommen, nach der es die Figuren beider Romane verlangt.104 98 99 100 101 102 103 104

Ebd., S. 215. Karl Gutzkow, Wally, S. 9 Ebd., S. 109. Ebd., S. 115, 98. Ebd., S. 5. Ludwig Tieck, Lovell, S. 47. Gutzkow zitiert diese Vorstellung in seiner Autobiografie: »Im Doppelleben der Menschheit als Mann und als Weib liegt eines der Zauberworte, die uns die Tür ins Jenseits entriegelt.« Karl Gutzkow, Bären, S. 168.



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Die endlos ausgedehnte, ausgehöhlte Augenblickserfahrung erhält so den Anschein einer beseelenden Erfüllungsstunde, ist aber, es liegt im Wort, zeitlich korrumpiert, somit begrenzt und daher an den unausweichlichen Sturz in die nicht zu transzendierende Selbstbeschränkung gebunden. Das gesteigerte Selbstgefühl der Schwärmerei ist deshalb ebenso ausgehöhlt wie der Enthusiasmus, der Ende des 18. Jahrhunderts mit der Schwärmerei gleichgesetzt wird und wörtlich »‹der von Gott Erfüllte‹ – ›Gott in uns‹«105 bedeutet. Dies schließt den kalten Nihilismus im Angesicht göttlicher Abwesenheit ein und macht den Enthusiasmus bei zunehmendem Autoritätsverlust theologischer Transzendenzvorstellungen zum Indikator des Gottverlusts und zum Bewältigungsmodus dieser Krisenerfahrung. Im Lovell kann sie jedoch nicht bewältigt werden, die einzige Erlösung aus dem langweiligen, ewigen Einerlei bietet der meist gewaltsame Tod, den ein Großteil der Figuren erleidet. In Wally werden dem schwärmerischen Enthusiasmus weitere Verarbeitungsversuche zur Seite gestellt, die in ihrer verabschiedenden und kompensierenden Funktion gleichermaßen scheitern. Zugleich zeigen sie aber die Tiefenwirkung der Leerstelle an, die die erodierte christliche Idee bei den Figuren hinterlassen hat und die schließlich mit dem Liberalismus neu besetzt wird – und werden muss.

V. Die Bewältigungsversuche Den schwärmerischen Enthusiasmus als Bewältigungsmodus gibt es auch in Wally noch, in ungetrübter Form allerdings nur bei der Nebenfigur Jeronimo. Er wird von Wally als »junge[r] Enthusiast[]« und »exzentrischer Schwärmer« bezeichnet und von seinem Bruder Luigi, dem Ehemann Wallys, in WertherManier durch Wallys »himmlische[] Locken«106 und Briefe in den Wahnsinn der Liebe getrieben, um sich dessen Vermögen anzueignen. Er endet wie Werther und Lovell und erschießt sich.107 Der Enthusiasmus als Bewältigungsmodus ist damit erneut gescheitert. Durch seinen ausgeprägten Enthusiasmus erweist Jeronimo sich als Spiegelfigur Cäsars und Wallys, sie drei bilden ein Spiegelfigurenterzett, an dem sich der Gottesverlust in unterschiedlicher Graduierung ermessen lässt. Am geringsten ist die verlorene Glaubensgewissheit bei Jeronimo und seinen staubigen, also unberührten Büchern, am stärksten bei Cäsar verinnerlicht, 105 Manfred Engel, Das ›Wahre‹, das ›Gute‹ und die ›Zauberlaterne der begeisterten Phantasie‹. Legitimationsprobleme der Vernunft in der spätaufklärerischen Schwärmerdebatte, in: German Life and Letters 62 (2009), H. 2, S. 53. 106 Karl Gutzkow, Wally, S. 61, 72, 64. 107 Vgl. ebd., S. 84  f.

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Poten­tial nach beiden Seiten hin hat Wally zwischen ihnen. Cäsars »Eiseskälte«108 ist der Verhaltensmodus, der dem Enthusiasmus gegenübergestellt wird und Cäsar somit zum Anti-Schwärmer macht, nur dem Anschein nach jedoch zu einer Teufelsfigur, die, ausgestattet mit einem kalten Herzen, für die Literatur der Biedermeierzeit nicht unüblich ist.109 So stellt Wally zwar den Bezug zwischen Cäsar und einem altbekannten Teufel her, nachdem Cäsar sie durch die poetisierende Blume hindurch darum gebeten hat, sich für ihn zu entkleiden: »[S]ie ging wie Gretchen im ›Faust‹ und lüftete Fenster und Türen, da Mephistopheles [Cäsar] im Zimmer es so schwül gemacht hatte.«110 Cäsars Kälte ist jedoch ein angenommener Überwindungsgestus, für den er »sein Herz künstlich verhärtet und zu einer gemachten Empfindungslosigkeit herabgestimmt hatte«111, und der anzeigt, dass das Bedürfnis, sich in den schwärmerischen Enthusiasmus zu werfen, bei aller Reflexion auch ihm noch immer eingegeben ist. Schon der Narr in den Briefen, der bestrebt ist, »die aufjauchzenden Flügel meiner Begeisterung niederzuhalten, und da ernst und kalt zu erscheinen, wo ich nur Lied und Feuerstrom sein möchte«112, ist so verfahren. Doch beide können sich gar nicht erwärmen, denn die Herzenswärme, der sie sich verweigern, ist ihnen verwehrt, ist sie doch Ausdruck des »gläubige[n] Gefühl[s]«, eines »noch hoffenden, noch glaubensfähigen Gemüthe[s]«.113 Diesen Figuren ist ihr Sinnzentrum verlorengegangen, ihr Bewältigungsmodus ist selbst Ausdruck derjenigen Problematik, von der sie sich zu lösen versuchen. In der Vorrede zu Schleiermachers Vertrauten Briefen über Friedrich Schlegels Lucinde (1835) bringt Gutzkow dieses Problem auf einen angemessenen Begriff: »So kam es, daß die Frauenherzen zusammenschrumpften.«114 In Wally ist an Cäsars »Steckenpferd[]«, der »Verachtung der Musik«115, abzulesen, dass keineswegs nur die Herzen der Frauen, sondern auch die der Männer zusammengeschrumpft sind und es sich bei diesem Seelenschwund um ein Problem der Zeit handelt. Ein Justizrat und ehemaliger Kollege E. T. A. Hoffmanns spricht diese Diagnose an Cäsar gewendet aus: »[S]agen Sie mir von allen neuen Autoren einen, der ein gutes Urteil über Musik hätte? Es ist Mangel einer gewissen Saite in der Seele, daß es ganz unmöglich ist, die Namen Menzel, Börne, Heine usw. mit irgend108 Ebd., S. 96. 109 Vgl. Friedrich Sengle, Biedermeierzeit, Bd. 1, S. 230. 110 Karl Gutzkow, Wally, S. 53. 111 Ebd., S. 20. 112 Karl Gutzkow, Briefe, S. 207. 113 Ebd., S. 296, 78. 114 Karl Gutzkow, Schleiermachers, S. 233. 115 Karl Gutzkow, Wally, S. 14.



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einer musikalischen Verrichtung zusammenzubringen.« Dass es ein Mangel ist, zeigt Cäsar, indem er mit affektiver Vehemenz zum Gegenschlag ausholt, so die treffende Einschätzung des Justizrats bestätigt und zugleich auf die zugrundeliegende Problematik der Bewusstseinsprägung, die »Bildung«, verweist: »Musik ist absolut [!] nichts: die Bildung legt erst das hinein, was wir darin zu finden glauben. Wenn ich bei irgendeinem Musikstück ein solcher Narr bin, an die Unsterblichkeit der Seele zu glauben […]«. In antiromantischer Abgrenzung wird Musik so zu »klingende[r] Mathematik«, Instrumente zu »Klangmaschine[n]« und Cäsars Ziel, »die Fibern des menschlichen Herzens [zu] anatomiere[n:]«116 sie zu problematisieren. Auch den Erzähler betrifft die aus den geschrumpften Herzen resultierende Kälte. Besonders deutlich wird dies in seinem forciert nüchternen Anti-WertherErzählverfahren, das die teilnehmende Lektüre erschwert und die politische Tendenz des Romans untergräbt, da ein der Kälte verschriebener Roman keine lesenden Herzen in flammenden Eifer zu versetzen vermag. Zu Beginn des zweiten Kapitels z.  B. heißt es in pragmatisch-kontrahierender Abgrenzung von Werthers Brief vom 16. Juni, der die zentrale Begegnung mit Lotte in aller Ausführlichkeit zum Gegenstand hat und sämtliche erzählerische Register der Empfindsamkeit zieht: »Ein gewisser Regierungspräsident gab einen beinahe ländlichen Ball. Wally und Cäsar sahen sich hier.«117 Auch die Gewitterszene des Werther-Briefs, die, jedenfalls von den Frauen, als Weltuntergangsindikator wahrgenommen und der harmonisch-leidenschaftlichen Übereinkunft zweier sich liebender Herzen im Angesicht dieses gewaltigen Naturschauspiels gegenübergestellt wird, reduziert der Erzähler mit erkälteter Abgeklärtheit auf das zugrunde liegende naturwissenschaftliche Regelwerk. Auch hierin, im Vertrauen auf die Gültigkeit naturbestimmender und Weltordnung verbürgender Gesetzmäßigkeiten, drückt sich jedoch die Last der Goethe-Epigonalität aus: »Ein Gewitter in Schwalbach ist immer eine Katastrophe; aber sie geht vorüber.«118 Das Ausweichen auf naturwissenschaftliche Gleichnisse stellt einen weiteren Bewältigungsversuch dar und zieht sich ebenfalls durch den ganzen Roman. Schon im ersten Abschnitt wird er eingeführt, wo es heißt: »Aber die übrigen [Begleiter Wallys] hingen nur wie der Eisenfeilstaub am Magnet«. Diese magnetische Einwirkung ist der Versuch, sich, auch wenn das »Zeitalter der Schicksalsidee«119 vorbei ist, auf eine Form »höherer Lenkung der Ereignisse«120 zu 116 117 118 119 120

Ebd., S. 16  f., 28, 14. Ebd., S. 7. Ebd., S. 24. Ebd., S. 5, 40. Karl Gutzkow, Briefe, S. 287.

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berufen, in diesem Fall auf die Idee in der Natur wirkender Gesetze, die eine Welt durchdringen, die von Kontingenz bestimmt wird: »Der Zufall war grausam genug, hier alles zu erleichtern«, heißt es einmal. Doch versagen die »physikalischen Gleichnisse«, die Wally genauso »gern«121 verwendet wie der Erzähler, in ihrer Gebrauchsabsicht. Denn die säkularen Voraussetzungen sind aufgrund der tiefenwirksamen Bewusstseinskonditionierung noch nicht in nötigem Ausmaß gegeben, haben aber bereits zu stark die Einrichtung des Glaubens untergraben, um nicht auf naturwissenschaftliche Gleichnisse auszuweichen, wie Wally merkt: »Der Vulkan, das Licht, die Wärme, die Elektrizität, der Magnetismus, wie kann Gott in der Voltaschen Säure stecken?«122 Dass dies auch die Erfahrung Cäsars und des Erzählers ist, macht ein naturwissenschaftliches Gleichnis mit literaturgeschichtlicher Komponente deutlich: »Cäsar war die Balancierstange dieser Equilibres. Er rektifizierte wie irgendein chemisches Natron alle die barocken Konfusionen, welche Wally anrichtete.«123 Doch wie das romaneröffnende Bild bleibt auch das nur eine Zuschreibung. Cäsars Rektifizierungen, also Klärungen, werden nicht ausgeführt und können auch vom Erzähler nicht übernommen werden, da beide selbst in diesen Konfusionen und ihrer Ursache verfangen sind: dem zwischen Altem und Neuem »zerrissene[n] Prinzip unserer Zeit«124. Diese Zerrissenheit äußert sich nicht zuletzt darin, dass die Figuren zwar nicht mehr begeistert sind und nicht mehr die unmittelbare »Nähe des Himmels«125 in ihrer Brust spüren, aber begeistert sein wollen, weil ihr Bewusstsein darauf dressiert ist.126 Sie können Enthusiasmus daher nur auf den vorgegebenen Pfaden der Literaturgeschichte zeigen: indem sie ihre Empfindungen durch literarische Zitate schablonieren. Der Narr in den Briefen etwa schildert mit eindeutigem literaturgeschichtlichem Bezug »meine Leiden« oder zitiert eine zentrale Vokabel aus Goethes Sturm-und-Drang-Lyrik, wenn er schreibt: »[I]n meinen Adern rollte es wie Gluthenstrom.«127 In Willkomm und Abschied z.  B. heißt es in der Fassung von 1789: »In meinen Adern welches Feuer! / In meinem Herzen welche Glut!«128 Dass dieses Schreiten auf bereiteten literaturgeschichtlichen Wegen keinen adäquaten Ausdruck ihrer gegenwärtigen Situation ermöglicht, verdeutlicht ein 121 122 123 124 125 126

Karl Gutzkow, Wally, S. 85, 53. Ebd., S. 43. Ebd., S. 48. Ebd., S. 20. Ebd., S. 90. Gutzkow verwendet dieses Wort in halb-ironischem Sinn auch in seiner Autobiografie: »Die Dressur meiner christlich-germanischen Gefühle«. Karl Gutzkow, Bären, S. 293. 127 Beide Zitate: Karl Gutzkow, Briefe, S. 64. 128 Goethe, MA 3.2, S. 16.



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Tagebucheintrag Wallys, in dem sie ihr Ende kommen sieht und zur Beschreibung zunächst »den alterprobten Wortschatz des Schauerromans« verwendet, dissonant vermischt mit »Ausdrücke[n] der wissenschaftlichen Reflexion«129: Ich zittre, während mein Puls ganz richtig und medizinisch schlägt. Muß ich sterben, was verbrach ich, daß mir Raben erscheinen müssen? Ich sehe eine schwarze Halle und einen weiten Sarg. Ein Rumpf fällt von der Decke, wo eine Öffnung, hinunter in den Sarg, und den nachstürzenden Kopf greift unser Arzt auf. Oben muß das Schafott sein. Der Mann drückt das blutige Haupt stürmisch auf den rauchenden Körper, paßt Fuge auf Fuge, Ader auf Ader und legt einen Silberreifen um die gierig zusammenklaffenden Fleischränder beider Teile. Er dreht sich um, und Leben, galvanisches Leben regt sich in dem Körper, und der Leichnam erhebt sich[.]130 Daraufhin kippt diese maschinell verfertigte Imagination in eine bukolische Szenerie, in »Schäferpoesie«131. Aus dem Leichnam wird ein »blasser, schöner Jüngling«, der »zur Pforte hinaus[schleicht]« und dort »auf grüner Flur« ein »Mädchen, das Rosen bricht und im Schatten der Allee ausruht«, trifft, mit dem er scherzend und lachend Küsse tauscht. An der Verkehrung der schauerromantischen Szenerie in ihr bukolisches Gegenteil und dem damit einhergehenden, rückwärtsgerichteten Zeitsprung eines ohnehin schon historischen Rückgriffs ist zu erkennen, dass die literaturgeschichtliche Vergangenheit durch den Verlust des Sinnzentrums wie in eine »grundlose Flut versenkt«132 erscheint und sich als eine Welt der endlosen, sinnentleerten Bezüge ohne Wirklichkeitszugriff und Zeitgefüge erweist. Denn die bewusstseinsgeschichtlichen Voraussetzungen haben sich geändert: In der Wally »weht[] kein Wind«133 mehr, kein »Wehen des Alliebenden, der uns in ewiger Wonne schwebend trägt und erhält«134 wie noch im Werther ist zu spüren. Das wissen die Figuren. Wally gesteht es sich zwar zunächst nicht ein, wie die bereits angeführte Gegenüberstellung der Lektüre auf ihrem Büchertisch mit der trostversagenden Bibellektüre zeigt. Cäsar arrangiert sich jedoch damit und erprobt einen weiteren Bewältigungsmodus: die Ironie. Sie tritt mit am deutlichsten dann hervor, als er Wally in Schwalbach die Schauergeschichten 129 Beide Zitate: Walter Höllerer, Zwischen Klassik und Moderne. Lachen und Weinen in der Dichtung der Übergangszeit, Stuttgart 1958, S. 149. 130 Karl Gutzkow, Wally, S. 105  f. 131 Walter Höllerer, Klassik, S. 149. 132 Karl Gutzkow, Wally, S. 122. 133 Ebd., S. 44. 134 Goethe, MA, 2.2, S. 352.

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der tollen Bärbel und der »Rache des gespenstischen Tambour« erzählt. Letztere wäre »würdig gewesen«, von E. T. A. »Hoffmann bearbeitet zu werden.«135 Sie wird hier nicht noch einmal eigens untersucht, denn dieses Phantasiestück in Hoffmanns Manier funktioniert nach demselben Prinzip wie die oben angeführte bukolische Schauer-Imagination Wallys: Die Bausteine sind da, aber die Seele fehlt. Die Ironie, mit der Cäsar die literarische Tradition, in diesem Fall die schauerromantische, behandelt, erweist sich damit wie alle anderen bisher vorgestellten Bewältigungsmodi als erzwungen und wirkungslos. So neckt er Wally zwar, um ihre literaturgeschichtliche Erwartungshaltung ins Leere laufen zu lassen, nachdem er die Erzählung beendet hat: »Gott, da steht sie!‹ [die Protagonistin seiner Erzählung] ›Wo?‹ schrie Wally auf. Cäsar lachte. Es war ein Scherz«.136 Die Ironisierung bleibt jedoch wirkungslos, da Cäsars Geschichte zwar die tradierten schauerromantischen Erzählelemente zitiert, daraus aber aufgrund des zeittypischen Seelensaitenmangels keine Stimmung, eben keine »Atmosphäre« hervorzubringen vermag, von der im romaneröffnenden Bild die Rede ist. Die Ironisierung entspricht am stärksten dem Überlegenheitsanspruch des Titel-Diminutivs und ist auch die Haltung des Erzählers. Dieser greift Cäsars Grusel-Erzählung auf und lässt Wally tatsächlich der Geliebten des Tambours begegnen, die sich mit einem »gräßlichen Schrei« in eine »gräßliche[] Lage« bringt, indem sie »ihren Kopf in den losen Sand«137 wühlt. Jedoch erreicht diese Ironie, die nur der Abgrenzung von der romantischen Vergangenheit dient, nicht das Niveau eines E. T. A. Hoffmann. Denn ihr fehlt das grundierende Entsetzen über den Verlust des göttlichen Sinnzentrums, der das Fundament der Wirklichkeit brüchig werden lässt, ihre Proportionen auf beängstigende Weise verschiebt und der Ironie erst den balancierenden Wert ihres Witzes und ihre Tiefe verleiht. Wenn auch ebenfalls ironisierend, bezeichnet Heine Hoffmanns Werk nicht grundlos als »entsetzlichen Angstschrei in 20 Bänden.«138 Eines der zentralen Anliegen des Romans ist es demnach, die Überlegenheit gegenüber der Vergangenheit ironisch auszudrücken. Auffällig ist am angeführten Musik-Disput außerdem, dass Cäsar hier gegen die Vergangenheit nur die Vergangenheit ausspielen kann und als Zukunftsperspektive bloß einen Blick

135 136 137 138

Karl Gutzkow, Wally, S. 30, 27. Ebd., S. 31. Ebd., S. 45. Heinrich Heine, Die romantische Schule (1833/35), in: ders., Werke und Briefe, Bd. 5, Die ro­ man­tische Schule, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, Elementargeister, kleine Schriften 1832–1839, Shakespeares Märchen und Frauen, Textrevisionen und Erläuterungen von Gotthard Erler, 3. Auflage, Berlin und Weimar 1980, S. 97.



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in die Geschichte offeriert,139 wenn er behauptet, dass er nicht wisse, »worin der Zusammenhang der Literatur und der Instrumentation liegen sollte. Goethe scheint mir auch ohne den Kontrapunkt verständlich zu sein.‹«140 Er bleibt, wie der Roman, der über weite Strecken seine Perspektive einnimmt, in seiner epigonalen Bewusstseinsstruktur gefangen. Dies kennzeichnet auch die zweite Grundtendenz des Romans, die mit dem verwerfenden Überlegenheitsanspruch gegenüber der literarischen Tradition zusammenhängt und zum Durchbruch des Neuen beiträgt: die Religions- und Konventionskritik.

VI. Kirchen- und Konventionskritik: Vergangenheit als Zukunft Wie eingangs gezeigt (vgl. 2.), bringt der Titel des Romans über den Diminutiv von Walpurgis und den darin enthaltenen Faust-Bezug die zweite Tendenz der Schrift ins Spiel: die Religionskritik. Sie ist mit einer politischen Absicht verbunden, wie Cäsars Geständnissen zu entnehmen ist, in denen es heißt, dass das Christentum, seitdem »der Begriff Kirche erfunden, als Konzilien und Würdenträger eingesetzt wurden,« es also »von Priestern und Mönchen repräsentiert« werde, »nur noch Vorwand einer politischen Tendenz des Zeitalters[]« sei. Mit dieser politischen Tendenz ist der Absolutismus und damit einhergehend der Aristokratismus gemeint, denn die Kirche habe »aus Gott einen Souverän, einen Patriarchen, einen Geistlichen[]« gemacht. Dabei ist es nicht geblieben, wie Wally in ihr Tagebuch schreibt: »Er [der Johannes der Offenbarung] etabliert im Himmel eine vollendete Kirche mit Chören der Seligen und Altären, auf welchen die Cherubim thronen.« So habe Gott durch die Bibel seinen himmlischen Hofstaat erhalten, was zu allem Übel auch noch Goethe »für die Kanonisierung seines Faust« genutzt habe. »Der Kanon« könne daher nichts weiter »als die erste Erscheinung des Christentums«141 sein. Es gelte jedoch nicht nur, »die Menschheit von einem religiösen Mechanismus zu befreien«, sondern »zu gleicher Zeit […] auch auf dreihundert Jahre die Kunst, die Literatur, die Schönheit aller [!] vergangenen Zeiten und die Schönheit der Ewigkeit zu derogieren«, also abzuschaffen.142 Dass mit dem aristokratisch institutionalisierten Christentum auch die darauf basierende Gesellschaftsform abgeschafft werden soll, erklärt die Beschreibung 139 Wenn Kaiser schreibt, dass die Figuren versuchen würden, »die Fixpunkte des Idealismus[] in die Immanenz der Historie zu übersetzen«, ist das keine Leistung, sondern Ausdruck der Epigonalitätsproblematik. Kaiser Herbert, Wally, S. 199. 140 Karl Gutzkow, Wally, S. 16. 141 Ebd., S. 116, 107, 93, 112. 142 Ebd., S. 117, 218 (Kommentar).

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der irritierenden Topografie des Kurorts Schwalbach: »Von üppiger Natur kann bei einem Lande nicht die Rede sein, das von Alaun und Schwefel unterminiert ist«. Zur Klarheit verhilft die Vorrede zur zweiten Auflage des Romans, in der eine ähnlich strukturierte Stelle zu finden ist: Die Zeit von 1830 bis 1848 war reich an Bundestagsprotokollen, Zensurverboten, Einkerkerungen, Lokal-Ausweisungen aus allen Staaten der deutschen Landkarte; aber unter dieser hergebrachten Eisesdecke […] wogte und wallte das Meer, bewegt vom Atemzuge des ewigen Frühlings. Die stille Liebe zu allen möglichen Idealen der Menschheit hatte in jener Zeit jeden ergriffen […]143. Da dies während der Restauration Manteuffels verfasst worden ist, schreibt Gutzkow auffällig unbestimmt von »allen möglichen Idealen der Menschheit«. Um welche es sich handelt, macht das in diesem Kontext verwendete Wort »Schwefel« deutlich, das auf die Apokalypse verweist. Zu den dort beschriebenen Plagen, die in der finalen Richterstunde Gottes über die Menschheit kommen, gehören auch »Feuer und Rauch und Schwefel« (Offb 9,17). Der Kurort und mit ihm die aristokratische Gesellschaftsform, ihre Konventionen und Wally, die durch den Besitz eines Schimmels als Dame der höheren Schicht gekennzeichnet wird144, sind damit dem Anspruch nach dem Ende geweiht, die Idee des Liberalismus, eingeschmuggelt in die Literatur, soll es herbeiführen. Die Kritik an der gesellschaftlichen Konvention wird durch Wallys schon angesprochene zwölf Ringe und die Reitgerte, an der sie befestigt sind, verbildlicht (vgl. 3.). Die Reitgerte repräsentiert die keusche Selbstzucht ihrer Trägerin, die sich von ihren Bewerbern Ringe schenken lässt und diese als Symbol ihrer unantastbaren Tugend im Kurbad unbekümmert in einen Brunnen wirft, um Platz für neue zu schaffen. Diese zur Schau gestellte Tugend ihrer Unnatürlichkeit zu überführen ist das Ziel Cäsars und führt zur zentralen »Sigunen-Szene«145: Als absehbar wird, dass Wally Luigi, Jeronimos intriganten Bruder, heiraten wird, tritt Cäsar mit einem zunächst empörenden Entkleidungsgesuch an sie heran, das er jedoch hinter literaturgeschichtlich abgesicherter Legitimität zu verbergen weiß: »Da gibt es ein reizendes Gedicht des deutschen Mittelalters, der ›Titurel‹, in welchem eine bezaubernde Sage erzählt wird. Tschionatulander und Sigune beten sich an.« In umkreisender Umschreibung bittet er sie schließlich, »daß 143 Ebd. (Anhang), S. 137. 144 Vgl. Vonhoff, Individuum, S. 79. 145 Gutzkow selbst bezeichnet sie so in der Vorrede von 1852. Karl Gutzkow, Wally (Anhang), S. 146.



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Sigune« sich »in vollkommener Nacktheit […] ihm zeigen möge.« Wally verlässt wortlos das Zimmer, schlägt dann aber die »rührende Geschichte« nach und »fühlte, daß das wahrhaft Poetische […] höher steht als alle Gesetze der Moral und des Herkommens.« Motiviert durch diese höhere Einsicht kommt es, der Erzähler berichtet es als sei es eine Nebensächlichkeit, »an Wallys Hochzeitstage« zur Enthüllungsszene. Aber: »Zum Zeichen, daß eine fromme Weihe die ganze Üppigkeit dieser Situation heilige,« sprosst »eine hohe Lilie […] dicht an dem Leibe Sigunens [Wallys] hervor und deckt symbolisch, als Blume der Keuschheit, an ihr die noch verschlossene Knospe ihrer Weiblichkeit.«146 Mit der Lilie wird die Tendenz dieser Szene verbildlicht, denn sie ist keineswegs nur die »Blume der Keuschheit«, sondern steht, wie den Briefen zu entnehmen ist, für das »Poetische im Liberalismus«147. Poesie hat damit in dieser Szene wie auch im gesamten Roman nur eine untergeordnete Funktion, jedenfalls in ihrem althergebrachten, von Cäsar als mittelalterlich aufgefassten Verständnis, das für ihn mit einer überlebten Moralvorstellung einhergeht. Da der Roman mit einem authentischen Essay Gutzkows schließt, der die Leser damit zu beruhigen versucht, dass auch ohne »Christentum« die »Menschheit […] fortbestehen«148 werde, steht Cäsars Sicht hier stellvertretend für die zentrale Intention des Romans – wenn nicht gar für die seines Autors. Anders als am Romananfang repräsentiert Cäsar hier nicht die zu überwindende ästhetische Wirklichkeitsdeutung, sondern das zu verwirklichende jungdeutsche Moralverständnis. So schreibt Wienbarg in seinen Feldzügen (1834): »[J]ene Kasteiung des Fleisches […] war die Seele des Mittelalters.«149 In der Sigunen-Szene wird daher die mittelalterliche und als mittelalterlich aufgefasste Literatur und Moralvorstellung verabschiedet, wobei mittelalterlich hier für den Bezug zum christlichen Religions- und Moralsystem steht und damit auch die Literatur des 18. Jahrhunderts, aber auch die jeder anderen Zeit betrifft, die sich in den Dienst der christlichen Moral stellt. Deshalb »schwebt« über dieser vom Erzähler strategisch als »Bild« bezeichneten Enthüllungsszene »der Vogel Phönix, der fußlose Erzeuger seiner selbst«150. Dies soll den Durchbruch einer neuen Moralvorstellung verbildlichen, die gegen die christliche ins Feld geführt wird: Die »Republik der Liebe«151, bei der nicht »des Priesters Segen« oder gesellschaftliche Konventionen, sondern allein die Liebe »Sakrament der Ehe«152 ist. 146 147 148 149 150 151 152

Alle Zitate: Ebd., S. 52–57. Karl Gutzkow, Briefe, S. 48. Karl Gutzkow, Wally, S. 132. Ludolf Wienbarg, Feldzüge, S. 81. Karl Gutzkow, Wally, S. 56. Karl Gutzkow, Briefe, S. 109. Beide Zitate: Karl Gutzkow, Wally, S. 91.

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Dies dient jedoch nicht dazu, ein romantisches Konzept zu bekräftigen, sondern die Institution Kirche zu untergraben und zugleich ein neues, weltordnendes Integrationssystem mit einem neuen Literaturverständnis durchzusetzen. Denn Gutzkow verkündet in dieser Szene, abgeschirmt vom tradierten Konzept autonomer Poesie, ein neues Literatur- und Moralverständnis, indem er das alte von innen heraus aushöhlt und das neue darin einschmuggelt. Er kann damit so berechtigt wie unberechtigt in der Vorrede zur zweiten Auflage schreiben, diese Szene schildere »wunder etwas Sittliches«153. Doch ist diese neue Moral in altem Gewand tatsächlich etwas Altes, gehört sie doch zur Programmatik einer Rousseau’schen »Wiedereinsetzung des Natürlichen«154. Diese bestimmt auch die Religionskritik Cäsars, der sich gleich zu Beginn seines »Glaubensbekenntnis[ses]« der »frommen Naturreligion« verschreibt, »für die ich glühe[]«. Sie zielt darauf ab, das Christentum als Institution auf seinen »historische[n] Kern« zurückzuführen und es so von jeglicher Hierarchie zu lösen, die liberaldemokratischen gesellschaftlichen Verhältnissen, eben der »politischen Emanzipation«155, im Weg stehe. Cäsar spielt dabei mit der Christus-Imitatio, wenn er schreibt, dass Jesus nicht daran gedacht habe, »eine neue Religion zu stiften«. In erster Linie habe er »doch seine Invektiven gegen die politische Verfassung in Jerusalem, gegen den hohen Rat und gegen Priester«156 gerichtet und so auf dem indirekten Weg einer »verunglückten Revolution« eine neue Religion hervorgebracht. Welche neue Religion Cäsar vorschwebt, schreibt die von seinen Gedanken beeinflusste Wally in ihr Tagebuch: »Der Atheismus ist eine Religion!«157 Der Atheismus als Religion: Das meint ein neues, politisches Integrationssystem mit dem Liberalismus als neuer, dem Wirklichkeitsganzen vorstehender Idee, die die Leerstelle der verabschiedeten Idee Gottes zu ersetzen hat, da das Epigonalitätsbewusstsein sich durch seine Bildung von seinen theologisch geprägten Denk- und Gefühlsmustern nicht zu lösen vermag. Die christliche Religion wird und kann aufgrund der epigonalen Bewusstseinsstruktur nicht aufgegeben werden, sondern das theologische Denken wird in politisches transformiert, eine Idee durch eine andere ersetzt. Von einer solchen theologisch-politischen Idealsynthese träumt schon der Narr in den Briefen: »Die Zukunft wird uns unzählige Charaktere zeigen, in denen die Flammen der Begeisterung für das hohe Ziel aller politischen Freiheit, Republicanismus, mit dem 153 154 155 156 157

Ebd. (Anhang), S. 147. Karl Gutzkow, Bären, S. 367. Karl Gutzkow, Wally, S. 122. Ebd., S. 106, 110  f. Ebd., S. 93.



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heiligen Feuer religiöser Andacht und Hingebung zusammengeschlagen werden.«158 Die Umwandlung der theologischen Endstundenerwartung wird dabei, wie schon gezeigt wurde (vgl. 3.), am Ende der Briefe vom Narren über die Auslegung der Offenbarung des Johannes angedeutet und auch in Wally wieder aufgegriffen, etwa durch den von Schwefel unterminierten Kurort Schwalbach. Nur durchzieht Wally eine politische Ernüchterung, die schon dadurch deutlich wird, dass das am Ende der Briefe angekündigte, baldige Anbrechen der politischen Heilsstunde, die »Stunde der Erlösung«159, noch immer nicht eingetroffen ist – der stehende Wind, auf den bereits verwiesen wurde, meint auch den politischen. Cäsar adressiert deshalb gleich zu Beginn ungeachtet der heilspolitischen Vision am Ende der Briefe noch immer die »Heilige Zukunft«. Dass er sich dabei fragt: »[W]ann hör‹ ich auf, mich mir selbst zu opfern?«160 verweist auf seine ChristusImitatio, auf seine Märtyrerfunktion als Stifter eines neuen, religionsgleichen Integrationssystems liberalpolitischer Prägung, dem noch die Jünger fehlen  – wie kann es anders sein bei seiner Predigt der Kälte? Aus der Überlagerung von theologischer und politischer Heilserwartung ergibt sich eine literaturgeschichtliche Vorwärtsbewegung, die das Zeitbewusstsein verändert. Hingen die Figuren von Tiecks Lovell vierzig Jahre zuvor noch im langweiligen, ewigen Einerlei fest, hält in der Wally allmählich die Kategorie des Fortschritts wieder Einzug in die temporale Bewusstseinsstruktur der Figuren. Dies ist am regelmäßigen Verweis auf »den Schlag der Pendeluhr«161 abzulesen, der hier als mahnender Verweis auf das rasche Verrinnen der Zeit fungiert und doch durch die Hervorhebung jedes einzelnen Schlages in parataktischen Sätzen retardierend in die Textur des Romans geklopft wird. Die Überschneidung von verweilender und vorwärtseilender Zeit findet ihren deutlichsten Ausdruck am Ende des Romans, als Wally »[n]och sechs Monate« ihr Leben aushält und der Anbruch des Neuen als Tod des Alten unmittelbar bevorzustehen scheint. Ihre Minuten sind gezählt und in heilfroher Erwartung zu zählen: »Eine Uhr lag neben ihr.«, »Eine Stunde verrann nach der andern.« Doch wird auch hier die Zeitbeschleunigung ausgebremst, wird jeder Pendelschlag entleert von enthusiastischer politischer Heilserwartung in das Wortgeflecht des Romans gehämmert: »Es schlug sieben Uhr.« Dann: »Es schlug acht Uhr.« Um »neun Uhr«162 schließlich schreibt sie ein letztes Mal und beendet dann mit einem Dolchstoß ihr Leben. 158 159 160 161 162

Karl Gutzkow, Briefe, S. 38. Ebd., S. 320. Karl Gutzkow, Wally, S. 6. Ebd., S. 53. Alle Zitate: Ebd., S. 124–127.

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Wenn Cäsar sich für jemanden hält, der wie der Narr der Briefe den Staat und die »ganze Form der Kirchenconstitution«163 »nur [als] Übergangspunct in einen andern Zustand«164 ansieht, das kirchliche und politische »Staatsleben« für ihn damit »nicht mehr werth [ist], als der todte Mechanismus einer Uhr«, er selbst also »den Pendel an der Uhr der Zeit in Schwingungen nach meiner Art versetz[en]«: den An- und Durchbruch einer neuen Zeit verkünden will, bleibt am Ende die Frage, was als neue Perspektive aufgeboten werden kann. Denn schon der Narr steht vor dem Problem des Fortführens nach einem destruktiven Bruch: »Da steh‹ ich nun mit Hammer und Brecheisen. Weit vor mir liegt das öde Feld einer Zerstörung«. Bei allem republikanischem Eifer kämpft er »nur um die Wege zum Ziele,« kennt »aber das Ziel selbst nicht«, was nicht zuletzt an den »wenigen Erkennungs- und Stichwörter[n] des Liberalismus«165 liegt. Auch bricht Cäsar seine Geständnisse da ab, wo die »weißen Blätter[] der Geschichte« beginnen, die es »hinfort«166 zu beschreiben gelte. Die Naturreligion im Geiste Spinozas, als Teil einer Programmatik zur Wiedereinsetzung des Natürlichen auf den Bahnen Rousseaus, die er in seinen Geständnissen dem verfälschenden Kirchenchristentum gegenüberstellt, gibt als Zukunftsperspektive jedoch lediglich einen Blick in die Vergangenheit und kann schon deswegen nicht dem Geist der neuen Zeit entsprechen. Ebenso ist die Aussicht, mit der der Roman schließt, dass auch ohne Christentum die Menschheit »fortbestehen«167 werde, nur ein schwacher Trost und keine Perspektive für die Zukunft. Und bereits am Ende des Sadduzäers steht die Aussicht auf Spinoza und dessen pantheistische Naturfrömmigkeit: auch hier die Wiederkehr des Alten als Verkündigung des Neuen. Wie also ist die politische Erlösungsstunde herbeizuführen, das Ideal des Liberalismus in die Wirklichkeit zu überführen, wenn Wallys durchkältetes Schicksal, anders als das Werthers, keine Anteilnahme hervorruft, keine fiebernde Jüngerschaft bilden wird? Wohl nur mit »gute[m] Wille[n]«168 und »jede[r] Minute Leben«169: einer rastlos tätigen Feder.

163 164 165 166 167 168 169

Karl Gutzkow, Briefe, S. 37. Ebd., S. 254. Ebd., S. 50, 138, 270, 216  f. Alle Zitate: Karl Gutzkow, Wally, S. 123. Ebd., S. 132. Karl Gutzkow, Briefe, S. 216. Karl Gutzkow, Wally, S. 59.



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VII. Zusammenfassung und Ausblick In Wally richtet sich diese Feder vergeblich gegen das Epigonalitätsbewusstsein, das sich nicht von den Voraussetzungen der Vergangenheit befreien kann. Im Zeitbewusstsein entspricht dies dem »langweilige[n] ewige[n] Einerlei«, das schon das Problem der Figuren von Tiecks Lovell 40  Jahre zuvor war. Dass im Bewusstsein der Wally-Figuren nun dennoch allmählich eine Vorwärtsbewegung möglich ist, resultiert aus veränderten und sich ergänzenden bewusstseinsgeschichtlichen und historischen Rahmenbedingungen: den, wie Gutzkow einmal schreibt, zusammengeschrumpften Herzen und der daraus gewandelten Bedürfnislage sowie der zunehmenden politisch-strukturellen Erosion des Absolutismus, aus der die Julirevolution hervorgegangen ist und zu der sie zugleich beigetragen hat – ein politischer Lichtblick, der durch das Epigonalitätsbewusstsein aber auch unumgänglich seine theologische Färbung behält. Damit wird deutlich, was bei Gutzkows Politisierungsschub durch die Julirevolution bewusstseinsgeschichtlich geschieht. Die Politisierung geht aus der Notwendigkeit hervor, trotz Aushöhlung der christlichen Glaubensgewissheit weiterhin eine Idee über das Weltganze zu setzen, da das Bewusstsein durch die christliche Sozialisierung seit einer ungefähren Ewigkeit darauf angewiesen ist. Die Politisierung ermöglicht es, die verloren gegangene zeitliche Gerichtetheit wiederherzustellen und dem Chronologieverlangen des christlich konditionierten Bewusstseins entgegenzukommen. Dies wird in Wally, aber auch schon in den Briefen am augenfälligsten durch die Überblendung von republikanisch-politischer Zukunftsperspektive und Apokalypse angezeigt. Die theologische Heils- und Richtstunde wird so zu einer politischen. Mit derselben Tücke: Sie will und will einfach nicht anbrechen. Die Briefe schließen mit der Aussicht des nahenden Umsturzes, Wally endet mit dem Tod einer ihrer zwei Hauptfiguren und der dürftigen Hoffnung, dass die von ihr repräsentierte Gesellschafts- und Glaubensform ihr bald folgen werde, sowie der ernüchternd-schwachen Bekräftigung, dass die Menschheit auch ohne Christentum fortbestehen werde. Durch das erwartende Zuarbeiten auf die politische Erlösungsstunde kann Gutzkow nur stichpunktartig politische Gestaltungsperspektiven entwickeln, weil er jede Minute dafür verwenden muss, gegen das anzuschreiben, was es seiner Überzeugung nach zu überwinden gilt. Er ist daher überfordert, als der Tag des politischen Heils 1848 plötzlich an der Schwelle zur Wirklichkeit steht. Zwar schreibt er im Rückblick über die Märzrevolution: »Jede Gestaltung war möglich.« Und fährt fort: »Ein neuer Gedanke muß in diese Leute geschleudert werden!« Sein politisch sachverständiges und vielversprechendes Gestaltungskonzept lautet dann: »Der König soll die allgemeine Volksbewaffnung, die Bürgergarde dekretieren!« Man erinnert sich an das zu Beginn von Wally zitierte

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Offenbarungsbild vom Kampf zwischen der Frau und dem Drachen, die in der Auslegung des Briefe-Narren für Volkssouveränität und Königtum stehen. »Graf Arnim« hält dem entgegen: »›Volksbewaffnung?‹ […] ›Was denken Sie sich denn unter Volksbewaffnung?‹«170 Die Antwort bleibt nicht nur im Moment dieser Frage, sondern auch in der autobiographischen Rückschau Gutzkows unbeantwortet und zeigt, dass er nie den Idealismus als epigonales Bewusstseinsbedürfnis, nie den Konflikt von Idee und Wirklichkeit überwinden, nie der Wirklichkeit ihren Eigenwert geben konnte, wie er noch einmal zwanzig Jahre später, 1868, schreibt: »Irgend einen Zweck, eine Idee, eine Zuspitzung muß auch die Beobachtung und Schilderung des Getreidesäens oder der Schafzucht oder der doppelten Buchhaltung haben.« Außerdem setzt er sich hier, noch immer, mit Goethes poetischer Ächtung der Reflexion auseinander: »Die Reflexion ist an sich unpoetisch.« Dieser Sentenz hält Gutzkow, vielmehr will ihr und ihrem Urheber die »›Poesie des Gedankens‹« entgegenhalten, deren Erläuterung vor allem eines deutlich macht: Anstrengung. Denn diese Reflexionspoesie sei die »individuelle Genesis des Gedankens, der im Gemüth noch einmal vollzogene oder geprüfte dialektische Proceß.« In diesem Kontext relativiert Gutzkow auch den Innovationsgehalt seines Konzepts vom Roman des Nebeneinander, das als Idee der geschilderten Romanwirklichkeit übergeordnet wird; dieser Romantypus, und dabei hat Gutzkow nun wohl die Wanderjahre vor Augen, sei nicht erstmals, aber »noch mehr als früher« ein »Spiegel des Lebens«171. Was sich so andeutet, bestätigt sich im Vorwort der fünften Auflage der Ritter vom Geiste (1869), in der die vorwärts, aber ziellos: »spiralförmig fortkreiselnde[] Unruhe«172 Wallys mit der Idee des Fortschritts verbunden wird und damit eine entschiedene Richtung erhält, die jedoch nicht in die Zukunft, sondern in die Vergangenheit führt: »Der Kreislauf der Geschichte ist eben spiralförmig. Was einmal gewesen, kehrt mit gewissen Modifikationen immer wieder.«173 Dies ist nicht die Überwindung, sondern die Vollendung des Epigonalitätsbewusstseins, wie es in Wally und ihrem tendenziellen und darstellerischen Durcheinander gut 35 Jahre zuvor problematisiert wurde und nicht bewältigt werden konnte. Ein Jahr später schreibt Gutzkow-Gegner Julian Schmidt in seinen Bildern aus dem geistigen Leben unserer Zeit (1870) mit dem inzwischen altbekannten, man möchte sagen: altdeutschen Pathos des revolutionären Neu170 Karl Gutzkow, Bären, S. 538  f. 171 Alle Zitate: Karl Gutzkow, Walten und Schaffen des Genius (1868), in: ders., Schriften, Bd. 2, S. 1330  f. 172 Karl Gutzkow, Wally, S. 42. 173 Karl Gutzkow, Vorrede zur fünften Auflage der Ritter vom Geiste, in: Demetz (Hg.), Gutzkow, S. 239.



epigonalität

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anbruchs: »Der Glaube der vergangenen Zeit war: das Ideal sei der Wirklichkeit Feind und hebe sie auf; unser Glaube dagegen ist, daß die Idee sich in der Wirklichkeit realisiert, und diesen Glauben halten wir für das Princip der Zukunft.«174 Er hat Gutzkow damit über sich selbst hinausgehoben und ihn zur Erfüllung desjenigen Anspruches verholfen, an dem dieser selbst stets gescheitert ist: Progone zu werden.

174 Julian Schmidt, Bilder aus dem geistigen Leben unserer Zeit, Leipzig 1870, S. 34.

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»das ist auch wohl poesie!« Dinge sammeln und Gedichte schreiben bei Eduard Mörike Die Bezeichnung ‚Dinggedicht‘ charakterisiert eine Vielzahl von Mörikes Gedichten. Dabei steht in bisherigen Forschungsarbeiten über Dinggedichte vor allem das Verhältnis von Objekt, subjektiver Anschauung und ästhetischer Gestaltung im Zentrum der Untersuchung.1 Ausgehend von Objekten, die sich in der MörikeSammlung des Deutschen Literaturarchivs Marbach (DLA) finden, werden drei exemplarische Gedichte einer intermedialen Lektüre unterzogen und der Begriff des Dinggedichts um neue Bedeutungsdimensionen ergänzt, die aus ihrer Materialität und Historizität hervorgehen. Gerade die Transformation von Dingen in Kunstwerke und damit die kunstvolle Verbindung von Gegenstand und Text in einem intermedialen Text-Objekt-Kunstwerk soll näher beleuchtet werden. Schließlich erhält in diesem Kontext das Zusammentragen und Aufbewahren von Gedichten, Objekten und intermedialen Kunstwerken in literarischen Anthologien und archivalischen Sammlungen selbst poetische Qualität, da in und mit ihnen die Transformation zum Kunstwerk im Kontext anderer literarischer und historischer Kulturgüter fortgesetzt und diese Kunstwerke als publikations- und archivwürdig bewertet werden.

1

Vgl. Thomas Althaus, Nichtssagende Dinge. Die Funktion des Unwichtigen bei Mörike, in: Eduard Mörike. Ästhetik und Geselligkeit, hg. von Georg Braungart. Tübingen 2004, S. 157– 176; Yūji Nawata, Dinggedichte Eduard Mörikes, in: ders., Kulturwissenschaftliche Komparatistik, Berlin 2016, S. 29–48; Günter Oesterle, Dingpoetik bei Eduard Mörike, in: Kultur & Gespenster 17 (2016), S. 141–155; Rudolf Schier, Consciousness and the Object. Keats’s Urn and Mörike’s Lamp, in: Canadian Review of Comparative Literature/Revue Canadienne de Littérature Comparée, 10, 1 (1983), S. 31–39; Ulrich Plass, Schreibpult, Lampe, Uhr. Kommentar zur Einrichtung von Mörikes Dinggedichten, in: Zeitschrift für deutsche Philologie, H.4 (2010), Berlin 2010, S. 533–558; Ulrich Plass, Verlust und Gewinn der Dinge in Rainer Maria Rilkes und Gertrude Steins Dinggedichten, in: Handbuch Literatur & materielle Kultur, hg. von Susanne Scholz und Ulrike Vedder, Berlin 2018, 297–304; Brian A. Rowley, Brimstone, beech, and lamp-bowl: Eduard Mörike’s things, in: English Goethe Society. 62 (1991/92), S. 119–138.

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Das Dinggedicht und Gelegenheitsdichtung Ulrich Kittstein hat an zahlreichen Beispielen herausgestellt, dass Mörikes Lyrik »der markante Zug des Konkreten und Plastischen«2 eigen sei. Die explizite Referenz auf Gegenstände, die Materialität und »Genauigkeit«3 seiner Darstellungen seien charakteristisch. Der Begriff Dinggedicht entstammt Kurt Opperts Studie Das Dinggedicht. Eine Kunstform bei Mörike, Meyer und Rilke4 (1926). Mörike gilt seither als Begründer dieser lyrischen Gattung. Seine Poetik objektbezogener Lyrik unterscheidet sich jedoch von der Conrad Ferdinand Meyers5 und Rainer Maria Rilkes6 in Bezug auf Referentialität und Nutzungsweise von Objekten. Im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft definiert Wolfgang E. Müller: Der in der frühen Moderne entstandene, objektbezogene Typus des Gedichts, das einen Gegenstand unter Reduktion des Ichbezugs der lyrischen Aussage und Verzicht auf explizite subjektive Deutung in seiner Dinglichkeit darstellt  […], steht in der Spannung zwischen Objekt- und Subjektbezug, zwischen Gegenstandstreue und imaginativer Sicht, zwischen realistischer und symbolischer Darstellung.7 2 3 4 5

6

7

Ulrich Kittstein, Eduard Mörike. Jenseits der Idylle, Darmstadt 2015, S. 102. Ebd., S. 103. Kurt Oppert, Das Dinggedicht. Eine Kunstform bei Mörike, Meyer und Rilke, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 4, 1926, S. 747–783. Vgl. bspw. Hans Zeller, Abbildung des Spiegelbilds. C.F. Meyers Verhältnis zur bildenden Kunst am Beispiel des Gedichts »Der römische Brunnen«, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 18, 1968, S. 72–80. Vgl. z.  B. Rainer Maria Rilke, Gedichte. 1895 bis 1910, hg. von Manfred Engel und Ulrich Fülle­born, Frankfurt a. M. 1996, S. 841  ff. ; Martina Krießbach, Rilke und Rodin. Wege einer Erfahrung des Plastischen. Frankfurt a. M. 1981; Manfred Back, »Das Anschauen ist eine so wunderbare Sache«. Rilkes ›Panther‹ nach dem Sprung ins Dinggedicht, in: Kleine Lauben, Arcadien und Schnabelewopski, hg. von Ingo Wintermeyer, Würzburg 1995, S. 123–131; Walter Busch, Rilkes ›Venezianischer Morgen‹. Paradigmatische Analyse eines »Ding­gedichts«, in: Busch, Walter. Bild – Gebärde – Zeugenschaft, Bozen 2003, S. 47–66; Maria Endreva, Das Kunst-Ding in Rilkes kunstkritischen Werken und das Konzept des Dinggedichts, in: Erzählte Dinge, hg. von José Brunner, Göttingen 2015, S. 128–142; Wolfgang G. Müller, Rilke, Husserl und die Dinglyrik der Moderne, in: Rilke und die Weltliteratur, Düsseldorf 1999, S. 214–235; Gerhard Neumann, Rilkes Dinggedicht, in: Poesie als Auftrag, Würzburg 2001, S. 143–161; Lawrence Ryan, Rilke’s »Dinggedichte«. The »thing« as »poem in itself«, in: Rilke-Rezeptionen, Tübingen 1995, S. 27–35; William Waters, The elusiveness of things in Rilke’s »Dinggedichte«, in: Das lyrische Bild, Paderborn 2010, S. 321–336. Wolfgang E. Müller, Dinggedicht, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, hg. von Georg Braungart, Harald Fricke, Klaus Grubmüller, Jan-Dirk Müller und Klaus Weimar, Berlin, New York 1997 (Bd. 1), S. 366–367.



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Das Dinggedicht veranschaulicht Alltags- oder Kunstgegenstände und spricht z.  T. aus ihrer Perspektive. Die im Vergleich z.  B. zur Erlebnisdichtung scheinbar geringe Bedeutung des lyrischen Ich mag vor allem für die Dinggedichte relevant zu sein, bei denen die Referenz auf Gegenstände abstrakt und die Dinge zu Symbolen geworden sind. Durch die lyrische Bearbeitung erscheinen Objekte »plötzlich offen, nicht determiniert« und eröffnen »[…] Raum für neuen Sinn«8. Diese neue Sinnhaftigkeit der Dinge bezieht sich zuerst auf ihre neue Zugehörigkeit zur Welt der Kunst, in der sie sich, aufgrund ihrer Form, Materialität, Räumlichkeit und Zeitlichkeit »als eine[n] Gegenstand[] des Schönen«9 konstituieren. Sie oszillieren dabei zwischen dem Status als Ding und als Kunstding und damit verbunden in ihrer Bedeutung im Gedicht und in der außerliterarischen Welt.10 Dinggedichte veranschaulichen sowohl das Ding in seiner Materialität und seinem kulturgeschichtlichen Kontext als auch den Prozess seiner Verwandlung in ein Kunstobjekt. Dadurch werden die Wechselwirkung und die Frage nach dem Primat von Dingen und Dichtung deutlich. In Bezug auf Mörikes intermediale Gedichte bzw. Text-Objekte, bei denen der Objektbezug konkret ist, erweisen sich zwei Fragen als zentral. Zum einen muss die Art und Weise der Medienkombination geklärt werden, also wie sich Text und Objekt zueinander verhalten, inwiefern es sich um Ding-Gedichte handelt, also um lyrische Texte über Dinge, oder um Objekt-Kunst, bei der der lyrische Text nur einen Teil des intermedialen Gesamtkunstwerks darstellt. Die zweite Frage betrifft die Referenz auf den Gegenstand sowie auf den Moment der künstlerischen Bearbeitung: Inwiefern handelt es sich bei Mörikes objektbezogener Lyrik um Gelegenheitsdichtung, die auf das konkrete Objekt als Anlass im Kontext der biedermeierlichen Geselligkeitskultur11 Bezug nimmt? Hierbei eröffnet sich eine 8

Rolf Eichhorn, Mörikes Dinggedichte. Das schöne Sein der Dinge. Interpretation und Deu­ tung, Marburg 2007, S. 288. 9 Hans-Ulrich Lindken, Mörikes Gedicht ›Inschrift auf eine Uhr mit den drei Horen‹, in: Wirkendes Wort 18, 1968, S. 131–135, hier S. 135. 10 Dorothee Kimmich, Lebendige Dinge in der Moderne, Konstanz 2011, S. 30. Kimmich betont die Modernität der Grenzüberschreitung von Natur- bzw. Alltagsgegenstand und Artefakt. Die Proklamation eines »New Materialism« (S. 15) stellt einer philologisch-hermeneutischen eine anthropologische Sicht auf Dichtung im Rahmen der Kultur gegenüber und erlaubt damit das Eindringen des Materiell-Historischen, z.  T. Undeutbaren in den Umgang mit Texten. 11 Der Problematik der Epochenbezeichnung Biedermeier (bzw. Restaurationszeit, Junges Deutsch­land, nach Goethe, Nachromantik etc.) und von Epochenbezeichnungen im Allgemeinen bin ich mir bewusst. Zentral sind vor allem folgende als typisch angesehene Merkmale eines angenommenen »Biedermeier« an: eine spezifische Geselligkeits- und Freundschaftskultur, die Privatheit, die dilettantische Naturwissenschaft und die Abgrenzung von vorherigen literarischen Kulturen wie Klassik und Romantik. Vgl. zur Dis-

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konkrete, gelegenheitsbezogene Perspektive auf Mörikes Dinggedichte, die zu bestimmten historischen Zeitpunkten und im Rahmen einer geselligen Freundschafts-, Dichtungs- und Gesprächskultur entstanden. Dabei ist die Intermedialität, die Integration von Objekten und Text ein Instrument, um die Auseinandersetzung mit Objekten und Anlässen der außerliterarischen Welt künstlerisch zu gestalten. Die Materialität und Zeit- bzw. Kulturgebundenheit der Dinge geben über die Art und Weise der Dichtung und über Bedeutungsebenen Auskunft, welche ohne ihre Kenntnis verborgen blieben.12

Die Parallelität von Poetisierung und Musealisierung In der Mörike-Sammlung des DLA sind ca. 45 Einzelobjekte und Objektgruppen (z.  B. seine Fossiliensammlung) erhalten, die teils von Mörike selbst, teils von seinen Nachkommen und Freunden in Erinnerung an den Menschen und Künstler zusammengetragen und aufbewahrt wurden. Diese Souvenirs sind das Ergebnis einer Transformation von Gebrauchsgegenständen in Sammlungsstücke. Dieser Musealisierungsprozess, so die These dieser Studie, verläuft parallel zu einer Poetisierung, bei der (Alltags-)Objekte lyrisch gestaltet und die Gedichte in eine Gedichtsammlung integriert und publiziert werden. Die Objekte werden somit auf zweierlei Weise transformiert: Sie werden Teil des poetisch-künstlerischen Werks und Teil der Sammlung Mörikes. Nach Eva Sturm umfasst der Musealisierungsprozess drei Phasen: Ein Gegenstand verliert seine ursprüngliche Funktion (Entfunktionalisierung/Funktionsveränderung) und wird in einen anderen Kontext, den der Kunst bzw. der Sammlung, überführt (Kontextveränderung). Dabei verändern sich Betrachtungsweise und Gebrauch (veränderte Rezeption).13 Ziel ist es, im Folgenden zu zeigen, dass Mörikes Poetisierung eines Objekts vergleichbare Etappen aufweist. Der Alltagsgegenstand wird Teil eines Textkussion des Biedermeiers z.  B.: Michael Titzmann, Zur Einleitung. »Biedermeier«  – ein literarhistorischer Problemfall, in: Zwischen Goethezeit und Realismus. Wandel und Spezifik in der Phase des Biedermeier, hg. von Michael Titzmann, Berlin 2002, S. 1–7; Friedrich Sengle, Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848, Stuttgart 1971–80. 12 Vgl. z.  B. Cornelia Ortlieb, Verse unter Umständen. Goethes und Mallarmés SchreibMaterialien, in: Ästhetik der Materialität, hg. von Christiane Heibach und Carsten Rohde, Paderborn 2015, S. 173–196, hier S. 178 und 184; Cornelia Ortlieb, Das Artefakt der Dichtung. »Goethe’s Schreib-Calender 1822«, in: Biographien des Buches, hg. von Ulrike Gleixner, Constanze Baum, Jörg Münkner und Hole Rößler, Göttingen 2017, S. 228–249, hier S. 228: »Es [das Artefakt] hat […] seinen Status gewechselt, von einem einfachen Gebrauchsgegenstand zu einem aufwendig gerahmten und entsprechend wertvollen Sammlungsobjekt.« 13 Eva Sturm, Konservierte Welt. Museum und Musealisierung, Berlin 1991, S. 104  ff.



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Objekt-Kunstwerks oder Dinggedichts, welches auf die biedermeierliche Geselligkeitskultur verweist. Indem das Kunstwerk diesen ursprünglichen Wirkungsort verlässt und in eine Anthologie bzw. in die Mörike-Sammlung aufgenommen wird (Kontextveränderung), verliert es teilweise die konkrete Funktion als Element dieser Kommunikations- und Lebensform (Entfunktionalisierung/Funktionsveränderung) und wird fortan als publizierter Text gelesen bzw. als Exponat ausgestellt (veränderte Rezeption). In dieser Funktion verweist es auf seine ursprüngliche (historische) Bedeutung und wird zum mehrdeutigen Kunstwerk14, in dem außerliterarische Alltagswelt und Kunstsphäre verschränkt sind. Literarische Texte in Anthologien und Sammlungsstücke in (literarischen) Museen, Archiven und Bibliotheken durchlaufen einen vergleichbaren Transformationsprozess. Das Merkmal der Provenienz kann somit auf die Entstehung bzw. die Herkunft15 des Gebrauchsgegenstandes sowie auch auf dessen Transformation in ein Kunstobjekt verweisen. Im Rahmen poetologischer Analysen sind wechselseitige  – intermediale – Bezugnahmen deshalb gerechtfertigt und notwendig. Sie stellen Kunstwerke in historische und ästhetisch-poetische Kontexte und eröffnen Zugänge und Bedeutungsebenen in Materialität, Medialität und  – bezogen auf Publikationsformen und Kulturerbesammlungen – Meta-Medialität16 bzw. MetaLiterarizität17. Der vorliegende Aufsatz führt dies anhand von drei Gedichten bzw. Text-Objekten vor, anhand derer der poetologische und der museologische Prozess als verschränkte Prozesse deutlich werden. Aus dieser Perspektive werden bereits erfolgte Beobachtungen über die Poetisierung von Alltagsgegenständen, die Genauigkeit der lyrischen Darstellung, die Traditionsbindung und die poetische Modernität von Mörikes Dichtung ergänzt und neu akzentuiert.

14 Vgl. Perspektiven auf die Mehrdeutigkeit und Funktion der Dinge als Erkenntnisobjekte z.  B. in: Hans Peter Hahn, Der Eigensinn der Dinge. Warum sich Objekte in bestimmten Momenten anders verhalten, als sie es sollten, in: Helden 4 (2016), 1, S. 9–15, hier S. 14. DOI: 10.6094/helden.heroes.heros./2016/01/02 (11. 1. 2018). 15 Vgl. Christina Tsouparopoulou und Thomas Meier, Artefakt, in: Materiale Textkulturen. Konzepte  – Materialien  – Praktiken, hg. von Thomas Meier, Michael R. Ott und Rebecca Sauer, S. 47–62, hier S. 50. https://doi.org/10.1515/9783110371291.fm (20. 12. 2018). 16 Markus Krajewski, Die Bibliothek als Meta-Medium, in: Handbuch Bibliothek. Geschichte, Aufgaben, Perspektiven, hg. von Konrad Umlauf, Stuttgart 2012, S. 81–89. 17 Dirk Werle, Literaturtheorie als Bibliothekstheorie, in: Literaturwissenschaft und Bibliotheken, hg. von Stefan Alker-Windbichler und Achim Hölter, Göttingen 2015 (Bibliothek im Kontext), S. 13–26.

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Auf ein Ei geschrieben Auf ein Ei geschrieben Ostern ist zwar schon vorbei, Also dieß kein Osterei; Doch wer sagt, es sei kein Segen, Wenn im Mai die Hasen legen? Aus der Pfanne, aus dem Schmalz Schmeckt ein Eilein jedenfalls, Und kurzum, mich tät’s gaudieren, Dir dies Ei zu präsentieren, Und zugleich tät es mich kitzeln, Dir ein Rätsel drauf zu kritzeln. Die Sophisten und die Pfaffen Stritten sich mit viel Geschrei: Was hat Gott zuerst erschaffen, Wohl die Henne? wohl das Ei? Wäre das so schwer zu lösen? Erstlich ward ein Ei erdacht: Doch weil noch kein Huhn gewesen, Schatz, so hat’s der Has gebracht. Das Gedicht Auf ein Ei geschrieben18 reflektiert den Ursprung von Dichtung und Schöpfung und die spezifische Bedeutungsverschiebung des Eis. Der Text besteht aus drei Versgruppen mit einmal zehn und zweimal vier Zeilen und weist ein regelmäßiges Metrum vierhebiger Trochäen und Paar- sowie Kreuzreime auf. Bestünden regelmäßige Quartette, könnte man von Romanzenstrophen sprechen. Mörikes formale Anleihe stellt seinen Gedichttext in die Tradition dieser Gattung sowie in die ihr inhärente Spannung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, von Alltags- und Kunstsprache. Die Dynamik der Reime und Versenden nimmt den Charakter der Mündlichkeit an; das Gedicht ist »durchsetzt mit regionalen

18 Eduard Mörike, Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 1,1: Gedichte. Ausgabe von 1867, Stuttgart 2003, S. 354. Im Folgenden im laufenden Text unter Angabe des Verses zitiert.



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Spracheigentümlichkeiten und den Wiederholungen alltäglichen Sprechens (»mich tät’s gaudiren«, »tät es mich kitzeln«)«19. Bald nach Ostern 1844 überreicht Mörike einer Freundin ein Geschenk, wobei der auf das Ei geschriebene Text die Gesprächssituation im Moment der Gabe nachstellt. Dabei werden die ursprünglichen Bedeutungen des Eis als Symbol für das Osterfest (»Ostern ist zwar schon vorbei,/ Also dieß kein Osterei.«[1/2]) und als Nahrungsmittel (»Aus der Pfanne, aus dem Schmalz/ Schmeckt ein Eilein jedenfalls« [5/6]) überwunden und das Ei in einen geselligen Zusammenhang eingefügt. Die kulturhistorische und die sinnlich-kulinarische Bedeutungsdimension bleiben als Ausgangspunkte und Vorgeschichte erhalten und dienen der Anbindung der reflexiven und künstlerischen Verarbeitung des Eis an die Lebenswelt und das direkte Umfeld Mörikes. Die literarische Darbietung ist episch und lyrisch und wirft zwei Fragen auf: Was für ein Ding ist dieses Ei? Und: Was ist sein Ursprung? Als humoristische Teilantwort folgt der Verweis auf den Osterhasen [3–4]. Das lyrische Ich und der Hase werden als Geschenke- und Eierbringer, als potentielle Segensbringer assoziiert. Volkstümliche Festbräuche, Dichtung und Geschenke im Freundes- und Familienkreis stehen somit in der Tradition der christlichen Heilsbotschaft. Sie konkretisieren religiöse Lehren und Riten und spenden Freude. Bereits in dieser Form ist das Ei jedoch auch schon ein Artefakt, ein Gestaltungsspielraum des Menschen, wobei die Funktion, Küken auszubrüten, von vornherein ausgeschlossen ist. Das ursprüngliche Naturafakt war schon als Spiegelei und als Ostersymbol Teil kulinarischer und religiöser Kultur geworden. Dies nutzt das lyrische Ich und entwickelt es in seinem Text weiter. In der zweiten Versgruppe präsentiert das lyrische Ich das Rätsel: Bei der Henne-Ei-Problematik handelt es sich seit der Antike um ein philosophisches Problem, das durch die Gegenpositionen von Philosophie (Logik) und Theologie (Kreationismus) noch verschärft worden ist. Das lyrische Ich verweist darauf, indem es die Personengruppen als »Sophisten« und »Pfaffen« verspottet: Ihre abstrakte bis christlich-dogmatische Herangehensweise zeugt von Ferne zu Alltag und Lebensrealität. Das lyrische Ich distanziert sich davon, selbst Theologe oder Philosoph zu sein. Stellt man sich nun den ehemaligen Pfarrer Mörike vor, wie er diesen Text im privaten Umfeld vorgetragen haben mag, werden der Humor und der künstlerisch-gesellige Gestaltungswille deutlich. Bei der Henne-Ei-Problematik handelt es sich auch um ein poetologisches Problem, welches nach dem Ursprung und dem Charakter von Dichtung fragt:

19 Mörike-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Inge Wild und Reiner Wild, Stuttgart 2004, S. 140.

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Was war zuerst da, das Ding oder das Gedicht?20 In der letzten Versgruppe löst das lyrische Ich diese Frage auf kreative und humoristische Weise in einem Dreischritt: Ein Ei wird entworfen, wobei bewusst in der Schwebe bleibt, ob es sich um den Gegenstand oder seine künstlerische Gestaltung handelt. Dieses Ei stammt jedoch nicht von der Henne, sondern wird vom Osterhasen  – zugleich Mörike als Schöpfer – in die Welt gebracht. Das unlösbare philosophische Problem kann mit Hilfe von Brauchtum (Ostereier gestalten und verschenken) und Geselligkeit (Ei als Geschenk und Freude im Freundes- und Familienkreis) gelöst werden. Die Absurdität als vermeintliche Lösung des Paradoxons ist kalkulierte Pointe. Bei dem Ei handelt es sich also um ein dichterisch reflektiertes Text-Objekt und ein Geschenk im Rahmen der Geselligkeit, welches an »gesellige und künstlerische Praktiken an[schließt] und [sie] überbietet«21. Im Gedicht Auf ein Ei geschrieben ist der Prozess der Verwandlung des Eis in ein Text-Objekt und in ein freundschaftliches Geschenk und Erinnerungsstück präsent. Die Poetisierung des Gegenstandes und des geselligen Moments, in dem er verschenkt wurde, wird durch die Überlieferung von Eierschalen belegt (Abb.  1). Leider hat sich das entsprechende Ei mit diesem Text nicht erhalten, wohl aber ein anderes, auf das Mörike zeichnete und schrieb. Es befindet sich in der Mörike-Sammlung im DLA und ist inzwischen zerbrochen. Es zeigt eine Büste, eine dörfliche Szene mit Tor, Fachwerkhäusern und Straße sowie Text, die in sepiafarbener Tinte aufgetragen wurden. Mörike hat wohl nicht nur einmal ein Ei zum Gegenstand poetisch- künstlerischer Tätigkeit gemacht. Über die Poetisierung des Eis im Dinggedicht hinaus erlebten die bemalten und beschriebenen Eierschalen eine Musealisierung. Sie werden als Geschenk mit Text gelesen und betrachtet, möglicherweise als Souvenir an die Begegnung mit Mörike aufbewahrt und im geselligen Kreise zum Andenken angeschaut und besprochen (veränderte Rezeption).Beide Funktionen des Eis sind nicht zugleich möglich: Der Vorgang des Ausblasens macht die Statusänderung deutlich: Der Inhalt wird mit Hilfe von zwei Löchern entfernt – Grundlage für die künstlerische Bearbeitung Mörikes ist die Schale. Das Objekt sieht aus wie ein Ei, ist jedoch keines mehr, sondern verweist nur noch durch seine Gestalt und Materialität auf diese Ursprungsbedeutung. Es steht nun dem Gestaltungswillen des 20 »[…] dass es in menschlichen Kulturen niemals neutrale Stoffe gegeben hat – immer sind sie auch Resultate von kulturellen Praktiken (der Verarbeitung, der Gestaltung, des Gebrauchs), die wiederum Diskursfelder und Narrative erzeugen  – oder ist es umgekehrt? Die Henne-Ei-Frage wird auch hier nicht eindeutig zu beantworten sein.« In: Ästhetik der Materialität, hg. von Christiane Heibach und Carsten Rhode, Paderborn 2015, S. 22. 21 Vgl. die Analyse von Mallarmés Eventails in: Cornelia Ortlieb, Verse unter Umständen. Goe­thes und Mallarmés Schreib-Materialien, in: Ästhetik der Materialität, S. 173–196, hier S. 185.



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Abb. 1: B 1991.K 0280: Eierschalen mit Zeichnung und Text von Eduard Mörike (Foto: DLA)

lyrisch-künstlerischen Ich zur Verfügung, das entscheidet, inwiefern es auf die Vorbedeutungen Bezug nimmt, um neue Bedeutungen zu kreieren: Es wandelt hier den Osterbrauch zu einem Brauch der biedermeierlichen Geselligkeit ab und überführt dabei die Henne-Ei-Problematik in die poetologische Frage über den Ursprung von Ding und Gedicht im Dinggedicht. Mithin liegt das Augenmerk auf den kreativen und geselligen Formen und Möglichkeiten des Umgangs mit (Alltags-)Gegenständen. Die Phasen der Musealisierung lassen sich als Phasen der Poetisierung auch für die Text- bzw. integrierte Text-Objekt-Interpretation nutzbar machen. Parallel zur Musealisierung erfahren das Objekt und der gesellige Moment eine Statusveränderung im Prozess der Poetisierung. Ei und Ereignis werden zu referentiellen Dingen im Gelegenheitsgedicht, womit eine erste Kontextverschiebung vom Konkret-Historischen hin zum dichterisch Reflektierten und Gestalteten erfolgt. Das Gedicht selbst hat seine ursprüngliche Funktion im Rahmen der Freundschaftsund Geselligkeitskultur, bringt die Verbundenheit zwischen dem lyrischen Ich und seinem »Schatz« zum Ausdruck; es ist ein Geschenk und ein Erinnerungsstück. Mit der Aufnahme in eine Anthologie wird das Gedicht vom Objekt und von der konkreten Gelegenheit getrennt und verändert seine Funktion: Es wird zu einem fiktionalen Sprachkunstwerk und in dieser Form (nur noch) als humoristisches Gelegenheitsgedicht rezipiert, wobei die Gelegenheit sowie auch der konkrete Objektbezug unbekannt bleiben. Der Leser kann Mörikes Kunstfertigkeit nur auf der Ebene der Sprache verstehen; aufgrund der Unkenntnis der Gelegenheit und des kunsthandwerklichen Objekts bleibt diese Referenz unbestimmt, Bedeu-

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tungsdimensionen und Mörikes intermediale Kunstfertigkeit bleiben verborgen. Text und originales Text-Objekt gehen in neue Kontexte ein: Sie werden Teil von Sammlungen, von einer Gedichtanthologie und einer Sammlung von Souvenirs. Diese Kontextveränderung hat Auswirkungen auf die Text-Objekt-Kombination: Wenn das originale Text-Objekt in die Sammlung von Erinnerungsstücken aufgenommen wird, so wird es zugleich vom Text getrennt, der ohne Objekt- und Gelegenheitsbezug in einer Anthologie publiziert wird.22 Die Parallelität von Musealisierung und Poetisierung des Dings Ei zeigt eine unterschiedliche Rezeption und Interpretation je nach Kontext: Vom originalen Text-Objekt hin zum zunehmend von Ausgangskontext und Objekt abstrahierten Gedichttext verliert sich die Besonderheit und Konkretheit des intermedialen Gesamtkunstwerks. »Somit leistet das Gedicht,« so Inge Wild, »auf leichte und scherzhafte Weise die für Mörikes Gelegenheitsdichtung typische Verbindung von Alltäglichem und Poetischem, die gleichzeitig durch die Publikation in den Sammlungen [gemeint sind die Lyrikausgaben] einem größeren Publikum zugänglich gemacht wird.«23 Resultat ist ein Auseinandertreten der Rezeption von Gedicht und Text-Objekt, die jeweils separate Bedeutungen erhalten, als humoristisches Gelegenheitsgedicht einerseits und als Zeugnis von Mörikes kunsthandwerklicher Tätigkeit und von biedermeierlicher Alltagskultur andererseits.

Der Spiegel zum Besitzer Augenfällig wird die Bedeutung des geselligen, alltagsnahen Bezugspunkts und der intermedialen Poetik bei Sammlungsstücken, die nur als intermediale Kunstwerke überliefert und deshalb stärker im Kontext biedermeierlicher Kultur verhaftet geblieben sind. Dies ist der Fall bei einem Reisespiegel, dessen Spiegelglas zerbrochen ist und der mit dem Gedicht Der Spiegel zum Besitzer versehen wurde. Von Mörike aufbewahrt, fand er seinen Weg in die Sammlung des DLA; der Gedichttext wurde nicht in Mörikes Gedichte[n] (11838, 21848, 31856, 41867) publiziert. In einer zweiten handschriftlichen Version als Musterkärtchen ist der Text in die historisch-kritische Ausgabe der Briefe aufgenommen worden. Nur 22 Vgl. Cornelia Ortlieb, Materialität und Paratext. Goethes »Backwerk aus Kasan« und seine Rahmungen, in: Rahmungen: Präsentationsformen und Kanoneffekte, hg. von Philip Ajouri, Ursula Kundert, Carsten Rohde (Beihefte zur Zeitschrift für deutsche Philologie 16) Berlin 2017, S.  37–56, hier S.  37: »Dinge in Sammlungen werden durch spezifische Formen der Rahmung erst zu Objekten der Betrachtung. Sie sind nicht länger Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs, […] sondern ihrer gewöhnlichen Zirkulation entzogen, […] in speziellen Arrangements […].« 23 Inge Wild und Reiner Wild, Mörike-Handbuch, S. 140  f.



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selten wurde der Spiegel bei Ausstellungen gezeigt, ein Grund dafür liegt in der Betonung des ideellen Gehalts der Mörikeschen Dichtung. Der Zauber der Gedichte Mörikes und die Geheimnisse seiner Sprache lassen sich nicht ins Visuelle übertragen und durch überlieferte Dokumente ergründen. […] So mag das Sichtbarmachen der Spuren seines Lebens, mag die Dokumentation der Geschichte seiner Dichtung, die Vergegenwärtigung der menschlichen Verflechtungen und der geistigen Einflüsse auch die Erkenntnis und das Verständnis des Dichters und seines Werkes fördern und zugleich einen Einblick in die schwäbische Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts vermitteln.24 Abgesehen vom vor der Verschrottung geretteten Cleversulzbacher Turmhahn25 fehlt im Zuge der Marbacher Dauerausstellung sowie der Sonderausstellung zu Mörikes 100. Todestag 1975 das Bewusstsein für die Bedeutung der Objekte als Kunstwerke, die pauschal als »persönliche Erinnerungsstücke« oder Dokumente der zeitgenössischen Umwelt zusammengefasst und damit der Mörike-Forschung zugunsten des Bildes eines »wahre[n], ächte[n] deutsche[n] Dichter[s]«26 entrückt wurden. In den einschlägigen Katalogen und Ausstellungen fehlen weitgehend Mörikes Text-Objekt-Kunstwerke und kunsthandwerkliche Erzeugnisse wie Vasen, Krüge und Schnitzereien bzw. werden als humoristische, selbstironische, aufs Private zielende Reflexe der eigentlichen Dichtung, jedoch kaum als eigenständige intermediale Kunstwerke begriffen. Es ist das Verdienst neuerer Forschungsarbeiten und Ausstellungen, die materiale und intermediale Dimension der Dichtung Mörikes wahrzunehmen und zu untersuchen.27 So verwundert es nicht, dass in der Ausstellung von 1975 der Rasierspiegel mit dem Gedicht Der Spiegel zum Besitzer zwar gezeigt wurde, jedoch im Rahmen von Mörikes »Gelegenheitsgedichten«, denen »in der Regel doch […] ein[] ›niedere[r] 24 Eduard Mörike. 1804, 1875, 1975. Gedenkausstellung zum 100. Todestag im Schiller-Na­tio­ nal­museum Marbach am Neckar. Texte und Dokumente, hg. von Bernhard Zeller, München 1975, S. VI. 25 Vgl. Eduard Mörike, Der alte Thurmhahn, in: Mörike, Werke und Briefe, S.  228  ff. Siehe auch: Mörike Turmhahn. Der alte Turmhahn von Cleversulzbach. Schwarzes Eisenblech, Signatur: B: 1792, DLA, Bilder und Objekte. 26 Bernhard Zeller, Eduard Mörike, S. 435. 27 Vgl. Hans Ulrich Simon und Regina Cerfontaine, Mörike und die Künste, Marbacher Katalog 57, Marbach a. N. 2004. Auch dieser Katalog macht Mörikes intermediale und kunsthandwerkliche Arbeiten nicht zum Thema. Einige Kapitel/ Ausstellungsteile widmen sich der literaturnahen Intermedialität, z.  B. der Musikalität seiner Gedichte und entsprechenden Vertonungen. Es wird über Mörike-Porträts gesprochen, die über die Inszenierung und Wahrnehmung des Autors Aufschluss geben.

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Stil‹«28 nachgesagt wurde. Der Einführungskommentar des Katalogs widmet sich dem Unverständnis gegenüber diesem »Wandel im Dichtungsverständnis Mörikes«. Mit seinen Scherzgedichten, Stammbuchversen, Geburtstags- und Alltagsgedichten begrenze er seine Perspektive auf das Singuläre. Eine besondere Kunstfertigkeit bestehe dann, wenn eine Balance zwischen der Bindung an Gelegenheit, Person oder Ding und ihrer allgemeineren Bedeutung für die Kunst gehalten werde, so dass der lyrische Text auch ohne geklärte Referenz verständlich bleibt und zu einem »autonomen Gedicht«29 werden kann. Der Spiegel sei ein Beispiel für Mörikes spezifische Form des Gelegenheitsgedichts, für seine »Offenheit« und »Bereitschaft, den geringsten Anlass« bzw. einen »nichtige[n] Gebrauchsgegenstand«30 lyrisch zu gestalten: »Mörike nimmt für seine Gedichte Objekte, wie sie sich finden lassen; die Deutung, die sie im Zug der Niederschrift erhalten, ist in ihnen zum Teil angelegt.«31 Da der Text des Spiegel-Gedichts nicht publiziert wurde, ist seine For­ schungs­geschichte kurz. Neben der Aufnahme in die Gedenkausstellung von 1975 wird er in Kristin Rheinwalds Untersuchung Eduard Mörikes Briefe. Werkstatt der Poesie (1994) als Beispiel für Hausverse gebracht, die im engen Zusammenhang zu Gelegenheiten aus dem alltäglichen Leben stehen.32 Sie macht daran deutlich, dass »die Umsetzung einer alltäglichen Begebenheit in Lyrik ein poetisches Programm«33 sei. Kittstein bespricht das Spiegel-Gedicht im Zusammenhang mit Mörikes später Lyrik als »Poesie des Alltags: Gelegenheitsdichtungen und der Kult der Dinge«34. Es sei paradigmatisch für die Funktion poetischer Texte im Rahmen biedermeierlicher Freundschaftskultur, die offenbar vom Gedicht so große Nähe und Genauigkeit bei der Schilderung der Alltagssituation und des Alltagsgegenstandes fordert, dass sie ohne konkreten und materiellen Kontext unverständlich wird.35 Dabei wird die Tatsache, dass der Spiegel Sprecher in diesem Text ist, nicht als Merkmal der Dingdichtung gewertet, sondern als komische Spitze der Gelegenheitsdichtung Mörikes, in der nach dem Familienhund Joli nun auch leblosen Gegenständen das Wort erteilt wird und sie in die Kunstsphäre erhoben werden. Die folgende Analyse stellt dieser Wahrnehmung und Einschätzung eine integrative Betrachtung des Text-Spiegel-Objekts gegenüber. Diese rekonstruiert den Moment der Verwandlung des Spiegels in ein Kunstwerk und Sammelobjekt 28 29 30 31 32 33 34 35

Bernhard Zeller, Eduard Mörike, S. 435. Ebd., S. 440. Ebd., S. 444. Ebd., S. 445. Kristin Rheinwald: Eduard Mörikes Briefe. Werkstatt der Poesie, Stuttgart 1994, S. 181  ff. Ebd., S. 182. Ulrich Kittstein, Eduard Mörike, S. 515  ff. Ebd., S. 522  f.



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(Musealisierung) gleichzeitig mit der Verfertigung des Dinggedichts (Poetisierung). Die Parallelität der musealen und poetischen Transformation lässt sich direkt anhand von Format und Materialität des Spiegels sowie an der lyrischen Textgestaltung festmachen. Es entsteht dabei eine emblematische Struktur von pictura, inscriptio und subscriptio, welche die Bestandteile des intermedialen Kunstwerks aufeinander bezieht. Bei einer zweiten Transformation vom TextObjekt-Kunstwerk zum rein sprachlichen Musterkärtchen ›übersetzt‹ Mörike die Medienkombination in verschiedene Textsorten und bearbeitet die Gedichtform, die den Charakter des Texts ändert und ihn in andere Traditionslinien rückt. Der Gedichttext auf dem Spiegel in der Mörike-Sammlung des DLA lautet: Der Spiegel zum Besitzer: Hier sieht man eine Sonn mit wunderbaren Strahlen Doch steht es dir nicht an, mit diesem Werk zu prahlen. Mein ganz unschuldig Glas, das du im Zorn zerschellt, Weis’t dir nun dein Gesicht zum Lasterbild entstellt. Darum bedenk, o Mensch, so oft du dich rasirst, Wie du mit Sanftmuth dich im Lauf des Tages zierst. Der Text besteht aus drei Sätzen in drei Volksliedstrophen mit dreihebigem Jambus und durchbrochenem Reim und suggeriert Nähe zum Alltag und einen mündlichen Gestus. Sprecher-Ich des Gedichts ist der Spiegel, der eine mahnende Ansprache an ein Du hält, welches in seiner Referenz auf den historischen Besitzer des Spiegels sowie auf den Menschen als Gattungswesen zwischen Unbestimmtheit und Konkretheit oszilliert. Der Spiegel zum Besitzer beleuchtet aus der Perspektive des Gegenstands das Verhältnis von Mensch, Ding und Dichtung sowie die Transformation vom Alltagsgegenstand hin zum sprechenden Kunstgegenstand. Die unmittelbare Gegenwart des Sprechens, ausgedrückt durch Präsens, ist zugleich der Moment, in dem das Du im zersplitterten Spiegel ein neuartiges Bild von sich entdeckt: Das Rasieren mit Hilfe des Spiegels und der Moment der Selbstbetrachtung, Reflexion und Dichtung, Alltag und Kunst

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Abb. 2: B 1790: Rasierspiegel in Holzfutteral, mit aufgeklebtem eigenhändigen Gedicht: »Der Spiegel zum Besitzer.« Spiegelglas mehrfach gesprungen, 13:7,7 cm (Foto: DLA)

fallen zusammen, weil durch den Spiegel in seiner neuen sprechenden Existenz der menschliche Adressat ein Bewusstsein dafür entwickeln kann. Der Gedichttext ist einerseits an seine Entstehungssituation gebunden, sprachlich realisiert durch Deiktika, die auf den zeitlichen und räumlichen Kontext (»Hier«, »nun«) sowie auf »diese[s]« Objekt selbst referieren. Andererseits wird diese direkte Referenz durch eine Tendenz zur Verallgemeinerung aufgehoben. Das Präsens ist in der Schwebe zwischen Gegenwärtigkeit und Allgemeingültigkeit. Dabei wird auf den täglichen Gebrauch des Spiegels beim Rasieren sowie auf den allgemeinen moralischen Gegensatz von Zorn, der das Zerbrechen des Spiegels zur Konsequenz hatte, und Sanftmut verwiesen. Der Zwischenfall, bei dem der Benutzer den Spiegel beschädigte, stellt eine Ausnahme dar, einen Wendepunkt, der zur



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Reflexion und Dichtung Anlass gab und zur Besinnung auf moralische Werte sowie auf Kunst als Bewältigungsstrategie führte. Der Bruch erhob den Spiegel aus seiner trivialen Funktion in eine erweiterte Bedeutsamkeit. Im Zentrum des Geschehens stehen das Sehen und das Reflektieren. Anstatt im Spiegel das eigene Gesicht zu erkennen, wird nach dem Bruch ein anderes Bild sichtbar: eine strahlende Sonne, deren Anblick verwundert und erfreut, wobei  – wie auch bei der Sonne am Himmel  – diese Tatsache nicht dem Menschen als Leistung zugeschrieben werden kann. Gemahnt wird vor der mutwilligen Zerstörung schöner und nützlicher Artefakte. Denn die Konsequenz sei, dass der Spiegel nicht mehr die Schönheit des Gesichtes als Pars pro toto des tugendhaften Menschen zeigt, sondern »entstellte« Schönheit, ein »Lasterbild«: Sowohl der Spiegel als auch das Abbild des Betrachters im zerbrochenen Glas sind nicht mehr schön anzusehen. Die ursprüngliche Funktion des Spiegels wurde abgewandelt. Er zeigt kein Abbild der Welt mehr, sondern ihre Verkehrung ins Lasterhafte und Schuldvolle. Die letzten beiden Verse fungieren als in eine alternative Zukunft gerichtete Morallehre: Bei Gelegenheit des morgendlichen Rasierens  – und weiteren Gelegenheiten der Selbstbetrachtung  – soll dafür gesorgt werden, sich selbst mit gutem Verhalten in Analogie zum schönen Erscheinungsbild zu schmücken. Ein solches Bild herzustellen, wäre Anlass, sich eines »Werkes« zu rühmen; im Gegensatz dazu sind es die Sonnenstrahlen sowie das im zerbrochenen Spiegel erblickte »Lasterbild« nicht. Der Spiegel, entblößt von seiner Funktion, konstituiert sich in seiner nun neu gewonnenen Schaffenskraft: Er erzeugt ein Werk, das weder schön noch nützlich noch gut ist, jedoch auf die Reflexion von Schönheit, Nutzen und Moral verweist und zum besseren Handeln und zum Erschaffen von Schönheit anregt. Der kaputte Spiegel zeugt davon; er ist ein Überbleibsel des Prozesses der Bewusstwerdung über Sein und Handeln aufgrund eines Missgeschicks, aus dem Erkenntnis und Dichtung hervorgehen. Kennt man nur den Gedichttext, bleiben semantische Leerstellen, welche durch das Hinzuziehen des Spiegelobjekts und seiner literarischen Entsprechung im Musterkärtchen gefüllt werden: Wie ist das Sprachbild der Sonnenstrahlen zu verstehen? Was war der Auslöser des Zorns, der zum Zerbrechen des Spiegels führte? In welchem Verhältnis stehen das tägliche Rasieren und die Reflexion von Werk, Moral und Schönheit? Der Rasierspiegel (Abb. 2) hat ein Format von 13 × 7,7 cm und ist in mehrere Teile gesplittert. Er ist in helles Holz gefasst, das sich aufklappen lässt: Zur Benutzung kann er um 270° umgeklappt und aufgestellt, anschließend zusammengeklappt und verschlossen werden, um das Glas zu schützen und ihn als Reisespiegel zu transportieren. Dafür sind die beiden gleich großen Holzrechtecke an der kurzen Seite mit einem metallenen Scharnier verbunden, welches die Aufklappbewegung sowie das Aufstellen ermöglicht. Auf der

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unteren Hälfte wurde in etwa gleich großem Format, ebenfalls einen Rand überstehen lassend, ein zugeschnittenes Blatt Papier mit dem Gedichttext aufgeklebt. Klappt man den Spiegel zusammen, liegen Spiegel und Text aufeinander. In aufgeklapptem Zustand erinnert ihre Anordnung an die Struktur des Emblems, hier jedoch von oben nach unten angeordnet als pictura (gesplitterter Spiegel in Form einer Sonne mit Strahlen), inscriptio (Gedichtüberschrift/Motto) und subscriptio (Gedichttext). Die pictura bildet eine Collage: Das gesplitterte Glas wird am Rand durch den Holzrahmen sowie im unteren Teil durch ein halbrundes Papier, das aufgeklebt wurde, gehalten. Dadurch entsteht das Bild einer über dem Horizont stehenden Sonne, deren Strahlen als geschwungene Parallelen in den Himmel reichen und das Bild bis zum Rahmen ausfüllen. Der Textteil besteht aus inscriptio (Gedichtüberschrift) und subscriptio (Verse), wobei die inscriptio »Der Spiegel zum Besitzer« die Verknüpfung beider Teile, von Objekt und lyrischer Rede, von Material und Poesie leistet und damit bei ›Gelegenheit‹ des Spiegelbruchs auf die Entstehungssituation des Gedichts verweist. Spiegel und Gedichttext sind direkt aufeinander bezogen. Beide Spiegelhälften ergänzen sich aufgrund von Materialität, Medialität und ihres Themas zum kombinierten Text-Objekt-Kunstwerk, stehen jedoch nicht in einem direkten Abbildungsverhältnis, sondern veranschaulichen gerade die Brüchigkeit des Verhältnisses von Kunst und Wirklichkeit, Bild-Objekt und Sprachkunst. Mörike wählt für den Bildteil einen schlichten Alltagsgegenstand, der nicht ursprünglich für einen künstlerischen Ausdruck angefertigt wurde (im Gegensatz zu verzierten Gegenständen der Barockzeit oder auch zu Mörikes Ei), sondern erst im Zuge eines Missgeschicks als kaputter Gegenstand zu einem solchen umgewidmet wurde: Die Bildhaftigkeit wird hier durch die Materialität, Form, Gestalt und den Zustand eines Objekts repräsentiert und damit medial auf nicht als Kunstwerk vorgesehene Dinge ausgeweitet. Durch die emblematische Struktur werden Alltagsgegenstände als Kunstobjekte bestimmt und eingebunden. Die Intermedialität und Objekthaftigkeit von Mörikes Dinggedicht erweitert die Bedeutung von ›ut pictura poesis‹. Die Benutzung des Spiegels im früheren Sinne ist nur noch bedingt möglich, denn man kann sich im Glas nur in gebrochener Form spiegeln. Außerdem würde der Spiegel auf dem Textteil zu stehen kommen, der dann nicht sichtbar wäre und möglicherweise beschädigt werden würde. Zwar ist die ursprüngliche unversehrte Form und damit das Objekt als historischer Reiseund Rasierspiegel noch erkenn- und rekonstruierbar, zugleich wurde es durch das Anbringen des Gedichts, welches die Form ästhetisch nutzt, als Kunstobjekt markiert. Die Transformation des Rasierspiegels in einen Kunstgegenstand bzw. Ausstellungsstück zeigt sich in der Bewahrung des Bruchs in der pictura und seiner Reflexion im Gedicht. Der Spiegel verliert zum Teil seine ursprünglichen und



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erhält neue Funktionen, wobei sich auch das Umfeld seines Gebrauchs verändert: Als Alltagsgegenstand wird der Spiegel bei seinem Bruch unnütz. Durch das Verfassen des Gedichts und das Anbringen des Gedichts auf dem Spiegel wird er zu einem literarisch-materiellen Kunstwerk. Während der Gebrauch als Rasierspiegel erforderte, dass er aufgestellt wurde und ein klares Bild des Betrachters zeigte, steht er als Kunstwerk einer gemeinsamen Betrachtung von Sonnenstrahlenbild und Gedichttext zur Verfügung. Betrachtung und Lektüre schließen die vollständige Rückkehr des Spiegels in den Alltagsgebrauch aus, eröffnen ihm jedoch die Welt der Sammlung von Kunstgegenständen und Erinnerungsstücken. Er verliert die alleinige Zugehörigkeit zur Alltagswelt und gewinnt Kunstcharakter. Das Spiegel-Text-Objekt und auch der Bruch stehen damit in einer Spannung von Geschichtlichkeit und zeitlicher Enthobenheit. Der Spiegel zum Betrachter realisiert intermedial  – dialogisch zwischen Adressat und Sprecher, zwischen Objekt und Text, zwischen Alltag und Poesie – den »Moment des Dazwischen: zwischen Werden und Vergehen«36, die Verschränkung von Alltag und Kunst. Analog ist die Version auf dem Musterkärtchen deutbar, welche die Leerstellen des Gedichts mittels eines Einführungstextes füllt. Musterkärtchen als lyrische »Kleinigkeiten« Mörikes entspringen einem alltäglichen Ereignis, das durch die Texte bewahrt und künstlerisch gestaltet wird. Viele dieser Gedichte wurden nicht zur Publikation gebracht, sondern kursierten handschriftlich im Familien- und Freundeskreis. Mörike bediente damit die Freundschaftskultur, den wechselseitigen Austausch in Form von Briefen, Beilagen und Musterkärtchen.37 Letztere bestehen meist aus zwei Teilen, einer kurzen Einleitung über die Situation, aus der eine Gedichtskizze hervorgegangen ist, sowie dem Gedichttext selbst. Im Unwillen über eines der Kinder (die Fanny war verdrießlich, ihre Übungen am Clavier zu machen) hatte ich meinen kleinen Spiegel durch einen heftigen Stoß beschädigt. Der Treff ging gerade auf den untern Theil beim Rahmen u. zwar genau auf die Mitte, so daß von diesem Punkt aus sieben Sprünge radienförmig nach allen Seiten liefen. Um das Glas zusammenzuhalten klebte ich unten, hart am Rand, ein halbirtes Scheibchen Papier darauf, von dessen Peripherie nun die schönen Strahlen ausgehen.

36 Ulrich Hötzer, Mörikes heimliche Modernität, Tübingen 1998, S. 286. 37 Vgl. Ulrich Kittstein, Eduard Mörike, S. 522.

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Der Spiegel an seinen Besitzer:* Hier sieht man eine Sonn mit wunderbaren Strahlen Doch steht es dir nicht an, mit diesem Werk zu prahlen. Mein ganz unschuldig Glas, das du im Zorn zerschellt, Weis’t dir nun dein Gesicht zum Lasterbild entstellt. Darum bedenk, o Mensch, so oft du dich rasirst, Wie du mit Sanftmuth dich im Lauf des Tages zierst. * In des sel. Brockes Manier.38 Die pictura des gesplitterten Spiegels wird durch eine kurze Prosaerzählung ersetzt. Diese schildert im Plusquamperfekt, wie der Spiegel zerbrach, anschließend im Präteritum bildhaft das genaue Aussehen und die Maßnahme, mit welcher der Künstler die Form und die Funktion wiederherzustellen versucht. Als Resultat präsentiert der Erzähler das Bild der Sonne, zusammengesetzt aus den Linien der Scherben und dem aufgeklebten halbrunden Papier. An diesem Punkt fand die Zerstörung statt; »nun« befindet sich hier der Ausgangspunkt einer ästhetischen Neugestaltung und Neubewertung des kaputten Objekts. Die Schilderung der Form des zerbrochenen Spiegelglases und seine Kittung stellt eine neue Anschaulichkeit her und verstärkt die Situationsbindung des Textes. Vor dem geistigen Auge entsteht das Bild des wütenden Hausvaters und des gesplitterten Spiegels mit dem papiernen Sonnenhalbrund, das als »schön« und somit als ästhetisch und poetisch relevant charakterisiert wird. Die Zerstörung des Spiegels und Wiederherstellung als schönes Artefakt setzt sich aus dieser Perspektive in der Konstituierung des Spiegels als lyrischem Ich fort. Die Medienkombination des Objekts wird durch eine Kombination von Prosa und Lyrik sowie durch die formale Umgestaltung des Gedichttextes in Alexandriner abgelöst, welche auf das Epigramm verweisen, die typische Textform der subscriptio im Emblem. Mit einer simplen Änderung der Versumbrüche wird aus je zwei Volksliedversen ein Alexandriner. Die Notation in Volksliedversen mag dem Format des Spiegels geschuldet sein; in diesem Fall hat die Materialität des Objekts Einfluss auf die lyrische Form und verdeutlicht die enge intermediale Beziehung von Text und Objekt. Der Wechsel zum Alexandriner könnte als eine Frage des Layouts verstanden werden, zugleich aber auch als Entdeckung, bewusste Reflexion oder Sprachspiel, welche die Bezüge zwischen deutschen und romanischen Traditionen, zwischen volksliedhafter Lyrik und Emblematik und zwischen Formen bildhafter und lyrisch-epischer Dichtung ausloten. 38 Eduard Mörike, Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, Bd. 18, Briefe 1864– 1867, Stuttgart 2006, S. 177.



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Im Falle des Spiegel-Gedichts ist das Epigramm – versteckt in der Volksliedform – tatsächlich auf das Objekt aufgebracht, was das Aufeinanderbezogensein von Bild- und Schriftteilen am Objekt sowie auch im Musterkärtchen verdeutlicht. Die semantischen Leerstellen oder rätselhaften Elemente, die zum einen der zerbrochene Spiegel durch seinen primären Funktionsverlust und zum anderen der Gedichttext mit dem Bild der Sonnenstrahlen aufweisen, werden im Gesamtkunstwerk durch den Bezug aufeinander gefüllt. Das poetologische Problem der Vermittlung zwischen Bild und Text im Emblem bzw. die Auflösung des Rätsels wird hier in eine intermediale Konstellation sowie auf die Beziehung von Alltagsund Kunstsphäre übertragen. Es wird eine lyrisch-formale Reflexion von Brüchigkeit deutlich: Der Bruch des Spiegels auf der materiellen, medialen und semantischen Ebene betrifft auch die Ebene der formalen Gestaltung des Gedichts. Beim Übergang vom Text-Objekt-Kunstwerk zum Musterkärtchen, welches auf die Materialität des Spiegels verzichten muss, wird die Bindung an die Tradition des Emblems in der Form des Alexandriners im Gedichttext manifest. Das Emblem erweist sich als formaler Lösungsansatz für die Problematik der Darstellung von materieller, sinnlich-außerliterarisch geprägter Wahrnehmung und Poesie. Das Zerbrechen des Spiegels, welches in Objekt und Text Ausgangspunkt künstle­rischen Schaffens ist, erinnert an das barocke Vanitas-Motiv. Dabei ist die Gleich­­zeitigkeit bzw. der abrupte Übergang von Werden und Vergehen, Blüte und Zer­störung zentrale Erfahrung der Welt, der mit der Darstellung von Vergehendem und Verlorenem begegnet wird, welche den Wert des Seienden betont. Dieses Pa­ra­dox findet sich auch in der Darstellung des Spiegels, der den Verlust seiner Unversehrtheit beklagt, sowie im lyrischen Formwechsel, der die ursprünglichen Volks­lied­verse im Alexandriner aufgehen lässt, sie damit zugleich bewahrt und über­schreibt, um die Referenz auf die emblematische Form des vorgängigen Text-Spie­gel-Objekts im Gedicht zu überliefern. Die Scherben werden zum Sprachbild; ebenso wandelt sich die Versart je nach medialem Kontext. Der Bruch des Spie­gels wird so zu einem Sinnbild für die Transformation von Dingen und Ereignissen in die Welt der Kunst; materiell und im übertragenen Sinn markiert er den Wandel vom einen ins andere bzw. die Verschränkung von Alltagswelt und Kunst in einem »Ding«. Hinzu kommt schließlich der Verweis auf »Brockes Manier« der physikotheologischen Dichtung, berühmt geworden in den Anthologien Irdisches Vergnügen in Gott (1721–1748). Als Wegbereiter eines neuen Sehens und Dichtens im Übergang vom Barock zur Aufklärung stellt Brockes in seinen Gedichten die visuelle Wahrnehmung der Natur als Form der Gotteserkenntnis vor. Die Schönheit des Wahrgenommenen, vornehmlich sehr große und sehr kleine Dinge, führt zum Verlust des Ich und zum Wiederfinden und Preisen des Allmächtigen in lyrischer Form. Der Bruch des Spiegelglases in Mörikes Kunstwerk stellt eine existentielle Infrage­

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stellung des Seienden dar, gefolgt von einem Moment moralischer und ästhetischer Verunsicherung des betrachtenden Menschen, dessen Abbild im Spiegel nur noch als gebrochenes und lasterhaftes erscheint. Die Verwandlung des Spiegels in ein Kunstwerk erschafft ein zweites Ich als Sprecher im Gedicht, welches Zeugnis ablegt von seiner Schönheit und neuen Funktion. Mörikes Spiegel-Kunstwerk geht darin über die Brockes’sche Befreiung von ästhetischen und regelpoetischen Konventionen hinaus und parodiert sie zugleich. Es rekurriert auf die Bindung der ästhetischen Darstellung von Dingen an die sinnliche Wahrnehmung des Menschen, welche im 18. Jahrhundert zu neuen Konzepten von Empfindsamkeit und Einbildungskraft führten. Mörikes Spiegel verweist aber nicht direkt auf die Allgegenwart und Schöpfungskraft Gottes und mündet so auch nicht im Lobpreis. Vielmehr verweist das Spiegel-Text-Kunstwerk auf den Alltagsgegenstand Spiegel zurück sowie auch auf den Menschen als Benutzer und Zerstörer, dessen Handeln in der Welt daran sichtbar wird. Nicht die Wahrnehmung der Großartigkeit der Schöpfung ist Thema des Kunstwerks, sondern der Profanität und Zerbrechlichkeit der Dinge in Alltag und Kunst. Die aufgehende Sonne, traditionell ein Sinnbild der Manifestation der göttlichen Schöpfungskraft in der Welt, wird zur Manifestation alltäglicher menschlicher und defizitärer Kunst und Moral im zerbrochenen Glas des Rasierspiegels, zu einem Stillleben biedermeierlicher Alltagskunst und -kultur. Mörike stellt sein Gedicht in eine Entwicklungslinie mit Brockes. Ausgehend von den Folgen des Wutausbruchs werden neue visuelle Wahrnehmungen möglich (Scherben, Zerrbild) und im geltenden Moralkodex verortet. Zwar entwirft Mörike keine Theologie, sondern bezwingt lediglich das Lasterhafte durch das Sanftmütige, aber gerade die Bindung des Texts an die Entstehungssituation und das Objekt machen die Verwandlung in ein Kunstwerk, eine unmittelbare und authentische Sichtweise auf Dinge und Kunstdinge fassbar. Das SpiegelText-Objekt erlaubt das Nachvollziehen der Poetisierung in direkter visueller und haptischer Anschaulichkeit und verortet ohne jegliche Überhöhung das eigene Kunstschaffen und Kunstprodukt im gesellig-gesellschaftlichen Rahmen. Es wird deshalb keine allgemeingültige (moralische) Lehre formuliert, sondern die Verbindung von Alltagshandeln und künstlerischer Tätigkeit nahegelegt.

Der Petrefaktensammler Der Petrefaktensammler Doch den Zweck nicht zu verlieren, Will ich jetzt auf allen vieren



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Nach besagten Terebrateln Noch ein Stückchen weiter kratteln; Das ist auch wohl Poesie.39 Im Gedicht Der Petrefaktensammler wird die Frage der Dingdichtung mit dem Sammeln von Dingen verknüpft. Die ästhetische Neubewertung und Neugestaltung einzelner Objekte wird nun im praktischen Zusammentragen sowie in der Objektsammlung als authentischer poetischer Ausdruck fortgesetzt. Literarischen Topoi und Ästhetiken der Romantik setzt Mörike die tätige und gesellige Auseinandersetzung mit der außerliterarischen Welt entgegen: Die biedermeierliche dilettantische Geologie40 und das Sammeln von Fossilien erlauben eine realistische Referenz auf Gegenstände und Geselligkeit beim Sammeln sowie eine modernistische Kritik an ästhetischen Gewohnheiten.41 Die einzelnen Versteinerungen repräsentieren die natürliche Formenvielfalt der prähistorischen Welt, deren Ursprung und weitere Entwicklung bis auf gegenwärtige biologische Arten. Dieses ästhetische und sprachliche Material prägte auch seine Lyrik. Er baut seine Fossiliensammlung auf (Abb. 3), tauscht sich mit Gleichgesinnten aus, bestimmt einzelne Spezies, zeichnet sie (Abb. 4). Eine solche Art der Naturwahrnehmung wird als Alternative zur Rezeption angenehmer bis erhaben-verklärter Landschaft gesetzt. Das Gedicht thematisiert die Sammeltätigkeit als Poesie. Auch die weitere literarische und publizistische Geschichte des Gedichts kann als Fortsetzung dieses poetisch-reflektierten Sammelns verstanden werden. Es fand zunächst Aufnahme in die handschriftliche Gedichtsammlung Entrochiten oder gelegentliche Scherze und andre Reime42, später in die zweite Auflage von Mörikes Lyrikanthologie. Die Sammlung kann somit als literarische (Meta-)Gattung gelten; darin können Gedichte  – wie Fossilien in einer Fossiliensammlung  – der wissenschaftlichen, ästhetischen und geselligen Auseinandersetzung dienen. Das Suchen und Auffinden der Fossilien sowie das Verfassen des Dinggedichts stellen eine erste Etappe des künstlerischen Prozesses dar. Dieser setzt sich in der Sammlung gattungsgleicher Stücke, Fossilien beziehungsweise Gedichte, fort. Diese ersten Sammlungen entfernen die Einzelstücke ihren ursprünglichen Kontexten: 39 Eduard Mörike, Werke und Briefe, S. 328  f. 40 Susanne Fliegner., Der Dichter und die Dilettanten. Eduard Mörike und die bürgerliche Geselligkeitskultur des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1991, S. 163  ff. 41 Carolin Duttlinger, Mörike’s Fossils. The Poetics of Palaeontology, in: Oxford German Studies 36, 2013, S. 60–75. 42 Eduard Mörike, Entrochiten oder gelegentliche Scherze und andre Reime von Eduard gesammelt für Clara Mörike von seinem Freund W. H. Wermutshausen 1844, A.Mörike, Eduard 2, Zugangsnr. 2678.

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Abb. 3: B: 2075: 167 Versteinerungen aus Eduard Mörikes Besitz. In grüner Schachtel. Deckel fehlt. (Foto: DLA)



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Abb. 4: A: Mörike 2. 51.782: Abbildung und Beschreibung einiger in der Umgegend von ­Schwäbisch Hall gefundenen Petrefakten mit Bemerkungen von Prof. Kurr (Handschriften-Sammlung DLA)

So wird die Fossiliensammlung Teil der Mörike-Sammlung des DLA und zuweilen Exponat musealer Ausstellungen. Anhand des Gedichts Der Petrefaktensammler lässt sich ein mehrstufiger paralleler Prozess der Poetisierung und Musealisierung beobachten bis in den Aufbau der musealen sowie der lyrischen Sammlung hinein. Die erste Stufe besteht in der Verfertigung des Dinggedichts: Fossilien und die Tätigkeit ihres Auffindens werden in den Bereich der Kunst überführt. Die zweite Stufe thematisiert die Aufnahme des Dinggedichts in die der ursprünglichen Geselligkeit noch recht nahe liegenden Handschrift und der Petrefakten in die Mörikesche Sammlung. Eine verallgemeinernde, Dinggedicht und Fossiliensammlung in abstraktere Kontexte und Rezeptionszusammenhänge einordnende dritte Stufe stellt die Aufnahme und Publikation in der Gedichtanthologie sowie die Überführung von Mörikes Erinnerungsstücken ins DLA dar.

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Bei Gelegenheit des geselligen Fossiliensuchens mit seiner Schwester Clara und ihrer Freundin Charlotte werden die Fragen nach der Kunstwürdigkeit und angemessenen ästhetischen Behandlung von Gegenständen aufgeworfen. Dabei handelt es sich um eine Dreieckskonstellation von Petrefaktensammler (lyrisches Ich, Sprecher), Fossilien (Objekt, Thema) und den beiden Frauen (Adressatinnen), innerhalb derer das Verhältnis von Geselligkeit bzw. Gelegenheit, Geologie und Ästhetik verhandelt wird. Der Titel fokussiert auf die Person und Rolle desjenigen, der die Fossilien zusammenträgt und in eine nach wissenschaftlichen Kriterien konstruierte Systematik in Form von Kästen, die die Versteinerungen nach Form, Größe und Spezies (Etiketten) ordnet, einsortiert.43 Die semantische und morphologische Komplexität (Versteinerungen – sammelnde – Person) eröffnet das Feld eines aktiven lyrischen Ich, welches Geologie studiert und konkrete Fossilien aufsucht, um sie in eine Sammlung zu überführen. Das Kompositum Petrefakt benennt einen Gegenstand, dem ein Prozess der Versteinerung vorausging und dessen Bedeutung nun erschlossen wird. Die Widmung »An zwei Freundinnen« verortet Person und Tätigkeit des Petrefaktensammlers in einer historischen Situation sowie in der biedermeierlichen Geselligkeit. Die Widmung verweist auf den Besuch Mörikes und seiner Schwester bei Charlotte Krähe in Nürtingen im Jahre 1844. Ort, Zeit, beteiligte Personen sowie der Ablauf des gemeinsamen Ausflugs werden im Text und in den Paratexten (Widmung) deutlich gemacht. Das Petrefaktensammeln ist über den wissenschaftlichen Nutzen hinaus für die Freundschaft und den freundschaftlichen Austausch mit den beiden Frauen wichtig. Der Eingang des Gedichts »Einmal noch« (1) verdeutlicht das besondere soziale und herzliche Erlebnis  – als »lyrisches Protokoll einer überraschenden Entdeckung«44, welche eine Schwelle markiert: das lyrische Ich berichtet im Rückblick über den Spaziergang zu dritt, den es zu wiederholen wünscht und dies im Rahmen lyrischer Imagination tut. Das Gedicht ist eine Erinnerung an das gemeinschaftliche Erlebnis, das damit gefestigt und noch einmal lyrisch evoziert wird. Adressiert an die beiden Freundinnen mag es in der lyrischen Form als Geschenk (z.  B. als Briefbeigabe) gedient haben. Es hebt den Ausflug und das gemeinschaftliche Interesse an der Naturwahrnehmung und Geologie durch die Gestaltung im Gedicht aus dem Alltag heraus und überführt es in die Sphäre der Kunst. Die Freundinnen und der Geologenhammer, Geselligkeit und Sammeltrieb geleiten das lyrische Ich. 43 Die Rezeption und Analyse von Mörikes Fossiliensammlung steht noch aus. Vgl. Thomas Wolf, Brüder, Geister und Fossilien. Eduard Mörikes Erfahrungen der Umwelt, Tübingen 2001. 44 Günter Oesterle, Dingpoetik bei Eduard Mörike, in: Ding – Ding – Ding, hg. von Mona Körte, Hamburg 2016 (Kultur und Gespenster), S. 141–155, hier S. 145.



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Das Sammeln, so hat es Susanne Fliegner eindrücklich herausgearbeitet, entwickelt sich im 19. Jahrhundert zu einer weit verbreiteten und kollektiven Tätigkeit »zur Bildung des Geschmacks und des Geistes im gesammten Vaterland«45, die sich auf Artefakte und Naturafakte erstreckte und mit historischem Blickwinkel einer sich schnell verändernden gesellschaftlichen Realität Herr zu werden versucht. Das Sammeln und die Dingdichtung dienen der Pflege und Rettung nutzlos gewordener Objekte. Sie erhalten einen dauernden, bewahrenden Ort, an dem ihre Bedeutsamkeit im Kontext weiterer Sammlungsstücke rekonstruierbar bleibt und ihnen eine neue ästhetische sowie gesellschaftlich-kommunikative Funktion gegeben wird. Sammeln sowie auch Dichten fördern und bereichern individuelle und kollektive Bildung und die sich als moderne Wissenschaft etablierenden Disziplinen wie Archäologie und Paläontologie. Sie sind Aktivitäten der Muße, unterschieden von bürgerlichen Berufen oder gar der Politik, und sind gerade deshalb offen für künstlerische Gestaltung. Der Petrefaktensammler ist in zwei Versgruppen aufgeteilt. Die erste (1–37) schildert eine »Situation heiterer Geselligkeit«46: den Spaziergang zu dritt in angenehmer Landschaft, das Fossiliensammeln sowie eine enthusiastische Naturerfahrung. Darauf folgt im zweiten Teil (38–49) eine Rückwendung des lyrischen Ich zur Erde und zur geologischen Arbeit. Die Setzung von weit auseinander liegenden Reimen am Ende der Versgruppen auf -ie, welche die sonstige Reimordnung unterbricht, verdeutlicht die Zweiteilung des Gedichts. »Wahrlich, schöneres sah ich nie« (37) als gleichsam enthusiastische wie ironisch überhöhte Reaktion auf das erhabene Naturschauspiel reimt auf »das ist auch wohl Poesie« (49), womit am Ende des Gedichts die alternative künstlerisch-praktische Methode des Grabens nach Versteinerungen in den Rang der Kunst erhoben wird. Die Gegend und ihre Geographie werden flanierend und »scherzend« (5) erschlossen. Auf »Pfade[n]« (3) geht es von Frickenhausen das Tal der Steinach, ein Zufluss des Neckars, entlang, die sanften Hügel des Albvorlandes hinauf. Von dort eröffnet sich ein weiter Blick auf die schwäbische Alb, Weinberge, Auen und Wälder sowie auf eine Burg47. In dieser Zusammenstellung eröffnet der Blick in die Natur zugleich einen Blick in die Vorgeschichte der Erde sowie in die des Menschen. Petrefakten und Burgruinen gleichen sich in ihrer ästhetischen Qualität und in ihrem archäologischen und historischen Verweis auf frühere Entwicklungsstufen und die Herkunft aktueller Lebensformen. 45 Susanne Fliegner, Der Dichter und die Dilettanten, S. 164. 46 Inge Wild und Reiner Wild, Mörike-Handbuch, S. 141. 47 Vermutlich Hohenneuffen; aber auch Anklang an Burg Liechtenstein, erbaut 1840–42, nach zeitgenössischen romantisierenden Vorstellungen von mittelalterlichen Burgen, sowie an Wilhelm Hauffs historischen Ritterroman Lichtenstein (1826).

