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German Pages [260] Year 2016
BAUSTEINE ZUR SLAVISCHEN PHILOLOGIE UND KULTURGESCHICHTE NEUE FOLGE Begründet von HANS-BERND HARDER (†) und HANS ROTHE Herausgegeben von DANIEL BUNČIĆ, ROLAND MARTI, PETER THIERGEN, LUDGER UDOLPH und BODO ZELINSKY
Reihe A: SLAVISTISCHE FORSCHUNGEN Begründet von REINHOLD OLESCH (†)
Band 85
Ivan A. Gončarov Neue Beiträge zu Werk und Wirkung
herausgegeben von
Anne Hultsch
2016 BÖH LAU V E R L A G K Ö L N WEIMAR WIEN
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Privatfonds Schulze-Thiergen
Anne Hultsch lehrt Slavistik/Literaturwissenschaft an der TU Dresden.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.
Umschlagabbildung: Grafik|Design Hagen Hultsch, Dresden
© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50579-0
Inhalt Vorwort
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Peter Thiergen
Oblomovka als Anti-Ithaka. Zur Frage des „odysseeischen Menschen“ bei Gončarov .....................
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Son Oblomova. Idylle, Scheinidylle oder Bruchstückidylle? ...............................................................................................
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Appell zum Andersdenken. Bemerkungen zu den Rezeptionspotentialen von Gončarovs Oblomov ......................................................................................................
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Michaela Böhmig
Daniel Schümann
Martin Gaži
Gončarov zwischen Dostoevskij, Wasser und Erde. Aus tschechischer Sicht .................................................. 113
Yvonne Pörzgen
Willensfreiheit versus Oblomovščina
Anne Hultsch
„Bol’še vsego jazykom čelovek prinadležit svoej nacii“. I. A. Gončarov als Sprachpatriot .......................... 159
Alexander Graf
Gončarov und das russische „neue Drama“. Michail Ugarovs Oblom off ......................................................... 183
Angelika Molnár
„Brief an Oblomov“. Ungarische Dichter lesen Gončarovs Oblomov ................................................................... 201
Anne Hultsch
Überblick über deutschsprachige GončarovNeuerscheinungen seit 1994 .................................................... 227
Indizes
Namensindex
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243
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253
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255
Werkindex Autorenverzeichnis
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Vorwort Ivan Aleksandrovič Gončarov (1812–1891) schrieb im Sommer 1860 an die Schwestern Ekaterina A. und Sof’ja A. Nikitenko: „А в Дрездене, согласитесь, живешь летом в душной улице, в трактире, при стуке и треске: можно ли думать о поэзии?“ [Und in Dresden, Sie stimmen mir sicherlich zu, lebt man im Sommer in einer stickigen Straße, in einem Gasthaus, bei Pochen und Krachen: kann man da an Dichtung denken?].1 Ihn hätte sehr gewundert, daß sich im Jahr 2012 dieses – ihm nicht fröhlich erscheinende und ihn langweilende – Dresden als Ort erwies, an dem nicht nur, wie zu seiner Zeit, die Hosen billig und die Kinder zahlreich waren,2 sondern auch als Ort, an dem man vortrefflich allgemein an Dichtung und konkret an den Autor Gončarov denken konnte: Die in diesem Buch versammelten Beiträge gehen mehrheitlich auf ein Panel aus Anlaß des 200. Geburtstages Gončarovs auf dem 11. Deutschen Slavistentag zurück, der im Oktober 2012 in Dresden stattfand. Der Buchtitel, Ivan A. Gončarov. Neue Beiträge zu Werk und Wirkung, versteht sich als bewußter Bezug zu den zwei einzigen bisher