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Im erzählerischen Duktus bleibend verknüpft das lyrische Ich die Entdeckung der Fossilien mit der romantisch konnotierten Wahrnehmung der Landschaft. Vom Tal aus geht es »dann« (7) hinauf auf die Hügel: »just« (14) legt ein Regenguss die Fossilien frei, die herausgeschlagen und eingesammelt werden können. Zwischendurch schaut das lyrische Ich auch in die Weite und Höhe und konstruiert ein Landschaftstableau, das es zum Genuss seiner Begleiterinnen entwirft. Die Stationen des Ausflugs veranschaulichen das Prozessuale der Naturwahrnehmung, die (kultur-) historisch und individuell verschieden ist. Das männliche lyrische Ich steht dabei den beiden Frauen gegenüber. Während sie stehen bleiben und den Anblick genießen, ist er angetrieben von seiner Sammellust, will »weiter kratteln« (48) und seinen Reichtum an Fossilien, seine Sammlung, sein Wissen über Prähistorie und seine praktisch-künstlerische Anschauung der Natur erweitern. Eingebettet zwischen dem narrativen Auftakt, der bis zum Ort des Fossiliensammelns und des Ausblicks führt, und der abschließenden Rückwendung des lyrischen Ich zur Erde gestaltet das lyrische Ich ein emphatisches Landschaftsbild. Darin werden Topoi des locus amoenus und des locus terribilis zu einem erhabenen Ort verbunden und kontrastiert: Liebliche Talauen mit Bach und Hügeln, in der Sonne liegend mit Weinreben grenzen an bedrohliche »burggekrönte Wände« (21), die »[s]treng mit dunkeln Schatten schließen« (24). Tal kontrastiert mit Gebirge, Licht mit Schatten und wird schließlich (»Welche liebliche Magie« [25]) atmosphärisch »in leichtem Dufte schwimmend« (28) und ironisch mit dem Blick nach oben ins romantische Blau überhöht: Wie, die blaue Nacht am Tag! Blau, wie nur ein Traum es zeigen, Doch kein Maler tuschen mag. (30–32) Diese Überhöhung der außerliterarischen Welt in die Sphäre individueller Imagination (»Wahrlich, Schön’res sah ich nie.« [37]) scheint für das lyrische Ich in ein neues Darstellungsproblem zu münden, welches an die ästhetische Streitfrage ut pictura poesis anknüpft: Wie lassen sich die Konkretheit des Gegenstandes und der individuelle künstlerische Ausdruck zu einer authentischen Darstellungsweise verbinden? Der Petrefaktensammler reflektiert diese Frage in Bezug auf eine absolut subjektive Imagination, deren malerische Darstellung nicht in der Lage sein könne, authentisch abzubilden und sich darum auf Topoi oder Stereotypen stützt: Ein solches Blau könne nicht wiedergegeben werden. Mörike, der selbst malte und zeichnete, zieht nicht die malende Dichtung in Zweifel, im Gegenteil, wohl aber ein l’art pour l’art avant la lettre. Das genießende Schauen der »Herrlichkeiten« (41), die als Schönstes gelten können, überlässt das lyrische Ich den



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beiden Begleiterinnen, ihm würde jenseits des Genusses nichts Neues begegnen. Jedoch ist es Grundlage seiner Naturästhetik und es würde ihn ärgern (»Denn es fickt mich allerdinge,« [43]), die Verbindung dazu und die Erinnerungen der beiden Freundinnen zu verlieren. Authentischer als ein romantisierender Landschaftsblick erscheint dem lyrischen Ich die Beschäftigung mit Objekten der Urzeit. Zentraler Ansatzpunkt dieser Ästhetik und einer daraus folgenden Dingpoetik ist die Beschäftigung mit den Fossilien: […] Drin die goldnen Ammoniten, Lias-Terebratuliten, Pentakrinen auch, die zarten, Alle sich zusammenschaarten, – (9–12) Einzelne Fossilien, so wie sie nach Arten in die Sammelkästen geordnet werden, gelangen in das Blickfeld, zugleich wird ein Spektrum an Formen aufgezeigt. Kennt man die Fossilienarten nicht, kann man sie sich auf Grundlage dieser lyrischen Auflistung nicht vorstellen, jedoch nutzt das lyrische Ich hier die Klangqualität der wissenschaftlichen Bezeichnungen zur Gestaltung von Assonanzen und Reim. Der kundige Geologe erhält Einblick in das Alter (z.  B. Lias) und Artenspektrum der Fossilien auf der Alb und wird durch das Klangspiel unterhalten. Der lyrische Ausdruck wird erweitert, das lyrische Sprachmaterial und sein Verhältnis zur Materialität der Fossilien reflektiert. Dabei werden die Fossilien nicht romantisch verklärt, sondern bleiben als Objekte der paläontologischen Aktivitäten sowie dem geselligen Austausch in Freundschaft und Briefen verbunden. Graben, Freilegen, Bestimmen und Sammeln von Fossilien sind somit relevante Formen von Dichtung. Im Gedicht zeigt sich die erste Stufe des parallelen Poetisierungs- und Mu­ sea­li­sierungsprozesses: Durch die lyrisch-narrative Gestaltung wurden die Fossilien (z.  B. in der Klangqualität ihrer wissenschaftlichen Benennungen) als Kunstgegenstand und das Fossiliensammeln als Poesie qualifiziert. A natural object with inherently aesthetic qualities, […] the fossil exemplifies various key features of the work of art, in particular through its capacity to preserve and hence commemorate the past  – an effect which is, however, achieved at the cost of turning a living being into a dead object ready for aesthetic consumption.48

48 Carolin Duttlinger, Mörike’s Fossils, S. 74.

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Die Kontextverschiebung verläuft entlang der Grenze von Natur(-wissenschaft) und Kultur bzw. Dichtung. Die naturwissenschaftlichen Objekte werden zu Gegenständen der Dichtung und des geselligen Forschens und gehen in eine Sammlung ein. Darin werden sie als Arten einer geologischen Vorzeit rezipiert und verweisen auf Ursprünge des Lebens auf der Erde. Sie führen als Elemente der betrachteten Landschaft nicht mehr nur zu genussvoller Anschauung, sondern zu wissenschaftlichem Studium, geselliger Kommunikation und erweitern das lyrische Sprachrepertoire  – insgesamt zu einer neuen Ästhetik und Poetik, die nach authentischer Naturwahrnehmung strebt und auf diese Art und Weise eine andere Geschichte der Natur erzählt. Darin wird nicht die göttlich erhabene Natur dargestellt, sondern Urwesen, ihre Schönheit, Systematik und Umgebung. Das Gedicht Der Petrefaktensammler durchläuft eine zweite Stufe der Poetisierung und Musealisierung, als es 1844/45 in die von Wilhelm Hartlaub für Clara Mörike angefertigte Sammlung Entrochiten oder gelegentliche Scherze und andre Reime aufgenommen wird. Mit dem Gedicht gemeinsam hat die Sammlung die Adressatin, Mörikes Schwester, und damit auch die Verortung und Funktion im biedermeierlichen Geselligkeitsraum. Explizit werden hier Gedichte als Fossilien bezeichnet: Die Gedichtsammlung stellt gewissermaßen einen Setzkasten dar, der dem Scherz sowie dem Reim dient. Sie beinhaltet ein Spektrum an gelegenheitsbezogenen, humoristischen und anderen lyrischen Texten. Die Eingangsverse verdeutlichen die metaphorische Bedeutung der Petrefakten für die Dichtung: Statt echten Prachtjuwels, Bringt dir ein treuer Freund Bescheidnen Kinderschmuck In einem kostbarn Schrein Doch wirf nur einen Blick Der vollen Lieb hinein, O süßes Aug! und alles Ist Perl und Edelstein.49 Die Reihe der »goldnen Ammoniten, Lias-Terebratuliten« (9–10) und »Pentakrinen« (11) wird mit den Entrochiten, versteinerten stern- oder rädchenförmigen Stielgliedern der Seelilien, fortgesetzt. Im Blick des Sammlers und des liebenden und »treue[n] Freund[es]« werden die Einzelstücke zu schönen und wertvollen Objekten (»Prachtjuwel[…]«; »Perl und Edelstein«), die Sammlung zum Aufbewahrungsort kostbarer, gar heiliger Dinge. Drei Triebkräfte der Verwandlung 49 Eduard Mörike, Werke und Briefe, S. 349.



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von Objekten in Kunstgegenstände werden hier deutlich: erstens eine (mehr oder weniger) rationale Wissenschaft, die Objekte in Studienmaterial und damit in wissenschaftliche oder museale Sammlungen transferiert; zweitens eine Wirkungsästhetik, welche Dinge, die als schön empfunden werden, einer Kunstsamm­lung zuführt bzw. wie bei Mörike lyrisch und zeichnerisch weiterverarbeitet und ins eigene Werkschaffen integriert; und drittens eine Freundschafts- und Geselligkeitskultur, die sie zu Geschenken macht und damit die Bindung zu den Adressaten vertieft. Mit den Zielen der Erkenntnis, Schönheit und Moral werden Objekte transformiert. Aufbewahrt werden sie dementsprechend im Zentrum des Heiligtums: in der Sammlung, in welcher die Dinge zu Denkmälern werden und ihre singuläre Bedeutung durch die Präsentation im Kontext anderer Schätze zur Geltung kommen kann. »[D]as Sammeln von Versteinerungen wird durch den historischen Blick ästhetisiert«50, außerdem rationalisiert und moralisiert. Zugleich ist dieser Umgang mit den Dingen hoch ironisch; nicht nur die titelgebenden »Scherze« verweisen darauf, sondern auch die Materialität, Geschichtlichkeit, geringe Größe und Profanität der Objekte. Resultat sind zwei Sammlungen, eine Fossiliensammlung mit einer (pseudo-)wissenschaftlichen, einer wirkungsästhetischen und einer geselligen Bedeutungsschicht sowie ein poetisches Museum bestehend aus Ding- und Gelegenheitsgedichten. Diese Linie der poetischen und musealen Transformation wird auf einer dritten Stufe fortgesetzt, wobei der Verweis auf die ursprüngliche Gelegenheit abstrakt wird. Mit der Aufnahme in die gedruckte Anthologie wird das Gedicht aus dem Rahmen biedermeierlicher Privatheit herausgelöst und in den Kontext des lyrischen Werks des Dichters Mörike und in eine literarische Öffentlichkeit transferiert (Kontextverschiebung). Beispielhaft dafür ist die Veränderung des Widmungstexts, der an Konkretheit im Adressatenbezug und in der kommunikativen Funktion als Erinnerung an einen Ausflug einbüßt (Funktionsverlust): Lautet er im Erstdruck noch »An Lotte und Clärchen.«51, heißt es in der Ausgabe letzter Hand: »An zwei Freundinnen«52. Innerhalb des Textes entsteht ein neuer Kommunikationsraum zwischen dem lyrischen Ich und einer anonymen kollektiven Leserschaft, die den Wunsch, »[e]inmal noch an eurer Seite« (1) dieses Naturerlebnis zu machen, nicht auf der Grundlage von bereits gesammelten gemeinsamen Erinnerungen neu belebt, sondern sich vom lyrischen Sprecher in seine Erfahrungs- und Imaginationswelt hineinführen lässt. Das Gewicht zwischen eigener Naturwahrnehmung und der Sprecherperspektive verschiebt sich 50 Susanne Fliegner, Der Dichter und die Dilettanten, S. 208. 51 Eduard Mörike, Der Petrefaktensammler, in: Norddeutsches Jahrbuch für Poesie und Prosa, 1847, S. 151–152, hier S. 151. 52 Eduard Mörike, Gedichte, Stuttgart 1867, Bd. 1, S. 848.

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dadurch. Da keine eigene konkrete Anschauung auf RezipientInnenseite besteht, wird mithilfe des lyrischen Texts eine Situation imaginiert. Der Sprecher möchte nun mit seinen LeserInnen den Weg, die Fossiliensuche und die Diskussion um eine authentische Naturpoesie wiederholen. Die ursprüngliche Gelegenheit erscheint aus dieser Perspektive als »wichtiges Element der poetischen Inszenierungen«53 des ästhetisch-poetischen Gegensatzes. Die poetologische Lesart wird dadurch aufgewertet und das Gedicht dem konkreten Ereignis entrückt, verstärkt durch den Verweis auf Vorgeschichte und zeitlose Schönheit der Fossilien. Durch die Konkretheit des Gegenstands und die Unmittelbarkeit der ästhetischen Wahrnehmung bzw. deren kritische bis ironische Abstraktheit in einer poetologischen Lesart bleibt die historische Distanz zu den Referenzen so in der Schwebe, dass die Lektüre, selbst aus geschichtlicher Ferne, eine ästhetisch unmittelbare Rezeption ermöglicht. Die vier Auflagen von Mörikes Gedichte[n] gelten als vier eigenständige Kunst­ werke aufgrund ihrer überarbeiteten Anordnung, der z.  T. auch Text­varian­ten nachkamen, die nicht den üblichen Ordnungsprinzipien wie Themen, Gedichtformen oder Chronologie folgten. Mörike favorisierte, dass »es ungezwungener [sei] und der Mannigfaltigkeit wegen sogar angenehmer, wenn Alles durcheinander steht […]«54. Mitnichten sollte seine Gedichtsammlung beliebig erscheinen, jedoch nicht einzelne Gedichte höher gewichten, sondern Offenheit der Produktions- und Rezeptionsästhetik signalisieren und für den einzelnen Text im Kontext anderer Texte sensibilisieren. Dinge, Gelegenheiten bzw. Stoffe zur Dichtung variieren und können aus ganz unterschiedlichen Ursprungskontexten stammen, wie auch die Objekte in der Mörike-Sammlung ganz unterschiedlicher Natur und Herkunft sind. Sie erhalten dadurch den gleichen Stellenwert wie die poetische Gestaltung, Ding und künstlerische Technik bestimmen gleichermaßen das Kunstwerk. Ebenso setzen die Sammlungen, als Anthologie oder als museale bzw. archivalische Zusammenstellung, diese Dingpoetik fort. Die Anthologie entspricht dabei einem poetischen Museum, das die gelegenheits- und dingbezogene Dichtung einem breiteren Publikum und einem Kunstdiskurs eröffnet. Die Sammlung der Mörike-Dinge im DLA ist auf vergleichbare Weise ein Reservoir an Denkmälern und Kunstgegenständen, die rezeptionsästhetische und poetologische Konzepte, die kulturhistorische Kommunikation als Kontext dieser Werke und die konkrete Ausformung durch Mörikes Gestaltungswillen offenlegen.55 53 Inge Wild und Reiner Wild, Mörike-Handbuch, S. 91. 54 Eduard Mörike, Briefe 1833–1838, Stuttgart 1986, S. 93. 55 Der Katalog zur ständigen Ausstellung des Schiller-Nationalmuseums und des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar widmet sich namhaften literarischen Nachlässen, darunter Mörikes, und ordnet sie thematisch (z.  B. »Schwäbische Romantik«) und bio-



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Der Petrefaktensammler bleibt in seiner ursprünglichen Textgestalt erhalten und hat auch innerhalb der zweiten, dritten und vierten Auflage einen relativ konstanten Platz im Gefüge der Texte. Ihm voran gehen zwei weitere Gedichte mit Gelegenheit, Adressat und Dingbezug: An meinen Vetter. Juni 1837 und An denselben, als er sich leidenschaftlich mit Verfertigung von Sonnenuhren beschäftigte. Mai 1840. Auch sie entstammen der Geselligkeit im Familienkreis und der Muße. Die Sammlung übernimmt den Kontextraum biedermeierlicher Geselligkeit, Hobbywissenschaft und Kunstpraxis und überführt ihn in eine poetologische und eine historische Lesart. Die Texte erhalten einen Kontext, der ästhetisch, poetologisch bis programmatisch auf die Gattung der Lyrik fokussiert, die poetologische und kunstkritische Lesart relativiert und einen neuen virtuellen poetischen und geselligen Gesprächsraum der Texte untereinander erschafft.

Resümee Mit Bezug auf die vorgestellten Gedichte Mörikes und die überlieferten Objekte kann der Begriff der Dingdichtung erweitert werden. Die Genauigkeit und Gegenständlichkeit der Darstellung spiegelt tatsächliche Intermedialität, Materialität und Zugehörigkeit der Gedichte und ihrer Gegenstände zur biedermeierlichen Geselligkeitskultur. Mörikes Dinggedichte haben konkrete sowie poetologisch relevante Bedeutungsschichten in den Bereichen der Wahrnehmungsästhetik, Geselligkeit und zeitgenössischen Wissenschaft und sind zudem anderen Formen bildhafter Lyrik, vor allem dem Emblem, verwandt. Die Objekte belegen darüber hinaus Mörikes in die Sphäre der Objektkunst hineinreichende Reflexion und Gestaltung bild- bzw. dinghafter Lyrik, die ›ut pictura poesis‹ intermedial über Grafik und Malerei hinaus auf Dinge und Materialität ausdehnt. Die Dinglichkeit und die Referenz auf konkrete Anlässe bestimmen Mörikes Dinggedichte als eine spezifische Art von Gelegenheitslyrik, die den Moment der Transformation vom Objekt zum Kunstgegenstand zum Ausdruck bringt. Mörikes Dinggedichte können somit als Teil seiner Gelegenheitsdichtung gesehen werden, die »poetische Formung des bürgerlichen Alltags« und somit eine »spe-

graphisch-chronologisch an. Im Abschnitt über Mörike »außer Dienst«. Familie findet sich Mörikes Federzeichnung der Petrefakten mit handschriftlichen Klassifikationen. »Der Dichter konnte seine Sammelleidenschaft aber auch humoristisch sehen« Darauf folgt eine Handschrift des Gedichts Der Petrefaktensammler. Vgl. Kerner, Uhland, Mörike. Schwäbische Dichtung im 19.  Jahrhundert. Ständige Ausstellung des Schiller-Nationalmuseums und des Deutschen Literaturarchivs Marbach am Neckar, hg. von Albrecht Bergold, Marbach a. N. 1992, S. 166  f.

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zifische Form der Alltagslyrik«56 ist. Die Verwandlung der Dinge in Gegenstände der Kunst erfolgt außerdem in der Sammlung von Gedichten bzw. Objekten in Anthologien und im Archiv/Museum. Die Sammlung ist die metaliterarische bzw. metamediale Fortsetzung der künstlerischen Gestaltung, Bewahrung und Nutzbarmachung der Dinge im Gedicht. Dies wurde durch die Parallelität der Poetisierung und Musealisierung der Dinge gezeigt. Die Alltagsobjekte bewahren aufgrund ihrer Materialität, Medialität und Geschichtlichkeit den Bezug zu ihrer ursprünglichen Funktion, erhalten aber durch ihre Neubewertung und Neugestaltung als Kunstobjekte neue ästhetische, gesellig-kommunikative und inhaltliche Bedeutungsschichten und veränderte Rezeptionsformen, besitzen eine »besondere materiale Fülle zweiten Grades«57. Ankerpunkte dafür sind literarische und poetologische Diskurse (Brockes, Emblem, romantische Poetik) sowie eine neue Relevanz im Rahmen biedermeierlicher Geselligkeitskultur (Geschenke, Erinnerungsstücke, Briefe, dilettantische Naturwissenschaft). Die Texte und Text-Objekte dokumentieren in diesem Rahmen einen Bruch und eine Kontinuität in der Poesiegeschichte, den Mörike textuell und intermedial ausführt. Die Dinggedichte zeugen von einem Abschluss romantischer Poetik und eine Hinwendung zu einer ästhetisch geformten außerliterarischen Realität, die ihren inhaltlichen und formalen Tribut fordert: die Bewältigung und Integration von materialer Brüchigkeit und moralischem Verfehlen. Das reflektierte Formspiel sowie die Bindung und Reflexion des Kunstschaffens am gebrochenen Objekt zeugen von Mörikes »heimlicher Modernität«58. Mörikes Dingpoesie verdeutlicht somit die poetologische Relevanz von Objekten und Sammlungen, die in Bibliotheken, Archiven und Museen überliefert sind und die nicht nur historisches Anschauungsmaterial, Lebenszeugnisse und randständige Kuriositäten darstellen, sondern – zumindest konnte dies im Falle Mörikes nachgewiesen werden  – als metaliterarische bzw. metamediale Formen wesentlicher Bestandteil der künstlerischen Produktion sind. Daraus ergibt sich eine neue Perspektive auf Sammlungen in Archiven, Bibliotheken und Museen, die diese Gegenstände zusammentragen, aufbereiten und bewahren. Aber nicht nur dies: Die Sammlung von ›Dingen‹ z.  B. aus dem Nachlass stellt die Fortführung dichterischen und künstlerischen Schaffens dar und muss darum über die Historisierung, kulturgeschichtliche und autobiographische Bedeutung hinaus in poetologische und kunstkritische Diskurse einbezogen, dementsprechend analysiert und in intertextuelle bzw. intermediale Bezüge gestellt werden. 56 Inge Wild und Reiner Wild, Mörike-Handbuch, S. 65. 57 Cornelia Ortlieb, Verse unter Umständen, S. 192. 58 Ulrich Hötzer, Mörikes heimliche Modernität, S. 286.



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Die Dinge sowie ihre Konstellation in der Sammlung stellen Primärquellen der Literaturwissenschaft dar. Mörikes dichterische Maxime, »es müsse nur so viel sein, daß man eine Spur von sich zurücklasse; die Hauptsache aber sei das Leben selbst, das man darüber nicht vergessen dürfe«59, findet sich in den vorgestellten Analysen der Text-Objekt-Verhältnisse der Gedichte Auf ein Ei geschrieben, Der Spiegel zum Besitzer und Der Petrefaktensammler eindrücklich realisiert. Mörikes Konzeption des Dinggedichts kann durch den hohen Stellenwert der Dinge in der Kunst und biedermeierlichen Kultur präzisiert werden. Auf ein Ei geschrieben verdeutlicht die Auseinandersetzung mit dem Kunstcharakter der Dinge bezüglich ihrer Materialität sowie auch durch Bezugnahmen auf verschiedene kulturelle Bedeutungszuschreibungen. Der Spiegel zum Besitzer zeigt den Einfluss der Materialität des Objekts auf die Gedichtform beim Übergang vom Objekt zum Text: Auf materielle und sinnbildliche Weise ist im intermedialen Kunstwerk der Bruch zwischen Alltags- und Kunstgegenstand nachvollziehbar. Der Petrefaktensammler thematisiert das Sammeln von Dingen als poetisches Verfahren, welches in Mörikes Fossilienkollektion sowie in der Gedichtanthologie realisiert ist und durch die Aufnahme in die Mörike-Sammlung des DLA fortgesetzt worden ist: Die Neubewertung und Integration der Dinge in Ausstellungen eröffnet multiple Zugänge zur Literatur und Kunst Mörikes und darüber hinaus.

59 Theodor Storm, Briefwechsel. Theodor Storm – Eduard Mörike Theodor Storm – Margarethe Mörike. Kritische Ausgabe mit Storms »Meine Erinnerungen an Eduard Mörike« 1978, S. 151.

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eine entschlafene zeitschrift (1911) Franz Kafkas Rezension der Zweimonatsschrift Hyperion (1908–1910) als frühe Poetik Dem Andenken an I. v.  H. Am 19. März 1911 publiziert die Prager Tageszeitung Bohemia Franz Kafkas Rezension der von Franz Blei und Carl Sternheim in München im Verlag von Hans von Weber herausgegebenen Zweimonatsschrift Hyperion, die im März 1910 mit dem Doppelheft 11/12 ihr Erscheinen eingestellt hat. Diese Rezension, die den Titel Eine entschlafene Zeitschrift trägt,1 liest sich widersprüchlich: Zwar würdigt Kafka Blei als einen »bewundernswerte[n] Mann« und Weber als einen der »zielbewußtesten großen deutschen« Verleger,2 zugleich übt er jedoch die harsche Kritik, die beiden hätten in »begeisterte[r] Verblendung« eine Zeitschrift ins Leben gerufen (S.  418), die keine »Notwendigkeit« im Literaturbetrieb gehabt habe (S.  417). Eine Veröffentlichung im Hyperion habe den Autoren folglich »keinen besondern anderswo nicht zu erreichenden Gewinn« eingebracht (S. 418), stattdessen hätten sie dadurch sogar »peinliche Nachteile« in Kauf nehmen müssen (S. 417). Die Zeitschrift sei also ihren Autoren nicht gerecht geworden, sie habe ihnen sogar geschadet, so Kafka. Dies sind erstaunliche Worte – insbesondere wenn man bedenkt, dass Kafka dem Hyperion seine literarischen Erstlinge verdankt. Im ersten Heft (März 1908) des Hyperion veröffentlicht er seine ersten acht Prosaminiaturen unter dem Titel Betrachtung.3 Im März-/Aprilheft 1909 folgen das Gespräch mit dem Beter und 1 2

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Die Forschung bezeichnet Kafkas Rezension des Hyperion oftmals als ›Nachruf‹. Ich verwende ›Nachruf‹ im Folgenden synonym zu ›Rezension‹. Franz Kafka, Eine entschlafene Zeitschrift, in: Franz Kafka, Drucke zu Lebzeiten. Textband (Schriften  – Tagebücher), hg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann, kritische Ausgabe, Frankfurt a. M. 2002, S. 416–418, hier S. 416. Im Folgenden werden die Seitenzahlen aus Kafkas Hyperion-Rezension in Klammern in den laufenden Text eingefügt. Franz Kafka, Betrachtung, in: Hyperion (1908), Bd.  1, H. 1, S.  91–94.  – Entstanden sind diese Texte bereits vor Ende 1907. Zur Datierung vgl. Barbara Neymeyr, Betrachtung, in: Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Manfred Engel und Bernd Auerochs,

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das Gespräch mit dem Betrunkenen aus Beschreibung eines Kampfes, Fassung A.4 Es sind die frühesten Publikationen des jungen Autors, der das Schreiben und nicht etwa den Brotberuf der Juristerei als seine eigentliche Lebensaufgabe ansieht. Wie hat Kafka also auf eine solche Argumentation kommen können? In der Forschung fristen Kafkas früheste Publikationen im Hyperion und seine Rezension dieser Zeitschrift noch immer ein Schattendasein.5 Den wenigen Beiträgen zum ›Nachruf‹ auf den Hyperion ist gemeinsam, dass sie Kafkas ungewöhnliche, ja widersprüchliche Argumentation zwar konstatieren, jedoch kaum eine überzeugende Erklärung dafür anbieten. Die ältere Forschung hat an der Rezension Kafkas »innere[] Freiheit« der Zeitschrift gegenüber sowie

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Stuttgart und Weimar 2010, S. 111–126, hier S. 111. Vier der bereits im Hyperion veröffentlichten Prosaminiaturen werden, ergänzt um einen weiteren, bis dahin unveröffentlichten Text, unter dem Titel Betrachtungen in der Prager Tageszeitung Bohemia am 27. 3. 1910 (Osterbeilage) veröffentlicht. Die Buchfassung der Betrachtung (erschienen 1912, vordatiert auf 1913) umfasst insgesamt 18 Prosaminiaturen, darunter diejenigen aus dem Hyperion und aus der Bohemia. Zur Druckgeschichte der Betrachtung vgl. Franz Kafka, Drucke zu Lebzeiten (Schriften – Tagebücher), Apparatband, hg. von Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann, kritische Ausgabe, Frankfurt a. M. 2002, S. 35–47. Franz Kafka, Gespräch mit dem Beter, in: Hyperion (1909), Bd.  2, H. 8, S.  126–131; Franz Kafka, Gespräch mit dem Betrunkenen, in: ebd., S.  131–133.  – Die Fassung A der Beschreibung eines Kampfes entsteht zwischen September und November 1907. Der Text dieser Fassung setzt sich aus verschiedenen Elementen zusammen, die größtenteils in zwei Arbeitsphasen entstanden sind: im Sommer / Herbst 1904 und im Jahr 1907. Die Entstehung des Gespräch[s] mit dem Beter lässt sich auf die erste, die Entstehung des Gespräch[s] mit dem Betrunkenen auf die zweite Arbeitsphase datieren. Zur Entstehungs- und Druckgeschichte der Beschreibung eines Kampfes vgl. Kafka, Drucke zu Lebzeiten. Apparatband, S.  497–501; Barbara Neymeyr, Beschreibung eines Kampfes, in: Engel/Auerochs, KafkaHandbuch, S. 91–102. Die Buchfassung der Betrachtung (1913) und die beiden Fassungen A (1904–1907) und B (1909–1911) der zu Kafkas Lebzeiten unpublizierten Beschreibung eines Kampfes sind dagegen in den letzten Jahren zunehmend ins Interesse der Forschung gerückt. Vgl. Kafkas Betrachtung. Lektüren, hg. von Hans Jürgen Scheuer u.  a., Frankfurt a. M. u.  a. 2003 (= Historisch-Kritische Arbeiten zur deutschen Literatur 34); Sophie von Glinski, Imaginationsprozesse. Verfahren phantastischen Erzählens in Franz Kafkas Frühwerk, Berlin und New York 2004 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 31 [265]); Barbara Neymeyr, Konstruktion des Phantastischen. Die Krise der Identität in Kafkas Beschreibung eines Kampfes, Heidelberg 2004 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 206); Tilly Kübler-Jung, Einblicke in Franz Kafkas Betrachtung. Analyse und literaturgeschichtliche Einordnung, Marburg 2005; Kafka und die kleine Prosa der Moderne / Kafka and short modernist prose, hg. von Manfred Engel und Ritchie Robertson, Würzburg 2010 (= Oxford Kafka Studies 1); Kafkas Betrachtung, hg. von Harald Neumeyer und Wilko Steffens, Würzburg 2013 (= Forschungen der Deutschen Kafka-Gesellschaft 1); Kafkas Betrachtung. Neue Lektüren, hg. von Carolin Duttlinger, Freiburg i. Br. 2014 (= Rombach Wissenschaften, Litterae 203).



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die Mischung aus »Kritik, Ironie und Bewunderung« betont.6 In der neueren Forschung ist die Rezension zum einen biografisch gelesen worden. Nach dieser Lesart schreibe Kafka dem Autortypus, den er als »repräsentativ für den Hyperion unterstell[e]«, seine »eigenen Züge« des »prototypische[n] Junggeselle[n]« zu, der »auch in der Zeitschrift die Nachbarschaft anderer Arbeiten nicht ertragen« könne.7 Zum anderen ist Kafkas Hyperion-Rezension (März 1911) auf das in zeitlicher Nachbarschaft entstandene Schema (Dezember 1911) sowie auf den Einleitungsvortrag über Jargon (Februar 1912) bezogen worden. Auf diese Weise kommt in den Blick, dass der Hyperion, Kafkas ›Nachruf‹ gemäß, randständige Autoren (»marginalized literature«) versammelt habe und insofern die Rezension in Analogie zum Schema der »kleinen Litteratur« sowie zur randständigen jiddischen Sprache stehe.8 Bisher ist Kafkas Rezension noch nicht auf den Hyperion selbst bezogen worden  – weder auf die Vorgeschichte von Kafkas Publikationen noch auf die Programmatik der Zweimonatsschrift. Erschwerend kommt hinzu, dass zum Hyperion überhaupt bisher nur wenig geforscht worden ist.9 Dieser Beitrag möchte diese Forschungslücken schließen – mit dem Ziel, nicht nur die Widersprüchlichkeit von Kafkas Rezension aufzulösen, sondern auch den ›Nachruf‹ hinsichtlich Kafkas Selbstanspruch als Autor zu befragen. Im Folgenden soll  – erstens  – geklärt werden, wie es zu Kafkas Veröffentlichungen im Hyperion gekommen ist. Dabei gilt es, die anfänglichen Netzwerke des jungen Autors sichtbar zu machen. Zweitens soll der Hyperion in Grundzügen vorgestellt und das intendierte, aber nicht verwirklichte Programm der Zeitschrift rekonstruiert werden. Grundlage hierfür ist bisher unveröffentlichtes Briefmaterial aus den Beständen des Deutschen Literaturarchivs in Marbach.10 Auf das derart rekon-

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Ludwig Dietz, Franz Kafka und die Zweimonatsschrift Hyperion. Ein Beitrag zur Biographie, Bibliographie und Datierung seiner frühen Prosa, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 37 (1963), S. 463–473, hier S. 469. 7 Jutta Heinz, Literaturkritische und literaturtheoretische Schriften, in: Engel/Auerochs, Kafka-Handbuch, S. 134–142, hier S. 136. 8 Doreen Densky, Speaking for Liveliness. Franz Kafka’s Obituary for Hyperion and his Introductory speech on Yiddish, in: The German Quarterly 88.3 (2015), S. 334–354, hier S. 337, S. 341, S. 343. 9 Vgl. Walter Richard Beane, Solutions for Problems in Prewar Germany. The Journal Hyperion, Ann Arbor (MI) 1986; Hildegard Nabbe, Zwischen Fin de Siècle und Expressionismus. Die Zeitschrift Hyperion (1908–10) als Dokument elitärer Tendenzen, in: Seminar. A Journal of Germanic Studies 22 (1986), S. 126–143. 10 Mein Dank gilt dem Deutschen Literaturarchiv (Marbach) für die Abdruckgenehmigung der im Folgenden zitierten Briefe zwischen Franz Blei und Alfred Walter Heymel sowie zwischen Franz Blei und Rudolf Borchardt.

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struierte Programm des Hyperion soll  – drittens  – Kafkas ›Nachruf‹ bezogen werden. Aus dieser Rezension des Hyperion, deren Widersprüche erst mit dem Wissen um das intendierte Programm der Zeitschrift verständlich werden, lässt sich  – so die These dieses Beitrags  – die Poetik rekonstruieren, von der das Schreiben des jungen Autors seinen Ausgang nimmt.

I. Zur Vorgeschichte von Kafkas Veröffentlichungen im Hyperion 1. Kafka und Brod als Subskribenten des Amethyst und der Opale Max Brod, mit dem Kafka seit dem Wintersemester 1902/03 eine über die Jahre zunehmend enger werdende Freundschaft verbindet,11 erkennt früh das schriftstellerische »Genie« Kafkas und bemüht sich, »die Werke Kafkas in die Öffentlichkeit zu bringen«.12 Zwischen Brod und Franz Blei besteht mindestens seit 1905/06 ein enger Kontakt. Kafka selbst ist Blei Ende 1905/Anfang 1906 vermutlich noch nicht persönlich, aber als Herausgeber der erotischen Zeitschriften Der Amethyst und Die Opale bekannt. Dies lässt sich aus folgendem Brief erschließen, den Kafka Mitte August 1907 an Max Brod von seinem Aufenthalt in einem Sanatorium im mährischen Triesch schreibt: Morgen werde ich ihnen [gemeint sind zwei Mädchen, die Kafka im Sanatorium kennengelernt hat, GvBJ] aus den »Experimenten« [Buchpublikation von Max Brod, GvBJ] vorlesen, es ist das einzige Buch, das ich außer Stendal und den »Opalen« bei mir habe. Ja, wenn ich auch die »Amethyste« hätte, würde ich Dir die Gedichte abschreiben, aber ich habe sie im Bücherkasten zuhause und den Schlüssel habe ich bei mir […].13 Die von Franz Blei herausgegebene Zeitschrift Der Amethyst. Blätter für seltsame Litteratur und Kunst erscheint von Dezember 1905 bis November 1906 in

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Vgl. Max Brod, Franz Kafka. Eine Biographie, in: Max Brod, Über Franz Kafka. Franz Kafka. Eine Biographie. Franz Kafkas Glauben und Lehre. Verzweiflung und Erlösung im Werk Franz Kafkas, Frankfurt a. M. 1974, S. 9–219, hier S. 43–46, über die erste Begegnung zwi­ schen Kafka und Brod in der »Lese- und Redehalle der deutschen Studenten«. 12 Brod, Franz Kafka, S. 60. 13 Franz Kafka an Max Brod, Mitte August 1907, in: Franz Kafka, Briefe 1900–1912, hg. von Hans-Gerd Koch, Frankfurt a. M. 1999 (= Franz Kafka, Schriften. Tagebücher. Briefe. Kri­ti­ sche Ausgabe), S. 52–55, hier S. 53.



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München. Kafka und Max Brod gehören zu den Subskribenten.14 Das Februarheft 1906 enthält drei Gedichte von Max Brod: Von Küssen, Von einem Fläschlein, Die Solitüde oder Von drei Rosenketten.15 Nachdem Der Amethyst im November 1906 durch die Zensur verboten worden ist, gibt Franz Blei die Vierteljahrsschrift Die Opale. Blätter für Kunst und Litteratur heraus, die Kafka und Brod wiederum subskribieren.16 Am 28.  September 1907 werden auch Die Opale wegen »Verbreitung unzüchtiger Schriften« beschlagnahmt.17 Max Brod veröffentlicht in den Opalen die Prosatexte Launen des Eros und Das tschechische Dienstmädchen sowie die Gedichte Das schöne Mädchen spricht, Erinnerung, Sehnsucht und Nächtliche Gesellschaft.18 Abschriften eben dieser Gedichte fügt Kafka seinem Brief an Brod aus Triesch vom August 1907 bei, nachdem Brod um Abschriften seiner im Amethyst erschienenen Gedichte gebeten hat, wohl im Hinblick auf die Vorbereitung seines Gedichtbandes Der Weg des Verliebten (1907).

2. Die Rezensions- und Übersetzungstätigkeit von Franz Blei und Max Brod Zur Vorgeschichte von Kafkas literarischem Debut im Hyperion gehört auch die gemeinsame Rezensions- und Übersetzungstätigkeit von Blei und Brod. Im Amethyst nennt Blei Max Brods Novellensammlung Tod den Toten (1906) »ein starkes

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Vgl. Brod, Franz Kafka, S. 66. Vgl. auch Franz Kafka an Max Brod, 19. 2. 1906, in: Kafka, Briefe 1900–1912, S. 44 und S. 411. Der Amethyst war, wie auch Die Opale, nur für Subskribenten erhältlich (eine der Zensur geschuldete Maßnahme). Vgl. Klaus Wagenbach, Franz Kafka. Eine Biographie seiner Jugend 1883–1912. Neuausgabe, Berlin 2006, S. 132. 15 Max Brod, Drei Gedichte, in: Der Amethyst (1905/1906), Bd. 1, S. 82–84. 16 Vgl. Peter-André Alt, Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie, München 2005, S. 138. 17 Vgl. Franz Kafka an Max Brod, 8. 10. 1907, in: Kafka, Briefe 1900–1912, S. 71 und S. 425. 18 Max Brod, Launen des Eros. Ein skizzierter Roman, in: Die Opale (1907), Bd. 1, Teil 1, S. 17– 21; Max Brod, Das tschechische Dienstmädchen. Eine Geschichte, in: Die Opale (1907), Bd. 1, Teil 3/4, S. 39–82; Max Brod, Vier Gedichte, in: Die Opale (1907), Bd. 1, Teil 2, S. 182– 184. Zur Verbindung zwischen Franz Blei und Max Brod vgl. Helga Mitterbauer, Die Netzwerke des Franz Blei. Kulturvermittlung im frühen 20.  Jahrhundert, Tübingen und Basel 2003 (= Kul­tur – Herrschaft – Differenz 4), S. 92–100; Helga Mitterbauer, Kulturvermittlung um 1900. Hermann Bahr, Franz Blei und Max Brod, in: Übergänge und Verflechtungen. Kul­ tu­relle Transfers in Europa, hg. von Gregor Kokorz und Helga Mitterbauer, Bern u.  a. 2004 (=  Wechselwirkungen. Österreichische Literatur im internationalen Kontext 7), S.  75–98, hier S. 97.

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Dokument der jungen Generation und ihrer neuen Wertungen des Lebens«.19 Brod wiederum rezensiert immer wieder Publikationen von Franz Blei.20 Hinsichtlich Kafkas Publikation im Hyperion ist insbesondere Brods Rezension von Bleis Drama Der dunkle Weg (1906) hervorzuheben, die im Februar 1907 in der Berliner Wochenschrift Die Gegenwart erscheint.21 Über Kafka, der zu diesem Zeitpunkt noch nichts veröffentlicht hat, schreibt Brod hier: Es ist ein Zeichen der jetzt erreichten hohen Cultur deutschen Schriftthums, daß wir einige haben, die das treffen und die verschiedensten Seiten des Daseins mit ihrer Kunst und Grausamkeit schmücken. Heinrich Mann, Wedekind, Meyrink, Franz Kafka und noch einige gehören mit dem Autor dieses Stückes [Franz Blei, GvBJ] zu der heiligen Gruppe […].22 Kafka reagiert zwar belustigt-ironisch auf diese Rezension, aber Brods nachdrücklichen Hinweis darauf, dass er gern die Arbeiten seines Freundes publiziert sehen würde, dürfte er verstanden haben. »Nun, das ist Fasching, durchaus Fasching, aber der liebenswürdigste. Gut, so habe ich in diesem Winter doch einen Tanzschritt gemacht.«23 Der Amethyst sowie Die Opale enthalten Franz Bleis Übersetzungen des französischen Autors Jules Laforgue (1860–1887).24 Gemeinsam mit Max Brod übersetzt Blei weitere Texte von Laforgue, die 1909 unter dem Titel Pierrot, der Spaßvogel publiziert werden. Dieser Band enthält zudem Bleis und Brods Komödie Circe und ihre Schweine; eine Bearbeitung der Episode um Odysseus und die Zauberin Kirke aus Homers Odyssee.25 Brod ist es auch, der Kafka mit Franz Blei in Prag schließlich in persönlichen Kontakt bringt, entweder noch in der 2. Jahreshälfte 1906 oder im Lauf des Jahres

19 [Franz Blei], Von Büchern, in: Der Amethyst (1905/1906), Bd. 1, S. 324  f., hier S. 325. 20 Vgl. etwa Max Brod [Rez.], Blühende Gärten des Orients, hg. von Franz Blei, Leipzig 1907, in: Die Gegenwart 71 (1907), S. 350  f.; Max Brod [Rez.], Die Gnadenwahl. [Zu Franz Blei: Vermischte Schriften], in: Die neue Rundschau 22 (1911), S. 1332  f. 21 Max Brod [Rez], Franz Blei, Der dunkle Weg, in: Die Gegenwart 71 (1907), S. 93; vgl. auch Alt, Franz Kafka, S. 155. 22 Zitiert nach Kafka, Briefe 1900–1912, S. 417. 23 Franz Kafka an Max Brod, 12. 2. 1907, in: Kafka, Briefe 1900–1912, S. 49. 24 Jules Laforgue, Pierrot, der Spaßvogel. [Deutsch von Franz Blei], in: Der Amethyst (1905/1906), Bd.  1, S.  33–41; Jules Laforgue, Aphorismen über die Frauen. [Deutsch von Franz Blei], in: Die Opale (1907), Bd. 1, Teil 1, S. 88–90. Zur Zusammenarbeit von Franz Blei und Max Brod vgl. Mitterbauer, Die Netzwerke des Franz Blei, S. 93–98. 25 Jule Laforgue, Pierrot, der Spaßvogel. Eine Auswahl von Franz Blei und Max Brod, Berlin u.  a. 1909; zu Circe und ihre Schweine vgl. S. 100–114.



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1907.26 Die Prosastücke der Betrachtung für das erste Hyperion-Heft werden entweder von Kafka selbst oder von Brod an Blei geschickt.27 Die beiden Gespräche, die ein gutes Jahr später im Hyperion erscheinen, schickt Brod an Blei.28 Jedenfalls knüpft Kafka mit seinen Veröffentlichungen im Hyperion an die Verbindung Brods zu Blei an und profitiert von diesem publizistischen Netzwerk. Brod gelingt es über den Kontakt zu Blei erstmals, Kafka zu einer Publikation von Texten zu bewegen, deren Entstehung bereits einige Zeit zurückliegt (1904 und 1907).

II. Die Zeitschrift Hyperion, hg. von Franz Blei und Carl Sternheim 1. Ausstattung und inhaltliche Zweiteilung Die Zweimonatsschrift Hyperion erscheint von März 1908 bis März 1910 im Hyperion Verlag von Hans von Weber in München. Der für beide Jahrgänge verantwortliche Redakteur, Franz Blei, gibt den ersten Jahrgang gemeinsam mit Carl Sternheim heraus, der das Projekt finanziell mit 10.000 Mark unterstützt.29 Den 26 Brod, Franz Kafka, S. 61: »[…] Blei hatte sich für mein erstes Buch ›Tod den Toten‹ sehr warm eingesetzt, kam dann öfters nach Prag, ich brachte ihn mit Kafka zusammen […].« Kafka und Blei haben einander also nach Bleis Rezension von Tod den Toten kennengelernt. 27 Joachim Unseld, Franz Kafka. Ein Schriftstellerleben. Die Geschichte seiner Veröffentlichungen. Mit einer Bibliographie sämtlicher Drucke und Ausgaben der Dichtungen Franz Kafkas 1908–1924, München und Wien 1982, S. 26, meint, dass Kafka selbst, wahrscheinlich auf die Bitte Bleis hin, für das erste Heft des Hyperion acht kleine Prosastücke zusammengestellt und also für seine erste Veröffentlichung Brod nicht in Anspruch genommen habe.  – Binder und Raabe meinen dagegen, dass Brod Kafkas Texte verschickt habe. Hartmut Binder, Kafka-Kommentar zu den Romanen, Rezensionen, Aphorismen und zum Brief an den Vater. 2., bibliographisch ergänzte Aufl. München 1982, S.  381; Paul Raabe, Franz Kafka und Franz Blei. Samt einer wiederentdeckten Buchbesprechung Kafkas, in: Kafka-Symposion, hg. von Jürgen Born u.  a., Berlin 1965, S. 7–20, hier S. 8. 28 Unseld, Franz Kafka, S. 27: »Die Zustimmung zu diesem Schritt muß Brod Kafka förmlich abgepreßt haben […].«  – Später distanziert sich Kafka von den beiden Gesprächen und macht Brod einen Vorwurf, dass sie publiziert wurden. Vgl. dazu Kafka an Max Brod, um den 5. 7. 1909: »Sag, warum ärgerst Du mich immerfort mit den zwei Kapiteln?« Ähnlich Kafka an Max Brod, 7. 8. 1912: »willst Du mir wirklich raten […] bei hellem Bewußtsein etwas Schlechtes drucken zu lassen, das mich dann anwidern würde, wie die zwei Gespräche im Hyperion«. Kafka: Briefe 1900–1912, S. 104 und S. 165  f., hier S. 165. Vgl. auch Kafka, Drucke zu Lebzeiten, S. 500. 29 Vgl. Beane, Solutions for Problems in Prewar Germany, S. 39; Nabbe, Zwischen Fin de Siècle und Expressionismus, S.  131.  – Der 1.  Akt sowie weitere einzelne Szenen aus Carl Sternheims Drama Don Juan werden im 1., 3., 4. und 6. Heft des Hyperion gedruckt.

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zweiten Jahrgang des Hyperion gibt Blei allein heraus. Eine fruchtbare Wechselwirkung zwischen Verlag und Zeitschrift ergibt sich, indem Blei im Hyperion Auszüge von Werken abdruckt, die später in Buchfassung in Webers Hyperion Verlag erscheinen.30 Als Titel der Zeitschrift werden zunächst Das goldene Vlies, Die Horen und Die Hesperiden erwogen, bevor erst im Februar 1908, also kurz vor der Drucklegung des ersten Heftes, der Name Hyperion feststeht.31 Dieser lässt, wie auch die schließlich verworfenen Titel, den Anspruch der Herausgeber auf Klassizität erkennen. Dem entspricht die äußere Gestaltung: Von der Auflage von 1.050 Exemplaren werden 1.000 Stück auf Englischem Velin und 50 Stück auf Kaiserlich Japan gedruckt. Die Buchdecken für je 2 Doppelbände werden in der Wiener Werkstätte hergestellt, für die Luxusausgabe in Leder und für die allgemeine Ausgabe in olivgrünem Ganzleinen; sie zeigen in Großformat in Goldfarben den Sonnengott, dessen Beiname »Hyperion« lautet,32 in seinem Wagen. Der Preis für das Abonnement beläuft sich im Jahr 1908 auf 100  Mark für die Luxusausgabe und auf 48 Mark für die allgemeine Ausgabe, der Preis für die Luxusausgabe erhöht sich im darauffolgenden Jahr auf 120 Mark. Einzelne Hefte können auch im Buchhandel erworben werden.33 Anders als Der Amethyst und Die Opale ist der Hyperion keine explizit erotische Zeitschrift. Inhaltlich ist er aufgeteilt in einen Literatur- und einen Kunstteil. Der Literaturteil des Hyperion enthält lyrische, dramatische und erzählende Dichtung sowie Essays. Der Anteil an Essays nimmt im Jahrgang 1909 gegenüber dem Jahrgang 1908 um das 2,5fache zu; dementsprechend nimmt der Anteil an dramatischer und erzählender Dichtung ab.34 Das erste Heft des Hyperion wird

30 Vgl. Nabbe, Zwischen Fin de Siècle und Expressionismus, S. 132. Dies gilt etwa für Gilbert K. Chestertons Orthodoxie. Auszüge erscheinen im 7. Heft des Hyperion, die Buchfassung erscheint 1909 im Hyperion-Verlag. 31 Vgl. Franz Blei an Alfred Walter Heymel, 21. 12. 1907 und 22. 12. 1907 (DLA [Deutsches Lite­ra­ turarchiv Marbach], A:Heymel); Briefe von Franz Blei an Alfred Walter Heymel, 1904–1907 und Franz Blei an Rudolf Borchardt, 18. 1. 1908 und [10. 2. 1908] (DLA, A:Borchardt, Mappe »1905, 1907, 1908« und Mappe »undatierte Briefe«); Raabe, Franz Kafka und Franz Blei, S. 7. 32 In diesem Sinn verwendet auch Friedrich Hölderlin den Namen in seinem Hyperion-Roman (1797/99), den man hier wird assoziieren dürfen. Der Beitrag von Benno Geiger, Ein Epilog. Hyperions Ende, in: Hyperion (1910), Bd. 3, H. 11/12, S. 181–187, hat nicht nur ein Zitat aus Hölderlins Hyperion als Motto, sondern ist voll von Anspielungen auf diesen Roman. 33 Für Details vgl. Beane, Solutions for Problems in Prewar Germany, S. 45–47. 34 Zur Übersicht vgl. Beane, Solutions for Problems in Prewar Germany, S. 53  f. – Die Begünstigung von Essays zeigt sich v.  a. in den letzten Heften der Zeitschrift. Heft 8 enthält noch überwiegend literarische Beiträge, die abschließenden Hefte 9, 10 und 11/12 enthalten zunehmend essayistische Beiträge. Die Hyperion-Almanache bestätigen die Änderung der



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mit vier Gedichten Rainer Maria Rilkes (Toten-Tanz, Das Jüngste Gericht, Der Tod der Geliebten, Dame vor dem Spiegel) eröffnet, sodann folgen der letzte Akt von Hofmannsthals Das Bergwerk zu Falun und Heinrich Manns Novelle Gretchen.35 Blei hat Spürsinn für literarische Talente und wagt es, Werke von jungen oder noch gänzlich unbekannten Autoren erstmals der Öffentlichkeit vorzustellen. Zu diesen Autoren gehören Franz Kafka und Robert Musil.36 Der Hyperion ist international ausgerichtet und bringt zudem eine Reihe von nichtdeutschen Autoren in Übersetzung – etwa die französischen Autoren Paul Claudel und André Gide,37 den englischen Essayist Gilbert K. Chesterton,38 des weiteren Gedichte von Algernon Charles Swinburne, Alexander Block, Edgar Allen Poe oder Gabriele d’Annunzio.39 Für den Kunstteil ist ab dem zweiten Jahrgang Alfred Walter Heymel verantwortlich, der am 13. Oktober 1908 an Blei schreibt:

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Zielsetzung der Zeitschrift. Der Hyperion-Almanach auf das Jahr 1910 enthält eine Auswahl aus den ersten 6 Heften des ersten Jahrgangs. Der Hyperion-Almanach auf das Jahr 1911 versammelt überwiegend bereits angenommene literarische Beiträge, für die sich im Hyperion selbst kein Platz mehr gefunden hat. Vgl. Kafka, Drucke zu Lebzeiten. Apparatband, S. 524. Rainer Maria Rilke, Gedichte, in: Hyperion (1908), Bd. 1, H. 1, S. 1–3; Hugo von Hofmannsthal, Das Bergwerk z. Falun. Der letzte Akt, in: ebd., S. 4–9; Heinrich Mann, Gretchen. Eine Novelle, in: ebd., S. 10–25. Robert Musil, Das verzauberte Haus, in: Hyperion (1908), Bd. 1, H. 6, S. 105–116. Paul Claudel, Die Musen, eine Ode. Deutsch von Karl Lotar Ammer, in: Hyperion (1908), Bd. 1, H. 2, S. 185–195; Paul Claudel, Aus der Kenntnis des Ostens. Deutsch von Heinrich Lautensack, in: Hyperion (1909), Bd.  2, H. 9, S.  26–30; Paul Claudel, Der Tausch [1. und 2. Akt]. Deutsch von Franz Blei, in: Hyperion (1909), Bd. 2, H. 10, S. 157–191; Paul Claudel, Der Tausch. [3. Akt.] Deutsch von Franz Blei, in: Hyperion (1910), Bd. 3, H. 11/12, S. 1–22; André Gide, Bethsabe. Dramatisches Gedicht in drei Monologen. Deutsch von Franz Blei, in: Hyperion (1908), Bd. 1, H. 4, S. 108–114. Gilbert K. Chesterton, Verteidigung missachteter Dinge, in: Hyperion (1909), Bd. 2, H. 10, S.  141–156. Chesterton publiziert im Hyperion nicht immer unter seinem vollen Namen, sondern auch unter dem Kürzel »G. K. C.« Vgl. dazu G. K. C., Herr Bernhard Shaw, in: Hyperion (1909), Bd. 2, H. 7, S. 54–59; G. K. C., Jeanne d’Arc, in: ebd., S. 59–61; G. K. C., Der Bub, in: Hyperion (1909), Bd. 2, H. 8, S. 170–172; G. K. C., Die Idolatrie des Reichen, in: Hyperion (1909), Bd. 2, H. 9, S. 34–36. Rudolf Borchardt, Nachdichtungen Swinburnes, in: Hyperion (1909), Bd. 2, H. 10, S. 125–131; Alexander Alexandrowitsch Block, Zwei Gedichte. Aus dem Russischen von Reinhold von Walter, in: Hyperion (1908), Bd. 1, H. 6, S. 143  f.; Edgar Allen Poe, Der Rabe. Zum 19. Jänner 1909 ins Deutsche gebracht von Theodor Etzel, in: Hyperion (1908), Bd. 1, H. 6, S. 135–138; Gabriele d’Annunzio, Anrufung. Deutsch von Otto Freiherr von Taube, in: Hyperion (1908), Bd. 1, H. 5, S. 1.

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Nach langem Ueberlegen kann ich Ihnen die Mitteilung machen, dass ich nunmehr gewillt bin den mir freundlichst gemachten Vorschlag des Herrn H. von Weber die künstlerische Redaktion des Hyperion für das nächste Jahr zu übernehmen, anzunehmen. Ich habe mich ersichert, dass ich in der Lage sein werde ganz ausserordentlich schöne Blätter zur Reproduktion beizubringen, vor allem habe ich hier in Bremen noch gutes deutsches Material aufgetrieben; Liebermann, Hoffmann, Kardorff und last not least, wir können uns dazu alle beglückwünschen, gelang es mir die Erlaubnis des Direktors der Bremer Kunsthalle zu bekommen, aus deren wunderbaren alten Handzeichnungen Blätter zur Reproduktion auszuwählen. Es handelt sich um Rembrandt, andere Niederländer, Franzosen und Italiener.40 Mit der Qualität der Graphiken geht ein entsprechender künstlerischer Anspruch einher, der dem Namen der Zeitschrift und ihrer äußeren Gestaltung entspricht.

2. Zum Programm des Hyperion Die Ankündigung eines Programms wird man in den Heften des Hyperion vergeblich suchen. Es lässt sich jedoch erschließen aus den Briefen von Franz Blei an Rudolf Borchardt, die im Deutschen Literaturarchiv in Marbach aufbewahrt werden.41 Aus diesen Briefen, die zwischen Herbst 1907 und Winter 1909 zum Hyperion gewechselt werden, geht hervor, dass der Hyperion um Borchardts Schriften als ästhetisches Zentrum zentriert sein sollte. Am 20. September 1907 schreibt Blei an Borchardt:

40 Alfred Walter Heymel an Franz Blei, 13. 10. 1908 (DLA, A: Heymel, Briefe von Alfred Walter Heymel an Franz Blei, 1907–1914). 41 Beane, Solutions for Problems in Prewar Germany, S.  55–66, der die Briefe Bleis an Borchardt anscheinend nicht kennt, rekonstruiert ein Programm des Hyperion aus Franz Blei, Ein Gespräch von deutschen Dingen, in: Hyperion (1908), Bd. 1, H. 4, S. 115–124; Franz Blei, Der Übersetzer an den Leser, in: Hyperion (1910), Bd. 3, H. 11/12, S. 22–24; Franz Blei, Abschied an den Leser, in: ebd., S. 188  f. – Angela Reinthal, »… um Sie im Lucchesischen auf dem Laufenden zu halten, was das laute Deutschland betrifft«. Rudolf Borchardt und Franz Blei, in: Rudolf Borchardt, hg. von Heinz Ludwig Arnold und Gerhard Schuster, München 2007 (= text + kritik, Sonderband), S. 36–46, hier S. 37, weist auf die Briefe Bleis an Borchardt hin, die sich im Deutschen Literaturarchiv in Marbach befinden. Auf die hier im Folgenden präsentierten Briefe Bleis an Borchardt geht sie nicht explizit ein. Auch bei Peter Sprengel, Rudolf Borchardt. Der Herr der Worte. Eine Biographie, München 2015, kommt Bleis Werbung um Borchardt im Zusammenhang mit der Zeitschrift Hyperion nicht vor.



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Dass ich für das nächste Jahr an eine Zweimonatsschrift denke, deren Programm in Ihrer Rede über Hofmannsthal steht, habe ich Ihnen das schon geschrieben? Ja, es soll eine […] Zeitschrift sein, mit dem verpflichtenden Titel Die Horen [später: Hyperion, GvBJ], und soll Ihnen ganz zur Verfügung stehen.42 Diese Zeitschrift, so Blei am 23.  Oktober 1907, solle sowohl dichterische Arbeiten enthalten als auch »politische« und »religiöse Aufsätze«, die nicht etwa nur ein »Nebeneinander« ergeben sollen, sondern ein »Miteinander«, getragen vom »Sinn des Ganzen«.43 Die Klassizität des Hyperion soll sich also, nach den Vorstellungen Franz Bleis, nicht nur im Namen und in der äußeren Gestaltung der Zeitschrift manifestieren, sondern auch in einer konservativen Ästhetik. Als Zentrum dieses ›Ganzen‹ stellt sich Blei dichterische und essayistische Beiträge Borchardts vor. Auf Borchardts Schriften plant Blei etwa Paul Claudel, Hugo von Hofmannsthal, André Gide, Richard Beer-Hofmann, Peter Altenberg, Arthur Schnitzler, Eduard Graf Keyserling, Heinrich Mann, Robert Musil, Max Brod, Rainer Maria Rilke, Robert Walser, Maximilian Dauthendey oder George Meredith zu beziehen.44 Um das Programm der geplanten Zeitschrift weiter zu präzisieren, sei Borchardts am 8.  September 1902 in Göttingen gehaltene Rede über Hofmannsthal in ihren Grundzügen vorgestellt. Borchardt leistet im ersten Teil seiner Rede eine Analyse der Zeit, der Gesellschaft und der Literatur um 1900. Die moderne, durch die Revolution von 1848, die Reichsgründung von 1871 und die rasante Industrialisierung hervorgebrachte Gesellschaft befinde sich in einem disparaten (»chaotischen«) Zustand.45 Diesen reproduziere und repräsentiere die ebenso chao-

42 Franz Blei an Rudolf Borchardt, 20. 9. 1907 (DLA, A:Borchardt, Mappe »1905, 1907, 1908«). Borchardt kommentiert diesen Brief Bleis, »diese Canaille wollte vor etwa 1 1/2  Monaten meine Mitarbeiterschaft für geplante ›Horen!!!‹« Rudolf Borchardt an Rudolf Alexander Schröder, 5. 12. 1907, in: Rudolf Borchardt – Rudolf Alexander Schröder, Briefwechsel 1901– 1918, Text, in Verbindung mit dem Rudolf-Borchardt-Archiv bearbeitet von Elisabetta Abbondanza, München und Wien 2001, S. 138  f.; hier S. 138, Herv. i.  O. 43 Franz Blei an Rudolf Borchardt, 23. 10. 1907 (DLA, A:Borchardt, Mappe »1905, 1907, 1908«), Herv. i.  O. 44 Vgl. ebd., Franz Blei an Rudolf Borchardt, 8. 12. 1907. In der Tat publizieren diese von Blei ins Auge gefassten Autoren im Hyperion. 45 Rudolf Borchardt, Rede über Hofmannsthal, in: Rudolf Borchardt, Gesammelte Werke in Einzelbänden, Reden, hg. von Marie Luise Borchardt unter Mitarbeit von R. A. Schröder und S. Rizzi, Stuttgart 1955, S. 45–103, hier S. 54; zur Veröffentlichungsgeschichte vgl. ebd., S.  433  f.; Sprengel, Rudolf Borchardt, S.  155  f. Die Druckfassung der Rede liegt erst 1907 vor. – Im folgenden Abschnitt über die Rede beziehe ich mich auf Kai Kauffmann, Rudolf

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tische zeitgenössische Literatur, die sich durch den »absoluten Zusammenbruch aller Überlieferung der Formen und der Gattungen, des Urteils und des Geschmackes, des Theaters und des Publikums« auszeichne.46 Sodann stellt Borchardt zwei Dichter vor, die mit ihrem Werk auf zweierlei Weise die Verwilderung der modernen Gesellschaft und der modernen Literatur beantworten: Stefan George und Hugo von Hofmannsthal.47 Georges Bedeutung sieht Borchardt darin begründet, dass er sich bewusst in Opposition zu seiner Zeit stelle. In einer großartigen Willensanstrengung (»ungeheure Absichtlichkeit«) habe er den anarchischen Verhältnissen der Geschichte und der Literatur sein dichterisches Werk abgerungen.48 George habe auf diese Weise Gedichte von klassischem Rang hervorgebracht,49 die »das allgemeine Niveau der deutschen Poesie sofort um ein Gewaltiges gesteigert« hätten.50 Doch die Antinomie zu den geistigen Verhältnissen seiner Zeit bedinge zugleich die Schwäche seiner Kunst: George vermöge es nicht, die »freie Vielfalt des Lebens«51 in seinen Gedichten zu einer lebendigen Einheit zu synthetisieren, sondern nur zur »Uniformität«52 zu zwingen. Folglich begründe George eine dogmatische Kunst- und Gesellschaftslehre, die ihren Ort nur in kleinen »Gemeinde[n]« und nicht in der »Gesellschaft« habe.53 Hofmannsthals Verhältnis zu seiner Zeit sei dagegen, so Borchardt, demjenigen Georges diametral entgegengesetzt. Er stehe nicht in bewusster Opposition, sondern in unbewusster Korrespondenz mit seiner Epoche. Hofmannsthal sei »seit Goethe der erste deutsche Dichter, der einem selbstdurchlittenen problematischen Zustande durch den Ernst der Vertiefung, die Gewalt der Vision und die Verbindung mit allem höheren Dasein seiner Zeit Allgemeingültigkeit und

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Borchardt und der »Untergang der deutschen Nation«. Selbstinszenierung und Geschichtskonstruktion im essayistischen Werk, Tübingen 2003, S. 263–268. Borchardt, Rede über Hofmannsthal, S. 49. Zur Bedeutung Stefan Georges und Hugo von Hofmannsthals für Borchardt vgl. Kauffmann, Rudolf Borchardt und der »Untergang der deutschen Nation«, S.  258–263; zu Borchardts Schriften über George ebd., S. 268–295; Dieter Burdorf, Rudolf Borchardt – Rudolf Alexander Schröder, in: Hofmannsthal-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Mathias Mayer und Julian Werlitz, Stuttgart 2016, S. 56–59. Borchardt, Rede über Hofmannsthal, S. 59. Vgl. ebd., S. 60. Ebd., S. 62, Herv. i.  O. Ebd., S. 66. Ebd., S. 65. Ebd., S. 65.



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völligen Kunstwert zu geben gewußt« habe.54 So, wie dem »eigenen Dasein[]« Hofmannsthals in verkleinertem Maßstab das »Erhabene wie das Winzige des Menschendaseins« unterliege,55 kommen mit den Themen des Dichters in seinem Werk auch die Themen der ganzen Epoche zur Sprache. In Hofmannsthals Werk spiegelten sich, so Borchardt, in unendlichen Verweisungen und Vermittlungen, der Autor, die Konflikte der Zeit und der modernen Literatur, was auch Fragen nach dem Sprachstil und der Gestalt des Werkes mit einschließe. Die anarchischen Tendenzen der modernen Zeit und Literatur (die »freie Vielfalt des Lebens«) fänden sich im Werk Hofmannsthals – anders als im Werk Georges – zur »Einheit des Lebens« synthetisiert.56 Vor dem Hintergrund von Borchardts Rede lässt sich das Programm der von Franz Blei geplanten Zeitschrift in etwa folgendermaßen rekonstruieren: Die Systemstelle, die in der Rede Hofmannsthal zukommt, soll im Hyperion Borchardt einnehmen. Seine dichterischen und essayistischen Beiträge sollen sowohl im Zentrum der Zeitschrift als auch in Korrespondenz zu den Beiträgen der weiteren Hyperion-Autoren stehen. Ihre dichterischen Arbeiten sowie ihre politischen und religiösen Essays sollen, nach Blei, die gesellschaftlichen Zustände sowie die Literatur um 1900 abbilden. Die Beiträge Borchardts plant Blei als Zentrum des Hyperion, in dem sich die verschiedenen Stile, Themen, Konflikte und Debatten der Zeit und der Literatur kreuzen, um von diesem Zentrum wieder zurückzustrahlen. Auf diese Weise können die Schriften Borchardts und die der anderen Autoren in einem unendlichen Verweisungssystem auf einander Bezug nehmen. Die Zeitschrift selbst ist als eine Repräsentation der lebendigen »Einheit des Lebens«57 geplant. Zudem lässt Blei Borchardt am 8. Dezember 1907 wissen, »dass die Zeitschrift 1908 finanziell über alle Maassen gut gesichert« sei, sodass »ihr von dieser Seite aus nichts passieren« könne. Blei fährt fort: »Redaktionell hat der Eigensinn volle

54 Ebd., S. 91. – Borchardt bezieht sich in seinen Hofmannsthal-Zitaten auf dessen Gedichte und lyrische Dramen, auf Formen also, die Hofmannsthal 1902 bereits hinter sich gelassen hat. Vgl. Burdorf, Rudolf Borchardt – Rudolf Alexander Schröder, S. 57. 55 Borchardt, Rede über Hofmannsthal, S. 91. 56 Ebd., S. 66 und S. 91. – Die Art und Weise, wie Borchardt in der Rede Stefan George und Hugo von Hofmannsthal im Verhältnis zu ihrer Epoche charakterisiert, erinnert daran, wie Friedrich Schiller in Über naive und sentimentalische Dichtung (1795) den naiven und den sentimentalischen Dichter in ihrem Verhältnis zur Natur charakterisiert. Schillers sentimentalischem Dichter entspricht in der Rede George, Schillers naivem Dichter entspricht in der Rede Hofmannsthal. 57 Ebd., S. 91.

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Freiheit, da die Absicht auf schnellen materiellen Gewinn als nicht bestehend nicht das geringste Opfer verlangt […].«58 Aber: So verlockend das Angebot Bleis auch sein mag – Borchardt selbst trägt sich bereits mit anderen Plänen, als er Bleis Brief erhält. Er beabsichtigt zur selben Zeit, gemeinsam mit Alfred Walter Heymel im Insel Verlag eine eigene Quartalsschrift herauszugeben. Als Titel werden Hesperus, Heimkehr und schließlich Das Schiff erwogen. Der Plan ist Anfang Januar 1908 bereits so weit ausgereift, dass beide eine Ankündigung entwerfen.59 Mit den »Plänen einer eigenen Revue« begründet Borchardt Blei gegenüber seine Absage.60 Für Franz Blei bedeutet dies, dass sich das geplante Programm, eine um Borchardt zentrierte Zeitschrift herauszugeben, nicht wird realisieren lassen. Bedauernd spricht er von einem »Torso«, den der Hyperion nun, ohne Borchardts Schriften als ästhetisches Zentrum, darstellen müsse,61 und betont, »dass die Horen [später: Hyperion, GvBJ] ihre wichtigsten Gründe nicht haben werden«.62 Angesichts der Gefahr, womöglich eine Zeitschrift ohne ein ästhetisches Zentrum zu haben, versucht Blei weiterhin, Borchardt zur Mitarbeit am Hyperion zu gewinnen, und schreibt am 10. Januar 1908:

58 Franz Blei an Rudolf Borchardt, 8. 12. 1907 (DLA, A:Borchardt, Mappe »1905, 1907, 1908«). 59 Rudolf Borchardt, Ankündigung, in: Rudolf Borchardt, Gesammelte Werke in Einzelbänden, Prosa, Bd. 4, Europäische Geschichte und Literatur, hg. von Marie Luise Borchardt unter Mitarbeit von Ulrich Ott und Ernst Zinn, Stuttgart 1973, S.  197–204. Vgl. dazu Kai Kauffmann, Stilmuster. Rudolf Borchardt und Rudolf Alexander Schröder, die Insel-Zeitschrift und das Hesperus-Jahrbuch, in: Jugendstil und Kulturkritik. Zur Literatur und Kunst um 1900, hg. von Andreas Beyer und Dieter Burdorf, Heidelberg 1999, S.  195–212. Da die Ankündigung zur Rekonstruktion des Hyperion-Programms nicht direkt beiträgt, gehe ich hier nicht weiter darauf ein. – Alfred Walter Heymel schreibt im Januar 1908 an Richard von Kühlmann: »Rudolf Borchardt […] war einige Tage bei mir in Bremen und trifft sich mit mir und Schröder am 9. bezw. 10. Januar in Leipzig, um auf das Ernsthafteste und Nachdrücklichste die Gründung der lang geplanten neuen Zeitschrift zu beraten. Die Quartalschrift, die übrigens Hesperus oder Heimkehr heißen soll, soll nicht einen rein literarischen Charakter tragen, sondern wird versuchen politischen Einfluß in unserem Sinne zu gewinnen.« Rudolf Borchardt. Alfred Walter Heymel. Rudolf Alexander Schröder. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am Neckar 1978, hg. von Reinhard Tgahrt u.  a., München 1978, S. 118. Vgl. auch ebd., S. 119. 60 Franz Blei an Rudolf Borchardt, [10. 1. 1908] (DLA, A:Borchardt, Mappe »undatierte Briefe«). – Vgl. auch Rudolf Borchardt an Rudolf Alexander Schröder, 5. 12. 1907, in: Rudolf Borchardt – Rudolf Alexander Schröder, Briefwechsel 1901–1918, S. 138  f., hier S. 139: »[…] ich arbeite nicht mehr an Zeitschriften die ich nicht mitredigiere«. 61 Franz Blei an Rudolf Borchardt, 10. 1. 1908 (DLA, A:Borchardt, Mappe »1905, 1907, 1908«). 62 Franz Blei an Rudolf Borchardt, [10. 1. 1908] (DLA, A:Borchardt, Mappe »undatierte Briefe«).



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Gibt es gar keine Form, die es Ihnen möglich machte, der Zeitschrift Arbeiten zu geben? Jede von Ihnen vorgeschlagene Form ist mir Recht; auch die Geringste: ein Beitrag von Ihnen, zur wesentlichen Programmbestimmung.  […] Die Horen ohne Sie erwecken den Schein, als wären sie, nicht gegen Sie natürlich, aber leichthin wiegend, ignorierend. Was für ein Bild! Ich dachte mir das ganze immer als durchaus von Ihnen bestimmt. In jedem Heft etwas von Ihnen. So dass des Ganzen Sinn durchaus deutlich wird. […] Ich kann Ihnen nicht sagen, wie schmerzlich mir Ihre Absage ist […].63 Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Borchardt sich hätte umstimmen lassen. Am 6. April 1908 legt Blei nach: Jetzt ist mir ganz deutlich geworden, wie unnatürlich es wäre, Sie ständig im Hyperion im »Nebeneinander« zu sehen. Und wenn ich darauf zurück kam und komme, so denke ich mir ein Stück von Ihnen darin, späterer Zeiten wegen und dass es nicht den Schein erwecke, dass dieser Wille in dieser Zeitung gegen Sie sei, weil Sie nicht darin sind.64 Wenig später, am 23. April 1909, macht Blei Borchardt ein sogar sehr konkretes Angebot, die Mitarbeit am zweiten Jahrgang des Hyperion betreffend: Ich verpflichte mich 1) In jedem Heft des Hyperion einen Aufsatz von H. Rudolf Borchardt zu veröffentlichen, dessen Thema ganz in sein Belieben gestellt ist. 2) Die Druckseite Prosa mit achtzehn, die Druckseite Verse mit 20 Mark am Tage des Erscheinens des den Beitrag enthaltenden Heftes zu honorieren. 3) In Betracht hierzu kommen alle Hefte, die vom dritten Hefte (eingeschlossen) dieses Jahres 1909 ab erscheinen. Franz Blei65 Obwohl der Schiff-Plan bereits im Januar 1908 am Einspruch Anton Kippenbergs, dem Insel-Verleger, gescheitert ist,66 nimmt Borchardt das Angebot, den Textteil des Hyperion wesentlich zu bestimmen, abermals nicht an. Er stellt zwar Texte 63 Franz Blei an Rudolf Borchardt, 10. 1. 1908 (DLA, A:Borchardt, Mappe »1905, 1907, 1908«), Herv. i.  O. 64 Franz Blei an Rudolf Borchardt, 6. 4. 1908 (DLA, A:Borchardt, Mappe »1905, 1907, 1908«), Herv. i.  O. 65 Franz Blei an Rudolf Borchardt, 23. 4. 1909 (DLA, A:Borchardt, Mappe »1909, 1910, 1912–13«). 66 Vgl. dazu Hugo von Hofmannsthal, Briefwechsel mit Alfred Walter Heymel. 1900–1914, hg. von Werner Volke, Freiburg i. Br. 1998, S.  44  f., Anm.  59; Alfred Walter Heymel an Anton

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zur Verfügung – jedoch nicht in dem Ausmaß, das Blei sich vorgestellt hat (und benötigt hätte), um eine um Borchardt zentrierte Zeitschrift herauszugeben. Im vierten Heft des Hyperion erscheinen Zwei Sestinen,67 im siebten Heft eine große Elegie,68 im zehnten Heft Borchardts Swinburne-Übersetzungen.69 Es bleibt festzuhalten: »Rudolf Borchardts Zeitung« ist der Hyperion nicht geworden.70 Mit seiner Absage fehlt der Zeitschrift ihr ästhetisches Zentrum. Blei hält zwar am Hyperion-Projekt fest und vermag die Autoren, die er von Anfang an im Blick hat, zur Mitarbeit zu gewinnen. Aber: Diese Autoren, die, bezogen auf das Zentrum ›Borchardt‹, ein gemeinsames »Miteinander« im »Sinn des Ganzen« hätten bilden sollen, verbleiben nun, unverbunden, in dem von Blei befürchteten »Nebeneinander«.71 Aus dem Hyperion ist kein Ganzes, nach Art einer konservativen Ästhetik, geworden (wie es auch zum Namen, zur äußeren Erscheinung der Zeitschrift und nicht zuletzt zur Hölderlin-Assoziation passend gewesen wäre), sondern ein ästhetischer Wildwuchs.

3. Zum Ende des Hyperion In dem Umstand, dass der Hyperion ein von Anfang an verfehltes Projekt ist, wird man den Hauptgrund dafür erkennen können, dass die Zeitschrift nur zwei Jahre Bestand hat. Weitere Gründe dafür, dass die Zweimonatsschrift im März 1910 eingestellt wird, liegen in der finanziell schwierigen Situation, nicht zuletzt aufgrund der aufwändigen Reproduktionskosten, die v.  a. den Kunstteil betreffen,72

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Kippenberg, 13. 1. 1908, in: Für Rudolf Hirsch. Zum siebzigsten Geburtstag am 22. Dezember 1975, hg. von J. Hellmut Freund, Frankfurt a. M. 1975, S. 340–345. Rudolf Borchardt, Zwei Sestinen, in: Hyperion (1908), Bd. 1, H. 4, S. 105–107. Vgl. dazu Franz Blei an Rudolf Borchardt, 20. 7. 1908 (DLA, A:Borchardt, Mappe »1905, 1907, 1908«). Rudolf Borchardt, Elegie , in: Hyperion (1909), Bd. 2, H. 7, S. 62–67. Vgl. dazu Franz Blei an Rudolf Borchardt, 21. 12. 1908 (DLA, A:Borchardt, Mappe »1905, 1907, 1908«): »[…] im ersten Heft des neuen Jahrgangs möchte ich gern Ihre ›Elegie‹ zum Abdruck bringen«. Rudolf Borchardt, Nachdichtungen Swinburnes, in: Hyperion (1909), Bd. 2, H. 10, S. 125– 131. Vgl. dazu Franz Blei an Rudolf Borchardt, 11. 9. 1909 (DLA, A:Borchardt, Mappe »1909, 1910, 1912–13«). Franz Blei an Rudolf Borchardt, [September 1908], ebenso Franz Blei an Rudolf Borchardt, 6. 4. 1908 (DLA, A:Borchardt, Mappe »1905, 1907, 1908«). Franz Blei an Rudolf Borchardt, 23. 10. 1907 (DLA, A:Borchardt, Mappe »1905, 1907, 1908«), Herv. i.  O. Franz Blei an Alfred Walter Heymel, 15. 4. 1908 (DLA, A:Heymel): »Die Reproduktionstechniken verschlingen ein solches Heidengeld […]. Die Zeitschrift ist mit 48 M. zu billig angesetzt worden […].«  – Bereits im Juli 1908 schreibt Blei an Borchardt, dass mit dem



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einem Zerwürfnis zwischen dem Herausgeber Franz Blei und dem Verleger Hans von Weber73 und in dem Wunsch Bleis, nach Paris zu übersiedeln,74 was er mit der Redaktionsarbeit am Münchner Hyperion nicht vereinbaren kann. Blei selbst dagegen stellt in Abschied an den Leser den Sachverhalt so dar, als wäre es »vom Beginn an die Absicht gewesen«, die »Zeitschrift zwei Jahre und nicht länger zu führen«.75

III. Eine entschlafene Zeitschrift. Kafkas Rezension auf den Hyperion (1911) 1. Zur Vorgeschichte der Rezension Unter dem Titel Eine entschlafene Zeitschrift erscheint am 19.  März 1911 in der Prager Tageszeitung Bohemia Kafkas Rezension der Zeitschrift Hyperion.76 Paul Wiegler, der Redakteur der Bohemia, hat zu Ostern 1910 in seiner Zeitung bereits fünf Prosaminiaturen Kafkas unter dem Titel Betrachtungen publiziert.77 Zudem

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Hyperion »nicht nur keine Geschäfte gemacht werden sondern Verluste«. Franz Blei an Rudolf Borchardt, [vor 18. 7. 1908] (DLA, A:Borchardt, Mappe »1905, 1907, 1908«). Zum Zerwürfnis zwischen Weber und Blei aufgrund des Zwiebelfisch vgl. Nabbe, Zwischen Fin de Siècle und Expressionismus, S.  142; Beane, Solutions for Problems in Prewar Germany, S. 42–45 und S. 69  f. Es muss noch weitere Verstimmungen gegeben haben, denn Blei schreibt am 30. 11. 1909 an Borchardt: »Dies muss ich Ihnen zur Aufklärung über das Verhältnis zu Weber sagen, dass ihm alles was er gutes in den zwei Jahren gemacht hat, besonders die Zeitschrift, ein Gräuel ist […].« Franz Blei an Rudolf Borchardt, 30. 11. 1909 (DLA, A:Borchardt, Mappe »1909, 1910, 1912–13«). Franz Blei an Rudolf Borchardt, 30. 10. 1909 (DLA, A:Borchardt, Mappe »1909, 1910, 1912– 13«): »Ziemlich sicher ist, dass ich im März nach Paris übersiedele.« Franz Blei, Abschied an den Leser, in: Hyperion (1910), Bd. 3, H. 11/12, S. 188  f., hier S. 188. Zur Entstehungs- und Druckgeschichte der Hyperion-Rezension vgl. Kafka, Drucke zu Lebzeiten. Apparatband, S. 523–525. – Zur Vorgeschichte der Hyperion-Rezension gehören zwei weitere Rezensionen Kafkas, mit denen er an die literarische Zusammenarbeit von Max Brod mit Franz Blei anknüpft und zugleich seinen Kontakt mit Franz Blei intensiviert. Am 6. 2. 1909 erscheint Kafkas Rezension von Franz Bleis Die Puderquaste. Ein Damenbrevier (1909) in der Zeitschrift Der neue Weg. In der Bohemia vom 16. 1. 1910 bespricht Kafka den im Hyperion-Verlag erschienenen Briefroman von Felix Sternheim (der Bruder von Carl Sternheim), Die Geschichte des jungen Oswald (1910). Vgl. dazu Franz Kafka, Ein Damenbrevier, in: Kafka, Drucke zu Lebzeiten, S. 381–383; Franz Kafka, Ein Roman der Jugend, in: ebd., S. 413–415. Vgl. oben, Anm. 3.

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ist er selbst einer der Hyperion-Autoren,78 sodass es durchaus denkbar ist, dass von ihm der Impuls für Kafkas Rezension ausgegangen ist.79 Der Impuls kann aber auch von Franz Blei ausgegangen sein. Er und Kafka sind, auch über die gemeinsame Arbeit am Hyperion hinaus, einander in gegenseitiger Wertschätzung verbunden.80 Kafka schätzt Blei als denjenigen, der ihm zum literarischen Debut verholfen hat, und er schätzt sicherlich auch die Kontakte, die sich über Blei ergeben können; Blei schätzt Kafka als einen besonderen Autor und als eine seiner literarischen ›Entdeckungen‹. Auf eine anhaltend gute Verbindung zwischen beiden deutet hin, dass Kafka und Brod mit Blei, dessen Frau und dessen Sohn am Abend des 18. Mai 1910 auf den Laurenziberg gehen, um den Vorübergang des Halleyschen Kometen vor der Sonne zu beobachten, der für Prag für den Morgen des 19. Mai 1910, zwischen 4 und 5 Uhr, angekündigt ist.81 Im Tagebuch verknüpft Kafka die Beobachtungen des Kometen mit dem Beginn der Wahrnehmung seines ›Ich‹. »Mit Blei, seiner Frau u. seinem Kind beisammengewesen, mich aus mir heraus zeitweilig gehört, wie das Winseln einer jungen Katze beiläufig, aber immerhin.«82 Das ›Ich‹ lässt sich interpretieren als Kafkas Autor-Ich. Im Prozess der Schreibarbeit an den einzelnen Prosastücken, also seit 1904, beginnt sich dieses Autor-Ich herauszubilden. Mit der Publikation der acht Stücke der Betrachtung und der beiden Gespräche im Hyperion wird das Autor-Ich weiter stabilisiert und erhält eine sichtbare Bestätigung. Untrennbar mit Kafkas Autor-Ich verbunden sind Max Brod und Franz Blei, die die Publikationen erst möglich machen. So ist es folgerichtig, dass sich Kafkas Autor-Ich ausgerechnet in der »Kometennacht«83 bemerkbar macht. 78 Paul Wiegler, Deutsche Politik, in: Hyperion (1908), Bd.  1, H. 2, S.  175–181; Paul Wiegler, Anmerkungen, in: Hyperion (1908), Bd., H. 4, S. 194–198; Paul Wiegler, Anmerkungen, in: Hyperion (1908), Bd. 1, H. 5, S. 92–96; Paul Wiegler, Die Umstürzler, in: Hyperion (1909), Bd. 2, H. 7, S. 68–73; Paul Wiegler, Die Transzendenten, in: Hyperion (1910), Bd. 3, H. 11/12, S. 128–132. 79 Vgl. Kafka, Drucke zu Lebzeiten. Apparatband, S. 525. 80 Ähnlich Dietz, Kafka und die Zweimonatsschrift Hyperion, S.  465; Mitterbauer, Die Netzwerke des Franz Blei, S.  100–103; Gregor Eisenhauer, Franz Blei. Der Literat. Ein bio­gra­ phi­scher Essay, Berlin 2004, S. 85. Raabe, Franz Kafka und Franz Blei, S. 10, meint dagegen zu Kafkas Rezensionstätigkeit, Kafka habe sich »dem Hyperion-Verlag in dieser Zeit verpflichtet« gefühlt. 81 Eine »beiläufig[e]« Vorstellung von dem, »was gesprochen wurde, oben auf dem Laurenziberg, im Dunkeln«, gibt Reiner Stach, Kafka. Die Jahre der Entscheidungen, Frankfurt a. M. 2004, S. 3–7, hier S. 5. 82 Franz Kafka, Tagebücher, in: Franz Kafka, Schriften  – Tagebücher, kritische Ausgabe, hg. von Hans-Gerd Koch, Michael Müller und Malcolm Pasley, Frankfurt a. M. 2002, S. 16 (18./19. 5. 1910). 83 Kafka, Tagebücher, S. 16.



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2. Eine entschlafene Zeitschrift (1911) Kafkas Rezension der Zeitschrift Hyperion liest sich widersprüchlich. Am Anfang und am Schluss des Textes lobt Kafka vor allem das mit künstlerischem Aufwand und großer Sorgfalt gestaltete äußere Erscheinungsbild der Zeitschrift. Die 12 »großen, weißen Hefte« (S.  416), die jetzt noch, metaphorisch gesprochen, das Grab der im Jahr zuvor eingestellten Zeitschrift bedecken,84 werden, so prophezeit der Rezensent, in »zehn oder zwanzig Jahren einfach ein bibliographischer Schatz sein« (S.  418), sodass dem Hyperion ein ehrendes Andenken sicher sei. Zum Zweiten gilt Kafkas Anerkennung dem Herausgeber und dem Verleger des Hyperion. Franz Blei bezeichnet er als einen »bewundernswerte[n] Mann« und lobt die »Mannigfaltigkeit seiner Talente« (S.  416). Hans von Weber habe den Hyperion-Verlag zu einem »der zielbewußtesten großen deutschen Verlage« gemacht (S.  416). Dieses Lob ist nachvollziehbar  – schließlich verdankt Kafka nicht nur Max Brod, sondern auch Franz Blei seine ersten Publikationen und damit die Entstehung seines Autor-Ich, und beide Männer stehen zum Zeitpunkt der Entstehung und Drucklegung der Rezension noch immer in gutem Einvernehmen. Doch Kafka findet nicht ausschließlich anerkennende Worte für Blei und Weber. Zwar gesteht er beiden »Willen«, »Kraft« und »Opfermut« zu, andererseits spricht er von ihrer »begeisterte[n] Verblendung« (S. 418). Mit dieser ambivalenten Formel verbindet Kafka das Lob des Hyperion mit seiner Kritik an dieser Zeitschrift im Mittelteil der Rezension, die nur verständlich wird, wenn man sie auf das ursprüngliche, jedoch nicht verwirklichte Programm bezieht. Kafka entwickelt seine kritische Sicht, indem er den Hyperion in eine Reihe mit seinen Vorgängerzeitschriften, Der Pan und Die Insel,85 stellt und den Hyperion davon abgrenzt. Als Verdienst des Pan hebt Kafka hervor, dass er »die wesentlichen zeitgemäßen, aber noch unerkannten Kräfte einigte und durch einander stärkte« (S. 417). Die Zeitschrift Der Pan versteht Kafka also als ein ästhetisches Ganzes. Ein solches Verdienst komme jedoch dem Hyperion nicht zu – dies nennt Kafka den »Irrtum 84 Heinz, Literaturkritische und literaturtheoretische Schriften, S. 136, hebt die Beerdigungsmetaphorik hervor, die Kafkas Rezension durchzieht. 85 Die Kunst- und Literaturzeitschrift Der Pan wird von Otto Julius Bierbaum und Julius MeierGraefe gegründet und erscheint 1895 bis 1900 in Berlin. Die Kunst- und Literaturzeitschrift Die Insel erscheint 1899 bis 1902 in München, die Herausgeber sind Otto Julius Bierbaum, Alfred Walter Heymel und Rudolf Alexander Schröder, Redakteur ist Franz Blei. Aus der Monatsschrift Die Insel geht am 1. 10. 1901 die Gründung des Insel Verlags hervor. – Auf die beiden Zeitschriften soll hier nicht näher eingegangen werden, da sie hier nicht als solche, sondern nur für Kafkas Argumentationsgang, in Abgrenzung zum Hyperion, von Interesse sind.

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des ›Hyperion‹« (S. 417). In der Tat fehlt der Zeitschrift ihr ästhetisches Zentrum in Form der Schriften Borchardts, auf die die Themen, Stile und Debatten der übrigen Hyperion-Autoren, also diejenigen, »die an den Grenzen der Literatur wohnen« (S. 417),86 nach dem Wunsch Bleis hätten bezogen werden sollen. Borchardt als Zentrum hätte auf die einzelnen Autoren wieder zurückstrahlen, sie so untereinander verbinden und zu einer höheren Einheit synthetisieren sollen. Die »begeisterte Verblendung« (S. 418), die Kafka Blei und Weber zuschreibt, besteht darin, am Hyperion festgehalten zu haben, obwohl die Zeitschrift ein von Beginn an verfehltes Projekt war. Diejenigen Autoren, die im Hyperion publiziert haben, ohne dass die Zeitschrift eine ästhetische Mitte gehabt hätte (und zu denen auch Kafka selbst zählt!), sind folglich nicht in einer höheren Einheit aufgehoben. Daraus folgt zweierlei. Erstens wirken sie sperrig und isoliert in einer literarischen Umgebung, die kein ästhetisches Ganzes ist (»fremder […] als sie sind«, S.  417). Zweitens kommen diese Autoren durch eine Publikation im ästhetischen Wildwuchs des Hyperion in eine ihren Texten unangemessene Umgebung, sie wecken beim Publikum falsche Erwartungen (sie ziehen »Lügenhaftes an«, S. 418) und erleiden dadurch sogar »peinliche Nachteile« (S. 417). Wenn sie ihren eigenen ästhetischen Intentionen treu bleiben wollen (»wahrhaftig bleiben«, S.  417), ist der Hyperion die falsche Adresse. Diesen Nachteilen, die eine Publikation im Hyperion mit sich bringt, stehe, so Kafka, kein Vorteil entgegen, der nicht auch in einer anderen Zeitschrift hätte erreicht werden können (S. 418). Der Hyperion sei also seinen Autoren, die in der Zeitschrift publiziert haben, ohne Teil eines ästhetischen Ganzen zu sein, in keiner Weise gerecht geworden, so Kafka. Kafka geht in seiner Kritik so weit, die grundsätzliche Aufteilung des Hyperion in einen Kunst- und einen Literaturteil unter dem Maßstab einer ganzheitlichen Ästhetik – die es eben nicht gegeben hat – zu beurteilen: Auch die Verbindung der beiden Teile »Literatur und Kunst« habe »keineswegs immer einen vollkommenen Zusammenklang« ergeben (S. 418). Die in der Forschung konstatierte Ambivalenz im Argumentationsgang von Kafkas ›Nachruf‹ entspricht also der Ambivalenz des Hyperion selbst: So bemerkenswert die bibliophile Ausstattung und die hochkarätigen Autoren der Zeitschrift sind, so problematisch ist ihr ästhetischer Wildwuchs ohne ästhetisches Zentrum. Diese Interpretation von Kafkas Rezension des Hyperion wirft die Frage auf, ob Kafka von dem ursprünglich geplanten Programm des Hyperion Kenntnis 86 Densky, Speaking for Liveliness, S. 337, macht dieses Zitat zum Ausgangspunkt ihrer Ar­gu­ men­tation. Der Hyperion habe Autoren »an den Grenzen der Literatur« versammelt, dies entspreche insofern der »kleinen Litteratur« und der randständigen jiddischen Spra­che.



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gehabt hat. Aus Gesprächen mit Franz Blei oder Max Brod kann er durchaus von dem ursprünglichen, aber nicht verwirklichten Programm des Hyperion erfahren haben. Der Eindruck, den die Lektüre des ›Nachrufs‹ hervorruft, und die Tatsache, dass sich mit dem Wissen um die Borchardt-Blei-Korrespondenz die Widersprüchlichkeit von Kafkas Rezension auflösen lässt, legen dies nahe. Ein Beweis hat sich dafür bisher jedoch nicht finden lassen. Folgendes kann jedoch festgehalten werden: Hier schreibt kein »prototypischer Junggeselle«,87 sondern ein souveräner junger Autor, der ästhetische Ansprüche nicht nur an andere, sondern auch an sich selbst formuliert. Aus der Hyperion-Rezension lässt sich die These ableiten, dass der zu diesem Zeitpunkt 28-Jährige auch für das eigene Schreiben von einer konservativen Ästhetik ausgeht. An ein Kunstwerk stellt er den Anspruch eines ästhetischen Ganzen, das die einzelnen Teile auf ein Zentrum bezieht, sie dort bündelt und von dort wieder zurückstrahlt, sodass die einzelnen Teile auf vielfältige Weise zu einander in Beziehung gesetzt und zu einer höheren Einheit synthetisiert werden. Weitere Stichworte, die mit einer konservativen Ästhetik in Verbindung stehen, sind Wille zur Form, Ordnung, Harmonie. Literaturgeschichtlich sind Kafkas Anfänge in neuklassizistischer Nachbarschaft angesiedelt. Von hier ist es noch ein weiter Weg zur Unmöglichkeit jeder Ordnung im Process (1914/15) oder zur Ablehnung des klassischen Humanitätsgedankens im Bericht für eine Akademie (1917).

87 Vgl. Heinz, Literaturkritische und literaturtheoretische Schriften, S. 136.

lorenz wesemann

stimme, varianz: paul celan liest in jerusalem Am 9.  Oktober 1969 erklingt im Saal des Jerusalemer Journalistenhauses Beit Agron ein kurzer, kristallener Ton. In dessen hoher Frequenz wirkt es so, als schlüge jemand gegen ein Glas. In seiner auf Magnettonband überlieferten Gestalt ist dieser Ton jedoch um ein Vielfaches gebrochener als jenes akustische Zeichen einer Tischrednerkonvention und klingt vibrierend nach. Der Ursprung des Schallereignisses lässt sich nicht mehr mit Sicherheit bestimmen. Es ist seinem Wesen nach bereits verklungen und begegnet einem wieder als aktualisierte Spur einer akustischen Flüchtigkeit, die ihren Moment in Jerusalem hatte. Begegnet man ihm aber rein in seiner jetzigen Gegebenheit, eben als Klang auf einem Band, so bildet es eine eindeutige akustische Referenz für den Auftakt der überlieferten Jerusalemer Lesung Paul Celans1: Die Aufnahme seiner Stimme setzt direkt in den kristallenen Ton mit dem ersten Gedicht dieser Lesung und dessen Titelwort: »Kristall« ein: Verbunden mit dessen Semantik erklingt in diesem Ton vorgeschaltet das außersprachliche Echo des Wortes »Kristall«, wie auch das geäußerte Wort selbst hörbar wird als die sprachliche Umsetzung des sich im Verklingen befindlichen Tons. Unentscheidbar bleibt, ob es sich dabei um einen Zufall handelt. Wird das Wort also im Zusammenklang mit seiner tonalen Entsprechung geäußert, sind beide, Ton und Wort, genauer: Ton als Klang und Töne als lautlich zum Wort zusammengesetzte Vokal- und Konsonantenfolge, als in Schallwellen vereint zu begreifen. Beide bilden, untrennbar, den Anfang des Audiotextes, den die Lesung Celans am Abend ihres Ereignisses darstellte und in ihrer medialen Aufzeichnung noch immer darstellt. In dieser Performanz der Frequenzen, die in diesem Fall eine gedoppelte und damit verdeutlichte Eigenschaft aller poetisch gesprochenen Sprache ist, wird die Bedeutung des Wortes stärker präsentiert als repräsentiert. Ganz in Roman Jakobsons Sinn wird das Zeichen hier spürbar, diesseits seines Charakters als sprachliches, und jen1

Die Lesung Paul Celans ist Teil der Tonträgersammlung des Deutschen Literaturarchivs Marbach und nachzuhören auf dem gemeinsam vom DLA Marbach und dem Literarischen Colloquium Berlin betriebenen Portal dichterlesen.net: http://www.dichterlesen.net/ veranstaltungen/veranstaltung/detail/paul-celan-liest-gedichte-in-jerusalem-2182/ (14. 4. 2019).

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seits, als klangliches, rein dem Hören zugewandtes.2 In den ersten Sekunden der Tonaufnahme erklingt Sprache in ihrer Richtung aufs Hören, in ihrer Auralität.3 Zuerst gilt es, einen Klang zu hören, ehe man einer oral geformten, bedeutsamen Lautfolge zuhören kann. Die Sprache als gesprochene und ausgesprochene öffnet sich direkt für eine klang- wie resonanzkörperliche Sinnlichkeit, die es im Akt des Lesens erst über verschiedene intelligible Umwege herzustellen gelte. Mit dem amerikanischen Lyriker und Theoretiker Charles Bernstein möchte ich ›Lesung‹ als eigenständiges poetisches Medium begreifen. Was im Zusammenklang von Geräusch und Wort, was sich in dieser immer wieder erneuernden Rückkopplung von Bedeutung und Klangfarbe, von »Kristall« und Kristall potenziert, kann mit Bernsteins Worten als »sonic profusion«, als klanglicher Überfluss eines jeden Tondokuments beschrieben werden, der den Text in seiner auditiven Form »at the edge of semantic excess«4 führt und der eben nicht mehr mit den herkömmlichen Mitteln wie Prosodie, Metrum und Rhythmus einzufangen ist. Gleichwohl kann auf diese Mittel nicht verzichtet werden. Vielmehr gilt es, die rhetorischen Beobachtungen mit der je einzigartigen Äußerungssituation einer Lesung in Zusammenklang zu bringen. Dies erfordert Aufmerksamkeit für den sich auditiv konstituierenden Kontext bzw. die in einer Lesung neu entstehenden intertextuellen Bezüge, den Vergleich mit anderen Lesungen gleicher Texte und schließlich erfordert es, das je Besondere einer Lesung aus Setting und Zeitpunkt mit in die Analyse einzubeziehen. Dies gilt noch einmal verstärkt für die mediale Komponente aufgezeichneter Lesungen, denn, mit Friedrich Kittler: »Was erst Phonograph und Kinematograph, die ihren Namen ja nicht umsonst vom Schreiben haben, speicherbar machten, war die Zeit: als Frequenzgemisch der Geräusche im Akustischen, als Bewegung 2

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Vgl. Roman Jakobson, Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971, Frankfurt a. M. 1979, S. 92. Meine Überlegungen folgen hier auch Charles Bernstein, Introduction, in: Close Listening. Poetry and the Performed Word, hg. von dems., New York und Oxford 1998, S. 16  ff. Bernstein prägt in diesem Text den Begriff »audiotext«. Zum Begriff der Auralität bzw. aurality vgl. Charles Bernstein, Introduction, S.  13  ff: »By aurality I mean to emphasize the sounding of the writing and to make a sharp contrast with orality and its emphasis on breath, voice, and speech  – an emphasis that tends to valorize speech over writing, voice over sound, listening over hearing, and indeed, orality over aurality. Aurality precedes orality, just as language precedes speech.« Im deutschen Sprachraum wird der Begriff der Auralität meines Wissens erst seit kurzem verwendet. Vgl. dazu den von Britta Herrmann herausgegebenen Sammelband »Dichtung für die Ohren. Literatur als tonale Kunst« (Berlin 2015) – allerdings ohne Querverweis auf Charles Bernstein betont auch Britta Herrmann in ihrer Einleitung die rezeptive Seite, die das gesprochene literarische Kunstwerk als Klangphänomen ernst nimmt, ohne die Dichotomie zwischen Stimme und Schrift, Oralität und Literarität zu wiederholen. Charles Bernstein, Introduction, S. 13.



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der Einzelbildfolgen im Optischen«.5 Der Zeitpunkt der Äußerung und ihre zeitliche Organisation bzw. Ökonomie sind auf den Tonträgern mitgespeichert und nicht von der gespeicherten Stimme zu trennen. Das Tonband schneidet auditiv in die Zeit des Hörens. Diesen Schnitt gilt es, in die Lektüre zu übertragen. Die gelesenen und aufgezeichneten Gedichte besitzen eine auf dem Band gespeicherte, genuine Form. In den einzelnen Gedichten der Lesungen finden sich viele kleinere Abweichungen vom gedruckten Text, die teilweise Akzente verschieben: Celan lässt einzelne Verse aus und stellt Wörter um. In »Engführung« stellt er sogar eine ganze Strophe um. Nach solch mündlicher, Jerusalemer Varianz dieser Texte soll hier gefragt werden. Die Lesung ist in verschiedenen Texten dokumentiert. Daher soll hier nur möglichst knapp der Rahmen beschrieben werden: Israel Chalfen berichtet, dass der Saal des Journalistenhauses Beit Agron sehr gut gefüllt war, einige Zuhörer sogar stehen mussten. Zu Beginn führte Jehuda Amichai den Gast aus Paris ein, anschließend trugen er und Manfred Winkler ihre Übersetzungen einiger CelanGedichte vor. Die eigentliche Lesung dauerte ca. 27:30 Min. Unter den Zuhörern befanden sich neben den beiden Dichtern Amichai und Winkler noch der Kritiker und Schriftsteller Werner Kraft, die Lyrikerin Lea Goldberg, der Schriftsteller Shalom Ben Chorin, der Ha’aretz-Verleger Gershom Schocken sowie Gershom Scholem, der anschließend für Celan ein Abendessen ausrichtete.6 Zwei Jahre nach Ende des Sechstagekriegs 1967, war die Lesung eines bedeutenden deutschsprachigen jüdischen Dichters in der ehemals geteilten Stadt ein kulturelles Ereignis. Sein Besuch wurde von der israelischen Presse begleitet7 und dem israelischen Radiosender Kol Israel gab er zwei Tage vor der Lesung ein Interview. Der Besuch Celans, der sein einziger bleiben sollte, hatte für ihn entscheidende Bedeutung. Immer wieder kam er in seinen letzten Briefen vor seinem Tod 1970 auf ihn als belebendes Erlebnis zurück. Über die Lesung selbst sagte er zu Ilana

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Friedrich Kittler, Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986, S. 10. Es lässt sich vermuten, dass noch einige andere, deutschsprachige Intellektuelle anwesend waren  – vielleicht die ebenfalls wie Celan aus der Bukowina stammenden Tuvia Rübner Dan Pagis und Aharon Appelfeld, der in Czernowitz in der Straße geboren wurde, in der Celan ab 1935 lebte sowie der Lyriker David Rokeah, den Celan später übersetzte. Vgl. hierzu auch John Felstiner, Paul Celan. Poet, Survivor, Jew, New Haven und London 1995, S. 264– 280; Israel Chalfen, Paul Celan in Jerusalem, in: Paul Celan – Ilana Shmueli, Briefwechsel, hg. von Ilana Shmueli und Thomas Sparr, Frankfurt a. M. 2004, S. 149–153; Shmuel Thomas Huppert, »Auch ein Händedruck ist ein Gedicht«. Begegnungen mit Paul Celan in Jerusalem im Oktober 1969, Saarländischer Rundfunk, 12. 6. 2001; Ilana Shmueli, Sag, daß Jerusalem ist. Über Paul Celan: Oktober 1969–April 1970, Eggingen 2000, bes. S. 22–30. Vgl. den Artikel Jehoshua Tira aus Ha’aretz vom 17. Oktober 1969 »Ein Gespräch mit Paul Celan«; dt. in: Paul Celan – Ilana Shmueli: Briefwechsel, S. 144  ff.

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Shmueli, die mit ihm in Israel eine intensive Liebesbeziehung eingegangen war: »Ein gutes Lesen, ein gutes Hören«8 sei es gewesen.

I. Kristall Paul Celan also äußert während der Lesung am 9. Oktober 1969 abends in Jerusalem in ein kristallenes Geräusch hinein das Wort »Kristall«. Als folgte die Aufnahme daraufhin ihren eigenen medialen Gesetzen, verweisen die anschließenden Verse deutlich auf die Situation ihrer Äußerung: Nicht an meinen Lippen suche deinen Mund, nicht vorm Tor den Fremdling, nicht im Aug die Träne. Sieben Nächte höher wandert Rot zu Rot, sieben Herzen tiefer pocht die Hand ans Tor, sieben Rosen später rauscht der Brunnen.9 Doppelte Selbstreflexivität: Lenkt das Bild der »Lippen« im geschriebenen Text bereits die Aufmerksamkeit auf dessen Sprachlichkeit, so markiert der erste Vers, laut gelesen, vor Publikum, die sich im Moment des Lesens vollziehende Sprechsituation und bezeichnet ganz seine gegenwärtige Äußerungsbedingung, verschiebt also den Sinn der Sprache auf ihre Sinnlichkeit des Gesprochen-Werdens. Die »Lippen« als jetzt, im Moment des Lesens, eingesetzte Sprachmodule gewinnen unweigerlich konkrete und körperliche Präsenz: Vor Publikum wird das »Ich« des Gedichts als jetzt, im Moment aussprechendes ausgesprochen: Der gelesene Text stößt sich von seiner schriftlich fixierten Form ab und lässt sich buchstäblich auf den ihn lesenden Lippen nieder. Indem das bereits Geschriebene sich im Moment seiner Äußerung erneut und stark orts- wie zeitgebunden aktualisiert, holt es unweigerlich Zeit und Ort seiner Äußerung mit in seine Bedeutungsökonomie hinein. Unweigerlich zu deren Teil wird auf der Aufnahme das KristallGeräusch, das abklingt, sobald das gesprochene Gedicht erklingt. Von ihm als Bestandteil des Frequenzgemischs der Lesung ist hörend nicht zu abstrahieren – 8 9

Ilana Shmueli, Jerusalem, S. 28. TCA/Mohn und Gedächtnis, S. 77; Auf der Aufnahme: 0:00‹–0:45‹. Im Folgenden werden Celans Werke, so nicht anders angegeben, nach der Tübinger Ausgabe seiner Werke unter der Sigle TCA mit angehängtem Bandtitel zitiert: Paul Celan, Werke. Tübinger Ausgabe, hg. von Jürgen Wertheimer, Frankfurt a. M. 1999  ff.



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es sei denn, man bewegte sich vom Gehörten wieder zur Autorität des schriftlich fixierten Textes, ließe aber so die Zeichenfülle des nur Gehörten hinter sich. Hier kündigt sich eine erste, hörbare Varianz an, die das ausgesprochene »Kristall« wie auch den erklungenen ›Kristall‹ gleichermaßen umfasst. Jerusalem als Ort der Äußerung, als deren physikalische Bedingung, ist Teil des Gedichts in seiner damals ausgesprochenen, in seiner jetzt akustisch reproduzierten Form. Dem Effekt des kristallenen Tons zu Beginn nicht unähnlich, konkretisiert sich durch die Stadt das Bedeutungsfeld des Gedichts, besonders im zweiten Vers: »nicht vorm Tor den Fremdling«. Lenkt der erste Vers die Aufmerksamkeit auf die sich jetzt, an diesem Ort vollziehende, stimmliche Aktualisierung des Gedichts, so ist es nicht zu weit hergeholt, in den acht Toren der Jerusalemer Altstadt die Möglichkeit einer konkreten referentiellen Beziehung des ›Tores‹ zu sehen, vor dem der »Fremdling« eben nicht mehr zu suchen ist. Dies ist nicht als Gleichung misszuverstehen (West-Jerusalem, in dem das Beit Agron steht, ist ganz wörtlich vor den Toren der Jerusalemer Altstadt), dennoch bündelt es die semantischen Energien der ersten beiden Verse in ihrem momentanen Akt der Äußerung. Das Ich, das sich in diesem Gedicht (und den folgenden) als aussprechendes ausspricht (»Nicht an meinen Lippen suche deinen Mund«), fällt dabei nicht mit dem Autor-Ich zusammen, sondern ist eher das Ich einer tatsächlich vernehmbaren und nicht nur textuell repräsentierten Stimme. Diese ist in gleichem Maße Stimme Celans wie klangliche Umsetzung des poetischen Lautmaterials und also Stimme des Gedichts – gerade weil sie im Abklingen eines reinen Geräuschs beginnt, Laute zu Wörtern zu formen. Ohne in die problematische Identifikation Celans mit einem essentiell Fremden verfallen zu wollen, markiert sich die Stimme des Gedichts hier tatsächlich als fremde, die Einlass gefunden hat in ein ihr anderes Eigenes, diesseits der Tore.10 Diese Stimme bleibt nicht bei sich, strukturell ist sie Bewegung zum Anderen, ist Adresse – in genau diesem Charakter aber gefährdet: Auf ein vorgängiges Einverständnis referentieller Beziehungen kann nicht mehr gebaut werden, zwar Hinwendung / Adressierung, doch nur unter der Voraussetzung, dass bestehende Beziehungen neu und anders etabliert werden; dass das Fixierte, bereits Etablierte (zwei Lippen aneinander; der Fremdling, der deswegen fremd ist, weil er zum Bereich vor dem Tor gehört; die Träne, die immer einem Auge angehören muss) geöffnet, seiner inhärenten und möglichen Varianz zugeführt wird; dass also in diesem Moment der Lesung die Sprache der Gedichte sich neu zusammenfügen kann.

10 »Ich bin zu Ihnen nach Israel gekommen, weil ich das gebraucht habe.« So wird Celan seine Ansprache vor dem hebräischen Schriftstellerverband fünf Tage nach der Jerusalemer Lesung einleiten.

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Kristall erweitert dieses Aufbrechen fixierter  – alltagssprachlicher  – Beziehungen und geteilter (sprachlicher) Orte, indem die dreifache Verneinung der ersten mit einem dreifachen »Sieben« in der zweiten Strophe beantwortet wird: Mit »höher«, »tiefer« und »später« wird ein Ausgreifen in eine verräumlichte Zeit als Korrektiv eingeführt  – als Richtung einer Suchbewegung vielleicht, an der sich dennoch ein geteilter oder zumindest teilbarer Ort finden ließe: Das Herz, das als schlagendes Organ der Zeit und ihrem Ablaufen unterstellt ist, das Rauschen des Brunnens, das Vergänglichkeit metaphorisch verdichtet, und die Rose als verblühende Pflanze vermitteln den Gegensatz von »Nächte«, »höher«, »tiefer« und »später« – ohne ihn aufzulösen. In dem Maße, wie die erste Strophe als Distanzgeste gegenüber einem Publikum gedeutet werden kann, das durch diese Geste zuallererst eine Hinwendung erfährt, so muss sie jetzt auch als Hinwendung zu einer anderen Zeit verstanden werden, die für die Gegenwart des Gedichts in keiner Weise vergangen ist, sondern in räumlicher (und das heißt hier: gesprochener) Konkretheit vorliegt. Begreift man das hier laut gelesene »Kristall« nach wie vor als Beschreibung der Sprechsituation an jenem neunten Oktober 1969, und diese als wesentlich adressierte Rede, so bildet sich die Kontur einer Stimme, die den Ort einer erfolgreichen Adresse als aus Sprache und Zeit zusammengesetzt wissen will. Doch es droht, dass Hinwendung und Adressierung »an den Toren aller Vergeblichkeiten« vollzogen werden, wie Celan in einem Brief an Ilana Shmueli schreibt.11 Dreifach also kann man die Distanz in Kristall begreifen: Zwischen dem IchSagenden und dem Publikum, der Sprache und ihrem Ort der Äußerung, der Sprache und ihrem Zeitpunkt der Äußerung. Noch halten die poetischen Figuren all diese widerstrebenden Richtungen in einer Form zusammen, oder besser: behaupten die integrativen Kräfte der Form; gerade die Anapher als derart rahmende und strukturierende Figur verspricht Berührung; in ihr fassen sich die Verse an und suggerieren Halt und Sicherheit in der poetischen Sprache, wie sehr sie auch siebenfach – das heißt: kristallin – gebrochen ist. Ist das Bedeutungsfeld der ersten beiden Verse (»Nicht an meinen Lippen suche deinen Mund,  /  nicht vorm Tor den Fremdling«) derart von örtlicher

11 Paul Celan – Ilana Shmueli, Briefwechsel, S. 15 (Brief vom 21. 10. 1969). Dass sich Kristall bereits in eine andere Liebesgeschichte eingeschrieben hatte, zeigt sich im Gedicht von Ingeborg Bachmann Früher Mittag, das die temporale Struktur von Kristall direkt zitiert und das »Tor« doppelt intertextuell auszeichnet, indem auch noch Am Brunnen vor dem Tore aus Wilhelm Müllers Gedichtzyklus Winterreise zitiert wird (Hinweis von Christine Lubkoll). Die Konnotationen einer romantischen Wanderschaft wären ebenso interessant zu verfolgen, wie  – biographisch  – der eventuelle Brückenschlag des Gedichts zwischen zwei Lieben.



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und situativer Konkretisierung erfasst und dynamisiert, lässt sich darin gar die Trennung zwischen jüdischer Diaspora und dem Staat Israel heraushören; die Adresse erprobte so als Möglichkeit den Brückenschlag zwischen den deutschen Worten eines Pariser jüdischen Dichters und seiner Jerusalemer Zuhörerschaft, die zwar ihrerseits größtenteils Exilerfahrungen gemacht, dennoch sich in Israel niedergelassen und Hebräisch zu sprechen begonnen hat: »[N]icht vorm Tor« ist der »Fremdling« zu suchen, sondern bereits in der Stadt – aber man spricht mit zwei, mit drei Mündern? Auf der Marbacher Kopie des Mitschnitts sind die hebräischen Übersetzungen von Yehuda Amichai und Manfred Winkler leider nicht enthalten. Eine Liste der von Ihnen gelesenen Gedichte aber findet sich in einem Arbeitsheft aus Celans Nachlass.12 Der zufolge las Amichai Bei Wein und Verlorenheit, Und das Schöne, Zweihändig, Ewiger und Mandorla, Winkler las Nachmittag mit Zirkus und Zitadelle und Es war Erde in ihnen. Anschließend werden neben Kristall, das als einziges der von Celan selbst gelesenen Gedichte nicht der Reihenfolge in den gedruckten Einzelbänden gehorcht, gelesen: Corona, Die Krüge, Der Tauben weißeste, Zähle die Mandeln aus dem Band Mohn und Gedächtnis (1952); Gut, Der Gast, Mit wechselndem Schlüssel, Nächtlich geschürzt, Die Winzer aus Von Schwelle zu Schwelle (1955); Stimmen, Schliere, Sprachgitter, Matière de Bretagne, Engführung aus Sprachgitter (1959); Mandorla, Die Silbe Schmerz aus Die Niemandsrose (1963); Vom großen, In Prag, Der mit Himmeln geheizte aus Atemwende (1967); Denk dir aus Fadensonnen (1968). Dass nun Kristall durch eine minimale Verschiebung – es tauscht seinen Platz in der gedruckten Reihenfolge mit Corona – den Auftakt der Lesung bildet, kann man als erste Spur für die Möglichkeit lesen, es handele sich bei der Jerusalemer Lesung um einen mündlichen Zyklus nach eigenem Recht, der sich vom Gesamtwerk aufgrund dieser Minimalverschiebung absetzt und es dennoch, unter anderem durch die anschließend beibehaltene Folge der Gedichte, als größere Struktur mitreflektiert. Eine Besonderheit der Lesung ist das große Gewicht, das den Gedichten aus Celans Werkphase der 50er Jahre zukommt und das sich so in den Lesungen seiner letzten Jahre nicht mehr wiederfindet (dies verstärkt sich, zieht man die zentrale Stellung in Betracht, die Kristall in Celans Werk einnimmt; bis in die spätesten Gedichte wird es teils wörtlich zitiert oder man begegnet den aufgerufenen Bildfeldern der Rosen, des Mundes und der Hände). Nicht nur formen die Gedichte qua Auswahl also einen neu akzentuierten Konnex, sie berühren sich motivisch: Der »Mund redet wahr« in Corona; in einer für Celan

12 Arbeitsheft 29, 30. 09. bis 17. 10. 1969 (DLA Marbach, D:Celan, Paul, Medienummer HS00641171X).

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typischen Inversionsfigur13 trinken die »Krüge« im gleichnamigen Gedicht »die Augen der Sehenden leer und die Augen der Blinden,  /  […] führen das Leere zum Mund wie das Volle«; In Schliere ist vom »Augen-Du« und der »Schliere im Aug« die Rede, was die »Träne« aus Kristall in die Optik verschiebt; Sprachgitter ist ein Augengedicht, das Sprache und Sehen in eins denkt und mit dem Versen »zwei / Mundvoll Schweigen« endet; in Zähle die Mandeln, einem Gedicht, das Celan Ende der 60er Jahre oft als einziges aus dem Frühwerk noch las,14 steht der Vers: »Ich suchte dein Aug, als du’s aufschlugst und niemand dich ansah«; der spätere Vers im gleichen Gedicht »schwangen die Hämmer frei im Glockenstuhl deines Schweigens«, der das Motiv des Mundes metaphorisch weiterführt, wird im ebenfalls gelesenen Langgedicht Stimmen in den Versen »Stimmen, nachtdurchwachsen, Stränge,  /  an die du die Glocke hängst« beantwortet; Stimmen selbst nimmt die »Hand« in den berühmten, auch in der Meridian-Rede von Celan zitierten15 Versen »Komm auf den Händen zu uns.  /  Wer mit der Lampe allein ist, / hat nur die Hand, draus zu lesen« auf und verschärft das Pochen »ans Tor« in die Situation einer fundamentalen Einsamkeit hinein, gezwungen, das Schicksal zu lesen; Matière de Bretagne endet mit zwei, ganz den Händen gewidmeten Strophen und dem Satz: »du lehrst deine Hände  /  schlafen«; schließlich stellt Engführung die »Hände« radikal in Frage, ehe das abschließend gelesene Denk dir »Hand« mit der »Erde« in einer auf Israel zu beziehenden Strophe verbindet. Zuvor begegnet man der Hand, dem Auge und den alles durchziehenden Sprachwörtern in Mandorla, in Die Silbe Schmerz (»Es gab sich Dir in die Hand: ein Du, todlos«), und in Vom Großen. Es entsteht eine zyklische Struktur, die die über das gesamte Celan’sche Werk verteilten Texte in einem dichten Bezugsraum komprimiert; Sprache, Hand und Auge bilden das poetische Fundament dieses Raumes, den man durch Kristall betritt.16 Wenn Sprachlichkeit in den hier gelesenen Gedichten bezeichnet wird, dann geschieht dies meist in ihrer Disposition 13

Vgl. hierzu: Werner Hamacher, Die Sekunde der Inversion. Bewegungen einer Figur durch Celans Gedichte, in: ders., Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan, Frankfurt a. M. 1998, S. 324–369. 14 »Die Bedeutung dieses Gedichts für sein dichterisches Werk hat C. auch dadurch zum Ausdruck gebracht, dass er Zähle die Mandeln bei seinen Lesungen in den späten 1960er Jahren als einziges aus Mohn und Gedächtnis vorlas.« (Joachim Seng. In: Celan-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Markus May u.  a., Stuttgart 2008, S. 61). 15 Vgl. TCA/Der Meridian, S. 11. 16 Zum zyklischen Charakter der Lyrik Celans im Allgemeinen vgl. Joachim Seng, Auf den Kreis-Wegen der Dichtung. Zyklische Komposition bei Paul Celan am Beispiel der Gedichtbände bis ›Sprachgitter‹, Heidelberg 1998, S. 28: »Von einem dichterischen Zyklus darf demnach dann gesprochen werden, wenn selbständige Einzeltexte durch Komposition derart zusammengestellt werden, daß ihnen neben ihrem eigenen Wert ein Vereinigungswert oder Mehrwert zukommt, der aus den einzelnen Gedichten nicht abgeleitet werden kann.«



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als ausgesprochener Sprache, ob dies nun der Mund, die Lippen, das Schweigen, der Spruch, das Sprechen selbst oder gar vor- bzw. außersprachliche Äußerungsmodalitäten wie der »Mitlaut« oder das »Spätgeräusch« sind. Wird Sprache über ihr Gesprochen-Sein angesteuert, hat sie immer Richtung. Sie ist adressiert. Bevor ich einige der aufgerufenen Stellen und besonders die Umstellung eines, das Motiv der Hände fortschreibenden Verses aus »Engführung« als gesprochene Varianz beschreibe, soll der Umweg über einen kleinen Versprecher Celans genommen werden, den er in einem Radiointerview mit Shmuel Thomas Huppert und Yehuda Amichai äußerte. Das Interview wurde einen Tag nach der Lesung in der Küche Amichais geführt, es sind nur zwei fragmentierte O-Töne davon überliefert, die Shmuel Thomas Huppert, Literaturredakteur beim Sender Kol Israel, in einem Radio-Essay über Celans Besuch in Israel für den Saarländischen Rundfunk 2001 verarbeitet hat.17

II. Versprecher Der erste der O-Töne wurde verhältnismäßig oft zitiert und enthält Celans Bestimmung seines Judentums als etwas Pneumatischem. Ausgesprochen wird diese Reflexion mit einem in seiner rhetorischen Doppelbödigkeit bemerkenswerten Satz: Ich glaube Ihnen sagen zu dürfen, daß ich mit einiger Selbstverständlichkeit Jude bin. Die Fragen nach dem Jüdischen begegnen immer auch dieser Selbstverständlichkeit. Selbstverständlich hat das Jüdische einen thematischen Aspekt. Aber ich glaube, daß das Thematische allein nicht ausreicht, um das Jüdische zu definieren. Jüdisches ist sozusagen auch eine pneumatische Angelegenheit.18 Der zweite O-Ton, dem hier etwas mehr Aufmerksamkeit zukommen soll, liefert so etwas wie eine sprachliche Ortsbestimmung Celans. Sein zuvor druckreifer Duktus stockt just in dem Moment, in dem die Rede auf die Sprache und das Schreiben kommt:

17 Shmuel Thomas Huppert, »Auch ein Händedruck ist ein Gedicht«. Begegnungen mit Paul Celan in Jerusalem im Oktober 1969, Saarländischer Rundfunk, 12. 6. 2001. 18 Shmuel Thomas Huppert, Händedruck, 17’03–17’40; Abgedruckt in: Paul Celan, »Mikrolithen sinds, Steinchen«. Die Prosa aus dem Nachlaß, Kritische Ausgabe, hg. und kommentiert von Barbara Wiedemann und Bertrand Badiou, Frankfurt a. M. 2005, S. 217.

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Ich glaube, ich gehöre doch in beträchtlichem Maße zu den in deutscher Schreibe… [stockt]… in deutscher Sprache Gedichte Schreibenden. Das heißt: In meiner Heimat, der Bukowina, wurde sehr viel Deutsch gesprochen. Ich selbst bin in dieser Sprache und mit dieser Sprache aufgewachsen.19 Huppert berichtet, dass das gerade Zitierte eine Antwort auf seine Frage gewesen sei, was es für Celan bedeute, als Überlebender, dessen Eltern von den Deutschen ermordet wurden, weiterhin auf Deutsch zu schreiben und zu einem bedeutenden deutschen Dichter geworden zu sein. Leider ist nicht das gesamte Interview überliefert; eine Aussage über den direkten Kontext des Gesagten ist nicht möglich, nicht zu beantworten sind die eigentlich unerlässlichen Fragen nach den vorgängigen und den nachfolgenden Sätzen, nach dem Ton der Frage, der Gesprächsdynamik zuvor. In einer Logik des Fragments und durch den Nimbus des O-Tons aber beanspruchen die beiden Zitate dadurch umso mehr, für sich gehört zu werden. Gerade ein Stocken der Sprache verlangt genaues Hören, der »edge of semantic excess«, an dessen Rand Charles Bernstein die gesprochenen Literatur balancieren sieht, zeichnet sich gerade in solch unwillkürlichen Akten scharf ab: Wenn Celan dem Judentum einen pneumatischen Charakter zuspricht, dann entlässt er die Frage aus dem Bereich stabiler und referentieller Aussagen. ›Pneuma‹, wie auch das Hebräische ›Ruach‹, dessen biblische Übersetzung ›Pneuma‹ ist, bezeichnen gleichermaßen Geist und Atem bzw. Lufthauch. Der Atem aber, der einen besonderen Platz in Celans Poetik einnimmt, ist Voraussetzung des Sprechens, der ausgesprochenen Sprache also. Nähert man sich Versprecher und anschließender Korrektur rhetorisch, ließe sich daraus ein angedeuteter Chiasmus gewinnen: Der »in deutscher Sprache Gedichte Schreibende« verschränkt sich mit dem ›in deutscher Schreibe Gedichte Sprechenden‹. Dieser Chiasmus wäre gleichermaßen eine Figur der Verschränkung wie des Widerstands: Aus dem Faktum auf Deutsch geschriebener Gedichte ergibt sich der Anspruch, dass dies auch auf Deutsch gesprochene Gedichte sein müssen, dass also zum einen die Schrift durch die Stimme und die Stimme durch die Schrift geführt werden muss, dass beide also gleichermaßen den Atem sich teilen, als Möglichkeit auf der einen, als Voraussetzung auf der anderen Seite. Damit setzt der erste Halbsatz an, die Konzeption des Jüdischen als »pneumatische Angelegenheit« performativ zu erfüllen, bevor die Korrektur ihn zur thematischen Aussage rundet. Im Stocken, im Aussetzen und der Pause wird die Stimme als Effekt über Atmung gebildeter Laute präsent in ihrem Unterschied zur Schrift. Gleichzeitig berühren sich Stimme und Schrift in diesem hypothetischen Chiasmus und streichen durch den Tausch 19 Shmuel Thomas Huppert, Händedruck, 17’58–18’23; vgl. auch die leicht abweichende Transkription in: Paul Celan, »Mikrolithen sinds, Steinchen«, S. 217.



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der syntaktischen Position – hier Objekt, dort Verb – ihren Gegensatz durch. Auf die Frage nach der Bestimmung seiner Sprache, die gerade in diesem Fall auch die Frage nach einer Rechtfertigung ist, weiterhin auf Deutsch zu schreiben, antwortet Celan doppelt: Er antwortet sachlich und inhaltlich, betont seine Biographie als Teil der deutschen Sprachegeschichte und damit als Einspruch gegen die Sprache, in der die Vernichtung der europäischen Juden begangen wurde, und er antwortet mit einem Satz, der aussetzt; der nicht ohne weiteres über das Hindernis einer weiter aktualisierten deutschen Sprache hinwegkommen kann. Fast scheint es, als ob der Versprecher in seiner Konsequenz einer chiastischen Andeutung ein Echo auf einen berühmten Ausruf aus Celans Meridianrede neun Jahre vor diesem Interview wäre: »Aber das Gedicht spricht ja!«20. »Aber«  – in dem Moment, wo die Schrift, die »Schreibe«, einem Versprecher ausgesetzt wird, wird die Sprache flüchtig und federt sich vom schriftlich Fixierbaren ab. Im bekannten Doppelsinn des Wortes Versprechen ließe sich sagen, dass hier, in diesem überlieferten O-Ton-Fragment, ein Versprechen Celans das Wortfeld der Schrift in Bewegung versetzt. Überträgt man dies auf die Lesung, ließe sich auch von dieser sagen, dass hier Schrift versprochen werde, sodass dem Gesagten eine notwendige Flüchtigkeit zukommen könne, denn, so notiert er in einem seiner Arbeitshefte aus dem Jahr 1969: »Die Flüchtigkeit des im Gedicht Gesagten als Konstituens seines – begrenzenden und entgrenzenden – Sinns«.21 Das Stocken und die Lücke, die das Aussetzen der Sprache, jener kurze Versprecher bedeutet, füllt Huppert mit seiner Erinnerung an die Sorge Celans, in Jerusalem als auf Deutsch Schreibender und Lesender kein Publikum zu haben, ja, dass solche Lesung eine Provokation sein könne.22 Als hätte es gegolten, solche Sorge bereits an den Ort der Lesung zu tragen, bevor sie stattfinden sollte, habe Celan Huppert am Nachmittag vor der Lesung gebeten, das Beit Agron aufzusuchen. Aber »das Tor«, also der Eingang zum Pressezentrum, sei »geschlossen« gewesen. Huppert erinnert sich weiter an ein Schulterzucken Celans, das er sehr stark als Ahnung interpretiert, dass »dieses Tor für ihn geschlossen« sei23; ganz so, als versage sich ihm in dieser Situation symbolisch die Heimkunft. Diese Erinnerung klingt wie ein Echo des zweiten Verses von Kristall, als bündelte das Gedicht noch 32 Jahre nach seiner Lesung die Sprache über den Aufenthalt seines Autors in Jerusalem. Noch sinnfälliger wird dies, wenn Huppert das »Tor« 20 TCA/Meridian, S. 8. 21 Paul Celan, Mikrolithen, S. 124. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Notiz im Kontext eines Antwortschreibens an P. H. Neumann entsteht. Dieser hatte Celan seine Wortkonkordanz »mit großer Verehrung« zugesendet (vgl. den Kommentar in Mikrolithen, S. 613  ff.). 22 Shmuel Thomas Huppert, Händedruck, 30’12-30’20. 23 Ebd., 14’27–15’04.

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als Symbol der Trennung und der Grenze wieder aufgreift und im Titel des an Ilana Shmueli gesandten aber noch vor Celans Jerusalem Aufenthalt entstandenen Gedichts Mandelnde auch das Jerusalemer Mandelbaumtor heraushört24, einen militärischen Checkpoint zwischen dem israelischen und dem jordanisch kontrollierten Teil der Stadt, der bis 1967 bestand. Doch ein Schulterzucken kann eben manchmal auch nur ein Schulterzucken sein, eine Geste, die nicht grundlos ohne Sprache bleibt. Die Grenze nämlich zwischen Eigenem und Fremdem, die sowohl »Tor« als auch »Fremdling« markiert, war bereits in dem um 1950 entstandenen Gedicht weitergewandert und in ihrer sowohl topographisch als auch sprachlich fixierten Gültigkeit verneint worden, als dass sie nun in einem verschlossenen Tor ihre reale Entsprechung noch hätte finden können. Jetzt, in der Zeit der Aufnahme, ist sie in ihrer neu zu bestimmenden Gestalt eine der Voraussetzungen dafür, dass die adressierte Rede zu einem gelingenden Sprechen wird, einem Sprechen der in deutscher Sprache geschriebenen Gedichte. Liegt es da nicht nahe anzunehmen, dass auch die in der Lesung auf Kristall folgenden Gedichte in einen Möglichkeitsraum hineingesprochen wurden, in dem sie sich von ihrer schriftlich fixierten Form, wie sacht auch immer, lösen können?

III. Varianz Die Lesung selbst beinhaltet nur einen deutlichen Versprecher bzw. Verleser, nämlich im Gedicht Mit wechselndem Schlüssel, der sofort von Celan korrigiert wird.25 Wichtig ist dieser Verleser und seine sofortige Korrektur als Kontrast zu den kleinen und größeren Änderungen, die Celan an einigen der Texte während des Lesens vornimmt und stehen lässt. Etwa verändert er den vierten Vers von Mandorla »Da steht es und steht« in »So steht es und steht«; in Matière de Bretagne vertauscht er die Wortstellungen im vierten Vers der zweiten Strophe (statt »oben, / beim Stern, die milchigen / Priele schwatzen«: »oben, beim milchigen Stern, die Priele schwatzen«); im Gedicht In Prag heißt es im vierten Vers der zweiten Strophe »das Halbe« statt »der Halbe«. Aus dem Langgedicht Stimmen lässt er die gesamte Partie »Stimmen, kehlig, im Grus« weg. Allgemein lässt sich sagen, dass Celans Ton in dieser Lesung um ein Vielfaches härter und geraffter ist als auf seinen bekannteren Tonaufzeichnungen. Er verzichtet fast gänzlich auf das Ausklingen der Wörter an den Versenden und beschleunigt viele der gelesenen Gedichte. Die meisten Änderungen nun erfährt das neben Stimmen andere Langgedicht aus dem Band Sprachgitter, Engführung: In dessen fünfter Partie 24 Ebd. 24’26–24’34. 25 Mitschnitt, 6’40.



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lässt Celan die vierte Wiederholung des Wortes »kam« wegfallen (Kam, kam / kam ein Wort [kam], / kam durch die Nacht«); in der sechsten Partie und der Reprise, die zur siebten überleitet, rafft er abermals eine Wiederholungsfigur (»die Welt, ein Tausendkristall,  /  schoß an, [schoß an]  //  Schoß an, [schoß an].  /  Dann«). Gerade Engführung wird im Vergleich mit anderen Aufnahmen von Celan sehr viel schneller gelesen, sodass diese Änderungen als rhythmische Anpassungen verstanden werden können. Die zweite Strophe der sechsten Partie dieses poetologisch für Celan so bedeutsamen Gedichts klingt dann nicht mehr nur minimal verändert, wie die eben aufgeführten Beispiele, sondern wird in ihrer Struktur fundamental anders. In der Druckfassung heißt es: War, war Meinung. Wie faßten wir uns an – an mit diesen Händen?26 Im Mündlichen der Jerusalemer Lesung entsteht ein neuer Text: War, war Meinung. Wir faßten uns an, wie – wie mit diesen Händen? Hatte die Druckfassung von Engführung zwar die Problematik der Berührung durch die Form der Frage aufgeworfen, setzt sie doch die Geste der Berührung graphisch um: »an  – an«. Ganz anders das gelesene Gedicht: Statt »Wie« sagt Celan hier »Wir«, statt der Frage nach der Möglichkeit einer Berührung, spricht er die Feststellung einer Berührung aus, ehe der Deklarativsatz (»Wir faßten uns an«) über die Inversion von der Frage eingeholt wird (»Wir faßten uns an / wie – wie mit  /  diesen  /  Händen?«). Wird aber nicht durch die Wiederholung von »wie« gerade die Fragwürdigkeit der Berührung unterstrichen und gleichzeitig rhetorisch umso eindringlicher als Faktum herausgestellt, gerade weil sie zuvor konstatiert wurde? Ließe sich dann der Abschnitt nicht am ehesten als Figur des Erstaunens beschreiben, das nach Verständnis sucht? Sicher, Engführung 26 TCA/Sprachgitter, S. 93.

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kann gelesen werden als Gang durch eine Sprachlandschaft (sie beginnt mit den bekannten Versen: »Verbracht ins / Gelände / mit der untrüglichen Spur«) und als Versuch, in diesem durch Geschichte versehrten Gelände eine eigene Sprache zu finden (die Partie, aus der die zitierten Verse stammen, evoziert eine katastrophale Vernichtung27), dennoch bleibt die konstatierte Berührung, gerade in einem Feld, das dieser Möglichkeit entschieden entgegensteht. Berührung, Anfassen – ja, aber nur in einem Status der anschließenden Dementierung: Setzt »an – an« das Anfassen graphisch um, so entzieht das gedoppelte »wie« gesprochen und gehört die Konstatierung dem über Sprache gebildeten Verständnis und stellt es rhetorisch radikal in Frage. Es gibt keine Textzeugen, die eine entsprechende Bearbeitung von »Engführung« für die Lesung nachweisen könnten, noch Hinweise, dass der Israel-Besuch zu einer Revision des Gedichts Anlass gegeben haben könnte. Was zu der Ersetzung des »Wie« durch das »Wir« geführt haben mag, lässt sich nicht mehr bestimmen. Ist es, biographisch, die Erfahrung der Liebe zu seiner Jugendbekanntschaft aus Czernowitz, Ilana Shmueli, die er in Israel wiedertraf? Ohnehin wird die gemeinsam in Israel verbrachte Zeit einen intensiven Niederschlag in Gedichten und Briefen hinterlassen. Dringt sie auch jetzt, zum Zeitpunkt der Lesung, in die Berührungsverse von Engführung und erschüttert sie, sodass im Moment des Lesens jede Frage nach Berührung sofort von ihrer Wirklichkeit überholt wird? Oder ist es eine politisch bzw. historisch motivierte, poetologische Verschiebung, die – in Israel geäußert – die jüdische Gesellschaft (ein kollektiveres »Wir«) als reale, eben zu berührende Gemeinschaft begreift, einen Handschlag, eine vollzogene, erfolgreiche Willkommensgeste aber sogleich wieder in Frage stellen muss? Solche Überlegungen bleiben natürlich im Bereich der Spekulation und erscheinen letztlich müßig. Entscheidend ist zum einen, dass sich in den umgestellten, gesprochenen Versen stärker als in den gedruckten ein Konflikt zwischen Feststellen und Fragen bahnbricht. Die mit Kristall als Auftakt gebildete, komprimierte Konstellation der gelesenen Texte entfaltet zum anderen eine sprachliche Energie, die an ihrem Höhepunkt eben diese Stelle aus Engführung erfasst und neu bildet: »mit diesen Händen« meint eben nicht nur im Stile selbstreflexiver Deixis die in Engführung genannten Hände, die in der achten Partie des Gedichts als ›geflohen‹ charakterisiert werden,28 sondern lässt all die ›Hände‹ mitklingen, die zuvor in der Lesung ausgesprochen wurden und klingt noch in den folgenden 27 Von Celan selbst wurde sie in Verbindung mit den Verwüstungen der Atombombe gebracht. Vgl. die im Kommentar von Barbara Wiedemann zitierten Stellen in: Paul Celan, Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe, Frankfurt a. M. 2003, S. 668  f. 28 TCA/Sprachgitter, S. 97.



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Gedichten nach. Man könnte sagen, dass in einer dem ausgesprochenen Wort selbst zukommenden Performanz diesem eine lautliche Präsenz, ein wörtlicher und berührbarer Klangkörper zuteilwerden, die sich bei jeder Nennung erneuern, wie unterschieden die Bestimmungen von »Hände« und »Hand«, wie verschieden ihr jeweiliger sprachlicher Gestus in den einzelnen Gedichten auch sein mag. So gesehen geht natürlich von »diesen Händen« das Pochen des »Fremden« »ans Tor« aus und am Ende der Lesung hat eine der Hände im abschließenden Gedicht Denk dir »dies wieder / ins Leben empor- / gelittene / Stück / bewohnbarer Erde  /  gehalten«, hat also, so konkret ist dieser Vers jetzt zu verstehen, ein Stück israelischen Bodens berührt. Der aus dem Versprecher im Interview konstruierte, hypothetische Chiasmus lässt sich also auch in den abgeänderten Gedichten wiederfinden, auch hier begegnet man einer Sprache, die sich im Mündlichen vom schriftlich Fixierten abfedert, um Richtung auf eine sich im Moment der Lesung neu konstituierende Begegnung unterschiedlicher Texte und weiter: unterschiedlicher Hörer zu gewinnen. Nimmt man Kristall als Auftakt der Lesung ernst und sieht in ihm eine auf Begegnung und letztlich Berührung zielende sprachliche Adressierung, dann werden die »Hände« nicht nur in ihrer veränderten syntaktischen Struktur von eben dieser Adressierung vorbereitet. Vielmehr gipfelt diese Bewegung der Adressierung in den zitierten, abgeänderten Versen von Engführung. »Hände« chiffriert die auf Begegnung angelegte Sprache des Gedichts: »Ich sehe keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Händedruck und Gedicht«.29 Ob man nach all dem von den abgeänderten Stellen aus Engführung allerdings noch von einer Entscheidung im Sinne einer Bearbeitung sprechen kann, scheint mir fraglich.30 Einer Variante, die ihren Platz im Kommentar der historisch-kritischen Ausgabe finden könnte, begegnet man hier nicht. Wohl aber begegnet man einer Varianz, begegnet einer dem Ausgangstext inhärenten Möglichkeit des Sagens. Jedem Einwand, es handele sich auch hier um ein virtuos aufgefangenes Verlesen Celans, ist mit dessen eigenem poetologischen Ausruf des Erstaunens zu begegnen: »Aber das Gedicht spricht ja!« Man könnte sagen, 29 Paul Celan, Ein Brief [an Hans Bender, in dem er auf die Aufforderung reagiert an einer Anthologie teilzunehmen], in: Paul Celan, Werke. Historisch-Kritische Ausgabe, I. Abteilung/ Bd. 15,1, Frankfurt a. M. 2014, S. 79. 30 Zu dieser Frage vgl. Andreas Maier, Akustische Lesarten. Zum editionsphilologischen Umgang mit (Autoren-) Hörbüchern, in: Text – Material – Medium. Zur Relevanz editorischer Dokumentationen für die literaturwissenschaftliche Interpretation, hg. von Wolfgang Lukas, Rüdiger Nutt-Kofoth und Madleen Podewski, Berlin und Boston 2014 (Beihefte zu editio 37), S. 273–289. Andreas Maier spricht sich allerdings dann für eine Aufnahme akustischer Varianten in den Zusammenhang der Werküberlieferung aus, wenn Aufnahmen von Lesungen autorintentional verbreitet wurden.

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man begegnet hier einer mündlichen Version dessen, was er in den Arbeitsheften als »Sprache in statu nascendi«, als »freiwerdende Sprache«31 bezeichnet. Es scheint, als bildeten sich manche der Gedichte tatsächlich neu beim Sprechen, als gehorchte der gesprochene Text anderen Bedingungen als sein geschriebenes Pendant. »Ein gutes Lesen, ein gutes Hören«  – setzt diese Formulierung nicht voraus, dass die Sprache der Gedichte Kontakt gefunden hat, indem sie sich an das Jerusalemer Publikum zunächst und an alle hinzuzudenken Figuren dann adressierte, setzt sie nicht ein Wechselverhältnis voraus zwischen dem lauten Lesen und dem Hören wie Zuhören? Der Fehler darf nicht gemacht werden, dieser Bewegung, die momentan aus der Schrift eine neue Möglichkeit des Sagens gewonnen hat, philologisch eine Fixierung zuzumuten, von der sie sich gerade abgestoßen hat. Zumal, wenn sie sich sowohl inhaltlich wie performativ gerade nicht über einen gelungenen Vollzug äußert, sondern diesen schmerzhaft gedoppelt in Frage stellt: »wie – wie«. Solche Frage braucht den Freiraum, auch im Wissen einer nachfolgenden Rezeption verklungen zu sein, selbst wenn sie durch ein Tonbandgerät reproduziert wird; sie braucht es also, dass ihr die Flüchtigkeit, die sie während der Lesung besaß, weiterhin zugestanden wird. Jede der kleinen und größeren Veränderung ist in sich eine Einmaligkeit, nicht auf Wiederholung angelegt und noch in ihrer abspielbaren Gestalt als Tonband allenfalls im Paradox einer wiederholbaren Einmaligkeit zu begreifen. Sie besitzen ihr Datum, den 9. Oktober 1969, und ihren Ort, Jerusalem. Das aber lässt keine Varianten in einem historisch-kritischen Sinne entstehen. Die abgeänderten Passagen bleiben stimm- wie zeit- und ortsgebunden. Sie besaßen Gültigkeit während der Lesung – und sie besitzen noch immer Gültigkeit während der Lesung. Statt einer oder mehreren Varianten, die den gedruckten, niedergeschriebenen Gedichten auf gleichem Terrain begegnen könnten, hat man es hier also mit einer Varianz des geschriebenen Ausgangstexts zu tun. In seiner Meridianrede hat Celan das Gedicht als ein verhoffendes charakterisiert.32 Dieser Ausdruck aus der Jägersprache, der den Moment bezeichnet, in dem das Wild kurz innehält, um Witterung aufzunehmen, und sich zur Flucht bereit macht, bezeichnet präzise, was im Moment des Aussprechens mit der Sprache des Gedichts geschieht. Für den einen Moment des Aussprechens ist sie hörbar, dann aber schon verklungen, flüchtig in eine Richtung, die die Bewegung der Schrift durchkreuzt, von ihr aber nicht mehr gefangen, noch als erhaschte Variante erledigt werden kann. * 31 Paul Celan, Mikrolithen, S. 100. 32 Vgl. TCA/Meridian, S. 8.



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Lässt sich sagen, dass von Jerusalem als Ort, als ein von Celan erlebter zumal, ein Sprachdruck ausging, auf den die Gedichte mit Veränderung ihrer Wortgestalt reagieren mussten? Diese Frage kann wohl nur offenbleiben; dass sich aber die Sprache der Gedichte als Teil einer Adressierungsbewegung ändert, die ihren erfolgreichen Ort nur in einem Amalgam aus Sprache und Zeit haben kann, wird im bereits anzitierten, letzten Gedicht der Lesung noch einmal deutlicher: Denk dir: der Moorsoldat von Massada bringt sich Heimat bei, aufs unauslöschlichste, wider allen Dorn im Draht. Denk dir: die Augenlosen ohne Gestalt führen dich frei durchs Gewühl, du erstarkst und erstarkst. Denk dir: deine eigene Hand hat dies wieder ins Leben emporgelittene Stück bewohnbarer Erde gehalten. Denk dir: das kam auf mich zu, namenwach, handwach für immer, vom Unbestattbaren her.33 Celan verfasste Denk dir 1967 während des Sechstagekriegs. Das Gedicht schickte er unter anderem an Ilana Shmueli,34 außerdem erschien es in der Neuen Zürcher

33 TCA/Fadensonnen, S. 221. 34 Celan, Shmueli, Briefwechsel, S. 5 (Brief vom 27. 06. 1967).

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Zeitung und »in verschiedenen israelischen Zeitungen«35. Denk dir war also aus Paris an Israel geschrieben worden. Jetzt, während der Jerusalemer Lesung, wechselt es die Richtung und wendet sich in Israel an das Land und sein zionistisches Projekt zum einen, an den Lesenden zum anderen. Wird nicht gerade die dritte Strophe durch ihr Aussprechen in Jerusalem auf eine Art lebensweltlich eingeholt – wie momentan auch immer man dies begreifen müsste? Ähnlich dem »Tor« aus Kristall erlangt die »Hand« doch unverhofft konkreten Sinn. Solcherart ans Ende der Lesung gesetzt, ist das Gedicht nicht nur politisches Einstehen wie in seinen schriftlichen Adressierungen als Brief oder Zeitungsdruck. Es wird zur Selbstanrede, die den Kontakt mit einer autonomen jüdischen Wirklichkeit nach der Vernichtung (»wieder allen Dorn im Draht«) sich zuallererst sprachlich in die Vorstellung rufen muss (»Denk dir«). Ist Denk dir aber am Abend der Lesung von einer anderen Gegenwart als der seines Entstehens eingeholt worden, liegt es dann nicht nahe, in den veränderten Versen von Engführung nicht genau einen Effekt jenes Sprachdrucks zu erkennen, der darauf drängt, dass die ›Hände‹, die sich berührten, nun diese »Hand«, die das »Stück bewohnbarer Erde gehalten« hat, ihrerseits versuchen, einzuholen? Dass solches Einholen aber nicht, oder wenn, dann nur in der Figur der Infragestellung (das gedoppelte »wie« aus Engführung) gelingen kann; dass die Berührung immer eine sein sollte, die neben der eigenen Gegenwart des Sprechens noch andere Zeiten zulassen und mitsprechen muss, dies zeigt sich im Anachronismus der ersten Strophe: »Der Moorsoldat von Massada«, der politische KZ-Häftling also aus dem 1933 entstandenen Lied »bringt sich Heimat bei« während des jüdischen Krieges, auf der 73./74. n. d. Z. von den Römern zerstörten Wüstenfestung am Toten Meer. Steht aber solcherart die »Hand«, Garant der Berührung in der Sprache des Gedichts, nicht ein für eine fundamentale Überforderung des Poetischen, die dessen eigene Gegenwart, auch und gerade im Jetzt und Hier der Lesung in Jerusalem, mit dem immer wieder auf sie zukommenden Anspruch der Toten konfrontiert? »namenwach, handwach« ist ein Verweis auf die Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, deren Name übersetzt »Hand und Name« bedeutet und die im wörtlichsten Sinn für die »Unbestattbaren« errichtet wurde. Auf diesem Ton endet die Lesung, die mit dem Kristall-Klang begann.

35 Kommentar von Barbara Wiedemann in: Paul Celan, Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe, hg. von Barbara Wiedemann, Berlin 2018, S. 967.

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»es gibt kein richtiges leben im valschen« – die neue frankfurter schule und ihr komisierender umgang mit theodor w. adorno bei robert gernhardt und eckhard henscheid Robert Gernhardt und Eckhard Henscheid gehören einer Gruppe von ursprünglich acht Zeichnern und Schriftstellern der komischen Kunst an, die in den 1960er Jahren im Umfeld des Satiremagazins pardon zusammenfand, 1979 das Satiremagazin Titanic gründete und sich, bis dahin ohne Selbstbezeichnung, Anfang der 80er Jahre den Namen »Neue Frankfurter Schule«  – kurz: NFS  – gab.1 Die Gruppe steht im deutschsprachigen Raum wie keine andere für Satire und Komik. Sie zeichnet neben dem Nischenmagazin Titanic für zahlreiche literarische und zeichnerische/graphische Veröffentlichungen verantwortlich. Die NFS steht in mehrerlei Hinsicht in Bezug zu bestimmten Traditionen: Einerseits ist sie traditionsfortführend, da sie anknüpft an Werke von Schriftstellern und Zeichnern wie Wilhelm Busch, Kurt Tucholsky und Karl Kraus. Andererseits ist sie traditionsbildend, denn aus der Gruppe von acht Künstlern entstand ein größerer und nicht leicht bestimmbarer Kreis von zugehörigen und assoziierten Künstlern, der bis heute aktiv ist. Und »dritterseits«2 steht die NFS – der Name verweist als Verballhornung darauf – in gewisser Hinsicht in der Tradition der »Frankfurter Schule« genannten Vertreter des Instituts für Sozialforschung um Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Nicht nur die Stadt Frankfurt als geographisches Zentrum der NFS verbindet sie mit den Denkern der Frankfurter Schule: In den Werken der NFS zeigt sich an vielen Stellen der Einfluss, den die Schriften der Kritischen Theoretiker auf diese Künstler nahmen. Am deutlichs-

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Die acht Zeichner und Schriftsteller sind Chlodwig Poth, Hans Traxler, F.W. Bernstein, F.K. Waechter, Peter Knorr, Bernd Eilert, Robert Gernhardt und Eckhard Henscheid. Eckhard Henscheid, passim, z.  B. Eckhard Henscheid, Helmut Kohl. Biographie einer Jugend, Zürich 1985, S. 53 und 219.

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ten machen dies die Satiren der Titanic. »Ein klares Ja zum Nein!«3 lautet deren Grundhaltung, worin sich ein grundsätzlicher Widerspruch gegen Traditionen, gegen gesellschaftliche Sedimente und letztlich gegen das schlechte Bestehende ausdrückt. Aller Komik und Groteske, allem Nonsens und Widersinn liegt hier ein gesellschaftskritischer Impetus zugrunde. Als wollte man Heft für Heft Material dafür liefern, was Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung über das Lachen schrieben: »Gelacht wird darüber, daß es nichts zu lachen gibt.«4 Was aber bringt eine Gruppe von Komik-Künstlern dazu, sich mit dem modifizierten Namen jener Sozialphilosophen zu schmücken und damit eine Traditionslinie anzudeuten – was, außer komischer Hybris und Spottlust? Ursprünglich ist der Name nicht als Gruppenbezeichnung gedacht. Vielmehr ist man im Jahre 1981 auf der Suche nach einem Titel für eine Gemeinschaftsausstellung dreier Künstler der Gruppe. Die Wahl fällt auf »Neue Frankfurter Schule«, und für das Ausstellungsplakat fertigt einer der drei Ausstellenden, F.K. Waechter, eine Zeichnung eines Schulhauses, dessen Dach brennt, an. Hier sind durchaus komische Hybris und Spott zu erkennen. Diese Ausstellung ist schließlich Ausgangspunkt dafür, sich fortan als Gruppe so zu bezeichnen.5 Doch lassen sich neben diesem komisch-hybriden, spottenden Bezug auch andere Bezüge zur Frankfurter Schule finden? Fragt man die Mitglieder, fallen die Antworten unterschiedlich aus. Robert Gernhardt gesteht, der Name Neue Frankfurter Schule sei »vor allem ein Bluff« und zuvorderst der »beklagenswerten Definitionsgeilheit der Presseorgane«6 geschuldet. Schon hier ist allerdings ein kritischer Impetus zu erkennen, denn was Gernhardt hier kritisiert, ist die Tendenz, alles auf positive Begriffe zu bringen und dadurch zu stabilisieren, wo nicht zu fixieren. Der Zeichner F.K. Waechter wiederum meint trocken: »Ich nehme das so und so nicht so ernst.«7 Eckhard Henscheid hingegen ist der Ansicht, »daß bei der NFS […] so etwas wie eine stilbildende Schule anliegt« und »daß der Name durchaus bewußt jene ältere Soziologenschule rezitiert.«8 3

Christian Litz, Käpt’n, wir sinken, in: brand eins 8 (2001), abgerufen unter https://www. brandeins.de/magazine/brand-eins-wirtschaftsmagazin/2001/glaubwuerdigkeit/kaept-nwir-sinken, (19. 07. 2018). 4 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Frag­ mente [1969], in: Theodor W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. von Rolf Tiedemann, Frank­furt a. M. 1981, S. 162. 5 Vgl. Oliver Maria Schmitt, Die schärfsten Kritiker der Elche. Die Neue Frankfurter Schule in Wort und Strich und Bild, Berlin 2001, S. 26. 6 Oliver Maria Schmitt, Die schärfsten Kritiker der Elche, S. 18. 7 Ebd. 8 Eckhard Henscheid, Frankfurts magisches Dreieck, in: Die Neue Frankfurter Schule. »Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche!« 25  Jahre Scherz, Satire und



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Die Frage des vorliegenden Aufsatzes lautet: In welchem Verhältnis steht die NFS zur Frankfurter Schule? Dazu soll die These untersucht werden, dass die NFS sich in reflektierter, kritisch-theoretischer Manier nicht blank positiv auf die Frankfurter Schule beruft, sondern sich auf diese in durchaus ambivalenter Weise bezieht. Das Tradieren von Gedanken und Inhalten der Kritischen Theorie erfolgt fast ausschließlich durch komisierende9 Aneignung. Der Aufsatz ist in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil gehe ich der Frage nach, wo bei Robert Gernhardt und Eckhard Henscheid jeweils Traditionslinien zu Theodor W. Adornos Schaffen zu erkennen sind. Dieser Teil wird zeigen: Bei Gernhardt sind die Bezüge eher formaler respektive methodologischer Natur, bei Henscheid hingegen schlagen sie sich stärker inhaltlich nieder. Das Bindeglied zwischen den Abschnitten zu Gernhardt und zu Henscheid im ersten Teil bildet eine Interpretation des Motivs der correspondance aus Adornos Aufsatz Über Tradition.10 Im zweiten Teil gehe ich der Frage nach, auf welche Art und Weise Gernhardt und Henscheid Gedanken und Inhalte von Adornos Kritischer Theorie komisieren. Im Falle von Gernhardt zeige ich dies anhand des komischen Gedichts Frage11 zur Kontroverse um Lyrik nach Auschwitz, im Falle von Henscheid anhand komisierender fiktiver Anekdoten zur Frankfurter Schule aus dem Buch Wie Max Horkheimer einmal sogar Adorno hereinlegte. Anekdoten über Fußball, Kritische Theorie, Hegel und Schach12. Für den gesamten Aufsatz gilt: Ich versuche stets, exemplarische Textpassagen von Gernhardt und Henscheid mit Passagen von Adorno in Konstellation zu bringen, um dergestalt die Gemeinsamkeiten und gegebenenfalls Unterschiede sichtbar zu machen. schiefere Bedeutung aus Frankfurt am Main, hg. von W.P. Fahrenberg, Göttingen 1987, S. 16–17, hier S. 16. 9 Der Ausdruck ›komisieren‹ stammt aus der Komikforschung und findet sich etwa bei Klaus Cäsar Zehrer, Dialektik der Satire. Zur Komik von Robert Gernhardt und der »Neuen Frankfurter Schule«, Bremen 2002, http://elib.suub.uni-bremen.de/publications/dissertations/EDiss259_zehrer.pdf, (17. 03. 2018), S. 174 und passim. Ich verwende ihn im Sinne von ›etwas auf künstlerische Art und Weise verwenden oder verarbeiten, so dass man darüber lachen muss‹. 10 Theodor W. Adorno, Über Tradition [1968], in: ders., Gesammelte Schriften. Band  10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild, hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt a. M. 1997, S. 310–320. 11 Robert Gernhardt, F.W. Bernstein und F.K. Waechter, Die Wahrheit über Arnold Hau [1966], in: Die Drei. Die Wahrheit über Arnold Hau. Besternte Ernte. Die Blusen des Böhmen, hg. von dens., Zürich 1995, S. 13–189, hier S. 148. 12 Eckhard Henscheid, Wie Max Horkheimer einmal sogar Adorno hereinlegte. Anekdoten über Fußball, Kritische Theorie, Hegel und Schach. Mit Zeichnungen von F. W. Bernstein [1983], 11.–12. Tausend, Zürich 1984.

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Künstlerische Traditionslinien Robert Gernhardts und Eckhard Henscheids Robert Gernhardt (1937–2006) malte, zeichnete und schrieb seit den 1960er Jahren und brachte ein großes Œuvre komischer Kunst hervor. Für sein zeichnerisches Schaffen gelten als Vorbilder Wilhelm Busch und Loriot. Wie Wilhelm Busch gestaltete Gernhardt eine Vielzahl an komischen Bildgeschichten und Bildgedichten. Wo bei jenem die Bilder als Ergänzungen und Bekräftigungen der Texte fungieren, versuchte Gernhardt bei Bild-Text-Kombinationen stets, ein untrennbares Ganzes aus Bild und Text hervorzubringen.13 Was Gernhardt wiederum mit Loriot verbindet; wie auch der reduzierte, aber doch präzise und ausdrucksstarke Zeichenstil. Verwandtschaft in lyrischer Hinsicht besteht unter anderem mit Christian Morgenstern, Joachim Ringelnatz und Karl Valentin. Gernhardts Nonsens-Gedichte sind mit denen der genannten Dichter durchaus vergleichbar, zeichnen sich ihnen gegenüber allerdings durch Weiterentwicklungen des Genres Nonsens in mehrerlei Hinsicht aus: Zusammen mit den SchreiberZeichnern F.W. Bernstein und F.K. Waechter aktualisierte Gernhardt den Nonsens mittels Nennung tatsächlicher Personen, Orte und Geschehnisse, visualisierte ihn verstärkt mit Zeichnung und Foto und ironisierte das Genre schließlich dadurch, dass die Technik des Nonsens selbst Gegenstand der Nonsenskomik wurde.14 Und mitunter erwies Gernhardt den Vorbildern auch die Reverenz, wenn er etwa Gedichte »in der Nachfolge eines Morgenpalm oder Ringelström«15 ankündigte. Als bedeutender Vorläufer in satirischer Hinsicht kann Kurt Tucholsky gelten. Wie dieser verfasste Gernhardt eine Vielzahl an Satiren; Veröffentlichungsmedium war zunächst die Satirezeitschrift pardon und ab 1979 die von ihm mitgegründete Titanic. Und auch auf Tucholsky bezog Gernhardt sich bisweilen explizit, zum

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Vgl. Peter Köhler, Gab es Komik vor der Neuen Frankfurter Schule?, in: Die Neue Frankfurter Schule. »Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche!« 25  Jahre Scherz, Satire und schiefere Bedeutung aus Frankfurt am Main, hg. von W.P. Fahrenberg, Göttingen 1987, S. 34–44, hier S. 39  f. 14 Vgl. Peter Köhler, Nonsens, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band 2: H–O, hg. von Harald Fricke, Berlin und New York 2007, S.  718–720, hier S.  719  f. Für detaillierte Analysen vgl. Peter Köhler, Nonsens. Theorie und Geschichte der literarischen Gattung, Heidelberg 1989, S.  59–99 und Peter Köhler, Der Spaßmacher und Ernstmacher Robert Gernhardt, in: Der Rabe. Magazin für jede Art von Literatur. Robert Gernhardt zum 60.  Geburtstag, hg. von Heiko Arntz und Gerd Haffmans, Zürich 1997, S.  171–203, hier S. 184–195. 15 Peter Köhler, Gab es Komik vor der Neuen Frankfurter Schule?, S. 44 und Welt im Spiegel 1 (1973), in: Welt im Spiegel, WimS 1964–1976 [1979], hg. von Robert Gernhardt, F.W. Bernstein und F.K. Waechter, 7. Aufl., Frankfurt a. M. 1980, S. 228–229, hier S. 228.



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Beispiel, wenn er Tucholskys komisches Dramolett Ein Ehepaar erzählt einen Witz16 zur Humoreske Ein Ehepaar erzählt »Ein Ehepaar erzählt einen Witz«17 verarbeitete. Diese findet sich in der Sammlung Es gibt kein richtiges Leben im valschen. Humoresken aus unseren Kreisen, in der Gernhardt den Fokus auf die Alltags- und Beziehungsprobleme im Selbstverwirklichungsmilieu der 1980er Jahre legt. Er zeigt die lebensweltlichen Widersprüche »unserer Kreise«, die die gesellschaftspolitischen Debatten der 68er in den privaten Raum hineintragen und sich aber längst im Wohlstand eingerichtet haben. Ein Ehepaar erzählt »Ein Ehepaar erzählt einen Witz« spielt, anders als die Vorlage im bürgerlichen, im nolens volens bürgerlich gewordenen Milieu und zeigt dergestalt Widersprüche der sich dennoch antibürgerlich gebenden »Kreise«. Eckhard Henscheid (*1941) tritt neben seinem Wirken als Satiriker, Polemiker und Literaturkritiker vor allem als Romancier in Erscheinung. Als solcher legte er mit der Trilogie des laufenden Schwachsinns18 Romane vor, die zwar jeweils nur eine sehr schmale Handlung aufweisen, deren Besonderheit aber in der Ausgestaltung dieser schmalen Handlung liegt. Henscheid bläht triviale Begebenheiten des banalen Alltags auf, indem er sie durch eine Fülle an Zitaten sowie Verweisen und Anspielungen auf die Frühromantiker und Eichendorff formal im Gewande der Romantik erscheinen lässt.19 Der Erzählton lässt etwa an Dostojewski oder Italo Svevo denken. Die Komik entsteht in Henscheids Romanen oft durch die Diskrepanz zwischen ›hohem‹ Erzählton und den trivialen Begebenheiten sowie dem »Sprachmüll« beziehungsweise der erschreckenden Sprachlosigkeit, wie er sie bei seinen Zeitgenoss_innen diagnostiziert.20 In seinen Worten:

16 Kurt Tucholsky, Ein Ehepaar erzählt einen Witz [1931], in: ders., Wir Negativen. Ein Lesebuch, hg. von Hans Prescher, Reinbek b. Hamburg 1988, S. 64–67. 17 Robert Gernhardt, Ein Ehepaar erzählt »Ein Ehepaar erzählt einen Witz«, in: ders., Es gibt kein richtiges Leben im valschen. Humoresken aus unseren Kreisen [1987], 5. Aufl., Frankfurt a. M. 1997, S. 79–86. 18 Eckhard Henscheid, Die Vollidioten. Ein historischer Roman aus dem Jahr 1972 [1973], mit Zeichnungen der Originalschauplätze von F.K. Waechter. Frankfurt a. M. 1978 (= Trilogie des laufenden Schwachsinns 1); ders., Geht in Ordnung  – sowieso  –  – genau  –  –  –. Ein Tripelroman über zwei Schwestern, den ANO-Teppichladen und den Heimgang des Alfred Leobold, mit Zeichnungen von Robert Gernhardt, Frankfurt a. M. 1977 (= Trilogie des laufenden Schwachsinns 2); ders., Die Mätresse des Bischofs. Roman, mit Zeichnungen von F.W. Bernstein. Frankfurt a. M. 1978 (= Trilogie des laufenden Schwachsinns 3). 19 Vgl. Sven Hanuschek, Eckhard Henscheid, in: Kindlers neues Literatur-Lexikon. Bd.  21: Supplement A–K, hg. von Walter Jens, München 1998, S. 562–564, hier S. 562. 20 Vgl. Sven Hanuschek, Eckhard Henscheid, S. 564.

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Die gegenwärtige und fast universelle und zutiefst verderbliche Verzauberung unserer Kultur durch Dreck und Müll und Spam und Schrott […].21 Diese Diagnose nimmt er häufig auch zum Anlass, unbarmherzige Polemiken gegen Persönlichkeiten des Literaturlebens wie allgemein des geistigen Lebens zu verfassen. Als bedeutender Vorläufer beispielsweise der erbarmungslosen Sprachkritik wäre Karl Kraus zu nennen. Schlagendes Beispiel für die Schärfe von Henscheids Polemiken ist eine Kurzkritik in der Literaturzeitschrift Der Rabe aus dem Jahre 1991. Henscheid bespricht darin Heinrich Bölls wiederveröffentlichten Roman Und sagte kein einziges Wort und schreibt unter anderem, Heinrich Böll sei ein »steindummer, kenntnisloser und talentfreier Autor« und »ein z.  T. pathologischer, z.  T. ganz harmloser Knallkopf«22. Mit dieser Kritik in aggressivpolemischem Ton an Werk und Autor forderte Henscheid eine Neubewertung von Bölls Texten ein.23 Henscheid wurde daraufhin von Bölls Sohn René Böll verklagt, da dieser Henscheids Kritik als Schmähkritik betrachtete. Letztinstanzlich wurde Henscheid zur Unterlassung der getätigten Aussagen verurteilt. Die Kritik darf seither nurmehr mit geschwärzten Stellen der beanstandeten Formulierungen verbreitet werden.24

Fragmente in Bewegung. Robert Gernhardt in der Tradition der Kritischen Theorie Dieser knappe Überblick über das Schaffen Gernhardts und Henscheids sollte zeigen, in welchen schriftstellerischen Traditionslinien die beiden als Autoren hauptsächlich stehen: in denen kanonisierter Autoren. Kanonisierter Autoren mithin, die, wie Gernhardt in seiner komiktheoretischen Schrift Versuch einer Annäherung an eine Feldtheorie der Komik beklagt, nachträglich von komischen Künstlern zu eigentlich ernsthaften umgedeutet wurden:

21 Eckhard Henscheid, Denkwürdigkeiten. Aus meinem Leben. 1941–2011, Frankfurt a. M. 2013, S. 301. 22 Ebd., S. 229. 23 Vgl. Michael Matthias Schardt und Torsten Steinberg, Eckhard Henscheid, in:  KLG  – Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur/nachschlage.NET [2010], http://​www.nachschlage.net​/​search/​document​?​index=​mol-16&​id=​16000000225&​type=​ text/html&​query.key=​jSZX3coS&​template=​/publikationen/klg/document.jsp&​preview=,​ (28. 01. 2019). 24 Vgl. ebd.



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Wilhelm Busch wird zum Weisen von Wiedensahl stilisiert, rühmend werden seine Schopenhauer-Lektüre und seine Malerei hervorgehoben. Morgenstern, so hört man, war vor allem ein ernstzunehmender Dichter. Ringelnatz wird zu einem lächelnden, zutiefst menschlichen Philosophen stilisiert, Valentin zu einem der wichtigsten Dramatiker des Jahrhunderts.25 Ebenso für fragwürdig hält Gernhardt den »Versuch, ausgewiesen ernste Dichter wie Beckett, Kafka oder Dostojewski aufgrund erwiesen komischer Passagen in ihren Werken zu im Grunde komischen Dichtern zu stilisieren.«26 Er bezeichnet das alles als »nicht aus der Luft gegriffen und dennoch unwahr, wenn nicht verlogen.«27 Zwar sind diese Überlegungen Gernhardts der Tatsache geschuldet, dass er als komischer Künstler damit haderte, nicht ernstgenommen zu werden28 und dass das Komische oft nur dann anerkannt sei, wenn es zum Ernsten hin ›aufgewertet‹ werde. Wo das Komische ihm zufolge doch einen Wert für sich darstelle.29 Gernhardt kritisiert mit diesen Überlegungen den Umgang mit dem künstlerischen Schaffen von Autoren. Wo das Besondere der Werke der genannten Autoren ursprünglich ein sehr starkes Lustmoment gewesen sei – das Moment, die Rezipient_innen zum Lachen zu bringen –, seien im Laufe der Zeit »der sittliche Wert der Komik und der ästhetische Rang der Komiker«30 in den Vordergrund gerückt. Gernhardts komiktheoretische Schrift bietet schon in formaler Hinsicht eine Spur auf der Suche nach Anknüpfungspunkten zur Frankfurter Schule. Er präsentiert damit seinen Versuch zu klären, worüber wir lachen und warum, und untersucht die Bedingungen der Gegenstände des Lachens sowie dessen subjektive Mechanismen. Anders als die meisten seiner komiktheoretischen Vorgänger verfasste Gernhardt jedoch keine positiv formulierte Theorie, die auf bestimmten

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Robert Gernhardt, Versuch einer Annäherung an eine Feldtheorie der Komik, in: ders., Was gibt’s denn da zu lachen? Kritik der Komiker, Kritik der Kritiker, Kritik der Komik [1988], Frankfurt a. M. 2008, S. 531–564, hier S. 531. Ebd., S. 532. Ebd., S.  531. Notabene: Gernhardts NFS-Kollege Henscheid sollte rund ein Vierteljahrhundert später eine Monographie mit dem Titel Dostojewskis Gelächter. Die Entdeckung eines Großhumoristen vorlegen, vgl. Eckhard Henscheid, Dostojewskis Gelächter. Die Entdeckung eines Großhumoristen, München und Zürich 2014. Vgl. Robert Gernhardt, Der kleine Gernhardt. Was war, was bleibt von A bis Z, hg. von Andrea Stoll, Frankfurt a. M. 2017, eine Sammlung autobiographischer, oder vielmehr: tagebuchartiger Einträge aus Gernhardts Brunnenheften. Robert Gernhardt, Feldtheorie, S. 533. Ebd., S. 531.

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Prämissen beruht und sich darauf fußend entwickelt.31 Vielmehr versucht er, sich den Phänomenen des Komischen anzunähern und sie durch solche Annäherung kenntlich zu machen. Bedingung ist für Gernhardt, die Gegenstände möglichst nicht durch theoretische Korsette einzuzwängen und zu verändern. In den Vorbemerkungen zum Versuch einer Annäherung an eine Feldtheorie der Komik beschreibt er sein Vorgehen folgendermaßen: Die Recherche sollte ihm [dem Reflektierenden; A.L.] wichtiger sein als der Fund, die Bewegung des Denkens wichtiger als das Ziel, selbst gewisse Gedankensprünge wird er nicht nur in Kauf nehmen, sondern begrüßen, hofft er doch, daß die das weite Feld des Komischen besser auszumessen in der Lage seien, als es das behagliche Fürbaß des gemächlichen Gedankenganges vermöchte.32 Und schon der Titel Versuch einer Annäherung an eine Feldtheorie des Komischen zeigt die Verweigerung vor einer positiv formulierten Theorie der Komik an, da er sich von einer solchen dreifach distanziert: Erstens mittels des Begriffs der Feldtheorie; denn Gernhardt versucht, »das komische Werk, ja die gesamte Komik in einen größeren Zusammenhang zu stellen, in ein derart erweitertes Feld, daß der Begriff ›Feldtheorie‹ im nachhinein nicht zu weit gefaßt bzw. zu

31 Vgl. für die bedeutenden Vorläufer der Komiktheorie von Aristoteles über Immanuel Kant, Henri Bergson, Sigmund Freud und Helmuth Plessner zu Wolfgang Iser den Sammelband Texte zur Theorie der Komik, hg. von Helmut Bachmaier, Stuttgart 2005. Gernhardt selbst äußerte sich dazu folgendermaßen: »Alle Theorien und Analysen des Komischen (des Lächerlichen, des Witzigen) nämlich verlieren unvermittelt an Glanz, sobald sie die Probe aufs Exempel machen. […] Mag ja sein, daß Sigmund Freud den Schüttelreimen bescheinigte, daß ›unser Wohlgefallen an ihnen das nämliche ist, an dem wir den Witz erkennen‹. Gut möglich, daß ›Bergsons Theorie des Komischen besonders gut auf [bestimmte] deutsche Produkt[e]‹ paßt. Nur: Was nützen mir die schönsten Theorien zur Komik des Schüttelreimes, wenn ich über so gut wie keinen Schüttelreim lachen kann? Je länger mir Komisches begegnet, desto abgetaner erscheint mir die Warum-lachen-wir-Frage, desto unabweislicher dagegen erhebt ihr Widerpart das Haupt, die sehr viel spannendere Frage: Warum lachen wir nicht?«, Robert Gernhardt, Warum lachen wir nicht?, in: ders., Was gibt’s denn da zu lachen? Kritik der Komiker, Kritik der Kritiker, Kritik der Komik [1988], Frankfurt a. M. 2008, S.  269–274, hier S.  270. Gernhardts komiktheoretische Schrift solle darüber hinaus »kein weiterer Gesetzestext sein, welcher einer ohnehin schon unter der Last der Schriften stöhnenden Menschheit nun auch noch aufgeladen wird: Komik ist, wenn erstens …«, Robert Gernhardt, Vorbemerkung zu dem ›Versuch einer Annäherung an eine Feldtheorie der Komik‹, in: ders., Was gibt’s denn da zu lachen? Kritik der Komiker, Kritik der Kritiker, Kritik der Komik [1988], Frankfurt a. M. 2008, S. 525–530, hier S. 529. 32 Robert Gernhardt, Vorbemerkung zur Feldtheorie, S. 530.



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hoch gegriffen scheint.«33 Diese erste Distanzierung beinhaltet bereits einige Ambiguität: Ist »Feldtheorie« doch ein Begriff, der sowohl in der Sprachwissenschaft34, der Psychologie35, der Soziologie36 als auch in der Physik37 begegnet. Vor allem der physikalische Feld-Begriff klingt denn auch im Text häufiger an, denn eine Polarität, die Gernhardt seinen Betrachtungen zugrunde legt, ist die von »Spaßmacher[n] und Ernstmacher[n]«38 und meint hier den Gegensatz zwischen Komikproduzent_innen und Nicht-Komikproduzent_innen.39 Nun können Feldtheorien gewiss positiv formuliert werden; allerdings drückt Gernhardt schon mit diesem Begriff, der als Methode die Kontrastierung des Feldes des Komischen mit dem des Ernsten und mithin die Erkenntnis mittels Negation bezeichnet, die Verweigerung vor dem positiven Theoriegebäude aus. Darüber hinaus spielt der physikalische Begriff der Feldtheorie auf ein Problem der experimentellen Physik an: Wie das sogenannte Doppelspaltexperiment, welches den Welle-TeilchenCharakter des Lichts enthüllte, zeigte, nimmt Beobachtung Einfluss auf das Beobachtete. Dessen muss sich die Komiktheorie im Bestreben, die Gegenstände möglichst nicht durch theoretische Korsette einzuzwängen und zu verändern, bewusst sein. Die zweite Distanzierung von einer positiv formulierten »Theorie der Komik« liegt in der »Annäherung« an die Feldtheorie. Denn zwar strebe Gernhardt eine Feldtheorie an, könne sich bislang jedoch nur an eine solche annähern. Das heißt, dass der womöglich positiv auszudrückende Gehalt erschlossen werden will. Und selbst das als Annäherung Gebotene stellt – dritte Distanzierung – nur einen bloßen »Versuch« dar. Womit Gernhardt dem Verdacht, er könnte den Leser_innen eine weitere apodiktische Theorie auftischen wollen, so weit wie möglich aus dem Weg geht, ohne sich mehr als nötig vom ernsthaften Bestreben, komiktheoretisch Triftiges zu präsentieren, loszusprechen. 33 Ebd., S. 530. 34 Als Theorie der Gruppen von bedeutungsähnlichen/-verwandten Wörtern. 35 Als topologische Psychologie, die psychologische Prozesse als Felder wie z.  B. Wahrnehmungs-/Erlebnis-/Handlungsfeld darstellt. 36 Als Theorie der Gesellschaft als System, das aus ›autonomen‹ Feldern wie etwa Justiz, Wirtschaft, Religion u.  a. besteht. 37 Als Theorie der physikalischen Felder wie etwa des Magnetfeldes. 38 Robert Gernhardt, Feldtheorie, S. 536 und passim. 39 Dass ein Gedicht Gernhardts den Titel Spaßmacher und Ernstmacher trägt – 1987 und damit im engen zeitlichen Zusammenhang mit der Feldtheorie von 1988 veröffentlicht  –, verdeutlicht die Wichtigkeit dieses Begriffspaares für ihn. In diesem Gedicht verhandelt er in zwölf Achtzeilern, anders als in der Feldtheorie, die Dialektik aus Gegensätzlichkeit und gegensätzlicher Abhängigkeit des letztlich in einer Person zusammenfallenden Spaß- und Ernstmachers, vgl. Robert Gernhardt, Spaßmacher und Ernstmacher, in: ders., Körper in Cafés. Gedichte [1987], Zürich 1992, S. 147–150.

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Das Ergebnis seiner »Recherche« und »Bewegung des Denkens« sind 23 Fragmente, die durch das Thema Komik zusammengehalten werden und dieses in einen größeren Zusammenhang zu stellen suchen. An basalen Untersuchungsgegenständen gibt es drei: die Komikproduzent_innen, die Komikrezipient_ innen und die komischen Produkte. Die Komikproduzent_innen sind dabei recht klar umrissen: Ihre Aufgabe sei schlicht, die Leute zum Lachen zu bringen.40 Sie erreichten dies durch kontrollierte, bewusste Regelverletzung, worin sich ihre Abhängigkeit von den herrschenden Konventionen zeige.41 Denn ihre Regelverletzungen sind stets solche, die die Regeln zwar in Frage stellen und über sie hinausweisen, sie jedoch zugleich akzeptieren. Die Komikproduzent_innen seien es, die »aus Leid Lust, aus Unterlegenheit Überhebung, aus Einsamkeit Anerkennung, aus Wut Witz, aus Scheiße Bonbon«42 machten. Indem sie dasjenige, was den Menschen zu schaffen macht, temporär in sein Gegenteil verkehren, betätigen sie ein Ventil, welches Unlust in Lust zu wandeln vermag. Die Komikrezipient_innen hingegen sind weniger klar umrissen. Gernhardt beschränkt sich darauf, Eigenschaften der Komikrezipient_innen und des Lachens sowie dessen Bedingungen anzuführen. Dadurch skizziert er ein nur angenähertes Bild und verweist lediglich mit Besonderem auf das Allgemeine des Lachens bzw. der Lachenden. Charakteristisch für die Lachlust sei, dass sie – anders als etwa die Befriedigung der körperlichen Lust – nicht durch Autostimulation hervorgerufen oder gestillt werden könne und darüber hinaus stets auf Gesellschaft angewiesen sei, »auf die der Mitlacher und die der Spaßmacher«43. Ferner ließen sich komische Erlebnisse nicht verbal mitteilen beziehungsweise nur denjenigen, die diese Erfahrungen selbst gemacht hätten. Ähnlich sexuellen Erlebnissen seien Logik und Logos während des Lachens außer Kraft gesetzt.44 Adornos Wort: »Wer denkt, ist in aller Kritik nicht wütend: Denken hat die Wut sublimiert«45, lässt sich hier aufgreifen und, dem Gegenstand angepasst, umkehren: Wer lacht, denkt nicht. ›Nicht denken‹ allerdings nicht im pejorativen Sinne, sondern in dem des temporären Enthobenseins von der Last des Bestehenden. Der dritte Untersuchungsgegenstand schließlich, die komischen Produkte, ist der, nach dem Gernhardt fragt: »Was ist eigentlich komisch?«, und sich sogleich die so einfach klingende wie scheinbar tautologische Antwort gibt: »Komisch ist das, 40 41 42 43 44 45

Vgl. Robert Gernhardt, Feldtheorie, S. 541. Vgl. ebd., S. 533. Ebd., S. 546. Ebd., S. 541. Vgl. ebd., S. 534. Theodor W. Adorno, Resignation [1969], in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe. Stichworte. Anhang, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1974, S. 794–799, hier S. 798.



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worüber ich lache.«46 Er versucht nicht, allgemeine Bedingungen dafür anzugeben, wann etwas komisch sei, sondern verpflichtet sich ganz der Betrachtung subjektiv empfundener Komik. Denn komische Kunst unterscheidet sich von ernster Kunst ihm zufolge in ihrer Kritikwürdigkeit: Die angemessenste Kritik an einem komischen Werk wird immer lauten: Ich habe darüber nicht lachen können. Eine Reaktion, die nicht widerlegt werden kann. Angemessene Kritik an einem Kunstwerk wendet ein: Es gibt die Totalität der Welt nicht zutreffend oder hinlänglich wieder. Ein Urteil, das bestritten, das mit der und durch die Zeit sogar widerlegt werden kann.47 Das Urteil über die Wirkung eines komischen Kunstwerks gleicht in seiner Subjektivität dem ästhetischen Urteil, wie Immanuel Kant es beschreibt.48 Wie das Urteil über die Schönheit eines Kunstwerks von der subjektiven Empfindung der Rezipient_innen abhängig ist, so ist die Reaktion des Lachens von den Rezeptient_innen abhängig. Gleichwohl haben auch komische Kunstwerke objektive Merkmale, die einer nicht-subjektiven Kritik zugänglich sind: »Man kann einen Witz falsch und richtig erzählen, gut und besser. Man kann erkennen und benennen, was falsch gemacht wurde, und man kann den Fehler beheben.«49 In der Form und Herangehensweise von Gernhardts »Feldtheorie« ist eine Verwandtschaft zur Kritischen Theorie, vor allem zu Adorno, zu erkennen. Zu denken ist an Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung, eine Sammlung von Essays, die der Untertitel als Philosophische Fragmente ausweist und in der ebenfalls keine positive Theorie aufgestellt wird, sondern der Vernunftbegriff der Aufklärung einer Fundamentalkritik unterzogen wird. Zwar sind deren drei Hauptfragmente und die beiden Exkurse jeweils von sehr viel größerem Umfang und mögen in ihrer Hermetik ihre Gegenstände sehr viel tiefgehender betrachten, doch steht Gernhardts Herangehensweise in der Feldtheorie mit der der Dialektik der Aufklärung durchaus in Verwandtschaft. Horkheimer und Adorno sagen nicht: »Aufklärung ist …« oder »Aufklärung scheitert, weil …«. Sondern sie versuchen, anhand verschiedener Ausprägungen aufklärender beziehungsweise 46 Robert Gernhardt, Feldtheorie, S. 544. 47 Ebd., S. 558. 48 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft [1790], in: ders., Kritik der Urteilskraft. Schriften zur Ästhetik und Naturphilosophie. Text und Kommentar, hg. von Manfred Frank und Véronique Zanetti, Frankfurt a. M. 2009, S. 479–880 = Akademieausgabe S. I–482, hier insb. S.  1–73. Kant zufolge sind ästhetische Urteile subjektive Urteile, die zwar durch ihre allgemeine Mitteilbarkeit Allgemeingültigkeit besitzen, jedoch niemandem aufgezwungen werden können. 49 Robert Gernhardt, Feldtheorie, S. 563.

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aufgeklärter Entwicklungen zu zeigen, warum Aufklärung aufgrund ihr inhärenter gegenaufklärerischer Momente zum fortschreitenden Scheitern verdammt ist. Ein wichtiges Mittel dazu ist die Negation beziehungsweise die negative Dialektik. Was positiv zu sagen wäre, soll erschlossen werden. Es wird nicht positiv ausgedrückt, da der positive Ausdruck den betrachteten Gegenstand im Ausdruck stillstellt und fixiert. Diese negative Dialektik »entzündet sich an der Spannung zwischen der Idee, d.  h. dem normativen Anspruch und Potential eines Dings, Verhältnisses oder Begriffs einerseits und seiner Realisierung andererseits.«50 Ausdruck und Gegenstand kommen nie zur Deckung, und dieses Problem hält die negative Dialektik im Bewusstsein. Darin liegt auch die Verweigerung Gernhardts vor dem positiven Theoriegebäude begründet. »Die Recherche« ist dem Komiktheoretiker Gernhardt »wichtiger […] als der Fund, die Bewegung des Denkens wichtiger als das Ziel«51. Indem Gernhardt dergestalt vorgeht, versucht er, den konkreten Realisierungen seiner Untersuchungsgegenstände nachzuspüren statt diesen die theoretische Idee überzustülpen. Die Feldtheorie ist lediglich die Darstellung von Gernhardts Recherchen. Bezüglich der Verwandtschaft hinsichtlich Form und Herangehensweise ist werkübergreifend auch an Adornos umfangreiches essayistisches Schaffen und dessen Begründung zu denken. Mit der unabgeschlossenen Form des Essays stellt sich Adorno »[g]egen die Prätention, Wirklichkeit in ihrer Totalität denkend erfassen oder sie gar aus irgendwelchen ersten Prinzipien erklären zu können«52 und hält dieser »eine deutende Philosophie« beziehungsweise ein »essayistisches Denken  – ein Denken in Versuchen und Versuchsanordnungen«53 entgegen. Die Unabgeschlossenheit des Essays ergibt sich aus der Betrachtung der Gegenstände und dem Bewusstsein, diese nicht total abbilden zu können: Er [der philosophische Essay; A.L.] fängt nicht mit Adam und Eva an sondern mit dem, worüber er reden will; er sagt, was ihm daran aufgeht, bricht ab, wo er selber am Ende sich fühlt und nicht dort, wo kein Rest mehr bliebe: so rangiert er unter den Allotria. Weder sind seine Begriffe von einem Ersten her konstruiert noch runden sie sich zu einem Letzten.54

50 Ruth Sonderegger, Essay und System, in: Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. von Richard Klein, Johann Kreuzer und Stefan Müller-Doohm, Darmstadt 2011, S. 427–430, hier S. 428. 51 Vgl. Robert Gernhardt, Vorbemerkung zur Feldtheorie, S. 530. 52 Ruth Sonderegger, Essay und System, S. 428. 53 Ebd., S. 428. 54 Theodor W. Adorno, Der Essay als Form [1954–58], in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 11: Noten zur Literatur I, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1974, S. 9–33, hier S. 10.



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Es gehe darum, sich den Gegenständen anzunähern und nicht umgekehrt: Hat man aber einmal sich terrorisieren lassen vom Verbot, mehr zu meinen als an Ort und Stelle gemeint war, so willfahrt man bereits der falschen Intention, wie sie Menschen und Dinge von sich selber hegen. Verstehen ist dann nichts als das Herausschälen dessen, was der Autor jeweils habe sagen wollen, oder allenfalls der einzelmenschlichen Regungen, die das Phänomen indiziert.55 In gleicher Weise verfährt Gernhardt in seiner komiktheoretischen Schrift. Die Grundfragen lauten darin stets: »Warum lache ich?« und »Wie funktioniert das, worüber ich lache?«56, und Gernhardt setzt hinzu, was ihm an den behandelten Gegenständen dazu aufgeht. Wie Adorno setzt Gernhardt dabei auf die Dialektik  – eine Darstellungsform, die immer Bewegungs- und Prozesscharakter hat. Genuin komische Erlebnisse beispielsweise lassen sich Gernhardt zufolge nur ein Mal haben – er nennt dies das Erstlachen. Wenn über denselben Witz ein zweites Mal und mehr gelacht wird, sei dies einerseits soziales Verhalten und andererseits getrieben vom Wunsch, das genuine Lachen wieder zu erleben. So, wie nach dialektischer Darstellung in allem, was betrachtet wird, aufgrund seiner Geschichtlichkeit Spuren des Vergangenen zu finden sind, sind im Wiederlachen Spuren des genuinen Lachens enthalten. Wer zum genuinen Lachen zurückkehren will, indem er anderen vom komischen Erlebnis erzählt, dem hält Gernhardt entgegen: Das Einmalige […] verrätst du gerade dadurch, daß du davon redest. Denn du redest, damit ein Zeugnis bleibt nicht des Belachten, sondern deiner lachenden Ergriffenheit. Du Tor: Je hartnäckiger du das Belachte zu bewahren suchst, desto endgültiger ist es vergangen.57

Correspondance. Theodor W. Adorno über Tradition An dieser Stelle sei ein Gedankensprung vollführt: Parallel zu Gernhardts Gedanken, je hartnäckiger versucht werde, Belachtes zu bewahren, desto endgültiger sei es vergangen, verläuft ein Gedanke aus Adornos Essay Über Tradition: Schlechter Traditionalismus greife »frevelnd nach Unwiederbringlichem […], während es 55 Ebd., S. 10  f. 56 Robert Gernhardt, Was gibt’s denn da zu lachen?, S. 15. 57 Robert Gernhardt, Feldtheorie, S. 535.

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beredt wird allein im Bewußtsein seiner Unwiederbringlichkeit«58. Je hartnäckiger nach Vergangenem gegriffen werde, desto endgültiger sei es vergangen, so könnte Adorno hier paraphrasiert werden. Das Kriterium für den Umgang mit der Tradition, mit dem Vergangenen sei jedoch das der correspondance. Tradition werfe, als neu Hervortretendes, Licht aufs Gegenwärtige und empfängt vom Gegenwärtigen ihr Licht. Solche correspondance ist keine der Einfühlung und unmittelbaren Verwandtschaft, sondern bedarf der Distanz.59 Adorno wählt für den Umgang mit der Tradition den französischen Ausdruck correspondance  – dieser ist in diesem Kontext aufgrund verschiedener möglicher Übersetzungen ambig: im postalischen Sinne ist er mit ›Briefwechsel, Korrespondenz‹ oder ›Schriftverkehr‹ zu übersetzen, im Sinne von Transport und Verkehr mit ›Anschluss, Zuganschluss‹ und im Sinne von Ähnlichkeit und Kongruenz mit ›Übereinstimmung‹ und ›Symmetrie‹. Der Umgang mit Tradition beziehungsweise mit Tradiertem bedeutet dem postalischen Sinn zufolge eine Art Dialog – Vergangenes wird vom eigenen Standpunkt aus befragt und kann uns Antworten sowohl über sich als Vergangenes als auch über die Gegenwart der oder des Befragenden geben. Die Dialogpartner_innen sind einander verschieden, zwischen ihnen liegt eine Distanz, die überwunden werden muss. Sie sind einander nicht gleich  – obzwar durch correspondance auch eine Art Gleichheit, nämlich eine geometrische Gleichheit ausgedrückt ist: die der ›Übereinstimmung‹ und ›Symmetrie‹. Die Möglichkeit der Übereinstimmung besteht demnach, die Distanz zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem wird davon jedoch nicht aufgehoben. Wie beim Umsteigen am Bahnhof muss der Zug verlassen und der Anschlusszug aufgesucht werden – ein Bild für die historische Diskontinuität zwischen Tradiertem und Gegenwärtigem. Ist der erreichte Anschlusszug losgefahren, kann in den Ausgangszug nicht mehr zurückgekehrt werden. Der Ausgangszug ist zwar vergangen, die Distanz zu ihm wird größer – dennoch hat er einen zum Anschlusszug gebracht. Mit den Konnotationen, die der Ausdruck correspondance mit sich führt, stellt sich Adorno gegen die falsche Auffassung von Tradition, die, nach dem lateinischen tradere für ›weitergeben‹, im Bild des Weitergebens eine leibhafte Nähe, eine Unmittelbarkeit ausdrücke.60 Durch diese implizierte Unmittelbarkeit ergebe sich für schlechte geistige Tradition: »Nicht Bewußtsein ist ihr Me­dium, sondern vorgegebene, unreflektierte Verbindlichkeit sozialer Formen, die Gegen58 Theodor W. Adorno, Über Tradition, S. 316. 59 Ebd., S. 316. 60 Vgl. ebd., S. 310.



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wart des Vergangenen […]«61. Geboten wäre es jedoch, der Antinomie zu entsprechen, vor die Tradition uns stellt: dem unauflöslichen Widerspruch, dass Tradition nie gegenwärtig und zu beschwören ist, zugleich die Auslöschung jeglicher Tradition den Einmarsch in die Unmenschlichkeit bedeute.62 Schließlich ist das Menschliche immer geschichtlich Gewordenes. Der Antinomie zu entsprechen bedeutete, die Tradition nicht zu vergessen und sich ihr doch nicht anzupassen, »sie mit dem einmal erreichten Stand des Bewußtseins, dem fortgeschrittensten, [zu] konfrontieren und [zu] fragen, was trägt und was nicht.«63 Bedingung für den Umgang mit Tradition ist demnach ein kritisches Bewusstsein: Gefordert wäre, statt einer irrationalen Übernahme des Vergangenen, die rationale Einsicht in das, was als Tradition gegenübersteht.

Intransigenz und Müll. Eckhard Henscheid in der Tradition der Kritischen Theorie Ein solcherart kritisches Bewusstsein für das eigene Tradieren Kritischer Theorie ist den Schriften Henscheids eingeschrieben. Erkennen lässt es sich besonders in seinen aphoristischen und autobiographischen Texten.64 Mit einer kleinen Konstellation dreier Textstellen Henscheids und einer bekannten Passage aus Adornos Negativer Dialektik lässt sich dies exemplifizieren. Die erste der Henscheid-Stellen stammt aus dem satirischen Essay Frankfurts magisches Dreieck, in dem er sich unter anderem mit dem eigenen Verhältnis zur Frankfurter Schule beschäftigt, die zweite aus seinen Sudelblättern und die dritte aus den Denkwürdigkeiten. Erinnerungen aus meinem Leben. 1941–2011. In Frankfurts magisches Dreieck schickt Henscheid sich an, Bezüge zwischen drei Institutionen Frankfurts – der NFS, der Frankfurter Schule sowie dem Fuß-

61 Ebd. 62 Vgl. ebd., S. 315. 63 Ebd. 64 Eine Sammlung aphoristischer und bisweilen tagebuchartiger Texte stellt Eckhard Henscheid, Sudelblätter, Zürich 1987, dar, dessen Titel natürlich Georg Christoph Lichtenbergs berühmter Aphorismensammlung Sudelbücher entlehnt ist. Etwa das erste Fünftel dieser Texte erschien zwischen März und Juli 1986 als eine Art Kolumne im »Zeit Magazin«, vgl. Eckhard Henscheid, Sudelblätter, S. 6. Nachdem die Kolumne aus für Henscheid offenbar nicht ersichtlichen Gründen eingestellt worden war, vgl. Eckhard Henscheid, Sudelblätter, S.  427  f. führte er die Textsammlung in Tagebuchmanier fort als »kleine privatistische Plaudereien eines alten Causeurs«, Eckhard Henscheid, Sudelblätter, S. 431. Eine ähnliche und autobiographisch mehr noch exemplarische Sammlung ist der Band Eckhard Henscheid, Denkwürdigkeiten.

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ballverein Eintracht Frankfurt – vorzustellen. Ein Unterfangen, welches im Falle des nicht herstellbaren Bezugs zwischen Frankfurter Schule und Eintracht Frankfurt eingestandenermaßen scheitert und auch ansonsten nur von der NFS aus betrachtet gelingt. Aus letzterem Blickwinkel erscheinen die Bezüge jedoch durchaus triftig. Dass Henscheid Fußballfan im Allgemeinen und EintrachtFrankfurt-Fan im Besonderen ist, bewiesen schon die Anekdotensammlung Wie Max Horkheimer einmal sogar Adorno hereinlegte. Anekdoten über Fußball, Kritische Theorie, Hegel und Schach, die mit dem Fußballkapitel »Da lacht das runde Leder« einsetzt, sowie unter anderem das Gedicht Hymne auf Bum Kun Cha65 von 1979. In dieser Hymne besingt Henscheid den zur Frankfurter Eintracht gewechselten und hierzulande als Bum Kun Cha bekannten südkoreanischen Stürmer Cha Bum-kun in parodierender Anlehnung an Hymnen etwa Hölderlins oder Klopstocks.66 Im Essay über Frankfurts magisches Dreieck charakterisiert Henscheid die Frankfurter Schule in der einleitenden Beschreibung, mit wissenschaftlichem Duktus beziehungsweise Schreibmodus spielend, sachadäquat folgendermaßen: Teils bürgerlich-großbürgerlichen, teils marxistischen ideellen Ursprungs (vergleiche dazu das Suhrkamp-Bändchen ›Intellektuellendämmerung‹ von Wolfgang Schivelbusch ›Zur Lage der Frankfurter Intelligenz in den Zwanziger Jahren‹67), meint und meinte sie vor allem eine sehr spezielle, sehr rigide Kultur-, Gesellschafts- und Ideologiekritik […].68 Daran schließt Henscheid, bevor er sie in Beziehung zur Frankfurter Schule setzt, eine Kurzcharakterisierung der NFS an. Über diese schreibt er unter anderem, ihre Mitglieder produzierten komische Produkte wie Romane, Satireanthologien und Cartoonbücher in »fast perhorreszierender Fruchtbarkeit«69. So unpassend der Ausdruck perhorreszieren hier scheinen mag – bedeutet er doch ›mit Abscheu zurückweisen, ablehnen‹  –, in einem Essay unter anderem über die Frankfurter Schule drängt er sich als Adorno-Zitat auf. Adorno schreibt beispielsweise in seiner Negativen Dialektik an einer Stelle, die anschließt an die Debatte um 65 Eckhard Henscheid, An krummen Wegen. Gedichte und Anverwandtes, Zürich 1994, S. 36– 39. 66 Damit schaffte Henscheid es sogar auf die Anzeigetafel des Frankfurter Waldstadions der Frankfurter Eintracht, der heutigen Commerzbank-Arena, vgl. Oliver Maria Schmitt, Die schärfsten Kritiker der Elche, S. 193. 67 Wolfgang Schivelbusch, Intellektuellendämmerung. Zur Lage der Frankfurter Intelligenz in den zwanziger Jahren, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1983. 68 Eckhard Henscheid, Frankfurts magisches Dreieck, S. 16. 69 Ebd.



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Lyrik nach Auschwitz70 und an der es um das Misslingen der Kultur, das durch die Schoah bewiesen worden sei, geht: Die Kultur perhorresziert den Gestank, weil sie stinkt; weil ihr Palast, wie es an einer großartigen Stelle von Brecht heißt, gebaut ist aus Hundescheiße. Jahre später als jene Stelle geschrieben ward, hat Auschwitz das Mißlingen der Kultur unwiderleglich bewiesen. Daß es geschehen konnte inmitten aller Tradition der Philosophie, der Kunst und der aufklärenden Wissenschaften, sagt mehr als nur, daß diese, der Geist, es nicht vermochte, die Menschen zu ergreifen und zu verändern. In jenen Sparten selber, im emphatischen Anspruch ihrer Autarkie, haust die Unwahrheit. Alle Kultur nach Auschwitz ist Müll.71 Was sich als Kultur, gar als Hochkultur ausgibt, als Ausweis der Höhe der Zivilisation, habe sich in der Schoah als noch zutiefst vom Gegenteil der Kultur, der Barbarei, durchwirkt erwiesen. In für Adorno typischer Manier zeichnet sich diese Passage als Fundamentalkritik durch ihre Intransigenz  – Starrheit, Unnachgiebigkeit und Unversöhnlichkeit – aus, welche, wie Klaus Cäsar Zehrer in anderem Adorno-Zusammenhang schreibt, »ein gehöriges Quantum Übertreibung einfordert«72. Nicht einzelne Teile der Kultur hätten sich, kulminierend in der Schoah, fehlentwickelt oder dadurch als misslungen erwiesen, sondern die historisch gewordene Kultur in toto  sei aufgrund der Schoah misslungen. Kultur als diejenigen Leistungen des Menschen, die ihn von seinen tierischen Vorfahren unterscheiden und mit denen er die Welt zum eigenen Schutze sowie die Beziehungen untereinander gestaltet, taugt nach Adorno zu nicht mehr denn zum Wegwerfen. In der Bezeichnung »Müll« steckt zwar gewiss eine spezifisch menschliche, sogar eine Kulturleistung  – Tiere bringen keinen Müll hervor  –, dennoch ist es eine menschliche Hervorbringung, derer sich der Mensch in jedem Falle entledigen möchte, sei es durch Rückführung der natürlichen Bestandteile 70 In Adornos Aufsatz Kulturkritik und Gesellschaft heißt es: »[…] nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben«, Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft [1951], in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I. Prismen. Ohne Leitbild, hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schulz, Frankfurt a. M. 1997, S. 11–30, hier S. 30. Vgl. ausführlicher dazu die Diskussion im Abschnitt »›Dreimal NEIN!‹ Komisierung Kritischer Theorie bei Robert Gernhardt« dieses Aufsatzes. 71 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik [1966], in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6, hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schulz, 8. Aufl., Frankfurt a. M. 2018, S. 359. 72 Klaus Cäsar Zehrer, Dialektik der Satire, S. 129.

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in den Naturkreislauf oder durch Recyclingmaßnahmen. Der Bewahrung wert ist Müll jedoch nicht. Und damit treibt Adorno Kulturkritik auf die Spitze. Notabene: Mit seiner Diagnose urteilt Adorno auch über sein eigenes Schaffen als Philosoph und Komponist. Mit vergleichbarer Intransigenz verfährt Henscheid bei der Diagnose zeitgenössischer Verhältnisse, wenn er, mit Invektiven nicht sparend, polemisch poltert: Wenn man die gesammelte und gerammelte Niedertracht und Ohnmacht des immer noch so genannten geistigen Lebens und Literaturlebens, von den abgeschmackt blasierten und eingebildeten Autoren über die zu 98 Prozent kulturfeindlichen Buchhändler bis zum komplett törichten Publikum, diese ganze abgestanden versackte Bande und Bagage, welche der Blitz streifen möge, immer wieder mal und ruhigen Sinns oder aber aufgewühlten Blutes Revue passieren läßt, dann: wundert man sich immer überraschter, daß man nicht längst ausgeschert und schleunigst zur städtischen Müllabfuhr gewechselt wäre.73 Wie oben in »perhorreszieren« ist in der »Müllabfuhr« dieser Textstelle ein, wenngleich hier verstecktes, Adorno-Zitat zu sehen. Deutlicher wird dieses versteckte Zitat, wenn die Konstellation der Textstellen mit der dritten Henscheidstelle, die oben bereits anzitiert wurde, abgeschlossen ist: Die gegenwärtige und fast universelle und zutiefst verderbliche Verzauberung unserer Kultur durch Dreck und Müll und Spam und Schrott – sie rührt allerdings keineswegs aus der allseitigen und allenorts konstitutionellen Einsicht, daß unsere Welt selber aus den Fugen und wg. vor allem Auschwitz am Arsch sei. Sondern sie kommt und rührt aus: Linkischkeit.74 Der »Müll« und die Diagnose über Kultur nach der Schoah verweisen hier explizit auf die Stelle aus Adornos Negativer Dialektik. In den Sudelblättern ›begnügt‹ sich Henscheid zwar mit einer Fundamentalkritik des »sogenannten geistigen Lebens und Literaturlebens«, doch aufgrund der ihr zugrunde liegenden intransigenten Haltung ist auch diese Stelle durchaus mit der oben zitierten Passage aus der Negativen Dialektik engzuführen. Das heißt: Der Skopus der beiden Stellen mag verschieden sein, die Haltung jedoch ist dieselbe. Wo Adorno sein eigenes Schaffen mit seiner Diagnose ›nur‹ implizit in Frage stellt, fragt Henscheid sich selbst 73 Eckhard Henscheid, Sudelblätter, S. 159. 74 Eckhard Henscheid, Denkwürdigkeiten, S. 301.



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rundheraus, warum er sein Schaffen als Schriftsteller, mit dem er ja Teil des fundamental kritisierten Geistes- und Literaturlebens ist, nicht beendet und sich der Beseitigung menschlicher Hinterlassenschaften zuwendet.75 Und damit greift Henscheid Adornos Diagnose nicht nur auf, sondern weist mit der Angabe ihrer praktischen Konsequenz über sie hinaus. Hierin ist ein Umgang mit der Tradition im Geiste der Kritischen Theorie – wie er oben gezeigt wurde – zu sehen. Denn einerseits knüpft Henscheid mit seiner intransigenten Kritik auf gleichem Gebiete an Adorno an, andererseits bleibt er beim anknüpfenden Aufgreifen nicht stehen: Denn der Wechsel zur Müllabfuhr ist  – wenn auch unausgesprochen  – keine praktische Alternative zum eigenen Schaffen. Die Diagnose mag zwar triftig sein, mehr als eine theoretische Einsicht ist sie allerdings nicht. Und damit ist in Henscheids Kritik Zweifel am Sinn der theoretischen Fundamentalkritik enthalten.

»Dreimal NEIN!« Komisierung Kritischer Theorie bei Robert Gernhardt Wo die Frankfurter Schule wie gezeigt Einfluss auf die Denkhaltung der NFS nahm, stellte sie zugleich einen Gegenstand für deren komisches Schaffen dar. Denn was von der Kritischen Theorie hervorgebracht wurde, war den NFS-Satirikern trotz mancher identifikatorischer Fortführung oder Übernahme keineswegs sakrosankt. Die Komisierung ist ein Mittel der Distanzierung; einer Distanzierung allerdings, der die Tradierung eingeschrieben ist und die Zehrer folgendermaßen begründet sieht: »In der einzigen noch gangbaren Form, die sich nicht unverzüglich der Lächerlichkeit preisgibt, nämlich durch und durch ironisch gebrochen, führt sie die rigide Fundamentalopposition der Kritischen Theorie in postmodernen Zeitläuften fort.«76 So ist die Komisierung durch die NFS durchaus als Versuch zu lesen, die Kritische Theorie »mit dem einmal erreichten Stand des Bewußtseins, dem fortgeschrittensten, [zu] konfrontieren und [zu] fragen, was trägt und was nicht.«77 Ein Gedicht Gernhardts soll dies im Folgenden vor dem theoretischen Hintergrund von Adorno exemplifizieren.

75 Natürlich ist diese Passage uneigentlich zu lesen und Henscheid trotz des autobiographischen Charakters des Textes nicht umstandslos der Wunsch zuzuschreiben, er würde sein Dasein lieber als Müllmann zubringen. 76 Klaus Cäsar Zehrer, Dialektik der Satire, S. 148. 77 Theodor W. Adorno, Über Tradition, S. 63.

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In der gemeinsam mit F.W. Bernstein und F.K. Waechter zusammengestellten Nonsenssammlung Die Wahrheit über Arnold Hau fragt Gernhardt in dem Gedicht Frage: Kann man nach zwei verlorenen Kriegen, Nach blutigen Schlachten, schrecklichen Siegen, Nach all dem Morden, all dem Vernichten, Kann man nach diesen Zeiten noch dichten? Die Antwort gibt er sogleich selbst: Die Antwort kann nur folgende sein: Dreimal NEIN!78 Gernhardts Frage »Kann man nach diesen Zeiten noch dichten?« gibt ein Problem wieder, das ab Ende der 1950er Jahre unter deutschsprachigen Schriftsteller_innen diskutiert und als Gegenstand der Debatte um Lyrik nach Auschwitz bekannt wurde: Die Frage, ob es nach der Schoah noch möglich sei zu dichten.79 Diese lässt sich, weiter gefasst, als die Frage nach der Möglichkeit von Kunst überhaupt angesichts des Zivilisationsbruchs der Schoah betrachten. Aufgeworfen hat dieses Problem Adorno mit einer kleinen Textstelle seines Aufsatzes Kulturkritik und Gesellschaft von 1951, die, bis dahin weitgehend unbeachtet, 1959 von Hans Magnus Enzensberger in seinem Essay Die Steine der Freiheit80 in die öffentliche Debatte gehoben wurde. Die Stelle wurde bekannt als »Adornos Diktum« und lautet: […] nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.81 78 Robert Gernhardt, F.W. Bernstein und F.K. Waechter, Die Wahrheit über Arnold Hau, S. 148. 79 Vgl. den Sammelband Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter, hg. von Petra Kie­ daisch, Stuttgart 1995. Darin sind neben den chronologisch angeordneten Ausführungen Adornos die wichtigsten schriftstellerischen Beiträge zu dieser Debatte ebenfalls chro­no­ logisch versammelt. 80 Hans Magnus Enzensberger, Die Steine der Freiheit [1959], in: ders., Einzelheiten, Frankfurt a. M. 1962, S. 246–252. 81 Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, S.  30. Er verwendet den Ortsnamen Auschwitz als Pars pro toto für die Schoah. Vollständig lautet das Zitat: »Je totaler die Ge­ sell­schaft, um so verdinglichter auch der Geist und um so paradoxer sein Beginnen, der



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Enzensberger zitiert diese Stelle in seinem Essay, in dem er sich mit der Lyrik von Nelly Sachs beschäftigt. Sachs’ Lyrik ist laut Enzensberger Literatur gegen das Vergessen: Die Dichtung, in der Sachs sich mit der Schoah und ihren Opfern beschäftigt, spräche, wovon sie schweige, und mahne auf diese Weise, an die Opfer zu denken, ohne sie explizit zu nennen.82 Enzensberger beschneidet Adornos Aussage jedoch um ihren Kontext innerhalb des Aufsatzes Kulturkritik und Gesellschaft  – und darüber hinaus um den Kontext der Kritischen Theorie überhaupt –, indem er sie lediglich verkürzt wiedergibt: Der Philosoph Theodor W. Adorno hat einen Satz ausgesprochen, der zu den härtesten Urteilen gehört, die über unsere Zeit gefällt werden können: Nach Auschwitz sei es nicht mehr möglich, ein Gedicht zu schreiben. Wenn wir weiterleben wollen, muss dieser Satz widerlegt werden.83 Ausschließlich die von Adorno ausgedrückte Unmöglichkeit der Dichtung nach der Schoah findet bei Enzensberger Eingang. Kein Wort bei ihm von der Barbarei, die das Gegenteil von Kultur84 bezeichnet und für Adornos Gedanken von entVerdinglichung aus eigenem sich zu entwinden. Noch das äußerste Bewußtsein vom Verhängnis droht zum Geschwätz zu entarten. Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frißt auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben. Der absoluten Verdinglichung, die den Fortschritt des Geistes als eines ihrer Elemente voraussetzte und die ihn heute gänzlich aufzusaugen sich anschickt, ist der kritische Geist nicht gewachsen, solange er bei sich bleibt in selbstgenügsamer Kontemplation.« Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, S.  30, meine Hervorhebung. 82 Vgl. Hans Magnus Enzensberger, Die Steine der Freiheit, S. 248. 83 Ebd., S. 249. 84 Als Begriff von Kultur dient hier derjenige Sigmund Freuds aus Das Unbehagen in der Kultur: Ihm zufolge bezeichnet »das Wort ›Kultur‹ die ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen […], in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und die zwei Zwecken dienen: dem Schutz des Menschen gegen die Natur und der Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander«, Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur [1930], in: ders., Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur, mit einer Rede von Thomas Mann als Nachwort, 258.–270. Tausend, Frankfurt a. M. und Hamburg 1965, S. 63–129, hier S. 85. Dieser Kulturbegriff erscheint aufgrund der Rekursion der Kritischen Theorie auf Freuds Schriften zweckmäßig. Im Anschluss an das im Obertext nachfolgende Zitat aus Erziehung nach Auschwitz verweist Adorno in der Reflexion auf Kultur und Barbarei im Kontext der Schoah explizit und affirmativ auf diese Abhandlung Freuds, vgl. Theodor W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz [1966], in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 10.2: Kulturkritik und Gesellschaft II. Eingriffe. Stichworte. Anhang, hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schulz, Frankfurt a. M. 1974, S. 674–690, hier S. 674.

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scheidender Bedeutung ist. Laut Adorno wurde das Dichten durch die Schoah unmöglich, es ist seitdem barbarisch. Anders ausgedrückt: Die Schoah offenbarte für Adorno die Residuen der Barbarei in der Kultur. »Man spricht vom drohenden Rückfall in die Barbarei. Aber er droht nicht, Auschwitz war er; Barbarei besteht fort, solange die Bedingungen, die jenen Rückfall zeitigten, wesentlich fortdauern.«85 Kein Wort bei Enzensberger außerdem von Adornos selbstreflexivem Be­ kennt­nis, auch seine »Erkenntnis« des barbarischen Gehalts von Dichtung sei von ebendiesem angefressen. Mit jenem Bekenntnis signalisiert Adorno, dass »das Gedicht« nur als Pars pro toto fungiert und dass er ein Bewusstsein darüber hat, dass er und sein unerbittliches theoretisches, »kompromisslos kritisch[es]« Denken86 Teil jener Kultur sind, in der die Schoah möglich war. Enzensberger betreibt in seinem Essay Dekontextualisierung durch Dekotextualisierung. Er reduziert die von Adorno zwar ausgedrückte, aber nicht positiv behauptete Unmöglichkeit von Dichtung nach der Schoah auf ihren blank positiven Gehalt. Das Kernthema von Kulturkritik und Gesellschaft – es geht um das Problem von Kulturkritik zwischen Gesellschaftstranszendenz und -immanenz, das ›Diktum‹ am Ende wirkt vordergründig beinahe wie ein Appendix – berührt Enzensberger nicht. Es wirft jedoch auch auf das ›Diktum‹ ein Licht, in dem es nachvollziehbarer erscheint: Mit dem selbstkritischen Urteil über die eigene, ebenfalls ›angefressene‹ Erkenntnis, drückt Adorno das Bewusstsein um die eigene Immanenz aus. Der transzendierenden Kritik, die die ›Unmöglichkeit‹ von Dichtung nach der Schoah ausspricht, ist die Immanenz damit eingeschrieben. Dem Befund von Enzensbergers Essay, demzufolge es nach der Schoah notwendig sei, das Andenken an die Opfer und die unvorstellbaren Grausamkeiten auch mit Mitteln der Kunst zu bewahren, kann kaum widersprochen werden. Allerdings verzerrt Enzensberger Adornos Standpunkt durch die verkürzte Wiedergabe und gibt der jahrzehntelangen Debatte um Lyrik nach Auschwitz initial eine Richtung, die Adornos Intention kaum gerecht werden konnte.87 85 Theodor W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz, Hervorhebung im Original. 86 Theodor W. Adorno, Resignation, S. 798 und passim. 87 Die in Kiedaischs Sammelband Lyrik nach Auschwitz? (vgl. Anmerkung 79) gebotenen Debattenbeiträge von Schriftsteller_innen folgen fast ausnahmslos Enzensbergers Position und verteidigen Lyrik/Kunst gegen das vermeintliche Verbot Adornos.  – Adorno selbst schien später von seinem Standpunkt abgerückt zu sein. So schreibt er in der Negativen Dialektik: »Das perennierende Leiden hat so viel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben«, Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, S.  355. Bestehen bleibt jedoch die Überzeugung, dass »Auschwitz das Mißlingen der Kultur unwiderleglich bewiesen« habe, ebd. Auch in der kurz nach seinem Tod erschienenen Ästhetischen Theorie bezeichnet er



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Gernhardts Gedicht Frage nun liefert Enzensberger in komischer Manier die geforderte Widerlegung des behaupteten Adorno-Satzes, und zwar in Form eines performativen Widerspruchs: dichtend verneint er die Möglichkeit von Dichtung. Dass das »NEIN« im letzten Vers in Versalien gesetzt ist, vergrößert die Diskrepanz von Form und Inhalt. Diese Diskrepanz, die auf dem performativen Widerspruch beruht, ist es in erster Linie, die die komische Wirkung des Gedichts hervorruft. Darüber hinaus eignet dem Vers »Dreimal NEIN!« ein autoritär-erzieherischer Charakter. Das Nein scheint einerseits durch die Vehemenz des Ausdrucks keinen Widerspruch zu dulden und andererseits durch seine Begründungslosigkeit. Durch diese Apodiktik gibt sich die Antwortinstanz des Gedichts der Lächerlichkeit preis, denn ein nur durch Emphase gestütztes, begründungsloses Nein kann von der Frageinstanz (wie auch von den Rezipient_innen) kaum ernstgenommen werden.88 Abgesehen von der Komik lässt sich in Gernhardts Gedicht Frage jedoch durchaus ernsthafter Gehalt feststellen. Teilt man das Gedicht in zwei Hälften, zerfällt es in zwei völlig verschiedene Gegenstandsbereiche: Kriegsgeschehen und Töten in den ersten drei Versen und Dichtung in den letzten drei. Damit hat die erste Hälfte Barbarei zum Gegenstand und die zweite Kultur  – womit das Gedicht quantitativ in dasjenige Gegensatzpaar zerfällt, um das es Adorno im ›Diktum‹ aus Kulturkritik und Gesellschaft ging. Wie bei Adorno erscheint dieses Gegensatzpaar nicht ausschließlich als ein solches, sondern es ist ein dialektisches Verhältnis zwischen beiden zu erkennen: Kultur und Barbarei stehen einander einerseits antithetisch gegenüber, andererseits durchdringen sie sich gegenseitig. Die beiden thematischen Hälften des Gedichts stehen für die Antithetik. Die gegenseitige Durchdringung zeigt sich darin, dass sowohl das Kulturprodukt Dichtung als auch der Bereich des Barbarischen im Gedicht koexistieren. Auch das Barbarische wird mit der Kulturtechnik Sprache wiedergegeben. Und trotz der Kultur besteht das Barbarische fort.89 Dies alles ist im Gedicht zwar enthalten, jedoch, wie Zehrer schreibt: »durch und durch ironisch gebrochen«90.

die Kultur als misslungen: »Sie dämmt Barbarei, das Schlimmere, ein; unterdrückt Natur nicht nur, sondern bewahrt sie durch ihre Unterdrückung hindurch«, Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie [1970], hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, 5.  Aufl., Frankfurt a. M. 1973, S. 372. 88 Dass die Frage- und die Antwortinstanz hier im Sprecher-Ich zusammenfallen, widerspricht dieser Auffassung meines Erachtens nicht. 89 Vgl. die Äußerung in Adornos Ästhetischer Theorie in Anmerkung 87. 90 Klaus Cäsar Zehrer, Dialektik der Satire, S. 148.

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Ein Satz, »den selbst Adorno nicht verstehen sollte«. Komisierung Kritischer Theorie bei Eckhard Henscheid Stärker noch als bei Gernhardt setzt Henscheids Komisierung der Kritischen Theorie deren Kenntnis voraus. Die Kritische Theorie hat, wie gezeigt, Vorbildfunktion für Henscheids Denkhaltung und wird zugleich durch die komisierende Verarbeitung in Frage gestellt – in Frage gestellt wie bei Gernhardt jedoch nicht in Form von umstandslosem Verwerfen, sondern in der Form kritischer Betrachtung. Henscheid knüpft nicht distanzlos an, sondern zeigt die geschichtliche und gedankliche Distanz zwischen sich und seinem Gegenstand an. Die Art und Weise, wie beispielsweise Henscheids fiktionale Anekdoten zur Kritischen Theorie diese Denkschule in lebensweltliche Zusammenhänge stellen, kann als Impuls gelesen werden für die Frage, wie es um die Umsetzbarkeit kritischen Denkens im realen Leben der Menschen bestellt ist. Außerdem können Henscheids Texte zur Kritischen Theorie als Aufforderung zur Beschäftigung mit diesen Denkern gelesen werden  – schließlich kann die Lektüre trotz aller gegenstandsunabhängigen Komik letztlich nur gelingen, wenn die Bedingung des Vorwissens über diese Philosophen und ihre Texte erfüllt wird. Die folgenden Ausführungen zeigen dies anhand ausgewählter Anekdoten Henscheids aus Wie Max Horkheimer einmal sogar Adorno hereinlegte. Anekdoten über Fußball, Kritische Theorie, Hegel und Schach auf. Darin betitelt Henscheid die »Anekdoten rund um die Frankfurter Schule« mit »Kritische Theorie  – schmunzelnd« und gibt an: »Bei diesen wie bei den Hegel-Anekdoten sind alle Zitate nichtfiktiv – mit Ausnahme derer, die leicht als fiktiv erkennbar sind«91. In diesen Anekdoten zeichnet Henscheid das Bild eines geisteswissenschaftlichen ›Instituts‹ mit Max Horkheimer als schulrektorähnlichem Oberhaupt. Mit Ausnahme der Überzeichnung zum Schulrektor ähnelt dies durchaus den Tatsachen, schließlich war Horkheimer lange Jahre Leiter des Instituts für Sozialforschung und Verfasser programmatischer Schriften der Kritischen Theorie.92 Mit väterlich zu nennender Fürsorge wendet sich Henscheids Horkheimer seinen Mitarbeitern zu, tritt als Vermittler auf und ruft mitunter zur Ordnung. Als Adorno und Friedrich Pollock etwa darüber streiten, ob das Ganze nun das Unwahre sei oder nicht93  – Pollock wendet ein, so brutal könne man 91 Eckhard Henscheid, Wie Max Horkheimer einmal sogar Adorno hereinlegte, S. 37. 92 Vgl. etwa den Aufsatz Max Horkheimer, Traditionelle und kritische Theorie [1937], in: ders., Traditionelle und kritische Theorie. Vier Aufsätze, 21.–30. Tausend, Frankfurt a. M. 1970, S. 12–64. 93 »Das Ganze ist das Unwahre«, Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften. Band 4: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben [1951], hg. von Rolf Tiedemann unter



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das nicht sagen, außerdem mache das in der Öffentlichkeit einen schlechten Eindruck –, da schlägt Horkheimer »erst mal eine ruhige Partie Skat vor«.94 Doch den kindisch anmutenden Streit kann er damit nicht unterbinden: »Pollock wollte einfach nicht nachgeben – und Adorno seinerseits insistierte sogar darauf, daß gerade die perhorreszierende Rigidität seines notabene Hegel negierend auf den Kopf stellenden Theorems viel Beifall, ja echte Popularität zu erwarten habe, wenn alles gut ginge.«95 Henscheid karikiert die sehr unterschiedlichen Ausdrucksweisen der realen Mitglieder der Frankfurter Schule, die sich am augenscheinlichsten in der Stilhöhe unterscheiden. Beide Figuren Henscheids tun dasselbe: Sie beharren auf dem eigenen Standpunkt. Aber wo Pollock schlicht »nicht nachgeben« will, »insistiert« Adorno freilich auf einer von Fremdwörtern durchsetzten Begründung in komplizierter Syntax.96 Letztlich verfolgt allerdings auch dieser die profan zu nennenden Ziele Beifall und Popularität, was Henscheid mit der profanen, umgangssprachlich-saloppen Formulierung »wenn alles gut ginge« markiert. Darüber hinaus zieht Henscheid die Erfolgsaussichten seines Adornos subtil in Zweifel: Dieser wolle »Hegel negierend auf den Kopf stellen[]« und damit etwas dem Vergleichbares unternehmen, womit schon Karl Marx zwar zu einiger philosophischer Berühmtheit, jedoch keineswegs zu Popularität, das heißt Anerkennung bei der breiten Bevölkerung, gelangt war.97 Henscheid greift in seiner Anektdotensammlung auch viele der KritischeTheorie-Rezeption geläufige Eigenheiten der Frankfurter Schule auf, so etwa Adornos syntaktisch idiosynkratische Verwendung des Reflexivpronomens sich. Er bettet die Komisierung dieser Idiosynkrasie in eine kleine Anekdote: Um die verzweifelte Stimmung, welche die ›Frankfurter Schule‹ um das Jahr 1933 herum befallen hatte, etwas aufzulockern, veranstaltete Max Horkheimer eines schönen Tages einen kleinen Wettstreit: Derjenige sollte Sieger und

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Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Frankfurt a. M. 2016, S.  55. Er referiert hier auf G.W.F. Hegels Phänomenologie des Geistes: »Das Wahre ist das Ganze«, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes [1807], Frankfurt a. M. 1986, S. 24. Eckhard Henscheid, Wie Max Horkheimer einmal sogar Adorno hereinlegte, S. 41–43. Ebd., S. 43. Wo Adorno einen idiosynkratischen, stilistisch sehr anspruchsvollen, komplexen bis schwer verständlichen, häufig durchaus literarischen Stil pflegte, schrieb Pollock recht nüchtern, sachlich und wenig auf rhetorische Feinheiten oder Kniffe bedacht. Marx wollte bekanntlich Hegels Dialektik ›vom Kopf auf die Füße stellen‹, vgl. Karl Marx, Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band [1867], in: ders. und Friedrich Engels: Werke. Band 23, hg. von Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin 1974, S. 27.

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der beste Kritische Theoretiker sein, der das Reflexivum ›sich‹ am weitesten postponieren (nachstellen) konnte.98 Neben Erich Fromm, Herbert Marcuse und anderen nimmt – dies ein Anachronismus – auch Jürgen Habermas an diesem Wettbewerb teil,99 hat aber »offensichtlich die Regel mißverstanden oder was, jedenfalls schied er mit seinem Beitrag ›Sich denken, bringt wahre Selbstreflexion des Geistes‹«100 sofort aus. Der Spott gegenüber der Figur Habermas, der darin liegt, dass dieser der Anforderung des Wettstreits genau zuwiderhandelt, spiegelt die Auffassung vieler zeitgenössischer Intellektueller wider, nach der sich Habermas in den 1980er Jahren – mehr als ein Jahrzehnt nachdem die Kritischen Theoretiker Horkheimer und Adorno verschieden waren – deutlich von den ursprünglichen Intentionen der Kritischen Theorie wegbewegt habe.101 Der Anachronismus hat demnach zum Zweck, zeitlich Disparates in einen situativen Zusammenhang zu bringen und damit kontrafaktisch auf eine realhistorische Entwicklung hinzuweisen. Den Wettbewerb gewinnt natürlich Adorno: »Sieger wurde und sein Meisterstück machte nämlich Adorno mit dem seither geflügelten Satz: ›Das unpersönliche Reflexivum erweist in der Tat noch zu Zeiten der Ohnmacht wie der Barbarei als Kulmination und integrales Kriterium Kritischer Theorie sich.‹«102 Unter allen Beiträgen des Wettstreits ist derjenige Adornos der einzige, der das Reflexivpronomen sich zum Gegenstand hat. Damit verarbeitet Henscheid die Tatsache, dass außer Adorno keiner der Kritischen Theoretiker für die im Wortsinne merkwürdige Verwendung dieses Wortes bekannt ist. Es steht zu vermuten, dass Henscheid dem realen Adorno damit den durchaus bewussten Versuch unterstellt, sich mit derartigen Stilmitteln in der (philosophischen) Literatur zu extraponieren.

98 Vgl. Eckhard Henscheid, Wie Max Horkheimer einmal sogar Adorno hereinlegte, S. 55–57. 99 Habermas stieß erst in den 1950er Jahren zum Institut für Sozialforschung und damit etwa zwanzig Jahre nach der in der Anekdote implizierten Machtübernahme durch die NSDAP von 1933. 100 Eckhard Henscheid, Wie Max Horkheimer einmal sogar Adorno hereinlegte, S. 56, Hervorhebung im Original. 101 »Trotz aller ironischen Distanz hat sich die Titanic weniger von den Ideen der Frankfurter Schule weg entwickelt als etwa deren erklärter Stellvertreter auf Erden, Jürgen Habermas – auch wenn Theodor W. Adorno die Titanic heute vermutlich noch weniger verstünde als zu Anfang ihres Erscheinens.« Holm Friebe, Habermas über Bord!, in: Jungle World 48/1999, 01. 12. 1999, S. 16. 102 Eckhard Henscheid, Wie Max Horkheimer einmal sogar Adorno hereinlegte, S. 56, Hervorhebung im Original. Dies ist ein Beispiel für diejenigen ›Zitate‹, »die leicht als fiktiv erkennbar sind«.



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Henscheids Komisierung der Kritischen Theorie fußt durchaus auf profunder Kennerschaft ihrer Schriften. Wenn Henscheid Horkheimer etwa als ausgezeichneten Tierstimmenimitator hinstellt, lässt er ihn auf Erich Fromms Frage, warum ihm dies so gefalle, mit einem Zitat aus der Dialektik der Aufklärung antworten: »Jedes Tier erinnert an ein abgründiges Unglück, das in der Urzeit sich ereignet hat.«103 Das Bemerkenswerte an der Verwendung dieses Zitats ist, dass es sich, wie bei den meisten der von Henscheid verwendeten Zitate, eben nicht um ein geläufiges, zum geflügelten Wort gewordenes Zitat handelt wie etwa »Es gibt kein richtiges Leben im falschen«104 oder »Fun ist ein Stahlbad«105. Sondern es entstammt dem Fragment Mensch und Tier106 aus den »Aufzeichnungen und Entwürfe[n]« der Dialektik der Aufklärung.107 Wenn Horkheimer bei Henscheid nun leidenschaftlich Tierstimmen imitiert, dann gewiss deswegen, um in der Erinnerung an das abgründige Unglück »das akkumulierte Leiden« nicht zu vergessen, das laut Adornos Essay Über Tradition als »geschichtliche Spur an den Dingen, Worten, Farben und Tönen«108 zu erkennen ist. In diesem lautnachahmend mimetischen Erinnern lässt sich bei Henscheids Horkheimer das Bestreben erkennen, sich in die vernunftlose, tierische Natur hineinzuversetzen, aus der sich der Mensch entwickelte. Diese Interpretation legt zumindest das Thema des Fragments Mensch und Tier nahe, das Verhältnis der Unvernunft des Tiers und der Vernunft des Menschen. Dieses Verhältnis kommt etwa bei Horkheimers und Adornos Betrachtung der menschlichen Urgeschichte zum Tragen: »Schon wenn die Sprache in die Geschichte eintritt, sind ihre Meister Priester und Zauberer. […]

103 Eckhard Henscheid, Wie Max Horkheimer einmal sogar Adorno hereinlegte, S.  63. Originalzitat: Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 285. 104 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, S. 43. 105 Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 162. 106 Ebd., S. 283–292. 107 Diese »Aufzeichnungen und Entwürfe« wurden der 1947 erstmals in kleiner Auflage als Buchausgabe herausgegebenen Dialektik der Aufklärung ab der letzten von den Autoren autorisierten Fassung von 1969 beigegeben, vgl. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 336. 108 Theodor W. Adorno, Über Tradition, 315. Die Adornos und Horkheimers Denken iden­ti­fi­zie­ rende Verwendung der Zitate in diesem Absatz ist in der geläufigen Auffassung begründet, dass ihrer beider Schriften den Kern Kritischer Theorie darstellen, und wird überdies gestattet von einer Aussage Horkheimers aus dem Vorwort von Zur Kritik der instrumentellen Vernunft: »Es wäre schwer zu sagen, welche der Gedanken auf ihn [Adorno; A.L.] und welche auf mich zurückgingen; unsere Philosophie ist eine«, Max Horkheimer, Zur Kritik der instrumentellen Vernunft [1967], in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 6: ›Zur Kritik der instrumentellen Vernunft‹ und ›Notizen 1949–1969‹, hg. von Alfred Schmidt, Frankfurt a. M. 1989, S. 19–186, hier S. 26.

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Was dem vorausgeht, liegt im Dunklen.«109 Es liegt im Dunklen, denn »[d]ie Welt des Tieres ist begriffslos.«110 Mit der Begriffslosigkeit geht für Horkheimer und Adorno der Mangel an substantiellem Glück einher. Substantielles Glück bedarf laut den beiden »identifizierender Erinnerung, beschwichtigender Erkenntnis, der religiösen oder philosophischen Idee, kurz des Begriffs.«111 Der Mensch hingegen ist durch seine Vernunftbegabung substantiellen Glückes fähig. Die Vernunft ist zugleich die treibende Kraft, mit der sich der Mensch des Naturzwanges entwinden will. Dabei gilt laut Horkheimer und Adorno jedoch: »Jeder Versuch, den Naturzwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den Naturzwang hinein.«112 Denn das aufgeklärte Denken, durch das sich der Versuch, dem Naturzwang zu entkommen, vollzieht, ist kein wahrhaft aufgeklärtes Denken, sondern ihm ist die Barbarei noch eingeschrieben. Wahres Glück ist laut Adorno jedoch dem wahrhaft aufgeklärten Menschen vorbehalten: »Das Glück, das im Auge des Denkenden aufgeht, ist das Glück der Menschheit.«113 Dem denkenden Menschen muss sein Gegensatz zum nichtdenkenden Tier bewusst sein, um sich seiner selbst bewusst zu sein. Henscheids Horkheimer imitiert hierfür Tierstimmen. Henscheids Kennerschaft der Schriften der Frankfurter Schule zeigt sich etwa auch, wenn er Adorno in einer Anekdote, in der Walter Benjamin einen Satz hervorzubringen versucht, »den selbst Adorno nicht verstehen sollte«114, mit einem Zitat aus der Negativen Dialektik antworten lässt: »Unversöhnlichem Denken ist die Hoffnung auf Versöhnung gesellt, weil der Widerstand des Denkens gegen das bloß Seiende, die gebieterische Freiheit des Subjekts, auch das am Objekt intendiert, was durch dessen Zurüstung zum Objekt diesem verloren ging.«115 Dass es sich hierbei nicht um ein willkürliches Zitat handelt, das in der Hauptsache nur unverständlich zu klingen braucht, zeigt das Thema des Zitats. Das Motiv der Entgegnung ist es, Benjamin seinen Versuch heimzuzahlen, mithin: Vergeltung. Und das Thema des Zitats ist passenderweise (Un-)Versöhnlichkeit. Damit durchdringen sich in der Entgegnung – ganz in dialektischer Manier – mit der Intentions- und der Inhaltsebene die Gegensätze Vergeltung und Versöhnung. Womit Adorno den Wettstreit um die unverständlichere Ausdrucksweise für sich entscheidet, indem er Benjamin nicht nur übertrumpft, sondern den Streit zugleich beilegt, indem er Unversöhnlichkeit die Versöhnlichkeit »gesellt«. 109 110 111 112 113 114 115

Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 37. Ebd., S. 284. Ebd., S. 284. Ebd., S. 29. Theodor W. Adorno, Resignation, S. 798  f. Eckhard Henscheid, Wie Max Horkheimer einmal sogar Adorno hereinlegte, S. 49. Ebd., S. 50; Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, S. 31.



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Ausblick Ein nicht leicht bestimmbarer, aber bis heute aktiver Kreis von zugehörigen und assoziierten Künstlern sei die NFS, heißt es in der Einleitung dieses Aufsatzes. Wenngleich die bis an die 1990er Jahre heranreichende produktivste Schaffensphase Gernhardts, Henscheids und der anderen NFS-Mitglieder bald 30  Jahre zurückliegt und vier ihrer ursprünglichen Mitglieder bereits verstorben sind, ist das Schaffen derer im Geiste der NFS noch sehr lebhaft. Ihr monatliches Publikationsorgan, das Satiremagazin Titanic, pflegt nach wie vor den Bezug zur Frankfurter Schule. Es ist nicht bloß Gesellschaftskritik mit komischen Mitteln, die dort betrieben wird, sondern letztlich Kulturkritik. Stefan Gärtner beispielsweise, ein ehemaliger Redakteur des Magazins, veröffentlicht allsonntäglich auf Titanic Online eine Kolumne mit dem Titel »Gärtners kritisches Sonntagsfrühstück«116 und klopft darin in kritisch-theoretischer Manier gesellschaftliche Zustände und herrschende Meinungen nach Hohlräumen und Widersprüchen ab. Die Magazinrubrik »Humorkritik« ziert nach wie vor ein verfremdetes Konterfei Adornos, ihr Bestreben ist es immer noch, komische Produkte im an der Kritischen Theorie geschulten Stile Gernhardts zu beurteilen. Das Bedürfnis nach Einspruch und Widerspruch gegenüber den herrschenden Zuständen wird weiterhin ausgedrückt durch den Leitspruch des Magazins: »Ein klares Ja zum Nein!« Zahlreicher medialer Aufruhr, ausgelöst von der Titanic-Redaktion, zeugt vom fortwährenden im Wortsinne kritischen Potential. Zu untersuchen wäre, wie es um die Entwicklung der NFS von ihren Ursprüngen bis heute bestellt ist; wie sich zeitgenössische NFS-Vertreter auf ihre Vorläufer und auf wiederum deren Einflüsse beziehen; ob und, wenn ja, wie etwa literarische, mediale oder politische Entwicklungsprozesse Einfluss auf die Haltung und Wirkungsmöglichkeiten der NFS nehmen. Wo neue Satireformen in den Medien großen Raum einnehmen und auch Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung sind,117 wäre es gewinnbringend, sich der Entwicklung der NFS als bedeutendem Vorläufer und Mitstreiter dieser neuen Formen zuzuwenden.

116 Vgl. http://www.titanic-magazin.de/newsticker/kategorie/gaertners-sonntagsfruehstueck/. 117 Vgl. etwa Vera Podskalsky, Jan Böhmermann und DIE PARTEI. Neue Formen der Satire im 21.  Jahrhundert und ihre ethische (Un-)Begrenztheit, Würzburg 2017; Daniel Pfurtscheller, Scherzen mit Bild und Text. Medienbilder und Mediendesign in komischen Verwendungszusammenhängen, in: Satire – Ironie – Parodie. Aspekte des Komischen in der deutschen Sprache und Literatur, hg. von Klaus Amann und Wolfgang Hackl, Innsbruck 2016, S. 187–210; Benedikt Porzelt, Politik und Komik. »Fake-Politiker« im Bundestagswahlkampf, Berlin 2013; Mehmet Ata, Der Mohammed-Karikaturenstreit in den deutschen und türkischen Medien. Eine vergleichende Diskursanalyse, Wiesbaden 2011.

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Zum Ende: »Es gibt kein richtiges Leben im valschen« – das Titelzitat dieses Aufsatzes ist unverkennbar eine Komisierung des so häufig zitierten Schlusssatzes aus Asyl für Obdachlose118, dem 18. Aphorismus der Minima Moralia: »Es gibt kein richtiges Leben im falschen.«119 Und zugleich ist es Robert Gernhardts Titel seiner Sammlung sogenannter »Humoresken aus unseren Kreisen«.120 Das Spiel mit verfremdenden Bezügen auf Vergangenes trieb Gernhardt stets genüsslich121 – noch wenn er einen halbautobiographischen Roman betitelt mit Ich Ich Ich, zittert darin ein Satz aus den Minima Moralia nach: »Bei vielen Menschen ist es bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen.«122

118 Vgl. Theodor W. Adorno, Minima Moralia, S. 42–43. 119 Ebd., S. 43. 120 Robert Gernhardt, Es gibt kein richtiges Leben im valschen. Humoresken aus unseren Kreisen [1987], 5. Aufl., Frankfurt 1997. 121 Vgl. etwa Robert Gernhardt, Reim und Zeit. Gedichte [1990], mit einem Nachwort des Autors, Stuttgart 2009, als Anspielung auf Martin Heideggers Sein und Zeit, oder Robert Gernhardt, Vom Schönen, Guten, Baren. Die schönsten Bildergeschichten und Bildgedichte [1997], Frankfurt a. M. 2007, als Anspielung auf den antik-philosophischen Dreiklang vom Schönen, Guten und Wahren. 122 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, S. 55.