vorliegenden Gončarov-Sammelbänden deutscher Provenienz, I. A. Gončarov. Beiträge zu Werk und Wirkung (1989) bzw. Ivan A. Gončarov. Leben, Werk und Wirkung (1994), die beide ebenfalls in den Bausteinen zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte erschienen sind. Die Themenvielfalt der Beiträge sowie die heterogene Zusammensetzung der Beiträger bringt besonders schön zum Ausdruck, daß Gončarov durch sein Werk Slavistengenerationen und Forschungansätze verbindet, wenn er auch sicherlich nicht im Zentrum der gegenwärtigen slavistischen Forschungen steht. Es ist deshalb das Ziel des vorliegenden Buches, der Gončarov-Forschung im 21. Jahrhundert neue Impulse zu verleihen und zu weiteren Gon1
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Gončarov, Ivan Aleksandrovič: Pis’mo Nikitenko E. A. und S. A., 6/18 avgusta 1860. Boulogne-sur-mer. In: ders., Sobranie sočinenij v 8 t. T. 8. Stat’i, zametki, recenzii, avtobiografii, izbrannye pis’ma. M. 1955 (= SS 1955, VIII), S. 345-348, hier: S. 346. Vgl. Gončarov, Ivan Aleksandrovič: Pis’mo I. I. L’chovskomu. Varšava, 25/13 ijunja 1857; Pis’mo A. F. Pisemskomu. 28 avgusta/9 sentjabrja 1859. Bulon’. In: ders., SS 1955, VIII, S. 275-280, hier: S. 278 und ebd., S. 324-326, hier: S. 324; ders., Pis’mo Majkovu A. N., 7/19 sentjabrja 1859 g. Drezden; Pis’mo Majkovoj Ek. P., 9/21 avgusta 1860 g. Bulon’. In: I. A. Gončarov. Novye materialy i issledovanija. M. 2000, S. 364-366, hier: S. 364 und ebd., S. 385-388, hier: S. 386; ders., E. V. Majkovoj. 8/20 maja ‹1859 goda›. In: Demichovskaja, O. A. und E. K. (Hgg.), I. A. Gončarov v krugu sovremennikov. Neizdannaja perepiska. Pskov 1997, S. 325-328, hier: S. 326. Dresden gilt den Statistiken zufolge seit 2008 als ‚Geburtenhauptstadt‘ Deutschlands.
Vorwort
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čarov-Lektüren anzuregen. Trotz eines vergleichsweise kleinen Oeuvres eröffnet Gončarov mit seinem Werk ein weites Spektrum von Möglichkeiten, sich mit ihm fruchtbringend auseinanderzusetzen. Die ersten drei Beiträge sind Gončarovs bekanntestem Roman Oblomov gewidmet. In den Aufsätzen von Peter Thiergen und Michaela Böhmig kommen mit dem Odysseeischen und dem Idyllischen zwei zentrale Themen des Romans bzw. des Romankapitels Son Oblomova [Oblomovs Traum] zur Sprache, die in diesem angelegt sind, aber nicht umgesetzt werden. Die Oszillation zwischen Anlage und Nichtrealisierung, mithin die Thematisierung der NichtReise und der Schein- oder Bruchstückidylle erweitert, wie aus beiden Beiträgen, die den Roman kulturhistorisch kontextualisieren, überzeugend hervorgeht, das semantische Potential des gesamten Romans. Daniel Schümann zeigt auf, wie mannigfaltig die Deutungsmöglichkeiten des Oblomov sind und daß diese seit der Entstehung des Romans bis in unsere Gegenwart zu kontroversen Lektüren geführt haben. Auf den ersten Blick gegensätzliche manifeste Erscheinungen (Oblomov/Štol’c, Bruchstückhaftigkeit/Ganzheitlichkeit, Anti-Bildungsroman/Bildungsroman) erweisen sich beim zweiten Blick als zusammengehörig und hinsichtlich konkreter Personen als wandelbar. Gončarovs Werk aktualisiert sich ständig selbst durch die Spannung, die die Uneindeutigkeiten auslösen, die in ihm versteckt sind. Die folgenden drei Beiträge widmen sich dem Werk Gončarovs unter russosophischem, neurophilosophischem und sprachpatriotischem Vorzeichen. Martin Gaži stellt eine essayistisch gehaltene tschechische Lesart der drei Romane Gončarovs vor, die sowohl deren Rezeption nachzeichnet als auch Vergleiche mit dem Werk Dostoevskijs vornimmt. Es handelt sich bei dem vorliegenden Aufsatz, sieht man von einem kürzeren Beitrag Jiří