BERICHTE

nicolai riedel

marbacher schiller-bibliographie 2018 Internationales Referenzorgan zur Forschungsund Wirkungsgeschichte

Vorwort Die Schiller-Bibliographie (seit 2006 mit dem Zusatz Marbacher) kann nunmehr auf 60 Jahre ihres Bestehens und eine lange Tradition zurückblicken: 1959–2018. Im Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft von 1962 ist die erste Bibliographie für den Zeitraum von 1959–1961 erschienen mit einem Volumen von 926 Nachweisen. Es folgten bis 1998 neun weitere Mehr-Jahres-Kumulationen mit einem Gesamtumfang von 6.199 gezählten bibliographischen Angaben. Das entspricht ca. 155 Titel pro Jahr für das 40-Jahresintervall von 1959–1998. Die hohe Anzahl von Nachweisen in der ersten Bibliographie resultiert aus der Tatsache, dass in diesen Zeitraum der 200.  Geburtstag des großen deutschen Klassikers fällt mit einer Flut von vielfältigen Veröffentlichungen. Das Fünf-Jahresintervall 1974–1978 war hingegen ein Tiefpunkt in der Schiller-Rezeption: 588 Nachweise, was einem Jahresdurchschnitt von ca. 118 Titeln entspricht. Seit 1999 erscheint die SchillerBibliographie im Ein-Jahresturnus, da im Vorfeld weiterer Schiller-Jubiläen (2005 und 2009) mit einem starken Anwachsen der Beiträge zur internationalen Forschungs- und Wirkungsgeschichte gerechnet werden musste; und dieser Fall ist auch tatsächlich eingetreten, wie die Zahlen der seit 1999 erschienenen Fortsetzungen der Bibliographie augenfällig dokumentieren (2005: 1.313 Titelnachweise!). An dieser Stelle wären weitere forschungsstatistische Kalkulationen von Interesse (und ein kleines »Projekt«), aber dieses Jonglieren mit relativen Zahlen würde den Charakter eines Vorworts sprengen; es müssten auch zuvor genaue Analysen angestrengt werden, insbesondere für die früheren Mehr-Jahres-Kumulationen, aus denen nicht hervorgeht, wie viele Titel in einem Kalenderjahr publiziert worden sind, und außerdem wäre es erforderlich, die zahlreichen Nachträge herauszurechnen. Die Schiller-Bibliographie ist bereits seit vielen Jahren, spätestens jedoch seit 1985 mit dem Abbruch der verdienstvollen Weimarer Schiller-Bibliographie, ein beachtenswertes Alleinstellungsmerkmal des Deutschen Literaturarchivs Mar­

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bach. Sowohl die Frankfurter periodische BDSL (Bibliographie der deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft) als auch die Weimarer IBDK (Internationale Bibliographie zur Deutschen Klassik 1750–1850) präsentieren zwar eine Vielzahl von Metadaten zur Schiller-Rezeption, sind aber bei genauerer Analyse sehr selektiv und haben verzeichnenden Charakter, d.  h. sie entbehren einer systematischen Ordnung des bibliographischen Materials und enthalten keine hilfreichen Annotationen. Auch die vorliegende Bibliographie für das Berichtsjahr 2018 ist bestrebt, das überaus breite Rezeptionsspektrum mit größtmöglicher Vollständigkeit systematisch abzubilden, d.  h. es wurde auch wieder ein besonderer Akzent auf den »philosophischen« Schiller gelegt und auf Veröffentlichungen zu seinen literarischen Werken und theoretischen Schriften, die weltweit im fremdsprachigen Ausland und oftmals in digitaler Form erschienen sind, wobei auf retrospektive Recherchen weitestgehend verzichtet worden ist. Diese versteckten »Schilleriana« wie auch einschlägige Kapitel bzw. Abschnitte in schilleraffinen Monographien aus benachbarten kulturwissenschaftlichen Disziplinen werden von den eingangs zitierten Frankfurter und Weimarer Bibliographien oftmals gar nicht erfasst. Insofern ist auch der in bibliothekarischen Fachkreisen kursierenden These zu widersprechen, dass traditionelle (gedruckte) Personalbibliographien im Zeitalter digitaler Datenbanken keine Existenzberechtigung mehr hätten. Der akademische Buchmarkt beweist allerdings, dass immer wieder gedruckte (Personal-)Bibliographien und andere Referenzorgane publiziert werden und ihre Klientel in Forschungskreisen weiterhin haben. Für sinnvolle und arbeitsökonomische philologische Forschungsarbeiten kann es nur von Vorteil sein, wenn neben allgemeinen digitalen Datenspeichern auch spezielle personenbezogene Bibliographien Zugriffsmöglichkeiten auf Informationen (Metadaten) bieten. Der Klassiker Friedrich Schiller ist nur ein Beispiel von vielen prominenten Autorinnen und Autoren, auf die der beschriebene Recherche-Kontext zutrifft. Es bleibt zu hoffen, dass sich die gegenwärtigen Forschungsbedingungen (nicht nur für Schiller) zugunsten personalbibliographischer Grundlagen weiterhin verbessern lassen. Der Schiller-Bibliograph appelliert an dieser Stelle noch einmal nach­drück­ lich an Literatur- und Kulturwissenschaftler(innen) aus allen Nationen, ihre Schiller-Studien (Monographien, Aufsätze, Buchkapitel, Übersetzungen) der Jahrbuch-Redaktion zu melden, um der »MSB« noch mehr Aktualität und In­ for­ ma­ tions­ dichte zu verleihen. Das sind Investitionen in ein kontinuierlich wachsendes Datenmosaik, das nicht nur der internationalen Schiller-Forschung zugutekommt, sondern auch den aktuellen weltweiten Klassik- und Ästhetik-Diskursen. Bedauerlicherweise ist mein Kollege Herman Moens nicht mehr unermüdlicher und umsichtiger »Ausspäher« im Team der Schiller-Bibliographie: Ihm



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ge­bührt ein großes Dankeswort für die zuverlässige Kooperation seit 2006. An dieser Stelle bedanke ich mich auch bei OStR i.R. Gudrun Wanek-Riedel für die sorgfältige Lektoratsarbeit und die Mithilfe beim Personenregister. Redaktionsschluss: 1. Juni 2019

Inhalt 1. Internationale Schiller-Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Bibliographien und Referenzwerke. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Tagungsberichte, Sammelrezensionen, Nachlass-Geschichte und Edition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Zeitschriften und Jahrbücher. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Kongress-Schriften: Colloquien, Symposien, Tagungen, Sammelbände . . 1.5. Museen, Dichterhäuser, Ausstellungen und Institutionengeschichte . . . .

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2. Quellen-Editionen (und Nachdrucke in Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Mehrbändige Werk- und Gesamtausgaben. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Teilausgaben und kleine Sammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Literarische Gattungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Lyrik: Nachdrucke von Balladen und Gedichten. . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.2. Dramatische Werke und Fragmente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3. Erzählende Prosa, theoretische Schriften, Briefe/Korrespondenz. . 2.4. Übersetzungen von Schillers Werken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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3. Allgemeine Darstellungen: Porträts, Würdigungen, Reden. . . . . . . . . . . . . . . . . 398 4. Biographische Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 5. Kontexte: Kontakte – Einflüsse – Vergleiche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Beziehungen zu Orten, Landschaften und Ländern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2. Schillers Zeitgenossen und Vergleiche mit anderen Personen im historisch-politischen, bildungs- und ideengeschichtlichen Kontext . . . . 5.3. Die Familie Schiller: Genealogie, Generationen und Verwandtschaften . .

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6. Intellektuelle Vernetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 6.1. Geschichte – Kulturkritik – Politik – Weltanschauung . . . . . . . . . . . . . . . . . 406 6.2. Philosophie, Ästhetik, Anthropologie, Bildung und Erziehung (auch zur Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants). . . . . . . . . . . . . 407

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6.3. Literatur, Sprache, Poetologie, Kunst und Theater. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4. Musik und Tanz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5. Bibel, Religion(en), Theologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6. Naturwissenschaften, Medizin, Recht(sgeschichte) und Kriminologie . . . 6.7. Griechische und römische Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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7. Schillers literarische Werke und theoretische Schriften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1. Allgemeine gattungsübergreifende Darstellungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2. Lyrik: Untersuchungen zu Schillers Balladen und Gedichten. . . . . . . . . . . 7.3. Untersuchungen zum dramatischen Werk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1. Allgemeine Darstellungen und Werkvergleiche. . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.2. »Die Braut von Messina«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.3. »Don Karlos« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.4. »Die Jungfrau von Orleans« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.5. »Kabale und Liebe«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.6. »Maria Stuart« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.7. »Die Räuber«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.8. »Wilhelm Tell« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.9. »Die Verschwörung des Fiesko zu Genua« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.10. »Wallenstein«-Trilogie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.11. Fragmente und kleine dramatische Dichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4. Untersuchungen zur literarischen Prosa, zu den ästhetischen Schriften und zu den historischen Abhandlungen, sonstige Formen . . . . . . . . . . . . . 7.4.1. Allgemeine Darstellungen und vergleichende Studien. . . . . . . . . . . 7.4.2. Analysen und Interpretationen zu einzelnen Werken und Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5. Schiller als Herausgeber, Übersetzer, (Bühnen-)Bearbeiter und Literaturkritiker. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6. Schiller in Briefen und Korrespondenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.7. Einzelne Aspekte, Motive, Stoffe, Themen und Begriffe (werkübergreifend) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.8. Schiller in diversen Kontexten (auch Beiträge ohne Nennung Schillers im Titel). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8. Nationale und internationale Wirkungsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1. Studien zu literarästhetischen Rezeptionsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.1. Allgemeine Untersuchungen und spezielle Aspekte (auch Preise). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.2. Wirkung auf Personen in Literatur, Kultur und Wissenschaft . . . . . 8.1.3. Rezeption im fremdsprachigen Ausland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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8.2. Schillers Werke auf der Bühne. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.1. Rückblicke auf historische Aufführungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2.2. Aktuelle Inszenierungen im Spiegel der Presse (Auswahl). . . . . . . . 8.2.3. Aktuelle Inszenierungen von musikalischen Adaptionen (Opern). 8.3. Mediale Bearbeitungen (Ton, Film, Partitur). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4. Studien zu Illustrationen und Ikonographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5. Produktive Rezeption: Fiktionalisierungsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.6. Schiller im Deutschunterricht (Auswahl). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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9. Audiovisuelle Medien: CDs und DVDs (Auswahl). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 10. Nachlese. Nach Redaktionsschluss ermittelte Schilleriana. . . . . . . . . . . . . . . . . 451 11. Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452

1. Internationale Schiller-Forschung 1.1. Bibliographien und Referenzwerke 1. Günther, Georg: Friedrich Schillers musikalische Wirkungsgeschichte. Ein Kompendium. Teil 1: Einleitung und Register. Stuttgart: J. B. Metzler Verlag, 2018, 374  S. (= Musik in Baden-Württemberg: Quellen und Studien. 10).  – ISBN 978-3-476-04619-2. 2. Günther, Georg: Friedrich Schillers musikalische Wirkungsgeschichte. Ein Kompendium. Teil  2: Verzeichnis der musikalischen Werke. Stuttgart: J.  B.  Metzler Verlag, 2018, 696  S. (=  Musik in Baden-Württemberg: Quellen und Studien. 10). – ISBN 978-3-476-04619-2. 3. Riedel, Nicolai (in Zusammenarbeit mit Herman Moens): Marbacher Schiller-Bibliographie 2017.  Internationales Referenzorgan zur Forschungs- und Wirkungsgeschichte. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. Internationales Organ für Neuere Deutsche Literatur. Herausgegeben von Alexander Honold, Christine Lubkoll, Ernst Osterkamp und Ulrich Raulff. Band 62 (2018). Berlin, Boston: Verlag Walter de Gruyter, 2018, S. 235–301. – ISBN 9783-11-057816-4.

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1.2. Tagungsberichte, Sammelrezensionen, Nachlass-Geschichte und Edition 4. Amslinger, Thomas: Enzensberger als Herausgeber. Abweichendes Tra­di­ tions­verhalten: ›Insel-Schiller‹. In: Ders., Verlagsautorschaft. Enzensberger und Suhrkamp. Göttingen: Wallstein Verlag, 2018, S. 223–240. – ISBN 978-38353-3308-6. 5. Davidis, Michael: Die Gleichen-Rußwurms auf Schloss Greifenstein. Ein Beitrag zur Überlieferungsgeschichte von Schillers Nachlass. In: Ich danke Ihnen für Ihr Andenken. Idee und Alltag in Friedrich Schillers Rudolstädter Umfeld. Redaktion: Daniela Danz, Jeanette Lauterbach und Lutz Unbehaun. Rudolstadt: Thüringer Landesmuseum Heidecksburg, 2018, S. 47–67. – ISBN 978-3-947272-08-2.

1.3. Zeitschriften und Jahrbücher 6. Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft. Internationales Organ für Neuere Deutsche Literatur. Herausgegeben von Alexander Honold, Christine Lubkoll, Ernst Osterkamp und Ulrich Raulff. Band 62 (2018). Berlin, Boston: Verlag Walter de Gruyter, 2018, 416 S. – ISBN 978-3-11-057816-4. Der Band enthält Beiträge zu Schiller von Hermann Bernauer, Achim Aurnhammer / Hanna Klessinger sowie die Marbacher Schiller-Bibliographie 2017 von Nicolai Riedel und Herman Moens. 7. MusikTheorie. Zeitschrift für Musikwissenschaft. Herausgegeben von Wil­ helm Seidel, Klaus Pietschmann und Matthias Schmidt. Laaber (Laaber-Verlag), 33. Jg., 2018, Heft 3, S. 199–258. – ISSN 0177-4182. Das Themenheft »Verdi und Schiller«, mit einem Vorwort versehen von Laurenz Lütteken (S.  194–197), enthält Beiträge von Cord-Friedrich Berghahn, Albert Gier, Vincenzina C. Ottomano und Iso Camartin.

1.4. Kongress-Schriften: Colloquien, Symposien, Tagungen, Sammelbände 8. Aesthetic Reason and Imaginative Freedom. Friedrich Schiller and Philosophy. Edited by María del Rosario Acosta López and Jeffrey L. Powell. Albany/ NY: State University of New York Press (SUNY), 2018, VI, 217 S. (= Contemporary Continental Philosophy). – ISBN 978-1-4384-7219-5.





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Introduction by María del Rosario Acosta López and Jeffrey L. Powell (S. 1–8). – Der Band enthält Beiträge von Yvonne Nilges, Laura Anna Macor, Manfred Frank, María del Rosario Acosta López, Frederick Beiser, Daniel Dahlstrom, Jacques Rancière, Christoph Menke, Jeffrey L. Powell und María Luciana Cadahia.  – Friedrich Schiller’s Works Cited (S.  193–194).  – Bibliography (S. 195–205). – Contributors (S. 207–209). – Index (S. 211–217).

9. Ich danke Ihnen für Ihr Andenken. Idee und Alltag in Friedrich Schillers Rudolstädter Umfeld. Redaktion: Daniela Danz, Jeanette Lauterbach und Lutz Unbehaun. Rudolstadt: Thüringer Landesmuseum Heidecksburg, 2018, 183 S. – ISBN 978-3-947272-08-2. Druckvermerk: »Das Buch erscheint als Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung vom 7. September bis 9. Dezember 2018 im Residenzschloss Heidecksburg.« – Der Band enthält Beiträge von Lutz Unbehaun, Daniela Danz, Michael Davidis, Christoph Schmälzle und F. Carlo Schmid sowie den Katalog (S. 105– 182) mit 38 mehrfarbigen Abbildungen. 10. Luserke-Jaqui, Matthias: Schiller-Studien. Der ganze Mensch und die Ästhetik der Freiheit. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2018, 287 S. – ISBN 978-37720-8651-9. Die Beiträge sind jeweils einzeln an den entsprechenden Systemstellen verzeichnet. 11. Nachdenken über Schiller. Herausgegeben vom Freundeskreis Düsseldorfer Buch ’75 e.V. Redaktion Siegfried Jahnke. Vorwort von Hans Jürgen Skorna. Düsseldorf, 2005, 124 S. mit Abbildungen. – Keine ISBN. Inhalt: Vorwort von Hans Jürgen Skorna (S.  5–8).  – Maria Stalder: Kennen Sie Schiller? (S.  11–14).  – Werner Beutling: Schiller, Goethe und Moneten (S. 15–21). – Anni Rosemarie Becker: Schiller und Goethe. Freundschaft oder Arbeitsgemeinschaft? (S. 23–26). – Manfred Engelhardt: Die Flucht (S. 27–31). – Artur Remy: Schillers Gebeine (S. 33–38). – Maria Luise König: Immer sein und gewesen … (S. 39–43). – [Faksimile-Dokument] Einbürgerungsbrief des französischen Innenministers (S. 44). – Maria Stalder: Analogie zu Schillers Gedicht »Hoffnung« [Gedicht] (S.  45–46).  – Siegfried Jahnke: Schiller, Herodot und andere Geschichtsschreiber (S. 47–50). – Franz H. Scharge: Der Schiller meiner jüngeren Jahre (S. 51–55). – Franz H. Scharge / Ruth Schildhauer-Ott: Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd (S. 57–65). – Hans Jürgen Skorna: Zur Wirkungsgeschichte des »Wilhelm Tell« (S.  65–70).  – Hilde Gumnior-Schwelm: Johanna  – Gestaltungen im Vergleich (S.  71–82).  – Anni Rosemarie Becker: »Die Bürgschaft« von Friedrich Schiller. Eine Erinnerung (S. 83–84). – Siegfried Jahnke: Anmerkungen zu Schillers Fragment »Demetrius« (S. 85–87). – Ellinor

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Wohlfeil: Schillers »Räuber« oder was darf die Freiheit kosten? (S. 89–92). – Anni Rosemarie Becker: Schiller und die »Horen« (S.  93–96).  – Konstanze Petersmann: Wie kommt es, daß wir immer noch Barbaren sind? (S. 97–99). – Hartmut Herlyn: Befreit (S. 101–103). – Till Louis Schreiber: Collage (S. 105– 108). – Petra L. Ranff: Die Herausforderung (frei nach Friedrich von Schillers Ballade »Der Taucher«) (S. 109–111). – Benno Burkhardt: Die Teilung der Erde [Gedicht] (S. 113–114). – Nachlese […] (S. 115–121). Diese Textsammlung ist in den gedruckten und digitalen Referenzwerken erstmals 2018 verzeichnet und konnte daher in früheren Schiller-Bibliographien nicht nachgewiesen werden.

12. Schiller und die Romantik. Herausgegeben von Helmut Hühn, Nikolas Immer und Ariane Ludwig. Weimar: Weimarer Schillerverein, 2018, 70 S. – ISBN 9783-00-060572-7. Der Band enthält Beiträge von Alice Stašková, Nikolas Immer und Astrid Dröse. 13. Schillers Europa. Herausgegeben von Peter-André Alt und Marcel Lepper. Berlin, Boston: de Gruyter, 2017. (= Perspektiven der Schiller-Forschung. 1). [Marbacher Schiller-Bibliographie 2017, Nr. 9]. Rezension von David Pugh. In: Lessing Yearbook  /  Jahrbuch. Edited by Carl Niekerk and Monika Nenon. Band 45 (2018). Göttingen: Wallstein Verlag, 2018, S. 243–245. – ISBN 978-3-8353-3322-2. 14. Schillers Zeitbegriffe. Herausgegeben von Helmut Hühn, Dirk Oschmann und Peter Schnyder. Hannover: Wehrhahn Verlag, 2018, 348 S. mit 5 Illustrationen. (= Ästhetische Eigenzeiten. 12). – ISBN 978-3-86525-662-1. Der Band enthält eine Einleitung der Herausgeber (S. 9–16) und Beiträge von Michael Gamper, Thomas Boyken, Cornelia Zumbusch, Anne Fleig, Claude Haas, Dirk Oschmann, Friederike Felicitas Günther, Peter Schnyder, Nikolas Immer, Matthias Grüne, Antonia Eder, Lucian Hölscher, Stephan Jaeger, Johannes F. Lehmann, Philipp Weber und Helmut Hühn.

1.5. Museen, Dichterhäuser, Ausstellungen und Institutionengeschichte 15. Danz, Daniela: ›… von Geisteswerken […] auf Possen überspringen‹. Sonderausstellung über Idee und Alltag bei Friedrich Schiller. In: Thüringer Museumshefte. Gera. 27. Jg., 2018, Heft 2, S. 67–70. 16. Das Schillermuseum in Weimar. Ein Stadtbaustein der Ostmoderne. Herausgegeben von Klaus Aschenbach, Jürgen Beyer und Jürgen Seifert. Weimar: Verlag M Books, 2018, 256 S. – ISBN 978-3-944425-09-2.





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Inhalt: Thomas Topfstedt: Vorwort. – Vorwort der Herausgeber. – Holger Reinhardt: Die Postmoderne in Thüringen als Gegenstand der Denkmalpflege.  – I. Volker Wahl: Das Weimarer Schillerhaus. Idee und Entwicklung einer nationalen Erinnerungsstätte.  – Lothar Ehrlich: Der Museumsneubau. Zur Entstehungsgeschichte.  – II. Jürgen Seifert: Der Architekturwettbewerb von 1981. Eine Dokumentation.  – Simone Hain: ›Wunderbare Häuslichkeit‹. Planungsgeschichte und Diskurse.  – Klaus Aschenbach  /  Jürgen Beyer  /  Walter Köckeritz: Am Ende eine andere Architektur. Unerwartete Entwurfsprozesse. – »1988«.  – III. Kirsten Angermann  /  Hans-Rudolf Meier: Postmodern?! Der architekturgeschichtliche Kontext. – Rainer Müller: Das Schillermuseum. Auf dem Weg zum Denkmal. – Wolfgang Holler: Ausblick. Zur musealen Gesamtkonzeption der Klassik Stiftung Weimar. – »2018«. – – Zeittafel. – Bautafel. – Bibliographie. – Personenregister. – Sachregister. – AutorInnen. – Abbildungsnachweise. – Impressum.

17. Holfelder, Ute / Katschnig, Gerhard / Schönberger, Klaus: Transversal Practices between Bourgeois Cosmopolitism and Fervent German Nationalism. The Schillerverein in Trieste as an Example of the In-Between in the Alps-Adriatic Region. In: Traditiones. Zbornik Inštituta za slovensko narodopisje in Glasbenonarodopisnega inštituta. Ljubljana (Slovenska Akademija znanosti in umetnosti), 46. Jg., 2017, Heft 1/2, S. 7–34. – ISSN 0352-0447. 18. Wahl, Volker: Zur Frühgeschichte des Weimarer Schillerhauses in der Esplanade, 1777–1847. In: Die Pforte. Veröffentlichungen des Freundeskreises Goethe-Nationalmuseum. Weimar: Freundeskreis Goethe-Nationalmuseum, Band 14, 2018, S. 7–39.

2. Quellen-Editionen (und Nachdrucke in Auswahl) 2.1. Mehrbändige Werk- und Gesamtausgaben Keine Nachweise im laufenden Berichtsjahr

2.2. Teilausgaben und kleine Sammlungen Keine Nachweise im laufenden Berichtsjahr

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2.3. Literarische Gattungen 2.3.1. Lyrik: Nachdrucke von Balladen und Gedichten 19. [Gedichte]. In: Heinrich Heines »Romanzero« nebst Lieblingsballaden von Goethe, Schiller und anderen. Ausgewählt, durchgesehen, revidiert und mit einem Nachwort von Joerg K. Sommermeyer. Norderstedt: Orlando Syrg, 2018, S. 194–275. (= Orlando Syrg Taschenbuch. 15: Reihe alte Tradition Azurcelesteblueoscuro 11). – ISBN 978-3-7481-1256-3. Der Band enthält folgende Balladen: »Das verschleierte Bild zu Sais«.  – »Pegasus im Joche«. – »Die Teilung der Erde«. – »Der Gang nach dem Eisenhammer«. – »Der Handschuh«. – »Der Ring des Polykrates«. – »Der Taucher«. – »Die Kraniche des Ibykus«.  – »Ritter Toggenburg«.  – »Der Kampf mit dem Drachen«. – »Die Bürgschaft«. – »Das Lied von der Glocke«. – »Die Rache der Musen«. – »Die Kindsmörderin«. – »Die Götter Griechenlands«. – »Hero und Leander«. – »Kassandra«. – »Der Graf von Habsburg«. – »Der Alpenjäger«. 20. [Gedichte]. In: Deutsche Gedichte. Eine Anthologie. Herausgegeben von Dietrich Bode. Ditzingen, Stuttgart: Verlag Philipp Reclam jun., erweiterte Neuausgabe 2018, S. 129–153. – ISBN 978-3-15-011184-0. Die Auswahl enthält: »Das verschleierte Bild zu Sais«.  – »Der Schlüssel«.  – »Sprache«.  – »Freund und Feind«.  – »Das Höchste«.  – »Würde des Menschen«.  – »Der Genius mit der umgekehrten Fackel«.  – »Die Bürgschaft«.  – »Das Lied von der Glocke«. – »Nänie«. 21. Das gemeinsame Schicksal. In: Ich möchte nicht mehr zwanzig sein. Gedichte. Herausgegeben von Eberhard Scholling. Ditzingen, Stuttgart: Verlag Philipp Reclam jun., 2018, S. 20. – ISBN 978-3-15-011173-4. 22. Der Spaziergang. In: Prächtige Natur erheitert die Tage. Gedichte. Herausgegeben von Herbert Schnierle-Lutz. Berlin: Insel Verlag, 2018, S.  13–15. (= Insel-Bücherei. 2518). – ISBN 978-3-458-20518-0. 23. Die Antike an den nordischen Wanderer. In: Reisegedichte. Texte mit Materialien. Herausgegeben von Vanessa Greiff. Stuttgart, Leipzig: Ernst Klett Verlag, 2018, S. 20. (= Editionen für den Literaturunterricht). – ISBN 978-3-12352397-7. 24. Kolumbus. In: Lyrik vom Barock bis zur Gegenwart. Textausgabe mit Materialien. Herausgegeben von Arnhild Nachreiner. Stuttgart, Leipzig: Ernst Klett Verlag, 2018, S.  27. (= Unterwegs: Editionen für den Literaturunterricht).  – ISBN 978-3-12-352398-4.



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25. Sehnsucht. In: Reisen. Gedichte. Herausgegeben von Vanessa Greiff. Ditzingen, Stuttgart: Verlag Philipp Reclam jun., 2018, S. 27. (= Reclams UniversalBibliothek. 19528). – ISBN 978-3-15-019528-4. 26. Vergleichung (Bernhard Fischer: Die nicht ganz so keusche Luna). In: Thüringer Anthologie. Eine poetische Reise. Herausgegeben von Jens Kirsten und Christoph Schmitz-Scholemann. Wiesbaden: Weimarer Verlagsgesellschaft, 2018, S. 96/97. – ISBN 978-3-7374-0271-2.

2.3.2. Dramatische Werke und Fragmente 27. Die Jungfrau von Orleans. Eine romantische Tragödie. Ungekürzter Text. Husum/Nordsee: Hamburger Lesehefte Verlag, 2017, 135 S. (= Hamburger Lesehefte. 24). – ISBN 978-3-87291-922-9.

2.3.3. Erzählende Prosa, theoretische Schriften, Briefe/Korrespondenz 28. Avanturen des neuen Telemachs. Adventures of a New Telemachus. Eine Bildgeschichte von 1786. Herausgegeben und mit einer Einführung versehen von Dietrich Grünewald. Ins Englische übertragen von Stephan Packard und Elizabeth Nijdam. Berlin: Christian A. Bachmann Verlag, 2018, 86 S. mit zahlreichen mehrfarbigen Illustrationen. – ISBN 978-3-941030-46-6. Inhalt: Schillers Bildgeschichte in deutscher und englischer Sprache (S. 6–33). – Dietrich Grünewald: Freundesgabe. Friedrich Schillers Bildgeschichte »Avanturen des neuen Telemachs«, 1786.  /  A Gift to a Friend. Friedrich Schillers Picture Story »Adventures of a New Telemachus«, 1786 (S. 34–75). – Anmerkungen / Notes (S. 76–86). 29. Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Eine wahre Geschichte. Berlin: epubli, 2018, 36 S. (= edition holbach). – ISBN 978-3-7467-6837-3. 30. Der Verbrecher aus verlorener Ehre. Eine wahre Geschichte. Mit Illustrationen von Hanfried Wendland. Berlin: NeueKleiderDrucke, 2017, 94 S. (= Privatdruck von Hanfried Wendland. 43). 31. Der Verbrecher aus verlorener Ehre. In: Gar greuliche Taten. Herausgegeben von Erik Schreiber. Bickenbach: Saphir im Stahl, 2018, S. 9–28. (= Geheimnisvolle Geschichten. 5). – ISBN 978-3-96286-019-6.

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2.4. Übersetzungen von Schillers Werken a) Lyrik 32. [Romanes / deutsch] An einen Weltverbesserer / Ab i Schweteskro-feder-krehpaskro. In: Djiparmissa. Klassische deutsche Gedichte auf Romanes. Übersetzt und herausgegeben von Reinhold Lagrene. Mit einem Vorwort von Romani Rose. Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn, 2018, S. 98–99. – ISBN 978-3-88423-5904. 33. [Romanes / deutsch] Das Mädchen aus der Fremde / Koia Tschai dran o Zossnepen. In: Djiparmissa. Klassische deutsche Gedichte auf Romanes. Übersetzt und herausgegeben von Reinhold Lagrene. Mit einem Vorwort von Romani Rose. Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn, 2018, S. 100–101. – ISBN 978-3-88423590-4. 34. [Romanes / deutsch] Der Fuchs und der Kranich / I Lischka te o Kranich. In: Djiparmissa. Klassische deutsche Gedichte auf Romanes. Übersetzt und herausgegeben von Reinhold Lagrene. Mit einem Vorwort von Romani Rose. Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn, 2018, S. 102–103. – ISBN 978-3-88423590-4. 35. [Romanes / deutsch] Die Bürgschaft / Sianakro-terdepen. In: Djiparmissa. Klassische deutsche Gedichte auf Romanes. Übersetzt und herausgegeben von Reinhold Lagrene. Mit einem Vorwort von Romani Rose. Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn, 2018, S.  104–113.  – ISBN 978-3-88423590-4. 36. [Romanes / deutsch] Spinoza / Spinoza. In: Djiparmissa. Klassische deutsche Gedichte auf Romanes. Übersetzt und herausgegeben von Reinhold Lagrene. Mit einem Vorwort von Romani Rose. Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn, 2018, S.  114–115.  – ISBN 978-3-88423590-4.



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b) Drama 37. [Englisch] Don Carlos, Infante of Spain. A Dramatic Poem / [Don Karlos]. Translation and Notes to the Text by Flora Kimmich. Introduction by John Guthrie. Cambridge/UK: Open Book Publishers, 2018, 204 S. (= Open Book Classics. 9). – ISBN 978-1-78374-447-3. 38. [Englisch] Wallenstein. A dramatic Poem. Translation and notes to the text by Flora Kimmich. Introduction by Roger Paulin. Cambridge: Open Book Publishers, 2017, 314 S. (= Open Book Classics. 5). – ISBN 978-1.78374-264-6. Die Übersetzung umfasst die drei Teile: Wallenstein’s Camp.  – The Piccolomini. – The Death of Wallenstein. 39. [Gälisch-schottisch] Uilleam Tell / [Wilhelm Tell]. Eadar-theangaichte le Catrìona NicGilleBhàin Ghrannd [i.  e. Katharine W. Grant]. (Inbhir Nis 1893). Glaschu: Foillseachadh Akerbeltz, 2016, 186 S. (= An t-Àrdùrlar Beag). – ISBN 978-1-907165-22-1. Textausgabe ohne editorische Kommentare, Vor- und Nachworte, enthält auch keine Wort- und Sacherklärungen. – Vulpius weist, allerdings nur unvollständig, auf eine gälische Übersetzung des »Wilhelm Tell« aus dem Jahr 1893 hin (Nr.  1376). In dieser ersten Ausgabe findet sich nur das Kürzel »K.W.G.« für die Übersetzerin. Im britischen Verbundkatalog Copac sind die Angaben vollständig. Inverness: Northern Chronicle, VIII, 123 S. – Es handelt sich folglich um einen Nachdruck der ersten Übersetzung. c) Erzählende Prosa und theoretische Schriften 40. [Polnisch] Teatr jako instytucja moralna / [Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet]. In: Sztuka a religia – debaty niemieckie od XVI do XXI wieku. Wstęp, wybór i opracowanie Cezary Lipiński i Maria Wojtczak. Poznań: Wydawnictwo Nauka i Innowacje, 2018, S.  478–485. (= Poznańska Biblioteka Niemiecka. 47).  – ISBN 978-83-64864-81-0.

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41. [Portugiesich] Objetos trágicos, objetos estéticos / [Textsammlung]. Organização e tradução de Vladimir Vieira. Belo Horizonte: Autêntica Editora, 2018, 205 S. (= Filō Estética). – ISBN 978-85-513-0379-5. Verlagstext: »Em 1790, já consagrado como dramaturgo e poeta, mas gravemente doente aos 30 anos de idade, Friedrich Schiller abandonou suas ati­ vidades artísticas e se dedicou à teoria estética. Ao longo de quatro anos, ele escreveu uma série de ensaios que culminaram na publicação de Sobre a educação estética do homem em uma série de cartas (1794) e Poesia ingênua e sentimental (1795). Depois, ele voltou à dramaturgia e escreveu as peças que são consideradas suas obras primas, como Maria Stuart (1800) e Guilherme Tell (1804). Caso raro de um artista de grande talento e também dotado de profundo espírito filosófico, Schiller escreveu seus ensaios sob o impacto da leitura da Crítica da Faculdade do Juízo, de Kant (1790). Os quatro textos traduzidos neste livro – »Sobre o fundamento do deleite com os objetos trágicos«, »Sobre a arte trágica«, »Sobre o patético« e »Observações dispersas sobre diversos objetos estéticos« – desenvolvem duas vertentes do pensamento do autor: o propósito de repensar a poética da tragédia, herdada da tradição aristotélica, combina-se de modo original com o objetivo de investigar filosoficamente, com base em Kant, não só a arte e o belo, como também a relação entre arte e moralidade.« Der Band lag dem Bearbeiter bis Redaktionsschluss nicht vor; ein Inhaltsverzeichnis mit Seitenzahlen konnte nicht ermittelt werden. 42. [Spanisch] Cartas sobre la educación de la humanidad / [Über die ästhetische Erziehung des Menschen]. Traduccion del alemán de Eduardo Gil Bera. Barcelona: Editorial Acantilado, 2018, 149 S. (= El Acantilado. 366). – ISBN 978-84-16748-99-0.

3. Allgemeine Darstellungen: Porträts, Würdigungen, Reden 43. Berndt, Stephan: Das Deutschen Bild vor 1871. Friedrich Schiller. In: Ders., Neustart. Visionen und Prophezeiungen über Europa und Deutschland nach Crash, Krieg und Finsternis. Regensburg: Reichel Verlag, 2018, S. 235–239. – ISBN 978-3-946959-13-7. 44. Böhmer, Otto A.: Wie die erste Liebe. Schiller und die Freiheit der Gedanken. In: Ders., Lichte Momente. Dichter und Denker von Platon bis Sloterdijk. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2018, S.  105–122.  – ISBN 978-3-42104803-5.



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45. Gehle, Irmgard: Ausrichtung am Idealismus. ›Was ist uns Schiller?‹ In: Dies., Der Benediktiner Ansgar Pöllmann unterwegs / aus dem Kloster in die Welt der Kunst und Literatur; auf der Suche nach schöner Dichtung […]. Nordhausen: Verlag Traugott Bautz, 2018, S. 28–44. – ISBN 978-3-95948-384-1. 46. Masuhr, Karl F.: Widerstand und Wissenschaft. Friedrich Schillers Vita, seine Dramen und medizinischen Schriften. In: Ders., Ärzte, Dichter und Rebellen. Psychosomatische Aspekte ihres Wirkens. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann, 2018, S. 45–54. – ISBN 978-3-8260-6300-8. 47. Oellers, Norbert: Friedrich Schiller. Zur Renaissance eines entrückten Klassikers. Wiesbaden: Weimarer Verlagsgesellschaft  /  Verlagshaus Römerweg, 2018, 183 S. mit zahlreichen mehrfarbigen Illustrationen. (= Kleine Personenreihe). – ISBN 978-3-7374-0266-8. Inhalt: Einleitung (S. 4–9). – 1759–1782: Vierorts in Württemberg (S. 10–27). – 1782–1785: Mannheim und Bauerbach (S.  28–41).  – 1785–1787: Leipzig und Dresden (S.  42–58).  – 1787–1789: Die ersten Jahre in Weimar (S.  59–72).  – 1789–1794: Das erste Jahrfünft in Weimar (S. 73–96). – 1794–1799: Das zweite Jahrfünft in Weimar (S.  97–130).  – 1799–1805: Wieder in Weimar (S.  131– 165). – Zeittafel (S. 166–169). – Stadtrundgang durch Weimar: Auf den Spuren von Friedrich Schiller (S. 170–175). – Stadtrundgang durch Jena (S. 176–179). – Personenregister (S. 180–181). – Literaturverzeichnis (S. 182–183). 48. Sternburg, Wilhelm von: ›Der Mensch ist das Wesen, welches will.‹ Begegnungen mit dem Klassiker Friedrich Schiller. In: Ders., Über Geist und Macht. Dreißig Porträts aus Literatur und Politik. Berlin: Quintus Verlag, 2018, S. 33–36. – ISBN 978-3-947215-23-2.

4. Biographische Aspekte 49. Breymayer, Reinhard: Astronomie, Kalenderstreit und Liebestheologie. Von Erhard Weigel und seinem Schüler Detlev Clüver über Friedrich Christoph Oetinger und Philipp Matthäus Hahn zu Friedrich Schiller, Johann Andreas Streicher, Franz Joseph Graf von Thun und Hohenstein, Mozart und Beethoven. […] Dußlingen: Noûs-Verlag Thomas Leon Heck, 2016, 239 S., 4°. – ISBN 978-3-924249-58-8. Das umfangreiche Kompendium enthält einige Hinweise auf Schiller. Besondere Beachtung verdient Kap. 13 mit seinen Unterabschnitten: Zu Johann Andreas Streichers Mitwirkung bei Friedrich Schillers Flucht aus Stuttgart nach Mannheim u.  a. Abschnitte (S. 137–143).

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50. Danz, Daniela: Das ›wirkliche Leben‹ und das Ideal. Ein Blick aus den Augen der Dinge auf Schillers Werkumfeld. In: Ich danke Ihnen für Ihr Andenken. Idee und Alltag in Friedrich Schillers Rudolstädter Umfeld. Redaktion: Daniela Danz, Jeanette Lauterbach und Lutz Unbehaun. Rudolstadt: Thüringer Landesmuseum Heidecksburg, 2018, S. 35–45. – ISBN 978-3-947272-08-2. 51. Unbehaun, Lutz: Friedrich Schillers Rudolstädter Sommer im Jahr 1788. In: Ich danke Ihnen für Ihr Andenken. Idee und Alltag in Friedrich Schillers Rudolstädter Umfeld. Redaktion: Daniela Danz, Jeanette Lauterbach und Lutz Unbehaun. Rudolstadt: Thüringer Landesmuseum Heidecksburg, 2018, S. 11–33. – ISBN 978-3-947272-08-2.

5. Kontexte: Kontakte – Einflüsse – Vergleiche 5.1. Beziehungen zu Orten, Landschaften und Ländern 52. Boss, Günter: Schiller in Bauerbach. In: Ders., Wenn die Dichtung aus dem Leben einen Mythos macht  … Eine anthropologisch-anthroposophische Perspektive auf den Lehrplan des Deutschunterrichts in der Oberstufe der Waldorfschule. Kassel: Bildungswerk Beruf und Umwelt, 2018, S.  152–160. (= Günter Boss: Individuationswege. 1). – ISBN 978-3-939374-33-6.

5.2. Schillers Zeitgenossen und Vergleiche mit anderen Personen im historisch-politischen, bildungs- und ideengeschichtlichen Kontext 53. Abraham, Bénédicte: Considérations anthropologiques sur le génie: Lavater, Herder, Schiller. In: Dies., Au commencement était l’action. Les idées de force et d’énergie en Allemagne autour de 1800. Villeneuve d’Ascq: Presses Universitaires du Septentrion, 2016, S. 217–224. (= Collection Dialoges entre Cultures). – ISBN 978-2-7574-1274-9. 54. Burdorf, Dieter: Der Kritiker als Mittler? August Wilhelm Schlegel zwischen [Gottfried August] Bürger und Schiller. In: August Wilhelm Schlegel und die Philologie. Herausgegeben von Matthias Buschmeier und Kai Kauffmann. Berlin: Erich Schmidt Verlag, 2018, S. 29–54. (= Sonderhefte der Zeitschrift für deutsche Philologie. Band 137). – ISBN 978-3-503-18228-2.



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55. Cahen-Maurel, Laure: L’âge d’or futur. Novalis relu à partir de Schiller et de [Frans] Hemsterhuis. Le chiasme philosophique du mythe et de l’histoire dans »La Chrétienté ou l’Europe«. In: Klēsis. Revue philosophique. 2018, № 40, 32 S. – ISSN 1954-3050 (Elektronische Ressource). 56. Carvalho, André Alves de: O Clássico em Goethe e Schiller. In: Rapsódia. Almanaque de filosofía e arte (Universidade de São Paulo), 2017, № 11, S. 155– 171. – ISSN 1519-6453 (Print) / ISSN 2447-9772 (Elektronische Ressource). 57. Dupree, Mary Helen: Radical Intermediality. Goethe’s Schiller Memorials as Experimental Theater. In: The Radical Enlightenment in Germany. A Cultural Perspective. Edited by Carl Niekerk. Leiden, Boston: Brill Rodopi, 2018, S. 353–381. (= Internationale Forschungen zur Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft. 195). – ISBN 978-90-04-36219-2. 58. Durand, Isabelle: La rédemption de Caïn? Rivalités fraternelles dans chez Schiller et Hugo. In: Est-il bon? Est-il méchant? Variations sur le thème biblique des fratries. Sous la direction de Isabelle Durand et Benoît Jeanjean. Rennes: Presses Universitaires de Rennes, 2018, S. 127–142. (= Interférences). – ISBN 978-2-7535-7312-3. 59. Frank, Manfred: Schiller’s Aesthetics between Kant and Schelling. Translated by Christina M. Gschwandtner and Jeffrey L. Powell. In: Aesthetic Reason and Imaginative Freedom. Friedrich Schiller and Philosophy. Edited by María del Rosario Acosta López and Jeffrey L. Powell. Albany/NY: State University of New York Press (SUNY), 2018, S.  37–58. (= Contemporary Continental Philosophy). – ISBN 978-1-4384-7219-5. 60. Franke, Ursula: Poetische und philosophische Rede. [Alexander Gottlieb] Baumgarten und der Semiotik-Streit zwischen Schiller und Fichte. In: Dies., Baumgartens Erfindung der Ästhetik. Mit einem Anhang »Baumgartens Ästhetik im Überblick« von Nicolas Kleinschmidt. Münster/Westfalen: Mentis Verlag, 2018, S. 99–118. (= KunstPhilosophie. 12). – ISBN 978-3-95743-103-5.

Das Kapitel gliedert sich in die Abschnitte: 5.1. Die Eindeutigkeit der philosophischen Rede. – 5.2. Die Mehrdeutigkeit der poetischen Rede. – 5.3. Der poetische Ausdruck in der philosophischen Rede. – 5.4. Die philosophische und poetische Rede als Zeichen des Geistes.

61. Gennari, Mario: La ›Weimarer Klassik‹: Goethe e Schiller. In: Neuhumanismus Volume  1. Pedagogie e culture Neoumanesimo tedesco tra Settecento e Ottocento. A cura di Mario Gennari. Genova: Il Melangolo, 2018, S. 71–79. (= Filosofia della formazione. 24). – ISBN 978-88-6983-118-8.

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62. Görner, Rüdiger: ›Das Theater kann das Schiff selbst sein‹ oder: Der Schiffbruch als poetische Imagination. Überlegungen zu Goethes Meeresbild, Schillers »Seestücke«, [Samuel Taylor] Coleridges »The Ancient Manner« nebst Illustrationen von David Jones. In: Seenöte, Schiffbrüche, feindliche Wasserwelten. Ozeanische Schreibweisen der Gefährdung und des Untergangs. Herausgegeben von Hans Richard Brittnacher und Achim Küpper. Göttingen: Wallstein Verlag, 2018, S. 55–68. – ISBN 978-3-8353-3237-9. 63. Herrmann, Hans-Christian von: Staatstheater, Kriegstheater ([Pierre] Corneille, Schiller, [Carl von] Clausewitz, [Dietrich] Grabbe). In: Kriegstheater. Darstellungen von Krieg, Kampf und Schlacht in Drama und Theater seit der Antike. Herausgegeben von Michael Auer und Claude Haas unter Mitwirkung von Gwendolin Engels. Stuttgart: J. B. Metzler Verlag, 2018, S. 83–95. – ISBN 978-3-476-04647-5. 64. Hesse, Volker: Goethe, Schiller – Kreativität trotz Krankheit. In: Jahresgaben [der] Goethe Gesellschaft Bonn. 2014/15. Mit einem Geleitwort von Helmut Krumme. Bonn, Siegburg: Bernstein-Verlag Gebrüder Remmel, 2016, S. 161– 200. – ISBN 978-3-945426-43-2. Der Beitrag enthält teilweise Auszüge aus der Goethe-Schiller-Pathographie des Verfassers: Vermessene Größen. Goethe im Wandel seiner äußeren Gestalt und seiner Krankheiten. Rudolstadt, Jena 1997; vgl. auch den neueren Aufsatz »Friedrich Schiller  – Arzt und Dichter. Schöpferkraft trotz Krankheit.« Würzburg 2014 [Marbacher Schiller-Bibliographie 2014, Nr. 63]. 65. Immer, Nikolas: Mobilmachung der Musen. Ästhetische Oppositionen zwischen Friedrich Schiller und August Wilhelm Schlegel. In: Schiller und die Romantik. Herausgegeben von Helmut Hühn, Nikolas Immer und Ariane Ludwig. Weimar: Weimarer Schillerverein, 2018, S. 29–46. – ISBN 978-3-00060572-7. 66. Jobez, Romain: D’un classicisme à l’autre. Exploration du répertoire français dans l’Allemagne de Goethe et Schiller. In: Literatures Classiques. Toulouse. 35. Jg., 2018, № 1, S. 191–197. – ISSN 0992-5279. 67. Kaufmann, Ulrich: Jakob Lenz & Friedrich Schiller. Zwei Dichter des ›Kastratenjahrhunderts‹. In: Die Pforte. Veröffentlichungen des Freundeskreises Goethe-Nationalmuseum. Weimar: Freundeskreis Goethe-Nationalmuseum, Band 14, 2018, S. 131–141. 68. Matuschek, Stefan: Antirevolutionäre Sozialverhaltenstherapie. Goethe, Schiller und [Adolph Freiherr] Knigge über den politischen Wert der Höflichkeit. In: Politisch-soziale Ordnungsvorstellungen in der Deutschen Klassik.



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Herausgegeben von Walter Pauly und Klaus Ries. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 2018, S. 155–173. (= Staatsverständnisse. 119). – ISBN 978-38487-3513-6. 69. Meier, Sven: Retardationen bei Goethe und Schiller. In: Ders., Die Ilias und ihr Anfang. Zur Handlungskomposition als Kunstform bei Homer. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2018, S. 67–85. (= Studien zu Literatur und Erkenntnis. 14). – ISBN 978-3-8253-6882-1. Das Kapitel gliedert sich in die Abschnitte: Die epische Dichtart im Briefwechsel von 1797. – Goethe und die historische Kritik. – Gattungen: Das Fehlen des Gegenstandes. – Schillers Rückgriff auf Kant. 70. Napoli, Santiago Juan: El ideal politico a travès de los siglos. Schiller y [Gerald] Cohen en torno a la fraternidad y la revolución sentimiento. In: Daimon. Revista Internacional de Filosofía (Universidad de Murcia), 2018, Suplemento № 7, S. 75–89. – ISSN 0955-9930. 71. Nilges, Yvonne: Schiller, Rousseau, and the Aesthetic Education of Man. In: Aesthetic Reason and Imaginative Freedom. Friedrich Schiller and Philosophy. Edited by María del Rosario Acosta López and Jeffrey L. Powell. Albany/ NY: State University of New York Press (SUNY), 2018, S. 11–21. (= Contemporary Continental Philosophy). – ISBN 978-1-4384-7219-5. 72. Oellers, Norbert: Goethe und Schiller. Zwei Freunde und andere Zeitgenossen. 1774–1805. In: Oellers, Norbert / Steegers, Robert: Weimar. Literatur und Leben zur Zeit Goethes. Stuttgart: Verlag Philipp Reclam jun., 2., verbesserte Auflage 2016, S.  124–191. (= Reclam Taschenbuch. 20467).  – ISBN 978-3-15020467-2. Die 1. Auflage ist 1999 unter dem Titel »Treffpunkt Weimar« erschienen [Schiller-Bibliographie 1999, Nr.  103].  – Neuausgabe: Stuttgart 2009 [Marbacher Schiller-Bibliographie 2009, Nr. 230]. – Siehe auch eine polnische Übersetzung: Poznań 2004 [Marbacher Schiller-Bibliographie 2006, Nr.  82; Titelaufnahme dort teilweise fehlerhaft]. 73. Pahnke, Gabi: Scheitern am Vorbild. Schillers unantastbare Würde. In: Dies., Spaziergang durchs papierne Jahrhundert. Das Netzwerk von Johann Gottfried Seume (1763–1810). Berlin: Wolff Verlag Robert Eberhardt, 2018, S. 466– 479. – ISBN 978-3-941461-24-6. 74. Pivetta, Carola: Crimen, ley y moral en la prosa breve de F. Schiller, A[ugust] G[ottlieb] Meißner y el Marqués de Sade. In: Philologie im Netz. Berlin. 2018, № 84, S. 19–32. – ISSN 1433-7177 (Online-Ressource).

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75. Râmbu, Nicolae: The axiological memory in Immanuel Kant’s, Friedrich Schiller’s and Arthur Schopenhauer’s view. In: Ders., The Axiological Memory. Berlin, Bern, Wien: Peter Lang Verlag, 2018, S. 29–40. – ISBN 978-3631-74456-7. 76. Schaller, Johannes Philipp: Die Freiheit im Spiegel der Natur. Kant, Schiller, Dostojewski. In: Natur und Freiheit. Akten des XII.  Internationalen KantKongresses. Herausgegeben von Violetta L. Waibel, Margit Ruffing und David Wagner unter Mitarbeit von Sophie Gerber. Berlin, Boston: Verlag Walter de Gruyter, 2018, Band 5, S. 3331-3342. – ISBN 978-3-11-046788-8. 77. Schaper, Rüdiger: Bergbau und Höhenflüge. Seltsame Begegnungen und Gespräche im Kreis von Goethe und Schiller. In: Ders., Alexander von Humboldt. Der Preuße und die neuen Welten. München: Siedler Verlag, 2018, S. 48–61. – ISBN 978-3-8275-0074-8. 78. Schmid, F. Carlo: Johann Christian Reinhart [1761–1847] und Friedrich Schiller. Skizze einer Freundschaft. In: Ich danke Ihnen für Ihr Andenken. Idee und Alltag in Friedrich Schillers Rudolstädter Umfeld. Redaktion: Daniela Danz, Jeanette Lauterbach und Lutz Unbehaun. Rudolstadt: Thüringer Landesmuseum Heidecksburg, 2018, S. 97–104. – ISBN 978-3-947272-08-2. 79. Selg, Peter: Novalis und Friedrich Schiller. In: Ders., Die Mysterien der Zukunft. Vom Lebenswerk Sergej O. Prokofieffs. Arlesheim: Verlag des Ita Wegman Instituts, 2018, S. 129–178. – ISBN 978-3-906947-07-5. 80. Stahl, Michael: ›weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert.‹ Friedrich von Schillers und Wilhelm von Humboldts Programm der Erneuerung durch ästhetische Bildung. In: Ders., Das Schöne und die Politik. Für eine andere Moderne. Dresden: Verlag Text & Dialog, 2018, S. 23–34. – ISBN 978-3-943897-40-1. 81. Stašková, Alice: Friedrich Schiller und die Popularität des Vortrags. Eine erneute Lektüre seiner Auseinandersetzung mit Johann Gottlieb Fichte. In: Schiller und die Romantik. Herausgegeben von Helmut Hühn, Nikolas Immer und Ariane Ludwig. Weimar: Weimarer Schillerverein, 2018, S. 11–27. – ISBN 978-3-00-060572-7. 82. Tölzer, Marius: ›Wissen sie nicht […] uns irgendein Märchen zu erzählen?‹ Betrachtungen zur Struktur von Goethes »Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten« hinsichtlich Schillers Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Stuttgart, Halle. 92. Jg., 2018, Heft 1, S. 15–30. – ISSN 0012-0936.



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83. Vieira, Vladimir: Schiller, Kant e Hölderlin entre a poesia e a filosofia. In: Viso. Cadernos de estética aplicada (Universidade Federal Fluminense), 12. Jg., 2018, № 23, S. 144–153. – ISSN 1981-4062 (Elektronische Ressource). 84. Wellbery, David E.: Schiller, Schopenhauer, Fried. In: Michael Fried and Philosophy. Modernism, Intention, and Theatricality. Edited by Matthew Abbott. New York: Routledge, Taylor & Francis Group, 2018, S. 64–86. (= Routledge Research in Aesthetics. 1). – ISBN 978-1-138-67980-1.

5.3. Die Familie Schiller: Genealogie, Generationen und Verwandtschaften 85. Dietrick, Linda: Two Gifts from Goethe. Charlotte von Stein’s and Charlotte Schiller’s Writing Tables. In: Goethe Yearbook. Publications of the Goethe Society of North America. Edited by Adrian Daub and Elisabeth Krimmer. Columbia, SC (Camden House), Band  25 (2018), S.  203–216.  – ISBN 978-164014-003-5. 86. Meise, Helga: ›Marthasgeschäfte‹ und die ›rechte Lust […] zu schreiben.‹ Charlotte von Steins Briefe an Charlotte von Schiller. 1785–1825. In: Charlotte von Stein. Schriftstellerin, Freundin und Mentorin. Herausgegeben von Elke Richter und Alexander Rosenbaum. Berlin, Boston: Verlag Walter de Gruyter, 2018, S. 177–198. (= Propyläen. Forschungsplattform zu Goethes Biographica: Supplement 1). – ISBN 978-3-11-053772-7. 87. Schiller, Charlotte: Literarische Schriften. Herausgegeben und kommentiert von Gaby Pailer, Andrea Dahlmann-Resing u.  a. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2016 [Marbacher Schiller-Bibliographie 2016, Nr. 111]. Rezensionen von Daniele Vecchiato in: Das achtzehnte Jahrhundert. Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts. Wolfenbüttel. 42. Jh., 2018, Heft 1, S. 144–145. – ISSN 0722-740X. – Anett Kollmann: Schillers andere Hälfte. In: Literaturkritik.de. Rezensionsforum für Literatur und Kulturwissenschaften. Marburg. 2018, Heft 4, S. 235–237. – ISSN 1437- 9317. – Ulrike Leuschner in: Lichtenberg-Jahrbuch. 2016. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2018, S. 245–250. – ISSN 0936-4242. 88. Zinn, Laura: Aus dem Schatten eines Klassikers  – Charlotte Schillers literarisches Werk. In: Im Archiv der vergessenen Bücher. Herausgegeben von Corinna Dziudzia, Alexandra Müller und Annette Simonis. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2018, S.  57–80. (= Beiträge zur Literaturtheorie und Wissenspoetik. 13). – ISBN 978-3-8253-6951-4.

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6. Intellektuelle Vernetzungen 6.1. Geschichte – Kulturkritik – Politik – Weltanschauung 89. Acosta Lopez, María del Rosario: The Violence of Reason. Schiller and Hegel on the French Revolution. In: Aesthetic Reason and Imaginative Freedom. Friedrich Schiller and Philosophy. Edited by María del Rosario Acosta López and Jeffrey L. Powell. Albany/NY: State University of New York Press (SUNY), 2018, S. 59–82. (= Contemporary Continental Philosophy). – ISBN 978-1-43847219-5. Der Beitrag gliedert sich in die Abschnitte: Preliminary Remarks: A Vindication of Modern Reason.  – Toward an Understanding of the Historical Present: A Renewal of Philosophical Critique. – From the French Revolution to the Reign of Terror: The Violence Inherent to the Revolutionary Project.  – Rousseau’s Enlightened Step. – Criticism of the Theoretical Attitude: The Risks Implicit in the Theory. – From Action to Terror: The Curse of the Revolution. – Notes. 90. Hölscher, Lucian: Die Zeit des Historikers. Friedrich Schillers Konzept einer perspektivischen Geschichtsschreibung. In: Schillers Zeitbegriffe. Herausgegeben von Helmut Hühn, Dirk Oschmann und Peter Schnyder. Hannover: Wehrhahn Verlag, 2018, S. 249–263. (= Ästhetische Eigenzeiten. 12). – ISBN 978-3-86525-662-1. Der Beitrag gliedert sich in die Abschnitte: Der doppelte Zeitbegriff der Geschichtsschreibung. – Die Vermessung der Welt. – Schillers perspektivische Konzeption der Weltgeschichte. – ›Vergangenheit‹, ›Gegenwart‹ und ›Zukunft‹. – Historische Zeitpanoramen. – Die Zuordnung der historischen Zeiten. 91. Jakovljević, Alexander: Schillers Geschichtsdenken. Die Unbegreiflichkeit der Weltgeschichte. Berlin 2015 [Marbacher Schiller-Bibliographie 2015, Nr. 100]. Rezensionen von Asko Nivala in: Goethe Yearbook. Publications of the Goethe Society of North America. Columbia, SC. Band  25 (2018), S.  324–325.  – ISBN 978-1-64014-003-5. – Markus Hien in: Arbitrium. Zeitschrift für Rezensionen zur germanistischen Literaturwissenschaft. Berlin. 36. Jg., 2018, Heft 1, S. 65–68. – ISSN 0723-2977. 92. Kimura, Naoji: Schiller als Historiker. In: Ders., Spiegelbild der Kulturen. Philologische Wanderjahre eines japanischen Germanisten. Bern, Berlin u.  a.: Verlag Peter Lang, 2018, S.  468–482. (=  Deutsch-ostasiatische Studien zur interkulturellen Literaturwissenschaft. 9). – ISBN 978-3-0343-3260-6.



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93. Sautermeister, Gert: ›Friedrich Schiller und die Politik‹. Zum historisch-gesellschaftlichen Ort und zur literarisch-politischen Aktualität von Walter MüllerSeidel. In: Literaturkritik.de. Rezensionsforum für Literatur und Kulturwissenschaften. Marburg. 20. Jg., 2018, Heft 7, S. 119–138. – ISSN 1437-9309. Die umfangreiche Monographie des Germanisten Walter Müller-Seidel (1918– 2010) ist 2009 im Münchener Beck Verlag erschienen [Marbacher SchillerBibliographie 2009, Nr. 269]. 94. Weihe, Anne C.: Schiller über das Spielen als Modus eines konfliktlösenden politischen Handelns. In: Dies., Politisches Spielen. Grundlegungen für eine Theorie politischer Handlungskreativität. Freiburg im Breisgau, München: Verlag Karl Alber, 2018, S. 201–230. – ISBN 978-3-495-48952-9. Das Kapitel gliedert sich in die Abschnitte: Begrenztheit der Vernunft als Quelle politischen Handelns.  – Der Spieltrieb als Partner politischer Vernunft.  – Spielen als Modus politisch-ästhetischen Handelns: Zwei Ausprägungen, ein Ziel. – Mit der Schönheit nur spielen als ein Prinzip politischer Inklusion oder: Spielend entfalteter politischer Handlungssinn 1. – Ein integrativer Denkweg – doch in Konflikt-Umgebung.

6.2. Philosophie, Ästhetik, Anthropologie, Bildung und Erziehung (auch zur Auseinandersetzung mit der Philosophie Kants) 95. Amoroso, Leonardo: Kant, Schiller und die schöne Seele. In: Natur und Freiheit. Akten des XII.  Internationalen Kant-Kongresses. Herausgegeben von Violetta L. Waibel, Margit Ruffing und David Wagner unter Mitarbeit von Sophie Gerber. Berlin, Boston: Verlag Walter de Gruyter, 2018, Band 5, S. 3263–3270. – ISBN 978-3-11-046788-8. 96. Barba-Kay, Antón: The Aesthetics of Agency in Kant and Schiller. In: Idealistic Studies. An Interdisciplinary Journal of Philosophy. Charlottesville/ Virginia. 46. Jg., 2016, Heft 3, S. 259–275. – ISSN 0046-8541. 97. Barbosa, Ricardo: Educação moral ou educação estética? Sobre Schiller e Fichte. In: Pensando. Revista de Filosofia (Universidade Federal do Piauí), 8. Jg., 2017, № 16, S. 51–79. – ISSN 2178-843X (Elektronische Ressource).

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98. Bartl-Schmechel, Carmen: Der Übergang von der Physiologie zur Ästhetik bei Schiller. In: Übergänge. Perspektivierungen aus Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft und Philosophie. Herausgegeben von Sage Anderson, Sebastian Edinger, Jakob Christoph Heller und Emanuel John. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann, 2017, S.  271–295. (= Konnex: Studien im Schnittbereich von Literatur, Kultur und Natur. 17). – ISBN 978-3-82605865-3. 99. Beiser, Frederick: Schiller and Pessimism. In: Aesthetic Reason and Imaginative Freedom. Friedrich Schiller and Philosophy. Edited by María del Rosario Acosta López and Jeffrey L. Powell. Albany/NY: State University of New York Press (SUNY), 2018, S. 83–97. (= Contemporary Continental Philosophy). – ISBN 978-1-4384-7219-5. Der Beitrag gliedert sich in die Abschnitte: Schiller a Pessimist? – Schopenhauer’s Theory of Tragedy. – An Ex-Optimist. – Freedom and Death. – Idealism versus Pessimism. 100. Bennett, Christopher: Grace, Freedom, and the Expression of Emotion. Schiller and the Critique of Kant. In: Thinking about the Emotions. A Philosophical History. Edited by Alix Cohen and Robert Stern. Oxford, New York: Oxford University Press, 2017, S. 184–205. (= Mind Association Occasional Series). – ISBN 978-0-19-876685-8. 101. Bönsch, Kerstin: Zur historischen Entwicklung des Konzepts der ›schönen Seele‹. Friedrich Schiller. In: Dies., Schöne Seelen  – schöne Leichen. Das Konzept der ›schönen Seele‹ bei Sophie von La Roche. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann, 2018, S. 38–44. (= Epistemata: Reihe Literaturwissenschaft. 901). – ISBN 978-3-8260-6535-4. 102. Bundangandu Tekilazaya, Achille: Schillers Bildungsbegriff. Ästhetisierung und Bildung zur Freiheit. In: Ders., Hegels »Philosophie des Rechts« als Idee geordneter Freiheit. Eine Herausforderung für Afrika? München: Herbert Utz Verlag, 2018, S. 372–388. (= Münchner philosophische Beiträge. 31). – ISBN 978-3-8316-4731-6. Das Kapitel gliedert sich in die Abschnitte: Der Mensch bei Schiller. – Gemeinschaft und Gesellschaft bei Schiller. – Staat und/oder Nation bei Schiller. 103. Caldas, Pedro Spinola Pereira: A filosofía da história universal de Friedrich Schiller. Uma introdução. In: Cadernos de História (Pontificia Universidade Católica de Minas Gerais), 19. Jg., 2018, № 30, S. 296–305. – ISSN 1679-5636 (Print) / ISSN 2237-8871 (Elektronische Ressource).



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104. Ciordia, Martin José: La Poética de Aristoteles y su relectura en textos de [Alonso] López Pinciano y Schiller. In: El Hilo de la Fabula (Universidad Nacional del Litoral, Santa Fe, Argentinia), 2018, № 18 (16), S. 135–146. – ISSN 1667-7900 / ISSN 2362-5651 (Elektronische Ressource). 105. Digiorgio, Alessandro: Schiller e il classicismo. Il bello, l’arte e l’educazione. Milano: Hachette, 2016, 144 S. (= Scoprire la filosofia. 64). Dieser Titel konnte bis Redaktionsschluss der Bibliographie in deutschsprachigen Bibliotheksverbünden nicht nachgewiesen werden; die Angaben wurden aus digitalen italienischen Quellen übernommen. 106. Dischner, Gisela: Schönheit ist Freiheit in Erscheinung. Zu Schillers ästhetischer Anthropologie. In: Schönheit ist Freiheit. Texte zum 5. Festival der Philosophie Hannover 2016. Herausgegeben von Peter Nickl und Assunta Verrone. Berlin, Münster: LIT Verlag, 2018, S.  17–30. (= Philosophie: Forschung und Wissenschaft. 49). – ISBN 978-3-643-14020-3). 107. Emmerling, Leonhard: Das Erhabene – Kant und Schiller. In: Ders., Kunst der Entzweiung. Zur Machtlosigkeit von Kunst. Wien, Berlin: Verlag Turia + Kant, 2017, S. 40–57. – ISBN 978-3-85132-860-8. 108. Ensberg, Peter: Form und Materie. Schillers verfehlte Moderne. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann, 2018, 272 S. – ISBN 978-3-8260-6557-6. Inhalt: Einleitung (S.  11–15).  – I. Ästhetische und empirische Form (S. 17–35). – II. Der Form-Begriff in der Schiller-Forschung: Methodologische Voraussetzungen (S. 37–58). – III. Form / Materie im Kontext von Anschauung (Goethe) und Begriff (Schiller) (S. 59–72). – IV. Schillers systematischer Ansatz und Kant-Rezeption (S. 73–98). – Exkurs 1: Schiller, Transzendentalphilosoph oder Anthropologe (S. 99–108). – V. Das formale Wesen der Vernunft (S. 109–126). – VI. Der Begriff der menschlichen Natur (S. 127–145). – Exkurs  2: Schillers Autonomie-Begriff und das ›Zugleich‹ von Vernunft und Natur (S.  147–154).  – VII. Eine doppelte Erfahrung: Empfinden und  /  oder Denken? 1. Praktische Theorie, theoretische Praxis? – 2. Die Wirklichkeit von Denken und Empfinden: Spontanes Innen und passives Außen? – 3. Der Ernst des Spiels: die ›Juno Ludovisi.  – 4. Die strenge Architektur des anmutigen Geistes (S.  155–206).  – VIII. Kalkulierte Humanität: Schiller und die Naturwissenschaften (S.  207–227).  – Exkurs  3: ›Sabotaging Schiller‹: Ästhetische Erziehung im Zeitalter der Globalisierung (Spivak, de Man) (S.  229–234).  – IX. Die reine Kindheit als Ausdruck wahrer Humanität? Über das Naive in der Moderne (S. 235–252). – Exkurs 4: Friedrich Schiller ein glaubwürdiger Kronzeuge? Emil Staiger und das Schöne in der Moderne: der Zürcher Literaturstreit 1966 (S. 253–261). – Literatur (S. 263–272).

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109. Feldhaus, Charles: Kant, Schiller, Obligation and Chimerical Ethics. In: Kant und seine Kritiker  /  Kant and his Critics (Multilaterales Kant-Kolloquium, 7, 2017, Halle). Herausgegeben von Antonino Falduto und Heiner F. Klemme. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms Verlag, 2018, S. 75–82. (= Studien und Materialien zur Geschichte der Philosophie. 94). – ISBN 9783-487-15732-0. 110. Friedauer, Denise: Gefühl und Empfindung. Über ihre Bedeutung für ästhetische Bildung im Kontext von Schillers Theorie. In: Bildung und Emotion. Herausgegeben von Matthias Huber und Sabine Krause. Wiesbaden: Springer Verlag, 2018, S. 59–74. – ISBN 978-3-658-18588-6. 111. Hühn, Helmut: Freiheit und Zeit. Zur Temporalität des Schönen und Erhabenen. In: Schillers Zeitbegriffe. Herausgegeben von Helmut Hühn, Dirk Oschmann und Peter Schnyder. Hannover: Wehrhahn Verlag, 2018, S. 325– 344. (= Ästhetische Eigenzeiten. 12). – ISBN 978-3-86525-662-1. Der Beitrag gliedert sich in die Abschnitte: 1. Leerlaufende Sukzession. Zur reflexiven Vergewisserung der Moderne und ihrer Zeitlichkeit. – 2. Die Schönheit als ›zweite Schöpferin‹ des Menschen. – 3. Erhabenheit und Freiheit. – 4. Ästhetische Eigenzeiten: die Zeitcharaktere des Schönen und des Erhabenen. 112. Knappik, Franz: Hegels melancholische Ästhetik und Schillers politische Eschatologie. In: Objektiver und absoluter Geist nach Hegel. Kunst, Religion und Philosophie innerhalb und außerhalb von Gesellschaft und Geschichte. Herausgegeben von Thomas Oehl und Arthur Kok. Leiden: Koninklijke Brill NV, 2018, S. 504–528. (= Critical Studies in German Idealism. 21). – ISBN 97890-04-36317-5. 113. Kuhn, Kristina: Kunstordnung und Geschmacksanthropologie. Attributive Verfahren: Anmutige Darstellung (Schiller). In: Dies., Subtexte der Menschheitsgeschichte. Zur Literarisierung von Geschichtsphilosophie bei Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder und Christoph Martin Wieland. Bielefeld: Transcript Verlag, 2018, S. 227–237. – ISBN 978-3-8376-4299-5. 114. Lehmann, Johannes F.: Die Zeit der ›Gegenwart‹ bei Schiller. In: Schillers Zeitbegriffe. Herausgegeben von Helmut Hühn, Dirk Oschmann und Peter Schnyder. Hannover: Wehrhahn Verlag, 2018, S.  287–303. (=  Ästhetische Eigenzeiten. 12). – ISBN 978-3-86525-662-1. Der Beitrag gliedert sich in die Abschnitte: 1. Gegenwart und Selbstgefühl. – 2. Historische Gegenwart. 115. Luserke-Jaqui, Matthias: Schiller, Kant und das Problem der Katharsis. In: Ders., Schiller-Studien. Der ganze Mensch und die Ästhetik der Freiheit.





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Tübingen: Narr Francke Attempto, 2018, S. 217–234. – ISBN 978-3-7720-86519. Überarbeitete Fassung. Erstveröffentlichung unter dem Titel: Leidenschaften ad usum logicorum. Ketten, Krebs und Sklavensinn (Schiller und Kant). In: Ders., Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung. Stuttgart 1995.

116. Luserke-Jaqui, Matthias: Von der Ästhetik Schillers zur Metaphysik des Schönen bei Schopenhauer. In: Ders., Schiller-Studien. Der ganze Mensch und die Ästhetik der Freiheit. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2018, S. 235–248. – ISBN 978-3-7720-8651-9. Überarbeitete Fassung. Erstveröffentlichung unter dem Titel: Die Suche nach dem objektiven Begriff des Schönen […]. In: Zeitschrift für Germanistik. 1994, Heft 1. 117. Macor, Laura Anna: Schiller ohne Kant. Die Krise der Liebe als Moralprinzip des Kritizismus. In: Natur und Freiheit. Akten des XII. Internationalen KantKongresses. Herausgegeben von Violetta L. Waibel, Margit Ruffing und David Wagner unter Mitarbeit von Sophie Gerber. Berlin, Boston: Verlag Walter de Gruyter, 2018, Band 5, S. 3305–3312. – ISBN 978-3-11-046788-8. 118. Macor, Laura Anna: Schiller on Emotions. Problems of (In)Consistency in his Ethics. In: Aesthetic Reason and Imaginative Freedom. Friedrich Schiller and Philosophy. Edited by María del Rosario Acosta López and Jeffrey L. Powell. Albany/NY: State University of New York Press (SUNY), 2018, S. 23–36. (= Contemporary Continental Philosophy). – ISBN 978-1-4384-72195. Der Beitrag gliedert sich in die Abschnitte: Introduction. – The Limitations of Emotions. – The Usefulness of Emotions. – A Kantian Excursus. – Conclusion. 119. Moland, Lydia L.: Conjectural Truths. Kant and Schiller on Educating Humanity. In: Kant and his Contemporaries. Volume 2: Aesthetics, History, Politics, and Religion. Edited by Daniel O. Dahlstrom. Cambridge, New York u.  a.: Cambridge University Press, 2018, S. 91–108. – ISBN 978-1-107-17816-8. 120. Noller, Jörg: Autonomie oder Heautonomie? Kant und Schiller über Freiheit als moralische Selbstbestimmung. In: Natur und Freiheit. Akten des XII.  Internationalen Kant-Kongresses. Herausgegeben von Violetta L. Waibel, Margit Ruffing und David Wagner unter Mitarbeit von Sophie Gerber. Berlin, Boston: Verlag Walter de Gruyter, 2018, Band 5, S. 3313–3320. – ISBN 978-3-11-046788-8.

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121. Plato, Levno von: Schiller. Grace and Dignity as the Aesthetic Expressions of Executed Moral Duty in Accordance with Inclination and Contrary to Inclination, Respectively. In: Ders., The Aesthetic Expression of Moral Character. Moral Beauty in the Eighteenth Century. Münster: Mentis Verlag, 2018, S. 155–202. – ISBN 978-3-95743-106-6. Das Kapitel gliedert sich in die Abschnitte: 6.1. Introduction.  – 6.2. Kant and Schiller on the Role of Sentiments or Inclinations for Moral Virtue.  – 6.3. Schiller on the Relation between Moral Beauty and Moral Virtue: the Analogy between Aesthetic Freedom and Moral Freedom.  – 6.3.1. Schiller’s Theory of Beauty: Freedom in Appearance. – 6.3.2. Schiller’s Moral Theory: The Appearance of Moral Freedom as Grace and Dignity. – 6.3.3. The Analogy between Aesthetic Freedom and Moral Freedom. – 6.4. Schiller on the Relationship between Mental and Physical Beauty: Grace and Dignity as the Aesthetic Expression of Moral Character. – 6.5. Conclusion. 122. Powell, Jeffrey L.: Kant, Schiller, and Aesthetic Transformation. In: Aesthetic Reason and Imaginative Freedom. Friedrich Schiller and Philosophy. Edited by María del Rosario Acosta López and Jeffrey L. Powell. Albany/NY: State University of New York Press (SUNY), 2018, S. 153–173. (= Contemporary Continental Philosophy). – ISBN 978-1-4384-7219-5. 123. Rancière, Jacques: Schiller and the Aesthetic Promise. Translated by Owen Glyn-Williams. In: Aesthetic Reason and Imaginative Freedom. Friedrich Schiller and Philosophy. Edited by María del Rosario Acosta López and Jeffrey L. Powell. Albany/NY: State University of New York Press (SUNY), 2018, S. 123–136. (= Contemporary Continental Philosophy). – ISBN 978-14384-7219-5. 124. Riveros Barrios, Juan: Schiller y la ›politica‹ singular del estado estético. In: Revista de Teoría del Arte (Santiago: Universidad de Chile), 2017, № 31/32, S. 2–27. – ISSN 0719-7276 (Elektronische Ressource). 125. Silva, Carina Zanelato: Sobre graça, dignidade e beleza em Friedrich Schiller e Heinrich von Kleist. Belo Horizonte: Relicário Editora, 2018, 220 S. – ISBN 978-85-66786-75-0. Dieser Titel konnte bis Redaktionsschluss der Bibliographie nicht autopsiert werden. 126. Soetebeer, Jörg: Ästhetische Bildung als Spezifikation des Bildungsbegriffs: Schiller als Beispiel. In: Ders., Umbildende Erfahrung. Goethes Begriff von Selbstbildung. Köln, Weimar, Berlin: Böhlau Verlag, 2018, S. 102–112. – ISBN 978-3-412-51142-5.



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127. Spoerhase, Carlos: Skalierungen: Schiller. In: Ders., Das Format der Literatur. Praktiken materieller Textualität zwischen 1740 und 1830. Göttingen: Wallstein Verlag, 2018, S. 625–676. – ISBN 978-3-8353-3103-7. Das Kapitel gliedert sich in die Abschnitte: 1. Probleme einer Poetik des Umfangs. – 2. Buchformat und Bühnenformat. – 3. Maßstäbe und Maßstabslosigkeit. – 4. Polyskalare Poetik und Philologie des Formats. 128. Vetter, Patrick: Das Wesen der Schönheit. Zur Transzendentalität von Bildung und Freiheit in Friedrich Schillers ästhetischer Erziehung. Mit einem Geleitwort von Rudolf Lüthe. Berlin, Münster: LIT Verlag, 2018, XII, 252 S. (= Philosophie und Lebenskunst. 9). – ISBN 978-3-643-13908-5. Inhalt (Auszug): Vorwort (S. XI–XII). – 1. Einleitung. Ästhetik und Humanität. – 1.1. Zur Problematik. – 1.1.1. Den Menschen denken (S. 13–17). – 1.1.2. Programm und Thesen (S.  17–22).  – 1.2. Zur Methode.  – 1.2.1. Die transzendentale Analyse (S.  22–24).  – 1.2.2. Die Unzulänglichkeit der Erfahrung (S.  24–26).  – 1.3. Zur Systematik und zum Verlauf.  – 1.3.1. Pädagogik und Bildungsphilosophie (S.  27–30).  – 1.3.2. Anthropologie als Grundlage der Pädagogik (S. 30–36). – 1.3.3. Die Fraglichkeit der Bildung (S. 37–38). – 1.3.4. Zum Verlauf (S. 38–40). – 2. Die Paraphrasierung der ästhetischen Briefe. – 2.1. Das duale Wesen des wirklichen Menschen. – 2.1.1. Schillers medizinische Methode (S.  41–42).  – 2.1.2. Anamnese. Der Ausgangspunkt anthropologischen Denkens (S. 42–49). – 2.1.3. Vorbereitung der Diagnose. Staatsphilosophie und Menschenbild (S. 50–55). – 2.1.4. Diagnose. Die Kritik des Zeitalters (S. 55–64). – 2.1.5. Therapie. Ästhetische Erziehung als Ausweg (S. 64–72). – 2.2. Das duale Wesen des reinen Menschen.  – 2.2.1. Schillers transzendentale Methode (S.  72–74).  – 2.2.2.  Der reine Vernunftbegriff des Menschen (S. 74–86). – 2.2.3. Ästhetische Bildung als Bildung überhaupt (S. 86–105). – 2.2.4. Die Frage nach der Freiheit als Frage der Bildung (S. 106–119). – 2.2.5. Epigenese des Ästhetischen (S.  120–125).  – 2.2.6. Ästhetische Kultur und ästhetischer Schein (S.  125–132).  – 2.3. Exkurs: Das Erhabene als Desiderat ästhetischer Erziehung (S.  132–133).  – 2.3.1. Die Analytik des Erhabenen (S. 133–139). – 2.3.2. Ueber das Erhabene (S. 140–148). – 3. Die Explikation der ästhetischen Briefe. – 3.1. Bildungsdenken (S. 149–151). – 3.1.1. Die Transzendentalität der Bildung (S. 151–161). – 3.1.2. Die Temporalität der Bildung (S.  161–184).  – 3.2. Freiheitsdenken (S.  184–186).  – 3.2.1. Freiheit als Autonomie des Willens (S. 186–194). – Freiheit als Freiheit des Willens (S. 195– 205). – 3.3. Erziehungsdenken. – 3.3.1. Ästhetische Erziehung als Bedingung der Möglichkeit von Bildung (S.  205–211).  – 3.3.2. Praktizität der Erziehung (S.  211–218).  – 4. Der Beschluss der ästhetischen Briefe.  – 4.1. Thesen und Antworten (S.  219–222).  – 4.2. Widersprüche und Probleme (S.  222–226).  –

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4.3. Kritik und Rechtfertigung (S. 226–231). – 4.4. Pädagogisches Denken und ästhetische Anthropologie (S. 231–239). – Literaturverzeichnis (S. 242–252). 129. Weber, Philipp: Weniger als Zeit. Friedrich Schillers Konzeption der Ewigkeit. In: Schillers Zeitbegriffe. Herausgegeben von Helmut Hühn, Dirk Oschmann und Peter Schnyder. Hannover: Wehrhahn Verlag, 2018, S. 305–323. (= Ästhetische Eigenzeiten. 12). – ISBN 978-3-86525-662-1. Der Beitrag gliedert sich in die Abschnitte: 1. Die strukturelle Zeitlichkeit des Ich. – 2. ›Null‹ und Negation – der ›ästhetische Zustand‹. – 3. Der Zustand der Selbstlosigkeit. 130. Wihstutz, Benjamin: Schiller’s Transformative Aesthetics. In: Transformative Aesthetics. Edited by Erika Fischer-Lichte and Benjamin Wihstutz. London, New York: Routledge, 2018, S. 110–128. (= Routledge Advances in Theatre & Performance Studies). – ISBN 978-1-138-05717-3. 131. Zimmermann, Andreas: ›[…] weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert‹ – Schillers Projekt der ästhetischen Erziehung als Grundlage einer humanen Gesellschaft. In: Emotionale Bildung. Die vergessene Seite der Bildungsdebatte. Herausgegeben von Gabriele Sigg und Andreas Zimmermann. Hamburg: Verlag Kovač, 2018, S. 49–70. (= Schriftenreihe EUB: Erziehung – Unterricht – Bildung. 183). – ISBN 978-3-83009595-8.

6.3. Literatur, Sprache, Poetologie, Kunst und Theater 132. Dahlstrom, Daniel: Naïve and Sentimental Character. Schiller’s Poetic Phenomenology. In: Aesthetic Reason and Imaginative Freedom. Friedrich Schiller and Philosophy. Edited by María del Rosario Acosta López and Jeffrey L. Powell. Albany/NY: State University of New York Press (SUNY), 2018, S.  101–121. (= Contemporary Continental Philosophy).  – ISBN 978-14384-7219-5. Der Beitrag gliedert sich in die Abschnitte: Nature over Art: The Moral Pleasure of Naïve Poetry.  – Nature Superseding Itself through Art: The Moral Longing of Sentimental Poetry. – Schiller’s Poetic Phenomenology. – Notes. 133. Grüne, Matthias: Stillstehende Handlungen. Schillers erzähltheoretische Reflexionen über den Zusammenhang von Zeitordnung und Handlungsstruktur. In: Schillers Zeitbegriffe. Herausgegeben von Helmut Hühn, Dirk Oschmann und Peter Schnyder. Hannover: Wehrhahn Verlag, 2018, S. 211– 228. (= Ästhetische Eigenzeiten. 12). – ISBN 978-3-86525-662-1.





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Der Beitrag gliedert sich in die Abschnitte: 1. Erzählung und Zeit in der Erzähltheorie der Spätaufklärung. – 2. Schillers Theorie der epischen Handlung. – 3. »Wallenstein« als Geschichtsepos.

134. Lipczuk, Ryszard: 100 geflügelte Worte von Goethe und Schiller mit kurzen Bemerkungen zu ihrer Herkunft. – Goethe und Schiller: Untersuchung der Wörterbücher (Duden, Pons, PWN). In: Ders., Geflügelte Worte in Wörterbüchern. Eine Untersuchung zur deutschen und deutsch-polnischen Lexikografie. Unter Mitarbeit von Katarzyna Sztandarska. Hamburg: Verlag Kovač, 2018, S. 73–100. (= Stettiner Beiträge zur Sprachwissenschaft. 10). – ISBN 978-3-8300-9980-2. 135. Michałowicz, Monika: ›Die schöne Seele in der Schattenwelt‹. Fryderyka Schillera wizja artysty. In: Kultura wizualna. Niemiec 1768–1945. Sprzeciw i fascynaja – dzieje recepcji. Pod redakcją Jacka Jaźwierskiego, Ryszarda Kasperowicza, Marcina Pastwy. Lublin: Wydawnictwo KUL (Katolicki Universytet Lubelski Jana Pawła II), 2017, S. 61–72. – ISBN 978-83-8061-543-4. 136. Roßbach, Nikola: Virtuose Verspätungen. Literarische (Un)Zeiten bei Schiller. In: Lenz-Jahrbuch. Literatur, Kultur, Medien. 1750–1800. Herausgegeben von Nikola Roßbach, Ariane Martin und Georg Michael Schulz. Band  24 (2017). St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag, 2018, S. 159–174. – ISBN 978-386110-720-0. 137. Schnyder, Peter: Schillers Pausen. In: Schillers Zeitbegriffe. Herausgegeben von Helmut Hühn, Dirk Oschmann und Peter Schnyder. Hannover: Wehrhahn Verlag, 2018, S. 171–194. (= Ästhetische Eigenzeiten. 12). – ISBN 978-386525-662-1.

6.4. Musik und Tanz Keine Nachweise im laufenden Berichtsjahr

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6.5. Bibel, Religion(en), Theologie 138. Noller, Jörg: Mysterien der Aufklärung. Zur politisch-philosophischen Be­ deu­tung des Judentums bei Karl Leonhard Reinhold und Friedrich Schiller. In: Der Begriff des Judentums in der klassischen deutschen Philosophie. Herausgegeben von Amit Kravitz und Jörg Noller. Tübingen: Mohr Siebeck, 2018, S. 59–74. (= Religion in Philosophy and Theology. 98). – ISBN 978-3-16155419-3.

6.6. Naturwissenschaften, Medizin, Recht(sgeschichte) und Kriminologie Keine Nachweise im laufenden Berichtsjahr

6.7. Griechische und römische Antike Keine Nachweise im laufenden Berichtsjahr

7. Schillers literarische Werke und theoretische Schriften 7.1. Allgemeine gattungsübergreifende Darstellungen 139. Benn, Sheila Margaret: Pre-Romantic Attitude to Landscape in the Writings of Friedrich Schiller. Berlin, Boston: Verlag Walter de Gruyter, 2018, 242 S. (= Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker. Neue Folge. 99 ). – ISBN 978-3-11-012825-3 / ISBN 9783-11-179293-4 (Elektronische Ressource). Reprint der Ausgabe von 1991[Schiller-Bibliographie 1991–1994, Nr.  248; dort nur formale Titelaufnahme ohne thematische Hinweise].  – Inhalt: Introduction (S. 1–6). – 1. A Revolution in Taste: 1.1. The Origins of the New Feeling for Nature: Jean-Jacques Rousseau (S.  7–10).  – 1.2. The English Garden (S. 10–15). – 1.3. Exoticism (S. 15–19). – 1.4. The Sublime (S. 19–25). – 2.  Schiller’s Attitude towards the New Feeling for Nature: 2.1. »Über Matthissons Gedichte« (S.  26–41).  – 2.2. »Über naive und sentimentalische Dichtung« (S.  41–53).  – 3. Schiller and the English Garden, 1759–93: 3.1. The Early Years (S. 54–58). – 3.2. »Don Carlos« (S. 58–69). – 3.3. »Der versöhnte Menschenfeind« (S. 69–75). – 3.4. »Kallias oder über die Schönheit«



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(S.  75–85).  – 4. Schiller and the English Garden, 1794–99: 4.1. »Über den Gartenkalender auf das Jahr 1795« (S. 86–104). – 4.2. »Schemata über den Dilettantismus« (S.  104–111).  – 5. Schiller and Exoticism: 5.1. Schiller and Travel Reports (S. 112–118). – 5.2. »Das Schiff«, »Die Filibustiers«, »Seestück« (S.  118–131).  – 6. Schiller and the Sublime, 1759–96: 6.1.  The Early Years (S.  132–138).  – 6.2. »Vom Erhabenen«, »Zerstreute Betrachtungen über verschiedene ästhetische Gegenstände«, »Über das Erhabene« (S.  139–153).  – 6.3. »Elegie« [»Der Spaziergang«] (S. 153–161). – 7. Schiller and the Sublime, 1801–05: 7.1. »Die Jungfrau von Orleans« (S. 162–172). – 7.2. »Die Braut von Messina« (S. 172–186). – 7.3. »Wilhelm Tell« (S. 186–201). – 7.4. »Demetrius« (S.  201–207).  – Conclusion (S.  208–211).  – Bibliography (S.  212–233).  – Index (S. 234–242). 140. Luserke-Jaqui, Matthias: Die literaturgeschichtlichen Ursprünge des Klassikers Schiller. In: Ders., Schiller-Studien. Der ganze Mensch und die Ästhetik der Freiheit. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2018, S. 193–215. – ISBN 9783-7720-8651-9. Überarbeitete Fassung. Erstveröffentlichung in: Klassik. Epoche – Autoren – Werke. Herausgegeben von Rolf Selbmann. Darmstadt 2005 [Schiller-Bibliographie 2005, Nr. 425].

7.2. Lyrik: Untersuchungen zu Schillers Balladen und Gedichten 141. Allerheiligen, Gesa: Die philosophische Erkenntnis in der »Klage der Ceres«. Schillers Adaption des Proserpina-Mythos. In: Studia Germanistica. Acta Facultatis Philosophicae Universitatis Ostraviensis. Ostrava (Ostravská Univerzita), 2018, Heft 22, S. 35–40. – ISSN 1803-408X. 142. Fujita, Miyoko: Der junge Schiller. Versuch einer Forschung, wie es mit seinen Leidenschaften steht; anhand der Gedichte »Die Freundschaft« und »Liebeshymnen« aus der »Anthologie auf das Jahr 1782«. In: KG Gerumanisutiku (Nishinomiya: Kansei Gakuin Daigaku Bungakubu Doitsu Bungakuka Kenkyūhitsu / 西宮: 関西学院大学文学部ドイツ文学科研究室), № 57/58, 2018, S. 1–39. – ISSN 1343-0696. 143. Füllmann, Rolf: Das helle Hellas als lebensdidaktisches Leitbild: von der autoritativen Volksbildung (Schillers »Bürgerlied«) zur freiheitlichen Selbstbildung (Thomas Manns »Felix Krull«). In: Emotionale Bildung. Die vergessene Seite der Bildungsdebatte. Herausgegeben von Gabriele Sigg und Andreas Zimmermann. Hamburg: Verlag Kovač, 2018, S.  71–94.

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(= Schriftenreihe EUB: Erziehung – Unterricht – Bildung. 183). – ISBN 9783-8300-9595-8. 144. Hutchinson, Christopher: The Economics of Fortune in Schiller’s »Der Ring des Polykrates«. In: The German Quarterly. Cherry Hill, NJ. 91. Jg., 2018, Heft 3, S. 254–269. – ISSN 0016-8831. 145. Immer, Nikolas: Die Tigerin Zeit. Chronopoetische Imaginationsformen in Schillers Lyrik. In: Schillers Zeitbegriffe. Herausgegeben von Helmut Hühn, Dirk Oschmann und Peter Schnyder. Hannover: Wehrhahn Verlag, 2018, S. 197–210. (= Ästhetische Eigenzeiten. 12). – ISBN 978-3-86525-662-1. Der Beitrag gliedert sich in die Abschnitte: 1. ›Drei Tage‹ für Damis  – oder die akzelerierte Zeit. – 2. Lauras ›Lustsekunden‹ – oder die retardierte Zeit. – 3. Spazieren durch ›der Jahrhunderte Strom‹ – oder die translozierte Zeit. – 4. Resümee. 146. Keller, Werner: Das Pathos in Schillers Jugendlyrik. Berlin, Boston: Verlag Walter de Gruyter, 2018, 180 S. (= Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker. Neue Folge. 15 ).  – ISBN 978-3-11-000206-5 / ISBN 978-3-11-175086-6 (Elektronische Ressource). Reprint der Ausgabe von 1964 [Schiller-Bibliographie 1962–1965, Nr.  242; dort nur formale Titelaufnahme ohne thematische Hinweise]. – Inhalt: Einleitung (S. 1–7). – 1. Die pathetischen Haltungen: Jugendpathos und Affekt. – Die pathetisch verabsolutierte Größe.  – Der pathetische Dualismus.  – Die pathetische Höhendimension.  – Der pathetische Transzendierungsdrang.  – Die pathetischen Objektivationsformen (S. 9–71). – 2. Die Grundformen des pathetischen Stils: Die pathetische Wortwahl. – Die Sentenz. – Die Antithese und das antithetische Prinzip.  – Die Apostrophe.  – Die Allegorie und das Allegorische.  – Metrum und Rhythmus (S.  73–123).  – 3. Interpretation ausgewählter Gedichte: Das affektreine Lyrikon: »Meine Blumen«. – Die dithyrambischen Gedichte: »Die Größe der Welt« – »Die Freundschaft« – »An die Freude«.  – Die elegisch empfundenen Gedichte: »Freigeisterei der Leidenschaft« und »Resignation«  – »Die Götter Griechenlandes« (S.  125–174).  – Bibliographie (S. 175–178). – Gedicht-Register (S. 179–180). 147. Luserke, Jaqui, Matthias: »Die Kindsmörderin« (1782). In: Ders., SchillerStudien. Der ganze Mensch und die Ästhetik der Freiheit. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2018, S. 58–70. – ISBN 978-3-7720-8651-9. Überarbeitete Fassung. Erstveröffentlichung in: Ders., Medea. Studien zur Kulturgeschichte der Literatur. Tübingen, Basel: Francke, 2002 [SchillerBibliographie 2002, Nr. 158].



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148. Luserke-Jaqui, Matthias: »Das Lied von der Glocke« (1800). In: Ders., Schiller-Studien. Der ganze Mensch und die Ästhetik der Freiheit. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2018, S. 141–160. – ISBN 978-3-7720-8651-9. Überarbeitete Fassung. Erstveröffentlichung unter dem Titel: Kulturelle Medien der Funktionalisierung in der Rezeption von Friedrich Schiller und seinem Gedicht […]. In: Lenz-Jahrbuch. Band 16 (2009). [Marbacher SchillerBibliographie 2010, Nr. 203]. 149. Luserke-Jaqui, Matthias: »Die schlimmen Monarchen« (1782). In: Ders., Schiller-Studien. Der ganze Mensch und die Ästhetik der Freiheit. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2018, S. 70–74. – ISBN 978-3-7720-8651-9. Überarbeitete Fassung. Erstveröffentlichung in der Monographie des Verfassers: Friedrich Schiller. Tübingen, Basel: Francke, 2005 [Schiller-Bibliographie 2005, Nr. 424]. 150. Luserke-Jaqui, Matthias: »Semele« (1782). In: Ders., Schiller-Studien. Der ganze Mensch und die Ästhetik der Freiheit. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2018, S. 32–57. – ISBN 978-3-7720-8651-9. Überarbeitete Fassung. Erstveröffentlichung unter dem Titel: Über Schillers »Semele« oder Beobachtungen über das Schreiben linker Hand. In: Ders., Über Literatur und Literaturwissenschaft. Tübingen, Basel: Francke, 2003 [Schiller-Bibliographie 2003, Nr. 159]. 151. Meuer, Marlene: Der »Laura«-Zyklus in Schillers »Anthologie auf das Jahr 1782«. Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2018, 401 S. (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte. 380). – ISBN 978-3-8253-6871-5. Inhalt: Einleitung: 1. Themeneinführung, Schwerpunktbildungen und Aufbau.  – 2. Forschungsstand.  – 3. Diskurs und Begriffsbestimmungen  – 4. Methodologische Fundierung.  – 5. Die codedestruierende Funktion des »Laura«-Zyklus und deren Einordnung in die zeitgenössische Liebessemantik (S. 11–62). – – I. Die Liebeslyrik im schwäbischen Dichtungswettstreit und die Grundkonzeption von Schillers »Anthologie auf das Jahr 1782«. 1. Die publizistische Fehde (S. 65–69). – 2. Dichterischer und amouröser Wettstreit? 2.1. Das intertextuelle Beziehungsgeflecht in den Liebesgedichten der schwäbischen Nachwuchsschriftsteller und die realbiographischen Verstrickungen (S. 71–82). – 2.2. Die konventionellen Sprach- und Vorstellungsmuster in der »Brautnacht« von »-g« und Schillers erosphilosophische Aufsprengung erotischer Dichtungskonventionen in »Fantasie an Laura« (S. 83–89). – 2.3. Die Liebeslyrik in [Gotthold Friedrich] Stäudlins »Schwäbischer Blumenlese auf das Jahr 1783« und der Widerruf der »Brautnacht« in »Die Täuschung« von »-r-« (S. 89–95). – 3. Konzeptionelle Grundzüge von Schillers »Anthologie auf

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das Jahr 1782«: Rebellion, Überbietung und Selbstrelativierung (S. 97–98). – 3.1.  Vorrede und Selbstrezension: Die Persiflage auf die zeitgenössischen Literaturkonventionen und auf den eigenen schwäbischen Dichtungswettstreit (S. 98–102). – 3.2. Zueignung und Widmungstext: Die Rebellion gegen etablierte metaphysische Deutungsschemata und herrschaftspolitische Geltungsinstanzen (S.  103–107).  – 3.3.  Schillers ›rebellische‹ »Anthologie« Gedichte: Pantheismus, Religions-, Herrschafts- und Gesellschaftskritik (S.  107–110).  –  – II. Die Erosphilosophie des »Laura«-Zyklus: Von ›Fantasie‹ zu ›Melancholie‹ oder Von den genieästhetischen Dichtungstopoi zur barocken Vanitas-Tradition. 1. Platonische Erosphilosophie: Platons »Symposion«, zeitgenössische Diskursformationen und Schillers Erosdichtungen. 1.1. Genuin ›platonische‹ Liebe? (S.  113–118).  – 1.2. Zeitgenössische Quellen (S. 118–121). – 1.3. Zeitgenössische Formierungen des Platon-Diskurses: Pantheismus, Empfindsamkeit und Schwärmerkritik (S. 121–147). – 1.4. Schillers Platon-Wissen (S.  147–152).  – 1.5. Der Platonismus in Wielands »Agathon« und in Schillers »Laura«-Zyklus im Vergleich (S.  152–157).  – 1.6. Schillers experimentelle Erosphilosophie aus dem Geist des Sturm-und-Drang: Rebellion, Originalitätsästhetik und Gefühlsüberwältigung (S.  157–165).  – 2. Die artistische Gruppenkomposition: Dialektischer Entwicklungsprozess und kontrapunktische Perspektivbrechungen (S.  167–177).  – 3. Drei enthusiastische Erosdichtungen: Die blasphemische Formierung des platonischen Eros und dessen Einbindung in den empfindsamen Neopantheismus (S.  179–182).  – 3.1.  »Fantasie an Laura« (S.  183–194).  – 3.2. »Laura am Klavier« (S.  195– 207). – 3.3. »Der Triumf der Liebe« (S. 208–223). – 4. Drei ambivalente Erosdichtungen: Die aporetische Verengung der enthusiastischen Erosphilosophie durch ihre sinnliche Fixierung (S.  225–231).  – 4.1. »Die seligen Augenblicke an Laura« (S. 232–242). – 4.2. »An die Parten« als resignatives Echo auf »Die seligen Augenblicke« (S.  242–271).  – 4.3. »Das Geheimniß der Reminiszenz an Laura«: Der platonische Androgynie-Mythos als Erklärungsmodell für den sinnlichen Liebestrieb (S. 272–315). – 5. Drei resignative Erosdichtungen: Die destruktive Inversion erosphilosophischer Wirkungsmechanismen als expressive Dissonanz und die genieästhetische Selbstdemontage als resignative Schlusskadenz (S. 317–319). – 5.1. »Vorwurf an Laura«: Die performative Depotenzierung und destruktive Inversion der Liebeserfahrung (S. 319– 328). – 5.2. »Meine Blumen« als ambivalentes Echo auf »Vorwurf an Laura«: Die Nivellierung der Liebesidee in der dichterischen und gesellschaftlichen Konvention (S. 328–335). – 5.3. »Melancholie an Laura«: Die abschließende Reetablierung der barocken Vanitas-Tradition als originalitätsästhetische Selbstwiderlegung (S. 336–355). – Ausblick: Die resignative »Laura«-Dichtung und die Genese des Elegischen in den Jahren nach der »Anthologie auf das



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Jahr 1782«. 1. Zwei ›resignative‹ »Laura«-Gedichte nach der »Anthologie auf das Jahr 1782«. – 2. Die Genese des Elegischen in den Schriften der mittleren 1780er Jahre und die philosophischen Herausforderungen des Idealismus (S. 357–371). – Literaturverzeichnis (S. 373–401). 152. Reents, Friederike: Vertrauen und Freundschaft in Schillers Ballade »Die Bürgschaft«. In: Vertrauen. Herausgegeben von Martin Kirschner und Thomas Pittrof. St. Ottilien: EOS Verlag, 2018, S. 233–262. (= Forum K’Universale Eichstätt: Beiträge zur gesellschaftlichen Debatte. 7). – ISBN 978-38306-7933-2. 153. Schilling, Erik: Freirhythmische Hymnen ab 1750. ›Schau ich die Schöpfung an‹: Klopstock, Herder, Stolberg, Schiller. In: Ders., Liminale Lyrik. Freirhythmische Hymnen von Klopstock bis zur Gegenwart. Stuttgart: J. B. Metzler Verlag, 2018, S. 69–108. (= Abhandlungen zur Literaturwissenschaft). – ISBN 978-3-476-04645-1.

7.3. Untersuchungen zum dramatischen Werk 7.3.1. Allgemeine Darstellungen und Werkvergleiche 154. Leber, Manfred: Schillers klassisches Werk. Geschichtsdramen oder Tragödien? In: Literatur und Geschichte. Herausgegeben von Sikander Singh und Manfred Leber. Saarbrücken: Universaar, Universitätsverlag des Saarlandes, 2018, S. 117–149. (= Saarbrücker literaturwissenschaftliche Ringvorlesungen. 7). – ISBN 978-3-86223-268-0. Der Beitrag gliedert sich in die Abschnitte: 1. »Wallenstein. Ein dramatisches Gedicht«. – 2. »Maria Stuart. Ein Trauerspiel«. – 3. »Die Jungfrau von Orleans. Eine romantische Tragödie«. – 4. Schiller als Geschichtsschreiber, Geschichtsphilosoph und Geschichtsdichter. – Bibliographie. 155. Boyken, Thomas: Über die ›Helden des Alterthums‹. Diskrepanzerfahrungen in Schillers frühen Dramen. In: Schillers Zeitbegriffe. Herausgegeben von Helmut Hühn, Dirk Oschmann und Peter Schnyder. Hannover: Wehrhahn Verlag, 2018, S. 35–55. (= Ästhetische Eigenzeiten. 12). – ISBN 978-386525-662-1. Der Beitrag gliedert sich in die Abschnitte: 1. ›Szenen aus dem nervigten Altertum‹. – 2. ›Im achten Jahr wußte ich den Plutarch auswendig‹. Schiller, Plutarch und der Bildungsdiskurs des 18. Jahrhunderts. – 3. Vorbilder aus der ›Heroenbibel‹: Funktionspotenziale in den frühen Dramen Schillers. – 4. Doppelte Zeitachse und das prekäre Konzept des ›großen Mannes‹.

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156. Gamper, Michael: Schillers charismatische Zeiten. In: Schillers Zeitbegriffe. Herausgegeben von Helmut Hühn, Dirk Oschmann und Peter Schnyder. Hannover: Wehrhahn Verlag, 2018, S.  21–34. (=  Ästhetische Eigenzeiten. 12). – ISBN 978-3-86525-662-1. Der Beitrag gliedert sich in die Abschnitte: 1. Größe, Drama, Charisma.  – 2. Eskamotierung des Dramatischen: »Die Jungfrau von Orleans«. – 3. Überblendung des Zeitlosen: »Wallenstein«. 157. Günther, Friederike Felicitas: Rhythmus als widersprüchliche Zeitgestalt in Schillers Dramen. In: Schillers Zeitbegriffe. Herausgegeben von Helmut Hühn, Dirk Oschmann und Peter Schnyder. Hannover: Wehrhahn Verlag, 2018, S. 145–169. (= Ästhetische Eigenzeiten. 12). – ISBN 978-3-86525-662-1. Der Beitrag gliedert sich in die Abschnitte: 1. Rhythmus als Bewegung im »Don Carlos«. – 2. Rhythmus als Ideal in »Die Jungfrau von Orleans« (1801). 158. Luserke-Jaqui, Matthias: Schillers dramatisches Werk. Ein Überblick. In: Ders., Schiller-Studien. Der ganze Mensch und die Ästhetik der Freiheit. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2018, S. 9–26. – ISBN 978-3-7720-8651-9. Überarbeitete Auszüge aus der Monographie des Verfassers: Friedrich Schiller. Tübingen, Basel: Francke, 2005 [Schiller-Bibliographie 2005, Nr. 424]. 159. Menke, Christoph: On the Fate of Aesthetic Education. Rancière, Posa and »The Police«. Translated by Eliza Little. In: Aesthetic Reason and Imaginative Freedom. Friedrich Schiller and Philosophy. Edited by María del Rosario Acosta López and Jeffrey L. Powell. Albany/NY: State University of New York Press (SUNY), 2018, S. 137–151. (= Contemporary Continental Philosophy). – ISBN 978-1-4384-7219-5. 160. Thomä, Dieter: Niño arisco, hijo malvado, salvador robusto: Friedrich Schiller. In: Ders., Puer robustus. Una filosofía del perturbador. Traducción de Alberto Ciria Cusculluela. Barcelona: Herder, 2018, S. 157–180. (= Biblioteca de filosofía). – ISBN 978-84-254-3881-3. Das Kapitel gliedert sich in die Abschnitte: 1. El ›puer robustus‹ como ’manumiso de la creación.  – 2.  Franz y Karl Moor: todo el poder para mí, u otro poder para todos? – 3. El camino que Guillermo Tell recorre desde el solitario hasta el fundador de la alianza. Die deutschsprachige Originalausgabe ist 2016 erschienen [Marbacher Schiller-Bibliographie 2016, Nr.  260]; 2018 folgte eine zweite Auflage mit einem neuen Nachwort (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft. 2275). – ISBN 9783-518-29875-6; für 2019 ist eine englische Übersetzung angekündigt.



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161. Vecchiato, Daniele: Drammaturgie del potere nella tragedia schilleriana. I monologhi politici di Fiesco e Wallenstein. In: Le voci arcane. Palcoscenici del potere nel teatro e nell’opera. A cura di Tatiana Korneeva. Roma: Carocci Editore, 2018, S. 119–133. (= Lingue e Letterature Carocci. 277). – ISBN 97888-430-9052-5. 162. Witt, Sophie: Kritische Physis. Schillers Szenen der Kritik. In: Theater als Kritik. Theorie, Geschichte und Praktiken der Ent-Unterwerfung. Herausgegeben von Olivia Ebert, Eva Holling, Nikolaus Müller-Schöll, Philipp Schulte, Bernhard Siebert und Gerald Siegmund. Bielefeld: Transcript Verlag, 2018, S. 419–428. (= Theater / Theatre Studies. 113). – ISBN 978-38376-4452-4.

7.3.2. »Die Braut von Messina« 163. Luserke-Jaqui, Matthias: »Die Braut von Messina« (1803). In: Ders., SchillerStudien. Der ganze Mensch und die Ästhetik der Freiheit. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2018, S. 161–181. – ISBN 978-3-7720-8651-9. Überarbeitete Fassung. Erstveröffentlichung als Nachwort zu der vom Verfasser herausgegebenen Textausgabe von Schillers Drama. Stuttgart: Reclam, 2007. [Marbacher Schiller-Bibliographie 2008, Nr. 32]. 164. Pelloni, Gabriella: Eine pathetisch fundierte Dramaturgie. Überlegungen zur Funktion und Gestaltung des Chors in Schillers »Braut von Messina«. In: Literaturen des Pathos. Ästhetik des Affekts von Aristoteles bis Schlingensief. Herausgegeben von Björn Hayer und Walter Kühn. Marburg: Büchner-Verlag, 2018, S. 35–51. (= Wissenschaft und Kultur). – ISBN 978-3-96317124-6.

7.3.3. »Don Karlos« 165. Bernauer, Hermann: ›Den Namen? – Nein! den nannt er nicht.‹ Zu den Verschwiegenheiten von Schillers »Don Karlos«, besonders in der Version der Hamburger Bühnenfassung 1787. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft. Internationales Organ für Neuere Deutsche Literatur. Berlin. Band 62 (2018), S. 107–125. – ISBN 978-3-11-057816-4. 166. Campe, Rüdiger: Der Mut des Klassizismus. Vom Verfahren, die Wahrheit zu sagen, in Schillers »Don Karlos« und Goethes »Iphigenie«. In: Bella Parrhesia. Begriff und Figur der freien Rede in der Frühen Neuzeit. Herausgegeben von Rüdiger Campe und Malte Wessels. Freiburg im Breisgau, Berlin,

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Wien: Rombach Verlag, 2018, S.  243–272. (=  Rombach Wissenschaften: Reihe Litterae. 219). – ISBN 978-3-7930-9846-1. 167. Luserke-Jaqui, Matthias: »Don Karlos« (1787/1805). In: Ders., SchillerStudien. Der ganze Mensch und die Ästhetik der Freiheit. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2018, S. 105–121. – ISBN 978-3-7720-8651-9. Überarbeitete Fassung. Erstveröffentlichung unter dem Titel: Freiheitsthematik und ›Hauptidee des Stückes‹. Zur Kritik der Figur des Marquis Posa in Schillers Don Karlos. In: Lenz-Jahrbuch. Band 12 (2002/2003). [Schiller-Bibliographie 2005, Nr. 521]. 168. Vogel, Juliane: Aus dem Takt. Auftrittsstrukturen in Schillers »Don Karlos«. In: Dies., Aus dem Grund. Auftrittsprotokolle zwischen Racine und Nietzsche. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag, 2018, S. 94–110. – ISBN 978-3-77056208-4. Das Kapitel gliedert sich in die Abschnitte: ›Liaison des scenes‹. – Das Zerbrechen der Auftrittskette. – Ohnmächtige Impulse. – Kontrollverluste. – Seitenwechsel. – Hintergrundmächte. 169. Zumbusch, Cornelia: Über Nacht gereift. Dramatik der Beschleunigung in Schillers »Dom Karlos«. In: Schillers Zeitbegriffe. Herausgegeben von Helmut Hühn, Dirk Oschmann und Peter Schnyder. Hannover: Wehrhahn Verlag, 2018, S. 57–73. (= Ästhetische Eigenzeiten. 12). – ISBN 978-3-86525662-1. Der Beitrag gliedert sich in die Abschnitte: 1. Suizid als Prophylaxe: Schillers Theorie des Erhabenen. – 2. »Dom Karlos«: Beschleunigung einer Krise.

7.3.4. »Die Jungfrau von Orleans« 170. Kruse, Bernhard Arnold: La tragedia del nazionalismo. La »Pulzella d’Orleans« de Friedrich Schiller. In: Nazionalismo, Letteratura e Plurilinguismo. A cura di Bernhard Arnold Kruse. Pisa: Pacini Editore, 2018, S. 11–52. – ISBN 978-88-6995-509-9. 171. Kruse, Bernhard Arnold: Geschichte in der Literatur. Friedrich Schillers »Die Jungfrau von Orleans« als Tragödie des Nationalismus. In: Annali (Università degli Studi die Napoli l’Orientale, Sezione Germanica), 42. Jg., 2018, № 1/2, S. 13–43. – ISSN 0392-6532 / ISSN 1124-3724. – Deutschsprachige Fassung des Beitrags von Nr. 170. 172. Oschmann, Dirk: ›Andere Zeiten‹. Schillers »Jungfrau von Orleans«. In: Schillers Zeitbegriffe. Herausgegeben von Helmut Hühn, Dirk O ­ schmann





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und Peter Schnyder. Hannover: Wehrhahn Verlag, 2018, S. 119–143. (= Ästhetische Eigenzeiten. 12). – ISBN 978-3-86525-662-1. Der Beitrag gliedert sich in die Abschnitte: 1. Schillers Psychologisierung des Lebensalters. – 2. Verzeitlichung der Handlung. – 3. Die ›Heldenzeit‹ der Jungfrau von Orleans. – 4. Anblick, ›Augen-Blick‹ und ›Augenblick‹ der Jungfrau von Orleans.

173. Port, Ulrich: Marienbild und Militanz in Friedrich Schillers »Die Jungfrau von Orleans«. ›Longue durée‹, Nachleben und Aktualisierung barockkatholischer Schlagbilder im Zeitalter der Revolutionskriege. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte. München. 81. Jg., 2018, Heft 2, S. 213–230. – ISSN 00442992. Vgl. auch den thematisch ähnlichen Beitrag des Verfassers in dem Sammel­ band »Orts-Wechsel« von 2014 [Marbacher Schiller-Bibliographie 2014, Nr. 200].

7.3.5. »Kabale und Liebe« 174. Ferdiana, Meita / Rahman, Yunanfathur: Maksim kesopanan dalam drama »Kabale und Liebe« karya Friedrich Schiller. In: Identitaet (Mahasiswa Universitas Negeri Surabaya ), 7.  Jg., 2018, №  1, S.  1–13.  – ISSN 2302-2841 (Elektronische Ressource) 175. Luserke-Jaqui, Matthias: »Kabale und Liebe« (1784). In: Ders., SchillerStudien. Der ganze Mensch und die Ästhetik der Freiheit. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2018, S. 75–89. – ISBN 978-3-7720-8651-9. Überarbeitete Fassung. Erstveröffentlichung unter dem Titel: Die Unordnung der Liebe. Kulturgeschichtliche Aspekte der Subjektkonstitution in […]. In: Individualität als Herausforderung. Herausgegeben von Jutta Schlich und Sandra Mehrfort. Heidelberg: Winter, 2006 [Marbacher Schiller-Bibliographie 2006, Nr. 385]. 176. Zimmer, Thorsten: Friedrich Schiller, »Kabale und Liebe«. Interpretation. Hallbergmoos: Stark Verlag, 2018, 95 S. – ISBN 978-3-8490-3246-3. Inhalt (Auszug): Einführung (S. 1–2). – Biografisch-historischer Hintergrund: 1.  Das Leben Friedrich Schillers.  – 2. Das literarische Werk Friedrich Schillers. – 3. Die Entstehung von »Kabale und Liebe« (S. 3–14). – Inhaltsangabe (S. 15–32). – Textanalyse und Interpretation: 1. Der Aufbau von »Kabale und Liebe«.  – 2. Charakterisierung der Hauptfiguren.  – 3. Die Sprache.  – 4. Ein bürgerliches Trauerspiel? – 5. Interpretation von Schlüsselszenen (S. 33–85). – Rezeptions- und Wirkungsgeschichte (S. 87–92). – Literaturhinweise (S. 93–94).

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7.3.6. »Maria Stuart« 177. Haas, Claude: ›Jetzt nicht‹. Gründungszeit und Dramenzeit in »Maria Stuart«. In: Schillers Zeitbegriffe. Herausgegeben von Helmut Hühn, Dirk Oschmann und Peter Schnyder. Hannover: Wehrhahn Verlag, 2018, S. 91–117. (= Ästhetische Eigenzeiten. 12). – ISBN 978-3-86525-662-1. Der Beitrag gliedert sich in die Abschnitte: 1. Verfehlte Zeit und symmetrischer Bau. – 2. Umsetzung und Aushöhlung der Einheit der Zeit. – 3. Heldenkult und Gespensterzeit. – Schluss.

Klein, Michaela  /  Schöffler, Gregor: Friedrich Schiller, »Maria Stuart«, s. 8.6.0., Nr. 322.

7.3.7. »Die Räuber« 178. Ghyselinck, Zoë: Friedrich Schiller, »Die Räuber«, een vervelende complexiteit. In: Great Plays. Houden van beroemde toneelstukken. Edited by Julie van Pelt, Alexander Roose and Koen de Temmerman. Gent: Academia Press, 2018, S. 168–203. – ISBN 978-90-3822-652-1. Digitale Quelle: Academic Bibliography, Universiteit Gent. 179. Haus, Heinz-Uwe: Notes on the structure, version and interpretation of Schiller’s »Die Räuber« for the Greek first production 1983 at the National Theatre of Greece, Athens. In: Heinz-Uwe Haus on Culture and Politics. Edited by Heinz-Uwe Haus and Daniel Meyer-Dinkgräfe. Newcastle upon Tyne, UK: Cambridge Scholars Publishing, 2018, S. 175–184. – ISBN 978-15275-0929-0. 180. Moser, Christian: Case Study. Schiller’s »Die Räuber« (»The Robbers«, 1781). In: Barbarian: Explorations of a Western Concept in Theory, Literature and the Arts. Volume  1: From the Enlightenment to the Turn of the Twentieth Century. [Edited by] Markus Winkler in Collaboration with Maria Boletsi, Jens Herlth, Christian Moser, Julian Reidy and Melanie Rohner. Stuttgart: J. B. Metzler Verlag, 2018, S. 145–165. (= Schriften zur Weltliteratur / Studies on World Literature. 7). – ISBN 978-3-476-04484-6 (Print) / ISBN 978-3-47604485-3 (Online-Ausgabe).

Popp, Hansjürgen, s. Kap. 8.6.0., Nr. 323.

181. Schede, Hans-Georg: Friedrich Schiller, »Die Räuber«. Interpretation. Hallbergmoos bei Freising: Stark Verlagsgesellschaft, 2018, 122 S. – ISBN 978-38490-3256-2.





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Inhalt: Einführung (S. 1–2). – Schillers Leben und Entstehung der »Räuber« (S.  3–22).  – Inhaltsangabe (S.  23–38).  – Textanalyse und Interpretation: 1.  Literatur aus Literatur (S.  39–47).  – 2. Ein ›dramatischer Roman‹? (S. 48–71). – 3. Der dramengeschichtliche Kontext (S. 72–74). – 4. Zum Verständnis der Figuren (S.  75–104).  – 5. Sprache und Körpersprache (S.  105– 110).  – 6. Interpretation von Schlüsselstellen (S.  110–118).  – Wirkungsgeschichte (S. 119–120). – Literaturhinweise (S. 121–122).

7.3.8. »Wilhelm Tell« 182. Aurnhammer, Achim / Klessinger, Hanna: Was macht Schillers Wilhelm Tell zum Helden? Eine deskriptive Heuristik heroischen Handelns. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft. Internationales Organ für Neuere Deutsche Literatur. Berlin. Band 62 (2018), S. 127–149. – ISBN 978-3-11-057816-4. 183. Hörl, Susanne: ›Durch diese hohle Gasse  …‹. Eine dramenpädagogische Sequenz zu Schillers »Wilhelm Tell«. In: Literaturvermittlung. Herausgegeben von Gerda E. Moser und Katharina Evelin Perschak. Innsbruck: StudienVerlag, 2018, S. 116–122. (= Informationen zur Deutschdidaktik. 2018/1). 184. Pirro, Maurizio: L’Italia nella topografia finzionale del »Wilhelm Tell« di Friedrich Schiller. In: Rivista di Letterature Moderne e Comparate. Pisa. 71. Jg., 2018, Heft 1, S. 25–40. – ISSN 0391-2108. 185. Rohner, Melanie: ›Lern dieses Volk der Hirten kennen!‹ Verhandlungen des Barbarischen in Schillers »Wilhelm Tell«. In: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur, Madison, Wisconsin. 110. Jg., 2018, Heft 1, S. 1–12. – ISSN 0026-9271. 186. Rohner, Melanie: The Relationship between Idyll and barbarism in Schiller’s »Wilhelm Tell« (»William Tell«, 1804). In: Barbarian: Explorations of a Western Concept in Theory, Literature and the Arts. Volume 1: From the Enlightenment to the Turn of the Twentieth Century. [Edited by] Markus Winkler in Collaboration with Maria Boletsi, Jens Herlth, Christian Moser, Julian Reidy and Melanie Rohner. Stuttgart: J. B. Metzler Verlag, 2018, S. 189–197. (= Schriften zur Weltliteratur / Studies on World Literature. 7). – ISBN 978-3-476-04484-6 (Print) / ISBN 978-3-476-04485-3 (Online-Ausgabe). 187. Stoffel, Patrick: Die Revolution der alpinen Natur. Friedrich Schillers »Wilhelm Tell«, 1804. In: Ders., Die Alpen. Wo die Natur zur Vernunft kam. Göttingen: Wallstein Verlag, 2018, S. 204–226. (= Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa. 22). – ISBN 978-3-8353-3273-7.

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Das Kapitel gliedert sich in die Abschnitte: 1. Zurück in die Zukunft. – 2. Das Versprechen des furchtbarherrlichen Haken. – 3. Der Edle Wilde der Schweizer Bergwelt. – 4. Das Refugium der natürlichen Ordnung. – 5. Der neue alte Bund. – 6. Es blüht und grünt die Freiheit. – 7. Revolution wider die Geschichte.

7.3.9. »Die Verschwörung des Fiesko zu Genua« 188. Nitschmann, Till: ›Ich habe getan, was du  – nur maltest.‹ Metareflexion des Ästhetischen in Friedrich Schillers »Die Verschwörung des Fiesko zu Genua«. In: Literatur und Malerei. Herausgegeben von Joanna GodlewiczAdamiec, Paweł Piszczatowski und Tomasz Szybisty. Kraków: iMEDIUS Agencja Reklamowa, 2018, S. 43–56. (= Literatura – konteksty. 3). – ISBN 978-83-944308-7-0.

7.3.10. »Wallenstein«-Trilogie 189. Alt, Peter-André: Die dunkle Seite. Zur Psychologie des Okkulten und Astrologischen in Schillers »Wallenstein«. In: Wallenstein. Mensch – Mythos – Memoria. Herausgegeben von Birgit Emich, Dirk Niefanger, Dominik Sauerer und Georg Seiderer. Berlin: Verlag Duncker & Humblot, 2018, S.  321–338. (= Historische Forschungen. 117). – ISBN 978-3-428-15428-9. 190. Fleig, Anne: ›Die Zeit ist noch nicht da‹. Schillers »Wallenstein« als Drama des Wartens. In: Schillers Zeitbegriffe. Herausgegeben von Helmut Hühn, Dirk Oschmann und Peter Schnyder. Hannover: Wehrhahn Verlag, 2018, S. 75–89. (= Ästhetische Eigenzeiten. 12). – ISBN 978-3-86525-662-1. Der Beitrag gliedert sich in die Abschnitte: 1. Die Wallenstein-Figur. – 2. Episierung und dramatische Form. – 3. Ausblick: Theorie des modernen Dramas. 191. Nover, Immanuel: ›Ich kann jetzt noch nicht sagen, was ich thun will‹. Zum Politischen des Handlungsaufschubs – mit einem Fokus auf Friedrich Schillers »Wallenstein«. In: Politische Literatur. Begriffe, Debatten, Aktualität. Herausgegeben von Christine Lubkoll, Manuel Illi und Anna Hampel. Stuttgart: J. B. Metzler Verlag, 2018, S. 131–148. (= Abhandlungen zur Literaturwissenschaft). – ISBN 978-3-476-04772-4. 192. Preis, Michael: ›Die Freiheit reizte mich.‹ Dekonstruktionen der Mittelbarkeit in Schillers »Wallenstein«. Münster: Readbox Unipress, Münsterscher Verlag für Wissenschaft, 2018, 390 S. (= Dissertationen der LMU München. 18). – ISBN 978-3-95925-071-9.





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Inhalt: 1. Einleitung. – 1.1. Das schreibende Subjekt und die Dekonstruktion von Mittelbarkeit.  – 1.2.  Das Subjekt, das sich ausdrückt, der Gemeinsinn und Schillers Erziehungsprojekt. – 1.3. Das sich verspielende Subjekt und die Dekonstruktion des Erziehungsprojektes (S.  1–23).  – 2. Kommunikabilität als Grundproblem der Dekonstruktion.  – 2.1. Idealisierende Einbildungskraft (Hegel).  – 2.2.  Wechselrede und Schrift (Husserl).  – 2.3. Wahrnehmung, Gedächtnis, Schrift: Der Wunderblock (Freud).  – 2.4. Mutter Natur? Stimme des Mitleids (Rousseau).  – 2.5. Absolute Abwesenheit: »Abracadabra« (S. 25–141). – 3. Tod und Freiheit des Menschen. – 3.1. Schöne Freiheit: Wider die Ästhetisierung der Vernunft.  – 3.2. ›différance‹ des Spieltriebs: Teleologie der Vernunft?  – 3.3. Das Erhabene: Supplement des Schönen.  – 3.4. Ästhetik der Tragödie: Spuren des Erhabenen in der Poetik der Satire (S.  143–264).  – 4. Schillers »Wallenstein«  – eine dramatische Theorie sui generis. – 4.1. Vom ästhetischen Imperativ. – 4.2. Gefährliches Spiel: Die Wallenstein-Figur. – 4.3. Briefe für und wider den Kaiser – Octavio der Gegenspieler. – 4.4. ›[V]erschwunden‹: Idylle und Moderne (S.  265–367).  – 5.  Literaturverzeichnis (S. 369–390).

193. Schilling, Klaus von: Drei Exkurse. – Tod und Geschichte im historischen Drama. Friedrich Schiller: »Wallenstein«. In: Ders., Abschied vom Trauerspiel. Kunsttheoretische Überlegungen zu Hofmannsthal. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann, 2018, S. 418–434. – ISBN 978-3-8260-6526-2. 194. Streim, Claudia: Historisierende Bühnenpraxis im 19.  Jahrhundert. Inszenierungen von Schillers »Wallenstein« zwischen 1798 und 1914 (Goethe, Iffland, Brühl, die Meininger, Reinhardt). Tübingen: Narr Francke Attempto, 2018, 625 S. (= Forum Modernes Theater. Schriftenreihe. 50). – ISBN 978-38233-8129-7. Inhalt (Auszug): Einleitung (S. 11–41). – Teil I: Die Etablierung historisierender Bühnenpraxis. – 1. Das Weimarer Hoftheater und die Uraufführung der »Wallenstein«-Trilogie (1798/99).  – 1.1. Das theaterästhetische Konzept der Weimarer Stilbühne.  – 1.2. Die Kostüme.  – 1.3. Das Bühnenbild.  – 1.4.  Die Rezeption (S. 43–95). – 2. Das Berliner Königliche Nationaltheater unter der Direktion von August Wilhelm Iffland (1796–1814).  – 2.1. Die theaterästhetischen Prämissen Ifflands.  – 2.2. Die Bühnenpraxis.  – 2.3. Die Kostüme.  – 2.4. Das Bühnenbild.  – 2.5. Die Rezeption (S.  97–166).  – 3. Die Berliner König­lichen Schauspiele unter der Intendanz von Carl Graf von Brühl (1815– 1828).  – 3.1.  Gestaltungsprinzipien, Ziele und die zeitgenössische Kritik.  – 3.2. Die Kostüme der »Wallenstein«-Trilogie. – 3.3. Die Ikonographie der Wallenstein-Figur im frühen 19. Jahrhundert. – Fazit I (S. 167–202). – Teil II: Höhepunkt und Überwindung historisierender Bühnenpraxis. – 4. Die Meininger. –

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4.1. Die Inszenierung.  – 4.2. Das Gastspiel in Berlin 1882.  – 4.3. Die stilbildende Wirkung der Meininger »Wallenstein«-Inszenierung (S.  203–395).  – 5. Das Theater Max Reinhardts. – 5.1. »Wallensteins Lager«. – 5.2. »Die Piccolomini« und »Wallensteins Tod«.  – Fazit II (S.  397–529).  – Abbildungen (S. 531–546). – Wilhelm Schmidtbonn: 1914. Ein Kriegsvorspiel für die Bühne (S.  547–556).  – Abkürzungen und Abbildungsverzeichnis (S.  557–568).  – Quellen- und Literaturverzeichnis (S. 569–616). – Register (S. 617–625). 195. Vecchiato, Daniele: Wallenstein vor Schiller. Die literarische Darstellung des Generalissimus im späten 18.  Jahrhundert. In: Wallenstein. Mensch  – Mythos  – Memoria. Herausgegeben von Birgit Emich, Dirk Niefanger, Dominik Sauerer und Georg Seiderer. Berlin: Verlag Duncker & Humblot, 2018, S. 303–319. (= Historische Forschungen. 117). – ISBN 978-3-428-15428-9.

7.3.11. Fragmente und kleine dramatische Dichtungen 196. Dicke, Klaus: Gehorsam und Widerstand in Friedrich Schillers »Malteser«Fragment. In: Politisch-soziale Ordnungsvorstellungen in der Deutschen Klassik. Herausgegeben von Walter Pauly und Klaus Ries. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 2018, S. 175–188. (= Staatsverständnisse. 119). – ISBN 978-3-8487-3513-6. 197. Luserke-Jaqui, Matthias: »Die Huldigung der Künste« (1805). In: Ders., Schiller-Studien. Der ganze Mensch und die Ästhetik der Freiheit. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2018, S. 183–189. – ISBN 978-3-7720-8651-9. Überarbeitete Fassung. Erstveröffentlichung in: Schiller-Handbuch. Herausgegeben von Matthias Luserke-Jaqui. Stuttgart, Weimar 2005 [Schiller-Bibliographie 2005, Nr. 160].

7.4. Untersuchungen zur literarischen Prosa, zu den ästhetischen Schriften und zu den historischen Abhandlungen, sonstige Formen 7.4.1. Allgemeine Darstellungen und vergleichende Studien 198. Jaeger, Stephan: Zwischen historischer, geschichtsphilosophischer und ästhetischer Zeit. Schillers Inszenierung von Zeitlichkeit in Historiographie und Geschichtsdrama. In: Schillers Zeitbegriffe. Herausgegeben von Helmut Hühn, Dirk Oschmann und Peter Schnyder. Hannover: Wehrhahn Verlag, 2018, S. 269–286. (= Ästhetische Eigenzeiten. 12). – ISBN 978-3-86525-662-1.





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Der Verfasser behandelt die Schriften »Abfall der vereinigten Niederlande«, »Die Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs« mit Seitenblicken auf die »Wallenstein«-Trilogie.

199. Zelle, Carsten: Anthropologische Ästhetik? Heinrich Zschokkes »Ideen zur psychologischen Ästhetik« (1793) und Friedrich Schillers Briefe »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« (1795). In: Anthropologische Ästhetik in Mitteleuropa 1750–1850 / Anthropological Aesthetics in Central Europe 1750–1850. Herausgegeben von Piroska Balogh und Gergely Fórizs. Hannover: Wehrhahn Verlag, 2018, S. 21–44. (= Bochumer Quellen und Forschungen zum 18. Jahrhundert. 9). – ISBN 978-3-86525-661-4.

7.4.2. Analysen und Interpretationen zu einzelnen Werken und Schriften 200. Napoli, Santiago Juan: El proyecto formativo de Schiller en las »Briefe über Don Carlos«. In: Revista de Filología Alemana. 2017, № 25, S. 9–23. – ISSN 1133-0406 (Elektronische Ressource). 201. Eder, Antonia: Zur doppelten Unzeit. Retrospektive und präemptive Semiosekultur in Schillers »Geisterseher«. In: Schillers Zeitbegriffe. Herausgegeben von Helmut Hühn, Dirk Oschmann und Peter Schnyder. Hannover: Wehrhahn Verlag, 2018, S. 229–249. (= Ästhetische Eigenzeiten. 12). – ISBN 978-3-86525-662-1. Der Beitrag gliedert sich in die Abschnitte: 1. Asymptotische Viel- und Weiterdeutung. – 2. Zeichen und Schlüsse: Indizien um 1800 / Doppeltes Wissen: Retrospektive und Prospektive. – 3. Die Zeichen der Zeit. Der Sizilianer: verdächtig aufgeklärte Aufklärung  /  Präemptive Zeitmagie: der Armenier.  – 4. Zur Unzeit. 202. Hacks, Peter: Über Tragödie und Komödie an Hand von Schillers »Naive und sentimentalische Dichtung« (1948). In: Ders., Prosa. Herausgegeben von Gunther Nickel. Berlin: Eulenspiegel Verlag, 2018, S.  81–87. (= Peter Hacks: Der junge Hacks. Band 4). – ISBN 978-3-359-02360-9. 203. Holz, Friedbert: Der Kunstbegriff in Friedrich Schillers Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen«. In: Ders., Der Bildungsauftrag von Musikschulen. Eine ideen- und institutionengeschichtliche Untersuchung am Beispiel Stuttgart. Augsburg: Wißner-Verlag, 2018, S. 49–53. – ISBN 9783-95786-115-3. 204. Hoorn, Tanja van: Affektregie. Schillers Verbrecher aus Leidenschaft. In: Die Erzählung der Aufklärung. Beiträge zur DGEJ-Jahrestagung in Halle

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an der Saale, 2015.  – Narrating Enlightenment and Enlightenment Narrative. Herausgegeben von Frauke Berndt und Daniel Fulda unter Mitarbeit von Cornelia Pierstorff. Hamburg: Felix Meiner Verlag, 2018, S.  554–562. (= Studien zum achtzehnten Jahrhundert. 38). – ISBN 978-3-7873-3356-1. 205. Leroy du Cardonnoy, Eric: Clio, une muse mineure? ou l’«Histoire du soulèvement des Pays-Bas« de Friedrich Schiller. In: La Mémoire des révoltes en Europe à l’époque moderne. Sous la direction d’Alexandra Merle, Stéphane Jettot et Manuel Herrero Sánchez. Paris: Éditions Classiques Garnier, 2018, S. 119–139. (= Classiques Garnier: Constitution de la Modernité. 14). – ISBN 978-2-406-08254-5. 206. Levrero, Paolo: Schiller e le »Lettere sull’educazione estetica«. In: Neuhumanismus. Volume 1. Pedagogie e culture Neoumanesimo tedesco tra Settecento e Ottocento. A cura di Mario Gennari. Genova: Il Melangolo, 2018, S. 162–191. (= Filosofia della formazione. 24). – ISBN 978-88-6983-118-8. Das Kapitel gliedert sich in die Abschnitte: Schiller. Una biografia nella cultura del Settecento europeo. – L’uomo e la sua educazione estetica. – Tensione naturale e morale nell’ ›ästhetische Erziehung‹. – Dall’ ›Erziehung‹ alla ›Bildung‹. L’ideale formativo dell’umanità. – L’›ästhetische Bildungstrieb‹. La tensione estetica all’umanità. 207. Luserke-Jaqui, Matthias: »Der Verbrecher aus verlorener Ehre« (1786/1792). In: Ders., Schiller-Studien. Der ganze Mensch und die Ästhetik der Freiheit. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2018, S. 91–103. – ISBN 978-3-7720-8651-9. Überarbeitete Fassung. Erstveröffentlichung in: Der Deutschunterricht. 2004, Heft 6 [Schiller-Bibliographie 2004, Nr. 348]. 208. Luserke-Jaqui, Matthias: »Geschichte des Abfalls der vereinigten Niederlande von der Spanischen Regierung« (1788). In: Ders., Schiller-Studien. Der ganze Mensch und die Ästhetik der Freiheit. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2018, S. 123–140. – ISBN 978-3-7720-8651-9. Überarbeitete Fassung. Erstveröffentlichung unter dem Titel: ›Dein Werk muß in Holland bekannt werden‹. Friedrich Schillers […]. In: NiederländischDeutsche Kulturbeziehungen 1600–1830. Herausgegeben von Jan Konst u.  a. Göttingen 2009 [Marbacher Schiller-Bibliographie 2009, Nr. 468]. 209. Sabbatini, Carlo: Storie di infamia ai tempi di Schiller. In: Giornale di Storia Costituzionale  /  Journal of Constitutional History. Macerata. 2018, №  35, S. 271–295. – ISBN 978-88-6056-576-1 / ISSN 1593-0793. 210. Stašková, Alice: Kunst und Staat in Schillers »Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen«. In: Politisch-soziale Ordnungsvorstellungen in



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der Deutschen Klassik. Herausgegeben von Walter Pauly und Klaus Ries. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 2018, S.  189–203. (= Staatsverständnisse. 119). – ISBN 978-3-8487-3513-6. 211. Witte, Bernd: ›Das verworfenste Volk der Erde‹. Friedrich Schiller. In: Ders., Moses und Homer. Griechen, Juden, Deutsche: Eine andere Ge­ schichte der deutschen Kultur. Berlin, Boston: Verlag Walter de Gruyter, 2018, S. 77–83. – ISBN 978-3-11-056217-0. Mit Schwerpunkt auf Schillers Jenaer Vorlesung »Die Sendung Moses«, deren Text in der Zeitschrift »Thalia« veröffentlicht worden ist.

7.5. Schiller als Herausgeber, Übersetzer, (Bühnen-)Bearbeiter und Literaturkritiker 212. Brittnacher, Hans Richard: Die Austreibung des Populären. Schillers Bürger-Kritik. In: Goethe Yearbook. Publications of the Goethe Society of North America. Edited by Adrian Daub and Elisabeth Krimmer. Columbia, SC (Camden House), Band 25 (2018), S. 97–107. – ISBN 978-1-64014-003-5. 213. Dörr, Volker C.: Schillers »Horen«: klassischer Epitext. In: Paratextuelle Politik und Praxis. Interdependenzen von Werk und Autorschaft. Herausgegeben von Martin Gerstenbräun-Krug und Nadja Reinhard. Wien: Böhlau Verlag, 2018, S. 147–162. – ISBN 978-3-205-20431-2. 214. Dröse, Astrid: Klassische Romantik. Schiller bearbeitet Carlo Gozzis »Turandot«. In: Schiller und die Romantik. Herausgegeben von Helmut Hühn, Nikolas Immer und Ariane Ludwig. Weimar: Weimarer Schillerverein, 2018, S. 47–70. – ISBN 978-3-00-060572-7. 215. Dröse, Astrid: Schiller zähmt Shakespeare. Der Weimarer »Macbeth« (1800/ 1801) im Licht der Kulturtransfer-Forschung. In: Shakespeare as German Author. Reception, Translation Theory, and Cultural Transfer. Edited by John A. McCarthy. Leiden, Boston: Brill Rodopi, 2018, S.  131–153. (= Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik. 90). – ISBN 978-90-04-36158-4. 216. Luserke, Jaqui, Matthias: »Anthologie auf das Jahr 1782«. In: Ders., SchillerStudien. Der ganze Mensch und die Ästhetik der Freiheit. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2018, S. 27–31. – ISBN 978-3-7720-8651-9. Überarbeitete Fassung. Erstveröffentlichung als Nachwort eines vom Verfasser herausgegebenen reprographischen Nachdrucks von Schillers Anthologie. Saarbrücken 2009 [Marbacher Schiller-Bibliographie 2009, Nr. 129].

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217. Penke, Niels  /  Schaffrick, Matthias: Popularität vs. Klassik. Die BürgerSchiller-Debatte. In: Dies., Populäre Kulturen zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag, 2018, S. 34–46. – ISBN 978-3-96060-303-0. 218. Pinna, Giovanna: Das Original erschaffen. Zu Schillers Übersetzungsstrategien. In: Kreative Praktiken des literarischen Übersetzens um 1800. Übersetzungshistorische und literaturwissenschaftliche Studien. Herausgegeben von Alexander Nebrig und Daniele Vecchiato. Berlin, Boston: Verlag Walter de Gruyter, 2018, S.  157–176. (= Untersuchungen zur Literaturgeschichte. 152). – ISBN 978-3-11-054039-0. 219. Rittersma, Rengenier C.: The Development of the Chosen One. On Schiller’s Sources for his »Egmont« Treatment. In: Ders., Mytho-Poetics at Work. A Study of the Figure of Egmont, the Dutch Revolt and its Influence in Europe. Translated by Christopher W. Reid. Leiden, Boston: Brill, 2018, S. 261–278. (= Brill’s Studies in Intellectual History. 266). – ISBN 978-90-0427083-1.

7.6. Schiller in Briefen und Korrespondenzen 220. Berghahn, Cord-Friedrich: Sprache – Literatur – Bildung. Der Briefwechsel zwischen Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schiller. In: Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung. Seelze. 70. Jg., 2018, Heft 2, S. 44–53. – ISSN 0340-2258. 221. Kimura, Naoji: Der »Goethe-Schiller-Briefwechsel« als Kulturerbe der deutschen Klassik. In: Ders., Spiegelbild der Kulturen. Philologische Wanderjahre eines japanischen Germanisten. Bern, Berlin u.  a.: Verlag Peter Lang, 2018, S. 77–93. (= Deutsch-ostasiatische Studien zur interkulturellen Literaturwissenschaft. 9). – ISBN 978-3-0343-3260-6. Erstveröffentlichung in dem deutsch-chinesischen Jahrbuch »Literaturstraße«, Band 7 (2006). [Marbacher Schiller-Bibliographie 2006, Nr. 421]. 222. Niehle, Victoria: Schillers Dialektik der Fülle – der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe als Zeugnis füllepoetologischer Überlegungen. In: Dies., Die Poetik der Fülle. Bewältigungsstrategien ästhetischer Überschüsse 1750-1810. Göttingen: V & R Unipress, 2018, S. 90–104. (= Literaturund Mediengeschichte der Moderne. 6). – ISBN 978-3-8471-0823-8. Das Kapitel gliedert sich in die Abschnitte: Die Ordnung der Fülle. – Rhetorische und imaginative Fülle: das sentimentalische Genie. – Empirische Fülle: Annäherung an Goethe. – Aisthetische Fülle. – Synthese.



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223. Palladino, Irmgard: Tot in Rom? Zur Denkfigur Unendlichkeit in den Texten Wilhelm von Humboldts. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann, 2018, 340 S. – ISBN 978-3-8260-6392-3. Das Kapitel ›Tod‹ enthält einen ›Exkurs zu den römischen Gesandtschaftsberichten‹ (S. 130–180): 4.1. Die Korrespondenz beim Tod Carl Wilhelms am 15. August 1803. – 4.1.1. Stilisierungen. Die Briefe an Johann Gottfried Schweighäuser und Friedrich Schiller versus den Bericht Caroline von Humboldts an ihren Vater. – 4.1.2. Rom als Reflexionsmedium. Die Oktoberbriefe an Johann Daniel Uhden, Friedrich Schiller und Karl Gustav von Brinkmann.  – 4.1.3. Ambivalenzen. Die Briefe an Johann Wolfgang Goethe und Gottlob Johann Christian Kunth aus dem Jahr 1804. – 4.2. Die Korrespondenz beim Tod Friedrich Schillers am 9. Mai 1805. – 4.2.1. Der wissenschaftliche Ansatz. Das überhistorische Gespräch des Geistes. Der Aprilbrief von Friedrich Schiller.

7.7. Einzelne Aspekte, Motive, Stoffe, Themen und Begriffe (werkübergreifend) 224. Auer, Michael: Schillers Kriege. In: Kriegstheater. Darstellungen von Krieg, Kampf und Schlacht in Drama und Theater seit der Antike. Herausgegeben von Michael Auer und Claude Haas unter Mitwirkung von Gwendolin Engels. Stuttgart: J. B. Metzler Verlag, 2018, S. 189–202. – ISBN 978-3-47604647-5. 225. Geisenhanslüke, Achim: Peinliche Reste. Schiller und die Ehre. In: Ders., Die Sprache der Infamie II. Literatur und Niedertracht. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag, 2018, S. 31–42. – ISBN 978-3-7705-6297-8. Das Kapitel gliedert sich in die Abschnitte: 2.1. Ende der Tragödie? – 2.2. Ehrwürdige Missetäter. »Die Räuber«. – 2.3. Ehrkonflikte in Schillers Dramen. – 2.4. Die verlorene Ehre der Maria Stuart. – 2.5. Von der Ehre zur Würde. 226. Geulen, Eva: Entfremdung bei Schiller. In: Negativität. Kunst, Recht, Politik. Herausgegeben von Thomas Khunara, Dirk Quadflieg, Francesca Raimondi, Juliane Rebentisch und Dirk Setton. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2018, S. 349– 356. (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft. 2267).  – ISBN 978-3-51829867-1. 227. Lehmann, Johannes F.: Leben, Arbeit, Tod. Zur literarischen Bedeutung von Steinen bei Homer, Schiller, Flaubert und Kafka. In: Das Verhältnis von res und verba. Zu den Narrativen der Dinge. Herausgegeben von Martina Wernli und Alexander Kling. Freiburg im Breisgau, Berlin, Wien: Rombach Verlag,

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2018, S. 225–240. (= Rombach Wissenschaften: Reihe Litterae. 231). – ISBN 978-3-7930-9904-8. 228. Pranteda, Maria Antonietta: La felicità nelle opere del primo Schiller. In: Momenti di felicità. A cura di Paola Rumore. Bologna: Società Editrice il Mulino, 2018, S. 81–92. – ISBN 978-88-15-27506-6.

7.8. Schiller in diversen Kontexten (auch Beiträge ohne Nennung Schillers im Titel) 229. Cadahia, María Luciana: Aesthetic ›Dispositifs‹ and Sensible Forms of Emancipation. In: Aesthetic Reason and Imaginative Freedom. Friedrich Schiller and Philosophy. Edited by María del Rosario Acosta López and Jeffrey L. Powell. Albany/NY: State University of New York Press (SUNY), 2018, S.  175–191. (= Contemporary Continental Philosophy).  – ISBN 978-14384-7219-5.

8. Nationale und internationale Wirkungsgeschichte 8.1. Studien zu literarästhetischen Rezeptionsformen 8.1.1. Allgemeine Untersuchungen und spezielle Aspekte (auch Preise) 230. Becker, Jürgen: Schillers unverwischbare Spur. Dankesrede zur Verleihung des Schiller-Rings der Deutschen Schillerstiftung am 14.  Mai 2009 in der Akademie der Künste in Berlin. In: Gelegenheiten. Aufsätze und Gespräche, Reden und Rezensionen. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Gabriele Ewenz. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2018, S.  347–356. (=  suhrkamp taschenbuch. 4831). – ISBN 978-3-518-46831-9. 231. Berghahn, Cord-Friedrich: ›uno de piu grandi ingegni che la repubblica letteraria abbia avuto‹. Schiller-Lektüren in der Frühzeit des Risorgimento. In: MusikTheorie. Zeitschrift für Musikwissenschaft. Laaber. 33. Jg., 2018, Heft 3, S. 199–215. – ISSN 0177-4182. 232. Breuer, Isaak: Ein Epilog zur Schillerfeier. In: Ders., Frühe literarische Texte. Berlin, Münster: LIT Verlag, 2018, S. 171–180. (= Isaak Breuer: Werkausgabe, Band  3; Texte und Studien zur deutsch-jüdischen Orthodoxie. 6).  – ISBN 978-3-643-13393-9.



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233. Davidis, Michael: ›Schiller ist mir noch immer mein höchstes‹. Ludwig I. auf Schloss Greifenstein. In: Mittelfränkisches Jahrbuch für Geschichte und Kunst. Schriftleitung: Daniel Karch. Baunach: Spurbuchverlag, Band  70, 2018, S. 261–275. – ISBN 978-3-88778-555-0. 234. Fiedler, Juliane: Nationale Festkultur im 19.  Jahrhundert. Das Schillerfest 1859. In: Dies., Konstruktion und Fiktion der Nation. Literatur aus Deutschland, Österreich und in der Schweiz in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts. Stuttgart: J. B. Metzler Verlag, 2018, S. 183–210. – ISBN 978-3-65819733-9. Das Kapitel gliedert sich in die Abschnitte: Fest- und Gelegenheitslyrik am Beispiel der Schillerfestgedichte.  – [Wilhelm] Raabes Gedicht »Zum Schillerfest«. – Zwei Schillerfestgedichte von Gottfried Keller. – Anastasius Grüns Schillergedichte im Vor- und Nachmärz. 235. Kretschmann, Winfried: Schiller-Gedächtnispreis. Verleihung des SchillerGedächtnispreises 2013 des Landes Baden-Württemberg an Rainald Goetz, Stuttgart, 16.  November 2013. In: Ders., Reden. Was unsere Gesellschaft zusammenhält. Zusammengestellt und herausgegeben von Michael Kienzle. Tübingen: Silberburg Verlag, 2018, S. 125–127. – ISBN 978-3-8425-2094-3. 236. Mackasare, Manuel: Das Heroische als Grundzug. Heldentum als zentrales Element gelehrter Schiller-Rezeption. 1871-1914. In: Helden. E-Journal zu Kulturen des Heroischen. Freiburg im Breisgau. 2018, Heft  4, S.  37–46.  – ISSN 2198-4662 (Elektronische Ressource). 237. Schmälzle, Christoph: Schillers Dinge und Schillerdinge. Zum Nachleben eines Klassikers. In: Ich danke Ihnen für Ihr Andenken. Idee und Alltag in Friedrich Schillers Rudolstädter Umfeld. Redaktion: Daniela Danz, Jeanette Lauterbach und Lutz Unbehaun. Rudolstadt: Thüringer Landesmuseum Heidecksburg, 2018, S. 69–95. – ISBN 978-3-947272-08-2. 238. Selbmann, Rolf: Schiller. In: Ders., Epochenjahr 1859. Kulturelle Verdichtung und geschichtliche Bewegung. Würzburg: Verlag Königshausen & Neumann, 2018, S. 251–278. – ISBN 978-3-8260-6626-9. Das Kapitel gliedert sich in die Abschnitte: Schiller stiftet. – Schiller-Feiern. – Schiller- und andere Denkmäler. 239. Zinn, Laura: Schiller. In: Dies., Fiktive Werkgenesen. Autorschaft und Intermedialität im gegenwärtigen Spielfilm. Bielefeld: Transcript Verlag, 2017, S. 235–256. – ISBN 978-3-8376-4098-4. Das Schiller-Kapitel gliedert sich in die Abschnitte: Drama und Musik.  – Genieästhetik. – Kabale, Liebe und Schauspiel.

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8.1.2. Wirkung auf Personen in Literatur, Kultur und Wissenschaft 240. Baumann, Christiane: Berliner Debakel. Der Schillerpreis. In: Dies., Richard Voß. 1850-1918. Revoluzzer, Männerfreund, Bestsellerautor. Paderborn: Mentis Verlag, 2018, S. 191–200. – ISBN 978-3-95743.129-5. 241. Felten, Agnès: Exil et générosité chez Friedrich Schiller et Dea Loher [*1964]. In: Solitaire et solidaire. Création et engagement à l’œuvre dans la littérature. Actes du colloque de l’Association européenne François Mauriac, Bordeau 2017. Textes réunis par Galyana Dranenko, Françoise Hanus et Nina Nazarova. Paris: L’Harmattan, 2018, S.  87–96.  – ISBN 978-2-34316176-1. 242. Graff, Max: Die Würde der Krankheit. Thomas Manns Essay »Goethe und Tolstoi«, Schiller und die Menschenwürde. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch. Herausgegeben von Matthias Bauer, Susanne Friede, Béatrice Jacobs, Klaus Ridder, Gertrud M. Rösch und Christoph Strosetzki. Band 59 (2018). Berlin: Verlag Duncker & Humblot, 2018, S. 229–256. – ISBN 978-3428-55518-5. 243. Höving, Vanessa: Literatur, Ästhetik, Medientechnik. [E.T.A.] Hoffmann und Schiller. In: Dies., Projektion und Übertragung. Medialitätsverhandlungen bei Droste-Hülshoff. Freiburg im Breisgau, Berlin, Wien: Rombach Verlag, 2018, S. 75–89. (= Rombach Wissenschaften: Reihe Litterae. 230). – ISBN 978-3-7930-9903-1. 244. Kuhberg, Maria: Chor und Krieg. Schillers Ästhetik in Elfriede Jelineks »Ein Sportstück«. In: Kriegstheater. Darstellungen von Krieg, Kampf und Schlacht in Drama und Theater seit der Antike. Herausgegeben von Michael Auer und Claude Haas unter Mitwirkung von Gwendolin Engels. Stuttgart: J. B. Metzler Verlag, 2018, S. 287–300. – ISBN 978-3-476-04647-5. 245. Kull, Carolin: Juli Zehs »Spieltrieb«. Intertextuelles Spiel als Ausdruck von Gesellschafts- und Kulturkritik. Berlin, Bern, Wien: Verlag Peter Lang, 2018, 342 S. (= Bochumer Schriften zur deutschen Literatur. Neue Folge. 8).  – ISBN 978-3-631-77076-4. Die Untersuchung enthält folgende Kapitel und Abschnitte mit unmittelbarem Bezug auf Schiller: 2. ›Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.‹ Von der intertextuellen Referenz auf Schriften Friedrich Schillers (S. 73  ff.). – 3. Intertextuelle Zugänge über Friedrich Schillers Spieltrieb-Begriff: 3.1 Der Titel des Romans »Spieltrieb«: eine Anlehnung an Friedrich Schillers Trieblehre (S. 77  ff.). – 3.2. Die Protagonisten Alev und Ada im Spiegel der schillerschen



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Trieblehre (S. 83  ff.). – 4.2. Das ästhetische Spiel bei Friedrich Schiller als Kontrast wider des strategischen Spiels Alevs und Adas (S.  95  ff.).  –  – 6. Friedrich Schiller »Das Lied von der Glocke« – eine Chiffre für Kulturmündigkeit?! (S. 133  ff.). 246. Luserke-Jaqui, Matthias: Georg Herweghs Schiller. In: Ders., SchillerStudien. Der ganze Mensch und die Ästhetik der Freiheit. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2018, S. 249–269. – ISBN 978-3-7720-8651-9. Überarbeitete Fassung. Erstveröffentlichung unter dem Titel: ›Sie lieben alle den Schiller mehr – das verfluchte Volk‹. Büchners Lenz und Georg Herweghs Schiller. In: Georg Büchner und das 19.  Jahrhundert. Herausgegeben von Ariane Martin und Isabelle Stauffer. Bielefeld 2012 [Marbacher SchillerBibliographie 2012, Nr. 585]. 247. Luserke-Jaqui-Matthias: Gustav Schwabs »Schiller«-Buch (1840) und seine Stuttgarter Schiller-Rede. In: Ders., Schiller-Studien. Der ganze Mensch und die Ästhetik der Freiheit. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2018, S.  271– 284. – ISBN 978-3-7720-8651-9. Überarbeitete Fassung. Erstveröffentlichung unter dem Titel: ›Heisa juchheisa dudeldumdei […]. In: Mörike und sein Freundeskreis. Herausgegeben von Barbara Potthast u.  a. Heidelberg 2015 [Marbacher Schiller-Bibliographie 2015, Nr. 286]. 248. Oellers, Norbert: ›Ein Glück, daß wir ihn besitzen.‹ Fontanes Verhältnis zu Schiller. In: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte. Band 25. Herausgegeben von Gerlinde Schlenker und Harro Kieser. Bonn: Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat, 2018, S. 69–80. – ISBN 978-3-98188-710-5. 249. Topa, Alessandro: As categorias sob disfarce. Uma especificação categorialógica da consideração de D[avid] Dilworth da proveniência das categorias de [Charles S.] Peirce em Schiller. In: Cognitio. Revista de Filosofía (Pontificia Universidade Católica de São Paulo), 19. Jg., 2018, № 1, S. 160–178. – ISSN 1518-7187 (Print) / ISSN 2316-5278 (Elektronische Ressource). 250. Topa, Alessandro: O ressurgimento de Schiller nas recordações das Cartas Estéticas de [Charles S.] Peirce. Um adendo crítico à explicação de D[avid] Dilworth sobre a prodedência das categorias de Peirce em Schiller. In: Cognitio. Revista de Filosofía (Pontificia Universidade Católica de São Paulo), 18. Jg., 2017, № 2, S. 326–343. – ISSN 1518-7187 (Print) / ISSN 23165278 (Elektronische Ressource). 251. Urban, Bernd: Edith Stein und Friedrich Schiller: ›die mir genehme Weltanschauung‹. Literarisch-philosophische Rezeptionsverläufe zu ›Gottes-

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schau‹, ›Aufstieg‹ und ›Sühnopfer‹. In: Ders., Fundamente. Edith Steins Klassik- und Psychoanalyse-Rezeption. Texte – Kommentare – Dokumente. Berlin, Bern, Wien: Verlag Peter Lang, 2018, S.  177–222.  – ISBN 978-3-63176507-4. Das Kapitel gliedert sich in die Abschnitte: 1. Einleitung.  – 2. Ideal und Leben.  – 3. Eugen Kühnemann: ›Schiller‹  – »Philosophische Briefe«.  – 4. Schiller: Philosophie und Ästhetik. – 5. Zwischen-Spiel: das ›Schöne‹ und die ›Tat‹  – Schiller in St. Magdalena.  – 6. Zitat-Stützen: chronologisch.  – 7. Kreuz – Kassandra-Trauer – ›edle Seele‹. – Anhang 1. – Anhang 2.

8.1.3. Rezeption im fremdsprachigen Ausland 252. Simon-Szabó, Ágnes: Edition der Schiller-Übersetzungen von Sándor Bölöni Farkas [1795-1842]. In: Netzwerke und Transferprozesse. Studien aus dem Bereich der Germanistik. Beiträge der VII. Internationalen Germanistentagung an der Christlichen Universität Partium Großwardein/Nagyvárad/Oradea, 2016. Herausgegeben von Andrea Krisztina Bánffi-Benedek, Gizella Boszák, Suabolc János und Ágota Nagy. Wien: Praesens Verlag, 2018, S. 37–46. (= Schriftenreihe des Lehrstuhls für Germanistische Sprachund Literaturwissenschaft der Christlichen Universität Partium. 14). – ISBN 978-3-7069-0996-9.

8.2. Schillers Werke auf der Bühne 8.2.1. Rückblicke auf historische Aufführungen 253. Beck, Florian: Die Meininger spielen Schillers »Die Jungfrau von Orleans«. Meiningen: Kulturstiftung Meiningen-Eisenach, 2018, 80 S., 4°. – ISBN 9783-910114-25-8. Umfangreiche Bild-Dokumentation (Zeichnungen, Bühnenbilder, Theaterzettel, Requisiten) mit einem Geleitwort von Winfried Wiegand (S. 3) und einem Essay von Florian Beck: Friedrich Schillers »Die Jungfrau von Orleans« und das Meininger (Hof)-Theater (S. 4–8).

Streim, Claudia: Historisierende Bühnenpraxis im 19.  Jahrhundert, s. Kap. 7.3.10, Nr. 194.



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8.2.2. Aktuelle Inszenierungen im Spiegel der Presse (Auswahl) a) Don Karlos 254. Grenzmann, Teresa: Leg ab den Stachelpanzer. Martin Kušej inszeniert »Don Karlos« in München. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nr. 115 vom 19. 05. 2018, S. 15. 255. Mayer, Norbert: Ein nachtschwarzer »Don Karlos«. Residenztheater: Martin Kušej inszeniert in München Friedrich Schillers Freiheitsdrama präzise als böse Utopie. Dabei wird das Bleierne der Zeit etwas zu ausführlich zelebriert. In: Die Presse. Wien. Nr. 21570 vom 19. 05. 2018, S. 19. 256. Schloemann, Johan: Sieg des Systems. Martin Kušej hat am Münchner Residenztheater Schillers »Don Karlos« inszeniert. Man hört nichts, sieht nichts, versteht nichts – und trotzdem ist das ein starker Theaterabend, auf den es sich einzulassen lohnt. In: Süddeutsche Zeitung. München. Nr. 114 vom 19./20./21. 05. 2018, S. 18. 257. Skasa, Michael: Karlos im Darkroom. Martin Kušej schwärzt Schillers »Don Karlos« am Münchner Residenztheater. In: Die Zeit. Nr. 22 vom 24. 05. 2018, S. 41. 258. Altmann, Alexander: Munkeln im Dunkeln. Martin Kušej inszeniert Schillers »Don Karlos« am Münchner Residenztheater als Mitfühl-Theater im RetroDesign. In: Bayerische Staatszeitung. München. Ausgabe vom 25. 05. 2018, S. 27. 259. Simon, Anne-Catherine: Don Karlos und seine kühle Diana. Die Polin Bar­ bara Wysocka inszeniert Schillers Stück im Volkstheater zügig zugespitzt auf die Verwüstungen der Macht – und bietet dabei so viel, dass man rasch in Kauf nimmt, was vom Reichtum des Originals hier verloren geht. In: Die Presse am Sonntag. Wien. Nr. 21748 vom 18. 11. 2018, S. 44. 260. Danielczyk, Julia: Klassisches Plädoyer für die Demokratie. In: Die Furche. Wien. Nr. 47 vom 22. 11. 2018, S. 23. – Zur Inszenierung von Barbara Wysocka im Wiener Volkstheater. b) Die Jungfrau von Orleans 261. Bauer, Arnim: Freudvoller Kampf um die Aktualität Schillers. Der Regisseur Uwe Hoppe spricht über seine Inszenierung der »Jungfrau von Orleans« am Theater der Altstadt [Stuttgart]. In: Ludwigsburger Kreiszeitung. Nr. 15 vom 19. 01. 2018, S. 21.

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262. Fischer, Sabine: Schnee von gestern. Schillers »Jungfrau von Orleans« im Theater der Altstadt. In: Stuttgarter Nachrichten. Nr.  17 vom 22. 01. 2018, S. 13. – Leicht gekürzte Fassung des Artikels mit dem Untertitel: Im Theater der Altstadt spult Uwe Hoppe Schillers »Jungfrau von Orleans« nur halbherzig herunter. In: Stuttgarter Zeitung. Nr. 17 vom 22. 01. 2018, S. 10. c) Kabale und Liebe 263. Funke, Daniel: Einzig Ferdinand spricht. Schillers »Kabale und Liebe« am Berliner Theater Ballhaus Ost erweist sich als eigenwillige Interpretation. In: Märkische Oderzeitung. Bernau. Ausgabe vom 29. 01. 2018, S. 16. 264. Wirth, Thomas: Plakative Familienaufstellung samt Hausmusik in einer feudalen Altbauwohnung. Friedrich Schillers »Kabale und Liebe« hatte am Theater Ansbach Premiere – Susanne Schulz inszeniert das bürgerliche Trauerspiel mit Brechungen. In: Fränkischer Anzeiger. Ansbach. Ausgabe vom 26. 02. 2018, o.S. 265. Özbek, Christina: Ein junges Liebespaar im Spinnennetz der Intrigen. Schillers »Kabale und Liebe« an der Markgraf-Georg-Friedrich-Realschule in Heilsbronn. In: Fränkische Landeszeitung / Ansbacher Tageblatt. Ausgabe vom 12. 05. 2018, o.S. 266. Schmidt, Reinhard: Abneigung gegen die Zuneigung. Rohestheater aus Aachen beglückt die Zuschauer mit Schiller-Drama »Kabale und Liebe«. In: Waldeckische Landeszeitung. Korbach. Ausgabe vom 14. 05. 2018, S. 7. 267. Wildermann, Patrick: Die Krauts sind sauer. Aber der Brexit bringt uns nicht auseinander: das deutsch-schottische Projekt »1210 km« und Schillers »Kabale und Liebe« im Theater an der Parkaue. In: Der Tagesspiegel. Berlin. Nr. 23624 vom 19. 10. 2018, S. 20. 268. Amzoll, Stefan: Prösterchen – im Sekt ist Gift. Peinlich: Jo Fabian inszeniert Schillers »Kabale und Liebe« am Staatstheater Cottbus. In: Neues Deutschland. Berlin. Nr. 271 vom 21. 11. 2018, S. 8. d) Maria Stuart 269. Fleischer, Gabriele: Königlicher Intrigantenstadl ohne Pep. Friedrich Schillers »Maria Stuart« erlebt im Großen Haus des Staatsschauspiels Dresden eine eher biedere Premiere. In: Freie Presse. Chemnitz. Ausgabe vom 23. 01. 2018, S. A1. – Zur Inszenierung von Thomas Dannemann.



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270. Görtler, Rudolf: Lieber sterben als verheiratet sein. Theater am Gärtnerviertel: Dacia Marainis »Maria Stuart« im Foyer Weyermann ist ein feministisch aufgeladenes Geschichtsdrama. Schwerblütig, aber grandios gespielt und intelligent inszeniert. In: Fränkischer Tag. Bamberg. Ausgabe vom 03. 02. 2018, S. 16. 271. Sternburg, Judith von: In der Klemme: Eine umweglos spannende, intensive »Maria Stuart« am Staatstheater Mainz. In: Frankfurter Rundschau. Nr. 200 vom 29. 08. 2018, S. 36. – Zur Inszenierung von Dariusch Yazdkhasti. 272. Schöpfer, Dorothee: Schiller vom Feinsten, werktreu und zeitgemäß. Der neue Intendant Axel Preuß hat im Alten Schauspielhaus mit »Maria Stuart« ein Zeichen gesetzt. In: Stuttgarter Zeitung. Nr. 215 vom 17.09.2018, S. 10. – Leicht veränderte und gekürzte Fassung des Artikels in: Stuttgarter Nachrichten. Nr. 215, vom 17. 09. 2018, S. 10. 273. Bauer, Arnim: Ausgerechnet Schiller. Falsche Stückauswahl vermasselt Axel Preuss den Start an den Schauspielbühnen. In: Ludwigsburger Kreiszeitung. Nr. 215 vom 17. 09. 2018, S. 18. 274. Sternburg, Judith von: Keine Welt für einen aufrechten Gang. Mit einem Maria-Stuart-Doppel eröffnen die neuen Intendantinnen am Landestheater Marburg ihre erste Spielzeit. In: Frankfurter Rundschau. Nr.  233 vom 25. 09. 2018, S. 34. – Zu den Inszenierungen von Eva Lange und Carola Unser. 275. Mayer, Norbert: Es geht abwärts mit Maria Stuart. Schauspielhaus Graz: Stephan Rottkamp hat Friedrich Schillers große Tragödie auf bloß Wesentliches reduziert: Kältestes Kalkül herrscht, starke Königinnen sind zu sehen. In: Die Presse. Wien. Nr. 21729 vom 29. 10. 2018, S. 21. e) Die Räuber 276. Behrens, Lutz: Schillers Geniestreich neu inszeniert. »Die Räuber«: Schillers geniales Jugendwerk wird, zum wiederholten Male, in Plauen inszeniert. Diesmal von Till Weinheimer […]. In: Vogtland-Anzeiger. Plauen. Ausgabe vom 30. 01. 2018, S. 12. 277. Kirchner, Lutz: Schillers Comeback als Thriller. Till Weinheimer hat das Sturm-und-Drang-Drama »Die Räuber für das Theater Plauen-Zwickau in­ sze­niert […]. In: Freie Presse. Chemnitz. Ausgabe vom 12. 02. 2018, S. 7.

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278. Agthe, Kai: Blutige Familienbande. Theater Eisleben: Emotionsgeladenes Jugendwerk. Warum die Stuttgarter Regisseurin Sonja Wassermann in Schillers Drama »Die Räuber« die Hauptakteure verdreifacht. In: Mitteldeutsche Zeitung. Halle/Saale. Ausgabe vom 02. 03. 2018, S. 23. 279. Weyer, Eva-Maria: Gesetze der Welt als Würfelspiel. Uckermärkische Bühnen zeigen mit Schiller in Schwedt einen Krimi aus der Gegenwart. In: Märkische Oderzeitung. Ausgabe vom 26. 03. 2018, S. 18. – Zur Inszenierung von André Nicke. 280. Müller, Ernst: Wie die Räuber zu Killern wurden. Das Krefelder Stadttheater führt Schillers Schauspiel »Die Räuber« auf. In: Stadt Spiegel. Krefeld. Ausgabe vom 02. 05. 2018, S. 5. – Zur Inszenierung von Matthias Gehrt. 281. Diederichs, Petra: Schillerkommando in Chucks. Mit Schillers Drama »Die Räuber« schlägt Regisseur Matthias Gehrt die Brücke vom 18. ins 21. Jahrhundert. Eine gefeierte Premiere. In: Rheinische Post. Krefeld. Ausgabe vom 04. 05. 2018, S. C5. 282. Renner, Vanessa: Ein Spiel um Wut und Hass. »Die Räuber«: Schillers Erstlingswerk auf der M8-Bühne im Kulturzentrum besticht auch durch die leisen Töne. In: Allgemeine Zeitung. Mainz. Ausgabe vom 07. 05. 2018, S. 16. – Zur Inszenierung von Philip Barth. 283. Hübner, Dieter: »Die Räuber« am Wehlitzer Berg. Friedrich Schillers Klassiker feiert am Freitag, 1. Juni, um 20.30 Uhr Premiere an der Trebgaster Naturbühne. In: Bayerische Rundschau. Ausgabe vom 31. 05. 2018, S.  18.  – Zur Inszenierung von Jasmin Sarah Zamani. 284. Hering, Elmar: »Räuber« zwischen Freiheit und Tod. Theater-AG des Westerwald-Gymnasiums glänzt mit zeitlosem Drama von Friedrich Schiller. In: Rhein-Zeitung. Altenkirchen, Koblenz. Ausgabe vom 02. 06. 2018, S. 13. 285. Klaschka, Klaus: Ein Drama – perfekt inszeniert. Das Ensemble der Naturbühne Trebgast glänzt in Schillers Stück »Die Räuber«. Die Inszenierung ist einfach fesselnd. In: Frankenpost. Hof. Ausgabe vom 04. 06. 2018, S. 8. – Auch in: Nordbayerischer Kurier. Ausgabe vom 04. 06. 2018, S. 19. – Zur In­ sze­nierung von Jasmin Sarah Zamani. 286. Diekmann, Norbert: Premiere eines ambitionierten Projekts. Schillers »Räuber« am Werner-von-Siemens-Gymnasium. In: Westfälische Nachrichten / Gronauer Nachrichten. Ausgabe vom 21. 06. 2018, S. 18.



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287. Butschek, Isabelle: Rebellion per Tastendruck. Schorndorf: Neun Hacker und ihr Kampf für mehr Gerechtigkeit auf der Welt. Das Phoenix-Ensemble Lebenswelten führt am 7. und 8. Juli seine Version von Schillers »Die Räuber« auf. In: Stuttgarter Nachrichten. Ausgabe vom 03. 07. 2018, S. 5. 288. Spannhake, Helga: Theater-AG gelingt eindrucksvolle Räuber. Schillers Tragödie erlebt auf der Schwabenbühne [Asperg] eine reizvoll-moderne Inszenierung mit guten Darstellern. In: Ludwigsburger Kreiszeitung. Ausgabe vom 04. 07. 2018, S. 12. 289. Ellwanger, Mathias: Von Räubern und Politaktivisten. Das Ensemble »Le­ bens­welten« des Figurentheaters Phoenix inszeniert Schillers »Die Räuber«. In: Schorndorfer Nachrichten. Ausgabe vom 04. 07. 2018, S. 10. 290. Berger, Jürgen: Im Schatten des Kanzlerkörpers. Christian Holtzbauer startet am Mannheimer Schauspiel mit Schiller und Helmut Kohl. In: Süddeutsche Zeitung. München. Nr. 228 vom 4. 10. 2018, S. 11. f) Wilhelm Tell 291. an: Vom freien Mann zum Freiheitskämpfer. Spielzeiteröffnung der Freilichtspiele Schwäbisch Hall mit Schillers »Wilhelm Tell«. In: Aalener Nachrichten. Ausgabe vom 04. 06. 2018, S.  10.  – Zur Inszenierung von Christian Doll. 292. Lober, Bettina: Im Gefängnis der Freiheit. Held aus Versehen: Intendant Christian Doll eröffnet die 93. Spielzeit auf der Großen Treppe mit einer gelungenen Premiere von Schillers »Wilhelm Tell« und stellt damit Fragen zum Thema Freiheit. In: Haller Tagblatt. Schwäbisch Hall. Ausgabe vom 11. 06. 2018, S. 15. 293. Stegmaier, Jürgen: Rascheln in schwerer See. Freilichtspiele: Die Hauptdarsteller Gunter Heun und Thomas Klenk sprechen bei der Premierenfeier über »Tell« im Regen. Oskar-Preisträger Gerd Nefzer erklärt den Unterschied zwischen Film und Theater. In: Haller Tagblatt. Schwäbisch Hall. Ausgabe vom 11. 06. 2018, S. 10. 294. Kurz, Tanja: Starke Symbole auf der Treppe. Freilichtspiele: Zum Saisonauftakt in Schwäbisch Hall inszeniert Intendant [Christian] Doll Schillers Freiheitsdrama »Wilhelm Tell«. In: Stuttgarter Zeitung. Nr. 131 vom 11. 06. 2018, S. 9. – Auch in: Stuttgarter Nachrichten. Nr. 131 vom 11. 06. 2018, S. 13.

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295. König, Ansgar: Wilhelm Tell als Westernheld. Christian Doll inszeniert Schillers Freiheitsdrama auf der Großen Treppe in Schwäbisch Hall. In: Schwäbische Zeitung. Ravensburg. Ausgabe vom 12. 06. 2018, S. 11. 296. Kanold, Jürgen: Äpfel, Kakteen und Musik. Freilichttheater: Die Klassiker, bei denen es rein ums Wort geht, sind rar. Schillers »Wilhelm Tell« zum Saisonstart auf der Treppe in Schwäbisch Hall. In: Südwest Presse. Ulm. Ausgabe vom 12. 06. 2018, S. 22. – Zur Inszenierung von Christian Doll. 297. Grenzmann, Teresa: Tyrannenmörder trifft Trümmerfrau. Rütli-Schwur ohne Kuhglockenidyll: Friedrich Schillers »Wilhelm Tell« feiert bei den Passionsspielen in Oberammergau eine Premiere mit Licht und Schatten. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Nr. 156 vom 09. 07. 2018, S. 13. – Zur Inszenierung von Christian Stückl. 298. Just, Barbara: Ein Held wider Willen. »Wilhelm Tell« in Oberammergau. In: Nürnberger Zeitung. Ausgabe vom 09. 07. 2018, S. 23. – Zur Inszenierung von Christian Stückl. 299. Brandl, Melanie: Zwischen Widerstand und Terror. Christian Stückl inszenierte Friedrich Schillers »Wilhelm Tell« im Passionstheater Oberammergau. In: Münchner Merkur. Ausgabe vom 09. 07. 2018, S. 17. 300. Hejny, Mathias: Schaulaufen für Jesus. Christian Stückl inszeniert Schillers »Wilhelm Tell« im Passionstheater als Breitwand-Spektakel. In: Abendzeitung. München. Ausgabe vom 09. 07. 2018, S. 27. 301. Rainer, Anton: Countdown zur Kreuzigung. Das wohl härteste Laien-Casting: Christian Stückl inszeniert Schillers »Wilhelm Tell« in Oberammergau. In: Süddeutsche Zeitung. München. Nr. 155 vom 09. 07. 2018, S. 11. 302. Gärtner, Hans: ›Schieß  – oder stirb!‹ Schiller-Drama »Wilhelm Tell« wird im Oberammergauer Passionsspielhaus aufgeführt. In: Berchtesgadener Anzeiger. Ausgabe vom 14. 07. 2018, S. 27. – Zur Inszenierung von Christian Stückl. 303. Bossenz, Ingolf: ›Aurora‹-Schuss in hohler Gasse. »Wilhelm Tell« in Oberammergau: Christian Stückl inszenierte Schillers Drama als Passion eines Individualisten. In: Neues Deutschland. Berlin. Nr.  165 vom 18. 07. 2018, S. 13.



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g) Wallenstein 304. Ropohl, Birgit: Wallenstein lockt nach Altdorf. Festspiele: Alle drei Jahre sorgen rund 1000 Bürger für ein großes Spektakel. In: Mittelbayerische Zeitung. Regensburg. Ausgabe vom 08. 06. 2018, S.  38.  – Zur Inszenierung von Michael Abendroth. 305. Bomhard, Lorenz: Wallenstein stiftete den Altdorfer Kultursommer. Zwei Theaterstücke, historisches Lagerleben und etliche Zusatzveranstaltungen bei den Festspielen. In: Nürnberger Nachrichten. Ausgabe vom 09. 06. 2018, S. 15. – Zur Inszenierung von Michael Abendroth. 306. Spandler, Gisa: Held scheiterte an sich selbst. Zuschauer erleben furiosen Auftakt der Festspiele mit Schillers »Wallenstein« in Altdorf. In: Hersbrucker Zeitung. Ausgabe vom 26. 06. 2018, S.  30.  – Zur Inszenierung von Michael Abendroth. h) Turandot 307. Agthe, Kai: Todesspiel am Kaiserhof. Klein-China auf dem Campus: Das Puppentheater Halle zeigt Friedrich Schillers »Turandot« als Sommertheater. In: Mitteldeutsche Zeitung. Halle/Saale. Ausgabe vom 04. 06. 2018, S. 25.

8.2.3. Aktuelle Inszenierungen von musikalischen Adaptionen (Opern) Keine Nachweise im laufenden Berichtsjahr

8.3. Mediale Bearbeitungen (Ton, Film, Partitur) 308. Camartin, Iso: Vom Dom Karlos zu Don Karlos, Don Carlos und Don Carlo. In: MusikTheorie. Zeitschrift für Musikwissenschaft. Laaber. 33. Jg., 2018, Heft 3, S. 251–258. – ISSN 0177-4182. 309. Faverzani, Camillo: »I briganti« de Jacopo Crescini pour Saverio Mercadante, un opéra parisien entre réminiscences schilleriennes et suggestions pré-verdiennes. In: Die Musik des Mörders. Les romantiques et l’opéra / I romantici e l’opera. Sous la direction de Camillo Faverzani. Préface de Béatrice Didier. Lucca: Libreria Musicale Italiana, 2018, S. 43–65. (= Sediziose Voci: Studi sul Melodramma. 7). – ISBN 978-88-7096-942-9.

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310. Gier, Albert: Verdi und der junge Schiller. »I Masnadieri« – »Luisa Miller«. In: MusikTheorie. Zeitschrift für Musikwissenschaft. Laaber. 33. Jg., 2018, Heft 3, S. 217–227. – ISSN 0177-4182. 311. Kraus, Michael: »Kabale und Liebe« von Gottfried von Einem (Direktion: Egon Seefehlner). In: Ders., Die musikalische Moderne an den Staatsopern von Berlin und Wien. 1945-1989. Paradigmen nationaler Kulturidentitäten im Kalten Krieg. Stuttgart: J. B. Metzler Verlag, 2017, S. 408–414. – ISBN 9783-476-04352-8. 312. Ottomano, Vincenzina C.: ›A dirlo io fremo!‹ Raum, Sprache und das Unaussprechliche in »Luisa Miller« [von Giuseppe Verdi]. In: MusikTheorie. Zeitschrift für Musikwissenschaft. Laaber. 33. Jg., 2018, Heft  3, S.  229–250.  – ISSN 0177-4182. 313. Tschaikowsky, Peter: Muzyka k gimnu »K radosti« [»An die Freude«] F. Schillera. Dlja solistov, smešannogo chora i orkestra (ČS 62), 1865. / Music to the hymn »To Joy« by F. Schiller. For Solo Voices, Mixed Choir and orchestra (ČS 62), 1865 / Petr Iľič Cajkovskij. Naučny redaktor [Edited by] Tamara Zakirovna Skvirskaja. Partitura. Čeljabinsk: MPI Music Production International; Mainz: Schott Verlag, 2018, LXXXIV, 296 S. (= Akademičeskoe polnoe sobranie sočinenij  /  Petr Iľič Cajkovskij. Ser. 4, Tom  1: Kantaty i chrovye proizvedenija s orkestrom i a cappella).  – ISBN 978-3-7957-1558-8  /  ISMN 979-0-001-20635-8. Vorwort und Einführung der Herausgeberin in russischer und englischer Sprache; Gesangstext russisch (kyrillisch und transliteriert). – Die Angaben wurden aus dem digitalen Katalog KVK/HEBIS übernommen.

8.4. Studien zu Illustrationen und Ikonographie 314. Hellwig, Uwe: Zu Schillers »Die Bürgschaft«.  – Zur Schiller-Galerie. In: Ders., Studien zu Moritz Retsch (1779-1857) und seinen Umrissillustrationen im verlegerischen Kontext. Göttingen: Georg-August-Universität, Dissertation [2013], 2018, S. 117–126. 315. Thum, Agnes: Friedrich Schiller – Bilder für den bürgerlichen Hausschatz. In: Erzählen in Bildern  – Edward von Steinle und Leopold Bode. Herausgegeben von Herbert W. Rott und Ulf Sölter. München, London, New York: Prestel Verlag, 2018, S. 150–165. – ISBN 978-3-7913-5840-6.



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8.5. Produktive Rezeption: Fiktionalisierungsformen 316. Bartsch, Wilhelm: Frankensteinmonstrum. Aus Schiller, Thoreau und Stasiuk. In: Ders., Gotische Knoten. Zornige Gedichte. Mit Zeichnungen von Gerd Mackensen. Bucha bei Jena: Edition Ornament im Quartus-Verlag, 2018, S. 73–75. – ISBN 978-3-943768-87-9. 317. Griebe, Hans-Joachim: Schiller und Goethe [Gedicht]. In: An Dichtungen. Künstler über und an Kollegen. Grafiken von Rolf Menrath. Lektorat: Felicitas Hahn. Buxtehude: Verlag Rote Zahlen, 2014, S.  121. (= edition rote zahlen. 20). – ISBN 978-3-944643-46-5. 318. Meylaender, Nicolas: Die Legende von Wilhelm Tell. Eine Graphic Novel nach Friedrich Schiller. Illustrationen von David Boller. Wollerau/CH: Tell Branding, 2. Auflage 2017, 48 S., 4°. – ISBN 978-3-906885-01-8. Französische Übersetzung u.d.T. »La légende de Guillaume Tell.« L’adaption en bande dessinée de l’œuvre de Schiller. Wollerau/CH: Tell Banding, 2016, 48 S. – ISBN 978-3-906885-00-1. – – Englische Übersetzung u.d.T. »The legend of Wilhelm Tell.« A graphic novel after Friedrich Schiller. Wollerau/CH: Tell Branding, 2016, 48 S. – ISBN 978-3-906885-02-5. 319. Opilik, Klaus: Räuber. Aufruhr. Frei nach Schiller. Den Bühnen gegenüber als Handschrift gedruckt. Weinheim an der Bergstraße: Deutscher Theater Verlag, 2017, 58 S. – Keine ISBN.

8.6. Schiller im Deutschunterricht (Auswahl) 320. Keiser, Wolfhard: Friedrich Schiller, »Der Taucher« (1797). In: Ders., Beliebte Balladen interpretiert. Deutsch 9.-12./13. Klasse. Hollfeld: C. Bange Verlag, 2018, S. 109–118. – ISBN 978-3-8044-1213-2. 321. Keiser, Wolfhard: Friedrich Schiller, »Die Bürgschaft« (1798). In: Ders., Beliebte Balladen interpretiert. Deutsch 9.-12./13. Klasse. Hollfeld: C. Bange Verlag, 2018, S. 118–127. – ISBN 978-3-978-3-8044-1213-2. 322. Klein, Michaela  /  Schöffler, Gregor: Friedrich Schiller, »Maria Stuart«. Module und Materialien für den Literaturunterricht. Braunschweig: Bildungshaus Schulbuchverlage, Schroedel Westermann, 2018, 110 (1) S. (= Schroedel Lektüren). – ISBN 978-3-507-69775-1. Inhalt (Auszug): Fachliche Orientierung: 1. Entstehung. – 2. Hinweise zur Thematik. – 3. Inhaltsübersicht. – 4. Besonderheiten der Gestaltung. – 5. Wirkung

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(S.  9–16).  – Literaturverzeichnis (S.  17–18).  – Darstellung des Unterrichts in sieben Modulen: Modul 1: Der erste Aufzug. Exposition I und Vorstellung Marias (S. 19–26). – Modul 2: Der zweite Aufzug. Exposition II und Vorstellung Elisabeths (S. 27–36). – Modul 3: Der dritte Aufzug. Die Peripetie des Trauerspiels (S. 37–45). – Modul 4: Der Fall Mortimer – vom Schwärmer zum Besessenen (S. 46–54). – Modul 5: Der vierte Aufzug. Schein und Sein (S. 55–64). – Modul 6: Der fünfte Aufzug. Marias innere Befreiung (S. 65–76). – Modul 7: Zur Wirkungsgeschichte des Stücks (S. 77–78). – Quellentexte verschiedener Autoren und historisches Bildmaterial (S. 79–103). – Klausurvorschläge mit Erwartungshorizonten (S. 104–110). 323. Popp, Hansjürgen: Friedrich Schiller, »Maria Stuart«. Interpretationshilfe für Oberstufe und Abitur. Stuttgart: Klett Lerntraining, 2018, 160 S. (= Lektürehilfen). – ISBN 978-3-12-923151-7. Inhalt (Auszug): 1. Inhaltsangabe und erste Deutungsaspekte: Zur Einführung. – Der inhaltliche Aufbau des Stücks (S. 5–38). – 2. Analyse und Interpretation: Die Hauptpersonen und ihre Konstellation (S. 39–63). – Thematische Aspekte: Politik und Moral. – Selbstfindung / Die Idee der Freiheit. – Geschichtspessimismus oder Geschichtsoptimismus?  – Der Rollenkonflikt der Frau in der Politik (S. 64–79). – Die dramatische Bauform (S. 79–85). – Sprache und Vers (S. 85–94). – »Maria Stuart« im Zusammenhang von Schillers Gesamtwerk (S. 94–101). – Das Drama und die Geschichte: Die historischen Grundlagen. – Das Leben Maria Stuarts. – Schillers Quellen. – Poetische Freiheiten Schillers gegenüber der Geschichte (S. 101–111). – Entstehung und Rezeption (S. 111–114). – Interpretationsansätze (S. 114–121). – 3. Schnellcheck (S. 123– 131). – 4. Prüfungsaufgaben und Lösungen (S. 133–155). – Literaturhinweise (S. 156–157). – Stichwortverzeichnis (S. 158–160). 324. Varga, Lorenz: Friedrich Schiller, »Wilhelm Tell«. Interpretation. Hallbergmoos: Stark Verlagsgesellschaft, 2018, 96 S. – ISBN 978-3-8490-3276-0. Inhalt: Einführung. – Biografie und Entstehungsgeschichte: 1. Friedrich Schiller: Lebensdaten und Werk. – 2. »Wilhelm Tell«: Stoff und Historie. – 3. Entstehungsgeschichte des Dramas. – Inhaltsangabe. – Textanalyse und Interpretation: 1. Das geschlossene Ideendrama der Weimarer Klassik. – 2. Aufbau und Struktur von »Wilhelm Tell«. – 3. Figurenkonstellation. – 4. Charakterisierung der Hauptfiguren. – 5. Motive und zentrale Aspekte. – 6. Sprache. – 7. Interpretation von Schlüsselszenen. Rezeption und Wirkung. – Literaturhinweise. – Anmerkungen.

Zimmer, Thorsten: Friedrich Schiller, »Kabale und Liebe«, s. Kap.  7.3.5., Nr. 176.



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9. Audiovisuelle Medien: CDs und DVDs (Auswahl) 325. An die Freude. Music by Ludwig van Beethoven. In: The Dark Tenor, Symphony of Light. Produced by Bernd Wendlandt. Polydor/Island, A Division of Universal Music, 2014, CD, Track 9, 3:35 Min.

Gesang teilweise in deutscher, teilweise in englischer Sprache. Der Name des Interpreten konnte trotz umfangreicher Recherchen nicht ermittelt werden. – Chor: Angelzoom, Nadine Bader, Carsten Görner, Kati Hegewald, Aline Lissner, Andy Love, Dirk Michaelis u.v.  a.

10. Nachlese Nach Redaktionsschluss ermittelte Schilleriana 326. Schiller, Friedrich: Cartas sobre l‹educacció estética de l’home [Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen]. Traducció de Jordi Llovet. Martorell: Adesiara Editorial, 2018, 184 S.  – ISBN 978-8416948-20-8. – Katalanische Übersetzung. 327. Eccel, Daiane: Schiller, [Hannah] Arendt e a fuga do reino das necessidades: estética, formação e política. In: Educação e Filosofia (Universidade Federal de Uberlândia), 32. Jg., 2018, №  66, [o.S.].  – ISSN 0102-6801  /  ISSN 1982596X (Elektronische Ressource). 328. Groß, Stefan: Friedrich Schiller und das 21.  Jahrhundert. In: Información Filosófica. Revista Internacional de Filosofia y Ciencias Humanas. Morolo (Italia), 4. Jg., 2007, № 1, S. 5–22. – ISSN 1824-7121. 329. Menezes de Sousa, Selmy: Cultura estética em Friedrich Schiller. In: Kinesis. Revista de las ciencias del deporte, la educación física y la recreación. Armenia (Colombia). 10. Jg., 2018, № 25, S. 25–39. – ISSN 0121-6430. 330. Michałowicz, Monika: To, dziś postrzegamy jako piękno, kledyś jako prawda przyjdzie do nas. Schiller o pozorze estetycznym. In: Sztuka i Filozofia (Instytut Filozofii Uniwersytetu Warszawskiego), 2018, №  53 (2), S.  37–46.  – ISSN 1230-0330. Deutsche Übersetzung des polnischen Titels: Das, was wir heute als Schönheit ansehen, kommt uns irgendwann wie Wahrheit vor. Schiller über den ästhetischen Schein. 331. Ware, Owen: Schiller on Evil and the Emergence of Reason. In: History of Philosophy Quarterly (Champaign: University of Illinois Press), 35. Jg., 2018, № 4, S. 337–355. – ISSN 0740-0675 / ISSN 2152-1026 (Elektronische Ressource).

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332. Kaufmann, Ulrich: Jakob Lenz & Friedrich Schiller. Zwei Dichter des ›Kastratenjahrhunderts‹. In: Ders., Ein Kranich lahm, zugleich Poet. Nachdenken über Jakob Michael Reinhold Lenz. Bucha bei Jena: Quartus-Verlag, 2018, S. 27-38. (= Palmbaum Texte). – ISBN 978-3-947646-03-6. 333. Necker, Heike: Anredeformen in Friedrich Schillers »Kabale und Liebe«. In: Dituria. Zeitschrift für germanistische Sprach- und Literaturwissenschaft. Oberhausen. 2018, Band 12, S. 85–100. – ISSN 2191-2440. 334. Simon-Szabó, Ágnes: Die frühe Rezeption Schillers ästhetischer Schriften in Ungarn. In: Anthropologische Ästhetik in Mitteleuropa 1750-1850. Herausgegeben von Piroska Balogh und Gergely Fórizs. Hannover: Wehrhahn Verlag, 2018, S. 225–238. (= Bochumer Quellen und Forschungen zum 18. Jahrhunderts 9). – ISBN 978-3-86525-661-4.

11. Personenregister Verzeichnet werden alle Personen (Verfasser, Herausgeber, Übersetzer, Rezensenten, Komponisten, Illustratoren, Regisseure, Interpreten), die literarischen Autoren, Philosophen und historischen Persönlichkeiten, die in den Zeitschriftenaufsätzen und Buchbeiträgen im Zusammenhang mit Schillers Werk und Wirkung behandelt und erwähnt werden. Nicht berücksichtigt werden dagegen die mythologischen Figuren, die biblischen Gestalten und die »gefeierten Personen« aus Wissenschaft und Forschung (Festschriften). Auf die Herausgeber von Tagungsbänden und Kongress-Schriften zu Schillers Werken wird nur einmal an der entsprechenden Systemstelle (unter Kap. 1.4.) verwiesen. Abbott, Matthew 84 Abendroth, Michael 304, 305, 306 Abraham, Bénédicte 53 Acosta López, María del Rosario 8, 89 Agthe, Kai 278, 307 Allerheiligen, Gesa 141 Alt, Peter-André 13, 189 Altmann, Alexander 258 Amoroso, Leonardo 95 Amslinger, Thomas 4 Amzoll, Stefan 268 Anderson, Sage 98 Angermann, Kirsten 16

Arendt, Hannah 327 Aristoteles 104 Aschenbach, Klaus 16 Auer, Michael 63, 224, 244 Aurnhammer, Achim 182 Bader, Nadine 325 Balogh, Piroska 199, 334 Bánffi-Benedek, Andrea Krisztina  252 Barba-Kay, Antón 96 Barbosa, Ricardo 97 Barth, Philip 282 Bartl-Schmechel, Carmen 98



marbacher schiller-bibliographie 2018

Bartsch, Wilhelm 316 Bauer, Arnim 261, 273 Bauer, Matthias 242 Baumann, Christiane 240 Baumgarten, Alexander Gottlieb 60 Beck, Florian 253 Becker, Anni Rosemarie 11 Becker, Jürgen 230 Beethoven, Ludwig van 325 Behrens, Lutz 276 Beiser, Frederick 99 Benn, Sheila Margaret 139 Bennett, Christopher 100 Berger, Jürgen 290 Berghahn, Cord-Friedrich 220, 231 Bernauer, Hermann 165 Berndt, Frauke 204 Berndt, Stephan 43 Beutling, Werner 11 Beyer, Jürgen 16 Bode, Dietrich 20 Bode, Leopold 315 Böhmer, Otto A. 44 Boletsi, Maria 180, 186 Boller, David 318 Bölöni Farkas, Sándor 252 Bomhard, Lorenz 305 Bönsch, Kerstin 101 Boss, Günter 52 Bossenz, Ingolf 303 Boszák, Gizella 252 Boyken, Thomas 155 Brandl, Melanie 299 Breuer, Isaak 232 Breymayer, Reinhard 49 Brinkmann, Karl Gustav von 223 Brittnacher, Hans Richard 62, 212 Brühl, Carl von 194 Bundangandu Tekilazaya, Achille 102 Burdorf, Dieter 54

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Bürger, Gottfried August 54, 212, 217 Burkhardt, Benno 11 Buschmeier, Matthias 54 Butschek, Isabelle 287 Cadahia, María Luciana 229 Cahen-Maurel, Laure 55 Caldas, Petro Spinola Pereira 103 Camartin, Iso 308 Campe, Rüdiger 166 Carvalho, André Alves de 56 Ciordia, Martin José 104 Ciria Cusculluela, Alberto 160 Clausewitz, Carl von 63 Cohen, Alix 100 Cohen, Gerald 70 Coleridge, Samuel Taylor 62 Corneille, Pierre 63 Crescini, Jacopo 309 Dahlstrom, Daniel O. 119, 132. Danielczyk, Julia 260 Dannemann, Thomas 269 Danz, Daniela 9, 15, 50 Daub, Adrian 85, 212 Davidis, Michael 5, 233 Dicke, Klaus 196 Didier, Béatrice 309 Diederichs, Petra 281 Diekmann, Norbert 286 Dietrick, Linda 85 Digiorgio, Alessandro 105 Dilworth, David 249, 250 Dischner, Gisela 106 Doll, Christian 291, 292, 294, 295, 296 Dörr, Volker C. 213 Dostojewski, Fjodor 76 Dranenko, Galyana 241 Dröse, Astrid 214, 215 Droste-Hülshoff, Annette von 243 Dupree, Mary Helen 57

454 Durand, Isabelle 58 Dziudzia, Corinna 88 Ebert, Olivia 162 Eccel, Daiane 327 Eder, Antonia 201 Edinger, Sebastian 98 Ehrlich, Lothar 16 Einem, Gottfried von 311 Ellwanger, Mathias 289 Emich, Birgit 189, 195 Emmerling, Leonhard 107 Engelhardt, Manfred 11 Engels, Gwendolin 63, 224, 244 Ensberg, Peter 108 Enzensberger, Hans Magnus 4 Ewenz, Gabriele 230 Fabrian, Jo 268 Falduto, Antonino 109 Faverzani, Camillo 309 Feldhaus, Charles 109 Felten, Agnès 241 Ferdiana, Meita 174 Fichte, Johann Gottlieb 60, 81, 97 Fiedler, Juliane 234 Fischer, Bernhard 26 Fischer, Sabine 262 Fischer-Lichte, Erika 130 Flaubert, Gustave 227 Fleig, Anne 190 Fleischer, Gabriele 269 Fontane, Theodor 248 Fórizs, Gergely 199, 334 Frank, Manfred 59 Franke, Ursula 60 Freud, Sigmund 192 Fried, Michael 84 Friedauer, Denise 110 Friede, Susanne 242 Fujita, Miyoko 142 Fulda, Daniel 204

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Füllmann, Rolf 143 Funke, Daniel 263 Gamper, Michael 156 Gärtner, Hans 302 Gehle, Irmgard 45 Gehrt, Matthias 280, 281 Geisenhanslüke, Achim 225 Gennari, Mario 61, 206 Gennari, Mario Gerber, Sophie 76, 95, 117, 120 Gerstenbräun-Krug, Martin 213 Geulen, Eva 226 Ghyselinck, Zoë 178 Gier, Albert 310 Gil Bera, Eduardo 42 Gleichen-Rußwurm (Familie) 5 Glyn-Williams, Owen 123 Godlewicz-Adamiec, Joanna 188 Goethe, Johann Wolfgang 11, 56, 57, 61, 62, 64, 66, 68, 69, 72, 77, 82, 85, 108, 134, 219, 221, 222, 223 Goetz, Rainald 235 Görner, Carsten 325 Görner, Rüdiger 62 Görtler, Rudolf 270 Gozzi, Carlo 214, 307 Grabbe, Dietrich 63 Graff, Max 242 Grant, Katharine W. 39 Greiff, Vanessa 23, 25 Grenzmann, Teresa 254, 297 Griebe, Hans-Joachim 317 Groß, Stefan 328 Grün, Anastasius 234 Grüne, Matthias 133 Grünewald, Dietrich 28 Gschwandtner, Christina M. 59 Gumnior-Schwelm, Johanna 11 Günther, Friederike Felicitas 157 Günther, Georg 1, 2



marbacher schiller-bibliographie 2018

Guthrie, John 37 Haas, Claude 63, 177, 224, 244 Hacks, Peter 202 Hain, Simone 16 Hampel, Anna 191 Hanus, Françoise 241 Haus, Heinz-Uwe 179 Hayer, Björn 164 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 89, 112 Hegewald, Kati 325 Hejny, Mathias 300 Heller, Jakob Christoph 98 Hellwig, Uwe 314 Herder, Johann Gottfried 53, 153 Hering, Elmar 284 Herlth, Jens 180, 186 Herlyn, Hartmut 11 Herodot 11 Herrero Sánchez, Manuel 205 Herrmann, Hans-Christian von 63 Herwegh, Georg 246 Hesse, Volker 64 Heun, Gunter 293 Hien, Markus 91 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 243 Hölderlin, Friedrich 83 Holfelder, Ute 17 Holler, Wolfgang 16 Holling, Eva 162 Hölscher, Lucian 90 Holtzbauer, Christian 290 Holz, Friedbert 203 Homer 227 Honold, Alexander 6 Hoorn, Tanja van 204 Hoppe, Uwe 261, 262 Hörl, Susanne 183 Höving, Vanessa 243 Hübner, Dieter 283

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Hugo, Victor 58 Hühn, Helmut 12, 14, 111 Humboldt, Alexander von 77 Humboldt, Caroline von 223 Humboldt, Wilhelm von 80, 220, 223 Husserl, Edmund 192 Hutchinson, Christopher 144 Iffland, August Wilhelm 194 Illi, Manuel 191 Immer, Nikolas 12, 65, 145 Jacobs, Béatrice 242 Jaeger, Stephan 198 Jahnke, Siegfried 11 Jakovljević, Alexander 91 János, Suabolc 252 Jaźwierski, Jacek 135 Jeanjean, Benoît 58 Jelinek, Elfriede 244 Jettot, Stéphane 205 Jobez, Romain 66 John, Emanuel 98 Jones, David 62 Just, Barbara 298 Kafka, Franz 227 Kanold, Jürgen 296 Kant, Immanuel 41, 59, 69, 75, 76, 83, 95, 96, 100, 107, 108, 109, 115, 117, 119, 120, 121, 122 Karch, Daniel 233 Kasperowicz, Ryszard 135 Katschnig, Gerhard 17 Kauffmann, Kai 54 Kaufmann, Ulrich 67, 332 Keiser, Wolfhard 320, 321 Keller, Gottfried 234 Keller, Werner 146 Khunara, Thomas 226 Kienzle, Michael 235 Kimmich, Flora 37, 38

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Kimura, Naoji 92, 221 Kirchner, Lutz 277 Kirschner, Martin 152 Kirsten, Jens 26 Klaschka, Klaus 285 Klein, Michaela 322 Kleinschmidt, Nicolas 60 Kleist, Heinrich von 125 Klemme, Heiner F. 109 Klenk, Thomas 293 Klessinger, Hanna 182 Kling, Alexander 227 Klopstock, Friedrich Gottlieb 153 Knappik, Franz 112 Knigge, Adolph Freiherr 68 Köckeritz, Walter 16 Kok, Arthur 112 Kollmann, Anett 87 König, Ansgar 295 König, Maria Luise 11 Korneeva, Tatiana 161 Kraus, Michael 311 Kravitz, Amit 138 Kretschmann, Winfried 235 Krimmer, Elisabeth 85, 212 Krumme, Helmut 64 Kruse, Bernhard Arnold 170, 171 Kuhberg, Maria 244 Kühn, Walter 164 Kuhu, Kristina 113 Kull, Karolin 245 Kunth, Gottlob Johann Christian 223 Küpper, Achim 62 Kurz, Tanja 294 Kušej, Martin 254, 255, 256, 257, 258 Lagrene, Reinhold 32, 33, 34, 35, 36 Lange, Eva 274 Lauterbach, Jeanette 9 Lavater, Johann Kaspar 53 Leber, Manfred 154

Lehmann, Johannes F. 114, 227 Lenz, Jakob Michael Reinhold 67, 332 Lepper, Marcel 13 Leroy du Cardonnoy, Eric 205 Leuschner, Ulrike 87 Levrero, Paolo 206 Lipczuk, Ryszard 134 Lipiński, Cezary 40 Lissner, Aline 325 Little, Eliza 159 Llovet, Jordi 326 Lober, Bettina 292 Loher, Dea 241 López Pinciano, Alonso 104 Love, Andy 325 Lubkoll, Christine 6, 191 Ludwig, Ariane 12 Luserke-Jaqui, Matthias 10, 115, 116, 140, 147, 148, 149, 150, 158, 163, 167, 175, 197, 207, 208, 216, 246, 247 Lütteken, Laurenz 7 Mackasare, Manuel 236 Mackensen, Gerd 316 Macor, Laura Anna 117, 118 Mann, Thomas 242 Maraini, Dacia 270 Martin, Ariane 136 Masuhr, Karl F. 46 Matthisson, Friedrich von 139 Matuschek, Stefan 68 Mayer, Norbert 255, 275 McCarthy, John A. 215 Meier, Hans-Rudolf 16 Meier, Sven 69 Meise, Helga 86 Meißner, August Gottlieb 74 Menezes de Sousa, Selmy 329 Menke, Christoph 159 Menrath, Rolf 317 Mercadante, Saverio 309



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Merle, Alexandra 205 Meuer, Marlene 151 Meyer-Dinkgräfe, Daniel 179 Meylaender, Nicolas 318 Michaelis, Dirk 325 Michałowicz, Monika 135, 330 Moens, Herman 3 Moland, Lydia L. 119 Moser, Christian 180, 186 Moser, Gerda F. 183 Müller, Alexandra 88 Müller, Ernst 280 Müller, Rainer 16 Müller-Schöll, Nikolaus 162 Müller-Seidel, Walter 93 Nachreiner, Arnhild 24 Nagy, Ágota 252 Napoli, Santiago Juan 70, 200 Nazarova, Nina 241 Nebrig, Alexander 218 Necker, Heike 333 Nefzer, Gerd 293, 334 Nenon, Monika 13 Nicke, André 279 Nickel, Gunther 202 Nickl, Peter 106 Niefanger, Dirk 189, 195 Niehle, Victoria 222 Niekerk, Carl 13, 57 Nijdam, Elizabeth 28 Nilges, Yvonne 71 Nitschmann, Till 188 Nivala, Asko 91 Noller, Jörg 120, 138 Novalis 55, 79 Nover, Immanuel 191 Oehl, Thomas 112 Oellers, Norbert 47, 72, 248 Opilik, Klaus 319 Oschmann, Dirk 14, 172

Osterkamp, Ernst 6 Ottomano, Vincenzina C. 312 Özbek, Christina 265 Packard, Stephan 28 Pahnke, Gabi 73 Palladino, Irmgard 223 Pastwa, Marcin 135 Paulin, Roger 38 Pauly, Walter 68, 196, 210 Peirce, Charles S. 249, 250 Pelloni, Gabriella 164 Pelt, Julie van 178 Penke, Niels 217 Perschak, Katharina Evelin 183 Petersmann, Konstanze 11 Pierstorff, Cornelia 204 Pietschmann, Klaus 7 Pinna, Giovanna 218 Pirro, Maurizio 184 Piszczatowski, Paweł 188 Pittrof, Thomas 152 Pivetta, Carola 74 Plato, Levno von 121 Plutarch 155 Pöllmann, Ansgar 45 Popp, Hansjürgen 323 Port, Ulrich 173 Powell, Jeffrey L. 8, 59, 122 Pranteda, Maria Antonietta 228 Preis, Michael 192 Preuß, Axel 272, 273 Pugh, David 13 Quadflieg, Dirk 226 Raabe, Wilhelm 234 Rahman, Yunanfathur 174 Raimondi, Francesca 226 Rainer, Anton 301 Râmbu, Nicolae 75 Rancière, Jacques 123, 159 Ranff, Petra L. 11

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Raulff, Ulrich 6 Rebentisch, Juliane 226 Reents, Friederike 152 Reid, Christopher W. 219 Reidy, Julian 180, 186 Reinhard, Nadja 213 Reinhardt, Holger 16 Reinhardt, Max 194 Reinhart, Johann Christian 78 Reinhold, Karl Leonhard 138 Remy, Artur 11 Renner, Vanessa 282 Retsch, Moritz 314 Richter, Elke 86 Ridder, Klaus 242 Riedel, Nicolai 3 Ries, Klaus 68, 196, 210 Rittersma, Rengenier C. 219 Riveros Barrios, Juan 124 Rohner, Melanie 180, 185, 186 Roose, Alexander 178 Ropohl, Birgit 304 Rösch, Gertrud M. 242 Rose, Romani 32, 33, 34, 35, 36 Rosenbaum, Alexander 86 Roßbach, Nikola 136 Rott, Herbert W. 315 Rottkamp, Stephan 275 Rousseau, Jean-Jacques 71, 89, 139 Ruffing, Margit 76, 95, 117, 120 Rumore, Paola 228 Sabbatini, Carlo 209 Sade, Donatien Alphonse François de  74 Sauerer, Dominik 189, 195 Sautermeister, Gert 93 Schaffrick, Matthias 217 Schaller, Johannes Philipp 76 Schaper, Rüdiger 77 Scharge, Franz H. 11

Schede, Hans-Georg 181 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 59 Schildhauer-Ott, Ruth 11 Schiller, Charlotte 85, 86, 87, 88 Schilling, Erik 153 Schilling, Klaus von 193 Schlegel, August Wilhelm 54, 65 Schloemann, Johan 256 Schmälzle, Christoph 237 Schmid, F. Carlo 78 Schmidt, Matthias 7 Schmidt, Reinhard 266 Schmidtbonn, Wilhelm 194 Schmitz-Scholemann, Christoph 26 Schnierle-Lutz, Herbert 22 Schnyder, Peter 14, 137 Schöffler, Gregor 322 Scholling, Eberhard 21 Schönberger, Klaus 17 Schopenhauer, Arthur 75, 84, 99, 116 Schöpfer, Dorothee 272 Schreiber, Erik 31 Schreiber, Till Louis 11 Schulte, Philipp 162 Schulz, Michael 136 Schulz, Susanne 264 Schwab, Gustav 247 Schweighäuser, Johann Gottfried  223 Seefehlner, Egon 311 Seidel, Wilhelm 7 Seiderer, Georg 189, 195 Seifert, Jürgen 16 Selbmann, Rolf 238 Selg, Peter 79 Setton, Dirk 226 Seume, Johann Gottfried 73 Shakespeare, William 215 Siebert, Bernhard 162



marbacher schiller-bibliographie 2018

Siegmund, Gerald 162 Sigg, Gabriele 131, 143 Silva, Carina Zanelato 125 Simon, Anne-Catherine 259 Simonis, Annette 88 Simon-Szabó, Ágnes 252, 334 Singh, Sikander 154 Skasa, Michael 257 Skorna, Hans Jürgen 11 Soetebeer, Jörg 126 Sölter, Ulf 315 Sommermeyer, Joerg K. 19 Spandler, Gisa 306 Spannhake, Helga 288 Spoerhase, Carlos 127 Stahl, Michael 80 Stalder, Maria 11 Stašková, Alice 81, 210 Stäudlin, Gotthold Friedrich 151 Steegers, Robert 72 Stegmaier, Jürgen 293 Stein, Charlotte von 85, 86 Steinle, Edward von 315 Stern, Robert 100 Sternburg, Judith von 271, 274 Sternburg, Wilhelm von 48 Stoffel, Patrick 187 Stolberg-Stolberg, Friedrich Leopold 153 Streicher, Andreas 49 Streim, Claudia 194 Strosetzki, Christoph 242 Stückl, Christian 297, 298, 299, 300, 301, 302, 303 Sztandarska, Katarzyna 134 Szybisty, Tomasz 188 Tschaikowski, Peter 313 Temmerman, Koen de 178 Thomä, Dieter 160 Thum, Agnes 315

Tölzer, Marius 82 Topa, Alessandro 249, 250 Topfstedt, Thomas 16 Uhden, Johann Daniel 223 Unbehaun, Lutz 9, 51 Unser, Carola 274 Urban, Bernd 251 Varga, Lorenz 324 Vecchiato, Daniele 87, 161, 195, 218 Verdi, Giuseppe 7, 308, 310, 312 Verrone, Assunta 106 Vetter, Patrick 128 Vieira, Vladimir 41, 83 Vogel, Juliane 168 Voß, Richard 240 Wagner, David 76, 95, 117, 120 Wahl, Volker 16, 18 Waibel, Violetta L. 76, 95, 117, 120 Ware, Owen 331 Wassermann, Sonja 278 Weber, Philipp 129 Weihe, Anne C. 94 Weinheimer, Till 276, 277 Wellbery, David E. 84 Wendland, Hanfried 30 Wendlandt, Bernd 325 Wernli, Martina 227 Wessels, Malte 166 Weyer, Eva-Maria 279 Wieland, Christoph Martin 151 Wihstutz, Benjamin 130 Wildermann, Patrick 267 Winkler, Markus 180, 186 Wirth, Thomas 264 Witt, Sophie 162 Witte, Bernd 211 Wohlfeil, Ellinor 11 Wojtczak, Maria 40 Wysocka, Barbara 259, 260 Yazdkhasti, Dariusch 271

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Zakirovna Skvirskaja, Tamara 313 Zamani, Jasmin Sarah 283, 285 Zeh, Juli 245 Zelle, Carsten 199 Zimmer, Thorsten 176

Zimmermann, Andreas 131, 143 Zinn, Laura 88, 239 Zschokke, Heinrich 199 Zumbusch, Cornelia 169

MARBACHER VORTRÄGE

meike g. werner (vanderbilt university)

how far away was l.a.? thomas mann in pacific palisades 1942/43 Rede zur Eröffnung der Ausstellung »Thomas Mann in Amerika«, DLA Marbach, 22. November 2018 Lassen Sie mich mit einer Frage beginnen: How far away was L.A.? Wie weit weg war eigentlich Los Angeles? – Inspiriert ist die Frage durch meine Pilgrimage (die ungleich berühmtere Pilgerreise der blutjungen Susan Sontag im Dezember 1949 lieferte das Script1) zum »Weißen Haus des Exils« im kalifornischen Pacific Palisades.2 Das war im Juli 2015, noch bevor das Haus durch den geplanten Verkauf ins Rampenlicht der Öffentlichkeit geriet. Viel zu sehen gab es damals nicht. Die Einfahrt, und sehr viel Grün. Das Haus war tief eingewachsen. Ganz unspektakulär. Bilder aus dem Gedächtnis mussten aushelfen. Die meisten von Ihnen kennen sie auch: Thomas Mann in »seinem schönsten Arbeitszimmer,«3 ganz in weiß, mit Drink, rauchend, lesend auf dem Sofa, arbeitend an seinem Schreibtisch, im Kreis seiner Familie, oder im Garten unter Palmen, Zitronen- und Eukalyptus-Bäumen. Was man auf den Fotos nicht sieht, ist der spektakuläre Blick auf den Pazifik,4 wörtlich der friedliche, der stille oder auch große Ozean, eine unendlich leere, eine unbeschriftete Landschaft. Pacific Palisades  – friedliches Bollwerk. So könnte man es übersetzen. Dort also saß er  – den Sturm der Geschichte im Rücken, dessen verheerende Ereignisse Thomas Mann in seinen Tagebüchern akribisch notierte und kommen-

1 2

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Susan Sontag, Pilgrimage, in: The New Yorker, 21. Dezember 1987, S. 38–54. Frido Mann, Das Weiße Haus des Exils, Frankfurt a. M. 2018, S. 39 (dort auch der Hinweis auf Frank-Walter Steinmeier, der noch als Außenminister die Bezeichnung der Mann’schen Villa als das »Weiße Haus des Exils« prägte). Thomas Mann an Hermann Hesse, 15. 3. 1942, zitiert in Inge Jens, Am Schreibtisch. Thomas Mann und seine Welt, Reinbek 2013, S. 113. «Mit dem herrlichen Blick aufs Meer und Catalina-Island war es schön gelegen, mit Palmen und Orangen- und Zitronenbäumen in seinem großen Garten« (Katia Mann, Meine ungeschriebenen Memoiren, hg. von Elisabeth Plessen und Michael Mann, Frankfurt a. M. 1974, S. 128).

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tierte. Im Februar 1942 hatte Thomas Mann mit seiner Familie die Villa bezogen, vor der ich nun stand. Februar 1942. Ich versuchte mir vorzustellen, was damals los war in Europa: Deutschland war nah an seiner größten Macht- und Territorialentfaltung seit Kriegsbeginn. Trotzdem war für die Naziführung das Kriegsende nicht absehbar, da die USA gerade in den Krieg eingetreten waren und es der Roten Armee zum ersten Mal gelungen war, die deutsche Offensive vor Moskau aufzuhalten. Nahezu eine halbe Million Wehrmachtsoldaten waren gefallen, eine schreckliche Zahl, aber zu diesem Zeitpunkt lediglich zehn Prozent der deutschen Soldaten, die im Krieg fallen werden. Gleichzeitig hatte die deutsche Wehrmacht bis dahin fast zwei Millionen sowjetische Kriegsgefangene zu Tode hungern und frieren lassen. Die Wannseekonferenz, auf der die Vernichtung der europäischen Juden bürokratisch organisiert worden war, hatte im Januar 1942 stattgefunden. Und ein halbes Jahr später im August 1942 sollte die Schlacht um Stalingrad beginnen. Als ich mir das vorstellte, gingen mir die ersten Sätze von Christopher Brownings inzwischen klassischer Studie Ordinary Men (zu deutsch: Ganz normale Männer) über das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen durch den Kopf. Lassen Sie mich Ihnen diese ersten Sätze vorlesen: »Mitte März 1942 lebten noch etwa 75 bis 80 Prozent aller Holocaust-Opfer: bis dahin hatten erst 20 bis 25  Prozent ihr Leben verloren. Nur elf Monate später, Mitte Februar 1943, hatten sich die Prozentzahlen genau umgekehrt.«5 Deshalb spricht Browning auch von dem »Blitzkrieg gegen die Juden«6 in Polen. Wie weit weg war Thomas Manns Schreibtisch in der Traumvilla von der Katastrophe der Ermordung der europäischen Juden und des Weltkrieges, der nach heutigen Schätzungen nahezu 70 Millionen Menschenleben forderte? Wenn ich mir diese Frage stelle, spreche ich nicht als Thomas-Mann-Expertin zu Ihnen und gewiss nicht als Emigrantin, sondern einfach als eine der American Friends des Deutschen Literaturarchivs und als eine in USA lebende Germanistin, die in Deutschland aufgewachsen ist. Selbstverständlich gehörten in meiner Schulzeit die Buddenbrooks zur gymnasialen Pflichtlektüre genauso wie das Erlesen von Thomas Manns Werk im Laufe des Germanistikstudiums in Tübingen. Allerdings, im Seminar (bei Gotthart Wunberg) entdeckten wir Heinrich Mann, den frankophilen Bruder, Proletarierfreund und überzeugten Demokraten, den Autor des Untertan, des Professor Unrat und den politischen Essayisten. 5

Christopher R. Browning, Ganz Normale Männer. Das Reserve-Polizeibataillon 101 und die »Endlösung« in Polen. Mit einem Nachwort (1998), 7. Aufl., Reinbek 2013, S. 11. 6 Ebd.



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Genauso selbstverständlich hatte ich meinen Thomas Mann im Gepäck, als ich zur Promotion in die USA aufbrach. Dort, an der Yale University, die um ein Haar das Zentrum der internationalen Thomas-Mann-Forschung geworden wäre, hatte ich das Privileg, ein Seminar bei Hans Vaget zu besuchen. Ihm, einem intimen Kenner von Manns Gesamtwerk, verdanken wir das große Buch Thomas Mann, der Amerikaner. Und ein weiteres Mann-Seminar bei Ingeborg Glier, der kürzlich verstorbenen Mediävistin, die dritte Frau überhaupt, die an der Yale University auf einen Lehrstuhl berufen wurde. Zehnjährig hatte sie die Bombardierung ihrer Geburtsstadt Dresden überlebt und erinnerte, vielmehr bestand im März 1989, als Hans Ulrich Wehler auf Einladung von Yales German Historian Henry Turner in einem sehr gut besuchten Vortrag die Gründe für die Richtigkeit der deutschen Teilung darlegte (es waren zwölf, wenn ich meinem Tagebuch glauben darf), in der anschließenden Diskussion auf die Unteilbarkeit Deutschlands. Die Menschen im Osten zu vergessen, hielt sie – im März 1989 – schlicht für falsch. Ihre Mann-Verehrung, die eben nicht nur dem Dichter galt, lese ich in diesem Kontext: nämlich als Dankbarkeit dafür, dass Thomas Mann im Goethe-Jahr 1949 nicht nur die Einladung annahm, die Festrede in der Frankfurter Paulskirche zu halten, sondern auch die in Weimar. Die Reise in die Sowjetische Besatzungszone kostete dem Nobelpreisträger die ohnehin schwindenden Sympathien seiner amerikanischen Mitbürger. Er war 1944 amerikanischer Staatsbürger geworden. Im Wandel des politischen Klimas nach dem Tod des von ihm hochverehrten Präsidenten Franklin D. Roosevelt geriet Thomas Mann  – angeheizt durch Nachforschungen des FBI und McCarthys gnadenlosen Handlangern – in den Verdacht der Sympathien für den Kommunismus. Er litt unter den Diffamierungen, Absagen und Zurückweisungen. Auch Yale nahm im Jahr nach der Deutschlandreise Abstand von dem bereits ins Werk gesetzten Ankauf seines gesamten literarischen Nachlasses. Ob Ingeborg Glier damals auch mahnend auf Thomas Manns couragiertes Festhalten an Deutschland als einer unteilbaren Sprach- und Kulturnation anspielte, darüber kann ich nur spekulieren. Unter Polizeischutz, denn dem Emigranten schlugen Haß bis hin zu Morddrohungen entgegen, bekannte Mann auf seiner Reise sowohl in Frankfurt als auch in Weimar: »Ich kenne keine Zonen. Mein Besuch gilt Deutschland selbst, Deutschland als Ganzem, und keinem Besatzungsgebiet.«7 1942, um auf meine Ausgangsfrage zurückzukommen, war Thomas Mann 67 Jahre alt, unvermindert produktiv und sehr präsent auf beiden Seiten des Atlantiks, als Autor und als politischer Redner. Lotte in Weimar, sein Goethe-Roman, den er in Princeton zuende geschrieben hatte, war 1939 bei Bermann-Fischer in 7

Vgl. Hermann Kurzke, Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. Eine Biographie, Frankfurt a. M., 5. Aufl. 2013, S. 542.

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Stockholm und 1940 in englischer Übersetzung bei Knopf herausgekommen. 1940 erschienen die Vertauschten Köpfe, eine seiner letzten Erzählungen, ebenfalls bei Bermann-Fischer und im Jahr darauf die englische Fassung bei Knopf. Der vierte Band seiner Roman-Tetralogie Joseph und seine Brüder, mit deren Niederschrift er 1926 in München begonnen hatte, stand vor dem Abschluß. Im amerikanischen Exil war Joseph der Ernährer auch zu einer »Apotheose« auf Roosevelt geraten, den »großen Politiker des Guten« und »geistigen Waffenbruder« im Kampf gegen Hitler und den Nationalsozialismus.8 Ein großer Erfolg auf dem amerikanischen Buchmarkt, der endlich die finanzielle Unabhängigkeit sicherte. Es war Joseph Roth, der gleich nach Erscheinen des ersten Bandes 1934 in einem Brief an den befreundeten Stefan Zweig seiner Empörung Luft machte: »Es ist die Konzeption des gemäßigten, protestantischen Teufels. Es ist eine Schande, eine Schamlosigkeit, die Bibel zu verhunzen.«9 Manns assimilatorisches Erzählverfahren war dem scharfen Beobachter Roth suspekt. 1942 war er bereits drei Jahre tot, Zweig hatte gemeinsam mit seiner Frau am 23. Februar im brasilianischen Petropolis Selbstmord begangen. 1942 stand Thomas Mann politisch eindeutig auf der richtigen Seite. Zwar waren es die »Umstände« (und vermutlich vor allem die Tochter Erika), die ihn in die Politik gezwungen hatten – »gegen meine Natur und gegen meinen Willen.«10 Die Vortragsreisen kreuz und quer durch die USA als »Repräsentant des anderen, des guten Deutschland« waren das eine. Nachdem er Jahr für Jahr – meist monatelang – auf Tournee gegangen war, pausierte er 1942 im Jahr des Umzugs. Als Star-Redner zog er Tausende von politisch interessierten Zuhörern (from all walks of life) in gigantische Vortragssäle, in Seattle (Washington), St. Louis (Missouri), Houston (Texas), Chicago (Illinois), natürlich New York und Washington, aber auch Detroit (Michigan), Denver (Colorado), Atlanta (Georgia) bis hin nach Ottawa in Kanada. Hinter der »hohen Würde« des Repräsentanten hatten die Unannehmlichkeiten, die diese Reisen mit sich brachten, zurückzustehen. Kein anderer unter den exilierten Schriftstellern schüttelte so vielen Amerikanern die Hände, ertrug zahllose Q & A’s (die Frage & Antwort sessions im Anschluß an den Vortrag), Reporter und Fotografen, den Stress des öffentlichen Sprechens in fremder Sprache. Ging es 1939 um Das Problem der Freiheit, ein, wie Hans

8

Vgl. dazu Hans Rudolf Vaget, Thomas Mann, der Amerikaner. Leben und Werk im amerikanischen Exil 1938–1952, Frankfurt a. M. 2011, S. 67–156, bes. S. 149–156. 9 Joseph Roth an Stefan Zweig, Paris, den 24. Januar 1934, in: »Jede Freundschaft mit mir ist verderblich.« Joseph Roth und Stefan Zweig. Briefwechsel 1927–1938, hg. von Madeleine Rietra und Rainer Joachim Siegel, Göttingen 2011, S. 145. 10 Thomas Mann an Agnes E. Meyer, Arosa, den 22. Januar 1938, in: Thomas Mann/Agnes E. Meyer: Briefwechsel 1937–1955, hg. von Hans Rudolf Vaget, Frankfurt a. M. 1992, S. 112.



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Vaget argumentiert, »verdecktes Plädoyer […] für eine Allianz Englands und der Sowjetunion für den sich abzeichnenden Krieg der faschistischen Mächte gegen die Demokratien«,11 so wurde im Jahr darauf dieselbe Rede umgearbeitet, um dem Kriegsausbruch am 1. September 1939 Rechnung zu tragen, und 1941 führte die auf den neuesten Stand gebrachte Ansprache die Titel War and Democracy und How to Win the Peace. Für Publicity sorgten Interviews, Photo Shoots und die engagierte Berichterstattung in lokalen und überregionalen Zeitungen. Wer nicht dabei war, konnte die Ansprachen in einschlägigen Zeitschriften nachlesen. Im Herbst 1942, inmitten des »Blitzkrieges gegen die Juden«, erschienen im Druck auch die ersten 25 Radioansprachen, mittels derer Thomas Mann seit Oktober 1940 nunmehr als »Stimme Amerikas« dem »Ätherkrieg« der BBC sein Standing als »dem größten deutschen Schriftsteller des Jahrhunderts«12 und sein rhetorisches Know how zur Verfügung stellte. Daß er darüber hinaus gemessen und eindringlich mit angenehmer Radiostimme sprach, machte ihn in den Augen der BBC zum idealen Vertreter des »anderen« Deutschland. Deutsche Hörer!, so adressierte Mann jene Deutschen, die sich dem Verbot, feindliche Sender zu hören, widersetzten. Wurde man erwischt oder verraten, auch dies gilt es in Erinnerung zu rufen, hatte man mit schwersten Strafen zu rechnen. Fünf bis acht Minuten, einmal pro Monat, sind Manns Ansprachen (in eigner Stimme, endlich!) ein Feuerwerk anti-nationalsozialistischer Propaganda. An Hitler im Besonderen entzündete sich Manns Haß: die Inkarnation des Bösen, der Teufel auf Erden (»er ist es«, DH, 69), so bezeichnet er ihn – nicht ohne Genugtuung – als »blödsinnigen Wüterich« (DH, 63), »Gorilla«, und »fanatischen Idioten«, die Nationalsozialisten als »mörderische Provinzler«, »Machthalunken«, »apokalytische Lausbuben« und »blutige Schmierentruppe.«13 Lange Zeit unterscheidet Mann zwischen Nazis und Deutschen. Als »Freund« wendet er sich an seine Mit-Deutschen, am Ende seiner Adressen meist versöhnlich, tröstend, im Ganzen aber warnend, mahnend, beschwörend, unter Aufbietung von Politik, Moral und Kunst – im Gestus eines alttestamentarischen Propheten, eines Praeceptor Germaniae am Mikrophon  – um sie, seine Mit-Deutschen, von der Aussichtslosigkeit des Krieges zu überzeugen, um Alternativen zur Nazi-Propaganda anzubieten, um Roosevelts Politik, die Kriegsziele der Alliierten zu erklären, um

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Zu den Vortragsreisen vgl. Hans Rudolf Vaget, Thomas Mann, der Amerikaner, S. 219–266, hier S. 248. 12 Zu den Radioansprachen vgl. Sonja Valentin, »Steine in Hitlers Fenster.« Thomas Manns Radiosendungen Deutsche Hörer! (1940–1945), Göttingen 2015, hier S.  42, sowie Thomas Mann, Deutsche Hörer! Radiosendungen nach Deutschland aus den Jahren 1940 bis 1945, Frankfurt a. M. 1987, im folgenden zitiert als DH. 13 DH, S. 89 und S. 90 (s. auch Sonja Valentin, »Steine in Hitlers Fenster«, S. 55–60).

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die Deutschen zur Selbstbefreiung aus eigner Kraft von Diktatur und dem Mitverschulden an den im Namen Hitlers begangenen Verbrechen zu ermutigen, mehr noch aufzufordern. Fünf lange Jahre. Thomas Mann läßt keinen Zweifel daran: »Schuld will Sühne«14. Die Verantwortung für die schweren Verbrechen zu übernehmen, ist die Voraussetzung für die Rückkehr der im Lande verbliebenen Deutschen in die friedliche Gemeinschaft der westlichen Zivilisation, politisch und moralisch. Es ist am Ende ein Votum für die »re-education« der Deutschen in die europäisch-humanistische Wertegemeinschaft, für Freiheit und Demokratie. How far away was L.A.? In Bezug auf meine Ausgangsfrage zeigen die Radioansprachen einen bemerkenswert informierten Thomas Mann. Nicht nur in Bezug auf die Katastrophe der Vernichtung der europäischen Juden. Bereits in der ersten Adresse im Oktober 1940 spricht er von Verbannung und Selbstmorden, drei Monate später im Januar 1941 von »Menschenjagd, Heimatlosigkeit, Verzweiflung und Selbstmord, Blut und Tränen« (DH, 20), im März 41 von der Gefahr, ganz Deutschland zu »einem einzigen Gestapo-Keller, einem einzigen Konzentrationslager« (DH, 24) zu machen. Auf die »Verfolgung der Juden« in Polen kommt Mann zum ersten Mal – sprachlich noch vage – im September 1941 zu sprechen. Auch im Sprechen über die Massen-Vergasungen in Mauthausen (Euthanasie-Programm) im November 1941 bleibt das, was in Rußland mit den Polen und Juden geschieht, »das Unaussprechliche« (DH, 46). Von Januar 1942 an, also erstaunlich früh, wird Mann jedoch konkret, als er seinen deutschen Hörern von den 400 jungen holländischen Juden berichtet, die als »Versuchsobjekte für Giftgas« (DH, 50) nach Deutschland geschickt worden waren (ein halbes Jahr später korrigiert er die Zahl nach oben auf 800). Den »Blitzkrieg gegen die Juden« in Polen dokumentiert Mann mit schockierenden Details, deren Glaubwürdigkeit er seinen Hörern gegenüber unterstreicht, indem er seine Informationsquellen nennt (u.  a. die Polnische Exilregierung und die Schweizer Flüchtlingshilfe). Gestützt auf »Photographien«, die »eine Schändung des Menschlichen veranschaulichen, für die es keine Worte gibt«, berichtet Mann von den »geblähten Hungerleichen polnischer Kinder, [den] fürs Massengrab zusammengeschmissenen Körper der tausend und abertausend im Warschauer Ghetto an Typhus, Cholera und Schwindsucht verendeten Juden« (DH, 54). Daß die Steigerung der Brutalität keine Grenzen kennt, darüber klärt Mann seine Mit-Deutschen im September 1942 auf: »Jetzt ist man bei der Vernichtung, dem maniakalischen Entschluß zur völligen Austilgung der europäischen Judenschaft angelangt.« Mann zitiert Goebbels Radiorede und fährt fort, daß »es irrsinniger Ernst mit der Ausrottung der Juden« ist (DH, 77), bis die Nazis geschlagen sind. Er nennt Zahlen, Orte und Ereignisse. Danach waren im September 1942 im Warschauer Ghetto innerhalb eines Jahres 65.000 jüdische 14 DH, S. 130 (Mai 1944).



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Männer, Frauen und Kinder gestorben, wurden bis dahin von der Gestapo insgesamt 700.000 Juden ermordet und zu Tode gequält (vor allem in der Region um Minsk), kurz davor 3.600 Juden aus dem unbesetzten Frankreich in den Osten deportiert, im besetzten Paris binnen weniger Tage 16.000 Juden zusammengetrieben, in Viehwagen verladen und abtransportiert (DH, 78). So konkret wie im September 1942 wird Thomas Mann noch einmal im Januar 1945, nach der Befreiung der KZs Majdanek und Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee. Inmitten der minutiösen Schilderung dessen, was dort geschah und was dort zu sehen war, formulierte Thomas Mann eine aus heutiger Perspektive bemerkenswerte Einsicht: Es war […] eine riesenhafte Mordanlage. Da steht ein großes Gebäude aus Stein mit einem Fabrikschlot, das größte Krematorium der Welt. Eure Leute hätten es gern rasch noch vernichtet, als die Russen kamen, aber größtenteils steht es, ein Denkmal, das Denkmal des Dritten Reiches. (DH, 133) Auf Anhieb erfasste Mann die Bilder, die heute zur Ikonographie der Shoah gehören: Schornsteine, Leichenberge, Menschenknochen, Haufen von Kleidern und Schuhen, Kinderschuhe. Die gesprochenen Bilder gehören zu den detailreichsten öffentlichen Äußerungen eines nichtjüdischen deutschen Schriftstellers während und unmittelbar nach dem Holocaust. Gleichzeitig tritt, nach der Radioansprache vom September 1942, eine relative Stille in Bezug auf die Brutalitäten des Genozids ein. Mitten im »Blitzkrieg gegen den Juden« sprach Thomas Mann zu seinen Mit-Deutschen auch über Stalingrad, den Widerstand der Weißen Rose und die Luftangriffe auf deutsche Industrie- und Hafenstädte. Zwischen September 1942 und Dezember 1944 brachte die New York Times mehr als 100 Zeitungsartikel zum Schicksal der Juden in Europa. Aber Thomas Mann, der früh und hellsichtig warnte und aufklärte, schwieg in seinen Radioansprachen während dieser Zeit. Verehrte Anwesende, Sie fragen sich vielleicht, warum ich heute abend mit meiner Frage ausgerechnet Thomas Manns Wissen, Sprechen und Schreiben über die Vernichtung der europäischen Juden ins Zentrum rücke? Vielleicht hat es damit zu tun, dass zu meinen akademischen Lehrern in den USA auch Egon Schwarz und Peter Demetz gehörten. Schwarz und Demetz sind »refugees« (deren Existensform Hannah Arendt im Dezember 1942 im New Yorker Exil so eindringlich schilderte: »We refugees«) und »survivors«, beide 1922 geboren, Egon Schwarz in Wien, Peter Demetz in Prag. 1942 hatte der junge Schwarz, der 1938 nach Bolivien entkommen war, in den Zinngruben von Potosi endlich einen Job, einen miserablen Job gefunden. Das Elend dieser Jahre, physisch, sozial und intellektuell, steht im Zentrum seiner Exilerfahrung, es prägte sein »Welt-

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verständnis«15. Peter Demetz begleitete im Juli 1942 seine jüdische Mutter zum Sammelpunkt für die Deportation nach Theresienstadt, bevor er selbst zwei Jahre später über den Umweg Auschwitz in ein Arbeitslager für »Halbjuden« gezwungen wurde.16 Zuvor verkaufte er in einer kleinen Prager Buchhandlung, in der er eine Zeitlang Arbeit gefunden hatte, unterm Ladentisch  – man mußte höllisch aufpassen  – Thomas und Heinrich Mann, Döblin, Brecht und Büchner.17 Jahre später widmete er Kafka und Rilke seine ersten (akademischen) Bücher. Die europäische Avantgarde erforschte er, sie war Thema in seinen Seminaren. Ein Seminar über Thomas Mann hat Peter Demetz nie angeboten. Stattdessen immer wieder Lessing, Fontane, Döblin. Neue Sprechweisen, formale Intelligenz und vor allem Compassion/Mitleid sind für Demetz ausschlaggebend.18 »In the long run, our discussion of what kind of writing should be appropriate to the age of Auschwitz is totally irrelevant,« schreibt Demetz an einen Studenten, »if it touches on issues of genre alone and doesn’t look for the presence of compassion.«19 Den Lesern von Peter Demetz’ Skizzen zur deutschsprachigen Literatur, Die Süße Anarchie und After the Fires, legt er Heimito von Doderer, den Autor der Dämonen und zeitweiligen Parteigänger der Nazis, als »legitimen Erben« Thomas Manns ans Herz. In beider, sowohl Schwarz’ als auch Demetz’ Perspektive auf die deutschsprachige Literatur spiegelt sich die Verschiebung des Fluchtpunkts im gegenwärtigen Geschichts- und Erinnerungsdiskurs von 1933 auf 1941,20 die Verschiebung des Fluchtpunkts von der Machtübernahme durch die Nazis 1933 auf den unbestreitbaren Beginn des Genozids an den europäischen Juden 1941. Am 23.  Mai 1943 beginnt Thomas Mann mit der Niederschrift des Doktor Faustus, in Pacific Palisades an einem Schreibtisch, der ihm seit München, wie Inge Jens es so treffend formuliert hat, das »Symbol für Heimat, Angekommensein und Arbeitssicherheit«21 war. Zu einem Zeitpunkt also, als »es in Deutschland schon mit den Juden vorbei war.«22 Diesen Satz findet man bei Ruth Klüger, die als junges Mädchen Theresienstadt und Auschwitz überlebt hat und die 1987 in 15 Egon Schwarz, Keine Zeit für Eichendorff. Chronik unfreiwilliger Wanderjahre (1.  Aufl. 1979), Frankfurt a. M. 1992, S. 190. 16 Peter Demetz, Mein Prag, Erinnerungen, Wien 2007, S. 276–281 und 333. 17 Peter Demetz, Mein Prag, S. 196–203. 18 Peter Demetz, After the Fires. Recent Writing in The Germanies, Austria, and Switzerland, San Diego, New York und London 1986, S. XIII und S. 22. 19 Ebd., S. 22. 20 Vgl. Helmut Walser Smith, Fluchtpunkt 1941. Kontinuitäten der deutschen Geschichte, Ditzingen 2010 (zuerst engl. u. d. T. The Continuities of German History: Nation, Religion, and Race across the Long Nineteenth Century, Cambridge 2008). 21 Inge Jens, Am Schreibtisch, S. 159. 22 Ruth Klüger, Thomas Manns jüdische Gestalten (1990), in: dies., Katastrophen. Über deut­ sche Literatur, München 1997, S. 40–59, hier S. 41.



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den USA den ersten Vortrag hielt, der sich kritisch zu Manns jüdischen Gestalten äußerte. Vor dem offenen Horizont des Pazifik tauchte Mann ab in die deutsche Vergangenheit, ins fiktive Kaisersaschern im Zentrum der deutschen Reformation, die deutsche Romantik, genauer die auf den Hund gekommene deutsche Romantik, Nietzsche und Musik – von der Horizontalen in die Vertikale –, um aus der rückblickenden Perspektive in der Figur des Freundes Serenus Zeitblom die Lebensgeschichte des genialen Komponisten, des Tonsetzers Adrian Leverkühn, aufzuschreiben. Ein, wie ihm nach Erscheinen 1947 bis heute attestiert wird, kühnes Unterfangen von schillernder Vieldeutigkeit. »Lebensbeichte«, Künstlerroman, ich nenne nur einige der zahlreichen Genre-Zuschreibungen, Musikergeschichte, Anti-Bildungsroman, Gesellschaftsroman, Teufelsroman, Novel of Ideas, Mord- und Horrorgeschichte, und neuerdings auch postmoderner Thriller (Heinrich Detering). Mann bevorzugte die durchaus nicht bescheidene Genre-Formel »Roman der Epoche«, denn darum ging es ihm wirklich: Deutschlands Absturz in den Faschismus und wie dieser zu erklären sei aus der deutschen Kultur- und Geistesgeschichte. Während der befreundete Karl Wolfskehl im fernen Neuseeland, Mascha Kaléko in New York und Margarete Susman in der Schweiz das jüdische Schicksal in der Figur des Hiob verdichteten, wählte Thomas Mann den Doktor Faustus, den Teufelsbündler der deutschen Volkssage, um den Irrweg des deutschen Bürgertums facettenreich darzustellen. Dennoch, bei aller ironisch gebrochenen Fabulierlust, kommt in dem Roman, obwohl, wie wir gehört haben, Thomas Mann über die Shoah genau informiert war, die Judenverfolgung nicht vor, genauso wenig wie der soziale Antisemitismus, der den Alltag der Juden vergiftete, sondern lediglich zu Stereotypen geronnene antijüdische Vorurteile. Egon Schwarz, auf den ich mich hier beziehe, geht noch weiter, wenn er schreibt: »Einer, der mit der Geschichte dieser Epoche aus anderen Quellen vertraut ist, wird erkennen, daß der Roman einen Zipfel der Wirklichkeit erfaßt, aber eben nicht mehr.«23 Eine historische Erklärung für dieses »Manko«, so bezeichnet Schwarz den Realitätsverlust im Fiktionalen gemessen an dem hohen Anpruch des Romans, liefert vielleicht ein anderer Emigrant. In Mimesis, seinem im Exil in Istanbul entstandenen Meisterwerk über die Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, also den europäischen Realismus, vertritt der Philologe Erich Auerbach die These, daß in der deutschen Tradition das beengende Gewirr der vielen kleinen historischen Landschaften »der Spekulation, der Verinnerlichung, dem Sicheinspinnen und dem lokalen Eigenwillen günstiger war 23 Egon Schwarz, Die jüdischen Gestalten in Doktor Faustus (1989), in: ders., »Ich bin kein Freund allgemeiner Urteile über ganze Völker.« Essays über österreichische, deutsche und jüdische Literatur, Berlin 2000, S. 217–238, hier S. 236.