Hanušs ab,3 um die einzige explizit Gončarov gewidmete Untersuchung, die in den Jahren nach 1989 in Tschechien erschienen ist. Martin Gažis Interpretation zufolge, die dem Motiv der Gewässer in den drei Romanen eine besondere Bedeutung zuschreibt, stellt eindeutig der Roman Obryv [Die Schlucht] wegen seiner Bedeutungsvielfalt das chef d’oeuvre Gončarovs dar. Yvonne Pörzgen untersucht anhand der Romane Olomov und Obryv Gončarovs Determinismus im Kontext des Willensfreiheitsdiskurses, wobei ihr die Determinismuskonzeptionen von Arthur Schopenhauer, Hippolyte Taine, John R. Searle und Gerhard Roth als Ausgangs- und Vergleichspunkt dienen. Ihre Betrachtung zeigt, wie sie auch in ihrem Fazit schreibt, daß „die Anwendung der (neuro-)philosophi3
Hanuš, Jiří: Oblomov. Čistá duše 19. století. In: Kontexty 4 (2012) 4, S. 68-72.
Vorwort
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schen Konzepte auf die Textinterpretation […] zum tieferen Verständnis der Literatur beitragen“ kann. Anne Hultsch wendet sich Gončarovs Verständnis von Sprache, Patriotismus und Nation zu, wie es sich sowohl aus seinen nichtbzw. semifiktionalen Äußerungen (in Fregat „Pallada“ [Die Fregatte „Pallas“], Neobyknovennaja istorija [Eine ungewöhnliche Geschichte], Briefen) als auch aus seinen fiktionalen Werken (Kurzprosa, Romanen) ableiten läßt, um abschließend die Frage beantworten zu können, ob man Gončarov berechtigt als ‚Sprachpatrioten‘ bezeichnen kann. Sein Verantwortungsgefühl gegenüber der eigenen Muttersprache geht Hand in Hand mit der Vorstellung von einer allgemeinen Menschheitsliebe als endgültigem Ziel. Die letzen beiden Beiträge verdeutlichen die Aktualität Gončarovs und die Aktualisierbarkeit seines Romans Oblomov, durch die sich Vertreter anderer literarischer Gattungen zu neuen Werken inspirieren ließen. Alexander Graf stellt Michail Ugarovs Drama Oblom off vor (Premiere 2002), das den Prinzipien des russischen ‚neuen Dramas‘ verpflichtet ist. Ugarov schuf mit Oblom off „ein vergleichsweise zeitloses Drama“, das besonders das Thema der Bruchstückhaftigkeit bzw. Ganzheitlichkeit Oblomovs aufgreift. Ugarov läßt nämlich seinem Oblomov die vernichtende Diagnose „Totus“ stellen, als letzter ganzheitlicher Mensch sei er unweigerlich dem Untergang geweiht. Angelika Molnár schließlich zeigt am Beispiel dreier Gedichte (Levél Oblomovhoz [Brief an Oblomov] von Tamás Falu, 1917; Oblomov álma [Oblomovs Traum] von István Ágh, 1991; Oblomov álma [Oblomovs Traum] von András Petőcz, 2005), daß ungarische Dichter nicht nur die Person Oblomov, sondern vor allem auch die hohe Poetizität des Romans Gončarovs als Inspirationsquelle dient(e). Damit steht abschließend indirekt die Frage im Raum, wie es sich mit der deutschsprachigen Dichtung verhält. Gibt es durch die Lektüre Oblomovs oder anderer Werke Gončarovs ausgelöste Gedichte?4 Peter Thiergen, der sich neben Hans Rothe in besonderem Maße um die Erforschung des Werkes Gončarovs in Deutschland verdient gemacht hat und der Herausgeber der beiden eingangs erwähnten Sammelbände ist, zog 1998 eine kritische Bilanz der Gončarov-Forschung im deutschsprachigen Raum:
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Aus der tschechischen Dichtung sind mir zumindest zwei Texte vertraut, die auf Oblomov bzw. Oblomov rekurrieren: Můj Oblomov – básník [Mein Oblomov – der Dichter] von Antonín Sova (in: Soucit i vzdor. Praha 1894, S. 35-37) sowie die Nummer XXVIII. von Viktor Dyks Marnosti [Vergeblichkeiten] (Praha 1897-1990, S. 44f.), in der Oblomov als slavischer Mensch (slovanský člověk) besungen wird, dessen trauriges Schicksal Millionen gerührt habe (smutný osud milionů dojal).