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als einer entschiedenen, größere Zusammenhänge und weitere Räume umfassenden Ergreifung des Praktischen und Wirklichen.«24 Auerbach hatte Goethe vor Augen. Folgt man jedoch Ruth Klügers und Egon Schwarz’ Analysen des Jüdischen und dessen Aussparung in Manns kühnem Deutschland-Roman, muss man feststellen, daß es auch Thomas Mann nicht gelang – zumindest im Künstlerischen (im Politischen schon) –, die für die deutsche Tradition typischen Beschränkungen zu überwinden. Sein Blick im kalifornischen Pacific Palisades reichte kaum über die Grenzen des »heimatlichen« Münchner Schreibtischs hinaus. Literaturwissenschaft hingegen erlebte zur gleichen Zeit die Geburt der Komparatistik, das Lesen der deutschen Literatur im europäischen Kontext. Erich Auerbach in Istanbul, Peter Demetz an Yale, Egon Schwarz in St. Louis und Ruth Klüger in Princeton lesen Thomas Mann aus europäischer Perspektive. Sie lesen, zumindest Ruth Klüger formuliert es an einer Stelle explizit, Thomas Mann auch aus einer jüdischen Perspektive, aus – möchte man hinzufügen – der Erfahrung von Flucht, Verfolgung und Vernichtung. Aus dieser Teilsicht zu einer Gesamtsicht zu gelangen, im Lichte unseres inzwischen immensen Wissens, ist vielleicht eine der Herausforderungen, vor die uns die Genannten  – Susman, Wolfskehl, Kaléko, Roth, Auerbach, Schwarz, Klüger und Demetz, deren Werke, Briefe und Manuskripte hier in Marbach einen Ort in Deutschland gefunden haben – ebenso stellen wie das Werk von Thomas Mann.

24 Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur (1946), 10. Aufl., Tübingen 2001, S. 413.

isabel pfeiffer-poensgen ministerin für kultur und wissenschaft des landes nordrhein-westfalen

für welche zukunft sammeln wir? Schillerrede am 11. November 2018 Das Deutsche Literaturarchiv ist ein besonderer Ort für mich. Da ist natürlich die Wertschätzung für den in Umfang und Qualität einzigartigen Bestand. Für die Quellen, die Einblicke in die Lebens- und Gedankenwelt deutscher Geistesgrößen geben; die ein Werk in seinen ursprünglichen biografischen und geistesgeschichtlichen Kontext stellen; die den gedanklichen Austausch und die zugrundeliegenden Diskurse nachzeichnen; und die teilweise auch Werke dokumentieren, die der Geschichte zum Opfer gefallen und unwiederbringlich verloren sind. Ganz besonders aber bin ich dem Deutschen Literaturarchiv durch meine Tätigkeit als Generalsekretärin der Kulturstiftung der Länder schon lange verbunden. Seit ihrer Gründung im Jahr 1987 ist es die satzungsgemäße Aufgabe der Kulturstiftung der Länder, national bedeutendes Kulturgut aller Epochen und Sparten zu sichern. Die Stiftung unterstützt Museen, Bibliotheken und Archive beim Erwerb von Kunstwerken und Archivalien. Als Generalsekretärin der Stiftung habe ich zahlreiche wichtige Ankäufe für das Deutsche Literaturarchiv begleitet. 2011 gelang es beispielsweise, Franz Kafkas Briefe und Postkarten an seine Lieblingsschwester Ottla für das Deutsche Literaturarchiv zu sichern. Die Briefe dokumentieren den vertrauensvollen Austausch mit der »Frau, bei der Kafka ein anderer war«,1 wie Hubert Spiegel sie in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nennt. Ich denke an das Siegfried Unseld Archiv, das zahlreiche Verlagsarchive sowie die persönlichen Nachlässe der Verleger Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld umfasst. Mit den Briefen und Manuskripten bedeutender Schriftsteller und Gelehrter, wie Theodor W. Adorno, Bertolt Brecht, Marie Luise Kaschnitz oder Rainer Maria Rilke gehört es zu den umfangreichsten und bedeutendsten Beständen zur Literatur des 20. Jahrhunderts, ein echter 1

Hubert Spiegel, Die Frau, bei der Kafka ein anderer war, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24. 1. 2011, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/autoren/dichterbriefe-die-fraubei-der-kafka-ein-anderer-war-14626.html (21. 2. 2019).

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Fall für die Kulturstiftung der Länder und das Deutsche Literaturarchiv. Gut im Gedächtnis geblieben ist mir auch der Ankauf der literarischen Tagebücher von Peter Handke, den die Kulturstiftung der Länder zweimal mit ermöglicht hat. Mehr als 150 Tagebücher aus der Zeit seit 1990, was für ein Schatz und eine Fundgrube … Wenn der Auftrag der Kulturstiftung der Länder heute Abend eine besondere Rolle spielt, so liegt das zum einen daran, dass die anregenden Gespräche, die zu der schönen Einladung hierher geführt haben, in diese Zeit einer engen und produktiven Zusammenarbeit zurückreichen. Streng genommen ist die Rednerin, die heute Abend als nordrhein-westfälische Kultur- und Wissenschaftsministerin vor Ihnen steht, also nicht die Rednerin, an die die Organisatoren ursprünglich gedacht hatten. Zum anderen aber, und das ist der wesentlichere Punkt, halte ich die Schwerpunkte der Stiftung für unverzichtbare Bestandteile heutiger Kulturpolitik, die für mich auch in meiner heutigen Funktion bestimmend sind. Viele meiner prominenten Vorredner haben sich in der Schiller-Rede auf ihren Namenspatron berufen und sein umfassendes Werk als Impulsgeber aktueller Überlegungen verwendet. Ich möchte heute Abend einen anderen Weg einschlagen und vielmehr das Deutsche Literaturarchiv – als exemplarischen Ort des Sammelns – zum Ausgangspunkt meiner Gedanken machen. Erlauben Sie mir vor diesem Hintergrund, zunächst einige zentrale Aspekte der Arbeit des Deutschen Literaturarchivs zu benennen: Kernaufgabe des DLA ist es, den vorhandenen Bestand an Quellen der Literatur und Geistesgeschichte zu bewahren, zu erschließen, zu erforschen und zu erweitern. Dies setzt ihre umfassende wissenschaftliche Bearbeitung voraus. Auf Grundlage dieser genauen Kenntnis des Korpus werden Lücken im Bestand identifiziert und wo möglich und sinnvoll geschlossen. Einen Sammlungsschwerpunkt des DLA bilden die Zeugnisse verbrannter und verfemter deutschsprachiger Literatur. Mit diesem Fokus auf die Exilliteratur leistet das Archiv einen wichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der Auswirkungen, die die nationalsozialistische Diktatur auf das Leben und Wirken verfolgter Schriftsteller und Regime-Kritiker hatte. Über die bestandsgeleiteten Ankäufe hinaus sammelt das DLA aber auch ›in die Zukunft‹. Darin liegt nicht nur ein besonderer Reiz, sondern auch eine eigene Qualität. Der rege und kontinuierliche Kontakt zu wichtigen Autoren der Gegenwart führte zur Aufnahme zahlreicher Vorlässe, in jüngerer Zeit von Peter Handke, Hans Magnus Enzensberger, Sibylle Lewitscharoff oder Botho Strauss. Neben dem Sammeln und Forschen gilt ein Hauptaugenmerk dem Konservieren und Restaurieren der fragilen Bestände. Durch optimale Lagerbedingungen und Maßnahmen gegen Säure- und Tintenfraß, Schimmel und Schädlinge werden die Originale geschützt und ihr materieller Verfall so gut es geht verlang-



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samt. Der denkbare Konflikt dieser beiden Anliegen – Zugriff der Forschung auf der einen, Schutz des Originals auf der anderen Seite – ist weitgehend aufgelöst in der systematischen Digitalisierung des Sammlungsbestandes, die die Quellen einer internationalen Forschungsgemeinschaft immerhin mittelbar zugänglich macht. Die Ausstellungen im Schiller-Nationalmuseum und im Literaturmuseum der Moderne zeigen der Öffentlichkeit beides: die im echten Wortsinn einzigartigen Artefakte und die Erträge der Forschungsarbeit. Sie zeigen das materielle, unerschöpfliche Zeugnis ebenso wie Möglichkeiten seiner Deutung und öffnen vielfältige Wege der Auseinandersetzung mit unserem kulturellen Erbe. Warum erzähle ich Ihnen das? Zumal hier, wo viele von Ihnen die fantastische Arbeit des Archivs aus nächster Nähe kennen. Es geht mir darum, – plakativ gesagt – den gesamten Sammlungsbestand in den Blick zu rücken und mich mit Nachdruck für die Anerkennung seiner Bedeutung auszusprechen. Und damit meine ich nicht allein seine Bedeutung für die konkreten Disziplinen – in diesem Falle die Literaturwissenschaft und ihre Nachbardisziplinen  – sondern viel grundsätzlicher für die kulturelle und politische Identitätsbildung. Nicht umsonst gelten Archive und Sammlungen als Gedächtnis der Gesellschaft. Als Speicher von Wissen und Erfahrung sind sie Ankerpunkte regionaler und nationaler Identität. In ihnen manifestiert sich unsere gemeinsame kulturelle Herkunft und geschichtlich bedingte Zusammengehörigkeit. Doch ähnlich wie das individuelle Gedächtnis durch Mechanismen des Ausschließens und Aktivierens in Bewegung ist, ist der Arbeit mit den Archiven und Sammlungen der Perspektivwechsel inhärent. Welche Schwerpunkte setzten wir? Welche Lücken schließen wir? Was zeigen wir und was verbleibt im Depot? Wen feiern wir und wen geben wir dem Vergessen preis? Mit welchen historischen Bausteinen konstruieren wir unser Selbstbild? Diese Fragen beantwortet jede Gesellschaft und jede Generation für sich. »Denn die Frage«, so schreibt Robert Menasse in seinem Roman Die Hauptstadt (2017), »was wir vergessen und warum wir vergessen und ob sich in ausgestellten Werken vielleicht gar ein kollektiver Wunsch nach Verdrängung zeigt, sei doch von grundsätzlicher Bedeutung« [S.  404 unten]. Das Verhältnis von Sammlung und kultureller Identität ist insofern eines der Wechselwirkungen. Unser Selbstverständnis prägt und lenkt den Blick auf unsere Sammlungen  – unsere Sammlungen sind Grundstein und Korrektiv unseres Selbstverständnisses. Was als Schwäche der Sammlungen erscheinen könnte – ihre ›Zurichtbarkeit‹ – ist zugleich – als Deutungsoffenheit – ihre größte Qualität. Im Bewusstsein dieser gesellschaftlichen Bedeutung von Archiven und Sammlungen setzt sich die Kulturstiftung der Länder dafür ein, national bedeutendes Kulturgut zu sichern, seine sachgerechte Lagerung und Restaurierung sicherzustellen, seine Erforschung zu ermöglichen, seine Bedeutung zu vermitteln, sowie seine Provenienz zu klären und ihr gegebenenfalls durch Restitutio-

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nen, Rückführungen und Rückkäufe Rechnung zu tragen. Was bedeutet das ganz konkret und wie sind die Kontexte beschaffen, die diesen Anliegen ihre Tragweite geben? Diese Fragen lassen sich nur beantworten, wenn man zunächst die Sammlungen betrachtet und zwar sowohl in ihrer historisch bedingten Gestalt wie in ihrem gegenwärtigen Zustand. Viele öffentliche Sammlungen in Deutschland weisen Lücken auf, die vor allem auf drei historische Ursachen im 20.  Jahrhundert zurückzuführen sind: die Beschlagnahmung von Kunstwerken der klassischen Moderne im Zuge der nationalsozialistischen Aktion »Entartete Kunst«; die Zerstörung von Kunstwerken durch Kriegseinwirkungen; und die »kriegsbedingte Verlagerung« von Kulturgut – Kunstwerke, Archivalien und Bücher, die aufgrund von Krieg und Verfolgung zunächst Ort und Besitzer gewechselt haben und deren Spur sich dann verloren hat oder die gewissermaßen unerreichbar sind. Diese Lücken bedeuten nicht nur den Verlust kulturellen Erbes – sie schwächen auch Profil und Kohärenz der Sammlungen. Denn nicht nur das einzelne Objekt hat kulturelle Aussagekraft, auch die Sammlung als Ganzes – ihre Schwerpunkte, Narrative, Auslassungen. Es muss daher unser gemeinsames Anliegen sein, die Geschichte der fehlenden Objekte so gut es geht zu rekonstruieren und sie – wo möglich – für die Sammlungen zurückzugewinnen  – oder den Sammlungszusammenhang durch geeignete Alternativen wiederherzustellen. Die Geschichte anderer Objekte ist gezeichnet durch die Enteignung ihrer rechtmäßigen Besitzer. Die Initiativen der vergangenen Jahre im Feld der Provenienzforschung haben das Ausmaß nationalsozialistischer Enteignungen ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Weniger präsent sind die Enteignungen und enteignungsgleichen Besteuerungen von Kunstwerken und ganzen Sammlungen in der DDR. Seit einiger Zeit wird auch intensiv über den angemessenen Umgang mit Objekten in ethnologischen Sammlungen diskutiert, die nicht selten unter fragwürdigen Umständen ihren Weg in europäische Sammlungen gefunden haben. Es ist Teil unserer geschichtlichen Verantwortung, die Herkunft der Werke in deutschen Sammlungen gewissenhaft zu prüfen und enteignete Werke zu restituieren oder gemeinsam mit den Erben faire und angemessene Lösungen zu finden. Wo die Herkunft der Werke ausgeblendet wird, ist der identitätsstiftende Rückbezug auf die Sammlungen verstellt. Der gegenwärtige Zustand vieler Sammlungen krankt vor allem an fehlenden Ressourcen: es fehlen qualifizierte Wissenschaftler an den Museen, die die nötigen Kapazitäten haben, die Sammlungen gründlich zu erforschen; es fehlen adäquate Depots, um die Kunstwerke sachgerecht zu verwahren und vor Schäden zu schützen; es fehlen Restauratoren, die einmal entstandene Schäden beheben und alterungsbedingte Veränderungen auffangen können. Personell und finanziell schlecht ausgestattete Museen können diese Desiderate kaum oder gar nicht



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erfüllen. So lautet das ernüchternde Fazit von Ulrike Groos in ihrem Beitrag zur Jubiläumsausgabe der Zeitschrift arsprototo (2013): »Welches Haus kann sich schon gute Wissenschaftler leisten, die über einen längeren Zeitraum ausschließlich über Künstler und Themen der Sammlung forschen, ohne dass diese Arbeit unmittelbar sichtbar wird? Die von der Öffentlichkeit und Politik gewünschten publikumswirksamen Sonderausstellungen werden für viele Museen zu immer wichtigeren Erfolgsreferenzen.« Dabei ist die Sammlung nicht nur ein unerschöpflicher Ideengeber für Ausstellungen, sondern auch Herzstück und Alleinstellungsmerkmal eines jeden Hauses. Museen, die Geschichte, Profil und Eigenarten ihrer Sammlung kennen und ihr Ausstellungsprogramm auf dieses Wissen gründen, tragen zu einer heterogenen und national wie regional spezifischen Museumslandschaft bei. Museen, die Sonderausstellungen zum Anlass nehmen, ihre Sammlung aus immer neuen Perspektiven in den Blick zu nehmen, sensibilisieren für die Vielfalt ihrer Bedeutungen und Lesarten. Auf die prekäre Situation an Museen, die es ihnen kaum mehr erlaubt, ihre genuine Aufgabe als Forschungseinrichtung wahrzunehmen, reagierten einige groß angelegte Förderinitiativen der vergangenen Jahre: Das 2014 initiierte Bündnis »Kunst auf Lager«, angeregt von der Hermann Reemtsma Stiftung und der Kulturstiftung der Länder, zu dessen 14 privaten und öffentlichen Bündnispartnern auch Bund und Länder zählen, trägt den vorhandenen Missständen in allen genannten Bereichen Rechnung. Auf die Schieflage in der Museumspolitik hatte die VolkswagenStiftung bereits 2008 mit dem Programm »Forschung an Museen« reagiert, das sich nicht nur an Museums- sondern auch an Universitätssammlungen richtet. Mit den Universitätssammlungen rückt die Stiftung einen Sammlungstypus in den Blick, der in der Regel ein Schattendasein führt, und macht Vorschläge zu ihrer sinnvollen und naheliegenden Integration in den Forschungs- und Lehrbetrieb. Die Bedeutung der universitären Sammlungen für die wissenschaftliche Infrastruktur betonte 2011 auch der Wissenschaftsrat und regte erfolgreich die Einrichtung einer Koordinierungsstelle an. Die Kulturstiftung der Länder schließlich schafft Anreize und Freiräume für die Erforschung der Museumssammlungen, indem sie explizit Ausstellungsvorhaben fördert, die aus den eigenen Beständen heraus entwickelt werden. In diesen Fällen geht die Ausstellungskonzeption mit der Erforschung der eigenen Sammlung und notwendigen Restaurierungsprojekten Hand in Hand – ein Idealzustand, der die genuinen Aufgaben des Museums wieder zusammenführt. Dem Bestandserhalt in Archiven und Bibliotheken widmet sich seit 2011 die »Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts«, ein gemeinsames Projekt von Bund und Ländern. Mit dem nationalen Bestandserhaltungskonzept hat es eine wichtige Grundlage für den sachgerechten Umgang mit den fragilen Artefakten geschaffen und für die vielfältigen Risikofaktoren sensi-

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bilisiert. Darüber hinaus fördert es Projekte von Archiven und Bibliotheken zum praktischen Bestandserhalt und bekräftigt damit den Wert des Originals. Ich erwähnte bereits den öffentlichen Bewusstseinswandel, der in den vergangenen Jahren im Hinblick auf NS-verfolgungsbedingte Enteignungen und die Notwendigkeit ihrer Aufarbeitung stattgefunden hat. Dieser Bewusstseinswandel wurde maßgeblich durch die Arbeitsstelle für Provenienzrecherche befördert, die 2008 von der Kulturstiftung der Länder und dem Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien ins Leben gerufen wurde und die 2015 in die Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste übergegangen ist. Der Auftrag ist derselbe geblieben: Museen, Bibliotheken und Archive werden finanziell in die Lage versetzt, die systematische Erforschung ihrer Sammlungsbestände voranzutreiben. In Anbetracht dieser von öffentlichen wie privaten Förderern gleichermaßen gestützten Projekte könnte man versucht sein, zu meinen, die von Ulrike Groos 2013 beschriebene Notlage habe sich entschärft. Ein erster Schritt – ein geschärftes Problembewusstsein  – ist sicherlich gemacht. Auch darüber hinaus ist viel erreicht worden: Zahlreiche Kunstwerke, Archivalien und Kulturobjekte konnten langfristig gesichert, vor dem Verfall bewahrt oder auf ihre Provenienz geprüft werden. Diese Erfolgsmeldungen dürfen jedoch nicht den Blick für die strukturellen Probleme verstellen, die durch die punktuellen Projektförderungen noch nicht gelöst sind. Die Einzelvorhaben sollten vielmehr dazu dienen, auf der Basis eines veränderten Bewusstseins Vorbild für die notwendige Neuausrichtung institutioneller Strukturen zu sein. Als Ministerin für Kultur und Wissenschaft einer Landesregierung, die sich ausdrücklich zur Bedeutung der Kultur bekennt, sind mir die Mittel in die Hand gegeben, eine solche Neuausrichtung zu bewirken  – und ich gedenke, sie zu nutzen. Nachdem in meinem ersten Amtsjahr ein Schwerpunkt meiner kulturpolitischen Arbeit auf der Förderung der Freien Darstellenden Künste sowie der kommunalen Theater und Orchester lag, die angesichts der kommunalen Struktur NRWs seitens des Landes lange vernachlässigt wurden, gilt mein Augenmerk nun den Museumssammlungen: ihrem Schutz, ihrer Erweiterung, ihrer Erschließung. Museen brauchen finanzielle Spielräume, ihre Sammlungen langfristig und systematisch zu erweitern, vorhandene Schwerpunkte auszubauen und neue Impulse zu setzen. Museen für zeitgenössische Kunst müssen darüber hinaus ihrer Aufgabe nachkommen können, wichtige Positionen der Gegenwartskunst für die Sammlungen zu sichern. Dem Forschungsnotstand an den Häusern wird ein passgenaues Förderprogramm begegnen. Es sieht vor, Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler in den Museen einzusetzen, Aspekte der Sammlungen zu erforschen und in Ausstellungsprojekten zu vermitteln. Die Provenienzrecherche wird dabei



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beispielgebend integraler Bestandteil der Forschungsarbeiten sein und den bewussten Umgang mit den Sammlungen fest im Museumsbetrieb etablieren. Im Zuge der digitalen Revolution, die mittlerweile alle Lebensbereiche erfasst hat, wurde viel über den Stellenwert der Digitalisate in Museen und Archiven debattiert. Fest steht, dass aller Innovationseuphorie, den virtuellen Museumsrundgängen und den hervorragenden digitalen Archiven zum Trotz die digitale Zweitform das Original nicht verdrängt – im Gegenteil, sie scheint seinen Wert sogar zu bekräftigen. Sie bestätigt das Original  – als Anschauungsobjekt, als Zeugnis, als materieller Informationsspeicher. Fest steht aber auch, dass das Digitalisat ein ausgezeichnetes Instrument ist, um Sammlungen zu öffnen und zu dokumentieren. Dem Publikum zeigt es, was gerade oder dauerhaft nicht gezeigt werden kann oder außer Reichweite ist. Der internationalen Forschungsgemeinschaft gewährt es Zugriff auf einen schier unerschöpflichen Bestand an Forschungsobjekten – und schützt zugleich das oftmals fragile, lichtempfindliche Original. Es ist daher nicht nur ein Gebot der Zeit, sondern die logische Konsequenz des Möglichen, die Museumssammlungen und Archive in NRW sukzessive zu digitalisieren. Gerade für die Provenienzforschung wird es von enormem Vorteil sein, auf digitale Sammlungen und Archive zugreifen zu können, um die Geschichte eines Werkes zu rekonstruieren. Die Vorarbeiten der Kunstsammlung NRW, dem einzigen Museum in Landesträgerschaft, auf diesem Gebiet werden dabei eine wertvolle Leitlinie bilden. Dem Wert des Originals tragen auch die geplanten Förderprogramme zum Bestandserhalt und zur Restaurierung Rechnung. Viele Schäden an Kunstwerken und Kulturobjekten sind unumkehrbar. Es muss also zunächst darum gehen, sie durch sachgerechte Lagerung und Konservierung nach Möglichkeit zu vermeiden. Wo Schäden entstanden sind, müssen zeitnah Maßnahmen zur fachgerechten Restaurierung ergriffen werden. Diese Schritte dürfen nicht an fehlenden finanziellen Mitteln scheitern. Die Konzentration auf die Belange der Sammlungen bedeutet natürlich nicht, dass wir die Gegenwartskunst aus dem Blick verlieren. Wir werden nicht allein durch Förderprogramme dazu beitragen, dass Künstler den Freiraum  – räumlich, finanziell, institutionell – haben, den es braucht, um künstlerisch tätig zu sein. Wir werden sie auch dabei unterstützen, ihren eigenen Weg zu gehen und schnell und sicher genau die Förderprogramme anderer Träger zu finden, die für sie in ihrer konkreten Lebenssituation am besten passen. Wie sehr aber auch die Gegenwartskunst die Sammlungen braucht, zeigt sich immer dann besonders deutlich, wenn Künstler im Rahmen einer Ausstellung Zugriff auf die Depots von Museen haben. Häufig genug beeinflusst die unmittelbare Begegnung mit den großen Vorbildern eine Ausstellung – oder führt zu einem beliebten Format der letzten Jahre: der vom Künstler kuratierten Sammlungsausstellung.

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Wenn wir uns einig sind, dass bestimmte Kunstwerke oder Kulturobjekte Identifikationspunkte unserer Gesellschaft sind und wenn wir uns außerdem einig sind, dass Originale durch ihre digitale Zweitform nur bedingt ersetzbar sind, müssen wir dann dafür Sorge tragen, dass diese Originale in der Bundesrepublik verbleiben? Ist das persönliche Eigentum und die damit verbundene Verfügungsgewalt in diesem Falle angesichts der nationalen Bedeutung eines Kunst- oder Kulturschatzes zurückzustellen? Sollte er den globalen Bewegungsströmen, die unser Leben in allen Bereichen bestimmen, entzogen werden, um uns als Mittel der Selbstvergewisserung und kritischen Reflexion unmittelbar zur Verfügung zu stehen? Ich habe diese Fragen, die durchaus kontrovers diskutiert werden, schon einmal mit einem klaren ›ja‹ beantwortet, als ich mich für die Novellierung des Kulturgutschutzgesetzes stark gemacht habe. Nach intensiven Debatten vom Deutschen Bundestag beschlossen und im Bundesrat mit breiter Zustimmung der Länder verabschiedet, ist das Kulturgutschutzgesetz am 6. August 2016 in Kraft getreten. Ziel der umfassenden Reform war die Modernisierung des Kulturgutschutzrechtes und die Anpassung an EU- und internationale Standards, vor allem an das UNESCO-Übereinkommen von 1970. Letzteres widmet sich dem Schutz von Kulturgut und sieht in seiner unzulässigen Einfuhr, Ausfuhr und Übereignung eine der Hauptursachen für das Dahinschwinden des kulturellen Erbes der Ursprungsländer. Das Kulturgutschutzgesetz beinhaltet nicht nur die dringend gebotene Neufassung der Einund Ausfuhrregelungen, sondern stellt die öffentlichen Sammlungen der Museen als nationales Kulturgut generell unter Schutz. Es steht meines Erachtens außer Frage, dass dieser Schutz auch für Kunst im Landesbesitz gelten sollte. Im Zuge der Auseinandersetzung um die umstrittenen Kunstverkäufe der ehemaligen Landesbank WestLB und ihrer Abwicklungsgesellschaft Portigon hat der damals eingerichtete kulturfachliche Beirat einen Kodex zum Umgang mit Kunst im Landesbesitz entworfen, der nach meinen Vorstellungen endlich für landeseigene Unternehmen verbindlich werden sollte. Ich werde mich dafür einsetzen, dass die Kunstbestände in Landesbesitz systematisch erfasst und in einem digitalen Register verzeichnet werden. In Reaktion auf die Kunstverkäufe der Portigon erwarb das Land fast 300 Kunstwerke für die von der Kunstsammlung NRW verwaltete Stiftung Kunst im Landesbesitz. Die Werke und Werkgruppen wurden auf mehr als 40 Museen in NRW verteilt, wo sie vorhandene Sammlungsschwerpunkte stärken. Damit stehen die Sammlungskonvolute nicht nur unter besonderem Schutz, sondern werden der Öffentlichkeit in Ausstellungen zugänglich gemacht. Dasselbe Ziel einer Eingliederung von Kunst im Landesbesitz in öffentliche Museen unter dem Dach der Stiftung verfolgen wir bei der Sammlung aus dem Bestand der WestSpielGruppe.



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Warum dieses Plädoyer für die Sammlungen, die es eigentlich gewohnt sind, in zweiter Reihe zu stehen und sich damit begnügen, die Hintergrundfolie für die vielbeachteten Sonderausstellungen zu bilden? Warum dieser Aufwand für ihren Schutz, der erhebliche finanzielle und politische Anstrengungen notwendig macht? Warum dieser konzentrierte Blick zurück, wo die Gegenwart mehr als genug drängende Probleme bereithält, denen wir uns auch in der Kulturpolitik stellen müssen? Unsere Gegenwart ist bestimmt von Entgrenzungsprozessen, die mit einem Verlust von Sicherheiten – und sei es nur die Sicherheit des Gewohnten – einhergehen. Mit der digitalen Revolution hat sich die Wahrnehmung und Wirkung der grundlegenden Kategorien von Raum und Zeit deutlich verändert. Entfernungen werden eine flexible Größe. Neue, im wahren Sinne des Wortes ungreifbare Räume entstehen, die einer anderen Logik gehorchen und in denen die etablierten gesellschaftlichen Regulierungsinstanzen ausgesetzt sind. Die Digitalisierung verändert Kommunikation, Arbeit und zwischenmenschliche Beziehungen. Sie erschafft das vielbesprochene globale Dorf, dessen Gemeinschaft eine Ad-hoc-Allianz ist, die sich in permanenter Bewegung in mehr oder weniger beständige Einheiten aufspaltet. Noch ahnen wir die Tragweite der Veränderung nur, die bis in die Struktur unseres Denkens und unserer Wahrnehmungen hineinreicht. Nimmt man die Entgrenzung von Märkten, Produktion und Verkehr noch hinzu, die neue Mobilität, die nicht mehr nur Freiheit, sondern zunehmend auch Verpflichtung ist, sagt man sicher nicht zu viel, wenn man von einem raschen, umfassenden und sehr weitreichenden strukturellen Wandel unserer Lebenswelten spricht. Dieser Entgrenzung steht die gegenwärtige Bekräftigung territorialer Grenzen gegenüber, die auch Ausdruck wachsender Verunsicherung ist. Ich bin der Überzeugung, dass das Bewusstsein des eigenen historischen Standpunktes, das aus der Auseinandersetzung mit den Sammlungen erwächst, ein wichtiger Anker der Selbstverortung innerhalb dieser neuen und herausfordernden Gemengelage sein kann. Das Wissen um unsere gemeinsame kulturelle Herkunft ist ein starkes Fundament unserer Werte, Handlungsmaximen und Institutionen. Es sichert unseren Standpunkt und ist zugleich Impuls für eine notwendige Selbst-Befragung, die allein ein gültiges und widerstandsfähiges ›Selbst-Bewusstsein‹ erzeugen kann – ein ›Selbst-Bewusstsein‹, das mühelos auch die Konfrontation mit dem Neuen und Anderen aushält, ihm kritisch aber vorbehaltlos begegnen kann. Der offene und genaue Blick in Sammlungen und Archive zeigt uns nationale Identität zudem als historisch relativ junge Konstruktion. Er konterkariert ihre vermeintliche Homogenität und weist sie als Ergebnis zahlloser Einflussfaktoren und Veränderungen aus. So setzen die Speicherorte dem eindimensionalen Bild ein vielstimmiges und dynamisches entgegen. Insofern sind Sammlungen und

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Archive kluge und zuversichtliche Berater, wenn es darum geht, kulturellen Einflüssen nicht mit Abgrenzung, sondern offen und selbstbewusst zu begegnen. Wie uns dies gelingen wird, das werden die Archive von morgen zeigen.

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ff oder f.f. Rede zum Abschied von Ulrich Raulff am 28. November 2018 Obwohl das Deutsche Literaturarchiv  – obwohl vor allem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter  – obwohl wir heute von unserem dritten Direktor Abschied neh­men – man muss sich das immer mal wieder vor Augen führen, es gab tatsächlich erst drei Direktoren!  – Obwohl das so ist, weiß nach 63  Jahren immer noch keiner, welche Voraussetzungen man für dieses ungewöhnliche Amt mitbringen muss und woher, aus welcher Schule man im Idealfall kommen sollte. Sie werden mir nachsehen, dass ich mir angesichts des Longsellers Das letzte Jahrhundert der Pferde die Metapher vom Stallgeruch verkneife.1 Alle drei Direktoren scheint mehr voneinander zu trennen, als sie miteinander verbindet. Vielleicht konnte es nur so passieren, dass Marbach mit allen dreien großes Glück gehabt hat: mit dem 2008 verstorbenen Bernhard Zeller, ohne dessen wegweisende Ideen unser Nachlassbewusstsein sicher viel weniger ausgeprägt wäre. Mit Ulrich Ott, der unser Archiv modernisiert, der es aus einem literarischen Familienbetrieb mit allen Vor- und Nachteilen strategisch geschickt in eine professionelle Institution verwandelt hat und ohne den es das Literaturmuseum der Moderne wohl ebenso wenig gegeben hätte wie das Collegienhaus und die weitläufigen Magazine unter uns, die leider schon wieder viel zu eng geworden sind. Und Glück hatte Marbach nicht weniger mit Ulrich Raulff, mit dem sich das Haus, dessen Grundlage einst eine ehrenwerte, aber doch überschaubare Sammlung für den schwäbischen Weltgeist gewesen war, in eine international anerkannte Forschungsstätte verwandelt hat. Glück hatten wir mit Ulrich Raulffs Gabe, die unterschiedlichsten Autoren, wissenschaftliche wie literarische, für Marbach zu begeistern  – für die Idee eines Archivs, das seine Existenz nicht nur als stilles, manche würden auch sagen verhocktes Monument des kulturellen Gedächtnisses behauptet, sondern zugleich als Labor für die künstlerische und intellektuelle Gegenwart.

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Hierzu: Ulrich Raulff, Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung, Mün­ chen 2016.

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Inzwischen ist der Alltag auf der Schillerhöhe schon so vielsprachig geworden, dass wir uns kaum noch die Augen reiben, wenn wieder mal ein Forscher aus China oder Brasilien vor dem Lesesaal steht. Unter der Leitung von Ulrich Raulff verwandelte sich der Marbacher Campus in ein literarisches Welt-Dorf, und besonders seit der Übernahme des Archivs der Verlage Suhrkamp und Insel vor acht Jahren greift das Polyglotte auch auf die Sammlungen selbst über: Plötzlich finden sich hier umfangreiche Briefwechsel mit Nobelpreisträgern wie Octavio Paz oder Samuel Beckett. Zugleich zeigt das Suhrkamp-Archiv, wie eine Reihe von Autoren – denken wir an Hans Magnus Enzensberger oder Jacob Taubes – und von Lektoren im Schulterschluss mit ihrem Verleger Siegfried Unseld der internationalen Moderne im muffigen Adenauer-Deutschland Gehör verschafften und damit unseren heutigen zunehmend multikulturellen Lebensstil vorbereiteten. Ulrich Raulff, der selbst als Übersetzer, als Vermittler französischer Theorie begonnen hatte, erkannte darin 2010 sofort eine Chance für die Stärkung des eigenen Programms. Er nutzte die Spuren dieser Avantgarde des Globalen als Möglichkeit, die Potenziale Marbachs noch sichtbarer zu machen  – bis hin zu zweisprachigen Projekten wie der Ausstellung German Fever. Beckett in Deutschland oder der Russland-Kooperation im Zeichen Rainer Maria Rilkes.2 Wer weiß, vielleicht verwandelt sich unser Archiv für deutschsprachige Literatur in den kommenden Jahrzehnten in ein deutsches Archiv für internationale Literatur. Unwahrscheinlich ist das nicht. Und Ulrich Raulff wird man dann das Verdienst zuschreiben, am Anfang dieser Entwicklung gestanden zu haben, ähnlich wie Bernhard Zeller ein halbes Jahrhundert früher den Aufbruch ins Überregionale, ins »Nicht-Schwäbische« initiierte. So oder so werden wir Ulrich Raulffs Kreativität und sein diplomatisches Geschick vermissen, sehr vermissen, aber ich möchte nicht sentimental werden. * Als er im November 2004 hier auf der Schillerhöhe anfing, kam er  – in der Sprache der üblichen Kurzbiografien – als Journalist, Kulturwissenschaftler und Übersetzer, nicht als erfahrener Archivar oder Bibliothekar. Die meisten kannten ihn als Feuilleton-Chef der Frankfurter Allgemeinen, dabei war er dies nur vier kurze Jahre gewesen und bereits 2001 zur Süddeutschen gewechselt. Und beim Blick in die Archive hat es auch mich überrascht, dass Ulrich Raulff seine ersten professionellen Zeitungsartikel nicht etwa für die FAZ, sondern ausgerechnet für 2

Hierzu: Mark Nixon und Dirk Van Hulle, German fever. Beckett in Deutschland, Marbach a. N. 2017 (Marbacher Magazin 158/159); Rilke und Russland, hg. von Thomas Schmidt, Marbach a. N. 2017 (Marbacher Katalog 69).



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die damals wirklich noch linksalternative Berliner tageszeitung verfasst hat  – zum Beispiel im Februar 1991, über den Historiker Fernand Braudel. Lassen Sie mich den Anfang dieses Artikels zitieren, denn er ist bemerkenswert für jenen Archivdirektor, der Ulrich Raulff knapp anderthalb Jahrzehnte später werden soll. »Vieles erträgt der gebildete Mensch mit Gleichmut«, schreibt er da in der taz. Selbst daß man ihm die Spitzen seiner Bildung, die Klassiker, ausreden wollte, hat er irgendwie verkraftet. Er hat sich daran gewöhnt, daß die professionellen Hüter der Vergangenheit ihre Heldenverehrung abgelegt und sich den kleinen Leuten und dem schmuddeligen Alltag zugewandt haben. Ganz abgesehen davon, daß häufig nur das Objekt des Kultes ausgetauscht, der Kult als solcher aber fortgesetzt wurde, blieb die Geschichte ja, was sie immer gewesen war, Bericht vom Tun und Leiden der Menschen in der Zeit. Nach wie vor konnte man sich mit seinen Helden identifizieren, lachen und weinen, ganz wie im Kino. Die Geschichte wurde von Menschen gemacht. Bis eines Tages […] ein französischer Historiker herging und den Menschen vom Thron der Geschichte stieß. Wen lud er nun stattdessen ein, den leeren Platz des Herrschers einzunehmen? Ein Meer.3 Spricht Ulrich Raulff  – wir wissen ja, dass er viel später eine Geschichte des Pferdes schreiben wird – da schon in eigener Sache? Steht sein Grundsatz, die Vorstellung des Literarischen und des Sammelns auf der Schillerhöhe immer wieder zu erweitern, bis hin zur Bildwissenschaft in der Nachfolge Aby Warburgs, nicht in genau dieser Linie? Ist Ulrich Raulff genauso radikal wie Braudel? Schließlich ist er geschult an der Theorie vom Tod des Autors, an Roland Barthes, Michel Foucault und all jenen Poststrukturalisten, die sich, ob sie es wollten oder nicht, in den achtziger Jahren von Häretikern in akademische Wortführer verwandelten. Kommt Ulrich Raulff 2004 auf die Schillerhöhe, um mit einem ehrwürdigen Archiv zu beweisen, dass Literatur nicht von einzelnen Menschen, gar von Genies geprägt wird, sondern von etwas anderem – natürlich nicht von Braudels Meer, aber womöglich von Ideen, die nicht an die Existenz einzelner Autoren gebunden sind? Gründet er als frischgebackener Direktor deshalb mit so großem Enthusiasmus ausgerechnet eine Zeitschrift für Ideengeschichte? Wir erinnern uns: Befürchtungen oder sagen wir besser Ängste, diffuse Ängste gibt es viele im Marbach der Jahrtausendwende, und nur die wenigsten davon haben mit dem Amtsantritt von Ulrich Raulff zu tun, diesem Exoten in 3

Ulrich Raulff, Im Mittelpunkt das Meer. Braudels »Entdeckung der Langsamkeit« in der Geschichte, in: die tageszeitung, 4. Februar 1991.

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Sachen Dichtung und Archiv. Und doch wird das skeptische Gemurmel, werden die Befürchtungen deutlich lauter, als der »Neue« sich etabliert; und von heute aus gesehen, ist das gar nicht so verwunderlich. Denn in der Tat ging es Ulrich Raulff um Grundsätzliches. Bis dahin war das Sammeln und Ausstellen in Marbach stark auf prominente Nachlässe, von Uhland über Hesse bis zu Celan, und wertvolle Einzelstücke ausgerichtet, in denen sich die Geistes- und Literaturgeschichte gleichsam spiegeln ließ, so wie in der spektakulären Handschrift von Kafkas Process oder im »Marbacher Quartheft« mit Friedrich Hölderlins Jugendgedichten. Dies konnte Ulrich Raulff nicht genügen. Vielmehr verschärfte er das, was viele schon zu Beginn der Amtszeit von Ulrich Ott irritierte, als dieser 1987 eine noch gemeinsam mit Bernhard Zeller vorbereitete Jahresausstellung mit dem sperrigen, scheinbar völlig unpoetischen Titel Literatur im Industriezeitalter eröffnete. Ulrich Raulff ging noch einen Schritt weiter, indem er Ausstellungen über das Ordnen oder Zettelkästen ankündigte. Nicht zuletzt stellte er damit klar, dass ihm das Dokumentarische viel mehr bedeutet als das Taxierbare, als jene Schmuckstücke, auf die Antiquare ihr Geschäft stützen und die meisten Museen ihren Ruhm. Zugleich war Ulrich Raulff unübersehbar ein leidenschaftlicher Leser, ein Liebhaber der sogenannten schönen Literatur, der Belletristik. Allerdings standen seine Vorlieben auch in dieser Hinsicht nicht immer im Einklang mit dem, was man in Marbach traditionell als kanonisch betrachtete. Hinzu kam, dass Raulffs Herz mindestens ebenso stark für das schlägt, was man im Englischen so wunderbar treffend als Non-fiction zusammenfasst. Wer Ulrich Raulff kennt, weiß, dass er seinen Charme versprühen kann und schwärmen, bis die Balken sich biegen, dass er Anekdoten und manchmal auch Witze liebt. Doch bei aller kunstvollen Rhetorik, bei allem Furor seiner Kombinatorik, bei aller Sensibilität für das Besondere, bei aller Extravaganz ist er doch stets ein Realist geblieben. Und als Realist war ihm in Marbach die Stärkung der Non-fiction besonders wichtig, angefangen bei der philosophischen Sammlung, über Privatarchive von führenden Historikern bis hin zu jenen Denkern, die Ulrich Raulff gern Bildwissenschaftler nennt – also jenen intellektuellen Temperamenten, die nicht nur Lesen und Schreiben, sondern vor allem auch Schauen, denken wir z.  B. an Horst Bredekamp. * Jetzt, mit dem Abstand von ungefähr zehn Jahren, zweifelt kaum noch jemand daran, dass dieser anfangs umstrittene Aufbruch Marbach gutgetan hat. Als Forschungszentrum ist das Archiv durch Ulrich Raulffs fächerübergreifenden Ansatz immer attraktiver geworden. Und dass die Vervielfältigung der Sammel-Schwer-



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punkte niemals künstlich gewirkt hat, das liegt, so scheint mir, nicht zuletzt an der wichtigsten Gründungserzählung unseres Hauses: am Leben und Werk Friedrich Schillers, der schließlich auch nicht bloß Dramatiker und Dichter war, sondern ebenso Philosoph, Theoretiker und Historiker, also ein universaler Geist. So gesehen hat Ulrich Raulff nichts anderes getan, als die Schillerhöhe an ihren Namensgeber zu erinnern: an die ganze Breite seiner Talente und Interessen, an seine Intellektualität, seinen Idealismus und seine weltweite Wirkung. Schiller international  – hieß im April 2005 eine Vorlesungsreihe, die der Universalgelehrte George Steiner ebenso furios wie streitbar eröffnete, manche werden sich daran erinnern. Und wenn wir diese Reihe nicht schon zwei Jahre zuvor zusammen mit Ulrich Ott geplant hätten, so hätte man sie für eine Idee Ulrich Raulffs halten müssen: für den Auftakt einer 14-jährigen Passage, auf der sich unser Haus verändert hat, ohne auch nur ein Gran seiner traditionellen Identität zu verlieren. Hierin werden wir möglicherweise später einmal die erstaunlichste Leistung dieser Jahre erkennen – in jener Modernisierung, die manchen in Ulrich Raulffs ersten Marbacher Jahren so unwahrscheinlich zu sein schien, dass sie nicht müde wurden, gegen sie zu polemisieren, zu intrigieren und – leider viel seltener  – offen gegen sie zu argumentieren. Von einer Gefährdung des Marbacher »Geistes« war da gerne die Rede, meist raunend, voller Bedenken, oft aber auch einfach nur borniert. Dabei ging es dem neuen Direktor doch nur darum, diesen »Geist« nicht länger in falscher Bescheidenheit einzuhegen, sondern ihn endlich wieder zur Wirkung zu bringen, im Sinne Schillers. Ulrich Raulff ließ sich – er kann ja durchaus auch stur sein – nicht von seinem Kurs abbringen. Mit dem neuen Schwung wurden Projekte verwirklicht, die unsere Vorgänger schon längst für verloren gehalten hatten, am prominentesten trifft dies auf das Suhrkamp-Archiv zu, das 2002 vermeintlich für immer an die Frankfurter Universität gegangen war. »Trauer in Marbach«, so textete damals, wir erinnern uns, die Tageszeitung Die Welt, und Ulrich Ott gestand in der ihm eigenen Aufrichtigkeit: »Wir hätten sie [die Archive von Suhrkamp und Insel] sehr gern gehabt, sie wären uns sehr wichtig ge­wesen.«4 * Als ich selbst 2002 nach Marbach kam, wirkte hier vieles – verzeihen Sie mir bitte die Offenheit –, als hätte es irgendwann in den Vorjahren einen Knacks gegeben, 4

Zit. nach Uwe Wittstock, Jede Menge Öffentlichkeitsarbeit. Trauer in Marbach: Die Universität Frankfurt errichtet dem Suhrkamp-Verlag ein eigenes Archiv, in: Die Welt, 7. Dezember 2002.

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als hätte die Schillerhöhe ihre besten Jahre hinter sich und fände sich nun damit ab, wie man heute sagt, gut zu altern. Viele – Mitarbeiter nicht anders als langjährige Benutzer oder Mitglieder der Deutschen Schillergesellschaft – malten das Gespenst der Marginalisierung an die Wand. Konnte es die schwäbische Schillerhöhe in der neuen Bundesrepublik als Archivstandort überhaupt noch mit Berlin aufnehmen, dessen kultureller Hauptstadt-Dünkel unter Kanzler Schröder mächtig aufblühte? Wenn ich in alten Notizen und Akten blättere, wundere ich manchmal, dass von dieser kollektiven Melancholie überhaupt nicht mehr die Rede sein kann. Jetzt treiben uns ganz andere Probleme um, und sie hängen vor allem mit den Marbacher Erfolgen zusammen: Es fehlt, man kann es nicht oft genug wiederholen, Platz und Personal. Unsere Gebäude sind schon seit Jahren zu eng für neue Vorhaben, und die Masse der nicht katalogisierten und damit schwer zugänglichen Bestände wächst. Die Digitalisierung, mit der man derzeit so leicht Gehör findet, wird zur Lösung dieser Probleme wenig beitragen. Denn hier geht es um Hardware und Metadaten, also um jene intellektuelle Vorarbeit, ohne die sich Digitalisierungsprojekte unversehens in virtuelle Abraumhalden verwandeln. Ohne Frage, vor uns stehen Aufgaben, die mit all ihren Unwägbarkeiten einschüchtern könnten. Schüchterne Zurückhaltung allerdings, auch das kann man von Ulrich Raulff lernen, ist oft sympathisch, aber sie hilft einer Institution nicht weiter. Würde ich nach diesen 14 gemeinsamen Jahren nach einer Eigenschaft gefragt, die Ulrich Raulff besonders auszeichnet, ich würde mich wohl für die Beweglichkeit entscheiden, für seine Kunst des Anfangens und, ja, den Optimismus, es zu akzeptieren, dass am Beginn eines Weges, den man für richtig hält, nicht schon alle Probleme gelöst sein können. Als ich ihn im Sommer 2004 zum ersten Mal traf, fuhr er mir am Münchener Jakobsplatz auf dem Rennrad entgegen. Wer Ulrich Raulff kennt, kann das kaum für eine reine Äußerlichkeit halten. Wurde das Radfahren nicht erfunden, als die meisten Pferde im deutschen Südwesten jämmerlich verhungerten, in jenem Jahr ohne Sommer? Ich möchte nicht abschweifen, sondern nur an eines von Ulrichs Raulffs frühesten Übersetzungsprojekten erinnern, das ganz im Zeichen der Bewegung stand. Es war ein Sammelband des französischen Geschwindigkeitstheoretikers Paul Virilio. Der Titel des Buches wurde einem Song der Kultband Kraftwerk entlehnt: »Fahren, fahren, fahren…«.5 Im Zentrum dieses unscheinbaren Bändchens aus dem legendären Merve Verlag von 1978 steht – das wird Sie jetzt kaum noch überraschen – die Beziehung zwischen Mensch und Pferd, zwischen Ross und Reiter. Also doch und schon ganz am Anfang: das doppelte Marbach – die 5

Paul Virilio, Fahren, fahren, fahren, aus dem Französischen von Ulrich Raulf[f], Berlin 1978.



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Abb. 1: Geschenk der Mitarbeiter des DLA an Ulrich Raulff: Litterae, Kupferstich v. J. Sadeler n. Stradanus, 1597

Künste, die Bücher, die Manuskripte und die Pferde, die wohl niemand so eng zusammengeführt hat wie Ulrich Raulff. Here are the horses, in den Zeiten der Datenautobahnen sind unsere Bewegungs-Geschichten noch lange nicht auserzählt. Und ist der Amtsschimmel erst einmal ausgespannt – dieses Bild borge ich mir aus einer Rede von Ulrich Raulff selbst, denn es verweist auf den über 400-Jahre alten Kupferstich mit dem Titel Litterae, den wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihm als Erinnerung mit auf den Weg geben möchten – ist der Amtsschimmel erst einmal ausgespannt, entpuppt er sich manchmal doch als Pegasus, als geflügeltes Zauberpferd, meinetwegen auch als Rennrad der Dichter und Denker. Dieses Glück wünsche ich dem Autor, dem bewegenden Essayisten Ulrich Raulff am meisten. Postskriptum: Lieber Ulrich Raulff, als Sie noch bei der Süddeutschen Zeitung waren, verbargen Sie sich oft hinter dem Kürzel ff. Natürlich  – ff, das ist das Ende Ihres Nachnamens. Angemessener allerdings scheint es mir, das Zeitungskürzel im Sinne der irrwitzig komischen Marbacher Sammlung von historischen

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Groschenromanen zu entziffern und mit zwei Punkten zu dekorieren. Dort ist F.f. nicht weniger als ein Versprechen auf mehr. In der Regel geht ihm ein Cliffhanger voraus. Es lässt sich aber auch als existenzialistisch verknapptes Motto des Tages begreifen. Denn dieses F.f. heißt ja einfach Fortsetzung folgt.

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letzte sätze oder vom aufhören Abschiedsvortrag am 28. November 2018 Erste Sätze werden generell überschätzt. Keine Poetikvorlesung, die den Hinweis auf die konstitutive Bedeutung des ersten Satzes versäumte. Umständlich werden die Schwierigkeiten seines Gelingens ausgebreitet, so als käme alles auf den gelungenen Einsatz an. Selbst dem gefürchteten writer’s block, dieser segensreichen Erfindung zur Verhinderung bedeutender Werke, scheint vielfach nichts anderes zugrunde zu liegen als das Unvermögen, den ersten Satz zu bilden. Sei dieser gefunden, so will die Sage, habe man die halbe Erzählung gleichsam in der Tasche. Zum Beweis wird Tolstois aphoristischer Auftakt zur Anna Karenina zitiert oder Prousts schläfriger Einstieg in die Recherche. Auch der berühmte Satz, mit dem Kafka den Process eröffnet, von Josef K., den man eines Morgens überraschend verhaftet, wird zu didaktischen Zwecken gern missbraucht. Nun mag es wohl sein, dass der gewöhnliche Leser mehr erste Sätze im Gedächtnis trägt als zweite, dritte oder letzte. Auch von Kirchenliedern, Songs und Hymnen kennt man ja häufig nur die erste Zeile. Aber damit ist noch nicht bewiesen, was die Legende von der Gravität des ersten Satzes behauptet: seine destinative Bedeutung für alles Kommende. Dass so gewichtige Sätze schwer zu finden sind: geschenkt. Ich möchte zur Abwechslung das Pferd vom Schwanz aufzäumen und behaupten, dass nichts so schwer ist wie der letzte Satz. Und dass er für die ganze vorangegangene Erzählung keine geringere Bedeutung hat als der ominöse erste Satz. Vor Jahren gab es einmal ein Marbacher Magazin über das Schreiben, das hieß: Das weiße Blatt oder Wie anfangen? Mir scheint, es wird Zeit, den Band in Angriff zu nehmen, der heißt: Vom Aufhören oder Der letzte Satz. * Gewiss wohnt jedem ersten Satz ein Zauber inne. Er ist die Schwelle zum Text und schon der erste Schritt in ihn hinein. Joyce hat das sehr schön aufgenommen, indem er Ulysses mit der Gestalt eines Schreitenden, dem feisten Buck Mulligan, beginnen lässt. In seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Freud-Preises der Darmstädter Akademie hat Jürgen Osterhammel eine kleine Typologie his-

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toriographischer Eröffnungen skizziert und als Beispiel für einen wirkungsvollen Auftakt Thomas Nipperdey zitiert: »Am Anfang war Napoleon.« Die Wirkung des Satzes beruht nicht zuletzt darauf, dass er den Beginn des Johannesevangeliums zitiert, einen der großartigsten Textanfänge der Weltliteratur, wie nicht zuletzt die Exegese zeigt, die ihm im Verlauf der Eingangsstaffel des Faust I zuteil wird, ein Drama, das gar nicht aufhören kann anzufangen. Mit einem vergleichbar kräftigen Auftakt setzt das Kommunistische Manifest ein, wenn es das Gespenst beschwört, das in Europa umgehe. Aber auch die jüngere Literatur beherrscht den knappen, trockenen Aufschlag noch, denken Sie an Max Frisch: »Ich bin nicht Stiller.« Sehr schön zeigt übrigens das Typoskript des Romans, das im hiesigen Suhrkamp-Archiv liegt, dass Frisch auf diesen genialen Einfall lange warten musste: Erste Sätze sind häufig späte Früchte. Im Gedächtnis festsetzen können sich freilich auch andere, leisere Texteingänge, denken Sie an den Wetterbericht, mit der Der Mann ohne Eigenschaften einsetzt. Ein wahrer Virtuose des ersten Satzes ist Jean-Jacques Rousseau. Das zeigt sich vom frühen Contrat social: »Der Mensch wird frei geboren, und überall liegt er in Ketten« bis zum späten Promeneur solitaire, der in düsterem Moll beginnt: »So bin ich denn allein auf Erden …« Hätte Rousseau nur mehr Schule gemacht. Immerhin kennt die jüngere philosophische Literatur schöne Beispiele für starke Schlusssätze. Dabei denke ich nicht an Hegels Phänomenologie des Geistes, die mit einem syntaktisch vermurksten Schiller endet, sondern an Wittgensteins dunkelschönen Schluss des Tractatus oder Foucaults Ordnung der Dinge mit dem Bild vom Menschen, das eines Tages wieder verschwinden wird »wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand«. Ja, es gibt Sätze, die berühmt sind und im Gedächtnis haften, ohne dass sie als letzte Sätze bekannt wären; denken Sie an Adornos Wort von der »Solidarität mit Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes«, mit der die Negative Dialektik schließt. Von diesen drei Sätzen her könnte man beginnen, eine kleine Typologie von Finalsätzen zu skizzieren, analog zu derjenigen, die Jürgen Osterhammel für die Anfänge entwickelt hat: Der Mystiker, dessen Schlussgebot »Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen« den Saum des Sagbaren absteckt, der Archäologe des Wissens, der eine unbestimmte Zukunft beschwört, der empfindsame Dialektiker, der, was schon fällt, zu stoßen sich weigert. Einer, der auf etwas hindeutet, das jenseits des Sprechens wäre; ein anderer, der auf ein Geschehen verweist, das jenseits historischer Zeit liegt; ein dritter, der die Moral einer philosophischen Apokalypse formuliert. In allen dreien, so unterschiedlich die Blickrichtungen sein mögen, zeigt sich überdies noch etwas anderes, ein Phänomen, auf das man bei vielen letzten Sätzen stoßen wird: die nicht unkomische Situation einer Vollbremsung aus voller Fahrt. Der Text kommt zum Stillstand, während der Sinn noch ein Stück



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weiterrutscht: ins Schweigen, in die Zukunft, in den Abgrund. Mag sein, dass der Musiker Adorno nicht unempfindlich war für solches Fortrauschen oder Nachklingen, dem sich mit keiner Dämpfung beikommen ließ. Zeigt sich darin doch die Grenzsituation des letzten Satzes. Auch von dessen textabgewandter Seite kann man, um Wittgensteins Schlusssatz zu paraphrasieren, nicht sprechen. Wohl aber zeigt sie sich; im Nachklingen wird sie spürbar. * In der Schwellensituation, in ihrer Liminalität liegt das allen ersten und letzten Sätzen Gemeinsame. Aber ein Unterschied bleibt unübersehbar. Der erste Satz markiert die Pforte, und zugleich zieht er den Leser in den Text hinein. Das tut er manchmal stärker als nötig, denken Sie an Kafka, von dem sein Interpret Stanley Corngold gesagt hat, er bringe seine Geschichten nicht zu Ende und bürde deshalb seinen ersten Sätzen zu viel auf. Wie anders der letzte Satz! Er steht gleichsam mit dem Rücken zum Text und schaut ins Leere. Der Schlusssatz, ein letzter Aufenthalt, eine ephemere Bleibe vor dem Verschwinden? Der vorgeschobene Beobachter der Negation? Die Rechnung geht nicht auf. Allerdings liegt der Fehler nicht in der Metaphorik des Blicks, wenn man sagt, der letzte Satz »schaue« in eine bestimmte Richtung; der Fehler liegt in der Einfalt der Richtung. Eines Nachts vor vielen Jahren fanden ein Freund und ich auf den Straßen von Paris eine seltsame Puppe. Sie hatte einen drehbaren Kopf mit drei Gesichtern. Das eine lachte, das andere weinte, das dritte schaute nachdenklich in die Weite. Wir tauften sie Marie-Françoise-Hélène, hängten sie über den Tisch und versuchten von nun an abends unsere jeweilige Tagesbilanz mit ihrer expressiven Dreifalt abzugleichen. Uns war zum Lachen wie Marie, zum Heulen wie Françoise, wir waren nachdenklich wie Hélène. Wie die triadische Puppe blickt auch der letzte Satz in drei verschiedene Richtungen. Er spiegelt, erstens, den zurückliegenden Text; er reflektiert, zweitens, seine eigene liminale Stellung, und er bezieht sich, drittens, auf alle möglichen ersten und letzten Sätze der Weltliteratur. So zitiert der letzte Satz des Kommunistischen Manifests – von den Proletariern, die durch die Revolution nichts zu verlieren haben als ihre Ketten – den ersten Satz von Rousseaus Contrat, ein Manifest der sich emanzipierenden Bourgeoisie, die im Namen der Menschheit zu sprechen vorgibt. Und wir überhören nicht die Anspielung auf den Beginn der Odyssee, die im letzten Satz von Rabelais’ Gargantua und Pantagruel anklingt: »Und schließlich gelangten wir zum Hafen, wo unsere Schiffe lagen.« Die Weltliteratur, wie oft hat man es gesagt? ist ein Spiegelkabinett, und jeder letzte Satz ein Rückspiegel – nicht nur auf den einen Text, den er gerade beschließt.

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Ein Beispiel für einen Schlusssatz, der die eigene Liminalsituation eschatologisch überhöht, bietet übrigens Benjamins Trauerspielbuch. Es endet mit einem Bekenntnis zum Fragment, das noch einmal Anfang und Ende der Welt beschwört: »Wenn andere herrlich wie am ersten Tag erstrahlen, hält diese Form das Bild des Schönen an dem letzten fest.« Ein Schlusssatz, der den letzten Tag zitiert – man meint darin die Signatur des Benjaminschen Denkens zu erkennen, so wie die des Wittgensteinschen in dem seinen. Aber der letzte Satz reflektiert nicht nur Text  – Text dessen Teil er seiner Natur und seinem Ort nach ist. Er steht auch auf der spannungsreichen Schwelle zwischen Text und Nicht-Text oder, mit Derrida zu sprechen, hors texte. Er steht auf der Schwelle zu dem, was außerhalb des Textes ist, man nenne es Welt, Wirklichkeit oder Geschichte. Anders als wir eine poststrukturalistische Weltsekunde lang glauben wollten, verweist der Text auch auf das, was ontologisch gesehen als seine Gegenwelt erscheint. Ja, vielleicht richtet sich seine dringlichste Intention auf dieses Andere  – die Wirklichkeit, das Leben oder die eigentümliche Erfahrungsweise von Wirklichkeit, die wir Geschichte nennen. * Geschichte ist ihrer kürzesten Definition nach das, womit wir nicht fertig werden. Das liegt nicht allein am Erbe der Generationen und den vielfältigen Schuldverstrickungen, die wir als Handelnde und Leidende oder durch Kindschaft uns zuziehen. Es liegt auch und vor allem daran, dass die Geschichte als eine Denkform, die uns zur zweiten Natur geworden ist, im Medium der Erzählung existiert. Auch die realen Ereignisse, die die Historiker sorgsam von den erzählten zu unterscheiden pflegen, erreichen den Zeitgenossen oder die Nachwelt als erzähltes Geschehen. Gleichgültig, ob es in Form von Berichten oder in Form von Bildern verfasst ist, es teilt sich in Form von Historien mit. Wir werden mit der Geschichte nicht fertig, weil wir mit den Historien nicht fertig werden, oder anthropologisch gesprochen: Weil die Menschen mit dem Erzählen nicht fertig werden. Der Mensch, sagt Sartre in La Nausée, ist ein »conteur d’histoires«, ein Erzähler von Geschichten, er lebt umgeben von seinen Geschichten und denen der anderen, und er bemüht sich, sein Leben zu leben, als erzählte er es. Auch für den Dilthey-Schüler und Philosophen Wilhelm Schapp ist der Mensch ein »in Geschichten verstricktes« Wesen, und zwar seit jeher. So wie das Erzählen von Geschichten kein Ende kennt, kennt es auch keinen Anfang: »Die Geschichten verlieren sich im Horizont.« In dieser grundlegenden Hinsicht sind sich die Menschen im Lauf ihrer Evolution treu geblieben: Der an den analogen Lagerfeuern des Neolithikums saß, homo narrans, der ewige Erzähler, sitzt auch noch an den digitalen des 21. Jahrhunderts. Nie ist der Mensch menschlicher, als wenn er erzählt.



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Diese Grundfigur der literarischen Anthropologie reflektiert sich in nicht wenigen Schlusssätzen der westlichen Erzähltradition. So etwa im letzten Satz des Johannes-Evangeliums, das von einem einzigen, freilich ausgezeichneten Leben behauptet, der vollständige Bericht davon sei im strengen Sinne endlos: »Es sind auch viele andere Dinge, die Jesus getan hat. Wenn sie aber sollten eins nach dem anderen geschrieben werden, achte ich, die Welt würde die Bücher nicht fassen, die zu schreiben wären.« Tatsächlich steckt jeder letzte Satz in dem Dilemma, eine Erzählung beenden zu müssen, auf dass das Erzählen als solches weitergehe. Je nach dem, wofür der Erzähler sich entscheidet, spricht der letzte Satz vom notwendigen Ende der Erzählung oder von ihrem unvermeidlichen Fortgang. Am Ende von Verbrechen und Strafe versucht Dostojewski, sich beide Wege offen zu halten, indem er schreibt: »Das könnte das Thema einer neuen Geschichte werden – aber unsere jetzige Geschichte ist zu Ende.« Demgegenüber schließt die jüngste deutsche Ausgabe des Herrn der Ringe mit den nach 1200 eng bedruckten Seiten plausibel erscheinenden Worten: »Mehr kann darüber nicht gesagt werden.« Eine Behauptung, die Hans Blumenberg am Ende der auch nicht eben wortkargen Arbeit am Mythos mit der Frage kontert: »Wie aber, wenn doch noch etwas zu sagen wäre?« * Das klassische binäre Schlussschema in der Literatur sieht vor, dass geheiratet oder gestorben wird: Sie kriegen sich, oder er bringt sich um. Ohne Frage ist es ästhetisch und narrativ wirkungsvoll, das Ende der Erzählung mit dem Tod des Protagonisten oder seinem Begräbnis zusammenfallen zu lassen; das berühmtestes Beispiel ist wohl der Satz »Kein Geistlicher hat ihn begleitet.« Nicht unbekannt ist auch der Schluß »Und noch desselben Tages empfing eine respektvoll erschütterte Welt die Nachricht von seinem Tode.« Auch der Grüne Heinrich endet in der ersten Fassung mit der Szene der Beisetzung: »Es war ein schöner freundlicher Sommerabend, als man ihn mit Verwunderung und Teilnahme begrub, und es ist auf seinem Grabe ein recht frisches und grünes Gras gewachsen.« (Die zweite, allegorische Fassung ist komplizierter und deshalb außerhalb literaturwissenschaftlicher Kreise weniger geschätzt.) Noch dichter ist die Verbindung von Erzählung und erzähltem Leben in Jean Pauls Roman Siebenkäs, in dem der letzte Satz zusammenfällt mit dem letzten Atemzug des Armenadvokaten: »›Ewig, Firmian!‹ sagte leise Natalie; und die Leiden unsers Freundes waren vorüber.« Nur am Rande sei bemerkt, dass es auch in der Literatur Erschütternderes geben kann als das Sterben, man denke an Büchners Lenz, dem der gesuchte Tod sich verweigert und von dem es im letzten Satz heißt: »So lebte er hin …« Wo in der Literatur fände sich ein unheimlicherer Schluss?

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Allerdings muss der Autor nicht unbedingt seinen Protagonisten sterben lassen, um die Endlichkeit der menschlichen Dinge zu evozieren; oft genügt ein einfacher Abschied. So wie die Literatur erfüllt ist von Sterbelagern und Grüften, so ist sie auch voll von schmerzlichen und bittersüßen Abschiedsszenen. Mit einem unerklärten Abschied hat Jean Paul einen anderen seiner Romane, die Flegeljahre, ausklingen lassen: »Noch aus der Gasse herauf hörte Walt entzückt die entfliehenden Töne reden, denn er merkte nicht, dass mit ihnen sein Bruder entfliehe.« Ähnlich leichtfüßig und fast schon ein wenig postmodern anmutend schließt auch Heine die Florentinischen Nächte, deren Erzähler sich elegant aus dem Zimmer der Sterbenden und zugleich aus der Geschichte herausstiehlt: »Als Maximilian diese Erzählung vollendet, erfasste er rasch seinen Hut und schlüpfte aus dem Zimmer.« Aber das Genie Jean Pauls zeigt sich darin, dass er die musikalische Transzendenz jedes gelungenen Romanschlusses – der Text hört auf, der Sound hält an und klingt im Leser nach – im Bild des singend enteilenden Vult und seines entzückt lauschenden Bruders wunderbar bildhaft gestaltet hat. Dass sich mit der Erzählung auch der Erzähler selbst auf den Fluchtpunkt des Todes zu bewegt, ist seit Rousseaus letzter Schrift, dem Promeneur solitaire, eine bekannte literarische Strategie. Chateaubriand greift sie auf und bringt sie zugleich um jenen halben Ernst, den sie bei Rousseau noch besaß, indem er seine Erinnerungen als Mémoires d’outre tombe, Erinnerungen von jenseits des Grabes, bezeichnet, um am Ende zu verkünden, nun bleibe ihm nichts anderes mehr, »als mich an den Rand meines Grabes zu setzen; alsdann werde ich, das Kruzifix in der Hand, kühn in die Ewigkeit hinabsteigen.« Eleganter als diese große Geste ist der Satz, mit dem die Einleitung der Mémoires schließt: »Das Leben steht mir schlecht, vielleicht steht der Tod mir besser.« Das ist nicht schlecht formuliert, schon fast cool, würde man heute sagen. Der Tod, so hat Kant vernunftkritisch argumentiert, ist für das Subjekt, das ihn erleidet, nicht sagbar, und folglich ist er auch nicht aufschreibbar. Nun stellt offenbar gerade die Unmöglichkeit, den eigenen Tod zu artikulieren, eine Herausforderung dar, sich dieser absoluten Grenze schreibend zu nähern. Eine Wette mit der Endlichkeit, der sich einzelne zeitgenössische Autoren nicht entziehen konnten. Anders aber als Rousseau taten sie dies nicht ausschließlich im Medium der literarischen Imagination, sondern in der kruden Wirklichkeit des nahen Aids- oder Krebstods, der auf sie als Leidende und Schreibende zukam: So Harold Brodkey in der Geschichte meines Todes, Wolfgang Herrndorf in dem Blog Arbeit und Struktur und Peter Esterházy in seinem Bauchspeicheldrüsentagebuch. Den absoluten Nullpunkt des realen letzten Satzes hat freilich keiner der verzweifelten Eroberer je erreicht, weil dieser Punkt physisch und logisch unerreichbar ist. Der Tod entzieht sich der auktorialen Willkür. Er bleibt unsäglich. »Letzte



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Worte«, dies nur am Rande, haben einen anderen Status: Sie beschließen nicht das Tagebuch des Sterbens, sondern den Roman des Lebens. Ich muss mich korrigieren. Keiner der zuletzt genannten Autoren hat auf den Tod hin geschrieben. Vielmehr handelt es sich in allen Fällen um besonders drastische und verzweifelte Versuche, gegen besseres Wissen einen Aufschub zu erwirken. Schreibend versichert sich der Autor seines geistigen Lebens: Ich schreibe, also bin ich. Freilich steigt in dem Maß, in dem der Tod näher rückt, die Anforderung an den Text: Wenn jeder Satz der letzte sein kann, muss jeder Satz dem höchsten Anspruch standhalten; pathetische und ästhetische Qualität konvergieren. Literarisches Schreiben folgt nicht einem geheimen Todestrieb der Schrift. Es ist nicht ästhetischer Ausdruck eines Seins zum Tode. Robert Harrison, ein amerikanischer Essayist, hat in der Erzählung Im römischen Regen die Literatur als fortgesetzte Trauerarbeit beschrieben; darüber ließe sich reden. Ich neige zu der Auffassung, dass Literatur, wenn man denn in dieser Weise generalisieren will, eher eine große dilatorische Arbeit ist, ein Aufschieben des Endes. Ob sich in diesem Ende zwingend die Figur des Todes verbirgt, sei dahingestellt. Oft genug verhält es sich wohl so. Der prominenteste Fall heißt Sheherazade. Der letzte Satz ihrer Erzählungen ist jeweils der Beginn der nächsten; so rettet sie die Spannung und dank der Fesselung des Zuhörers ihr Leben. Nicht wenige Erzähler sind durch ihre Schule gegangen und erzählen über alle erwartbaren Grenzen des Erzählens hinaus, ganz so, als ginge es um ihr Leben – und vielleicht geht es auch um nichts Geringeres. So Italo Calvino, der in Wenn ein Reisender in einer Winternacht einen ganzen Roman aus lauter Romananfängen komponiert, als gelte es, den letzten Satz um jeden Preis zu vermeiden; so Peter Kurzeck, der dem Erzählen keine Pause mehr gönnt und das Schreiben auf so ephemeren Trägern wie den Papiertütchen von Teebeuteln fortsetzt, so als warteten Tod und Teufel nur darauf, dass der Autor eine Minute lang verstumme, um sich seinen Leib oder seine arme Seele zu holen. * Die Kunst zu enden, hat Wieland geschrieben, bleibe das Geheimnis der großen Meister. Dabei hatte die Stunde der großen modernen Schlussmacher noch gar nicht geschlagen. Nehmen Sie das Beispiel James Joyce. Da ist zunächst der letzte Satz der Erzählung Die Toten, mit der die Sammlung der Dubliners schließt: Er beginnt mit dem Bild eines Mannes, der aus dem Fenster in den fallenden Schnee schaut, und plötzlich, in der Mitte des Satzes, in umgekehrter Parallelität – ein Chiasmus – wechselt das Subjekt und wird zum Schnee, der sacht auf Lebende wie Tote fällt. Das Ganze wird noch verstärkt durch die interne Umkehrung von

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Verb und Adverb  – ein Epanodos  – in der Wiederholung von falling gently zu gently falling, die tatsächlich den Eindruck eines zarten, sanften Sinkens vermittelt. Gleichzeitig ist dieser Schluss das Ergebnis einer ungeheuren Verdichtung, die den Inhalt der gesamten Erzählung – die geheime Verbindung der Lebenden und der Toten – in einem einzigen Satzkristall konzentriert. Syntaktische Kunstgriffe dieser Qualität finden Sie in der deutschen Literatur allenfalls bei Kleist, denken Sie an den Schlusssatz der Marquise von O. Der reife Joyce steckt seine Ziele höher. Der berühmte Schlusssatz des Ulysses, wenn man den »Molly-Monolog«, diese über mehr als vierzig Druckseiten laufende Deaktivierung der Interpunktion, als Satz bezeichnen will, diese Endlosschleife ist – neben allem, was sich sonst darüber sagen lässt – ein Virtuosenstück, für das sich allenfalls in der zeitgenössischen Musik Äquivalente finden lassen. Das Stück endet auf derselben Note, mit der es begonnen hat, einem groß geschriebenen Yes. Zwischen diesen beiden Affirmationen verschwimmen die Zeiten, die erinnerten wie die erlebten, und mit ihnen die Objekte, Orte und Umstände der Hingabe, Männer, Nymphen, Andalusierinnen, Lieder, Blüten, Knöpfe, Fäden, gestammelte Worte und über allem die fühlbare Nähe des Schlafes: »… and then he asked me would I yes to say yes my mountain flower and first I put my arms around him yes and drew him down to me so he could feel my breasts all perfume yes and his heart was going like mad and yes I said yes I will Yes.« Noch radikaler ist der Schluss oder vielmehr die finale Schlussverweigerung, die Joyce in Finnegans Wake praktiziert. Nach eigenem Bekunden befindet sich der Autor dieses kaum klassifizierbaren Texts in einem Krieg gegen die Wörter und gegen die Literatur, in dem er jusqu’au bout gehen will. Pardon wird nicht gegeben – und auch kein Schluss. Der letzte Satz bricht ab und endet im Leeren, und erst, wenn man zurückblättert zum ersten Satz von Finnegans Wake, sieht man, wie er weitergeht oder hätte weitergehen können – aber tatsächlich ist die Mühle der Ewigen Wiederkehr, die Joyce hier zu bauen scheint, noch weit komplizierter, als sich hier und jetzt ausführen lässt. Des ungeachtet bleibt festzuhalten, dass James Joyce mit erbitterter Konsequenz daran gearbeitet hat, den klassischen Erzählstrom – von der Quelle zur Mündung – umzulenken, Eingangs- und Schlusssatz wie Stecker und Buchse zu verbinden und den Text damit zu seinem eigenen Vorspiel oder prequel zu machen, ein Spiel, das Filmserien wie James Bond oder Star Wars offenkundig leichter fällt als den literarischen Avantgarden des vergangenen Jahrhunderts. Die moderne Form der Narration, hat Karlheinz Stierle geschrieben, sei eine Form, »die ihre Schwierigkeiten mit dem Ende strukturell einbekennt«. Ihr Dilemma sei dasjenige eines Erzählens, »das sich bemüht, das Ende auszutreiben, und das dennoch, und sei es via negationis, das Ende nicht aufgeben kann«. Welcher Reichtum an neuen Schluss-, Nichtschluss- und Dochschlussformen



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sich daraus ergeben kann, lässt sich am Fall Joyce exemplarisch studieren. Damit stellt sich aber auch die Frage, ob alles, was die erzählerische Moderne in puncto Schlusstechnik erwirtschaftet hat, in der Pluralisierung und Diversifizierung von Textenden liegt, oder ob sie nicht vielmehr eigene Schlussfiguren, -haltungen und -töne erfunden hat. * Mir scheint, dass mit der Aufklärung, also seit der zweiten Hälfte des 18.  Jahrhunderts, in dem vielstimmigen Konzert der narrativen Schlüsse ein neuer, unverwechselbarer Ton hörbar geworden ist. Es ist der Ton eines weltläufigen Realismus oder einer modernen Stoa. In Schlüssen dieser Art ist keine Spur des Aufbäumens mehr, keine Gegenwehr gegen das Aufhörenmüssen, aber auch keine Flucht in den Mythos. Niemand hat das Programm dieser sachlichen Hinnahme besser formuliert als der amerikanische Literaturkritiker und Essayist Lionel Trilling. In Das Ende der Aufrichtigkeit polemisierte er gegen die um 1970 modisch gewordene Verklärung und Verharmlosung des Wahnsinns und schloss mit den Worten: »Den Lügen einer entfremdeten sozialen Realität begegnet man durch eine psychopathische Steigerung zur Göttlichkeit, wo jeder von uns Christus wird, aber man nimmt nicht die Mühe auf sich, einzugreifen, Opfer zu sein, mit Rabbis zu streiten, zu predigen, Schüler zu gewinnen, auf Hochzeiten und Begräbnisse zu gehen, irgendetwas zu beginnen und an einem bestimmten Punkt festzustellen, dass es zu Ende ist.« Gelegentlich trägt dieser moderne Stoizismus sogar eine Spur von leichter Trägheit oder schläfriger Gelassenheit in den Genen. Ich vermute, es war Diderot, der diesen Ton als erster gesetzt hat, als er in Jacques le Fataliste seinen Protagonisten einfach einschlafen ließ. Schlüsse von so entspannter Art sind auch in unseren Tagen noch beliebt, etwa bei Amos Oz, der seine schlaffen Helden gern einfach stehenbleiben und ihre Aktivität einstellen lässt. Wie etwa in Judas: »Er stand da und überlegte.« Auf einer ähnlichen Note von Nachdenklichkeit verabschieden sich viele moderne Erzähler gern von ihrem Leser, sei es gelassen wie Fontane in Effi Briest: »Das ist ein weites Feld  …«, sei es spöttisch wie Brecht im Dreigroschenroman: »Alle fühlten, dass hier ein Grundproblem berührt war. Nachdenklich leerten sie ihre Gläser.« Auch unter diesen neostoischen Schlüssen, wie ich sie nennen würde, gibt es mithin Unterschiede der emotionalen Färbung oder Stimmung, Modi, die getreu der Regel der musikalischen Transzendenz – der Text hört auf, der Sound hält an – im Leser nachklingen. Es gibt die heiteren Varianten, wie sie Jean Paul und nach ihm Heine mit größter Virtuosität praktizieren, die ihre Helden leichtfüßig aus der Erzählung auswandern lassen. Von ihnen scheint Siegfried Kracauer

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gelernt zu haben, wenn er seinen Jacques Offenbach mit den Sätzen schließen lässt: »Der Schwarm verflüchtigte sich wieder. Dann ging auch Ludovic Halévy seines Wegs.« Ihnen steht der Typ des bitteren Schlusses entgegen, wie wir ihn von Büchners Lenz kennen. Flaubert, der diesem Typ geradezu Modellcharakter gegeben hat, gibt gern noch einen Schuss Zynismus ins Glas oder, wie Trilling meint, »wilde Heiterkeit«. So am Ende der Éducation sentimentale, wo sich zwei gealterte Freunde des schönsten Ereignisses in ihrem Leben versichern, ein gescheiterter Bordellbesuch, oder im Schlusssatz der Madame Bovary: »Seit kurzem hat er das Kreuz der Ehrenlegion.« Noch reduzierter, noch grausamer der Schluss von Bouvard und Pécuchet, die ans Kopierpult zurückkehren: »Sie gehen ans Werk.« Einen dritten, bereits erwähnten Modus  – Nachdenklichkeit, modo pensando – praktiziert nicht nur Fontane virtuos, sondern in unseren Tagen auch, wie erwähnt, Amos Oz, etwa in dem Roman Der dritte Zustand: »Ohne Anstrengung folgte er dem Lauf der Dinge. Bis ihm die Augen zufielen und er im Sitzen einschlief.« Das ist, wie unschwer zu erkennen, beste diderotsche Schule. Womit wir wieder beim Autor von Jacques le Fataliste wären. Seinen Schluss kennen wir bereits. Eine seiner Eingangsfragen lautet: »Weiß man je, wohin man geht?« Aber wie der schicksalsgläubige Jakob wird auch sein Autor die Antwort nicht gewusst haben. Wann Diderot den Schlusspunkt unter den Jacques setzte, wissen wir nicht, wohl aber, dass dieser Roman, der eher aus Abbrüchen als Fortgängen oder, wie der Tristram Shandy, eher aus Digressionen denn Progressionen besteht, erst nach dem Tod seines Autors im Jahr 1784 erschien. Hätte Diderot zwölf Jahre länger gelebt und hätte er so aufmerksam wie wir die Nachrichtenlage in Amerika verfolgt, wäre er Zeuge eines eindrucksvollen Schlussakts geworden. Er brachte seinem Autor, dem damaligen Präsidenten der Vereinigten Staaten, einen neuen Ehrentitel ein: Man nannte ihn künftig den Cincinnatus des Westens. Wie jener halb legendäre römische Bauer und Feldherr des 5. Jahrhunderts vor unserer Zeit, der nach erfolgreicher Niederschlagung der Feinde Roms seine Diktatorenwürde an den Senat zurückgab, verzichtete George Washington auf eine dritte Amtszeit und zog sich auf seinen Landsitz zurück. Washingtons Farewell Adress, ein Brief, geschrieben an Freunde und Mitbürger, erschien im September 1796 erstmals im Druck und ist seither zu dem am meisten verbreiteten Text der Vereinigten Staaten geworden. Er endet mit der Bitte um Nachsicht für etwaige Fehler und Versäumnisse. In der Kunst des Aufhörens, von der sein Zeitgenosse Wieland sprach, darf Washingtons Abschiedsrede als eines der herausragenden Werke gelten. Sie zeigt, dass diese Kunst auch eine politische Seite hat. Aufhören können, zu wissen, wann der Schlusspunkt zu setzen ist, oder mindestens sein formales Gesetztsein zu respektieren, ist eine elementare Übung der Demokratie.



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Die Literatur seit Diderot, seit Wieland und seit Washington hat diese Übung und die ihr zugrunde liegenden Erfahrungen in vielfältiger Weise dekliniert und reflektiert. Es zeigt sich, dass man von der Literatur mehr lernen kann als nur schön zu sprechen und zu schreiben. Von der Literatur kann man mehr lernen als Literatur. Vielen Dank.

sandra richter

öffentliche urteilskräfte und ihr literaturarchiv Rede zur Amtseinführung am 14. Februar 2019 Urteilskraft – so hieß das Zauberwort der Aufklärung. Wer über Urteilskraft verfügte, konnte als mündiger Bürger unter Bürgern gelten. Aus solchen Bürgern entstand die Öffentlichkeit: die Wiege von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Diese Öffentlichkeit galt als moralischer Höhepunkt der Zivilisation, als Geburtsstätte der modernen Demokratie, als Polis des 18. Jahrhunderts. Geistig trug man Toga. Die aufgeklärte Öffentlichkeit beruhte auf der Urteilskraft im Singular: auf der einen unteilbaren Urteilskraft. Vernunft war ihre Quelle. Das beste Argument ihr Weg, der weiße christliche Mann ihr Akteur. Durch Erziehung, oder besser: Bildung sollten Fürsten wie Bauern Philosophen werden. Ohne die Leistungen der Aufklärung wären wir heute nicht, wo wir sind. Doch ihre großen Versprechen wurden vielfach und mit guten Gründen als patriarchal, eurozentrisch, ahistorisch und weltfremd kritisiert. Der Aufklärung gebrach es an Aufklärung. Mit dieser Einsicht gingen und gehen sozialpolitische Prozesse einher: Immer mehr Personengruppen – zunächst die Bürger, die Arbeiter, dann die Frauen und viele andere mehr – beanspruchten Anerkennung. In der Folge haben sich die Öffentlichkeit und ihre Urteilskraft vervielfältigt  – mit politisch wünschbaren Effekten. Heute ermöglicht die Vielzahl der Stimmen zwar die Teilhabe am öffentlichen Hören und Gehört-Werden, aber sie garantiert kein vernünftiges Ergebnis mehr. In gegenwärtigen Öffentlichkeiten regieren viele, darunter nicht wenige halbstarke Urteilskräfte. Sie äußern sich laut und mit polemischer Schärfe in den neuen Medien. Mit ihrer Beschränkung auf wenige Zeichen, ihrer Beschleunigung und Kommerzialisierung von Debatten laden sie zur plakativen Äußerung ein. Die Urteilskraft wird damit zur Ware, also zur bloßen Meinung verkürzt. Ihr Warencharakter schmilzt die Substanz der Urteilskraft ab: das ausgewogene und unparteiliche Abwägen von Argumenten, Gründen, Sichtweisen, Gefühlslagen, Unausgesprochenem und allzumenschlichen Menscheleien. Diese umfassende

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Einsicht machte die Urteilskraft einstmals überhaupt erst zur Grundlage der Aufklärung. Wie lassen sich die Tugenden der Urteilskraft wiederbeleben? * Der Blick zurück ins 18. Jahrhundert erweist sich als lehrreich. Unser aufklärerischer Gründungsmythos war zu einfach und einlinig erzählt. Vielmehr kannte schon die Aufklärung ihre Gegenaufklärung. Der erste prominente Denker der Urteilskraft gibt darüber Auskunft: der französische Protestant Pierre Bayle. Im Jahr 1697 veröffentlichte er sein Historisches und kritisches Wörterbuch. Es sollte schon deshalb Epoche machen, weil es kein Wörterbuch im Sinne eines reinen Nachschlagewerkes war. Bayle stellt historische Personen wie den Religionsstifter Mohammed und die griechische Hetäre Laïs vor. Der Blick in Bayles Artikel überrascht, denn der Haupttext dieser Artikel umfasst oft nur wenige Sätze. Dafür finden sich auf jeder Seite unzählige Fußnoten. In diesen Fußnoten passiert der aufklärerische Schreibakt: Bayle stellt unterschiedliche Einschätzungen vor und diskutiert sie mit Verve. Mohammed beispielsweise gilt ihm zwar als »falscher Prophet«, aber die Lügen, die über ihn im Umlauf sind, erregen Bayle so sehr, dass er über fünfzig Gelehrte zitiert, um die Äußerungen über Mohammed als Unwahrheiten zu entlarven. Bayle klagt über die Gewaltsamkeit, mit der Mohammed seine Religion etablierte, ebenso wie über seine rigide Gesetzgebung Frauen betreffend. Zugleich spürt er einer Behauptung nach, die ihn fasziniert: dass Mohammed nämlich eine Toleranzschrift für den Umgang mit anderen Religionen verfasst habe. Bayles Eintrag über Laïs hingegen lässt schmunzeln. Durch genaue Exegese der Quellen erörtert er, wie viele Liebhaber die kluge und schöne Laïs hatte und welcher Gelehrte wie viele davon zählte. Außerdem gibt Diogenes, der Philosoph, der angeblich wie ein Hund in einer Tonne lebte, ein ungelöstes Rätsel auf: Ausgerechnet er, der Kyniker, betete die besagte Dame ganz unzynisch an, und Bayle hätte wohl zu gern gewusst, ob dies nur deshalb geschah, weil sie sich ihm angeblich ohne Entlohnung hingab. Der Leser möge über Fälle wie diese urteilen, so Bayles Forderung, und zwar unparteiisch. Bayle meinte mit ›dem Leser‹ übrigens auch Frauen. Und oft waren sie es, die Bayles Wörterbuch in andere Sprachen übersetzten und zu dem machten, was es war: ein scharfsinniges und gewitztes Gründungsdokument der Aufklärung. So handelt es sich beispielsweise bei der deutschen Fassung aus den Jahren 1741 bis 1744 weniger um eine Leistung des damaligen Literaturpapstes Johann Christoph Gottsched, der auf dem Titel als Herausgeber vermerkt ist. Vielmehr hatte seine Frau, die Autorin Luise Adelgunde Victorie Kulmus, mehr als die Hälfte der Bayle-Artikel übertragen.



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Bayles Werk kann als Archiv zwischen Buchdeckeln gelten, vielstimmig und mitunter radikal. Bayle kritisierte vermeintlich eindeutige ›Wahrheiten‹ der Geschichte und der zeitgenössischen Gegenwart. Seine Leserinnen und Leser sollten zu diskussionsfreudigen Skeptikern werden – durch Quellenkritik. Urteilen gilt hier nicht mehr wie zuvor als Angelegenheit der Herren auf dem Katheder, sondern als Anforderung an das Publikum bei Hofe, in der Stadt und auf dem Land. Urteilen erscheint als neues Kommunikations- und Lebensideal. Aufklärung und Gegenaufklärung waren Teil eines gemeinsamen Prozesses der Selbstreflexion. * Dieses frühe Bewusstsein für die vielen Urteilskräfte speist sich aus einer Debatte französischen Ursprungs: derjenigen über die Frage, was »guter Geschmack« sei. »Guter Geschmack« gehörte zu den Eigenschaften, durch die sich der Adel und die wohlerzogene Bürgerlichkeit gegen untere Schichten abgrenzten. »Guter Geschmack« bezeichnete vieles: das Tragen standesgemäßer Kleidung ebenso wie die Gabe, angeregt über das Schöne, etwa eine Tragödie von Pierre Corneille, zu plaudern. Der Geschmack verriet – wie es der spanische Jesuit Baltasar Gracián in seinem Handorakel zeigte – Herkunft, Schwächen und Absichten eines Menschen. Bezeichnenderweise empfahl »der deutsche Bayle«, der Jurist und Philosoph Christian Thomasius, Graciáns Schrift im Jahr 1687 als ›französische‹ Geschmackslehre. Ihr sollten die tumben Teutonen künftig nacheifern. Bayles Wörterbuch leistete vor diesem Hintergrund vieles: Es erzählte salonfähige Geschichten und vermittelte, wie man mit Esprit debattieren konnte. So betrachtet erscheint sein intellektuelles Archiv auch als besonders umfangreiche Klugheitslehre wie als galante Konversationsübung. Aber der »gute Geschmack« hat seine Tücken. Und diese liegen im Subjekt. Denn Empfindungen des Angenehmen oder Schönen sind unzuverlässig, abhängig vom Betrachter, Hörer und Leser. Als man sich beispielsweise um die Jahrhundertmitte über den ästhetischen Wert der französischen Klassik stritt, setzte sich Gottsched für sie ein: Gottsched erfreuten ihre Ideale, die Wohlanständigkeit und Wahrscheinlichkeit des Dargestellten. Gotthold Ephraim Lessing hingegen wetterte über die Banalisierung der Dramenlehren des Aristoteles, wie er sie vor allem Corneille vorwarf. Rationalisten wie der Mathematiker und Diplomat Jean Pierre de Crousaz sowie die Philosophen Alexander Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier suchten, ästhetische Urteile vernünftig zu begründen. Wer sich am Schönen erfreute, der konnte aus ihrer Sicht auf ›untere Vernunftvermögen‹ vertrauen. Sie funktionierten ebenso wie die oberen: die Vernunft und der Verstand.

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Abb. 1: Ausgabe von Kants Werken aus dem Besitz Friedrich Schillers (DLA Marbach)

Skeptiker wie Bayle hingegen sahen ihre Position durch das unzuverlässige Schöne gerechtfertigt. Auch David Hume goss Wasser in den rationalistischen Wein: Aus seiner Sicht gefällt jedem Menschen etwas aufgrund seiner Erfahrungen und Vorlieben, und diese sind jeweils verschieden. Ästhetische Urteile erweisen sich aus seiner Sicht nicht als richtig oder falsch, sondern nur als relativ. Im Ausgang des 18. Jahrhunderts versuchte Immanuel Kant, den gordischen Knoten Urteilskraft zu lösen. Urteile über das bloß Angenehme erscheinen Kant als subjektiv: Jeder empfinde anderes als angenehm. Der eine bevorzugt schweren Rotwein, der andere spritzigen Riesling. Urteile über das Schöne hingegen dürfen Allgemeingültigkeit beanspruchen und sind (mit Kant) nicht subjektiv. Denn das Schöne – Blumen oder ein Gemälde – gefalle »ohne Begriff allgemein«. Der Grund dafür liegt im »freien Spiel« der Urteilskräfte. *



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Der Spielbegriff führt ins Zentrum der trotz Kant noch offenen Probleme, die das Schöne verursachte. Wie viele sogenannte Kant-Schüler deutete unser lokaler Held Friedrich Schiller den philosophischen Urvater munter und eigensinnig um. Schillers Kant-Ausgabe mit Marginalien lässt es ahnen. Der Mensch sei nur dort ganz Mensch, wo er spielen, sich interesselos hingeben könne, meint Schiller infolge seiner Kant-Lektüre. So rechtfertigt Schiller vieles: zum einen die Auffassung von der Autonomie der Kunst, einer Kunst, die sich eigengesetzlich und ohne Rücksicht auf Verwendungszwecke entfalten soll. Zum anderen folgert Schiller, dass der Mensch sich nur unter bestimmten Umständen und in kleinen verschworenen Zirkeln öffnen könne. Ihre Mitglieder zeichnen sich nicht durch Geburt und Stand, sondern durch Liebe aus. Sie versöhnen »Sinne und Geist«, Auge und Ohr, verhelfen Vernunft und Schönheit gleichermaßen zu ihrem Recht. Schon für die Natur ist Schönheit ein Lebenselixier: Welcher Vogel bräuchte für den bloßen körperlichen Selbsterhalt ein buntes Federkleid, welcher Baum seine vielen Triebe? Der »reine Schein« aber, der Schiller idealisch vorschwebt, vermag noch mehr: Er bildet ein eigenes Reich aus, einen »ästhetischen Staat«. Hier herrscht Freiheit, und eine alles harmonisierende Schönheit führt das Zepter. Den Menschen erteilt sie »einen geselligen Charakter«. Mit Schillers Worten aus dem 27. Brief: »Die Schönheit allein beglückt alle Welt, und jedes Wesen vergißt seiner Schranken, so lang es ihren Zauber erfährt.«1 Schillers ästhetische Vision erscheint so verträumt wie faszinierend und in einem positiven Sinne utopisch. Das Schöne gilt Schiller als Probierstein und Schule der Urteilskraft. Vor allem aber erweist es sich als Band zwischen den Menschen. Als ein Band, das unterschiedliche Temperamente, Lager und Fraktionen verbindet. * Das Schöne in seinen klassischen wie modernen Formen und seine Urteilskraft werden an einem Ort besonders kultiviert: dem Literaturarchiv. Ein solches Archiv ist keine beliebige Informationsinfrastruktur und auch nicht einfach nur ein Dienstleister für seine Nutzer. Vielmehr urteilt so ein Literaturarchiv selbst: Es archiviert, was es für bewahrenswert hält, kassiert, was nach Prüfung nicht dazugehört, erschließt, was zugänglich gemacht werden soll, und lehnt ab, was für

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Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. von Otto Dann u.  a., Bd. 8, Frankfurt a. M. 1992, S. 675.

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dieses spezifische Archiv ungeeignet scheint. Auf diese Weise steht ein Literaturarchiv in direktem Kontakt mit der Ewigkeit. Es fällt ein folgenreiches Urteil über einen Autor und seinen Vor- oder Nachlass – aber eben nur ein Urteil. Konkurrierende Auffassungen gehören dazu. Deshalb handelt es sich etwa beim Deutschen Literaturarchiv Marbach um eine sich selbst notwendigerweise stetig reflektierende Einrichtung: um ein öffentliches Forschungsarchiv, das aus Abstimmungsprozessen heraus handelt und zwar kooperativ mit ähnlichen Institutionen, mit Literaturvermittlern wie Publizisten und Literaturhäusern, Wissenschaftlern und dem Publikum. Die Urteilskräfte, die dabei am Werk sind, orientieren sich an Kriterien von ästhetischer Eigenheit und geistesgeschichtlicher Bedeutung sowie an Verblüffungsmomenten, die von einem Buch, einem Essay, einer klugen Polemik ausgehen. Nach Marbach gelangt, was sich durchgesetzt hat oder zu Unrecht vernachlässigt wurde, begleitet von der Hoffnung auf unbekanntes Strandgut, der Neugier auf den Zufallsfund. Archivarische Urteilskräfte wie diese sind an der Quellenkritik à la Bayle geschult. In den reizarmen Kellerräumen des DLA wird giftige Polemik in säurefreie dunkelgrüne Kästen verstaut. Hier liegen Autoren nebeneinander, die sich im wirklichen Leben nichts zu sagen gehabt hätten: Martin Heidegger neben Hermann Hesse. Das Archiv egalisiert: Jeder Nachlass wird hier mit gleicher Sorgfalt behandelt. Streit hebt das Archiv durch Arbeit am Material auf. Zugleich ermöglicht es seine Wiederauflage für die Zeitgenossen, die sich an Ähnlichem reiben wie ihre intellektuellen Ahnen. Ins Archiv gehen bedeutet: den handwerklichen Umgang mit Kulturgut schulen, sich durch die Auseinandersetzung mit schwierigen Handschriften wie etwa denjenigen Hölderlins in Geduld üben, im Vergleich von publizierten und nicht-publizierten, laut und leise gelesenen Werken Unterschiede entdecken. Lauscht man etwa der Aufnahme von Manche freilich müssen drunten sterben aus dem Munde des Autors Hugo von Hofmannsthal, dann klingt sein Gedicht wie ein Lied von Galeerensklaven. Aus der Textversion lässt sich dies nicht ohne weiteres heraushören. Das Archiv – das DLA mit seinen 1.400 Vor- und Nachlässen, seinen 36 Verlagsarchiven, seinem über hundertjährigen Tonarchiv der Literatur und seinen über 450.000 Bildern und Objekten – schult nicht nur das Lesen, sondern auch das Hören und Sehen. *



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Um diese sinnliche Fülle wahrnehmen zu können, bedarf es nicht nur der Quellenkritik, sondern auch der schillerschen, spielerischen Offenheit: Erst die Begeisterung für die Bestände, die Begeisterung für den so reizvollen, oft sperrigen und widerborstigen Gegenstand Literatur machen ein Literaturarchiv zu einem solchen. Und diese Begeisterung gebiert Fragen und Forschung. »Bestandsbezogene Forschung« hat die Wissenschaftspolitik diesen Vorgang getauft und mit dem Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel ein wichtiges Experiment begonnen. »Bestandsbezug« aber ist ein so nüchterner wie schillernder Begriff. Die Sammlungen des DLA regen Fragen an, geben sie jedoch nicht vor. Was in unseren Kellern liegt, lässt sich selten als eine vollständige und durchkomponierte Sammlung beschreiben. Epistemologisch ist wohl jede Sammlung unterbestimmt. Fragen und Forschungen im Archiv sind dem Bestand gewidmet und um­ spie­len ihn zugleich. Das Archiv des Cotta-Verlags beispielsweise erweist sich erst einmal als unübersichtliche Summe von Briefwechseln, Manuskripten und Druckwerken. Sein Material strahlt durch bestandstranszendierende Fragen nach der persona von Autor und Verlegermäzen oder nach den transatlantischen, ja globalen Literaturbeziehungen, die der wirkungsmächtige Verlag einging. Solches Material legt es umgekehrt nahe, in der Forschung den Kurs zu wechseln: Nicht erst heute haben wir es mit internationalen Literaturmärkten zu tun; das Cotta-Archiv zeigt, dass Vernetzungen wie diese Literatur frühzeitig zu einem weithin bekannten Kulturgut machten. Heute können solche Vernetzungen auch im digitalen Raum stattfinden. Wenn wir Texte online verfügbar und vielleicht sogar im Volltext durchsuchbar machen, dann können auch Studierende in China und Afrika mitlesen. Wir sollten digitale Plattformen für Nachlässe wie diejenigen Franz Kafkas, Else Lasker-Schülers oder Stefan Zweigs aufbauen, die in unterschiedlichen Archiven liegen, um sie zumindest virtuell an einem Ort zugänglich zu machen. Wir müssen uns dem widmen, was in die Gegenwart hineinwachsende Archive zunehmend beschäftigt: dem Umgang mit Born-digitals, solcher Literatur, die meist kein Manuskript mehr kennt, sondern direkt auf dem Computer geschrieben wurde. Dank einer großzügigen Förderung des Landes Baden-Württemberg für ein Science Data Center Born-digitals können wir diesem Auftrag künftig gemeinsam mit Partnern der Universität Stuttgart und des Bundeshöchstleistungsrechenzentrums Stuttgart besser nachkommen. Wenn ein Literaturarchiv wie das DLA seiner Öffentlichkeit etwas mitteilen kann und will, dann ist es seine »heilignüchterne« Begeisterung, die aus Bestandskenntnis und fragender, forschender Neugier erwächst. Diese Begeisterung kann ebenso ernst wie witzig oder ironisch gebrochen sein und kennt eine große Bandbreite von Wahrnehmungs- und Zugangsweisen: das Staunen,

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Lachen, Weinen über einen Text ebenso wie die Spekulation, den scharfen analytischen Blick, die empirische Studie oder das Experiment. Denn das Archiv bietet nicht nur Manuskripte und Briefe, sondern verzeichnet in seinen Büchern auch Lesespuren und handschriftliche Glossen. Realexistierende Leser, über die wir im Zeitalter des vielzitierten »Leseschwunds« gerne mehr wüssten, dokumentieren sich hier selbst. Mit Partnern wie dem LeibnizInstitut für Wissensmedien und Kollegen der Universität Tübingen, dem Max Planck-Institut für Empirische Ästhetik und dem Goethe-Haus Frankfurt gründet das DLA deshalb gerade ein Netzwerk literarische Erfahrung. Gemeinsam wollen wir das Leseverhalten unserer Besucher, ihre Herkunft und ihre Vorlieben erforschen. Wir wollen mit unseren Mitteln dazu beitragen, die Lesekultur wiederzubeleben. Zu diesem Zweck wird das DLA mitunter auch den Raum wechseln, um zu fragen, ob Literatur in der Peripherie anders als etwa in der Hauptstadt wirkt. Die Begeisterung aus dem Archiv hilft dabei auf ihre eigene Weise. Denn manchmal erlaubt sie etwas ganz Besonderes, viel zu oft Vernachlässigtes: den Genuss, den Schiller arbeitsethisch als Folge und Bedingung von Tätigkeit beschreibt, die Muße, ohne die man nicht auf andere Gedanken kommt, und den Mut zu geistreichem Unsinn, aus dem mitunter erst Sinn entsteht. So feinsinnig das klingt, ist das Archiv aber doch keine Pilgerstätte der Entschleunigung, sondern vielmehr ein Brennglas der Vergleichzeitigung. Hier wird Vergangenheit gegenwärtig, und die Gegenwart historisiert sich: Autoren geben ihre Nachlässe nicht deshalb ins Archiv, weil sie hier ihre letzte Ruhe finden wollen. Vielmehr hoffen sie auf das, was einst anschaulich Nachleben hieß und heute kühl Aktualisierung getauft wird. In den Museen des Archivs finden sich die kombinatorischen Zeichenspiele Wilhelm Waiblingers schon deshalb neben Hans Magnus Enzensbergers Poesieautomaten. Was aus der Zukunft der Literatur in das Brennglas des Archivs strahlen wird, können wir heute nur schemenhaft erahnen. Aber einiges lässt sich mit ahistorischer Sicherheit vermuten: Heute hätte Christoph Martin Wieland seinen Agathon möglicherweise als Blog-Tagebuch verfasst, um seinen Helden mit liebevoller Ironie am Versuch der Selbstbildung scheitern zu lassen. Schillers Räuber wären vielleicht ein Computerspiel geworden, ein Adventure-Game. Und aus Goethes Twitter-Meldungen über seine Italienische Reise klänge der enthusiastische Ausruf: ›Nach Tisch ohne Begleiter auf das Kapitol, oder besser: gleich ins Archiv. Wie wahr, wie seiend!‹ Der Begriff Archiv kommt bekanntlich von ›arché‹, griechisch: Anfang oder Ursprung. Hier ist der Ort, an dem sich Schillers »ganzer Menschen« immer wieder neu bilden kann. Literaturarchive sind nicht bloß Luxustempel, die man sich auch leistet. Literaturarchive sind unverzichtbare Kulturorte. Sie bewahren,



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vermitteln und befragen die Erzählungen, Dramen und Verse, die Argumente und Denkformen, die Werte und Werturteilsstreitigkeiten, die unser Wahrnehmen und Entscheiden geprägt haben. In einer Zeit, die durch die Flüchtigkeit ihrer digitalen Aufschreibesysteme gekennzeichnet ist, versorgen sie unser kulturelles Gedächtnis mit Texten, Tönen und Bildern. Aus einem solchen tätigen und reflexiven Gedächtnis erst entstehen die geistigen Grundlagen unserer Zivilisation: die Urteilskräfte, derer wir und künftige Generationen dringend bedürfen.

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jahresbericht der deutschen schillergesellschaft 2018 / 2019 Ein »Bietergefecht mit Happy End« (FAZ, 29.  Mai 2018) gehörte zu den herausragenden Ereignissen des Jahres. Unterschiedliche Parteien überboten sich beim Erwerb von Kafkas Skizze zur Einleitung für Richard und Samuel. Die sechs Seiten umfassende Handschrift aus dem Jahr 1911 stellt eine Erläuterung zum gemeinsam von Max Brod und Franz Kafka konzipierten Romanentwurf Richard und Samuel dar, der schon bald aufgegeben wurde. Zum guten Schluss und fast märchenhaft kam das Deutsche Literaturarchiv Marbach Ende Mai in den Besitz dieses Prosafragments von Franz Kafka, das seit 1983 in Privatbesitz war. Die Teilnahme des DLA an der Versteigerung wurde erst durch die großzügige Unterstützung eines deutschen Mäzens ermöglicht. Zur Erwerbung des Manuskripts führte schlussendlich die Entscheidung eines US-amerikanischen Sammlers, der das Deutsche Literaturarchiv überboten hatte, sich aber im Nachgang entschloss, das Objekt der öffentlichen Hand und das heißt: dem Deutschen Literaturarchiv Marbach zu überlassen. Des Weiteren konnte das DLA eine frühe Handschrift von Hermann Hesse erwerben. Ein Kranz für die schöne Lulu.  Ein Jugenderlebnis, dem Gedächtnis E.T.A. Hoffmanns gewidmet, so der ausführliche Drucktitel der frühen Erzählung. Es handelt sich bei dem 70seitigen Manuskript der Lulu um eine Reinschrift des Autors mit einigen wenigen Korrekturen und Streichungen, als Oktavheft gebunden. Weitere Erwerbungen wie die Vervollständigung des Nachlasses von Peter Härtling oder der Nachlass von Bernard von Brentano lassen sich beispielhaft für ein erwerbungsreiches Jahr des Archivs anführen. Für die Bibliothek stellt der Ankauf der Teilbibliothek von Karl Wolfskehl  – mit großzügiger mäzenatischer Unterstützung – eine Bereicherung der Exilbestände dar. Das Exil und der Blick in nicht-deutschsprachige Länder lenkten in diesem Jahr das Augenmerk. Im Juni eröffnete im Literaturmuseum der Moderne mit Die Erfindung von Paris eine große Wechselausstellung über das imaginäre Paris, jener Stadt, die bei Tag und Nacht auf dem Papier entworfen wird. Sie zeigte die Paris-Bilder großer Autoren wie Heinrich Heine, Walter Benjamin, Rainer Maria Rilke, Helen und Franz Hessel, Joseph Roth, Kurt Tucholsky, Claire und Yvan Goll,

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Felix Hartlaub, Ernst Jünger, Paul Celan, Heinz Czechowski, Peter Handke, Paul Nizon und Undine Gruenter: »Das ist eine Stadt! Er kann sich das nicht denken. Nicht, daß nun alles in eitel Glanz gehüllt wäre – keine Spur. Aber wenn man mit offenen Augen und einem Buch durch die Straßen geht und sich mal überlegt, was da alles gewesen ist, und wer da gewesen ist – und wenn man sieht, wie Historisches und unsere Zeit ineinander übergehen – das ist einzig«, schreibt Kurt Tucholsky als Korrespondent in Paris an seine große Liebe Mary Gerold im Jahr 1924. Die von Susanna Brogi und Ellen Strittmatter kuratierte Schau fand in der Presse wie bei den Besuchern großen Anklang. Von Paris aus wagte das DLA den Schritt nach Übersee: Thomas Mann in Amerika zeigte den Schriftsteller Thomas Mann in seinem 14-jährigen Exil in den Vereinigten Staaten. In Kooperation mit dem Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich entstand eine Ausstellung, die einen Schriftsteller porträtierte, der für die Demokratie kämpfte, der sich für Frieden und Humanität einsetzte – und der in der Krise zu einer neuen, politischen Poetik fand. Zur Ausstellungseröffnung las Frido Mann aus seinem neu erschienenen Buch Das Weiße Haus des Exils und sprach anschließend mit Jan Bürger über seine amerikanischen Jahre mit Thomas Mann. Nach ihren erfolgreichen Stationen in Marbach und Bern/Zürich wanderte die von Medien und Publikum gleichermaßen gefeierte Ausstellung Rilke und Russland in das Staatliche Literaturmuseum der russischen Föderation nach Moskau: Zur Eröffnung sprachen der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in der Russischen Föderation Rüdiger von Fritsch, der Botschafter der Schweiz in Russland Yves Rossier, die stellvertretende Ministerpräsidentin der russischen Föderation Olga Jurjewna Golodez, der außerordentliche Vertreter des Präsidenten der Russischen Föderation Michail J. Schwydkoj, der Direktor des Staatlichen Literaturmuseums in Moskau Dmitri Bak, der Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach Ulrich Raulff, die Direktorin der Schweizerischen Nationalbibliothek Marie-Christine Doffey (Bern), und Thomas Schmidt, Künstlerischer Leiter der Ausstellung Rilke und Russland. Das Marbacher Tagungsprogramm zeichnete sich 2018 durch eine Fülle internationaler Themen aus. Begleitend zur Ausstellung fand die Tagung FamilienOrdnungen statt. Eine Konferenz mit dem Titel Cottas Journalpoetik. Forschung und Erschließung zwischen Globalgeschichte und digitaler Wende stellte Cottas spezifische Journalpoetik und deren globale Dimensionen in den Mittelpunkt. Durch die Tagung konnten mit Blick auf die Journalliteraturforschung philologische Grundfragen mit den durch die Digital Humanities eröffneten Möglichkeiten methodisch verbunden werden – anhand des im DLA befindlichen Cotta-Archivs. Im Rahmen des Projekts 1968. Ideenkonflikte in globalen Archiven beschäftigten sich auf der Tagung Ereignis und Geschichte, 1968 und die Geschichtsphilosophie



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Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen mit politischen und ästhetischen Grundproblemen der Geschichtsphilosophie. Durch die Beiträge aus der Literatur-, Politik- und Geschichtswissenschaft konnten nationale oder westlich geprägte Muster aufgebrochen und verschiedene transatlantische Verbindungsund Konfliktlinien um die Chiffre ›1968‹ aufgezeigt werden. Der öffentliche Abendvortrag von Alexander García Düttmann illustrierte die in jüngerer Zeit virulente Rede von 1968 als »Ereignis« im starken Sinne. In Zusammenarbeit mit den American Friends of Marbach fand die Tagung Reinhart Koselleck und die Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts statt. Im Mittelpunkt der Diskussion standen der Versuch einer Historisierung des begriffsgeschichtlichen Projekts von Reinhart Koselleck  – die Geschichtlichen Grundbegriffe  – und die Frage nach dessen Aktualisierungsmöglichkeiten für eine gegenwärtige begriffsgeschichtliche Praxis. Dabei konnte herausgearbeitet werden, welche theoretische und politische Relevanz Begriffsgeschichte heute als historische Methode hat und welches Potential der im Deutschen Literaturarchiv befindliche Nachlass Reinhart Kosellecks birgt. Signifikante historische Bestände und ein Jahrhundert deutsch-jüdischer Kultur- und Wissenschaftsgeschichte beleuchteten internationale Wissenschaftler in Archives of GermanJewish Scholarship, 1918–2018. Knowledge Transfer and Nation-Building in Mandatory Palestine and Israel an der Staatsbibliothek zu Berlin – einer Tagung die im Rahmen des Projekts Global Archives stattfand. Zur Konferenz sprachen u.  a. Michelle Müntefering, Staatsministerin für internationale Kulturpolitik im Auswärtigen Amt, Barbara Schneider-Kempf, Generaldirektorin der Staatsbibliothek zu Berlin, Peter-André Alt, Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, Ulrich Raulff, Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach, Menachem Ben-Sasson, Hebräische Universität Jerusalem, und Barak Medina, Hebräische Universität Jerusalem. Den Abendvortrag hielt Yfaat Weiss, Professorin an der Hebräischen Universität Jerusalem und Direktorin des Dubnow-Instituts, zum Thema Akten der Gelehrsamkeit. Über deutsch-jüdische Residuen in Jerusalem. Dem internationalen Literatur- und Ideentransfer widmete sich auch die Internationale Marbacher Sommerschule für Doktoranden unter dem Dach des Forschungsverbundes Marbach Weimar Wolfenbüttel (in Kooperation mit zahlreichen Universitäten). Sie fand zum zweiten Mal in Marbach statt. Unter dem Titel A New Republic of Letters: Intellectual Communities, Global Knowledge Transfer fanden sich internationale Forscher, Doktoranden und Gäste zusammen, um historische und theoretische Erscheinungsformen und Begriffe, die im Zusammenhang mit dem Phänomen »Gelehrtenrepublik« stehen, zu diskutieren. Die Reihe der Zeitkapseln begann im März mit dem Besuch der Schriftstellerin Barbara Hahn, die gemeinsam mit Daniel Berndt unbekannte Teile des Nachlasses von Charlotte Beradt sichtete. Die Journalistin Charlotte Beradt

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(1907–1986) hielt nach 1933 Träume fest, um »die unmittelbare Auswirkung totaler Herrschaft« zu dokumentieren. 1962 entstand daraus Das Dritte Reich des Traums, eines der ungewöhnlichsten Bücher über die Zeit des Nationalsozialismus. Gleichzeitig tauchten unbekannte Teile des Nachlasses von Charlotte Beradt auf, die Daniel Berndt, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsprojekt ›Bildpolitik‹ (Verbund Marbach Weimar Wolfenbüttel), gemeinsam mit der Literaturwissenschaftlerin erstmals sichtete. Nicht zuletzt ging es dabei um Beradts enge Freundin Hannah Arendt. Im Rahmen der nächsten Zeitkapsel präsentierten und diskutierten Jan Eike Dunkhase und Ulrich Raulff einen aufschlussreichen Fund, durch den der Nachlass Reinhart Kosellecks bereichert worden ist: einen Zettelkasten mit mehr als 60 für Kosellecks Doktorarbeit Kritik und Krise zentralen Begriffen, den sich der Historiker etwa 1951 in einem Zigarrenkistchen anlegte. Er wirft neues Licht auf die Arbeitsweise des jungen Koselleck wie auch auf die Quellgründe des Lexikons Geschichtliche Grundbegriffe. Die Zeitkapsel 52 hatte Manfred Peter Hein und sein Lebenswerk zum Gegenstand. Im Gespräch mit Ulrich von Bülow und der Literaturwissenschaftlerin Theresa Heyer gab er erstmals Einblick in sein Marbacher Archiv, das neben Papieren auch Steine und Hölzer als Kunstobjekte enthält, und las Gedichte aus fünf Jahrzehnten. Die letzte Zeitkapsel im Jahr bestritt Andrea Köhler, 1991–94 Kulturkorrespondentin in Paris, danach im Feuilleton der Neuen Zürcher Zeitung, im Gespräch mit Undine Gruenters Lektor Wolfgang Matz über die Autorin und ihren Nachlass im Marbacher Archiv. Auch jenseits der fest etablierten Veranstaltungsreihen waren prominente Autoren, Wissenschaftler und Intellektuelle in Marbach zu Besuch. Noch in der Laufzeit der Ausstellung Die Familie – Ein Archiv sprach Nike Wagner mit dem Opernexperten Stephan Mösch über die Verstrickungen eines legendären Künstler-Clans. Andreas Platthaus widmete sich in seinem Vortrag Tick, Trick und Trump. Über Veronkelung und andere Comic-Verwandtschaften andersgearteten Familienordnungen. Hans Pleschinski stellte seinen neuen Roman Wiesenstein vor und brachte im Gespräch mit Jan Bürger dem interessierten Publikum den Nobelpreisträger Gerhart Hauptmann und dessen Leben im ›Dritten Reich‹ nahe. Passend zur Ausstellung Paris blickte der Schweizer Schriftsteller Paul Nizon zurück auf sein überragendes Lebenswerk, in dem sich die französische Hauptstadt auf unvergleichliche Weise spiegelt. Jan Philipp Reemtsma trug bei einer Lesung Ausschnitte aus dem 5. Kapitel des 2. Bandes von Jean Pauls Siebenkäs vor, weil »die Passage aus dem zweiten Bändchen des ›Siebenkäs‹ […] eine der lustigsten und traurigsten Stellen in der Literatur [ist].« Der Literaturwissenschaftler Andreas Kablitz, Professor an der Universität zu Köln und Direktor des dort angesiedelten Petrarca-Instituts, analysiert in seinem



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Buch Der Zauberberg. Die Zergliederung der Welt (Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2017), auf welch außergewöhnliche Weise die narrative Darstellung im Zauberberg gelingt. Im Gespräch mit Marcel Lepper entfaltete Kablitz die poetischen Verfahren Thomas Manns in dessen Jahrhundertroman und zeigte auf, wie Thomas Mann erzählerisch die Welt auf den Prüfstand stellt. Vor vollbesetzten Reihen sprach der israelische Autor David Grossmann in der Reihe »Weltliteratur am Neckar« mit der Literaturwissenschaftlerin Anat Feinberg über seinen jüngsten Roman, der in der deutschen Übersetzung von Anne Birkenhauer unter dem Titel Kommt ein Pferd in die Bar im Carl-Hanser-Verlag veröffentlicht wurde. Im Gespräch erfuhren die Besucher einiges über Grossmanns Faszination an der menschlichen Stimme und über die Rolle des Schriftstellers in der israelischen Gesellschaft. Barbara Stoll, Sprecherin des TV-Senders ARTE las deutsche Auszüge, David Grossmann gab in seiner kurzen hebräischen Lesung einen Eindruck von der Melodie seiner Muttersprache. Unter dem Titel Building Bridges bot der Klaviervirtuose Sir András Schiff ausgewählten Nachwuchspianisten eine Plattform: im März begann die Reihe mit dem Chinesen Jiayan Sun, der am Flügel in Marbach u.  a. Werke von C.P E. Bach, Ludwig van Beethoven, Béla Bartók und Leoš Janáček spielte. Im Juni folgte ihm in dieser Reihe der Ungar János Palojtay, der in Marbach Werke von Haydn, Brahms, Debussy und Bartók präsentierte. Zum Aktionstag des Kinder- und Jugendliteratursommers konnte mit Kirsten Boie eine vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin als Gast gewonnen werden. Frauen in der Literatur hieß das Thema des Kinder- und Jugendliteratursommers 2018 und so standen auf der Schillerhöhe in zahlreichen Führungen und Lesungen Geschichten von ungewöhnlichen Mädchen und Jungen im Mittelpunkt. Zahlreiche Besucher nutzen das kostenfreie Angebot und lernten die Ausstellungen unter teilweise auf den Kopf gestellten Geschlechterrollen neu kennen. Seit März 2018 steht das 1970–72 im Stil des Brutalismus errichtete Archivgebäude auf der Schillerhöhe unter Denkmalschutz. Aus diesem Anlass öffnete das Deutsche Literaturarchiv am Tag des offenen Denkmals seine Tore. Über Marbachs ›Archiv-Burg‹ diskutierten Wolfgang Lauber, der Architekt des Archivbaus in Zusammenarbeit mit vormals Büro Kiefner Stuttgart, und Oliver Elser, Kurator am Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt am Main. Im Anschluss wurden Architekturführungen durch das Deutsche Literaturarchiv und das SchillerNationalmuseum angeboten. Den Internationalen Museumstag eröffnete der Schriftsteller und Büchnerpreisträger Jan Wagner mit einer Rede zu Eduard Mörike. Im Anschluss luden Museumsmitarbeiter in zahlreichen Führungen dazu ein, neue, ganz eigene Perspektiven auf einzelne Manuskripte, Briefe und literarische Dinge zu gewinnen: Mörikes Siegelring mit Sphinx, ebenso die ersten erhaltenen Verse des 11-jährigen

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Friedrich Schiller, Franz Kafkas Matura-Zeugnis, Sarah Kirschs Waldgedichte oder Hans Magnus Enzensbergers Wasserzeichen der Poesie wurden als Lieblingsstücke gezeigt. Traditionell gewährten Anfang November das Literaturarchiv und seine Museen am Tag der offenen Tür einen Einblick hinter die Kulissen. Zum Auftakt hielt Isabel Pfeiffer-Poensgen, Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, die Schillerrede 2018 mit dem Titel Für welche Zukunft sammeln wir? Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stellten interessierten Besuchern ihre Arbeit vor. In zahlreichen Führungen durch Archiv, Bibliothek und Museen konnten die Besucher einen Einblick in die Arbeit und Strukturen der Institution erhalten. Mit einem Festakt am 28. November 2018 endete die 14jährige Amtszeit von Ulrich Raulff. Zu seinem Abschied sprachen Thomas Keller (Vizepräsident der Deutschen Schillergesellschaft e.V.), Theresia Bauer MdL (Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württemberg), Richard Ovenden (Direktor der Bodleian Libraries Oxford), Nicola Leibinger-Kammüller (Vorsitzende des Freundeskreises des DLA) und Jan Bürger. Die Festredner dankten Herrn Raulff für sein Verdienst, das DLA als international angesehenes Forschungsinstitut mit großer öffentlicher Ausstrahlung zu etablieren. Ulrich Raulff folgte am 1. Oktober 2018 als Präsident des ifa (Institut für Auslandsbeziehungen) Martin Roth nach. Am 1. Januar 2019 trat ich als erste Direktorin des Deutschen Literaturarchivs Marbach mein Amt an. Die offizielle Inaugurationsfeier fand am 14. Februar 2019 statt. Anlässlich des feierlichen Akts sprachen die Wissenschaftsministerin des Landes Baden-Württemberg Theresia Bauer, Dr.  Sigrid Bias-Engels, Gruppenleiterin bei der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur, sowie der Rektor der Universität Stuttgart Professor Dr. Wolfram Ressel. Sie richteten ihren Blick auf die Zukunft, auf die Bedingungen digitalen Wandels und äußerten die Hoffnung, dass Wissenschaft und Archiv künftig und auch durch mein Engagement und meine Verbindungen weiter zusammenwachsen werden. Im Rahmen meiner Antrittsrede widmete ich mich dem Thema Öffentliche Urteilskräfte und ihr Literaturarchiv (Seite 503–511 in diesem Band), um diesen Weg zu skizzieren und auf die öffentliche Bedeutsamkeit der archivarischen Tätigkeit hinzuweisen. Am 14. Juni 2018 verstarb Dr. Hannsjörg Kowark, Direktor der Württembergischen Landesbibliothek. Er hat sich als langjähriges Mitglied des Ausschusses der Deutschen Schillergesellschaft und in den Jahren 2008 bis 2012 als deren Vorstandsmitglied größtes Verdienst erworben. Herr Kowark blieb dem Deutschen Literaturarchiv Marbach stets eng verbunden. Am 16.  Oktober 2018 verstarb mit Prof. Dr.  techn. Dr.-Ing. E.h. Berthold Leibinger ein enger Freund und Förderer des Hauses. Herr Leibinger war Grün-



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dungsmitglied des Freundeskreises des Deutschen Literaturarchivs und dessen langjähriger Vorsitzender. Unter seinem Vorsitz wurden für das Haus maßgebliche Erwerbungen und Großprojekte realisiert, die ohne seinen Einsatz nicht zu bewältigen gewesen wären. Unvergessen bleibt sein Einsatz u.  a. bei der Erwerbung des Suhrkamp und Insel-Verlagsarchivs, bei verschiedenen Vor- bzw. Nachlässen wie z.  B. von Hans Magnus Enzensberger und Siegfried Lenz, bei baulichen Projekten wie der Errichtung des Collegienhauses, der Sanierung des SchillerNationalmuseums und dem Neubau des Literaturmuseums der Moderne, seinem Engagement für die American Friends of Marbach, um nur einige wenige seiner Aktivitäten zu nennen. Das Haus verdankt Berthold Leibinger persönlich und seiner Stiftung sehr viel, hat ihm in der Vergangenheit deshalb auch zwei Ausstellungen (Die Gabe / The Gift und Thomas Mann in Amerika) gewidmet sowie das Berthold Leibinger Auditorium im Literaturmuseum der Moderne nach ihm benannt.

ARCHIV 1 Erwerbungen 1.1 Handschriftensammlung 1.1.1 Vorlässe, Nachlässe, Teilnachlässe und Sammlungen

Ilse Aichinger: Nachtrag zum Nachlass. Konvolut: Letzte Notate von Ilse Aichinger; Gedichte. Sammlungen: Kleine Auswahl für Dich von mir, Heft mit frühen Gedichten und Prosa, Notizen, Werkentwürfe; Briefe (auch an Günter Eich) von Wolfgang Hildesheimer; Fotografien; Zeitungsausschnitte; Bücher mit zahlreichen Notizen. Karlheinz Barck: Nachtrag zum Nachlass. Manuskripte zu Reden und Vorträgen, Konvolut Notizbücher (u.  a. Logbuch zum Wörterbuch der ästhetischen Grundbegriffe), Materialien zu den Themen Begriffsgeschichte, Blitzkrieg, Poesie und Imagination, Rezeptionsästhetik, Surrealismus, Wahrnehmung u.  a.; Materialsammlungen zu Walter Benjamin, Alexander von Humboldt, Hans Robert Jauß, Victor Klemperer, Werner Krauss u.  a.; Gutachten zu Projekten; Briefe an ihn; Manuskripte anderer: Werner Krauss: Protokolle zu seinen Lehrveranstaltungen und Materialsammlung zum spanischen Realismus. Alfred Baeumler: Nachlass. Frühe Gedichte; Prosa: Deutsche Geschichte, Vorlesungen, Aufsätze, Notizen zu: Bachofen, Bewusstsein, Die deutsche Geistesgeschichte und der Nationalsozialismus, Dostojewski, Geschichte der Erziehungsideen seit dem 18.  Jahrhundert, Hamann, Hegel und Kierkegaard, Heidegger, Leibniz, Marxismus, Nietzsche, Religionsgeschichte, Revolution, Rousseau, Schopenhauer, Über den Adel im Mittelalter, Aufzeichnungen aus dem Internierungs-

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lager Hammelburg; Autobiografisches: zwölf Tagebücher 1905–1934, Mein Weg, Erinnerungen; Briefe von und an Marianne Baeumler, Eduard Baumgarten, Wilhelm Emrich, Ludwig von Ficker, Fritz Fischer, Gerd Gaiser, Theodor Haecker, Martin Heidegger, Otto Heuschele, Arthur Hübscher, Jonas Lesser, Thomas Mann, Klaus Mehnert, Ernst Nolte, Joachim Ritter, Erich Rothacker, Wolfgang Schadewaldt, Manfred Schröter, Karl Ulmer u.  a.; Lebensdokumente, Zeichnungen, Fotoalben, Totenmaske. Max Bense: Nachtrag zum Nachlass. Gedichtsammlungen: Eintragungen, Das graue Rot der Poesie, frühe Gedichte; Prosa: Ästhetisches Wörterbuch, Die höheren Wesen, Der Mann, an den ich denke, Monolog der Terry Jo, Typographischer Text, Zwei Bilder; Wissenschaftliche Prosa: Aufsätze über Jean Paul Sartre, zur Semiotik u.  a., Rezensionen; Notizbücher; Briefe an ihn von Hermann Buchal, Pierre Granier, Siegfried Maser; Lebensdokumente: Reisepässe u.  a.; Manuskripte anderer: Festschrift zum 80. Geburtstag; Briefwechsel zwischen Elisabeth Walther und Friederike Roth; Fotoalbum einer Reise nach Frankreich 1952; Erinnerungsstücke. Horst Bredekamp: Nachtrag zum Vorlass. Reden und Vorträge zu Ludovico Cigoli, Charles Darwin, Galileo Galilei, Gottfried Wilhelm Leibniz, Michelangelo, Erwin Panofsky, zur Architekturgeschichte, Bildwissenschaft, Kunstgeschichte, Kunst des Mittelalters und der Renaissance, zum Verhältnis Technik und Bild u.  a. Bernard von Brentano: Nachlass. Gedichte; Dramatisches: Lebenskameraden/Alte Kameraden u.  a.; Prosa: Romane und Romanentwürfe wie Das Haus am Bodensee, Die Malersfrau, Theodor Chindler u.  a., zahlreiche Essays zu Literatur und Politik wie Ein Jahr in Deutschland, Erfolg und öffentliche Meinung, Erinnerungen an Gottfried Benn, Erinnerungen an Joseph Roth, Kultur und Literatur in Deutschland und Frankreich, Über Carl Burckhardt; zahlreiche Rezensionen; Verschiedenes: Autobiographische Aufzeichnungen, Tagebücher, Arbeitshefte (1935– 1964) u.  a.; Briefe von und an Heinrich und Margot von Brentano und andere Familienmitglieder, Ignazio Silone; Briefe von Theodor W. Adorno, Emil Belzner, Gottfried Benn, Karlheinz Deschner, Kasimir Edschmid, Richard Friedenthal, Efraim Frisch, André Gide, Ernst Glaeser, Albrecht Goes, Willy Haas, Wilhelm Hausenstein, Bernt von Heiseler, Hermann Hesse, Ernst Jünger, Marie Luise Kaschnitz, Eduard Korrodi, Alfred Kurella, Sinclair Lewis, Thomas Mann, André Maurois, Ludwig Meidner, Gustav Meyrink, Helmuth James von Moltke, Börries von Münchhausen, Benno Reifenberg, Joseph Roth, Max Rychner, Friedrich Sieburg, Upton Sinclair, Frank Thiess, Theodor Wolff, Kurt Ziesel, Carl Zuckmayer u.  a.; Lebensdokumente; Zeitungsausschnitte, Drucksachen; Fotografien; Sammlungen von Margot von Brentano und Heinrich von Brentano mit Dokumenten und Briefen, v.  a. Korrespondenz zu Editionen, Rechten und Lizenzen zum Werk



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von Bernard von Brentano. (Für die Unterstützung der Erwerbung danken wir der Kulturstiftung der Länder und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.) Werner Busch: Vorlass. Manuskripte: Adolph Menzel. Auf der Suche nach der Wirklichkeit, Caspar David Friedrich. Ästhetik und Religion, Das sentimentale Bild u.  a. Reden und Vorträge; Vorlesungen: Neoklassizismus; Hogarth, Geschichte der Karikatur, Rembrandt; Briefe an ihn von Wilfried Barner, Eduard Beaucamp, Hans Belting, Gottfried Boehm, Hartmut Böhme, Bazon Brock, Donat de Cha­peau­rouge, Johannes Grützke, Wolfgang Kemp, Walter Hinderer, Konrad Hoffmann, Florian Illies, Max Imdahl, Reinhart Koselleck, Gerhard Kurz, Ivan Nagel, Werner Oechslin, Günter Oesterle, Otto Pöggeler, Paul Raabe, Willibald Sauerländer, Karlheinz Stierle, Michael Stolleis, Verlag C.H. Beck, Martin Warnke u.  a. – Nachlass Günter Busch: Notiz- und Zeichenhefte; Briefe von Kurt Badt, Gerhard Marcks, Friedrich Wilhelm Oelze, Klaus Piper, Clara Rilke, Rudolf Alexander Schröder, Wolf Jobst Siedler, Hans Wimmer u.  a. Adolf Endler: zweiter Teil des Nachlasses. Gedichte: Sammlung Kiwitt, Kiwitt, Krähenüberkrächzte Rolltreppe, Der Pudding der Apokalypse, Uns überholte der Zugvögelzug u.  a.; Prosa: Nächtlicher Besucher, in seine Schranken gewiesen. Eine Fortsetzungs-Züchtigung, Nebbich. Eine deutsche Karriere, Ohne Nennung von Gründen. Vermischtes aus dem poetischen Werk des Bobbi »Bumke« Bergermann, Schichtenflotz. Papiere aus dem Seesack eines Hundertjährigen, Tarzan am Prenzlauer Berg. Sudelblätter 1981–1993, Den Tiger reiten. Aufsätze, Polemiken und Notizen zur Lyrik der DDR, Vorbildlich Schleimlösend, Warnung vor Utah, Zwei Versuche, über Georgien zu erzählen u.  a.; Nachdichtungen von Werken von Alexander Blok, André Breton, Atanas Daltschew, Allen Ginsberg, Sergei Jessenin, Konstantínos Kaváfis, Bulat Okudschawa, Philippe Soupault, Simon Tschikowani u.  a.; Interviews; Tagebuchnotizen; Manuskripte von Frank-Wolf Matthies u.  a. Hans Magnus Enzensberger: Nachtrag zum Vorlass. Gedichte; Dramatisches: Jakob und sein Herr, La Cubana, Rachels Lied, Requiem für eine romantische Frau u.  a.; Prosa: Fallobst, Frankfurter Poetikvorlesungen 1964/65, Traktat vom Ungehorsam u.  a.; Übersetzungen; Briefe von Paul Auster, Wolf Biermann, Irene Dische, Ulrich Enzensberger, Durs Grünbein, Johannes Grützke, Florian Illies, Michael Krüger, Martin Mosebach, Amos Oz, Marie-Luise Scherer, Charles Simic, Botho Strauß, Suhrkamp Verlag u.  a.; Verschiedenes: autobiografische Aufzeichnungen und Gespräche, Skizzen und Entwürfe zum Landsberger Poesieautomaten und anderen Wortspielzeugen. (Für die Unterstützung der Erwerbung danken wir der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.) Ernst Glaeser: Nachlass. Gedichte; Dramatisches: Überwindung der Madonna, Michelangelo, Dramenfragmente u.  a.; Prosa: Jahrgang 1902, Die

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Macht der Tränen, Stefan, Das Unvergängliche (Sammlung), Ein Weg durch das Niemandsland u.  a.; Entwürfe; Vorträge; Manuskripte zu Zeitungsartikeln und Interviews; Rundfunkmanuskripte; Briefe von Heinrich Böll, Willy Brandt, Bernard von Brentano, Heinrich von Brentano, Hans Carossa, Kasimir Edschmid, Yvan Goll, Rudolf Hagelstange, Hermann Hesse, Theodor Heuss, Friedrich Georg Jünger, Alfred Kurella, Else Lasker-Schüler, Ferdinand Lion, Thomas Mann, Anna Seghers, Upton Sinclair, Friedrich Sieburg, Frank Thiess, Carl Zuckmayer u.  a.; Lebensdokumente; Notizbücher; Drucksachen: Zeitungsartikel von und über Ernst Glaeser, Fotografien; Zeichnungen anderer; Materialien zur Verfilmung von Der letzte Zivilist; Materialien zu Veranstaltungen; Manuskripte anderer. Albrecht Goes: Nachtrag zum Nachlass. Gedichte; Verschiedenes: Tagebücher, Adress- und Notizbücher; Briefe von und an Elisabeth Goes, Else Hartmann, Erika Horn, Viktoria von Müller, Brigitte Pflug u.  a., Familienkorrespondenz, Verlagskorrespondenz (S. Fischer, F. Wittig); Lebensdokumente: Verlagsverträge, Preise, Ehrungen u.  a.; Widmungsexemplare; Fotografien; Erinnerungsstücke; Schallplatten u.  a. Reinhard Gröper: Nachtrag zum Vorlass. Gedichte; Prosa: Eußerthal, Leonce, Narziß, Vom Glück bei großen Gärten zu wohnen u.  a.; Reden und Ansprachen über Literatur und zu Preisverleihungen; Schulhefte, Tagebücher; Briefe von und an Oswald Burger, Hans-Joachim Lechler, Hanns-Josef Ortheil, Utz Rachowski, Imre Török, Hesse-Stiftung, Klett-Cotta u.  a. Peter Härtling: Nachtrag zum Nachlass. Gedichte; Prosa: Das ausgestellte Kind, Djadi, Flüchtlingsjunge, Liebste Fenchel. Das Leben der Fanny MendelssohnHensel, erzählt in Etuden und Intermezzi, Tage mit Echo. Zwei Erzählungen, Verdi. Ein Roman in 9 Fantasien u.  a.; Briefe von und an Ilse Aichinger, Rose Ausländer, Ingeborg Bachmann, Hans Bender, Peter Bichsel, Horst Bienek, Heinrich Böll, Joseph Breitbach, Paul Celan, Heimito von Doderer, Hilde Domin, Hans Magnus Enzensberger, Franz Fühmann, Albrecht Goes, Eugen Gomringer, Günter Grass, Ludwig Harig, Christoph Hein, Stephan Hermlin, Wolfgang Hildesheimer, Uwe Johnson, Wolfgang Koeppen, Siegfried Kracauer, Ernst Kreuder, Karl Krolow, Günter Kunert, Hermann Lenz, Siegfried Lenz, Martin Mosebach, Klaus Nonnenmann, Johannes Poethen, Otfried Preußler, Arno Schmidt, Friedrich Torberg, Gabriele Wohmann, Christa Wolf, Carl Zuckmayer u.  a. Hartmut von Hentig: Nachtrag zum Vorlass. Briefe von Dietz Bering, Kurt Biedenkopf, Marianne Birthler, Elisabeth Borchers, Heinz Czechowski, Friedrich Dieckmann, Maria Frisé, Alfred Grosser, Klaus Gysi, Hildegard Hamm-Brücher, Klaus Harpprecht, Michael Krüger, Jutta Limbach, Gert Mattenklott, Katharina Mommsen, Lutz Rathenow, Klaus Ritter, Lea Ritter Santini, Frank Schirrmacher, Klaus Staeck, Fritz Stern, Siegfried Unseld, Dieter Wellershoff u.  a.



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Thomas Kapielski: Erster Teil des Vorlasses. Dramatisches: Rundfunkarbeiten; Prosa und Collagen: Bau Griff ran, schmeiß weg!, Der bestwerliner Tunkfurm, Die Sonne lacht – Blende 8, Einfaltspinsel=Ausfallspinsel, Nach Einbruch der Nüchternheit, Wahnsinn schon mal in Unsinn Schwerefeld drinne? – Nö!, Wind kommt auf; digitale Vorstufen zu Buchveröffentlichungen und Projekten; Verschiedenes: Erörterung des Ich-Bewusstseins im Expressionismus (Magisterarbeit), Unterlagen zur Gastprofessur an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig, Fotografien, Zeichnungen; Briefe von Karin Graf, Floris M. Neusüss, Iris Radisch, Fritz Weigle (F.W. Bernstein), Barbara Wien u.  a. Wulf Kirsten: Nachtrag zum Vorlass. Briefwechsel mit und Materialien zu Arnfrid Astel, Wilhelm Bartsch, Horst Bienek, Hans Christoph Buch, Dieter Hoffmann, Ulrich Keicher, Irina Liebmann, Richard Pietraß, Manfred Streubel, Wolfgang Trampe u.  a. Martin Mosebach: Nachtrag zum Vorlass. Prosa: Die Kinder des Euphrat, Das Leben ist kurz. Elf Bagatellen, Mogador, Ruppertshain (Notizen und russische Übersetzung), Essays und Reden; Dramatisches: Der Schacht; Zeichnungen; Verträge; Reisepässe; Briefe von und an Juri Archipow, Karl Corino, Thomas Ganske, Robert Gernhardt, Thomas Hettche, Hilmar Hoffmann, Rebecca Horn, Ernst Jünger, Thomas Kapielski, Karl Lehmann, Sibylle Lewitscharoff, Sigrid Löffler, Michael Maar, Reinhard Marx, Fritz Mierau, Joseph Ratzinger, Elisabeth Reuß, Frank Schirrmacher, Robert Spaemann, Botho Strauß, Franco Volpi u.  a.; Manuskripte von Durs Grünbein und Franz Josef Czernin. Friedrich Wilhelm Oelze: Nachtrag zum Teilnachlass. Verschiedenes: Vokabelheft und zwölf Notizhefte aus den Jahren 1935–1975; Briefe von und an Max Bense, Eugen Claassen, Heinz Friedrich, Ilse Goldeck, Eugen Gürster, BermannFischer Verlag Stockholm, Paul Lüth, Heinrich Schader, Egon Vietta u.  a. Albrecht Schöne: Vorlass. Vorlesungen und Gutachten; wissenschaftliche Korrespondenzen und Korrespondenzen mit Autorinnen und Autoren; Fotografien. Siegfried Unseld Archiv: Überlieferung aus den Jahren 2002–2012, vor allem zu den Archiven der Verlage Suhrkamp und Insel, Deutscher Klassiker Verlag sowie Jüdischer Verlag. Unterlagen, Berichte, Manuskripte und Korrespondenzen der Verlagsleitungen, aller Abteilungen (Herstellung, Presse, Rechte und Lizenzen, Taschenbuch, Theaterverlag, Vertrieb, Werbung u.  a.) sowie der unterschiedlichen Lektorate für die literarischen und wissenschaftlichen Programme (u.  a. von Günter Berg, Elisabeth Borchers, Charlotte Brombach, Jürgen Dormagen, Hans-Jürgen Drescher, Raimund Fellinger, Susanne Gretter, Wolfgang Jeske, Nadine Meyer, Hans-Ulrich Müller-Schwefe, Hans-Joachim Simm und Thomas Sparr); Briefe von und an Isabel Allende, Louis Begley, Thomas Bernhard, Marcel Beyer, Peter Bichsel, Ketil Bjørnstad, Karl Heinz Bohrer, Edward Bond, Thomas

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Brasch, Volker Braun, Mircea Cărtărescu, Ann Cotten, Dietmar Dath, Tankred Dorst, Oswald Egger, Hans Magnus Enzensberger, Werner Fritsch, Rainald Goetz, Durs Grünbein, Juan Goytisolo, Jürgen Habermas, Peter Handke, Christoph Hein, A. F. Th. van der Heijden, Lídia Jorge, Barbara Köhler, Michael Krüger, Andreas Neumeister, Cees Nooteboom, E.Y. Meyer, Robert Menasse, Adolf Muschg, Erica Pedretti, Amos Oz, Gerlind Reinshagen, Patrick Roth, Jörg Steiner, Uwe Tellkamp, Martin Walser, Anne Weber, Christa Wolf, Mo Yan u.  a. Wilhelm Voßkamp: Vorlass. Briefe von Wilfried Barner, Klaus Berghahn, Wolfgang Braungart, Karl Otto Conrady, Norbert Elias, Jürgen Fohrmann, Gunter Grimm, Renate von Heydebrand, Walter Hinderer, Wolfgang Iser, Marianne Kesting, Uwe-K. Ketelsen, Jürgen Kocka, Reinhart Koselleck, Eberhard Lämmert, Niklas Luhmann, Paul Michael Lützeler, Harro Müller, Gérard Raulet, Rainer Rosenberg, Claudia Schmölders, Werner Schneiders, Jörg Schönert, Takao Tsunekawa, Rainer Warning, Kurt Wölfel, Tokuya Yakame u.  a.; Notizen, Protokolle, Gutachten und Exposés aus verschiedenen Bereichen (Utopieforschung, Rosenzweig-Zentrum, Communicatio u.  a.). Harald Weinrich: Nachtrag zum Vorlass. Gedichtsammlung Antiqua; Manuskripte, Materialien und Karteien zu Adelbert von Chamisso und dem ChamissoPreis, zu den Themen Deutsch als Fremdsprache, Haben, Höflichkeit, Ironie, Literatur und Literaturwissenschaft, Memoria, Romanistik, Sprache, Sprachkultur, Tempus u.  a. Carl Zuckmayer: Nachtrag zum Nachlass. Gedichte: Ratschlag für gutes Rauchen u.  a.; Prosa: Die erste Insel, Und ein fremder Mann fuhr nach Chicago u.  a., Reden: Memento. Zum 20. Juli 1969 u.  a.; Notizhefte u.  a. zu den Dramen Kranichtanz, Das Leben des Horace A. W. Tabor, zur Autobiografie Als wär’s ein Stück von mir und zu Reden; Briefe an und von Max Brody, Charles Veillon (Preis für den deutschsprachigen Roman), Ingeborg Drewitz, S. Fischer Verlag, Hans-Dietrich Genscher, Wayne Kvam, Rudolf M. Michelsen, Dolf Sternberger, Johannes Urzidil, Heinrich Vogel, Günther Weisenborn, Paul Wimmer; Briefkonvolut zum Besuch im Internierungslager Dachau 1948; Lebensdokumente; Manuskripte Anderer von Max Brody, Ruth Cornwall, Theodor Haubach, Alice Herdan-Zuckmayer, Barbara Schüler u.  a.; Briefe Anderer von Alice Herdan-Zuckmayer u.  a.; Fotografien; Zeitungsausschnitte; Theaterprogramme; Plakate. 1.1.2 Kleinere Sammlungen und Einzelautografen (Auswahl)

Ilse Aichinger: Briefe an Isolde Voh. – Paul Alverdes: Briefe an Erwin May. – Gottfried Benn: Gedichte, Briefe an Ursula Ziebarth und Kurt Zierold. (Für die Unterstützung der Erwerbung danken wir der Kulturstiftung der Länder und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.) – Heinrich Böll: Manuskript



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des Romans Kreuz ohne Liebe.  – Silvia Bovenschen: Manuskript.  – Max Brod: Brief an Ernst-Peter Wieckenberg.  – Hermann Claudius: Brief und Gedicht an Karl Engelhardt, Briefe an Gertha Olschewsky.  – Werner Dürrson: Gedichte und Briefe an Erika Frank.  – Hans Heinrich Ehrler: Brief und Karte an Emilie Classen. – Günter Eich: Briefwechsel mit Erwin May. – Zsuzsanna Gahse: Abendgesellschaft. – Hans Georg Gadamer: Briefe an ihn von Henning Ritter und Renate Böschen­stein. – Hans Grimm: Briefe an Erwin May. – Rudolf Hagelstange: Briefe an Wilfried Mader.  – Walter Hasenclever: Karte an Pierre Bertaux.  – Wilhelm Hauff: Brief an Karl Herloßsohn. (Für die Unterstützung der Erwerbung danken wir der Robert- und Helene-Uhland-Stiftung.) – Manfred Hausmann: Briefwechsel mit Walter Herrenbrück. – Martin Heidegger: Die Geschichte des Seyns; Vorlesungsmitschriften zu Was heißt Denken?; Briefentwürfe an Ministerien und Behörden; Brief von Henry Corbin an ihn; Dokumente. – Martin und Elfride Heidegger: Briefe an Viktor Emil Gebsattel. – Ninon und Hermann Hesse: Briefe an Elisabeth Heintz.  – Hermann Hesse: Manuskript der Erzählung Lulu; Briefe an Otto und Wolfram Kimmig sowie Margarete Philips; Briefe von Curt Rapcke an ihn. – Ernst Jünger: Briefe an Jürgen Frank und Eberhard Konzelmann. – Liselotte und Ernst Jünger: Briefe an Brigitte und Wolfram Dufner. – Franz Kafka: Skizze zur Einleitung von Richard und Samuel. (Für die Unterstützung der Erwerbung danken wir zwei Privatpersonen, die ungenannt bleiben wollen.)  – Hermann Kant: Briefe an Rita Kiehnbaum. – Justinus Kerner: Gedichte; Brief an Hermann Hauff.  – Reinhart Koselleck: Vorlesungsmitschriften, Brief an Jeffrey Barash.  – Karl Krolow: Briefwechsel mit Uta Franck. – Dieter Kühn: Drama Goethe zieht in den Krieg. – Franz Lennartz: Briefe an Thilo Koch. – Reinhard Lettau: Briefe an Hans-Henrik Krummacher.  – Ruth Landshoff-Yorck: Briefe von Leo Lerman.  – Hermann Lenz: Brief an Reinhold Weh vom Zeppelin-Gymnasium. – Limes-Verlag: Korrespondenzen Max Niedermayers mit Gustav Kilpper, Hans Paeschke, Max Rychner, Ina Seidel, Friedrich Sieburg, Dieter Wellershoff (zur GottfriedBenn-Briefausgabe); Briefe von und an Herman-Lucien de Cunsel, Inés LeuwenBeck und Thea Sternheim. – Joachim Maass: Junge deutsche Literatur; Brief an Johannes Meyer. – Peter von Matt: Das Familiengeheimnis (Rede im DLA, 2017). – Benno von Mechow: Korrespondenz mit Rosemarie Schmidt; Tagebücher; Materialien.  – Karl Mickel: Widmungsgedichte; Zeichnungen; Materialien; Fotos.  – Agnes Miegel: Briefe an Gerhard Kunze.  – Eduard Mörike: Gedichte; Briefe an Julius Weise’s Hofbuchhandlung und an Marie Kauffmann; Zeichnung. – Irmtraud Morgner: Briefe an Synnöve Clason. – Helga M. Novak: Briefe an Marion Brandt und Ruth Schillert.  – Adelheid Reinbold: Restnachlass.  – Anton von Perfall: Briefe und Billets.  – Familie Curtius-Picht: Briefwechsel zwischen Georg Picht und Edith Picht-Axenfeld; Briefe von Greda Picht.  – Rainer Maria Rilke: Briefe an Georg Fuchs, Harry Graf Kessler und Oskar Zwintscher. – Max Rychner: Briefe

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an Wilhelm Luetjens. – S. Fischer Verlag: Briefe an und von Ilse Aichinger, Hilde Domin, Peter Härtling, Manfred Hausmann, Peter Huchel.  – Hans Sahl: Briefe an Sabine Gewinner-Feucht. – Hans von Savigny: Briefe an Irene Ibsen-Bille und Josias Bille.  – Arthur Schnitzler: Briefe von ihm an Olga Schnitzler; Familienbriefe. – Alexander von Sternberg: Manuskripte und Briefe. – Thea Sternheim: Briefe an Marguerite Schlüter.  – Gerti Tetzner: Die Oase.  – Christian Wagner: Briefe an Tony Schu­macher.  – Martin Walser: Brief an Angelika Pinkow (verh. Theis) bzw. den Leistungskurs des Lina-Hilger-Gymnasiums.  – Karl Wolfskehl: Materialien zur Indien-Reise mit Melchior Lechter und Alexander Bernus. – Heinrich Zimmer: Briefe an Ernst Zimmer, Verwandte, Freunde. – Eberhard Zwirner: Briefe von Rudolf Alexander Schröder und Gerhard Ritter. 1.1.3 Für Stiftungen ist zu danken

Karl Albrecht jr., Prof. Dr.  Hans Altenhein, Prof. Dr.  Jeffrey Andrew Barash, Joen Bille, Nikole Böttcher, Prof. Dr.  Marion Brandt, Prof. Dr.  Werner Busch, Prof. Dr.  Synnöve Clason, Dr.  Paul Cleave, Direction des Bibliothèques Universitaires , Dr. Wolfram Dufner, Prof. Dr. Carsten Dutt, Kenward Elmslie, Eva Fischer, Uta Franck, Erika Frank, Jürgen Frank, Heidi Frehland, Dr. Dagmar von Gersdorff, Sabine Gewinner-Feucht, Wolf-George Harms, Arnulf Heidegger, Dr. Hermann Heidegger, Gerhard Herrenbrück, Lore von Holst, Kantonsbibliothek Kanton Thurgau , Thomas Kapielski, Erhard Kiehnbaum, Eberhard Konzelmann, Prof. Dr. Hans-Henrik Krummacher, Dr. med. Wolfgang Kunze, Prof. Dr. Günther Kurz, Karoline Lölhöffel von Löwensprung, Wilfried Mader, Dr. Tino Markworth, Erwin May, Prof. Dr. Peter von Matt, Regine Metz, Dr. Stephan von Minden, Dr. Rainer Oechslen, Anna Olschewsky, Adelheid Reinbold, Robert-undHelene-Uhland-Stiftung, Ruth Schillert, Kerstin Schneider, Monika Schoeller (S. Fischer Verlag), Prof. Dr.  Albrecht Schöne, Katharina Schulze, Angelika Theis, Prof. Dr. Wilhelm Voßkamp, Dr. Christian Walther, Dr. Manfred Warth, Reinhold Weh, Elsa und Herbert Widmaier, Dr. Ernst-Peter Wieckenberg, Rita Zielke, Prof. Dr. Martin Zierold, Dr. Olga Zoller, Dr. Dorothea Zwirner. 1.2 Bilder und Objekte (Auswahl) 1.2.1 Gemälde, Skulpturen und Totenmaske

Abguss der Totenmaske von Wilhelm Raabe, 1910.  – Porträtbüsten Der junge Nietzsche, 1926, und Maximin, 1930, von Alexander Zschokke.



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1.2.2 Grafiken

Porträtzeichnung Rafik Schami von Anna Donska, 2017.  – Kunstblatt zu Christian Wagners 100. Geburtstag von Wolfgang Dehm, 2018. – Einbandentwurf zu Leonhard Franks Die Räuberbande von Jan Tschichold, ca. 1926. – Entwürfe zur Buchgestaltung von Adalbert Stifters Studien von Carl Weidemeyer, 1911. – Porträtzeichnung Fritz J. Raddatz von Günther Knipp, 1970. – Illustration zu Benno Meyer-Wehlacks Das Lesekind, nach 1984. – Illustrationen von Hellmut Rabitz zu Franz Kafkas Werken, u.  a. zu Der Heizer, Das Schloß, Der Prozeß und Ein Landarzt. – Porträtzeichnungen von Wilhelm von Scheidt, u.  a. Bernard Shaw, Andrè Gide, Alfred Döblin, Martha Seefeld, Eleonore Duse, Hermann Hesse. 1.2.3 Fotografien

Fotoarchiv von Silvia Bovenschen.  – Porträts Silvia Bovenschen von Barbara Klemm, 2017.  – Fotokonvolut aus dem Besitz von Ilse Aichinger und Günter Eich. – Fotokonvolut aus dem Umfeld Stefan Georges. 1.2.4 Medaillen und Erinnerungsstücke

Radiorekorder aus dem Besitz von Ror Wolf. – Fahne aus dem Besitz von Mary Tucholsky, ca. 1918. 1.2.5 Für Stiftungen ist zu danken:

Berthold Roland, Cornelia Rabitz, Petra Zschokke, Felicitas Rummel-Estermann, Konrad Heumann und Camilla Stöppler, Tina Stroheker, Barbara Blomeyer, Freundeskreis Immenhof e.V., Erika Hofmann-Kirch, Ror Wolf, Christel Cramer, Dr. Michael Davidis, Susanne Rößler, Dr. Jochen Meyer. 2 Erschließung 2.1 Handschriftensammlung

An folgenden Beständen wurden detaillierte Ordnungs- und Verzeichnungsarbeiten durchgeführt: Ilse Aichinger, Hannah Arendt, Karlheinz Barck (gefördert durch die VolkswagenStiftung), Schalom Ben-Chorin, Rudolf Borchardt, Joseph Breitbach, Cotta-Briefbestand und -Copierbücher, Hubert Fichte, Redaktionsarchiv Geschichte der Germanistik, Peter Hacks, Martin Heidegger, Insel Verlag (gefördert durch die DFG), Karl Jaspers (gefördert durch die Karl Jaspers Stiftung), Marie Luise Kaschnitz, Sarah Kirsch, Ludwig Klages, Siegfried Lenz (gefördert

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durch die Siegfried Lenz Stiftung), Helga M. Novak, Fritz J. Raddatz (gefördert durch die Fritz J. Raddatz Stiftung), Rowohlt Verlag, Peter Rühmkorf (gefördert durch die Arno Schmidt Stiftung), S. Fischer Verlag (gefördert durch die S. Fischer Stiftung), Hans Sahl, Peter Suhrkamp und Suhrkamp Verlag (gefördert durch die DFG), Oskar Walzel, Carl Weissner (gefördert durch die VolkswagenStiftung). – Hinzu kam die laufende Verzeichnung von kleinen Neuzugängen. Mit der Unterstützung von Praktikanten wurden ganz oder teilweise unter anderem die Bestände zu Bernard von Brentano, Hans Magnus Enzensberger, Ernst Glaeser, Peter Härtling, Michael Krüger, Martin Mosebach und Peter Urban vorgeordnet. 2.2 Bilder und Objekte

Folgende Bildkonvolute wurden neben Einzelkatalogisaten erschlossen: Erich Auerbach, Silvia Bovenschen, Franz Richard Behrens und Herbert Behrens-Hangeler (Familienarchiv), Hedwig Goller (2. Teil), Karl August Horst, Ernst Kaiser, Joachim Kaiser, Dieter Kühn (Nachtrag), Helmut Lethen. Der Fotobestand des Siegfried Unseld Archivs wird weiterhin geordnet, archiviert und einzelne Aufnahmen werden katalogisiert. Die Ordnung der Buchumschlag-Sammlung Curt Tillmann wird von Roland Stark ehrenamtlich fortgesetzt. 2.3 Statistik: Neue Datensätze

Erfreulicherweise erhöhte sich die Zahl der neu angelegten Datensätze im Bereich der Handschriften deutlich, noch nie konnten wir höhere Werte verzeichnen. Das verdanken wir vor allem den zahlreichen mit Drittmitteln geförderten Erschließungsprojekten. Nach Abschluss des von der DFG geförderten Projekts zur Inventargestützten Altbestandserschließung entstanden im vergangenen Jahr im Zug von Nacharbeiten nur noch wenige retrokonvertierte Datensätze. Der leichte Rückgang der Erschließungszahlen im Bereich der Bilder und Objekte ist in erster Linie auf die Personalsituation und auf die hausübergreifende Planung eines neuen Online-Katalogs (OPAC = Online Public Access Catalogue) zurückzuführen.



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2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

insgesamt

32.329

88.519 101.380 105.038

77.714

86.861

40.126

49.440

Handschriften Neuaufnahmen

21.808

25.731

33.314

41.374

18.536

35.506

35.664

48.427

Handschriften Retrokonversion

9.707

62.117

67.594

63.089

58.476

50.780

4.026

668

814

671

472

575

702

575

436

345

Bilder und Objekte

3 Benutzung

Auch die statistischen Zahlen im Bereich der Benutzung zeigen eine steigende Tendenz. In keinem Jahr zuvor wurden mehr Leihscheine gezählt. Die Anzahl der Datenbankrecherchen und der beantworteten Anfragen haben sich ebenfalls erhöht.

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3.1 Anwesenheiten 2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

Tagespräsenzen Archiv insgesamt

4.206

4.714

4.862

5.039

5.575

4.232

4.528

4.461

Tagespräsenzen Handschriften

3.858

4.410

4.401

4.463

4.830

3.577

4.031

3.994

Tagespräsenzen Bilder und Objekte

348

304

461

576

723

655

497

467

Anmeldungen Archiv insgesamt

1.317

1.299

1.129

1.276

1.346

1.191

1.201

1.226

Anmeldungen Handschriften

1.178

1.176

1.079

1.196

1.237

1.092

1.072

1.102

Anmeldungen Bilder und Objekte

139

123

50

80

109

99

129

124



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3.2 Entleihungen 2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

18.546

19.565

17.314

18.236

20.849

18.561

18.828

21.731

Externer Leihverkehr. Handschriften: Verträge

33

27

30

25

17

25

32

27

Externer Leihverkehr. Handschriften: Einheiten

257

296

364

235

269

201

170

228

Externer Leihverkehr. Bilder und Objekte: Verträge

13

19

17

25

15

10

9

14

Externer Leihverkehr. Bilder und Objekte: Einheiten

111

281

67

49

102

28

54

63

Handschriften (Leihscheine)

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3.3 Anfragen mit Rechercheaufwand 2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

Anfragen mit Rechercheaufwand gesamt

1.295

1.340

1.618

1.380

1.224

1.304

1.173

1.235

Anfragen mit Rechercheaufwand Handschriften

1.129

1.179

1.473

1.246

1.009

1.107

964

1.026

Anfragen mit Rechercheaufwand Bilder und Objekte

166

161

145

134

215

197

209

209



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3.4 Datenbank-Recherchen 2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

insgesamt

42.572

51.149

52.945

67.703

69.299

54.438

50.864

64.610

im Modul Handschriften

37.291

46.084

47.509

61.082

62.889

49.186

45.463

59.046

im Modul Bilder und Objekte

5.281

5.065

5.436

6.621

6.410

5.252

5.401

5.564

im Modul Bestandsführung

34.021

49.806

27.486

36.428

34.718

40.328

25.859

30.819

534

sandra richter

3.5 Kopien von Handschriften

Kopien Kopieraufträge

2011

2012

2013

2014

2015

2016

2017

2018

39.305

58.991

53.152

36.974

40.626

38.712

33.325

35.668

1.742

2.025

1.857

1.758

1.872

1.830

1.730

2.909

4 Projekte und Sonstiges

Nachdem im Rahmen des Forschungsverbunds Marbach Weimar Wolfenbüttel die seit langem dringend benötigte Schnittstelle im internationalen XML-Standard-Format Encoded Archival Description (EAD) eingerichtet wurde, konnte im Jahr 2019 der gesamte Marbacher Bestand an Handschriften-Daten im EADFormat an die Berliner Staatsbibliothek geliefert werden und ist dort zum ersten Mal auch im OPAC des nationalen Kalliope-Verbundes vollständig recherchierbar. Offenbar wird die neue Möglichkeit, mit unseren Daten zu arbeiten, intensiv genutzt. Dafür spricht die Tatsache, dass die Zugriffe auf unsere Datenbank von außen (über Deep-Links) von 42 im Jahr 2017 im vergangenen Jahr auf 5.286 gestiegen ist. 2018 war eine verbesserte Version unserer Datenbank Kallías umfassend zu testen. Daran beteiligten sich neben Anna Hallauer, die für IT-Aufgaben der Abteilung zuständig ist, weitere elf Kolleginnen. Wie in den vergangenen Jahren wurde intensiv an der Entwicklung eines neuen Online-Katalogs gearbeitet, Entwürfe ausgearbeitet, geprüft und ausführlich mit den anderen Abteilungen des Hauses diskutiert. Die Anwendung OpenRefine, die im OPAC-Projekt zur Datenprozessierung verwendet wird, erwies sich als nützlich auch für die Qualitätssicherung und bei der Bereinigung von Datensätzen in Kallías. Kolleginnen und Kollegen beteiligten sich an hausinternen Workshops und Arbeitsgruppen zu den Themen Digitalisierung und Digital Humanities, Werktitel und Thesaurus sowie an den von der Deutschen Nationalbibliothek organisierten Arbeitsgruppen, deren Aufgabe es ist, die überregionalen Regeln zur Erschließung von Nachlässen und Autografen (RNAB), Handschriften und Objekten im Sinn des internationalen Regelwerks Resource Description and Access (RDA) weiterzuentwickeln. Anna Hallauer und Janet Dilger nahmen am Deutschen Bibliothekartag in Berlin teil. Janet Dilger besuchte eine zweitägige Tagung der Convention zur Gemeinsamen Normdatei (GNDcon) in der Deutsche Nationalbibliothek, Frankfurt am Main. Sabine Fischer nahm am Jahrestreffen der Graphischen Sammlungen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz teil.



jahresbericht der deutschen schillergesellschaft

535

Zu einer Tradition ist inzwischen der jährliche Fortbildungsnachmittag geworden, bei dem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abteilung jeweils ein Archiv im Stuttgarter S-Bahn-Bereich kennenlernen. Am 21.  November 2018 wurden wir in Bad Cannstatt durch das Stadtarchiv Stuttgart geführt und hatten Gelegenheit, mit den dortigen Kolleginnen und Kollegen Fachfragen zu erörtern. Der innerbetrieblichen Fortbildung dienten wie in den Jahren zuvor Vorträge im Rahmen der Reihe Auf dem Laufenden. Zu erwähnen sind schließlich die auch im vergangenen Jahr wieder zahlreichen Führungen durch die Sammlungen der Abteilung für Studenten, Wissenschaftler, Vereine, Mäzene und Politiker. Insgesamt wurden in der Archivabteilung 2018 neun Praktikanten betreut.

BIBLIOTHEK 1 Erwerbung

Das Berichtsjahr endete mit der guten Nachricht, dass die Carl Friedrich von Siemens Stiftung für weitere drei Jahre die Erwerbung wissenschaftlicher Monographien fördern wird, da auch die Zuwendungsgeber den Bibliotheksetat um die gleiche Summe in Höhe von € 50.000 für diesen Zeitraum aufstocken werden. Dennoch sank die Zahl der erworbenen Bände im Vergleich zum Vorjahr, da die Teuerungen bei sämtlichen Medien sowie die gestiegenen Speicherkosten für die Plattform Literatur-im-Netz vom Buchetat aufgefangen werden mussten. Die Übernahme zweier umfangreicher Autorenbibliotheken war zu verzeichnen: Die mehr als 3.200 Bände umfassende philologische Arbeitsbibliothek von Rudolf Alexander Schröder (1878–1962), der die Zeitschrift Die Insel und die Bremer Presse mitbegründet hat und dessen Nachlass seit 1974 sukzessive übernommen wurde. 1987 wurde der einflussreiche Schweizer Literaturkritiker, Übersetzer und langjährige Kulturredakteur der Zürcher Tageszeitung Die Tat, Max Rychner (1897–1965), mit einem Marbacher Magazin vorgestellt, 2004 kam dessen Nachlass ins Haus, 2018 schließlich eine ca. 2.300 Exemplare zählende Auswahl von zumeist annotierten Büchern aus dessen Lese- und Arbeitsbibliothek. Das bereits 2013 ins Haus gekommene Teilarchiv des Ludwigsburger Killroy Media Verlags, eines Spezialverlags für Social Beat, Slam Poetry und andere literarische Underground-Strömungen, konnte erst im Berichtsjahr ausgepackt werden und bereichert nun mit mehr als 1.000 Kleinschriften, Zeitschriftenheften und 150 Bild- und Tonträgern die mediale Bandbreite der Bibliothek. Im März wurde eine weitere Charge von Materialien im Rahmen des Suhrkamp-Verlagsarchivs übernommen, darunter das Presse-Archiv der Jahre 2002 bis 2012, ausgewählte Theaterprogrammhefte und audiovisuelle Belegexemplare. Mit dem Nachlass

536

sandra richter

von Peter Härtling übernahm das Referat Mediendokumentation eine eindrückliche Sammlung zur Wirkungsgeschichte des viel gelesenen Autors, nämlich 27 Kartons mit Zeitungsausschnitten und etwa 400 audiovisuelle Medien. Friedrich Schirmer, Intendant des Württembergischen Landesbühne Esslingen, stiftete der Abteilung 134 Tonmitschnitte von Niedlichs Literarischem Salon; diese Veranstaltungsreihe des legendären Stuttgarter Buchhändlers Wendelin Niedlich fand von 1994 bis 2005 im Staatstheater statt. Die Bibliothek des DLA ist bekannt für ihre dichte Sammlung an literarischen Zeitschriften aus dem Zeitraum seit 1880; für mehr als 1.200 Zeitschriften hat Marbach laut Zeitschriftendatenbank Alleinbesitz. Die Zeitschriftenstelle in der Hand von Heiko Kusiek unternimmt seit einigen Jahren große Anstrengungen, diesen Bestand retrospektiv auf der Basis einer systematisch ermittelten Desideratenliste auszubauen. Während die Zahl der neu erscheinenden literarischen Zeitschriften auffallend rückläufig ist, waren 30 % der Ausgaben für Periodica dem Erwerb antiquarischer Titel geschuldet. 434 Monographien wurden auf Messen und im Antiquariatsbuchhandel gekauft, unter ihnen ein 1796 erschienener früher Druck der französischen Adaption von Schillers Räuber, Robert chef de brigands, ou l’homme vertueux, comédie en cinq actes et en prose (Lyon, An cinquième [1796]). Das von der französischen Revolutionsregierung angeordnete und von La Martelière (d.  i. J. H. F. Schwindenhammer) bearbeitete Theaterstück wurde ab 1792 höchst erfolgreich in Paris aufgeführt, machte Friedrich Schiller in Frankreich bekannt und war Auslöser für dessen Ernennung zum »Citoyen« als Träger der französischen Ehrenbürgerrechte. Im April kündigte das Bibliotheksservice-Zentrum Baden-Württemberg (BSZ) die seit 2008 als Dienstleistung betriebene Plattform Literatur-im-Netz, auf der literarische Internetzeitschriften, Weblogs und Netzliteratur gesammelt werden, zum Jahresende. Die Bibliothek des DLA stellte daraufhin die laufende Spiegelung der Webquellen ein und informierte die Autoren. Der Online-Zugang zu den archivierten Quellen konnte gesichert werden und ist weiterhin möglich. Das BSZ hat das DLA Marbach bei der Übernahme der Daten und der Einrichtung einer eigenen Umgebung unterstützt, die nun für eine äußerlich unveränderte Präsentation und Nutzung zur Verfügung steht. Eine Vereinbarung zwischen DLA/BSZ regelt die zeitlich unbefristete, kostenfreie Nutzung von SWBcontent ausschließlich für Präsentationszwecke. Die nach aktuellen Standards archivierten Quellen befinden sich auf Servern des DLA und zusätzlich im Landesspeicher am Karlsruher Institute of Technology (KIT). Die intensive Suche nach einer technischen Möglichkeit, literarische Webquellen weiterhin authentisch zu archivieren, hat begonnen; die stetig steigenden Web-Zugriffe auf die Plattform Literatur-im-Netz bestätigen die Notwendigkeit dieses nach wie vor einzigartigen bibliothekarischen Angebotes.



jahresbericht der deutschen schillergesellschaft

537

Für Buch- und Zeitschriftenstiftungen danken wir:

Helga Anwari, Dieter Bajorath, Britta Baumann, Katja Buchholz, Dr. Jan Bürger, Jürgen Clausen, Erik de Smedt, Ulrike Dietl, Gerd Düber, Christa von Düsterlho, Oswald Egger, Erika Frank, Kay Ganahl, Heike Geißler, Dr. Gerd Gießler, Fridjof Gutendorf, Rudolf Haffner, Dr.  Achim Hall, Angelika Japp, Gisela HassmannKube, Titus Häussermann, Marliese Hoff, Peter Huckauf, Prof. Ulrich Ernst Huse, Angelika Japp, Dr. Martin Kämpchen, Dr. Ulrike Keller, Thomas Kistner, Jürgen Kross, Reinhard Markner, Dr. Jochen Meyer, Maria Miltenberger, Herman Moens, Egbert-Hans Müller, Prof. Dr. Chetana Nagavajara, Dr. Michaela Nowotnich, Dr.  Marlies Obier, Dr.  h. c. Friedrich Pfäfflin, Hannelore Pfeiffer, Prof. Dr. Ulrich Raulff, Jörg Rudolph, Peter Salomon, Prof. Dr. Dieter Schiller, Friedrich Schirmer, Dr. Daniel Schlögl, Dr. Hans-Georg Schwede, Erich Scherer, Kai Schreiber, Katharina Schulze, Prof. Dr. Gerhard Schuster, Dr. Hannes Schwenger, Jürgen Seul, Günther Specovius, Birgit Strautz-Buch, Prof. Dr. Friedrich Voit, Uwe Warnke, Dr. Manfred Warth, Andreas Weiland, Cleo A. Wiertz, Dr. Mihaela Zaharia, Olaf Zibell-Vieth, Dr.  Olga Zoller ― Bundesakademie für Kulturelle Bildung Wolfenbüttel e.V., Deutsches Tagebucharchiv e. V., Edition Mosaik Salzburg, Evangelischer Pfarrverein in Württemberg e.V. Stuttgart, Heimatverein Erkner, Humboldt-Universität zu Berlin, Internationale Joseph Roth Gesellschaft Wien, Kulturamt Erlangen, Literaturarchiv Salzburg, Museo Hermann Hesse Montagnola, Staatskanzlei Rheinland-Pfalz Mainz, Stadtarchiv Göttingen, Theatermuseum im Schauspielhaus Hannover, Tourismus- und Kur GmbH Ostseeheilbad Graal-Müritz, Universitätsstadt Tübingen Fachbereich Kunst und Kultur, Zakk GmbH Düsseldorf. Außerdem den Verlagen und Buchhandlungen:

Bernstein-Verlag, Claudius-Buchhandlung Mainz, Diadem Hethiter, Elfenbein, Deutscher Taschenbuch Verlag, Diogenes, Driesch, DVA, Edition Text und Kritik, Edition Tiamat, Emons Verlag, Felix Jud GmbH & Co. KG Buchhandlung. Antiquariat Kunsthandel Hamburg, S. Fischer Verlag, Frankfurter Verlagsanstalt, Goldmann, Haymon Studienverlag, Kunstmann, Königshausen & Neumann, Kulturexpress Verlag, Lektora, Lilienfeld, Luchterhand Literaturverlag, PalmArtPress, Reality Street, Reclam Verlag, Schöffling & Co., Stieglitz Verlag, Suhrkamp Verlag, Thienemann, Zytglogge Verlag.

538

sandra richter

Zugangsstatistik  

2014

2015

2016

2017

2018

32.615

36.753

20.236

27.660

24.166

8.497

7.603

7.888

6.697

6.850

13.256

16.779

2.565

10.994

6.921

Zeitschriftenerwerbung

4.126

4.158

2.970

3.361

2.656

Mediendokumentation und Spezialsammlungen

6.736

8.213

6.813

6.608

7.739

Zeitungsausschnitt- u. Dokumente-Slg. (Kästen, Ordner, Konvolute)

1.092

896

951

740

662

Theaterprogrammsammlung

1.385

2.689

2.317

2.383

3.488

701

1.021

594

529

571

AV-Materialien

1.908

2.161

1.415

1.233

1.512

Buchumschläge; Antiquariats-, Auktions- u. Autographenkataloge; Verlagsprospekte-Slg.

1.650

1.446

1.536

1.723

1.506

7

4

8

7

6

24

31

30

16

28

1.021

1.015

956

948

920

Gesamt (physische Einheiten) Monographienerwerbung Nachlasskonvolute und Sammlungen

Rundfunkmanuskripte

Geschlossene Sammlungen (Bibliothek) Nachlasskonvolute und Sammlungen (Mediendokumentation) Zeitschriftenerwerbung (laufende Abonnements)

Die Statistik wurde 2018 grundlegend überarbeitet, dadurch haben sich in den Vergleichszahlen der Vorjahre leichte Änderungen ergeben.



jahresbericht der deutschen schillergesellschaft

539

2 Erschließung

Im Vergleich zu den Vorjahren ist die Anzahl der Titelneuaufnahmen für Monographien, Reihen und mehrbändige Werke 2018 wieder deutlich angestiegen, ebenso die Zahl der für die Benutzung freigebuchten Exemplare. Der Rückgang bei der Gesamtanzahl der Titelneuaufnahmen ist auf den Abschluss des personalbibliografischen Erschließungsprojektes zu Alfred Döblin und besonders auf die 2017 ausgesetzte Retrokatalogisierung von Zeitschriftenbänden und -heften im Rahmen des hausinternen Projekts zur Revision und besseren Verfügbarkeit der Zeitschriften zurückzuführen. Zwar sind die Zeitschriftentitel im OPAC aufgenommen, Hefte und Bände jedoch häufig noch nicht online bestellbar. Die Retrokatalogisierung von Zeitschriftenbänden und -heften konnte 2018 glücklicherweise wieder aufgenommen werden. Insgesamt wurden 4.578 Bände und 19.603 Hefte neu angelegt. 38 deutsche und internationale Tages- und Wochenzeitungen wurden für die Zeitungsausschnittsammlung ausgewertet sowie 8.489 einschlägige Beiträge aus 36 literarischen und 55 wissenschaftlichen Zeitschriften im OPAC nachgewiesen und sachsystematisch erschlossen. Für die Rekonstruktion der Bibliothek Karl Wolfskehl wurden durch einen externen bibliothekarischen Dienstleister 8.727 virtuelle Titelaufnahmen angelegt. Aufgrund der begrenzten Kapazitäten im Erschließungsbereich können neu erworbene, geschlossene Spezialsammlungen seit Jahren nur im Rahmen von Drittmittelprojekten katalogisiert werden. Im Bereich der geschlossenen Sammlungen sind rund 335.000 Bände nicht einzeln nachgewiesen, sondern nur über

540

sandra richter

den Bestandssatz der Sammlung identifizierbar. Es besteht also weiterhin der dringende Bedarf von 3 zusätzlichen Stellen in der Erschließung (davon 0,4 Stellen in der Mediendokumentation). Der enorme Katalogisierungsrückstand wirkt sich durch einen erhöhten personellen und zeitlichen Aufwand in der Benutzung aus, die betreut im Magazin erfolgen muss. Im November 2018 konnte mit der DFG-geförderten Katalogisierung der stark nachgefragten Autorenbibliothek von Siegfried Kracauer begonnen werden, die bereits seit 1972 im Haus ist (vgl. unter 4. Projekte und Sonstiges). Die Normdaten der von der Deutschen Nationalbibliothek vorgehaltenen und kollaborativ von Bibliotheken in Deutschland, Österreich und der Schweiz gepflegten Gemeinsamen Normdatei (GND) gewinnen für die materialübergreifende Erschließung in Museen, Bibliotheken und Archiven sowie für digitale Editionen immer mehr an Bedeutung. Der großen Relevanz der Werkebene für die Erschließung im Deutschen Literaturarchiv wurde weiterhin abteilungsübergreifend Rechnung getragen. 4.451 Normsätze für Werke wurden bis Ende Januar 2019 neu angelegt, redigiert und an die GND gemeldet. Ferner wurden 7.730 individualisierte Normdatensätze für Personen und 3.260 für Körperschaften und Kongresse neu im Lokalsystem Kallías angelegt, von der Normdatenredaktion redigiert und mit der GND abgeglichen. Die Güte der Sacherschließung von Sekundärliteratur, die in der Bibliothek des DLA klassifikatorisch und verbal verschränkt unter Anwendung einer speziellen Haussystematik erfolgt, ist wesentlich von der Qualität des verwendeten Normvokabulars abhängig. Die Thesaurusredaktion hat 2018 mehr als 1.000 Sach- und Zeitschlagworte neu angelegt, redigiert und  – wenn den Regeln für den Schlagwortkatalog (RSWK) entsprechend – auch mit der GND abgeglichen. Neben den RSWK-konformen Sachbegriffen werden sog. »Freie Deskriptoren« gepflegt, die ebenfalls genau definiert sein müssen, aber nicht an die GND gemeldet werden können. Die Nachfrage nach Bereitstellung von Kallías-Daten in verschiedenen Formaten (MODS, CVS u.  a.) hat deutlich zugenommen und zeigt die Attraktivität von Katalogdaten als Rohdaten für die Digital Humanities. Katalogisierung, Zuwachs

2014

2015

2016

2017

2018

Titelaufnahmen (Katalog gesamt)

46.334

61.095

75.363

73.972

66.230

selbständige Publikationen

21.167

20.060

21.288

23.428

33.560

unselbständige Publikationen

7.254

5.328

7.517

8.870

8.489

Zeitschriftenbände und -hefte

16.533

33.395

44.655

40.663

24.181

1.380

2.312

1.903

1.011

0

Bibliographie-Projekt



541

jahresbericht der deutschen schillergesellschaft

Katalogisierung, Zuwachs

2014

2015

2016

2017

2018

Bestandsbeschreibungen

628

1.481

918

524

475

  Gesamtnachweis Kallías Katalogsätze

 

 

 

 

 

2014

2015

2016

2017

2018

1.387.259 1.443.685 1.508.340 1.572.050 1.623.682

Exemplarsätze

571.765

600.534

646.228

688.661

729.994

Bestandssätze

26.100

27.535

28.439

28.950

29.463

3 Bestand und Benutzung

Der Bestand der Bibliothek wurde auch im Jahr 2018 neben gezielten Einzelerwerbungen durch den Zugang geschlossener Sammlungen und Abgaben aus Nachlässen vermehrt und bereichert. Während diese im Vorjahr durch die Bibliothek von Kilian von Steiner, die nun im Blickpunkt des Marbacher Magazins 162 steht, einen Anteil von rund 40 % aller neu erworbenen Bücher und Zeitschriften ausmachten, fallen sie im Jahr 2018 immer noch mit mehr als einem Viertel des gesamten Zugangs ins Gewicht. Die beiden oben vorgestellten Autorenbibliotheken von Rudolf Alexander Schröder und Max Rychner wurden zunächst geordnet und den dringend erforderlichen Reinigungsmaßnahmen unterzogen. Zwecks Bestandserhaltung der im Vorjahr erworbenen, gleichfalls stark angegriffenen

542

sandra richter

und zugleich stark nachgefragten Bibliothek Erich Auerbach sowie für Teile der Bibliothek Paul Hoffmann wurden Verpackungsmaßnahmen begleitet. Die Vorbereitung des Signaturenabschnitts L (Deutsche Autoren von 1910 bis 1945) für die Entsäuerung durch Ausstattung mit entsprechend codierten Laufzetteln konnte bis zur Mitte des Jahres abgeschlossen werden. Die Entsäuerung musste aufgrund fehlender Mittel im Herbst ausgesetzt werden, wird jedoch 2019 weitergeführt. Das Verfahren für Neuzugänge zu bereits entsäuerten Signaturengruppen wurde im Dezember aus Gründen der Ausleih-Effizienz und der Platzersparnis umgestellt. Fortgeführt wurde in den Magazinen der Bibliothek das Programm zur Platzoptimierung, u.  a. mittels aufwendiger Dublettenprüfungen und Umzügen von Bestandssegmenten. Die Zahl der angemeldeten Benutzer und die Ausleihen sind erfreulicherweise leicht angestiegen. Stark gestiegen hingegen sind die Zugriffe via Website des DLA auf die Bibliotheksangebote »Bestandsliste« (Beschreibungen der mehr als 220 geschlossen aufgestellten Sammlungen), auf Projektwebsites sowie auf »Bibliographien«, wobei die Schiller-Bibliographie im Zentrum steht. Während, wie üblich, hauptsächlich das einzigartige Angebot an Quellen- und Forschungsliteratur im regulären Bibliotheksbestand konsultiert wurde, standen auch mehr als 25 geschlossene Sammlungen im Fokus der Forschung. Nach der Bibliothek Auerbach waren es die Bibliotheken von Siegfried Kracauer und Ernst Jünger (Wilflinger Bestand), die im Jahr 2018 vermehrt von Interesse waren und im Marbacher Lesesaal beforscht wurden. Für Gruppen und Einzelpersonen aus dem Inund Ausland fanden Führungen durch die Magazine statt sowie Seminare und Workshops für Studierende zum Thema Autorenbibliotheken und zur Bibliothek als Berufsfeld für Germanisten. Leihgaben aus dem Bibliotheksbestand waren u.  a. im Literaturhaus Berlin, im Lessing-Museum in Kamenz und im Zentrum für Kunst und Medien sowie im Museum für Literatur am Oberrhein in Karlsruhe zu sehen. Mit dem neuen Fernleihportal, dessen Einführung auch von Marbach aus begleitet wurde, ist die Bestellung von Fernleihen komfortabler geworden. Zudem wurde ein neuer Geschäftsgang für den Kopiendirektversand entwickelt, der ab Januar 2019 zum Einsatz kommt. Hausintern wird auch die Umstellung auf das Angebot digitaler Reproduktionen vorbereitet, u.  a. mit Schulungen zur bestandsschonenden Anfertigung von Reproduktionen und mit praktikablen Lösungen zur Kennzeichnung eingeschränkt reproduktionsfähiger Medien. Auch an der Überarbeitung der Benutzungsordnung des DLA, die nicht zuletzt die Bestimmungen des im März 2018 in Kraft getretenen Gesetzes zur Angleichung des Urheberrechts an die aktuellen Erfordernisse der Wissensgesellschaft (UrhWissG) umsetzen soll, war die Bibliothek beteiligt. Die Änderungen im Urheberrecht haben leider zu Beschränkungen in der Nutzung der Zeitungsaus-



543

jahresbericht der deutschen schillergesellschaft

schnittsammlung geführt: Kopien von Zeitungsartikeln dürfen nun nicht mehr versandt werden, davon betroffen sind auch die sog. Pressedossiers. Nach Abschluss der Revision der Buchumschlagsammlung wurde die der Verlagsprospektesammlung begonnen, im Blick stehen Kriterien des Zugangs, der Ordnung, der Benutzbarkeit und des Nachweises. Abgeschlossen werden konnte auch die Umsignierung der mehr als 540 in Freihand aufgestellten literarischen und philosophischen Werkausgaben, die insgesamt ca. 5.400 Bände sind nun in einem benutzungsfreundlichen gemeinsamen Alphabet aufgestellt. Gesamtbestand   Gesamtbestand

2014

2015

2016

2017

2018

1.361.863 1.397.006 1.395.195 1.424.994 1.449.995

Bücher und Zeitschriften

971.683

998.036 1.009.368 1.032.351 1.049.147

Andere Materialien (AV-Materialien, Theaterprogramm-, Zeitungsausschnitt-, Buchumschlag-Sammlung u.  a.)

384.024

391.763

377.794

383.841

391.050

Digitaler Bestand (Files, Webarchivierung, E-Books)

5.609

6.487

7.307

8.066

9.067

Lizenzierter Bestand (E-Zeitschriften) ohne Nationallizenzen

547

720

726

736

731

Benutzung

2014

2015

2016

2017

2018

Wöchentliche Öffnungsstunden

64,5

64,5

64,5

64,5

64,5

Benutzungsanträge

927

968

796

831

844

6.993

7.010

5.442

6.400

6.772

41.344

43.656

38.385

40.334

42.943

OPAC Abfragen extern

104.015

85.556

71.515

80.571

71.197

OPAC Abfragen lokal

58.571

62.510

47.543

45.478

48.111

Fernleihe (gebend)

1.223

1.071

1.430

1.281

1.047

Fernleihe (nehmend)

1.013

1.244

926

734

442

Lesesaal-Eintragungen Ausleihe (physische Einheiten)

544

sandra richter

Benutzung

2014

2015

2016

2017

2018

Direktlieferdienst (Kopien von Beiträgen und Zeitungsartikeln)

399

1.013

719

682

158

77

40

27

101

27

739

834

722

745

710

Leihgaben Wissenschaftliche Auskünfte und Recherchen

4 Projekte und Sonstiges

Das DFG-Projekt zur Katalogisierung der Bibliothek Ernst Jünger wurde im März 2018 mit der Katalogisierung der Teilbibliothek im Stauffenbergschen Forsthaus in Wilflingen auf der Schwäbischen Alb erfolgreich zu Ende geführt, nachdem der in Marbach aufbewahrte Teilbestand schon bis März 2016 mit Förderung der Stiftung Kulturgut Baden-Württemberg vollständig katalogisiert werden konnte. Insgesamt sind damit über 14.000 Bände aus Jüngers Besitz mit Provenienzen und Exemplarspezifika im OPAC des DLA und überregional im SWB nachgewiesen. Das Projekt ist auf der Website der Bibliothek des DLA anschaulich beschrieben; eine in Auftrag gegebene Visualisierung der diversen nach Aufstellung organisierten Sucheinstiege in die komplexe Büchersammlung ist seit Mitte 2019 produktiv nutzbar.



jahresbericht der deutschen schillergesellschaft

545

Die Erforschung der Bibliothek des Dichters Karl Wolfskehl im Teilprojekt Autorenbibliotheken des Forschungsverbundes Marbach Weimar Wolfenbüttel wurde fortgesetzt und von Caroline Jessen mit der Monographie Der Sammler Karl Wolfskehl (Berlin 2018) abgeschlossen. Wie in den Jahren zuvor wurde das Forschungsprojekt vom Bibliotheksreferat Erschließung intensiv betreut. Das angeschlossene, von Herrn Dr.  Karl Albrecht mäzenatisch geförderte Kooperationsprojekt Die Bibliothek von Karl Wolfskehl und die Münchener Sammlerszene, wird zusammen mit der Ludwig-Maximilians-Universität München, Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur, durchgeführt. Dort hat Julia Schneidawind die Arbeit an ihrer Dissertation begonnen. Für die 2017 gestartete virtuelle Rekonstruktion des ermittelbaren Buchbesitzes von Karl Wolfskehl konnten die Monographien bereits vollständig im Marbacher OPAC Kallías katalogisiert werden. Bis Ende August 2018 waren insgesamt 11.732 Katalogdatensätze neu erfasst. Der Nutzer kann damit schon in den Titel- und Exemplardaten von 10.336 Bänden aus Wolfskehls Kiechlinsberger Bibliothek im Online-Katalog des DLA recherchieren. Die Aufnahme des Zeitschriftenbestands der Bibliothek Wolfskehl wird 2019 abgeschlossen sein. Bereits vorhandene Zeitschriften-Titeldatensätze werden für den virtuellen Bestandsnachweis nachgenutzt. Ilka Schiele, welche die in Marbach vorhandenen Wolfskehl-Bücher katalogisiert hat, sprach während der diesjährigen bibliothekarisch-informationswissenschaftlichen BOBCATSS-Tagung in Riga über The Libraries of Karl Wolfskehl – a virtual reconstruction of a writer’s personal collections. Aus Mitteln des Kooperationsprojektes mit der LMU München konnte im Februar 2018 auf einer Berliner Auktion eine wertvolle Teilbibliothek aus dem Besitz von Karl Wolfskehl und seiner Lebensgefährtin Margot Ruben ersteigert werden. Die 167 Bände, die sich häufig durch handschriftliche Widmungen auszeichnen, nahmen Wolfskehl und Ruben 1938 mit ins Exil nach Neuseeland oder erwarben diese erst dort. Der kleine Bestand ist bereits katalogisiert und nach Provenienzen erschlossen. Damit konnte dem in Marbach aufbewahrten Nachlass von Karl Wolfskehl noch ein wichtiger Buchbestand, der unmittelbar mit dem Exil des Autors in Verbindung steht, hinzugefügt werden. Ein weiteres Ziel des Kooperationsprojektes mit der LMU München ist es, die Einlagen aus den Büchern Karl Wolfskehls sowie Briefe, die sich in der Schocken Library in Jerusalem erhalten haben, durch das Schocken Institut for Jewish Research digitalisieren zu lassen und in einem Themenportal zugänglich zu machen. Der Nachweis der rund 2.300 Handschriften in der internationalen Handschriftendatenbank Kalliope wurde über das Kooperationsprojekt finanziert, vom Referat Erschließung betreut und von Judith Siepmann von Oktober bis November 2018 in Jerusalem durchgeführt. Alle Kalliope-Datensätze wurden mit individualisierten GND-Personennormdaten ausgestattet. Damit steht

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ein bedeutender, aber bisher völlig unbekannter Teilnachlass von Karl Wolfskehl weltweit für die Recherche zur Verfügung. Die Kalliope-Katalogmetadaten werden für die Präsentation der Digitalisate auf der geplanten Projektwebsite benötigt. Im Rahmen des Kooperationsprojektes wurde im Januar 2019 die internationale Tagung Material Transfer – Intellectual Transfer: Salman Schocken’s Collections Between Germany and Israel ausgerichtet, die vom 7. bis 8.  Januar im Schocken Institute for Jewish Research und dem Leo Baeck Institute Jerusalem stattfand. Im November 2018 hat das Erschließungs- und Digitalisierungsprojekt Quellenrepertorium der Bibliotheken von Exilautoren im Deutschen Literaturarchiv Marbach: Siegfried Kracauer mit der Einstellung von Robin Ronja Trippel seine Arbeit aufgenommen. Das Projekt wird im Programm Wissenschaftliche Infrastruktur – Wissenschaftliche Literaturversorgungs- und Informationssysteme (LIS) von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert. Von der Autorenbibliothek Siegfried Kracauer wurden bereits alle eigenen Werke Kracauers katalogisiert und mit Provenienzen und Exemplarspezifika erschlossen. 133 Exemplare können damit schon im OPAC bestellt und in den Lesesaal entliehen werden. Im November wurde das im ersten Anlauf von der DFG abgelehnte Kooperationsprojekt mit der Herzogin Anna Amalia Bibliothek, Werktitel als Wissensraum: Die Erschließung zentraler Werkbeziehungen nach RDA, in überarbeiteter Form erneut eingereicht. In dem Zusammenhang sprachen Karin Schmidgall (DLA) und Arno Barnert (HAAB) im Dezember während der ersten Convention der Gemeinsamen Normdatei (GNDCon) in der Deutschen Nationalbibliothek über den Nutzen vernetzter Werke. Das im November 2017 gestartete, vom BMBF geförderte und im Referat Mediendokumentation angesiedelte Projekt Autorenlesungen. Digitalisierung, Archivierung, Erschließung und Präsentation von Dokumentaraufnahmen deutschsprachiger Autorenlesungen erfreut sich großer Aufmerksamkeit in der Forschung. Lorenz Wesemann, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt, stellte das Projekt auf der interdisziplinären Fachtagung Kritische Audio-Edition, während der Jahrestagung der IASA Ländergruppe Deutschland/Schweiz e.V. und im Rahmen eines Seminars an der TU Berlin vor. Die im Projekt getroffene Auswahl von ca. 1.000 Tonträgern ist als Querschnitt der Marbacher Sammlungstypen im Audio-Bereich und als exemplarisch für die archivarische Überlieferung von nicht kommerziell mitgeschnittenen Autorenlesungen anzusehen. Im Berichtsjahr 2018 stand die Digitalisierung und Erschließung der Sammlungen von Lesungen in der Stuttgarter Buchhandlung Hoser’s und derjenigen im Goethe-Institut Amsterdam im Mittelpunkt, insgesamt ca. 300 Tonbänder und Kompaktkassetten aus den Jahren 1976 bis 2006. Außer den Lesungen von Autoren konnten im Projekt auch Aufnah-



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men von wissenschaftlichen, kunsttheoretischen und politischen Diskussionen sowie Zeitzeugengespräche für die Forschung zugänglich gemacht werden. Zum Stand der Entwicklung eines neuen OPAC: Die hausübergreifende Arbeitsgruppe unter der Koordination von Karin Schmidgall hat in zahlreichen Sitzungen und gemeinsamen Workshops mit den beteiligten Firmen das Design festgelegt; die technische Implementierung ist erfolgt. Die agile Entwicklung setzt auf Open Source Software, dabei wird ein mit Echtdaten gefüllter Prototyp um neue Funktionen modular ergänzt und iterativ getestet. Mit Methoden der Usability-Forschung wird nah an den Wünschen der Benutzer entlang entwickelt. Eine besondere Herausforderung ist die Aufbereitung der komplexen KallíasDaten für eine medienübergreifende Präsentation mit Suchfiltern und -facetten für sämtliche Materialien. Die Referentenrunde der Bibliothek hat zum Ende des Jahres die anstehenden Aufgaben der nächsten Jahre und ihr Selbstverständnis in einem Strategiepapier dargelegt. Sonstiges

Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bibliothek waren wieder außerordentlich engagiert: im Betriebsrat (mit fünf Personen), in der Betreuung von neun Projektmitarbeitern und sechs Praktikantinnen, in der hausinternen Fortbildungsreihe Auf dem Laufenden konzeptionell, moderierend und referierend (über das neue Fernleihportal, Buchkunst im Bestand der Bibliothek oder das Projekt Autorenlesungen), bei Fachführungen für mehr als 300 Personen, bei der Ausrichtung von Marbacher Passagen-Ausstellungen (Schriftsteller als Protagonisten von Kriminalromanen, Projekt Autorenlesungen, Frauenstimmrecht), durch Mitwirkung in externen bibliothekarischen Gremien (Dr. Dietrich Hakelberg in der DBV-Kommission für Provenienzforschung und Provenienzerschließung, Karin Schmidgall in der AG Leihverkehr und in der Anwendergruppe des Südwestverbunds sowie als Vertreterin der Arbeitsgemeinschaft der Spezialbibliotheken in der Expertengruppe Datenformate), in Jurys, Beiräten und mit mehreren Vorträgen.

MUSEUM 1 Ausstellung 1.1 Ausstellungen im Literaturmuseum der Moderne (LiMo) 1.1.1 Dauerausstellung

Die Seele. Ausstellung: Heike Gfrereis, Gestaltung: Diethard Keppler und Demirag Architekten. Seit 7. Juni 2015.

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1.1.2 Wechselausstellungen

Die Familie. Ein Archiv. 21. September 2017 bis 29. April 2018. Ausstellung: Ellen Strittmatter mit Vera Raschke und Richard Schumm, Organisation: Annette Rief, Ausstellungsarchitektur und -gestaltung: südstudio / Hannes Bierkämper, Anja Soeder, Alexander Lang, Ausstellungsgrafik: CLMNZ / Clemens Hartmann.  – German Fever. Beckett in Deutschland. 8.  November 2017 bis 29.  Juli 2018. Ausstellung: Ellen Strittmatter mit Johannes Kempf, Magdalena Schanz, Moritz Schumm und Marc Wurich, Organisation: Annette Rief, Ausstellungsarchitektur und -gestaltung: südstudio / Hannes Bierkämper und Anja Söder, Ausstellungsgrafik: CLMNZ / Clemens Hartmann. – Die Erfindung von Paris. 13. Juni 2018 bis 31.  März 2019. Ausstellung: Susanna Brogi und Ellen Strittmatter mit Veronika Weixler, Marc Wurich und Ines Zahler, Organisation: Annette Rief, Ausstellungsarchitektur und -gestaltung: mm+ Berlin und Stuttgart / Sophie Merz und Daniela Breinig, Ausstellungsgrafik: CLMNZ / Clemens Hartmann.  – Thomas Mann in Amerika. 22. November 2018 bis 30. Juni 2019. Ausstellung: Ellen Strittmatter und Marc Wurich mit Tamara Meyer, Julia Schneider, Richard Schumm und Michael Woll, Organisation: Annette Rief, Ausstellungsarchitektur und -gestaltung: mm+ Berlin / Sophie Merz, Ausstellungsgrafik: CLMNZ / Clemens Hartmann. 1.2 Ausstellung im SNM

Dauerausstellung im Schiller-Nationalmuseum. Ausstellung: Heike Gfrereis mit Stephanie Käthow, Katharina Schneider, Ellen Strittmatter, Aneka Viering und Martina Wolff. Gestaltung: space4 (Architektur), Diethard Keppler und Stefan Schmid (Grafik). Seit 10. November 2009. 1.3 Marbacher Passage (Vitrinenausstellungen im Vestibül des Archivs)

Die Ideen von 1917. Debatten auf Burg Lauenstein über die Neuordnung Deutschlands nach dem Krieg. 4. Dezember 2017 bis 19. Januar 2018. – Autoren als Protagonisten von Kriminalromanen. 19. Januar bis 5. März 2018. – Malbriefe aus dem Ben-Chorin-Bestand. 5.  März bis 16.  April 2018.  – Magnus Hirschfeld. 16.  April bis 15. Mai 2018. – Harry Graf Kessler. 15. Mai bis 19. Juni 2018. – Hermann Essig. 19. Juni bis 23. Juli 2018. – Manfred Peter Hein. 23. Juli bis 7. September 2018. – Dokumentaraufnahmen deutschsprachiger Autorenlesungen. 7.  September bis 22. Oktober 2018. – Ernst Glaeser. 22. Oktober bis 30. November 2018. – 100 Jahre Frauenwahlrecht. 30. November 2018 bis 28. Januar 2019.



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Die Ausstellungen in der »Passage« wurden 2018 kuratiert von Jutta Bendt, Jan Bürger, Theresa Heyer, Daniel Hofmann, Lucie Holzwarth, Roland S. Kamzelak, Sandy Krüger, Dorit Krusche, Lydia Christine Michel, Hermann Moens, Mirko Nottscheid, Anne Päpke und Lorenz Wesemann. 1.4 Auswärtige Ausstellungen

Rilke und Russland. 7. Februar bis 31. März 2018 im Staatlichen Literaturmuseum der Russischen Föderation/Staatlichen Museum der Geschichte der russischen Literatur W.I. Dal. Trinationales Ausstellungsprojekt in Kooperation mit der Schweizerischen Nationalbibliothek und dem Staatlichen Literaturmuseum der Russischen Föderation. Ausstellung: Thomas Schmidt unter Mitarbeit von Johannes Kempf, Patrick Will, Sandra Schell, Martin Frank, Annika Differding, Kristina Mateescu, Stefanie Wehner, Franziska Kolp (Bern), Andrea Weiss Pfitscher, Elisa Purschke, Constantin Hegel, Anna Koznova, Julia Maas, Ulrich von Bülow, Jessica Bernauer, Julia Weiss und Megi Pavic, Projektorganisation: Ulrike Schellhammer, Patrick Will, Annette Rief (Marbach), Anastasia Alexandrowa, Margarita Godina, Natalja Papanowa (Moskau), Hans-Dieter Amstutz (Bern), Gestaltung: HG Merz und Sophie Merz von mm+. 2 Besucherzahlen 2.1 Museen 2008

2009

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2011

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2013

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2015

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2018

34.105 48.153 87.315 86.850 67.092 61.110 63.788 63.338 59.923 62.945 60.771

Von Ende März 2007 bis 10.  November 2009 war das Schiller-Nationalmuseum wegen Innensanierung geschlossen. 2.2 Soziale Medien

2018 hatte die Facebook-Seite der Literaturmuseen Marbach 2.984 »Gefällt mir«Angaben und damit einen Zuwachs um 153 Likes zum Vorjahr. Die Gesamtzahl der Facebook-Abonnenten, d.  h. der Personen, die über Beiträge und Aktualisierungen der Literaturmuseen Marbach informiert wurden, betrug 2.942. Der YouTube-Kanal der Literaturmuseen Marbach verzeichnete eine Gesamtzahl von 52.690 Aufrufen, von denen 4683 in das Jahr 2018 fielen. Die App der Marbacher Literaturmuseen wurde 687-mal heruntergeladen.

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3 Publikationen 3.1 Zu den Ausstellungen

Marbacher Katalog 71. Die Erfindung von Paris.  – Marbacher Magazin 163.164. Thomas Mann in Amerika. 3.2 Weitere

Marbacher Magazin 161. Das stehende Jetzt. Die Notizbücher von Peter Handke. Gespräch mit dem Autor und Essays von Ulrich von Bülow. – Marbacher Magazin 162. Jan Eike Dunkhase / Wulf D. von Lucius: Kilian von Steiner und seine Bibliothek. – Aus dem Archiv 11. Jost Philipp Klenner / Ulrich Raulff: Von großen Tieren und Papieren. Nachrichten aus dem Deutschen Literaturgestüt. – Spuren 117. Dirk Niefanger: Nicodemus Frischlin aus Balingen. – Spuren 118. Oliver Kobold: Peter Weiss in Tübingen. – Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. Jg. 62. Im Auftrag des Vorstands hrsg. von Alexander Honold, Christine Lubkoll, Ernst Osterkamp, Ulrich Raulff. – Marbacher Schriften N.F. 16. Lebensform Kritik. Zu Theorie und Praxis von Christa Bürger und Peter Bürger, hrsg. von Tanja Angela Kunz. 3.3 Sonstiges

Programmplakat 2018. Nr.  1 bis 4. Text- und Bildredaktion: Alexa Hennemann und Dietmar Jaegle. – Zeitschrift für Ideengeschichte. Heft XII. Nr. 1 bis 4. Hrsg. von Ulrich Raulff (Deutsches Literaturarchiv Marbach), Peter Burschell (Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel), Hellmut Seemann (Klassik Stiftung Weimar), Luca Giuliani (Wissenschaftskolleg zu Berlin) und Hermann Parzinger (Stiftung Preußischer Kulturbesitz). 4 Literaturvermittlung/Museumspädagogik 4.1 Museumsführungen 2018 2008

2009

2010

2011

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2014

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2018

730

628

836

1098

1044

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4.1.1 Themen der Führungen

LiMo Dauerausstellung Die Seele (dt., engl., frz.).  – SNM Dauerausstellung Unterm Parnass (dt., engl., frz.). – SNM Schiller Rundgang. – Rundgang durchs LiMo und SNM mit Diskussion zum Ausstellungskonzept.  – Architektur für



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Literatur: Die beiden Marbacher Museen (dt., engl.).  – Wechselausstellung: Die Familie. Ein Archiv. – Wechselausstellung: German fever. Samuel Beckett in Deutschland.  – Wechselausstellung: Die Erfindung von Paris.  – Wechselausstellung: Thomas Mann in Amerika. – LiMo: Franz Kafka. – LiMo: Max Frisch. – LiMo: Peter Stamms Agnes.  – LiMo: Kurzprosa.  – LiMo: Poesie aufräumen.  – LiMo: Michael Ende. – LiMo: Collage. – LiMo: Der Essay. – LiMo: Hermann Hesse. – SNM: Eduard Mörike. – SNM: Schiller in der Schule. – SNM: Schillers Dramen. – SNM: Schiller von Kopf bis Fuß. – SNM: Schiller und die Liebe. – Naturlyrik durch LiMo und/oder SNM. 4.1.2 Aktionstage mit freiem Eintritt, freien Führungen und Veranstaltungen

Wein-Lese-Tage. 3. bis 4. Februar 2018. – Finissage Die Familie. Ein Archiv. 29. April 2018.  – Internationaler Museumstag Lauter Lieblingsstücke. 13.  Mai 2018.  – Kinder- und Jugendliteratursommer In fremden Schuhen. 1. Juli 2018. – Tag des offenen Denkmals. 9. September 2018. – Tag der offenen Tür Die Erfindung von Paris. 11. November 2018. – Bundesweiter Vorlesetag. 16. November 2018. 4.2 Schul- und Vermittlungsprogramm des Museums 2018 4.2.1 Zahl der Veranstaltungen Führungen/Veranstaltungen im Schul- und Kinderprogramm insgesamt

 182

Besucher im Schul- und Kinderprogramm insgesamt

3856

Seminare, Workshops und Lesungen im Schul- und Kinderprogramm

  70

Spezielle Aktionstage für Kinder, Schulen und Familien

   5

Mehrtägige Ferienworkshops

   4

Seminare für Studenten

   3

Lehrerfortbildungen

   5

4.2.2 Themen der Kinder- und Schülerführungen

LiMo Dauerausstellung Die Seele.  – SNM Dauerausstellung Unterm Parnass.  – SNM Schillerrundgang  – LiMo: Die Familie. Ein Archiv.  – LiMo: Die Erfindung von Paris.  – LiMo: Franz Kafka.  – LiMo: Collage.  – LiMo: Der Essay.  – LiMo: Max Frisch. – LiMo: Peter Stamms Agnes. – LiMo: Kurzprosa. – LiMo: Hermann Hesse. – LiMo: Poesie aufräumen. – SNM: Schillers Dinge. – SNM: Schiller in der

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Schule. – SNM: Schillers Dramen. – SNM: Schiller von Kopf bis Fuß. – Naturlyrik durch LiMo und/oder SNM  – Architektur für Literatur: Die beiden Marbacher Museen. 4.2.3 Themen der Seminare und Workshops

Schiller von Kopf bis Fuß. – Schillers Dinge. – Poesie aufräumen. – Der Essay. – Hermann Hesse – ein Steppenwolf?. – Kafkas Prozess unter der Lupe. – Schneiden und Kleben. – Michael Ende. Die Führungen, Seminare und Workshops 2018 wurden durchgeführt von Helga Ament, Susanna Brogi, Vanessa Greiff, Johannes Kempf, Claudia Konzmann, Tamara Meyer, Fabian Neidhardt, Ursula Parr, Sandra Potsch, Julia Schneider, Richard Schumm, Verena Staack, Ellen Strittmatter, Veronika Weixler, Elke Wenzel, Bettina Wiesenauer, Michael Woll, Marc Wurich und Ines Zahler. 5 Projekte 5.1 LINA. Die Literaturschule im LiMo

Seit September 2008 können Schülerinnen und Schüler im LiMo ein bundesweit einmaliges Pilotprojekt besuchen: die Literaturschule LINA, in der sie durch Originale aus dem Archiv und die Mitwirkung an der Vermittlungsarbeit des Museums einen ungewöhnlichen Zugang zur Literatur kennenlernen. 2018 fand ein Projekt statt: »Familientreffen« mit der Maximilian-Lutz-Realschule Besigheim. Betreuung: Sandra Potsch und Verena Staack 5.2 LINA in den Ferien

Seit August 2009 findet die Literaturschule LINA auch in den Ferien statt. LINA in den Ferien wendet sich an besonders interessierte Kinder und Jugendliche, die die Ferien nutzen möchten, ihre sprachlichen Talente und ihr literarisches Interesse weiterzuentwickeln und in kreativer Weise auszudrücken. 2018 fanden zwei Ferienworkshops statt: »Familiengeschichten« (Osterferien) und »Ich denk mir eine Stadt« (Sommerferien). Alle Ferienworkshops wurden von Sandra Potsch, Verena Staack und Veronika Weixler durchgeführt.



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5.3 Kulturakademie der Stiftung Kinderland des Landes Baden-Württemberg

Die Kulturakademie richtet sich seit 2010 mit einem bundesweit einmaligen Angebot an alle Schülerinnen und Schüler der Klassenstufen sechs bis acht und neun bis elf (in den Sparten Bildende Kunst, Literatur, MINT und Musik). In den Faschings- und Sommerferien fanden in den Marbacher Museen zwei einwöchige Schreibseminare mit Matthias Göritz, Nadja Küchenmeister, Arno Frank und Tilman Rammstedt statt. Neben freien Texten wurden Kreativaufgaben im Rahmen der Wechselausstellung Die Familie bearbeitet.

ENTWICKLUNG 1 Allgemein

Zu den allgemeinen Arbeiten der Entwicklung gehörte die Unterstützung des Direktors in vielfältigen Angelegenheiten und die Stellvertretung während dessen Abwesenheiten. Die Vorstands- und Kuratoriumssitzungen wurden vom Leiter der Entwicklung vorbereitet und betreut. 2 Strukturplanung

Die Vorbereitungen zur Etablierung einer zentralen Adressdatei des DLA auf Basis von Oracle / Apex (Eigenentwicklung) schreiten weiter voran. Annähernd alle Adressdaten wurden importiert. Erste Konzepte zur Benutzung und Dublettenbereinigung wurden erarbeitet. Die Formulare des DLA wurden den neuen Bedingungen der EU-DSGVO angepasst und um die entsprechenden Hinweise zum Datenschutz ergänzt. Im Zuge dessen werden auch Datenschutzfolgeabschätzungen gefordert, zu denen erste Überlegungen stattgefunden haben. Mit der Technischen Informationsbibliothek Hannover (TIB) wurde ein Vertrag für die Langzeitarchivierung mit Rosetta geschlossen. Außerdem konnten die Umbaumaßnahmen zur Neugestaltung des Bernhard-Zeller-Saals abgeschlossen werden. 3 Editionen und Digital Humanities

Anlässlich Harry Graf Kesslers 150. Geburtstag am 23. Mai wurde eine Marbacher Passage gestaltet. Von 11. 5.  – 18. 6. zeigte die Ausstellung Objekte zu Kesslers Familie, seinem politischen und künstlerischen Wirken sowie seiner umfangreichen Korrespondenz. Die Edition des Tagebuches von Harry Graf Kessler wurde

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mit der Veröffentlichung des letzten Bandes, Band I, 1880–1891, abgeschlossen. Zu diesem Anlass fand am 16.  Dezember eine Veranstaltung im DLA statt. Es sprachen die Hauptherausgeber Roland S. Kamzelak und Ulrich Ott mit Lothar Müller. Die Arbeiten an dem Editionenportal für persönliche Schriften (Briefe, Tagebücher und Notizen) EdView gingen nach einer umfassenden Vorstudie, die als Grundlage der Programmierung dient, weiter voran. Es ist geplant, im zweiten Halbjahr 2019 online zu gehen. Eine Ausschreibung des Landes Baden-Württemberg führte zu einer Kooperation mit dem Höchstleistungsrechenzentrum Stuttgart (HLRS), dem Institut für Maschinelle Sprachverarbeitung (IMS) und der Abteilung Digital Humanities der Universität Stuttgart. Gemeinsam wurde ein Antrag zum Förderprogramm Science Data Centers Baden-Württemberg vorbereitet und eingereicht. Der Leiter des Referates betreute zwei Stipendiaten des Forschungsverbunds Marbach Weimar Wolfenbüttel aus dem Bereich Digital Humanities. 4 Wissenschaftliche Datenverarbeitung

Die Modernisierung der Kommunikationsinfrastruktur setzte sich mit der Einführung einer neuen Telefonanlage und Telefonen mit VoIP-Technologie fort. Da ein getrenntes Haustechniknetz dafür nicht sinnvoll ist, wurden die in den Vorjahren modernisierten IT-Netzkomponenten zusätzlich mit VoIP-VLANs ausgestattet und für Telefonie optimiert. Nach zwei vorbereitenden Workshops und diversen Konfigurationsarbeiten und Tests wurden an einem Samstag zusammen mit der Haustechnik und der beauftragten Firma alle Telefone ausgetauscht und die Verkabelung in den Netzwerkschränken vorgenommen. Die neue Telefonanlage geht mit einer pauschalen Abrechnung von Telefongebühren einher. Dies erlaubte die Stilllegung des störanfälligen Telefoninterfaces der Zimmerverwaltung des Collegienhauses. Anpassungsbedarf gab es bei den verbliebenen Faxgeräten und bei den Kartenzahlungsterminals. Hier wurde zudem eine neue Software zur Abrechnung von Kreditkartenzahlungen in Betrieb genommen. Zur Verbesserung der Abdeckung der neuen WLAN-Telefonie wurden in diesem Zuge auch weitere Accesspoints konfiguriert. Insgesamt sind nun 81 in Betrieb und bieten eine Grundversorgung mit WLAN in allen relevanten Be­ reichen. Auch auf funktionaler Ebene wurde die Kommunikationsinfrastruktur ausgebaut: Die Verwaltung und der Betriebsrat haben eine eigene Instanz des bewährten Redmine bekommen. Als neuer Synchronisationsdienst auch mit privaten Endgeräten wurde »DLA-Cloud« (auf der Basis von Nextcloud) aufgesetzt, was auch eine abgestimmte Dienstanweisung nötig machte.



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Bei den Servern wurde der ESX-Server Bitstream (Datensicherung, Test- und Entwicklungsumgebung für Oracle-Datenbanken) durch wesentlich leistungsfähigere Hardware ersetzt. Der zentrale Betrieb verzeichnete mit einer Anzahl von 8 ungeplanten Ausfällen (insgesamt 2:08 h) zwar einen zahlenmäßigen Anstieg, die gewichtete Verfügbarkeit erreichte aber mit 99,93 % in der Rahmenarbeitszeit und erst recht mit 99,99  % in der Kernarbeitszeit erneut sehr gute Werte. Nach einer längeren Implementierungs- und Testphase wurden im Juni unsere produktiven Typo3-Umgebungen auf die neueste Version mit Long-TimeSupport aktualisiert. Dazu war es nötig, auch die für die Suche verwendeten SOLR-Instanzen zu aktualisieren, was erstmals auf Docker-Basis geschah. Dieser technische Web-Relaunch verlief weitgehend störungsfrei. Bemerkenswert sind die durchschnittlichen monatlichen Seitenaufrufe unseres allgemeinen Webauftrittes, die mit 635.263 gegenüber dem Vorjahreswert von 417.733 erneut einen erheblichen Zuwachs verzeichnen. Der positive Trend seit dem inhaltlichen Relaunch im Sommer 2016 setzte sich also fort. 24 neue und 25 gebrauchte PCs sowie 37 neue Monitore wurden beschafft, getestet und inventarisiert sowie diverse EDV-Altgeräte ausgemustert. Insgesamt sind nun 250 Arbeitsplatzrechner und 31 Tablets im Museum im Einsatz. Vier dieser iPads fungierten in der Beckett-Ausstellung als mobile Anzeigen für Handschriften und deren Übersetzungen. Für diese Ausstellung wurden auch kurzfristig eine »Silent-Disco«-Installation mit Funkkopfhörern konzipiert und in Betrieb genommen sowie eine Medieninstallation mit einem alten Röhrenfernseher, an den ein moderner Medienabspieler angepasst werden musste. Die Thomas-MannAusstellung hat zwei fest in den Vitrinen installierte iPads eingesetzt, für die eine Fernsteuerungsmöglichkeit geschaffen werden musste. Zusammen mit der Firma aStec wurde Kallías auf ein Release aktualisiert, mit dem wir wieder an den aktuellen Softwarestand anknüpfen können. Die Suchanfragen an den Kallías-OPAC sind im Berichtjahr wie schon im Vorjahr leicht auf 233.642 gestiegen, womit der Einbruch von 2016 zwar noch nicht ausgeglichen, aber immerhin der Trend umgekehrt ist. Im Detail zeigt sich ein differenziertes Bild: Die Nutzung von verwalteten PCs in den Katalogsälen ist leicht, die Nutzung von private Rechnern in unserem Campus-WLAN sehr stark gestiegen. Dem steht erneut ein Rückgang in der Nutzung durch Mitarbeiter gegenüber. Die interaktive Nutzung via Internet und insbesondere die direkte Verlinkung durch Partnersysteme nimmt weiter zu. Hier spielt offenbar der vollständige EAD-Export unserer Archivdaten an Kalliope eine Rolle, der einerseits Suchanfragen nach Berlin verlagert, andererseits aber direkte Links zurück auf unseren OPAC anbietet, die offenbar sehr zahlreich genutzt werden. 2018 wurde ein erstes vollständiges und optimiertes Update geliefert, das erstmals auch

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über eine neu geschaffene OAI-PMH-Schnittstelle öffentlich zur Verfügung steht (http://www.dla-marbach.de/oai/?verb=Identify), beispielsweise für die MetaSuche im MWW-Projekt. Das Projekt »OPAC-Next Generation« hat im April einen neuen testfähigen Prototypen vorgelegt und wird neben den vielen AG-Sitzungen auch durch vielfältige Zuarbeiten unterstützt (regelmäßige Token-Exporte aus Kallías, Datenbereinigungen und Anreicherungen per SQL, Bereitstellung von Beispieldateien für verschiedenste Medienformate usw.). Die entwickelten Verfahren im dort eingesetzten OpenRefine erlaubten auch die Definition von Exporten aller Bestände im Dublin-Core-Format, was im MWW-Teilprojekt »Verlässlicher Speicher« benötigt wird. In Abstimmung mit den Sammlungsverantwortlichen konnten im MWWProjekt erste Informationspakete an das Langzeitarchiv der TIB Hannover übergeben werden. Es handelt sich um Digitalisate aus dem Archiv (Kästner, Kafka, Gästebuch Geburtshaus Schiller). Für das MWW-Teilprojekt »Verlässlicher Speicher« wurde eine nochmals detailliert begründete und durch konkrete Angebote gestützte Mittelfreigabe ausgearbeitet und koordiniert mit den anderen Teilprojekten eingereicht. Nach Freigabe der Mittel wurden Verträge ausgearbeitet und eine Reihe von Ausschreibungen und Angebotsaufforderungen durchgeführt. Das Gros der Beschaffungen und Implementierungen erfolgt aber erst Anfang 2019. Das neu gegründete Digitalisierungszentrum wurde in verschiedenen Teilbereichen unterstützt, zum Beispiel bei der Auswertung der Ausschreibung und der Gestaltung der Verträge mit dem ausgewählten Anbieter Intranda. Für die neue Workflow-Software Goobi wurde die technische Infrastruktur (vier virtuelle Server, Plattenspeicher, User Accounts) zur Verfügung gestellt. In der Kopierstelle wurde ein Aufsichtsscanner OS10000 TT konfiguriert und Betrieb genommen. Außerdem wurde die Inbetriebnahme der vom Digitalisierungszentrum beschafften und betreuten Benutzer-Aufsichtsscanner und Mikrofilm-Scanner begleitet. Wiederholt waren Auftragslisten (später eher Token­ exporte in OpenRefine) für aktuelle Metadaten der Digitalisierungsprojekte anzufertigen. Im Bereich Digitale Nachlässe gab es Fortschritte beim Bestand Friedrich Kittler, weil Jürgen Enge, der Autor des »Indexers«, für einige Tage im Hause war, um sein Softwareprodukt weiterzuentwickeln und für einen allgemeineren Einsatz zu ertüchtigen. Zugleich hat eine Praktikantin eine Neuindexierung des Kittler-Nachlasses vornehmen können. Durch die verbesserte Bilanz bei problematischen Datenträgern sowie letzte Zugänge sind nun statt wie bisher 1,7 Mio. ca. 3,3  Mio. Kittler-Dateien im fehlerbereinigten Indexer nachgewiesen. Für die forensische Arbeit am digitalen Kittler-Nachlass wurde eine für Wissenschaftler exemplarische virtuelle Arbeitsumgebung bereitgestellt.



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Die nestor-AG »Formaterkennung« hat ein Register und eine formlose Kontaktbörse für obsoleszente Speichertechniken (»R.O.S.T.«) aufgebaut. Dafür wurde eine Online-Umfrage entwickelt und ausgewertet, deren erste Runde vielversprechende Ergebnisse geliefert hat (https://wiki.dnb.de/display/NESTOR/ AG+Formaterkennung). Das BSZ Konstanz hat den Dienst SWB-Content, also die Archivierung und Präsentation von literarischen Blogs und Webliteratur, zum 31.  Dezember 2018 gekündigt. Im Herbst ergab sich, dass mit der tatkräftigen Unterstützung des BSZ Datenbestand und Software auf Server des DLA übernommen werden konnten, so dass zumindest eine Recherche in der vorhandenen Sammlung ohne Unterbrechung möglich bleibt. Diese Ausweichlösung ist inzwischen produktiv in Betrieb. Die Erstellung einer neuen Standard-Konfiguration für alle PC-Arbeitsplätze ging nach einem intensiven, mehrwöchigen Sprint nach der Sommerpause in die Endphase. Gegen Ende des Jahres war die Installation auf über 30 Rechnern erfolgt, die übrigen folgen 2019. 5 Fotostelle

Die Fotostelle hat im Berichtsjahr 742 Aufträge bearbeitet, davon 223 hausinterne und 519 für externe Auftraggeber. Dabei wurden 8.040 Fotos geliefert. Es gingen 88 Belegexemplare ein. Die technische Ausstattung der Fotostelle wurde um eine Vollformat-DSLR-Kamera erweitert. Für die Hauschronik, die Homepage und die Pressestelle wurden etwa 30 Veranstaltungen fotografisch dokumentiert, unter anderem die Ausstellungseröffnungen Die Erfindung von Paris und Thomas Mann in Amerika sowie der Besuch des Prinzen von Äthiopien und der Prinzessin von Thailand. Drei Marbacher Magazine, ein Marbacher Katalog, zwei Spurenhefte und zahlreiche weitere Publikationen, Flyer, Werbemittel und Plakate wurden mit Aufnahmen oder Scans der Fotostelle ausgestattet. Außerdem wurden für mehrere Ausstellungen sämtliche Fotoarbeiten ausgeführt. Für die Bestandsgruppe Bilder und Objekte wurden weit über 2.000 Archivalien verschiedener Gattungen fotografiert bzw. gescannt. Vollständig digitalisiert wurden folgende Archivalien: Das Gästebuch Magnus Hirschfelds, Mörikes Lorcher Hausbuch, das Stammbuch Achim von Arnims, das Gesamtkonvolut der Zeichnungen Oskar Pastiors, die Fotoalben von Annemarie Meier-Graefe-Broch, die Klebemappen mit Siegfried Kracauers Zeitungsausschnitten und sämtliche Nitronegative aus dem Nachlass Karl und Ellen Ottens.

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6 Bestandserhaltung

Das Referat Bestandserhaltung plant, übernimmt und unterstützt die Ausführung von konservatorischen und restauratorischen Maßnahmen, sowohl an Beständen als auch für Einzelstücke. Im Kontext des institutionellen Erhaltungsauftrags leistet das Referat damit seinen Anteil um die umfänglichen Nachlassbestände und Sammlungen des Archivs und der Bibliothek für die diversen Nutzungsanforderungen im Original aufzubereiten. Im Jahr 2018 arbeitete die Bestandserhaltung unter erheblichen personellen Einschränkungen. Da seit 2015 keine neue Bestandspflegestelle geschaffen wurde, ruhen die routinemäßigen Reinigungs- und Umbettungsarbeiten von staubigen oder durch Schimmel kontaminierte Nachlasseingänge der Abteilung Archiv. Dringende Arbeiten lassen sich weiterhin nur unregelmäßig mit Personalkapazitäten innerhalb des Referats bedienen. Für die Dauer der Elternzeit einer Vollzeitkraft bis Mai 2019 konnte aus haushaltstechnischen Gründen keine Vertretung im Projekt Mengenentsäuerung eingestellt werden. Einige Aufgabenfelder wie die Einzelrestaurierung und Bestandssichtungen werden aus diesem Grund bis dato rudimentär oder mit Verzögerungen bedient. Innerhalb der Abteilung Entwicklung wurde mit externer Unterstützung durch die Firma Orbit bis 2018 eine Apex-basierten Datenbank für die Planung von Bestandsarbeiten  – u.  a. der Reinigung, Schutzverpackung, Entsäuerung und Digitalisierung – konzipiert und programmiert. Der Designio Conservationis (DCO) ist ein Werkzeug für die mittel- bis langfristige Maßnahmenplanung, das Bestandsdaten aus dem Katalogsystem Kallías mit denen der Zustandssichtungen verknüpft und relevante Erhaltungsmaßnahmen priorisiert und plant. Das Planungstool steht aktuell in einer Demoversion zur Verfügung. In den DCO werden u.  a. die Zustandsdaten für Deposita eingespeist. Deren Sichtung musste seit 2017 zurückgestellt werden, da der Personalbedarf bei der konservatorischen Betreuung der internen Ausstellungen erheblich angestiegen ist. 6.1 Bestandsmaßnahmen

In den letzten Jahren werden zunehmend Erhaltungsarbeiten an ganzen Beständen ausgeführt. Hierzu zählen in der Konservierung alle Formen der Schutzverpackung und die Bestandspflege, die den status quo der gealterten, gebrauchten Originale sichern, deren Benutzung ermöglichen und gleichzeitig Informationsverluste einschränken sollen.



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6.2 Bestandspflege

Zwei sehr umfängliche Bestandsarbeiten erstreckten sich jeweils über einen Bearbeitungszeitraum von zwei Jahren bis 2018. Zeitgleich mit dem in 2016 neu übernommenen, stark verunreinigten Bestand zum Landgut Hipfelhof im Bestand A:Cotta war ein Dissertationsprojekt an der Universität Mannheim verknüpft. Die Trockenreinigung erfolgte an insgesamt 248 Akteneinheiten und 36 gezeichneten Landkarten. Für das DLA-Erschließungsprojekt zum Bestand A:SUA-Insel mussten in der Bestandspflege insgesamt 60 nachgereichte Aktenordner mit Honorarabrechnungen von 1955 bis 1965 gereinigt, entmetallisiert und teilweise umverpackt werden. In Ermangelung einer Stelle können nur die notwendigsten Maßnahmen mit Aushilfskräften realisiert werden. Die Arbeiten der Bestandspflege an Handschriftenbeständen des Archivs sind aus Gründen des Bestandsschutzes an den Standort Marbach gebunden. Die Konservierungsassistentin im Projekt Mengenentsäuerung hat diese Arbeiten in mehreren Intervallen vorrübergehend übernommen. Unter den Neuzugängen der Bibliothek fanden sich in 2017 und 2018 auch sehr staubige oder mit Schimmel kontaminierte Bestände. Die Reinigungsarbeiten für die Bibliotheksbestände, zu Friedrich G. Jünger (ca. 750 Bde.), Hermann Kant (ca. 515 Bde.) und Erich Auerbach (ca. 610 Bde.) und innerhalb der Signaturengruppe Y des Zeitschriftenbestands (ca. 545 leicht kontaminierte Einheiten) wurden über die Vergabe von inhouse-Maßnahmen in 2018 gereinigt. Die ca. 20 Paletten umfassende Ablieferung des nach Berlin umgezogenen Siegfried Unseld-Archivs wurde in Stichproben gesichtet und darauf basierend als uneingeschränkt archivierbar beurteilt. Übersicht zu kleineren, intern gereinigten Konvoluten: A:Lenz, Siegfried: 22 Ordner mit Korrespondenz der Jahre 1953–1965; Kurt Eisners Die Götterprüfung, Bd. 125 der Preußischen Jahrbücher; Senso-Manuskript und diverse Materialien von Silvia Hildesheimer (Bestand A:SUA); A:Hamacher, Werner; A:Barck, Karlheinz; A:Wolfskehl, Karl; A:Böckmann, Paul; A:Schöne, Albrecht und A:Blumenberg, Hans. 6.3 Schutzverpackungen

Die in den letzten Jahren übernommenen Bibliotheksbestände zu Erich Auerbach und Paul Hoffmann, inklusive des Teilbestands zu Karl Wolfskehl enthalten zahlreiche beschädigte Einheiten. Die ausgewählten Bände wurden elektronisch vermessen und darauf basierend ein auf die Bestände abgestimmte Kombination von unterschiedlichen Schutzverpackungen extern bestellt. Gleiches gilt für die suk-

560

sandra richter

zessive aufgelösten und umgebetteten Cotta-Faszikel mit Verlagskorrespondenz aus 120 Kästen. Aus der Handbibliothek des Lesesaals erhielten 27 Bücher überwiegend eine intern ausgeführte Sicherung mit einfachen PE-Schutzumschlägen. Insgesamt erhielten in 2018 rund 500 Einheiten, inklusive der Schutzbehältnisse für restaurierte Einzelbände und zu archivierende Neuerwerbungen, eine maßgenaue Verpackung. 6.4 Restauratorische Vorarbeiten für Digitalisierungen

Begleitend zur Zustandssichtung von Beständen und Konvoluten, die zur internen Digitalisierung vorgesehen sind, werden mittlere bis starke mechanische Schäden dokumentiert, durch die potentiell Informationsverluste eintreten können. Im zehn Mappen umfassenden Rilke-Bestand aus dem SUA-Inselverlag fanden sich in fünf Mappen Dokumente mit einem mittleren mechanischen Schaden, die gesichert wurden. Außerdem sind ab 2018 sukzessive rund 50 erfasste Blätter im zehn Archivkästen umfassenden Bestand zu A:Mörike  I, ursprünglich Eigentum des Goethe-Schiller-Archivs Weimar, in der restauratorischen Bearbeitung. Des Weiteren sind 26 restauratorisch gesicherte Handschriften aus verschiedenen Beständen zum Scannen bereitgestellt worden. Dazu gehören Handschriften aus D:Kippenberg-Archiv zu Rilke, ein Konvolut zu Ferdinand Gregorovius aus A:Cotta; und Handschriftenkonvolute zu Emmy Ball-Hennings. 6.5 Projekt Mengenentsäuerung

Als etabliertes präventives Mengenverfahren, das notwendigerweise in die Substanz der säurehaltigen Bücher eingreift, wurde die Papierentsäuerung seit 2013 in jährlichen Auftragschargen für die Bibliotheksbestände vergeben. Das Referat hat über die Jahresausschreibung des BKM bei der Koordinierungsstelle für die Erhaltung von schriftlichem Kulturgut (KEK) Sondermittel eingeworben. Bei der Qualitätsprüfung liegen die verfahrensbedingten Nebenwirkungen an den Buchbeständen in der Summe unter dem intern zulässigen 5  % Anteil. Die WDV hat im Jahresverlauf die überwiegend erfolgreiche Einspielung der MEDokumentation am Einzelexemplar zunächst in die Testumgebung und schließlich in Kallías-Prod ausgeführt.



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jahresbericht der deutschen schillergesellschaft

Bestandsauswahl: Abt. Bibliothek, Signaturengruppe L / mit LL Vertragsjahr

Chargenzahl

Begutachtung ­insgesamt

davon entsäuert

davon nicht für die Entsäuerung geeignet

2017

8

11.288

93 %

7 %

2018

7

 9.954

92 %

8 %

6.6 Restaurierwerkstatt

In der Buch- und Einzelblattrestaurierung im DLA wird in einzelnen Partien über das Jahr verteilt und parallel zu den größeren Projekten gearbeitet. Insgesamt wurden 27 restaurierte Bücher mit Gewebe-, Papier- und Ledereinbänden wieder zur Benutzung übergeben. Die Einzelblattbearbeitung übernimmt die Restaurierung u.  a. an Handschriften und Grafiken aus Nachlasszugängen, insbesondere des Referates Bilder und Objekte, aber auch an hauseigenen Exponaten für kommende Ausstellungen und an Archivalien mit Schäden, die auf Abruf in Kallías dokumentiert sind. Die Neuzugänge werden in den meisten Fällen demontiert und passepartoutriert, um sie für die Erschließung und Archivierung vorzubereiten. In 2018 waren es: 13 Grafiken und Fotografien aus dem Klages-Bestand; 20 neu übernommene Grafiken unterschiedlicher Bestände von Bilder und Objekte; das Grafen-Diplom von Adolf Wilhelm Kessler; sieben bearbeitete Archivalien aus Kallías-Abfragen: Ein Winterbesuch von Sophie von Adelung, (Rest.-Satz 8201); Gottfried Benn, Frühe Prosa von Karl Markus Michel (Rest.-Satz 7737), Volksverband der Bücherfreunde Berlin an Müller-Freienfels, Richard (Rest.-Satz  6972), Brief von Stefan Zweig an Berthold Viertel (Rest.-Satz  6953), Brief von Ludwig Pfau an Anna Spier (Rest.-Satz  8603), Beilage zu Westend, Simmel von Rudolf Pannwitz (Rest.-Satz 6129). 6.7 Ausstellungen

Die konservatorische Begleitung der im DLA gezeigten Ausstellungen umfassen die Vorsichtung des Zustands der Exponate aus den Sammlungen und von den Leihgebern, darauf abgestimmte Absprachen zur Präsentation, im Bedarfsfall eine Restaurierung und schließlich das Montieren oder Rahmen der Einzelstücke. Hervorzuheben ist das parallel unterstützte trinationale Ausstellungsprojekt zu Rilke und Russland, das bis März 2018 zusammen mit der Schweizerische Nationalbibliothek / Schweizerisches Literaturarchiv Bern und den Staatlichen Litera-

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sandra richter

turmuseen der Russischen Föderation über drei Stationen präsentiert wurde. Die Bestandserhaltung war über den gesamten Ausstellungszyklus in Marbach, in Bern und Zürich sowie in Moskau beständig in die Ausstellungslogistik, u.  a. mit Personal- und Zeitplanung, inklusive den Vorgaben zu den Transportleistungen, dem Erstellen von Übergabeprotokollen und den Auf- und Abbau der Exponate mit den Präsentationsmitteln vor Ort eingebunden. In 2018 wurden folgende Ausstellungen mit konservatorischer Unterstützung in Marbach gezeigt: Die Gabe: mit zeitlich verschobener Demontierung und Rückführung von gerahmten Exponaten aus 2017; das trinationale Ausstellungsprojekt Rilke in Russland: rund 345 Exponate, darunter überwiegend Leihgaben; die MWW-Ausstellung Die Familie. Ein Archiv mit rund 250 Exponaten, inklusive Leihgaben; German Fever. Beckett in Deutschland mit rund 120 Exponaten, darunter überwiegend Leihgaben der University of Reading und Thomas Mann in Amerika mit 155 Leihgaben aus dem Thomas-Mann-Archiv an der ETH Zürich. Dazu kamen kleine Präsentationen, wie die zum Jahresprogramm des DLA gehörigen »Marbacher Passagen« mit neun Beiträgen in 2018 und die öffentliche Präsentation des neu erworbenen Prosafragments zu Richard und Samuel von Franz Kafka. 6.8 Leihanfragen

Die Bestandserhaltung prüft mit den Sammlungsverantwortlichen die Ausstellbarkeit der extern angefragten Stücke und die Ausstellungsbedingungen vor Ort, letzteres mit Hilfe eines Facilityreports oder mittels Fotos. Dazu kamen in 2018 verschiedene externe Restaurierungs- oder Konservierungsarbeiten, u.  a. Rahmenrestaurierungen und die Montierung von Kartonagen als Rückseitenschutz für großformatige Leinwände. Bei nicht papiergebundenen Sammlungsstücken werden restauratorische Fachwerkstätten mit den notwendigen Arbeiten beauftragt. In den meisten Fällen haben sich die Leihnehmer an den Kosten beteiligt. Zu den in 2018 betreuten externen Leihanfragen gehörten: 23 Scherenschnitte von Luise Duttenhofer für die Galerie-Stihl in Waiblingen; eine Büste von Christian Wagner als Dauerleihgabe an das Christian-Wagner-Haus Warmbronn; das Porträt Rainer Maria Rilke von Lou Albert-Lasard, mit Rückseitenschutz, an die Ludwig-Galerie in Saarlouis; das Porträt Hermann Hesse, mit Sicherung der lockeren Leinwand und das Porträt Ninon Hesse, mit Anbringen eines Rückseitenschutzes, an das Literaturhaus Berlin; das Urmodell des Poesieautomaten für die Autorenlesung von H. M. Enzensberger bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen; zwölf Erinnerungsstücke an das Thüringer Landesmuseum Heidecksburg; vier Exponate an das Germanische Nationalmuseum Nürnberg;



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ein Band an das Lessingmuseum Kamenz; das Porträt Harry Graf Kesslers, mit Überarbeiten der Rahmung, an die Liebermann-Gesellschaft Potsdam, 25 Totenmasken und Abgüsse an die C/O-Berlin Foundation; sechs Leihgaben an das Herrmann Hesse Museum Gaienhofen und drei Leihgaben an die Bundeskunsthalle Bonn. 6.9 Sonstiges

Die Mitarbeiterinnen des Referats nahmen an Tagungen und Fortbildungen teil und boten interne Führungen und Praktika zu den verschiedenen Arbeitsbereichen der Bestandserhaltung an. Am Tag der offenen Tür wurden Führungen und Vorträge zum Thema »Persönliche Digitale (Familien-)Archive« durchgeführt.