Vorwort
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Однако положение дел в Германии — как в плане научных исследований, так и в издательской области — оставляет желать много лучшего. […] До 200-летия со дня рождения Гончарова остается 15 лет. Надо надеяться, что гончарововеды немецкоязычных стран смогут отметить празднование этого большого юбилея более радостными итогами, чем сегодня, тем более, что Гончаров во всех отношениях заслуживает этого. Die Lage der Dinge läßt in Deutschland allerdings – sowohl hinsichtlich wissenschaftlicher Abhandlungen als auch der Herausgebertätigkeit – viel zu wünschen übrig. […] Bis zum 200. Geburtstag Gončarovs verbleiben 15 Jahre. Man kann nur hoffen, daß die GončarovForscher aus den deutschsprachigen Ländern die Feier dieses großen Jubiläums mit einer freudigeren Bilanz begehen können als heute, erst recht, weil Gončarov dies in jeder Beziehung verdient hat.5
Der am Abschluß des Buches gewährte Überblick über die deutschsprachigen Gončarov-Neuerscheinungen der letzten zwanzig Jahre soll zeigen, ob bzw. inwiefern sich das Interesse an Gončarovs Werk verändert hat, ob also unsere Jubiläumsbilanz freudiger ausfällt als die anläßlich Gončarovs 185. Geburtstages. Mein Dank gilt allen Autoren – insbesondere Martin Gaži und Angelika Molnár, deren Aufsätze zusätzlich zu den Panel-Vorträgen aufgenommen werden konnten – für die Überlassung ihrer Beiträge, den Herausgebern der Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte für die Aufnahme des Bandes in ihre Reihe sowie ganz besonders Herrn Prof. Dr. Peter Thiergen und dem Privatfonds Schulze-Thiergen für die großzügige Übernahme des Druckkostenzuschusses. Dresden/Prag, im Frühjahr 2016
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Anne Hultsch
Tirgen, Peter: Zamečanija o recepcii Gončarova v nemeckojazyčnych stranach. In: Ždanova, M. B. (Hg.), I. A. Gončarov. Materialy Meždunarodnoj konferencii, posvjaščennoj 185-letiju so dnja roždenija I. A. Gončarova. Ul'janovsk 1998, S. 44-55, hier: S. 49 und 53. Besser stehe es allein um Oblomov als Prätext in der deutschsprachigen Belletristik (ebd., S. 49ff.). Vgl. ders., O recepcii Gončarova v nemeckojazyčnych stranach. In: Russkaja literatura (1998) 2, S. 113-119.