VERWALTUNG 1 Mitarbeiterschaft (Stand: 31. Dezember 2018) Voll- und Teilzeitstellen

davon Planstellen der DSG

davon Befristete, projektPlanstellen des Landes gebundene Stellen

105,4

103,4

2

33,7

Die befristeten projektgebundenen Stellen wurden überwiegend aus Sachbeihilfen der Deutschen Forschungsgemeinschaft und aus Stiftungsmitteln von privater Seite finanziert. Auch 2018 waren zahlreiche wissenschaftliche Hilfskräfte, geringfügig Beschäftigte sowie Praktikanten befristet tätig. 2 Personelle Veränderungen im Jahr 2018 a) Neu eingestellt wurden am 01.01.2018

Ursula Käß

Magazinkraft

03.01.2018

Ines Zahler

wissenschaftliche Mitarbeiterin

01.03.2018

Elena Mahal

Bibliothekarin

27.03.2018

Lydia Michel

wissenschaftliche Mitarbeiterin

02.05.2018

Michael Woll

wissenschaftlicher Mitarbeiter

15.05.2018

Stefanie Hundehege

wissenschaftliche Mitarbeiterin

01.06.2018

Marc Wurich

wissenschaftlicher Mitarbeiter

564

sandra richter

11.06.2018

Karin Kobald

Sekretärin

01.07.2018

Robert Sommer

Hausmeister

16.07.2018

Stephanie Obermeier

wissenschaftliche Mitarbeiterin

01.08.2018

Tamara Meyer

Volontärin

01.08.2018

Stefan Kuballa

Fahrer

01.09.2018

Cornelia Hamke

Bibliothekarin

30.09.2018

Judith Siepmann

Bibliothekarin

31.03.2018

Johannes Kempf

wissenschaftlicher Mitarbeiter

30.04.2018

Patrick Will

wissenschaftlicher Mitarbeiter

31.05.2018

Marcel Lepper

wissenschaftlicher Mitarbeiter

31.05.2018

Christa Volmer

Sekretärin

30.06.2018

Susanna Brogi

wissenschaftliche Mitarbeiterin

31.07.2018

Bruno Bender

Fahrer

31.08.2018

Ines Zahler

wissenschaftliche Mitarbeiterin

31.08.2018

Dietmar Schönfeld

Bibliothekar

30.09.2018

Elena Mahal

Bibliothekarin

01.12.2018

Judith Siepmann

Bibliothekarin

31.12.2018

Harald Käuflin

Referatsleiter Finanzen

31.12.2018

Bernd Birr

Hausmeister

31.12.2018

Philip Ajouri

wissenschaftlicher Mitarbeiter

31.12.2018

Jens Schramm

Bibliothekar

31.12.2018

Ellen Strittmatter

wissenschaftliche Mitarbeiterin

31.12.2018

Karin Kobald

Sekretärin

31.12.2018

Annette Rief

Assistentin

31.12.2018

Regina Langer

Rezeption

b) Ausgeschieden sind am



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jahresbericht der deutschen schillergesellschaft

3 Deutsche Schillergesellschaft e.V. Jahr

2012

Mitglieder

2013

2014

2015

2016

2017

2018

3.077 2.803 2.643 2.507 2.379 2.278 2.177

Mitglieder mit Jahrbuch

58 %

62 %

59 %

58 %

58 %

58 %

57 %

neue Mitglieder

148

39

47

39

30

40

28

ausgetretene oder verstorbene ­Mitglieder

315

203

163

170

153

113

152

ausländische Mitglieder

11 %

11 %

12 %

11 %

11 %

11 %

11 %

DSG-Jahresbeitrag (€)

50,–

50,–

50,–

50,–

50,–

50,–

50,–

DSG-Jahresbeitrag mit Jahrbuch (€)

80,–

80,–

80,–

80,–

80,–

80,–

80,–

DSG-Jahresbeitrag (€) (Mitgl. in Ausbildung)

20,–

20,–

20,–

20,–

20,–

20,–

20,–

DSG-Jahresbeitrag (€) (Mitgl. in Ausbildung mit Jahrbuch)

30,–

30,–

30,–

30,–

30,–

30,–

30,–

Den Bewohnern der neuen Bundesländer und Osteuropas wurden auch 2018 auf Antrag die Mitgliedschaft und das Jahrbuch zur Hälfte des allgemeinen Tarifs angeboten.

ARBEITSSTELLE FÜR LITERARISCHE MUSEEN, ARCHIVE UND GEDENKSTÄTTEN IN BADEN-WÜRTTEMBERG (ALIM) 1 Museen und Dauerausstellungen

Brackenheim: Ein Präsident für die Literatur. Neue Dauerausstellung im Theodor Heuss Museum (Eröffnung 31. 1. 2018).  – Warmbronn: Christian Wagner  – Leben und Werk. Neue Dauerausstellung im Christian-Wagner-Haus (Eröffnung 18. 2. 2018). – Willstätt: Aus Willstätt nach Europa. Johann Michael Moscherosch – ein Gelehrter des 17.  Jahrhunderts. Neue Dauerausstellung im neuen Rathaus (Eröffnung 5. 9. 2018).  – An literarische Museen und Gedenkstätten in BadenWürttemberg gingen im Jahr 2018 Zuwendungen in Höhe von rund € 113.351. Es konnten außerdem literarische Veranstaltungen in diesen Museen mit € 46.163 gefördert werden. Außerhalb von Marbach wurden mehr als 120 Beratungstermine in 23 Orten wahrgenommen.

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sandra richter

2 Abgeschlossene Projekte in Museen

Emmendingen, Deutsches Tagebucharchiv mit Museum: Ausstellung Lebenslust  – Lebenslast  – Lebenskunst anlässlich des 20-jährigen Archivbestehens.  – Fellbach, Stadtmuseum: Ausstellung Mörike elementar.  – Marbach, Schillers Geburtshaus: Austausch der Brandmeldeanlage und der Brandmelder. 3 Publikationen der Arbeitsstelle

Spuren 117 (Dirk Niefanger: Nicodemus Frischlin aus Balingen).  – Spuren 118 (Oliver Kobold: Peter Weiss in Tübingen). – Literarische Spuren. Eine bibliophile Reihe über den deutschen Südwesten. Flyer. 4 Veranstaltungen

Spurenabend Heilbronn Die Gruppe 47. Im Gespräch mit Jörg Magenau (Vorstellung Spuren 115 und 116 in der Stadtbibliothek Heilbronn, 13. 11. 18). – Koordinationstreffen Hölderlin2020 (DLA Marbach, 23. 11. 2018).

FORSCHUNG 1 Internationale Forschungsbeziehungen: Global Archives

Das vom Auswärtigen Amt unterstützte Projekt zur Erschließung und Erforschung deutsch-jüdischer Gelehrtennachlässe in Israel, das in Kooperation mit dem Franz Rosenzweig Minerva Research Center in Jerusalem umgesetzt wird, ging ins siebte Jahr. Intensiviert wurde insbesondere die Zusammenarbeit mit der National Library, Jerusalem. Das von der Gerda Henkel Stiftung geförderte Projekt »Deutsch-jüdischer Wissens- und Kulturtransfer 1918 bis 1948: Das historische Archiv der Hebräischen Universität« wurde im dritten Förderjahr erfolgreich abgeschlossen. Wichtige Ergebnisse und Funde aus beiden Projekten wurden Wissenschaft und Öffentlichkeit im Rahmen einer großen Abendveranstaltung an der Staatsbibliothek zu Berlin (Archives of German-Jewish Scholarship. Knowl­ edge Transfer and Nation-Building in Mandatory Palestine and Israel, 29. November 2018) vorgestellt. Am 20.  November 2018 konnte an der National Library, Jerusalem, die Ausstellung Ad Acta: The Hebrew University, Jewish Scholars and the Exile from Europe eröffnet werden, die Einblick in das historische Archiv der Hebräischen Universität gibt. Die Erschließungsdaten des Archivs konnten in das Archivportal Europeana eingespeist werden und stehen der internationalen Forschung dort online zur Verfügung.



jahresbericht der deutschen schillergesellschaft

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Daneben konnte der Lateinamerika-Schwerpunkt der Initiative Global Archives weiter verstärkt und um Aktivitäten in Großbritannien, China und Indien ergänzt werden. In Argentinien, Brasilien und Uruguay konnten mit der Erschließung der Nachlässe von Benno Mentz (im Archivo Delfos an der PUCRS in Porto Alegre, Brasilien) und Ludwig Neuländer (in Privatbesitz in Montevideo, Uruguay, und im Museum Lasar Segall in São Paulo, Brasilien) sowie durch die Vernetzung mit Kooperationspartnern in Forschungs- und Sammlungseinrichtungen (u.  a. Casa Stefan Zweig, Rio de Janeiro; Archivo Delfos, Porto Alegre; Museum Lasar Segall, São Paulo; Casa Simón Dubnow, Buenos Aires; Teatro Colón, Buenos Aires) bestehende Kooperationen ausgebaut werden. Mit der Erstellung von zwei ausführlichen Forschungsüberblicken (Deutschsprachiges Exil in Argentinien und Deutschsprachiges Exil in Uruguay) und der im Projektrahmen entstandenen mehrsprachigen Publikation Romanisch-germanische Zwischenwelten. Exilliteratur als Zeugnis und Motor einer vernetzten Welt (hg. von Sonja Arnold und Lydia Schmuck, Peter Lang 2019) wurden zentrale Ergebnisse aus der Projektarbeit für die Öffentlichkeit dokumentiert. Darüber hinaus wurde das Projekt auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Exilforschung in Frankfurt am Main (Archive und Museen des Exils, 14. bis 15. September 2018) vorgestellt. In Brasilien wurde die Bibliothek des jüdischen Exilanten und Übersetzers Herbert Caro am Kunsthistorischen Institut der UFRGS, Porto Alegre, erschlossen und damit ein wichtiger Teil nicht nur der deutschsprachigen Exilgeschichte in Lateinamerika, sondern auch der Wirkungsgeschichte (kultureller) Übersetzung erforscht. Neben einem Erschließungsprojekt zum Nachlass des deutschstämmigen Kaufmanns Benno Mentz wurden im Archiv Delfos in Porto Alegre deutschsprachige Programmhefte erschlossen und digitalisiert, die die deutschsprachige (Exil-)Theaterszene im Theatro São Pedro in Porto Alegre dokumentieren. Die Erschließung und Sicherung bietet wichtige Erkenntnisse und Bausteine für die Rekonstruktion der Exiltheaterszene in Lateinamerika, gerade auch mit Blick auf die geplante Vernetzung mit anderen Beständen innerhalb Lateinamerikas (Biblioteca Jenny Klabin Segall, São Paulo; Teatro Colón, Casa Simón Dubnow, Buenos Aires) und Deutschlands (DLA; Paul Walter Jacob Archiv, Hamburg). Geplant ist die Zusammenführung dieser Bestände zum deutschsprachigen Exiltheater in einer virtuellen Präsentation. Im Anschluss an den 2017 veranstalteten Workshop zum Exil in Großbritannien Refugees, Migration and Political Culture in Cambridge und London konnten gemeinsam mit der University of Cambridge (DAAD, German Studies Hub) und dem Warburg Institute Vorbereitungen für einen Folgeworkshop (German-Jewish Exile After 1933. Towards a Digital Archive) getroffen werden. Ebenso wurden Verbindungen zu verschiedenen Londoner Instituten hergestellt, darunter das Exilarchiv des Institute of Modern Languages Research (IMLR) sowie das Kura-

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torium der Germanic Collections der British Library. Intensiviert wurde vor allem die Beziehung mit dem Warburg Institute in London, wo derzeit mehrere bisher unerschlossene Bestände mit hohem deutschsprachigen Anteil liegen. Unter Einbezug des wissenschaftlichen Nachwuchses vor Ort wird in einem ersten Schritt der Nachlass eines ehemaligen Bibliothekars des Warburg Institutes, des österreichischen Schriftstellers Alphons Barb, katalogisiert. Barb hinterließ dem Institut seine Manuskripte, Korrespondenz und Sammelobjekte, die derzeit noch unerschlossen im Institut lagern. Darüber hinaus wurden Stipendien zur Erforschung weiterer Nachlässe vergeben, so zur Erstellung eines Fundbuchs zum Nachlass des Dichters und Theaterregisseurs Renato Mordo, der im griechischen Exil lebte und dessen Nachlass eine detaillierte Rekonstruktion des Exils in Griechenland bis zum Einmarsch der Wehrmacht 1941 sowie der Intellektuellennetzwerke im Exil verspricht. Erste Schritte wurden mit Blick auf das deutschsprachige Exil in China und in Indien unternommen: Bestandslisten, der Austausch mit dem Heidelberger Südostasien-Cluster, ein Workshop mit chinesischen Kolleginnen und Kollegen und entsprechende Forschungsbibliographien bilden jeweils die Grundlage für die konkreten Planungen für das Jahr 2019. Eine Pilotstudie geht von Klara Blum aus, einer in Czernowitz geborenen deutsch-jüdischen Autorin, die über die Sowjetunion nach China gelangte. Ihr vor allem in der DDR verkürzt rezipiertes Werk ist aufgrund des Marbacher Nachlasses in seiner chinesisch-deutschen Valenz noch zu entdecken. Im Rahmen eines Stipendiums wurde ein bislang unbekannter Teil des Nachlasses von Klara Blum erschlossen, der bei den Erben in Guangzhou, China, ausfindig gemacht werden konnte. Es bestehen auch Kontakte zum Universitätsarchiv in Guangzhou. Im Rahmen der Kooperation mit der Robert Bosch Stiftung und dem deutschen Übersetzerfonds (Elmar-Tophoven-Mobilitätsfonds, TOLEDO) wurden 2018 zwei Stipendien für Forschungsaufenthalte am DLA vergeben. 2 Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel (BMBF)

Im Jahr 2018 waren die Marbacher MWW-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter mit ihren Forschungsprojekten auf zahlreichen nationalen und internationalen Tagungen und Workshops präsent: Philip Ajouri, Marbacher Mitarbeiter des Text und Rahmen-Projekts, trug auf der interdisziplinären Tagung Weltanschauung und Textproduktion. Formgebung – Narrative – Verbreitung der Universität Bonn am 2.  März 2018 zum Thema Weltanschauung im Buch. Ausgaben von Friedrich Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen als Weltanschauungsliteratur (um 1900 – bis nach 1945) vor. Das Team der Digital Humanities-Projekte des Forschungsverbunds, darunter die Marbacher Mitarbeiterinnen Stephanie Kuch



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und Corinna Mayer, war am 28. Februar mit einem Posterbeitrag zum Thema Peerto-Peer statt Client-Server: Der Mehrwert kollegialer Beratung und agiler DH-Treffen auf der DHd-Konferenz 2018 in Köln vertreten. Am 13. März sprach BildpolitikMitarbeiter Daniel Berndt im Rahmen der Zeitkapsel 50: Träume und Terror. Die Aufzeichnungen der Charlotte Beradt mit der Germanistin Barbara Hahn über das von ihr neu herausgegebene Buch Beradts Das Dritte Reich des Traums und sichtete mit ihr bis dato unbekannte Teile des Nachlasses von Charlotte Beradt, einer engen Freundin Hannah Arendts. Am 29. April endete die im Rahmen des Bildpolitik-Projekts entwickelte Ausstellung Die Familie. Ein Archiv, die ab 21. September 2017 im Literaturmuseum der Moderne zu sehen gewesen war. Die Ausstellung wurde von einer Reihe verschiedener Veranstaltungen begleitet und positiv und überregional in der Presse besprochen. So fand am 8. und 9.  Februar 2018 die ausstellungsbegleitende Tagung Familien-Ordnungen statt, deren Anliegen es war, nach der wissenschaftshistorischen, kultur-, literatur- und kunstgeschichtlichen Bedeutung der Familie zu fragen und kritisch die Relevanz einer Überlieferungsgröße zu prüfen. In den zwei Sektionen der Tagung – Neu-/Umordnungen sowie Anordnungen in Bild und Text – waren neben dem Bildpolitik-Projektteam diverse externe Expertinnen und Experten vertreten. Corinna Mayer trug am 24. Mai gemeinsam mit Swantje Dogunke aus Weimar und Timo Steyer aus Wolfenbüttel auf dem Expertenworkshop Suchtechnologien, der in Kooperation mit DARIAH-DE ausgerichtet wurde, zum Thema Bestände und Recherche: Suchverfahren gestern und heute vor. Am 8.  Juni leitete Philip Ajouri mit Valentina Sebastiani aus Wolfenbüttel und Carsten Rohde aus Weimar den abschließenden Workshop Präsentationsmodi kanonischer Werke. Bilanz und Perspektiven, an dem neben den externen Mitgliedern des Text- und RahmenProjekts thematisch assoziierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler teilnahmen. Daniel Berndt hielt am 14. Juli 2018 im Rahmen der Portraiture Conference an der Durham University den Vortrag The Portrait of the Author as Pictorial Authorisation: Hannah Arendt – A Case Study. Vom 29. Juli bis zum 9. August 2018 fand die letzte Internationale Sommerschule des Forschungsverbunds der ersten Förderphase in Marbach statt. Zum Thema A (New) Republic of Letters: Intellectual Communities, Global Knowledge Transfer diskutierten fünfzehn Doktorandinnen und Doktoranden aus acht verschiedenen Ländern intensiv mit erfahrenen und jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus dem In- und Ausland historische und theoretische Erscheinungsformen und Begriffe, die im Zusammenhang mit dem Phänomen Gelehrtenrepublik stehen. Sie konnten an Seminaren von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aller drei Institutionen sowie externer Expertinnen und Experten teilnehmen und sich von diesen persönlich beraten lassen. Zudem

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stand ihnen täglich Zeit für eigene Forschung in Archiv und Bibliothek zur Verfügung. Abgerundet wurde das Angebot durch fünf Abendvorträge renommierter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler: Prof. Dr.  Liliane Weissberg (University of Pennsylvania), Dr.  Philipp Lenhard (Ludwig-Maximilians-Universität München), Prof. Dr.  Judith Ryan (Harvard University), PD Dr.  Benjamin Specht (Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg) und Marie Luise Knott (Berlin). An der großen Tagung Forschen in Sammlungen. Fünf Jahre Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel. Ergebnisse & Perspektiven, die am 17. und 18. September im Tagungszentrum Schloss Herrenhausen in Hannover stattfand, wirkten alle MWW-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter mit. Mit einer facettenreichen Galerie und innovativen Vorträgen wurden Ergebnisse und Perspektiven der Sammlungsforschung präsentiert. Am 29. September präsentierte Caroline Jessen mit ihren Projektkollegen aus Weimar und Wolfenbüttel, Stefan Höppner und Jörn Münkner, auf dem Jahrestreffen der German Studies Association of America (GSA) in Pittsburgh, USA, das Panel Aspects of Provenance in Writers’ Libraries. Auch 2018 wurde wieder eine Reihe von Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftlern aus dem In- und Ausland zu Forschungsaufenthalten und Vorträgen ins DLA eingeladen, um die Projektgruppen im Forschungsverbund beratend zu unterstützen und die nationale wie internationale Sichtbarkeit im Verbund zu verstärken. Gemeinsam mit dem Oxford German Network und dem Career Service Oxford konnte das Forschungshospitanten-Programm erfolgreich fortgeführt werden. Zudem wurden Bewerberinnen und Bewerber im Rahmen des International Internship Program in die Verbundinstitutionen eingeladen. Auch das jährlich zweimal ausgeschriebene Stipendienprogramm für Digital Humanities konnte erfolgreich fortgesetzt werden und trug zur Stärkung des entsprechenden Schwerpunkts im Verbund bei. Im Jahr 2018 wurden diverse Beiträge der MWW-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeiter in verschiedenen einschlägigen Sammelbänden und Fachzeitschriften publiziert, darunter der Aufsatz von Corinna Mayer, Swantje Dogunke und Timo Steyer zum 2017 veranstalteten Barcamp Data and Demons. Von Bestands- und Forschungsdaten zu Services, der in der Fachzeitschrift Libreas erschien. 2018 publizierte Caroline Jessen die aus ihrem Forschungsprojekt Zerstörte Überlieferung, überspielte Provenienz: Die Bibliothek von Karl Wolfskehl nach 1933 hervorgegangene Monographie Der Sammler Karl Wolfskehl im Jüdischen Verlag/ Suhrkamp Verlag. Das Team des Projekts Autorenbibliotheken, Stefan Höppner, Caroline Jessen, Jörn Münkner und Ulrike Trenkmann, gab 2018 den Band Autorschaft und Bibliothek: Sammlungsstrategien und Schreibverfahren bei Wallstein heraus. Ebenfalls bei Wallstein erschien 2018 der Sammelband des Bildpolitik-



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Projekts Bildnispolitik der Autorschaft. Visuelle Inszenierungen von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, herausgegeben von Daniel Berndt, Lea Hagedorn, Hole Rößler und Ellen Strittmatter. 3 1968. Ideenkonflikte in Globalen Archiven

2018 wurde die Arbeit des von der VolkswagenStiftung geförderten Internationalen Archivforschungsprojekts erfolgreich fortgesetzt. Vor dem Hintergrund des 50-jährigen Jubiläums von ›1968‹ konnten 2018 zahlreiche Veranstaltungen durchgeführt werden. Vom 26. bis 27.  April fand die Internationale Tagung Ereignis und Geschichte. 1968 und die Geschichtsphilosophie am Deutschen Literaturarchiv Marbach statt, die ein gutes Medienecho erhielt: Es berichteten die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die Süddeutsche Zeitung. Im Mai 2018 begann die bundesweite Veranstaltungsreihe Aktualisierungen. Die Gegenwart von ’68, in deren Rahmen wichtige Ereignisse, die mit ›1968‹ in Verbindung stehen, herausgegriffen und in Hinblick auf ihre Bedeutung für die Gegenwart beleuchtet wurden. Die Auftaktveranstaltung fand in Kooperation mit dem Institut für Soziologie der LMU in den Münchner Kammerspielen statt, wo Walter Benn Michaels (Chicago) einen Vortrag zum Thema Populism, Postmodernism and the Promise of Art: Overcoming the Legacy of May ’68 hielt. Im Juni sprach Andrei S. Markovits (Ann Arbor) in der Stiftung Geißstraße in Stuttgart zum Thema 1968 und der Diskurs des Mitgefühls. Der lange Marsch zur sozialen Inklusion. Im Oktober folgte der Beitrag 1. Mai 1968: Ein Augenblick von Samuel Weber (Chicago/Paris) am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung in Berlin. In Zusammenarbeit mit dem Institut für Philosophie der FU Berlin fand eine Veranstaltung zu Theodor W. Adornos Vortrag Zum Klassizismus von Goethes Iphigenie vom 7. Juli 1967 statt; neben einem Abendvortrag von Anne Eusterschulte bot ein Lektürekurs am Nachmittag Gelegenheit zum intensiven Austausch. Am 17.  Oktober wurde in Kooperation mit dem Institut für Romanistik der Universität Köln und in Anbindung an ein Forschungskolloquium zur Geschichte Lateinamerikas der Leiter und Gründer des Dokumentationsund Forschungszentrums für linke Kultur (CeDInCI) in Buenos Aires, Horacio Tarcus, zu einem Vortrag eingeladen. Die letzte Veranstaltung der Reihe, ein Vortrag von Diana Sorensen (Harvard University) zu den ›Nachwirkungen‹ des Massakers von Tlatelolco in Mexiko, fand in Kooperation mit dem Institut für Romanistik der Universität Hamburg statt und bildete zugleich den Auftakt für ein Seminar zu ›1968‹ an der Universität Hamburg. Neben der individuellen Archiv- und Forschungstätigkeit sowie der Arbeit an den Monographien präsentierten die beiden Postdoktoranden erste Forschungsergebnisse zu ihrem jeweiligen Modulschwerpunkt auf Tagungen im In- und

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Ausland sowie in verschiedenen Publikationen (Modul 1: USA und Modul 2: Lateinamerika und Karibik). Ein gemeinsamer Beitrag der projektbeteiligten Forscher/innen wurde für das Bulletin des Schweizerischen Literaturarchivs Passim verfasst. Bei der Sommerschule des Forschungsverbunds Marbach Weimar Wolfenbüttel vom 29. Juli bis 9. August 2018 waren beide Module jeweils mit einem Seminar vertreten. Über die mit dem Projekt eingeworbenen Mittel für die Stelle einer DiplomBibliothekarin wurden auch im zweiten Förderjahr projektrelevante Bestände am DLA erschlossen und katalogisiert. Im Jahr 2018 waren das: der Vor-/Nachlass Christa und Peter Bürger (abgeschlossen), der Nachlass Karlheinz Barck (abgeschlossen) sowie der Nachlass Carl Weissner (weit fortgeschritten). Auf dem Forschungsportal des Projekts (http://www.literaturarchiv1968.de/) wurden weitere Funde zur Ideengeschichte von ›1968‹ aus nationalen und internationalen Archiven präsentiert und jeweils von einer Forscherin/einem Forscher kritisch beleuchtet. Außerdem konnten über das Forschungsprojekt auch 2018 weitere internationale Gastwissenschaftler und Gastwissenschaftlerinnen an das DLA Marbach eingeladen werden, um mit den Beständen zu arbeiten und ihre Ergebnisse zu diskutieren. 4 Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik

Die Zeitschrift Geschichte der Germanistik setzte in der Ausgabe 2018 ihren Internationalisierungskurs konsequent fort. Die philologiegeschichtlichen Erwerbungen und Erschließungsprojekte gehen aus den entsprechenden Passagen der Abteilung Archiv hervor. 5 Stipendiatinnen und Stipendiaten

Im Jahr 2018 erhielten folgende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein Marbach-Stipendium: Breidecker, Volker (Frankfurt am Main, 3  Monate Vollstipendium, Projektthema: Joseph Roths unveröffentlichtes Frankreichbuch ›Die weißen Städte‹ im Kontext gleichzeitiger wie nachfolgender belletristischer, essayistischer und journalistischer Arbeiten des Schriftstellers und Mitarbeiters der ›Frankfurter Zeitung‹); Dueck, Evelyn (Zürich, Schweiz, 2 Monate Postdoktorandenstipendium, Projektthema: Monographie zu Paul Celans Gedichtband ›Fadensonnen‹ (1968)); Fagniez, Guillaume (Brüssel, Belgien, 2  Monate Postdoktorandenstipendium, Projektthema: Karl Löwiths Kritik der geschichtlichen Existenz); Heuß, Marit (Hartenstein, 2 Monate Graduiertenstipendium, Projektthema: Peter Handkes Bildpoetik); Krutzky, Benjamin (Minden, 1 Monat MA-Aufenthaltsstipendium, Projektthema:



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Der Versuch einer Edition und Interpretation der ›Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke‹); Liu, Yongqiang (Hangzhou, China, 2  Monate Postdoktorandenstipendium, Projektthema: Schreibpraxis und Identitätsfindung bei Leopold von Andrian); Potyomina, Marina (Kaliningrad, Russland, 1 Monat Postdoktorandenstipendium, Projektthema: Das soziopolitische Phänomen ›Deutsche Wiedervereinigung 1989/90‹ im Spiegel des deutschen literarischen Diskurses); Schäfl, Michael (Graz, Österreich, 2 Wochen MA-Aufenthaltsstipendium, Projektthema: »In’s Vakuum hineinschreiben«. Libuše Moníkovás Zeit als Grazer Stadtschreiberin); Schlupp, Ana-Maria (Berlin, 1  Monat Graduiertenstipendium, Projektthema: (Mit)geteiltes Lager. Zur Entstehung des Romans ›Atemschaukel‹ im Lichte der Kollaboration); Schouten, Steven (Mailand, Italien, 2 Monate Postdoktoranden-Folgestipendium, Projektthema: Laboratory of Cultural Renewal. Anthroposophy, the ›Werkschar‹ and the German Revolution in Munich, 1918/19); Sudhalter, Adrian (Hastings on Hudson, New York, USA, 2  Wochen Vollstipendium, Projektthema: Johannes Baader. The Extant Collages); White-Nesbitt, Tegan (Long Beach, California, USA, 1 Monat MA-Aufenthaltsstipendium, Projektthema: Neue Übersetzung von Paul Celans ›Mohn und Gedächtnis‹ (1952) ins Englische); Yudina, Tatiana (Moskau, Russland, 2  Wochen Vollstipendium, Projektthema: Russische Germanistik im europäischen Kontext). Für das Jahr 2018 wurden außerdem folgende benannte Stipendien bewilligt: C.H. Beck-Stipendium für Literatur- und Geisteswissenschaften:

Akdoganbulut, Cenk (Ostermundigen, Schweiz, 1  Monat Graduiertenstipendium, Projektthema: Armin Mohler (1920–2003). Person, Ideologie und politisches Wirken); Clua Torres, Martí (Barcelona, Spanien, 1  Monat MA-Aufenthaltsstipendium, Projektthema: Die frühe Auffassung der Metaphorologie in ›Die nackte Wahrheit‹ und die Beziehung zwischen Hannah Arendt und Hans Blumenberg); Görlich, Christoph (Hamburg, 1 Monat Graduiertenstipendium, Projektthema: Spuren einer Geistesgeschichte der Kybernetik); Klein, Joshua (Berlin, 1  Monat Graduiertenstipendium, Projektthema: The Concept of ›Europe‹ and the Evolution of Radical German Conservatism, 1930s–1950s); Meutzner, Moritz (Bologna, Italien, 1  Monat Graduierten-Folgestipendium, Projektthema: Erich Auerbach. Antihero of Cultural Criticism); Rottmann, Mike (Leipzig, 3  Monate Graduiertenstipendium, Projektthema: Karl Löwiths Nietzsche-Dissertation von 1923. Edition, Stellenkommentar, Dokumentation der Entstehungsgeschichte); Saul, Nicholas Dorian Boerkamp (Liverpool, Großbritannien, Projektthema: »… der Satz von der Auswahl des Tüchtigsten«. Ernst Jüngers Rezeption des Evolutionismus).

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Cotta-Stipendium:

Kraus, Helene (Berlin, 2 Monate Graduiertenstipendium, Projektthema: Anonymität um 1800); Strohschneider, Moritz (Gräfelfing, 3 Monate Postdoktorandenstipendium, Projektthema: Praktiken des Wissenstransfers in der Amerikaberichterstattung des ›Morgenblatts für gebildete Stände/Leser‹ (1807–1865)). Digital Humanities Stipendium (Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel):

Dittrich, Andreas (Wien, Österreich, 6  Monate Stipendium, Projektthema: Exemplarische digitale Bibliographie der publizierten Texte von Ilsa Aichinger); Handelman, Matthew (East Lansing, Michigan, USA, 4 Monate Stipendium, Projektthema: Siegfried Kracauer’s Correspondence Networks and the Feuilleton at the ›Frankfurter Zeitung‹); Zimmermann, Christina (Gelterkinden, Schweiz, 6 Wochen Folgestipendium, Projektthema: Kracauer’s Theory of Film. The Murmur of Actual Occasions). Gerd Bucerius Stipendium der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius:

Gaber, Sarah (Tübingen, 2  Monate Graduiertenstipendium, Projektthema: Gottfried Benn und die westdeutsche Literaturkritik 1945–1956); Igl, Natalia (Bayreuth, 2  Monate Postdoktorandenstipendium, Projektthema: ›UHU‹ und ›Literarische Welt‹. Redaktionelle Praktiken und mediale Strategien der Leser-Interaktion in Periodika der Weimarer Republik); Tändler, Maik (Göttingen, 2 Monate Postdoktoranden-Folgestipendium, Projektthema: Armin Mohler und der deutsche Konservatismus nach 1945). Hilde-Domin-Stipendium für lateinamerikanisch-deutsche Literaturbeziehungen:

Domínguez, César (Lugo, Spanien, 2  Wochen Vollstipendium, Projektthema: Auerbach in Mexico. For other Geopolitics of World Literature). Kurt Tucholsky-Stipendium für Literatur und Publizistik:

Bessmeltseva, Olesia (Sankt Petersburg, Russland, 2 Monate Graduiertenstipendium, Projektthema: Hermann Brochs Romane der 1930–40er Jahre im Kontext der Exilliteratur und der Literatur der Inneren Emigration); Röhrborn, Anne (Berlin, 1 Monat Graduiertenstipendium, Projektthema: Ein Dialog über kulturelle Differenz. Das Chamisso-Preis-Archiv); Tunková, Jana (Znojmo, Tschechien, 1  Monat Graduiertenstipendium, Projektthema: Die Kontakte des Schauspielers, Dramatikers und Regisseurs Rudolf Rittners (1869–1943)).



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S. Fischer-Stipendium für Autoren- und Verlagsgeschichte:

Katins-Riha, Janine (München, 2 Monate Graduiertenstipendium, Projektthema: Geschichte der Gerhart-Hauptmann-Gesellschaft); Tiessen, Margarete (Cambridge, Großbritannien, 2 Monate Graduierten-Folgestipendium, Projektthema: Liberale LiteraturverlegerInnen und die Frage gesellschaftlicher Neuausrichtung im Kontext der politischen Umbrüche des zwanzigsten Jahrhunderts); Whitehead, Paul Kieron (Warrington, Großbritannien, 3  Monate Postdoktorandenstipendium, Projektthema: Zwischen ›Fin de siècle‹ und ästhetischer Moderne. Zum frühen Heinrich Mann); Zimmermann, Till Matthias (Hagenbach, Projektthema: Eberhard von Bodenhausen. Eine Biographie).

VERANSTALTUNGEN UND VORTRÄGE Autorenlesungen und Vorträge

Das Literarische Programm des DLA wurde im Berichtsjahr 2018 von Jan Bürger betreut, das Wissenschaftliche Programm von Marcel Lepper und in der zweiten Jahreshälfte von Anna Kinder. 2018 fanden folgende Veranstaltungen statt: 8. Februar: Tick, Trick und Trump. Über Veronkelung und andere Comic-Verwandtschaften. Vortrag von Andreas Platthaus.  – 8./9.  Februar: Tagung: FamilienOrdnung. Mit Andreas Bernard, Carola Lentz, Ellen Strittmatter, Ulrich Pfisterer u.  a. – 14. Februar: Arno Frank: So, und jetzt kommst du. Lesung mit Arno Frank im Rahmen der Kulturakademie der Stiftung Kinderland Baden-Württemberg. – 15.  Februar: Die Physiker. Wolfgang Riedel im Gespräch mit Ernst Ulrich von Weizsäcker und Martin Heisenberg. Begrüßung: Ulrich Raulff. – 22. Februar: Die Wagners. Nike Wagner im Gespräch mit dem Opernexperten Stephan Mösch. Moderation: Dietrich Hakelberg, Begrüßung: Jan Bürger.  – 22./23.  Februar: Tagung: Cottas Journalpoetik. Forschung und Erschließung zwischen Globalgeschichte und digitaler Wende. Mit Dieter Burdorf, Fotis Jannidis, Sandra Richter, Jörg Robert u.  a.  – 1.  März: Die Vettern. Hermann Bausinger im Gespräch mit Tilman Krause und Jan Bürger. – 2. März: Vortrag von Stefan Litt, National Library of Israel. Moderation: Caroline Jessen. – 8. März: Building Bridges I – András Schiff präsentiert junge Pianisten. Konzert mit Jiayan Sun.  – 13.  März: Zeitkapsel 50: Träume und Terror. Die Aufzeichnungen der Charlotte Beradt. Mit Barbara Hahn und Daniel Berndt. – 15./16. März: Tagung: Deutscher Geist in Gefahr. Dichter, Philosophen, Verleger und der NS-Staat.  – 21.  März: Romeo oder Julia. Lesung und Gespräch mit Gerhard Falkner. Moderation: Jan Bürger. – 11. April: Lyrik lesen – Gedichte im Gespräch. Mit Claudia Kramatschek, Gregor Dotzauer, Birgitta Ass-

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heuer und Jan Bürger. Moderation: Barbara Wahlster. In Kooperation mit Deutschlandfunk Kultur.  – 12.  April: Buchvorstellung: Thomas Mann in Marbach. Der Zauberberg. Die Zergliederung der Welt. Mit Andreas Kablitz. – 24. April: Lesung: Wiesenstein. Mit Hans Pleschinski. Moderation: Jan Bürger.  – 26./27.  April: Tagung: Ereignis und Geschichte. 1968 und die Geschichtsphilosophie. Mit Alexander García Düttmann, Paul Fleming, Barbara Hahn, Susanne Komfort-Hein, Ludwig Siep u.  a. Eine Veranstaltung im Rahmen des Projekts ›1968. Ideenkonflikte in globalen Archiven‹, gefördert von der VolkswagenStiftung.  – 26.  April: Abendvortrag im Rahmen der Tagung: Hat der Mai 1968 stattgefunden? Mit García Düttmann, Berlin. – 29. April: Finissage: Die Familie. Ein Archiv. Eine Ausstellung im Rahmen des Forschungsverbunds Marbach Weimar Wolfenbüttel, gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Aktionstag in den Museen mit Führungen und der Fotoaktion Zu Gast in der Familie Hesse. Kooperationsprojekt mit Schülerinnen und Schülern der Maximilian-Lutz-Realschule Besigheim. – 13. Mai: Internationaler Museumstag mit Jan Wagner (Rede über Eduard Mörike). – 16. Mai: Building Bridges II – András Schiff präsentiert junge Pianisten. Mit János Palojtay.  – 13.  Juni: Ausstellungseröffnung: Die Erfindung von Paris. Mit Anne-Marie Descôtes (Botschafterin der Französischen Republik in der Bundesrepublik Deutschland) und Ulrich Wickert.  – 14./15.  Juni: Tagung: Reinhart Koselleck und die Begriffsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Mit Petra Gehring, Eva Geulen, Anson Rabinbach, Harry Liebersohn, Michael Stolleis, Lucian Hölscher u.  a.  – 14.  Juni: Zeitkapsel 51: Out of the box. Frühe Rauchzeichen der Begriffsgeschichte. Mit Ulrich Raulff und Jan Eike Dunkhase.  – 19.  Juni: Lesung: Weltliteratur am Neckar. Ein Abend mit David Grossmann. Moderation: Anat Feinberg. Begrüßung: Jan Bürger. In Zusammenarbeit mit der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg.  – 1.  Juli: Familiensonntag mit Lesungen und Führungen: In fremden Schuhen. Kinder- und Jugendliteratursommer in den Marbacher Literaturmuseen. In Zusammenarbeit mit der Baden-Württemberg Stiftung. – 4. Juli: Lesung: Im Bauch des Wals. Mit Paul Nizon. Moderation: Jan Bürger. – 10. Juli: Paris erzählt. Anne Weber in Lesung und Gespräch mit Vanessa Greiff. – 18. Juli: Lyrik lesen – Gedichte im Gespräch. Mit Gregor Dotzauer, Maren Jäger, Birgitta Assheuer und Jan Bürger. Moderation: Barbara Wahlster. In Kooperation mit Deutschlandfunk Kultur. – 24. Juli: Zeitkapsel 52: Dem Tag auf den Fersen – Manfred Peter Hein und sein Lebenswerk. Theresa Heyer und Ulrich von Bülow im Gespräch mit Manfred Peter Hein.  – 29.  Juli–9.  August: Marbacher Sommerschule 2018: A New Republic of Letters: Intellectual Communities, Global Knowledge Transfer. Mit öffentlichen Abendvorträgen von Liliane Weissberg, Philipp Lenhard, Judith Ryan, Benjamin Specht, Marie Luise Knott und Sandra Richter. – 9. September: Tag des offenen Denkmals. Diskussion über Marbachs ›Archiv-Burg‹ mit Wolfgang Lauber, Andreas Dubslaff und Oliver Elser.  – 20.  September: Zuflucht im



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Labyrinth. Kracauers und Benjamins Erforschungen von Paris. Gespräch mit Mirjam Wenzel und Wolfgang Matz. Moderation: Ellen Strittmatter. – 7. Oktober: Gespräch: Thanksgiving. Wie Kafkas Skizze zur Einleitung für Richard und Samuel nach Marbach kam. Mit Hans-Gerd Koch und Ulrich von Bülow.  – 14.  Oktober: Finissage: ›German Fever. Beckett in Deutschland‹  – Becketts Kontinent. Mit Lucia Schierenbeck, Nicolas Martin, Marielle Layher und Jens Groß. Moderation: Ellen Strittmatter und Jan Bürger. – 23. Oktober: Charles Baudelaire. Der Dichter des modernen Lebens. Diskussion mit Elisabeth Edl, Wolfgang Matz und Robert Kopp. – 26. Oktober: Lesung: Dornen und Blumen. Jan Philipp Reemtsma liest aus Jean Pauls Siebenkäs. Begrüßung: Jan Bürger. In Kooperation mit der Akademie für gesprochenes Wort. – 11. November: Tag der offenen Tür in Archiv und Museen und Schillerrede. Mit der Schillerrede von Isabel Pfeiffer-Poensgen (Begrüßung: Ulrich Raulff), einem Vortrag von Kyra Bullert, und einem Podiumsgespräch von Jan Eike Dunkhase und Wulf D. von Lucius.  – 22.  November: Ausstellungseröffnung: Thomas Mann in Amerika (22.  November 2018  – 30.  Juni 2019). Mit Meike Werner und Frido Mann. Begrüßung: Ulrich Raulff, Moderation: Jan Bürger. In Kooperation mit dem Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich – 28. November: Verabschiedung von Ulrich Raulff. Mit Thomas Keller, Richard Ovenden, Theresia Bauer, Nicola Leibinger-Kammüller, Jan Bürger und Ulrich Raulff. – 29. November: Tagung: Archives of German-Jewish Scholarship, 1918–2018. Knowledge Transfer and Nation-Building in Mandatory Palestine and Israel. Mit Lina Barouch, Caroline Jessen, Adi Livny, Yfaat Weiss u.  a. In Kooperation mit der Hebräischen Universität Jerusalem. Gefördert durch die Gerda Henkel Stiftung und das Auswärtige Amt. – 3. Dezember: Gespräch: Die Lichter von Paris. Mit Hanns-Josef Ortheil und Barbara Klemm. Moderation: Ulrich Raulff. – 5. Dezember: Lyrik lesen – Gedichte im Gespräch. Mit Gregor Dotzauer, Maren Jäger, Birgitta Assheuer und Jan Bürger. Moderation: Barbara Wahlster. In Kooperation mit Deutschlandfunk Kultur.  – 11.  Dezember: Marina Zwetajewa: Ich schicke meinen Schatten voraus. Gespräch mit Ilma Rakusa und Hanns Zischler. Moderation: Thomas Schmidt. – 13. Dezember: Zeitkapsel 53: Pariser Libertinagen. Undine Gruenter. Mit Andrea Köhler und Wolfgang Matz. Moderation: Ines Zahler. – 16. Dezember: Alle neune: Die Ausgabe des Tagebuchs von Harry Graf Kessler. Gespräch mit Roland S. Kamzelak, Ulrich Ott und Lothar Müller.

KOMMUNIKATION Im Jahr 2018 informierte das im Vorjahr von »Presse- und Öffentlichkeitsarbeit« in »Kommunikation« umbenannte Stabsreferat des Deutschen Literaturarchivs Marbach (DLA) mit 79 Pressemitteilungen über die Aktivitäten des DLA, davon

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entfielen 30 auf die Ankündigung von Veranstaltungen, 14 auf den Bereich Literaturvermittlung, zehn auf den Forschungsbereich (Tagungen), sieben auf Erwerbungen, sieben auf institutionelle Meldungen, sechs auf Ausstellungen, drei auf den Bereich ›Arbeitsstelle für Literarische Museen, Archive und Gedenkstätten in Baden-Württemberg‹ (alim) und zwei auf Publikationen; es wurden vier Pressekonferenzen mit insgesamt über 50 Teilnehmer/innen organisiert. Besonders großes Interesse erfuhr weiterhin die Pressemeldung vom 12. Oktober 2017, dass Professor Sandra Richter zum 1. Januar 2019 die Nachfolge des Direktors Ulrich Raulff antreten wird. Die neue Direktorin wurde porträtiert u.  a. in der Stuttgarter Zeitung / den Stuttgarter Nachrichten (»Neue Töne aus den Kellern des Archivs«), der NZZ am Sonntag (»Die Herrin der Bücher«), der Süddeutschen Zeitung (»Labor und Schaufenster« und »Sandra Richter. Neue Chefin des Marbacher Literaturarchivs«) und der Zeit (»Sie soll die Seele der deutschen Literatur digitalisieren«). Frau Richter gab zahlreiche Interviews, u.  a. in der Welt (»Frauen, die Sie kennenlernen sollten«), im NDR Kultur (»Von Raulff zu Richter. Direktorenwechsel am DLA«), der Deutschen Welle, dem Deutschlandfunk Kultur, SWR 1 und Radio Bremen 2. Zum Abschied von Ulrich Raulff als Direktor des DLA erschienen zahlreiche Artikel, u.  a. seine Abschiedsrede in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und eine »Biografie in Büchern« in der Welt. Herr Raulff führte zahlreiche Gespräche mit den ARD-Hörfunksendern, u.  a. im SWR2 »Dichtung und Wahrheit« und im DLF Kultur und SWR2. Große Beachtung in den Medien erfuhr die Ausstellungseröffnung Rilke und Russland im Ostrouchow-Haus in Moskau, nach Marbach und Bern/Zürich die dritte und letzte Station der internationalen von Medien und Publikum gleichermaßen gefeierten Ausstellung. Beim Empfang zur Eröffnung sprachen am 6.  Februar 2018 der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in der Russischen Föderation Rüdiger von Fritsch, der Botschafter der Schweizerischen Eidgenossenschaft in Russland Yves Rossier, der Direktor des Staatlichen Literaturmuseums der Russischen Föderation Dmitri Bak, der Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach Ulrich Raulff, die Direktorin der Schweizerischen Nationalbibliothek Marie-Christine Doffey (Bern) und Thomas Schmidt (DLA). In Moskau wurde eine Pressebesichtigung zur Ausstellung am 7. Februar mit sehr gutem Echo anberaumt; zudem fand eine gemeinsame Pressekonferenz in der Nachrichtenagentur ITAR TASS statt. Berichtet wurde u.  a. in Russia Beyond (TVNowostie), in der Moskauer Deutschen Zeitung und in den Sputnik News. Die große Wechselausstellung Die Erfindung von Paris bildete einen Schwerpunkt im Jahr 2018: Das ganze Jahr war die Ausstellung Thema in den Medien und erfuhr ein ausgezeichnetes Echo auch beim Publikum. Zur Eröffnung am 13.  Juni sprachen  Anne-Marie Descôtes, die Botschafterin der Französischen



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Republik in der Bundesrepublik Deutschland, und der langjährige ARD-Korrespondent in Paris und Publizist Ulrich Wickert. Bereits vorab erschien das Gespräch mit Georges-Arthur Goldschmidt aus dem Katalog zur Ausstellung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Der Ausstellung widmeten sich eine Fülle von Besprechungen, u.  a. in der Badischen Zeitung, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Gießener Allgemeine/Wetterauer Zeitung, der Neuen Zürcher Zeitung, den Nürnberger Nachrichten, der Preußische Allgemeine Zeitung, Die Rheinpfalz, der Stuttgarter Zeitung, der Süddeutschen Zeitung, dem Südkurier, der Südwestpresse, dem Tagesspiegel und Die Welt. Große Beiträge erschienen auch in der ALG Umschau und dem Magazin Dokumente/Documents. Zeitschrift für den dt.-frz. Dialog / Revue du dialogue franco-allemand. Über die Kanäle der Social Media und Weblogs wurde die Ausstellung ebenfalls sehr positiv aufgenommen (u.  a. via Instagram über das BKM), die ARD-Hörfunksender berichteten auch ausführlich. Ein umfangreiches Begleitprogramm zur Ausstellung in Kooperation u.  a. mit dem Institut français Stuttgart und dem Deutsch-Französischen Institut (Ludwigsburg) fanden ein großes Publikum mit begeistertem Echo. Große Aufmerksamkeit galt auch der Ausstellung Thomas Mann in Amerika, die am 22. November mit Frido Mann eröffnet wurde. Es berichteten die Badische Zeitung, die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Rhein-Neckar-Zeitung, die Stuttgarter Zeitung, die Süddeutsche Zeitung und Die Welt. Im Fernsehen gab es größere Beiträge in 3sat Kulturzeit und im Südwestfernsehen in Kunscht!. Frido Mann gab Print, Funk und Fernsehen zahlreiche Interviews über seine Erinnerungen an seinen Großvater Thomas Mann in Verbindung mit der Ausstellungseröffnung. Die Welt druckte einen Auszug aus dem mit Frido Mann geführten Interview für das zur Ausstellung erschienene Marbacher Magazin. Zudem wurden die laufenden Ausstellungen Die Familie. Ein Archiv (bis 29. April) und German fever. Samuel Beckett in Deutschland (bis 14. Oktober) noch vielfach in den Medien besprochen. Pressekonferenzen wurden zu den beiden großen Wechselausstellungen in Marbach (Die Erfindung von Paris mit 15 Teilnehmern; Thomas Mann in Amerika mit zehn Teilnehmern), zur Ausstellungseröffnung in Moskau (ca. 20 Teilnehmer) und zum Auftakt des Hölderlin-Jahres (zehn Teilnehmer) anberaumt. Innerhalb des wissenschaftlichen Programms sind bezüglich der Presseresonanz zwei Tagungen besonders hervorzuheben: Die Tagung »Ereignis und Geschichte. 1968 und die Geschichtsphilosophie« (26./27.  April) erfreute sich eines sehr guten Echos u.  a. in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, H-Soz-Kult und der Süddeutschen Zeitung. Außerdem erfuhr die Tagung »Deutscher Geist in Gefahr. Dichter, Philosophen, Verleger und der NS-Staat« (15./16.  März) besondere Aufmerksamkeit, die u.  a. in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, H-Soz-Kult,

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dem Blog des Leibniz-Zentrums für Literatur- und Kulturforschung (Berlin) und in einem ausführlichen Beitrag in DLF Kultur besprochen wurde. Sehr gute Resonanz fanden zudem zahlreiche Erwerbungen: Besonders gewürdigt wurde in den Medien die spektakuläre Erwerbung von Kafkas Skizze zur Einleitung von Richard und Samuel, der im Herbst eine eigene Veranstaltung gewidmet wurde. Große Aufmerksamkeit fanden außerdem die folgenden Erwerbungen: u.  a. ein Manuskript von Heinrich Böll, der Nachlass von Bernard von Brentano, der Nachlass von Peter Härtling, eine frühen Handschrift von Hermann Hesse und der Teilbibliothek Karl Wolfskehls. Ausführliche Beiträge zum Thema »Handschriften« gab es in der ARD (Titel, Thesen, Temperamente) in der Sendung »Zeichen, Botschaft, Gefühl: Ein Gesang auf die Handschrift« mit einem Interview mit Ulrich von Bülow, in der Zeitschrift Arsprototo. Das Magazin der Kulturstiftung der Länder, außerdem im SWR2 »Literarische Quellen« mit Wortbeiträgen von Ulrich von Bülow, Richard Schumm und Lutz Hagestedt. Die vollständige Erschließung der Bibliothek von Ernst Jünger wurde ebenfalls in den Medien ausführlich gewürdigt. Große mediale Aufmerksamkeit fand auch die Pressemeldung vom 26. März »Deutsches Literaturarchiv in Marbach wird Kulturdenkmal«: Das Landesamt für Denkmalpflege hat das Deutsche Literaturarchiv unter Denkmalschutz gestellt. Dazu fand am »Tag des offenen Denkmals« am 9.  September 2018 eine große Publikumsveranstaltung mit dem Architekten Wolfgang Lauber und Oliver Elser (Deutsches Architekturmuseum) und Führungen durch das Archivgebäude in Marbach statt. Die Schillerrede 2018 Für welche Zukunft sammeln wir? von Isabel Pfeiffer-Poensgen, Ministerin für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, fand ein äußerst positives Echo bei Publikum und Medien. Zur Information und Abstimmung des Hölderlinjahrs 2020 kamen am 23.  November rund 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Kultur, Wissenschaft und Tourismus nach Marbach, um ihre Projekte vorzustellen. Es sprachen Dr. Günter Winands, Amtschef der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Petra Olschoswki, Staatssekretärin im Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg, Professor Ulrich Raulff und der Koordinator von ›Hölderlin 2020‹, Dr.  Thomas Schmidt. Das Jubiläumsjahr wird in Marbach koordiniert, zu dieser Auftaktveranstaltung waren zehn Medienvertreter/innen anwesend. In der KiKA-Reihe »Triff…« wurde im November 2018 eine Folge über Friedrich Schiller gedreht; in Weimar, Marbach und Mannheim trifft die KiKA-Reporterin Clarissa kleine Schiller-Fans (Ausstrahlung am 5. Februar 2019). Eine Preview in Marbach bekam ein begeistertes Echo vonseiten der Marbacher Grundschüler.



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Eine neue Serie von Holger Bäuerle in der Ludwigsburger Kreiszeitung (Spaziergänge durch das Literaturmuseum) stellt in unregelmäßiger Reihenfolge Exponate aus den Museen in ausführlichen Beiträgen vor, so u.  a. im August einen Brief an Erich Kästner und Franz Kafkas Abiturzeugnis; die Reihe wird seither in loser Folge fortgesetzt. Die Pressereferentin besuchte die Buchmessen in Frankfurt und Leipzig und stellte dort das Programm des DLA vor. Sie unternahm Pressereisen nach Berlin, München und Hamburg. Bei den Veranstaltungen in Marbach waren zahlreiche Journalisten zu Gast, sie wurden durch die Einrichtung geführt und führten Gespräche mit dem Direktor und der Pressereferentin. Öffentlichkeitsarbeit: Besonders erfolgreich war die Entwicklung der virtuellen Thomas Mann-Ausstellung (auf Grundlage von Thomas Mann in Amerika im Literaturmuseum der Moderne) in Kooperation mit dem ZDF. In der am 13. Februar 2019 eröffneten »Digitalen Kunsthalle« wird ein virtueller Rundgang angeboten, bei dem Exponate angeschaut und Informationen dazu abgerufen werden können (www.zdf.de/kultur). Eigens dazu wurde mit Thomas Manns Enkel Frido Mann ein Filmdreh in der Thomas Mann-Villa in Pacific Palisades anberaumt; die bewegten Bilder sind per Virtual-Reality-Brille auf der digitalen Plattform des ZDF zu sehen. Anzeigen für die aktuellen Ausstellungen wurden u.  a. in das Magazin der 5plus, arsmondo, Lettre International, Stuttgart für Kinder (Lift), SWR2 Kulturservice-Magazin und Die Zeit gebucht. Flyer wurden dem Merkur, dem Rotary Magazin und dem Magazin der 5plus beigelegt. Eine Anzeige zum Literaturmuseum der Moderne wurde im Merian-Heft »Stuttgart« geschaltet. Plakate wurden für die Ausstellung Die Erfindung von Paris gedruckt. Es gab verschiedene Marketingaktionen, wie zum Beispiel die Kooperation mit der Zeitschrift Brigitte, dem Bonusprogramm für Bahnfahrer »BahnBonus«, dem SWR Kulturservice und die Teilnahme an Freizeitreise mit Gutscheinbuch.de Baden-Württemberg. In Zusammenarbeit mit der Stadt Marbach gab es u.  a. eine Anzeige im Magazin Kultursüden und KUMU (Kultur und Museen in der Region). Interne Kommunikation: Das Referat Kommunikation informierte die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit insgesamt 235 Meldungen über Mitteilungen des Direktors, personelle Veränderungen, Veranstaltungen und wichtige Medientermine laufend.

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SCHRIFTEN, VORTRÄGE UND SEMINARE Schriften

Philip Ajouri: Der Kampf ums Dasein als Metapher der Dynamik im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, in: Metaphorologien der Exploration und Dynamik 1800/1900. Historische Wissenschaftsmetaphern und die Möglichkeiten ihrer Historiographie, hg. von Gunhild Berg, Martina King und Reto Rössler, Hamburg 2018 (Zugleich: Archiv für Begriffsgeschichte 59 [2017]), S.  121–138.  – [FaustRezeption in der] Wissenschaft (1840–1950), in: Faust-Handbuch. Konstellationen  – Diskurse  – Medien, hg. von Carsten Rohde, Thorsten Valk und Mathias Mayer, Stuttgart 2018, S. 383–389. – Faust im Buch. Bibliophile Drucke des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Du bist Faust. Goethe Dramas in der Kunst. Katalog zur Ausstellung in der Kunsthalle, hg. von Roger Diederen und Thorsten Valk, München 2018, S.  248–255.  – Anthologien/Textsammlungen, in: Handbuch Literatur und materielle Kultur, hg. von Susanne Scholz und Ulrike Vedder, Berlin, Boston 2018, S. 380–382. Sonja Arnold: [Hg. mit Stephanie Catani, Anita Gröger, Christoph Jürgensen, Klaus Schenk und Martina Wagner-Egelhaaf] Sich selbst erzählen. Autobiographie – Autofiktion – Autorschaft, Kiel 2018. – [zus. mit Anita Gröger] Figurenentwürfe – Selbstentwürfe. Metagenres. Einführung, in: ebd., S. 117–121. – Literatur in Bewegung. Migrationsprozesse in Literatur und Film – Vorschläge zur Didaktisierung, in: Literatur im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Didaktik. Exemplarische Unterrichtsmodelle für die Hochschule, hg. von Carmen Ulrich, München 2018, S. 11–32. – Von deutsch-brasilianischer Literatur zur Transkultur. Weltliteratur, Exil und Globale Archive, in: Germanistische Mitteilungen 44, 2018, S. 79–94. – [zus. mit Lydia Schmuck und Robert Zwarg] Internationales Archivforschungsprojekt: 1968. Ideenkonflikte in globalen Archiven, in: Passim 21, 2018, S. 5–7. Daniel Berndt: [Hg.] Wiederholung als Widerstand? Zur künstlerischen (Re-)Kontextualisierung historischer Fotografien in Auseinandersetzung mit der Geschichte Palästinas, Bielefeld 2018. – [Hg. zus. mit Lea Hagedorn, Hole Rößler und Ellen Strittmatter] Bildnispolitik der Autorschaft. Visuelle Inszenierungen von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart, Göttingen 2018. – Das Bild als Anfang – Hannah Arendt und die Fotografie im Netz der Beziehungen, in: ebd., S. 389–408. – Bildnispolitik der Autorschaft. Eine Einleitung (mit Lea Hagedorn und Hole Rößler), in: ebd., S. 11–30. – Stufen, in: Die Erfindung von Paris, hg. von Ellen Strittmatter und Susanna Brogi, Marbach a.N.  2018 (Marbacher Katalog 71), S.  337–338.  – Schock und Augenzeugenschaft. Zwei Lichtbildvorträge von Armin T. Wegner und Rabih Mroué, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft XII/1, 2018, S. 71–86. Susanna Brogi: [zus. mit Ellen Strittmatter] Die Erfindung von Paris, Marbach a.N. 2018 (Marbacher Katalog 71). – Transitzone Exil. Kurt Pinthus’ Autorenbiblio-



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thek zwischen bibliophiler Repräsentation und politischer Zeugenschaft, in: Biographien des Buches, hg. von Ulrike Gleixner, Constanze Baum, Jörn Münkner und Hole Rößler, Göttingen 2018, S. 285–310. Ulrich von Bülow: Papierarbeiter. Autoren und ihre Archive, Göttingen 2018. – Das stehende Jetzt. Die Notizbücher von Peter Handke, Marbach a.N. 2018 (Marbacher Magazine 161).  – [Hg. zus. mit Sven Hanuschek und Silke Becker] Erich Kästner, Das Blaue Buch. Geheimes Kriegstagebuch 1941–1945, Zürich 2018.  – [Hg. zus. mit Hellmut Seemann] Intelligenzbad Ahrenshoop. Zeitschrift für Ideengeschichte, Jg. 12, H.  2, 2018.  – Bertolt Brecht, in: ebd., S.  8  f.  – Käthe Miethe, in: ebd., S. 18  f. – Victor Klemperer, in: ebd. S. 20  f. – Franz Fühmann, in: ebd. S.  26  f.  – Günther Weisenborn, in: ebd., S.  30  f.  – [Hg.] Sarah Kirsch, Tagebuch 1965, in: ebd., S.  34–37.  – Ahrenshooper Sommerakademie 1947, in: ebd., S.  38–48.  – »Ich war der jüngste Delegierte«. Interview mit Erhard Scherner, in: ebd., S. 49–55. – Schreiben als Antwort auf die Welt. Das Deutsche Literaturarchiv Marbach erwirbt die Notizbücher des Schriftstellers Peter Handke, in: Arsprototo, H 1, 2018, S.  40–45.  – Sehenlernen. Peter Handkes »Stunde der wahren Empfindung«, in: Die Erfindung von Paris, Marbach a.N. 2018 (Marbacher Kataloge 71), S. 246–247. – »Beim Anblick der Fahnen bekam ich einen Schrecken!« Max Kommerell und seine Verleger, in: Lektürepraxis und Theoriebildung. Zur Aktualität Max Kommerells, hg. von Christoph König, Isolde Schiffermüller, Christian Benne und Gabriella Pelloni, Göttingen 2018, S. 263–278. – Les Carnets de Peter Handke, in: Peter Handke. Analyse du temps. Colloque de Cerisy, hg. von Mireille CalleGruber, Ingrid Holtey und Patricia Oster-Stierle, Paris 2018, S. 33–67. – Aber mich geht’s nichts an. Dargestellte Wirklichkeit im störenden Einschuss: Erich Auerbachs Tagebuch aus dem Revolutionswinter 1918/19 zeigt den Kriegsheimkehrer noch als Unpolitischen im Geiste des von ihm bewunderten Thomas Mann, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. 11. 2018, S. N 3. – Vom Pfaffenteich an den Neckar. Interview mit Monika Degner, in: Schweriner Volkszeitung, 29. 3. 2018, S. 3. Jan Bürger: Nach der Okkupation. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller GeorgesArthur Goldschmidt, in: Die Erfindung von Paris, hg. von Susanna Brogi und Ellen Strittmatter, Marbach a.N. 2018 (Marbacher Katalog 71), S.  114–119. [Vorabdruck in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. 6. 2018]. – Yvan Goll, in: ebd., S. 166  f. – Paul Nizon, in: ebd., S. 188  ff. – Joseph Roth, in: ebd., S. 240  f. – [Hg.] Joseph Roth: Pariser Nächte. Feuilletons und Briefe, München 2018. – [zus. mit Sigrid Löffler und Doren Wohlleben] Geht los. Erzählt. Streifzüge durch Christoph Ransmayrs Werk, in: Text + Kritik X/18, Nr. 220, München 2018, S. 16–28. – »Er war kein Akademiker, er war Künstler«. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Frido Mann über seine Großeltern und ihr Leben am Pazifik, in: Thomas Mann in Amerika, hg. von Ulrich Raulff und Ellen Strittmatter, Marbach a.N. 2018 (Marbacher Magazin 183/184), S. 13–22. [Vorabdruck in Die Welt, 23. 11. 2018] – Deutsches Literaturarchiv, in: ebd., S. 217  f.

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Jan Eike Dunkhase: [zus. mit Wulf D. von Lucius] Kilian Steiner und seine Bibliothek, Marbach a. N. 2018 (Marbacher Magazin 162). – Weltbürgerkrieg und Freundschaft. Ivan Nagels Heidelberger Reminiszenz, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 12 (2018) H. 1, S. 87–100. – Zum Ende des Flanierens. Peter Handkes Notizbuch 001 (1975/76), in: Die Erfindung von Paris, hg. von Susanna Brogi und Ellen Strittmatter, Marbach a.N. 2018 (Marbacher Katalog 71), S. 248  f. – Gründer in dürftiger Zeit. Bernhard Zeller und die Anfänge des Deutschen Literaturarchivs, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 57 (2018), S. 305–314. Gunilla Eschenbach: Friedrich Helbigs Kantatenjahrgang »Auffmunterung zur Andacht« (beide 1720), in: Die Kantate als Katalysator. Zur Karriere eines musikalisch-literarischen Strukturtypus um und nach 1700 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 59), hg. von Wolfgang Hirschmann und Dirk Rose, Berlin und Boston 2018, S.  213–227.  – Briefkommunikation im George-Kreis. Versuch einer Typologie, in: George-Jahrbuch 12 (2018/19), S.  70–78.  – Thomas Mann, Samuel Fischer und der S. Fischer Verlag, in: Thomas Mann Jahrbuch 31 (2018), S. 49–64. Dietrich Hakelberg: Taktile Texte. Karl Kraus und das Israelitische Blindeninstitut Wien-Hohe Warte, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft. Internationales Organ für neuere deutsche Literatur 62, 2018, S. 33–60. Nikola Herweg: Beobachtungen mit Sicherheitsabstand: Typoskriptseite »Paar auf Montmartre« aus dem Konvolut der ›Pariser Kriegsaufzeichnungen‹, in: Die Erfindung von Paris, hg. von Susanna Brogi und Ellen Strittmatter, Marbach a.N. (Marbacher Katalog 71) 2018, S. 206–207. Stefanie Hundehege: Modernizing Fate? Die Ahnfrau and the Grillparzer-Festwoche in Vienna, 1941, in: Austrian Studies 25, 2018, S. 81–97. Dietmar Jaegle: Aldous Huxley, in: Reclams Literaturkalender 2019, Ditzingen 2018, S. 133–138. Caroline Jessen: Der Sammler Karl Wolfskehl, Berlin 2018. – [zus. mit Stefan Höppner, Jörn Münkner und Ulrike Trenkmann] Autorschaft und Bibliothek. Sammlungsstrategien und Schreibverfahren, Göttingen 2018. – Gärten und Katakomben. Die Sammlungen von Karl Wolfskehl, in: ebd., S.  269–296.  – [zus. mit Susanna Brogi] Helen Hessel. »Ein Laden, in dessen Fenstern das Hautnahe aus Nylon lockt«, in: Die Erfindung von Paris, hg. von Susanna Brogi und Ellen Strittmatter, Marbach a.N.  2018 (Marbacher Katalog 71), S.  158–159.  – Helen Hessel. »Erstes Paris (Jules und Jim)«, in: ebd., S. 160  f. – Vom Auffüllen der Kriegslücken. Zur »Rückkehr« von Sammlungen, in: Exilograph, Nr. 27 (2018), S. 8  f. – Karl Wolfskehls romantischer Ernst, in: Grenzüberschreitungen: Interdisziplinäre Studien zur deutschen und deutsch-jüdischen Literatur- und Kulturgeschichte. Festschrift für Mark Gelber, hg. von Vivian Liska, Hans Otto Horch und Stefan Vogt, Wien, Köln und Weimar 2018, S. 205–220.



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Roland S. Kamzelak: [zus. mit Timo Steyer] Digitale Metamorphose. Digital Humanities und Editionswissenschaft (Sonderband der Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften 2), 2018, http://www.zfdg.de/sonderband/2 (24. 1. 2019). – [zus. mit Timo Steyer] Vorwort, in: Digitale Metamorphose. Digital Humanities und Editionswissenschaft (Sonderband der Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften 2), 2018, http://www.zfdg.de/sonderband/2 (24. 1. 2019). – Von der Raupe zum Schmetterling oder Wie fliegen lernen. Editionsphilologie zwischen Infrastruktur und Semantic Web, in: Digitale Metamorphose. Digital Humanities und Editionswissenschaft (Sonderband der Zeitschrift für digitale Geisteswissenschaften 2), 2018, http://www.zfdg.de/sonderband/2 (24. 1. 2019). Anna Kinder: Ereignis und Eigensinn. Wie Silvia Bovenschen über 1968 erzählt, in: Zeitschrift für Ideengeschichte (2018), H. 3, S. 93–108. Melanie Kubitza: Workflows des Projektes Mengenentsäuerung im Deutschen Literaturarchiv, in: O-Bib. Das Offene Bibliotheksjournal, 2018, https://doi.org/ 10.5282/o-bib/2018H1S1-18, (30. 1. 2019). Marcel Lepper: [zus. mit Hans-Harald Müller] Disziplinenentstehung, Disziplinenkonfiguration 1780–1920, Stuttgart 2018 (Beiträge zur Geschichte der Germanistik 8).  – [zus. mit Hendrikje Schauer] Titelpaare. Ein philosophisches und literarisches Wörterbuch, Stuttgart und Weimar 2018.  – Die Historisierung der Avantgarden, in: Avantgarden und Avantgardismus. Programme und Praktiken emphatischer kultureller Innovation, hg. von Andreas Mauz, Ulrich Weber, Magnus Wieland, Göttingen 2018, S. 99 –108. Julia Maas: [Hg.] ›Güter dieses Lebens‹ und andere Prosa, Zürich 2018 (Schweizer Texte, Neue Folge 51). – »Bodenbös«? Der Erzähler Hans Walter und das fragwürdige Erbe, in: ebd., S. 247–284. – [zus. mit Mirko Nottscheid] Der Anfang vom Ende. Ein neu entdeckter Brief von Robert Walser an den Insel Verlag, in: Mitteilungen der Robert Walser-Gesellschaft 25, 2018, S. 22–29. Herman Moens: »Nach Abendbrot reichliches Erbrechen«. Mynonas Diarium 1944/45, in: Crossbreeding. Hybriden-Verlag, Eindhoven 2018, 7 ungezählte Seiten. – [zus. mit Nicolai Riedel] Marbacher Schiller-Bibliographie 2017, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 62, 2018, S. 235–301. Mirko Nottscheid: Max Herrmann als Literaturhistoriker – Die Vorträge in der Berliner Gesellschaft für deutsche Literatur (1890 bis 1936), in: Perspektiven auf Max Herrmann. 100 Jahre »Forschungen zur deutschen Theatergeschichte«, hg. von Stephan Dörschel und Matthias Warstat, Berlin 2018 (Schriften der Gesellschaft für Theatergeschichte 81), S.  107–122.  – »Sudetendeutscher Schicksalskampf« und marxistische Literaturwissenschaft. Zur Laufbahn des Literaturwissenschaftlers Erich Kühne im Nationalsozialismus und in der SBZ/DDR, in: Wilhelm Emrich. Zur Lebensgeschichte eines Geisteswissenschaftlers vor, in und nach der NS-Zeit, hg. von Jörg Schönert, Ralf Klausnitzer und Wilhelm Schernus, Bd.  2:

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1945–1959. Wilhelm Emrichs Modellierungen seiner akademischen Existenz, Stuttgart 2018 (Beiträge zur Geschichte der Germanistik 10), S.  95–136.  – [zus. mit Thorsten Ries] Edition des Briefwechsels zwischen Georg Gottfried Gervinus und Wilhelm Scherer 1869/70. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der mediävistischen Literaturgeschichtsschreibung, in: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 78, H. 1, 2018, S. 102–139. – Zur Herausbildung disziplinärer Praxis. Dargestellt am Beispiel der ersten Literaturhistoriker aus Wilhelm Scherers Schule, in: Interdisziplinarität und Disziplinenkonfiguration. Germanistik 1780–1920, hg. von Marcel Lepper und Hans-Harald Müller, Stuttgart 2018 (Beiträge zur Geschichte der Germanistik 8), S. 87–106. – [zus. mit Julia Maas] Der Anfang vom Ende. Ein neu entdeckter Brief von Robert Walser an den Insel Verlag, in: Mitteilungen der Robert Walser-Gesellschaft 25, 2018, S. 22–29. – Anna Rohr: Dr. Heinrich Spiero (1876–1947). Sein Wirken für die Christen jüdischer Herkunft unter dem NSRegime, Berlin 2015, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 103 (2018), S. 208–211. Ulrich Raulff: [Hg. zus. mit Ellen Strittmatter] Thomas Mann in Amerika, Marbach a.N. 2018 – Farewell to the Horse. A Cultural History, New York 2018. – Adios al Caballo. Historia de una separación, Madrid 2018. – [zus. mit Jost Philipp Klenner] Von großen Tieren und Papieren. Nachrichten aus dem Deutschen Literaturgestüt, Marbach a.N. 2018 (ADA 11). Nicolai Riedel: [zus. mit Herman Moens] Marbacher Schiller-Bibliographie 2017, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 62, 2018, S. 235–301. Thomas Schmidt: [Hg., russ.] Рильке и Россия, Moskau 2018. – [Hg.] Dirk Niefanger: Nicodemus Frischlin aus Balingen, Marbach a.N. 2018 (Spuren 117). – [Hg.] Oliver Kobold: Peter Weiss in Tübingen (Spuren 118). – [Hg., russ.] »Танец мысли сквозь длящуюся форму«. Образы Рильке и России, in: Рильке и Россия, hg. von Thomas Schmidt, Moskau 2018, S. 12–26. – Leibesübungen, in: Das 18. Jahrhundert. Lexikon zur Antikerezeption in Aufklärung und Klassizismus, hg. von Joachim Jacob und Johannes Süßmann, Stuttgart 2018 (Der neue Pauly. Supplemente 13), Sp. 489–495. – Brückenkopf, Herzkammer und Notherberge. Der Breisgau als außergewöhnliche Literaturlandschaft, in: Weggefährten, hg. vom Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald, Coesfeld 2018, S. 84  ff. Lydia Schmuck: »Global Archives« als neues Forschungs- und Erschließungskonzept: ein Projektbericht, in: Kulturinstitute im Horizontwandel: 50  Jahre Arbeitskreis selbständiger Kulturinstitute (AsKI) e.V., hg. von Wolfgang Trautwein und Ulrike Horstenkamp, Bonn 2018, S. 184–195. – Der Nachlass Karlheinz Barck im Deutschen Literaturarchiv Marbach: erste Einblicke, in: Geschichte der Germanistik (2018), S. 167–171. Ellen Strittmatter: [Hg. zus. mit Susanna Brogi] Die Erfindung von Paris, Marbach a.N.  2018.  – [Hg. zus. mit Ulrich Raulff] Thomas Mann in Amerika,



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Marbach a.N. 2018.  – Die Erfindung von Paris. Eine Ausstellung im Literaturmuseum der Moderne Marbach am Neckar, in: ALG Umschau 59 (November 2018), S. 8–11. – [Hg. zus. mit Daniel Berndt, Lea Hagedorn und Hole Rößler] Bildnispolitik der Autorschaft. Visuelle Inszenierungsstrategien von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, Göttingen 2018. – »Corriger la nature. Ich bin für Masken.« Alfred Döblin über Fotos ohne Unterschrift, in: ebd., S. 353–375. Michael Woll: Dann: Dass ich auch vor fünfzig Jahren war [zur Gründung der Hofmannsthal-Gesellschaft 1968], in: Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr.  90, 18. 4. 2018, S. N3. Marc Wurich: »Dort fand ich gegenwärtiges liebreizendes Geschöpf, mit dem ich allen meinen Träumen genügen kann und eine Produktivität entfalte«: Benjamin über einen neu erworbenen Füllfederhalter, Brief an Kracauer vom 5.  Juni 1927, in: Die Erfindung von Paris (Marbacher Katalog 71), S.  143  f.  – »Heimkehr, letzte Heimkehr war meine Reise nach, meine Ankunft in Paris im Oktober 1938«: Notizblock mit Hessels autobiografischem Erzählfragment, in: ebd., S. 151  f. – Asphalt, in: ebd., S. 315. – [Hg. zus. mit Johannes Franzen, Patrick Galke-Janzen und Frauke Janzen] Geschichte der Fiktionalität. Diachrone Perspektiven auf ein kulturelles Konzept, Baden-Baden 2018. – [zus. mit Johannes Franzen, Patrick Galke-Janzen und Frauke Janzen] Geschichte der Fiktionalität. Zur Einleitung, in: ebd., S.  7–18.  – Mögliche Halbwelten. Heteroreferentia­ lität und Diskurshybridisierung in naturalistischen Milieudarstellungen, in: ebd., S. 227–252. Robert Zwarg: Robert Stockhammer: 1967. Pop, Grammatologie und Politik, Paderborn: Wilhelm Fink 2017, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 137, 2018, S. 636–639. – Martin Jay: Reason After its Eclipse. On Late Critical Theory, Madison Wisc.: The University of Wisconsin Press 2016, in: Zeitschrift für philosophische Literatur 6.3, 2018, S. 34–41. – All is malentendu – Beckett an Adorno, 2018, http:// www.literaturarchiv1968.de/content/all-is-malentendu-beckett-an-adorno/ (29. 01. 2019).  – Heinrich Böll, Theodor W. Adorno und Siegfried Unseld, 2018, http://www.literaturarchiv1968.de/content/heinrich-boell-theodor-w-adornound-siegfried-unseld-protestversammlung-zur-notstandsgesetzgebung-am-29mai-1968 / (29. 01. 2019).  – Erstausgabe der Zeitschrift Telos, 2018, http://www. literaturarchiv1968.de/content/erstausgabe-der-zeitschrift-telos/ (29. 01. 2019). Vorträge und Seminare

Philip Ajouri: Weltanschauung im Buch. Ausgaben von Friedrich Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen als Weltanschauungsliteratur (um 1900 – nach 1945), Vortrag im Rahmen der Tagung »Weltanschauung und Textproduktion«, Universität Bonn, 2. 3. 2018.  – Selbstbezüglichkeit in der Poetik

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und der Literatur Christian Krachts, Vortrag im Rahmen der Tagung »Christian Krachts Ästhetik«, Universität Frankfurt, 19. 5. 2018. – Ideengeschichte, Begriffsgeschichte, Problemgeschichte, Seminar an der Universität Stuttgart, Wintersemester 2017/2018.  – Christian Kracht, Seminar an der Universität Stuttgart, Wintersemester 2017/2018. – Goethes Lyrik, Seminar an der Universität Stuttgart, Wintersemester 2017/2018. – Adalbert Stifters Erzählungen, Seminar an der Universität Stuttgart, Wintersemester 2017/2018. – Examenskolloquium, Seminar an der Universität Stuttgart, Wintersemester 2017/2018.  – Vom späten Realismus zur frühen Moderne. Literaturgeschichte 1885–1914, Vorlesung an der Universität Stuttgart, Sommersemester 2018. Jutta Bendt: Moderation der Matinee im Hermann Hesse Museum mit der Übersetzerin Susanne Lange, 59. Stipendiatin der Calwer Hermann-Hesse-Stiftung, Calw, 21. 10. 2018. – Vorstellung des Marbacher Magazins zu Kilian Steiner, Moderation mit Jan Eike Dunkhase und Wulf D. von Lucius, Deutsches Literaturarchiv Marbach, 11. 11. 2018. Daniel Berndt: [zus. mit Barbara Hahn] Träume und Terror. Die Aufzeichnungen der Charlotte Beradt, Vortrag in der Reihe »Zeitkapsel«, Deutsches Literaturarchiv Marbach, 13. 3. 2018. – The Portrait of the Author as Pictorial Authorisation: Hannah Arendt – A Case Study, Vortrag im Rahmen der »Portraiture Conference« Durham University, UK, 13.7–15. 7. 2018.  – Fotografie im kolonialen Kontext, im Archiv: Einblicke, Aussichten, Vortrag im Rahmen des Workshops »Tropenkoller«, Staatsbibliothek Berlin, 18. 7. 2018.  – Konvergenzen in den intermedialen Konzepten von Ian Wallace und Jeff Wall, Vortrag im Rahmen des Symposiums »Die Bedeutung von Jeff Wall heute  – Fotografie als Kunst«, Kunsthalle Mannheim, 25. 7.–26. 7. 2018. – Gelehrte im Film. Filmbiografien und die Darstellung von Intellektuellen im Kino, Seminar im Rahmen der Sommerschule »A (New) Republic of Letters: Intellectual Communities, Global Knowledge Transfer«, Deutsches Literaturarchiv Marbach, 8. 8. 2018. – Einblicke und Perspektivenwechsel – 3D Rendering und Animation in GCC’s »L’air du temps«, Vortrag im Rahmen des Workshops »Kunst nach 1960«, Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München, 21. 11. 2018. – Antlitz der Zeiten. Porträtfotografie in drei Jahrhunderten, Übung an der Universität Stuttgart, Wintersemester 2018/2019. Susanna Brogi: [zus. mit Wolfgang Matz, Ellen Strittmatter und Mirjam Wenzel] »Zuflucht im Labyrinth«. Kracauers und Benjamins Erforschungen von Paris, 20. 9. 2018  – »Signora Imortella!« Else Lasker-Schülers zeitlose Korrespondenz im Deutschen Kunstarchiv, Germanisches Nationalmuseum, 24. 10. 2018. Ulrich von Bülow: Zwischen Sendai und New York. Karl Löwith und der Sinn der Geschichte, Ringvorlesung an der Universität Oldenburg, 22. 1. 2018. – Einführung zum Bense Workshop im DLA, 2. 2. 2018. – Rilke und Tolstoj, Vortrag auf der Konferenz »Kulturtransfer um 1900: Rilke und Russland« in Moskau, 8. 2. 2018. –



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Stefan Zweigs »Ungeduld des Herzens«. Eine Spurensuche im Deutschen Literaturarchiv, Vortrag im Kunstgewerbeverein Frankfurt am Main, 15. 2. 2018.  – Erich Auerbach und seine Bibliothek. Ein Reisebericht, Vortrag auf der Tagung »Erich Auerbach. Philologe der Weltliteratur. Perspektiven und Positionen«, PhilippsUniversität Marburg, 8. 6. 2018.  – [zus. mit Manfred Peter Hein und Theresa Heyer] Dem Tag auf den Fersen – Manfred Peter Hein und sein Lebenswerk, »Zeitkapsel« im DLA, 24. 7. 2018. – »Rauschen, rauschen in der Nacht«. Nelly Sachs im Spiegel neuer Dokumente, Vortrag im Karl-Jaspers-Haus Oldenburg, 6. 8. 2018. – Präsentation der Zeitschrift für Ideengeschichte in Ahrenshoop, 30. 9. 2018. – [zus. mit Hans-Gerd Koch] Thanksgiving. Wie Kafkas ›Skizze zur Einleitung für Richard und Samuel‹ nach Marbach kam, Podiumsgespräch, 7. 10. 2018.  – Quellenkunde, Seminar im Rahmen der Marbacher Sommerschule, 31. 7. 2018. – Archivkunde, Seminar im Rahmen der Russische Doktorandenschulung in Marbach, 8. 11. 2018. – Entziffern, Recherchieren, Kombinieren: Arbeiten im Archiv, Seminar an der Universität Stuttgart, Wintersemester 2018/19. Jan Bürger: [zus. mit Jochen Missfeldt] Sturm und Stille, Gespräch und Lesung, Landesvertretung Schleswig-Holstein, Berlin, 6. 2. 2018.  – [zus. mit Marie Luise Knott und Andreas Tretner] Was Übersetzer hinterlassen, Finissage der Ausstellung »Urbans Orbit. Einblicke in den Nachlass eines Übersetzers«, Literarisches Colloquium, Berlin, 8. 2. 2018. – Hermann Hesses Montagnola-Strategie, Vortrag mit Lesung von Sofia Flesch Baldin, Staatstheater Stuttgart, 26. 3. 2018.  – [zus. mit Thomas Blubacher und Thomas Sparr] Im Schattenreich der wilden Zwanziger. Karl Vollmoellers intime Fotografien, Podiumsgespräch zur von Jan Bürger u.  a. kuratierten Ausstellung vom 19. 6.–15. 7. 2018, Max Liebermann Haus, Berlin, 18. 6. 2018. – [zus. mit Jasmin Behrouzi-Rühl] Im Schattenreich der wilden Zwanziger. Fotografien von Karl Vollmoeller aus dem Nachlass von Ruth Landshoff-Yorck, Historische Villa Metzler des Museums Angewandte Kunst, Frankfurt am Main, 13. 9. 2018. – Das Wissen der Briefe. Wozu sammeln und lesen wir Korrespondenzen von Schriftstellern?, Vortrag im Rahmen des Workshops »Life Stories, Personal Narratives, and Ego-Documents: Problems and Perspectives from German, Central and Eastern European History«, Pembroke College, Cambridge (GB), 22. 9. 2018.  – Das Ungeheuer Zärtlichkeit: Ruth Landshoff als Idol und Autorin im Berlin der zwanziger Jahre, Vortrag im Rahmen der Konferenz der German Studies Association, Pittsburgh (USA), 29. 9. 2018. – Von Städten und Flaneuren. Über Joseph Roth u.  a., Vortrag mit Lesung von Sofia Flesch Baldin, Stadtbibliothek Ludwigsburg im Rahmen der 35. Baden-Württembergischen Literaturtage, 25. 10. 2018. – Qualität?, Impulsvortrag zur Eröffnung des Architekturnovembers 2018, Linden-Museum Stuttgart, 5. 11. 2018. – [zus. mit Gregor Dotzauer, Barbara Wahlster u.  a.] Sendungen Lyrik lesen – Gedichte im Gespräch, Deutschlandradio Kultur 15. 4., 5. 8. und 16. 12. 2018.

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Jan Eike Dunkhase: [zus. mit Ulrich Raulff] Out of the box. Frühe Rauchzeichen der Begriffsgeschichte, »Zeitkapsel« im Rahmen der Tagung »Reinhart Koselleck und die Begriffsgeschichte im 20. Jahrhundert«, Deutsches Literaturarchiv Marbach, 14. 6. 2018. Gunilla Eschenbach: Widerlegung der Deutschen. Wie der Klages-Schüler Wolfgang Olshausen nach 1945 über vor 1945 schrieb, Vortrag auf der Tagung »Deutscher Geist in Gefahr. Dichter, Philosophen, Verleger und der NS-Staat« im Deutschen Literaturarchiv Marbach, 16. 3. 2018. – Kindheit im Werk von Mascha Kaléko, Seminar an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Sommersemester 2018. – Dichter, Mutter, Kind: Kinderlyrik, Seminar an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg, Sommersemester 2018.  – Klassizistische v. erotische Pädagogik im George-Kreis, Vortrag auf der Tagung »Klassizistische Moderne. Stefan George (1868–1933)«, Universität Zürich, 4. 10. 2018.  – »Fack Ju Göthe«. Aversionen des Bildungsbürgertums gegen seine Bildungsbestände 1900/2000, Vortrag an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg, 31. 10. 2018. – »Bildung« in the George Circle and in the early writings of Norbert Elias, Vortrag auf der Internationalen Norbert Elias Conference »Global Interdependencies«, Université Saint-Louis Bruxelles, 7. 12. 2018. Vanessa Greiff: Veranstaltungen im Rahmen des Lehrerclubs: Die Erfindung von Paris. Didaktische Möglichkeiten zur Einbindung der Wechselausstellung in den Unterricht, Museumsgespräch mit Anne Weber, 10. 7. 2018; [zus. mit Dr.  Christian Däufel] E.T.A. Hoffmanns »Der Goldene Topf«. Zeit- und ideengeschichtliche Implikationen eines Schlüsseltextes der Romantik, 20. 9. 2018.  – Einzelveranstaltungen für Lehrer: Einblick in die Arbeit des Deutschen Literaturarchivs Marbach für Studierende der PH Ludwigsburg im Studiengang Kultur- und Medienbildung – Seminar zum Thema Kulturelle Praxis, 22. 5. 2018; Das DLA als außerschulischer Lernort: Einführung für Deutschlehrkräfte des FOS BOS Ingolstadt, 9. 7. 2018; [mit Caroline Jessen] Hermann Hesse: Der Steppenwolf – Der Marbacher Nachlass, Schüler der Johann-Philipp Bronner Schule Wiesloch und Lehrkräfte der Pädagogischen Hochschule Jekaterinburg/Russland, 25. 9. 2018; Einblick in die Arbeit des DLA und Präsentation der Angebote für Schüler und Lehrkräfte für Referendare des Staatlichen Seminars für Didaktik und Lehrerbildung Stuttgart, 20. 7. 2018.  – Veranstaltungen für Schüler: Schreibseminar mit Susanne Hornfeck für Schüler der 8. Klasse des FriedrichSchiller-Gymnasiums Marbach, 11. 6. 2018; Erstellung von Audiobeiträgen in deutscher und französischer Sprache zur Wechselausstellung Die Erfindung von Paris mit Schüler/innen der gymnasialen Oberstufe, Friedrich-SchillerGymnasium Marbach, 15.–26. 6. 2018  – Schülerlesungen: Schülerlesung und Autorengespräch Torte mit Stäbchen, mit Susanne Hornfeck, 11. 6. 2018. – Einzelveranstaltungen für Schüler: Einblick in die Arbeit des Deutschen Literatur-



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archivs Marbach für Schüler/innen des Solitude-Gymnasiums S-Weilimdorf mit Partnerschule aus Venedig, 27. 2. 2018; Einblick in die Arbeit des Deutschen Literaturarchivs Marbach für Schüler/innen des Liceo »Immanuel Kant« Rom, Marbach, 13. 3. 2018; Auf den Spuren einen deutschen Dichters, Führung der Klasse 7a, 8e, 8l des Friedrich-Schiller-Gymnasiums Marbach, 7. 2. 2018, 25. 4. und 13. 6.; Einblick in den Nachlass von Moses Rosenkranz  – Unterstützung einer Filmproduktion, 18. 7. 2018.  – Sonstiges: Paris erzählt! Lesung und Gespräch mit Anne Weber, 10. 7. 2018; Autorenseminar mit Julia Schoch im Rahmen des Preisträgerseminars des Landeswettbewerbs »Deutsche Sprache und Literatur« im Kloster Schöntal,11./12. 7. 2018; Organisation und Durchführung des Berkenkamp Preisträgerseminars des Essay-Landeswettbewerbs NRW, Schreibseminar mit Dagmar Leupold, 24. 9.–27. 9. 2018. Stefanie Hundehege: Zum Konnex Kolonialliteratur und »Drittes Reich«. Kurze Bestandsaufnahme, Vortrag im Rahmen des Workshops »Tropenkoller«, 18. 7. 2018. Dagmar Janson: Fotografieren und Filmen in Museen. Ein Werkstattbericht, Vortrag im Rahmen der Tagung des Arbeitskreises Verwaltungsleitung des Deutschen Museumsbundes in Lübeck, 27./28. 9. 2018. Caroline Jessen: Autorenbibliotheken als »Quelle«, Seminar an der Universität Stuttgart, Wintersemester 2017/2018. – »Lieb’, Leid und Zeit und Ewigkeit«. Two ways of reading Brentano, Vortrag auf dem Workshop »World literature, intellectual history, provenance research: Thomas Mann’s American Library« in Los Angeles (USA), 15. 6. 2018. – Poetics of provenance: Karl Wolfskehl and Romanticism. Vortrag auf der Jahrestagung der German Studies Association (GSA) in Pittsburgh (USA), 29. 9. 2018.  – Die Rekonstruktion der Bibliothek Karl Wolfskehl im Kontext der Münchner Antiquariate, Vortrag auf der Tagung »Münchner jüdische Antiquariate und Kunsthandlungen während und nach der NS-Zeit« im Stadtarchiv München, 19. 7. 2018. – Vom »Auffüllen der Kriegslücken«, Vortrag auf der Tagung »Forschen in Sammlungen. 5 Jahre Forschungsverbund Marbach Weimar Wolfenbüttel. Ergebnisse und Perspektiven« in Schloss Herrenhausen bei Hannover, 18. 9. 2018. – »!?!!« – Annotationen von Karl Wolfskehl, esoterisch/exoterisch, Vortrag auf der Tagung »Randkulturen. Lese- und Gebrauchsspuren in Autorenbibliotheken des 19. und 20. Jahrhunderts« an der ETH Zürich, 16. 11. 2018. – ArchivOrte, Vortrag auf der Festveranstaltung »Archives of German-Jewish Scholarship. Knowledge Transfer and Nation-Building in Mandatory Palestine and Israel« an der Staatsbibliothek zu Berlin, 29. 11. 2018.  – Re-Collections: Max Brod and Prague, Vortrag im Rahmen der Tagung »Max Brod – His Life, Works and Estate« an der National Library of Israel in Jerusalem, 12. 11. 2018. Anna Kinder: Eine Parabolik, zu der der Schlüssel fehlt. Schwierigkeiten des Verstehens bei Kafka, Workshop »Mißverstehen«, Universität Stuttgart,

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12./13. 1. 2018.  – ›An American in the Making‹. Thomas Mann und die Idee der Humanität, Forty-Second Annual Conference, German Studies Association, Pittsburgh, Pennsylvania, 27.–30. 8. 2018. Heinz Werner Kramski: Suche in born-digital-Nachlässen: Das Beispiel Kittler, Vortrag auf dem MWW- / DARIAH-DE-Workshop »Suchtechnologien« in Weimar, 24. 4. 2018. – Persönliche digitale Archive. Wie organisiere ich mein digitales Vermächtnis?, Vortrag in der Stadtbibliothek Stuttgart, 3. 11. 2018.  – Zwischen Bitstream und Werk. Born-digitals aus Vor- und Nachlässen am Deutschen Literaturarchiv Marbach, Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung »Archivpraktiken« an der Universität Paderborn, 13. 11. 2018.  – »You’ve Got to Walk Before You Can Run«. Born Digitals aus (Künstler-)Nachlässen bewältigen, Vortrag auf der Fortbildungstagung »Künstlernachlässe in Bibliotheken und Archiven« in der Kunstbibliothek der Staatlichen Museen zu Berlin, 6. 12. 2018.  – Zwischen Bitstream und Werk. Born-digitals aus Vor- und Nachlässen am Deutschen Literaturarchiv Marbach, Ringvorlesung im Rahmen des Seminars »Digital Humanities – Digitales Wissen«, Universität Stuttgart, 12. 12. 2018. Marcel Lepper: Bücherverbrennung 1933, Seminar, Universität Stuttgart, Sommersemester 2018. – Walter Kempowski: Poetik, Geschichte, Archiv, Seminar, Universität Stuttgart, Wintersemester 2018/19. – Literaturtheorie nach 2001, Leitung der AG1 des Geisteswissenschaftlichen Kollegs der Studienstiftung 2017–2019. Mirko Nottscheid: »Weib und Freundschaft«. Karl Kraus, Frank Wedekind und die »literarische Fackel«. Konstellationen und Konflikte, Gastvortrag, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Deutsches Institut, 1. 2. 2018. Ulrich Raulff: Of Horses and Men, Vortrag an der Bodleian Library Oxford, 17. 3. 2018.  – Das glatte Gegenteil. Max Liebermann, Selbstbildnis 1910, Vortrag in der Kunsthalle Hamburg, 26. 4. 2018.  – [zus. mit Jan Eike Dunkhase] Kosllecks Kiste. Frühe Rauchzeichen der Begriffsgeschichte, Vortrag im DLA Marbach, 14. 6. 2018. – The Great Schism or The ends of the equestrian era, Vortrag im Rahmen der »Equine Cultures in Transition, Internat. Conference« in Leeds, 20. 6. 2018. – What Can Culture Do? An Opening Statement, Vortrag im Rahmen der »Martin Roth Conference« in Berlin, 22. 6. 2018. – Einsamkeit und Freiheit, Vortrag im Rahmen des Deutschen Historikertages Münster, 27. 9. 2018.  – Zweimal sieben Jahre. Zur Eröffnung der Ausstellung Thomas Mann in Amerika, DLA Marbach, 22. 11. 2018. – Letzte Sätze oder Vom Aufhören, Abschiedsvortrag im DLA Marbach, 28. 11. 2018. Ilka Schiele: The libraries of Karl Wolfskehl  – a virtual reconstruction of a writer’s personal collections, Vortrag auf dem BOBCATSSS Symposium 2018: »The Power of Reading. Skills, habits and Communication. Memory institutions. Technological solutions«, Riga, 24–26. 1. 2018. Karin Schmidgall: Spartenübergreifende Zusammenarbeit in der Erschließung, Podiumsdiskussion im Rahmen des 107. Deutschen Bibliothekartag in Berlin,



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15. 6. 2018.  – [zus. mit Arno Barnert] Vom Nutzen vernetzer Werke, Session im Rahmen der »GNDCon« in Frankfurt a.M., 3. 12. 2018. Thomas Schmidt: Ein Präsident für die Literatur, Grußwort zur Eröffnung der Dauerausstellung im Theodor Heuss Museum Brackenheim, 31. 1. 2018.  – Dichter-Gedenken heute: Regionale Gedenkstätten, Literaturmuseum, LiteraturWanderwege, Vortrag im Rahmen des Hauptseminars »Schiller« des Instituts für Germanistik und Komparatistik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen, Marbach, 3. 2. 2018.  – Pasternaks Rilke-Ikone. Zur Eröffnung der Ausstellung »Rilke und Russland«, Deutsche Botschaft Moskau, 6. 2. 2018. – Rilkes Russland. Zur Eröffnung der Ausstellung »Rilke und Russland«, Ostrouchow-Haus Moskau, 7. 2. 2018.  – Die Zukunft des Dichterhauses. Zur Eröffnung der Dauerausstellung »Christian Wagner. Leben und Werk«, Christian-Wagner-Haus Warmbronn, 18. 2. 2018. – Authentische Atmosphären, Vortrag auf dem Kolloquium »Dichtung und Wahrheit. Authentizität und museale Rekonstruktion in Künstlerhäusern und Personengedenkstätten«, Weimar, 27. 2. 2018. – Im Wasser und in Fellbach. Zur Eröffnung der Ausstellung »Mörike elementar«, Stadtmuseum Fellbach, 19. 4. 2018. – Das Literaturnetzwerk Oberschwaben. Ein Blick in die Zukunft, Grußwort zum Auftakt des TRAFO-Programmes »Modelle für Kultur im Wandel«. Eine Initiative der der Kulturstiftung des Bundes, Biberach a.d.R., 18. 6. 2018.  – Ein barockes Dreieck am Oberrhein. Zur Eröffnung der Dauerausstellung »Aus Willstätt nach Europa. Johann Michael Moscherosch – ein Dichter und Gelehrter des 17. Jahrhunderts«, Willstätt, 5. 9. 2018. – Orte für Worte. Die Zukunft unserer Literatur- und Dichterhäuser, Podiumsdiskussion auf der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften und Gedenkstätten (ALG), Konstanz, 6. 9. 2018.  – Buch. Trifft. Zukunft, Podiumsdiskussion im Rahmen des TRAFOProjektes »Literaturnetzwerk Oberschwaben«, Riedlingen, 12. 9. 2018. – Wie stellt man Rilke aus?, Gespräch mit Rainer Stamm auf der Jahrestagung der Internationalen Rilke-Gesellschaft, Bremen, 20. 9. 2018.  – Der »grobe Bettler« und das »Federgeschmeiß«. Wie Friedrich Ludwig Jahn und Heinrich Heine sich gegenseitig beobachten, Vortrag auf dem Symposiums »Kunst  – Sport  – Literatur«, Maulbronn, 19. 10. 2018. – »Meine geheimnisvolle Heimat«. Rilke und Russland, Vortrag in der Stadtbücherei Ravensburg, 23. 10. 2018.  – Gastprofessur an der Beihang Universität Peking (China), 2.–12. 11. 2018 (Seminare zu Goethe und der Eislauf sowie Hölderlins ›Hälfte des Lebens‹, Vortrag zu Marbach als Erinnerungsort) – Kindisch und Barbarisch. Die Dichter des 18.  Jahrhunderts und die olympischen Spiele, Vortrag an der Renmin Universität Peking, 9. 11. 2018.  – Die Gruppe 47. Im Gespräch mit Jörg Magenau, Vorstellung der Spuren-Hefte 115 und 116, Stadtbibliothek Heilbronn, 13. 11. 2018.  – Marina Zwetajewa: Ich schicke meinen Schatten voraus, Gespräch mit Ilma Rakusa und Hanns Zischler, Marbach a.N., 11. 12. 2018.  – Literatur ausstellen am authentischen Ort: Hölderlin in Tübingen,

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Seminar an der Universität des Saarlandes, Sommersemester 2018. – Hölderlin im Tübinger Stift. Vorarbeiten zu einer Ausstellung, Seminar an der Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg, Sommersemester 2018. – Archiv, Museum und Bibliothek als Arbeitsfelder für Germanisten. Theorie, Geschichte, Praxis, Seminar an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Wintersemester 2018/19. Lydia Schmuck: Phantasie und Anarchie: Surrealismus bei Julio Cortázar, Vortrag im Rahmen der Tagung »Ereignis und Geschichte. 1968 und die Geschichtsphilosophie« (Tagung im Rahmen des internationalen Archivforschungsprojekts »1968: Ideenkonflikte in globalen Archiven«), Deutsches Literaturarchiv Marbach, 26./27. 4. 2018. – Una »fiesta feliz del lenguaje« – ¿La playa de Severo Sarduy como escenificación del post-estructuralismo de Roland Barthes y de las ideas del 68?, Vortrag im Rahmen des Symposions »Contribuciones del Sur a la Transformación del Norte: América Latina y el movimiento del 68 en perspectiva global«, Berlin, 17./18. 5. 2018.  – »Anthropophagische Vernunft«. Lateinamerika als Gegenmodell einer eurozentrisch-gedachten Gelehrtenrepublik, Seminar im Rahmen der Internationalen Sommerschule des Forschungsverbunds Marbach Weimar Wolfenbüttel »A (New) Republic of Letters: Intellectual Communities, Global Knowledge Transfer«, Deutsches Literaturarchiv Marbach, 29. 7.–9. 8. 2018. – [zus. mit Sonja Arnold] Globale Archive/Globale Überlieferung: Zwei Initiativen des Deutschen Literaturarchivs Marbach, Vortrag im Rahmen der Tagung »Archive und Museen des Exils. Jahrestagung der Gesellschaft für Exilforschung«, Frankfurt a.M., 14./15. 9. 2018.  – Verlagspolitik und Wissensproduktion: »Deutsche Literatur« im Spiegel des Lateinamerika-Programms des Suhrkamp Verlags, Vortrag im Rahmen der Tagung »Globalgeschichten der deutschen Literatur. Methoden, Ansätze, Probleme«, University of California, Los Angeles, 5./6. 11. 2018. Ellen Strittmatter: [zus. mit Susanna Brogi] ›Zuflucht im Labyrinth‹. Kracauers und Benjamins Erforschungen von Paris, Moderation, Deutsches Literaturarchiv Marbach, 20. 9. 2018. Michael Woll: Le potentiel du ›Divan oriental-occidental‹ pour la poésie du XXe siècle, Vortrag bei der Tagung »Goethe: l’actualité d’un inactuel« im Centre Culturel International de Cerisy, Cerisy-la-Salle, 20.–27. 08. 2018. – Moderne Gedichtzyklen, Seminar, Universität Osnabrück, Wintersemester 2017/18.  – Werke der Weltliteratur, Lesekreis an der Universität Osnabrück, Wintersemester 2017/18. – Heinrich Heines Lyrik im Kontext der europäischen Literatur, Seminar, Universität Osnabrück, Sommersemester 2018.  – Paul Celan und die literarische Tradition, Seminar, Universität Osnabrück, Wintersemester 2018/19. Robert Zwarg: »In a radically bourgoise country like the U.S. …« – On (Critical Theory’s) Tradition, Vortrag im Rahmen des Workshops »Critical Theory Goes Global: Transfers, (Mis-) understandings and Perceptions since 1960«, Humboldt



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Universität zu Berlin, 12. 4. 2018. – Frostbite: Die amerikanische Marx-Rezeption im Kalten Krieg, Vortrag im Rahmen der Konferenz »Karl Marx und der Marxismus«, Bergische Universität Wuppertal, 24. 4. 2018. – Zukunft ohne Vergangenheit. Geschichtsphilosophie der New Left, Vortrag im Rahmen der Konferenz »Ereignis und Geschichte: 1968 und die Geschichtsphilosophie«, Deutsches Literaturarchiv Marbach, 27. 4. 2018. – Kritik. Annäherung an eine Praxis der Gelehrtenrepublik, Seminar im Rahmen der International Summer School »A (New) Republic of Letters?«, Deutsches Literaturarchiv Marbach, 7. 8. 2018.

anschriften der jahrbuch-mitarbeiter Dr.  Gabriele von Bassermann-Jordan, Ludwig-Maximilians-Universität München, Neuere deutsche Literatur, Schellingstraße 3 VG, 80799 München Dr.  Jan Bürger, Deutsches Literaturarchiv, Schillerhöhe 8–10, 71672 Marbach am Neckar Dr. Astrid Dröse, Eberhard Karls Universität Tübingen, Deutsches Seminar, Wilhelm­ str. 50, 72074 Tübingen Dr. Sabine Fischer, Deutsches Literaturarchiv, Schillerhöhe 8–10, 71672 Marbach am Neckar Helene Kraus, Universität Bielefeld, Germanistische Literaturwissenschaft, Universitätsstraße 25, 33615 Bielefeld Prof. em. Dr. Hans-Henrik Krummacher, Am Mainzer Weg 10, 55127 Mainz-Drais Andreas Lugauer, FAU Erlangen-Nürnberg, LS Neuere deutsche Literatur mit historischem Schwerpunkt, Bismarckstr. 1, 91054 Erlangen Prof. Dr.  Dorothea von Mücke, Gebhard Professor of German Language and Literature, Department of Germanic Languages, Columbia University, 414 Hamilton Hall, Mail Code 2814, New York, NY 10027 Isabel Pfeiffer-Poensgen, Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, Völklinger Straße 49, 40221 Düsseldorf Prof. Dr. Ulrich Raulff, Institut für Auslandsbeziehungen (ifa), Charlottenplatz 17, 70173 Stuttgart Prof. Dr. Sandra Richter, Deutsches Literaturarchiv, Schillerhöhe 8–10, 71672 Marbach am Neckar Dr. Nicolai Riedel, Deutsches Literaturarchiv, Schillerhöhe 8–10, 71672 Marbach am Neckar Prof. Dr. Jörg Robert, Eberhard Karls Universität Tübingen, Lehrstuhl für Literaturgeschichte der Frühen Neuzeit, Deutsches Seminar, Wilhelmstr. 50, 72074 Tübingen Sarah Ruppe, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Deutsches Seminar  – Neuere Deutsche Literatur, Platz der Universität 3, 79085 Freiburg Dr.  Jørgen Sneis, Universität Bielefeld, Germanistische Literaturwissenschaft, Universitätsstraße 25, 33615 Bielefeld Prof. Dr. Peter Sprengel, Freie Universität Berlin, Neuere Deutsche Literatur, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin Prof. em. Dr. Michael Stolleis, Waldstr. 15, 61476 Kronberg Dr. Moritz Strohschneider, Ludwig-Maximilians-Universität München, Institut für Deutsche Philologie, Schellingstr. 3, 80799 München Dr. Tilman Venzl, 129 Livingston St #3, New Haven, CT 06511, USA Prof. Dr.  Meike G. Werner, Vanderbilt University, Department of German, Russian and East European Studies, VU Station B #351567 Nashville, Tennessee 37235/USA Lorenz Wesemann, Deutsches Literaturarchiv, Schillerhöhe 8–10, 71672 Marbach am Neckar

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Felix Woywode, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für deutsche Literatur, Unter den Linden 6, 10099 Berlin

zum frontispiz Im Frühjahr 2018 – auf der Auktion der Firma Bassenge vom 18. April – erwarb das Deutsche Literaturarchiv die als Frontispiz abgebildete Handschrift Eduard Mörikes mit einem unbekannten Gelegenheitsgedicht und einer darüber stehenden, ebenfalls unbekannten Zeichnung von seiner Hand. Das Gedicht knüpft parodierend an die Verse 1-4 der fünften Strophe von Goethes Gedicht Der Sänger an; der erste und der vierte Vers Mörikes übernehmen Goethes Verse sogar wörtlich. Um das Gedicht und die Zeichnung eines Kaufmanns in seinem Laden richtig zu verstehen, bedarf es der Klärung einiger Fragen, die der Katalogtext des Auktionshauses nur teilweise und unter Inkaufnahme von Fehlern versucht hat. Als hilfreich erweisen sich dafür die umfassende, gründlich kommentierte Edition von Mörikes Briefen innerhalb der in Marbach erarbeiteten historisch-kritischen Gesamtausgabe seiner Werke und Briefe und eines der vielen biographischen Dokumente, die in dem abschließenden Band Lebenszeugnisse enthalten sein werden. Einen ersten Hinweis liefert Mörikes zweiter Vers mit der Erwähnung der »Fechtin«. Geht man dem Namen im Gesamtregister der Briefbände nach, so wird man auf Band 12 verwiesen und findet dort fünf Briefe aus den Jahren 1836 und 1837 an den Kaufmann August Fecht im nahe bei Cleversulzbach gelegenen Dorf Brettach. Fecht war verheiratet mit Johanna Sophia Kaiser, der »Fechtin«, Urenkelin einer Schwester von Mörikes Großvater (s. Deutsches Geschlechterbuch, Schwaben 9, Anhang Mörike A). Die Briefe handeln – wie auch ein zum selben Konvolut gehörender ungedruckter Brief der Mutter – von einem Darlehen, das Mörike zugunsten seines unzuverlässigen Bruders Adolph bei Fecht hatte aufnehmen müssen und um dessen Verlängerung Mörike wiederholt hat bitten müssen. Die Briefe bieten eine beklemmende Lektüre, zumal Mörike sich im Lauf seines Lebens immer wieder gezwungen sah, zugunsten seiner Brüder Geld aufzunehmen; die Rückzahlung wurde ihm von jenen vielfach nicht leicht gemacht. Fecht starb, nachdem er mehrfach Aufschub der Rückzahlung gewährt hatte, plötzlich auf der Rückreise von einer Badekur am 9. September 1837 in Stuttgart, ohne die Rückzahlung des Darlehens erlebt zu haben. Wie und wann es nach Fechts Tod dazu kam, darüber gibt eine Notiz auf der Rückseite der bisher unbekannten Gedichthandschrift erste Auskunft: »Dieses Kunstwerk hab ich für Dich gemacht während man 126  f. [Gulden] für den HE. V. zusammenpakte um sie nach B. zu senden. Zeigsts natürlich Niemand«. Dass es sich in diesem kurzen Text um die Rückzahlung jenes Darlehens handelt, wann sie geschah, wer der »HE. V.« war, an den sie erfolgte, und wohin sie ging, klärt sich jedoch erst durch einen Eintrag Mörikes in seinem Königlich Württembergischen Kalender für 1839 unter dem 23./24. April: »126  f. an Kaufmann Vogel in

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Brettach bezahlt.« Der Kaufmann Gustav Friedrich Vogel hatte am 1. Juli 1838 in Brettach die Witwe August Fechts geheiratet und führte offenkundig für sie die Geschäfte fort. Mit Hilfe des Kalenders von 1839 lässt sich auch die naheliegende Vermutung bestätigen, dass die in jener Notiz mit »Du« angeredete Empfängerin des Gedichts Mörikes Schwester Klara war: sie verreiste laut Einträgen Mörikes im Kalender am 22. Februar mit dem Bruder Louis nach Stuttgart zum Besuch der dortigen Verwandtschaft und kehrte erst am 4. Mai von dort zurück. Mörike hat ihr in dieser Zeit mehrere Briefe geschrieben, den letzten am 26. April mit einem Hinweis auf den Gesundheitszustand der Mutter und der Bitte um baldige Rückkehr. Diesem Brief dürfte Mörike die Gedichthandschrift beigelegt haben, die offensichtlich deshalb einmal längs und je einmal in der Mitte und am unteren Rand quer gefaltet gewesen ist. Verständlich wird damit auch die Aufforderung – »Zeigsts natürlich Niemand«  – am Ende der Notiz: Sie sollte verhindern, dass Klara Gedicht und Zeichnung der Stuttgarter Verwandtschaft hätte zeigen und damit die Geldsache zum Gegenstand von Familientratsch hätte machen können. Mörike muss, während er zusah, wie das Geld zur schließlichen Tilgung einer ihn lange bedrückenden Schuld zusammengepackt wurde, so erleichtert gewesen sein, dass der Name des nun befriedigten neuen Gläubigers ihm die Anregung zu seinem sogleich ausgeführten »Kunstwerk« gab. Es legt die – Mörike wohl jederzeit präsenten – Verse Goethes, ihren auf materiellen Lohn verzichtenden Sinn ins Gegenteil verkehrend, der über dem Gedicht gezeichneten Gestalt als einer Verkörperung des Kaufmannsstandes in den Mund und zugleich dem neuen Gläubiger namens Vogel, der nun bei der Fechtin wohnt. Die Gröschlein im Seckel und der Käse auf dem Ladentisch des Kaufmanns, der stolz seine »Haften« (Geschäftspapiere über gewährte Darlehen) zählt, stehen in scherzhaftem Gegensatz zu dem von jenem verachteten Dichtervolk. Dieses wird dabei – wie es häufiger bei Mörike, auch im Blick auf das eigene Poetentum, zu finden ist – in ein ironisches Licht gerückt. Die Art der Zitierung zentraler ästhetischer Vokabeln jedoch, wie sie Mörike damals nach intensiver Lektüre der 1837 erschienenen Schrift F. Th. Vischers Über das Erhabene und Komische besonders gegenwärtig sein konnten, verrät die Ahnungslosigkeit des Sprechenden. Wie sehr Mörike die Abhängigkeit von der Gnade seines Gläubigers Fecht über Jahre hin innerlich belastet hat, bekundet eindringlich ein Brief aus dem Jahr 1838 an Mutter und Schwester. Mörike beschreibt darin am 11. November, wie er und sein Bruder Louis für einen mehrwöchigen Aufenthalt in Stuttgart ein geeignetes Privatquartier gefunden haben: Gerade dabei, sich darin einzurichten, erfahren sie im Gespräch mit der Hausbesitzerin, dass in diesem Zimmer und dem darin stehenden Bett im Jahr zuvor der Kaufmann Fecht am Nervenfieber gestorben sei. Zunehmendes Unbehagen erfasst die Brüder: »Wir wogen die Bedenklichkeiten her u. hin, wir wurden einig. Alles sey nur Einbildung und Grillenhaftigkeit,



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deren man aber doch nicht völlig Herr werden würde und ich besonders meinerseits gestand, daß mich die düstere Vorstellung bei jedem Schritt u. Tritt von fern begleiten würde.« Noch am selben Tage geben sie das Quartier auf und machen sich erneut auf die Suche. Mörike schließt den Bericht mit den Sätzen: »Jezt sagt mir aber, ists nicht sonderbar, daß mich die hypochondrischen Geister aus dem Brettachthal sogar bis hieher verfolgen u. unter den vielen 100 Häusern gerade auf diesem Fleck mit mir zusammentreffen müssen! Es war mir neulich schon das Haus [in welchem er früher einmal gewohnt hatte] etwas verdrießl., sofern ich gern eine für mich ganz neue Schwelle angetreten hätte. Nun vollends das! Aber so sollen sie mich nicht tyrannisiren diese Gespenster des eigensinnigen Fatums. Ich will doch sehn, ob ich sie nicht am End noch auslache.« Das ist ihm im Jahr darauf mit der scherzhaft-ironischen Entgegensetzung von Dichtung und Kommerz in dem erst jetzt bekannt gewordenen Gedicht gelungen. Hans-Henrik Krummacher

impressum JAHRBUCH DER DEUTSCHEN SCHILLERGESELLSCHAFT INTERNATIONALES ORGAN FÜR NEUERE DEUTSCHE LITERATUR Das Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft ist ein literaturwissenschaftliches Periodikum, das vorwiegend Beiträge zur deutschsprachigen Literatur von der Aufklärung bis zur Gegenwart veröffentlicht. Diese Fokussierung entspricht den Sammelgebieten des Deutschen Literaturarchivs Marbach, das von der Deutschen Schillergesellschaft e.V. getragen wird. Arbeiten zu Schiller sind besonders willkommen, bilden aber nur einen Teil des Spektrums. Neben den literaturgeschichtlichen Schwerpunkten gilt ein verstärktes Interesse der Geschichte der Germanistik (der sich auch eine Marbacher Arbeitsstelle widmet) und dem Verhältnis von Text und Bild. Darüber hinaus ist es ein Anliegen des Jahrbuchs der Deutschen Schillergesellschaft, wichtige unveröffentlichte Texte und Dokumente aus den Archiven in einer eigens dafür eingerichteten Rubrik vorzustellen. Außerdem bietet das Jahrbuch jährlich eine aktuelle Bibliographie zu Schiller.

Herausgeber Prof. Dr.  Alexander Honold, Universität Basel, Deutsches Seminar, Nadelberg 4, CH-4051 Basel  – Prof. Dr.  Christine Lubkoll, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Department Germanistik und Komparatistik, Bismarckstraße  1 B, 91054 Erlangen  – Prof. Dr. Steffen Martus, Humboldt-Universität zu Berlin, Institut für deutsche Literatur, Unter den Linden 6, 10099 Berlin – Prof. Dr.  Ulrich Raulff, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Schillerhöhe 8–10, Postfach 1162, 71666 Marbach am Neckar – Prof. Dr. Sandra Richter, Deutsches Literaturarchiv Marbach, Schillerhöhe 8–10, Postfach 1162, 71666 Marbach am Neckar.

Redaktion Dr.  Nikola Herweg, Lydia Christine Michel und Magdalena Schanz (unter Mitarbeit von Anne Päpke), Deutsches Literaturarchiv Marbach, Schillerhöhe 8–10, 71672 Marbach am Neckar / Anschrift für Briefpost Postfach 1162, 71666 Marbach am Neckar  /  Tel. +49 7144 848-149  / Fax +49 7144 848-490  / E-Mail jahrbuch@ dla-marbach.de  /  Internet https://www.dla-marbach.de/ueber-uns/traegerverein-dsg/jahrbuch/.



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Allgemeine Hinweise Redaktionsschluss für Jg. 64/2020: 1. Februar 2020 – Das Jahrbuch umfasst in der Regel ca. 500 bis 550 Seiten und erscheint jeweils zum 1. Dezember des laufenden Jahres – Das Jahrbuch ist zum Preis von € 29,95 über den Buchhandel zu beziehen, für Mitglieder der Deutschen Schillergesellschaft e. V. (Postfach 1162, 71666 Marbach am Neckar) ist  – bei entsprechender Mitgliedsvariante  – der Bezugspreis im Mitgliedsbeitrag enthalten.

Hinweise für Manuskript-Einsendungen Auszüge aus dem Merkblatt für die Mitarbeiter des Jahrbuchs der Deutschen Schillergesellschaft (kann bei der Redaktion angefordert werden): In das Jahrbuch werden nur Originalbeiträge aufgenommen, die nicht gleichzeitig anderen Organen des In- oder Auslandes angeboten werden. Für unaufgefordert Eingesandtes kann keine Haftung übernommen werden; eine Rücksendung erfolgt nur, wenn Rückporto beilag. Der Abdruck von Dissertationen oder Teilen von solchen ist grundsätzlich ausgeschlossen. Jeder Verfasser erhält 1 Belegexemplar kostenlos. Das Manuskript ist per E-mail oder CD (Word-Format) einzureichen. Der Umfang des ausgedruckten Manuskripts sollte in der Regel bis zu 25 (maximal 30) Seiten (67.000 bis maximal 81.000 Zeichen) umfassen. Sind Abbildungen gewünscht, sollten die reprofähigen, digitalisierten Vorlagen (300 dpi), die Quellenangaben und Bildunterschriften sowie die Abdruckgenehmigungen bis Ende März in der Redaktion vorliegen (evtl. entstehende Kosten für Sonderwünsche und / oder für Rechte gehen zu Lasten des Beiträgers). Änderungen, vor allem bei Rechtschreibung, Interpunktion, Literaturangaben, Lesarten oder Abkürzungen, behält sich die Redaktion aus Gründen der Einheitlichkeit vor.

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