Peter Thiergen Hans Rothe (Bonn) zum 85. Geburtstag Aleksandr S. Januškevič (Tomsk) zum 70. Geburtstag
Oblomovka als Anti-Ithaka Zur Frage des „odysseeischen Menschen“ bei Gončarov Homerum intellegas, cum audieris poetam. (Seneca, Epist. 58, 17) Die Welt ist weit, und eines jeden zu Hause ist klein. (Goethe an Herzog Carl August am 11. Oktober 1781)
Eine bedenkenswerte Maxime der Literaturkritik lautet, literarische Figuren seien nur so groß wie die Widerstände, die sie zu überwinden haben. Wie „groß“ ist Oblomov, den der Erzähler am Ende des „Son Oblomova“ ein infolge Fehlerziehung verkümmertes Hätschelpflänzchen nennt, ein Hätschelpflänzchen, das später nicht einmal „mit mikroskopisch kleinen Lebensausmaßen“ zurechtkommt (IV, S. 971)? In erklärenden Wörterbüchern wird gesagt, das Bild vom „tepličnyj cvetok“ werde verwendet „o chrupkom, iznežennom čeloveke, ne prisposoblennom k žizni (v rezul’tate uslovij vospitanija i byta).“ 2 Früh im Text heißt es von Oblomov: „Die Blüte des Lebens aber entfaltete sich und brachte keine Früchte hervor“ (i ne dal plodov; IV, S. 62). Das kann als Verweis auf das Matthäus-Evangelium verstanden werden. Dort steht: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen [...]. Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte bringen, und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. Jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Darum: an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen (Itak: po plodam ich uznaete ich; Mt 7, 16-20).
Gottes Gerechtigkeit beurteilt den Menschen „nach den Früchten seiner Werke“ (po plodam del ego; Jer 17,10), denn „wer sich recht müht, empfängt herrliche Frucht“ (Weish 3, 15). Für Oblomov aber wird Vegetieren (prozjabat’) und Dahinwelken (uvjadat’) und am Ende „lenivoe perepolzan’e izo dnja v
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Gončarov, I. A.: Oblomov. Roman v četyrech častjach. SPb. 1998 (= PSSiP 1998, IV). Die Band- und Seitenangaben im Text folgen dieser Ausgabe. AN SSSR (Hg.): Slovar’ russkogo jazyka v četyrech tomach. M. 21984, IV, S. 355.
Peter Thiergen
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den’“ [das träge Hinüberkriechen von einem Tag zum anderen; IV, S. 485] mit Absterben und Verlöschen (gasnut’) zum Leitmotiv. Die Schlange im Paradies muß zur Strafe kriechen und Staub fressen (Gen 3, 14). In Oblomovs Wohnung ist alles staubbedeckt. Faulheit ist eine der Todsünden. Man wird gleichwohl streiten können darüber, ob Oblomov nicht doch die eine oder andere ‚Frucht‘ hervorgebracht hat. Für Agaf’jas kleine Welt war er ein Katalysator und Sinngeber. Der Name Agaf’ja Pšenicyna spielt ja ohnehin auf das biblische Weizenkorn (pšeničnoe zerno; Joh 12, 24) an. Für Ol’ga und vor allem für zeitgeistorientierte heutige Leser ist Oblomov eine Mahnung daran, daß es in der Daseinsarena ein Loslassen und ein ‚unschuldig schuldig‘ geben kann, auch wenn damit keineswegs eine generelle Entlastung von Autonomie, Tätigkeitspflicht und Verantwortung gefordert wird. Und eine ‚Frucht‘ ist ja auch, daß Oblomov grundsätzlich erkennt, einem verfehlten Lebensentwurf zu folgen, weshalb seine Gewissensbisse „zum hundertsten Mal“ (IV, S. 248), seine „Reue“ (IV, S. 248), seine „kalten Tränen der Hoffnungslosigkeit“ (IV, S. 474) und seine „Selbstverfluchung“ (proklinal sebja; IV, S. 97) ein weiteres Leitmotiv bilden. Nachträgliche Reue kann mehr Energie verbrauchen als vorausschauende Lastervermeidung. Daß Oblomovs Geschichte moraliter eine Geschichte des Scheiterns ist – weil ‚Loslassen‘ als Lebensprinzip immer auf jemandes Kosten geht – bezweifeln nicht einmal seine sympathie- und also gefühlsgesteuerten Apologeten. Wir wollen im folgenden versuchen, Oblomovs ‚Scheitern‘ vor dem Hintergrund der Odyssee kenntlich zu machen.
Das Jahr 1849: Žukovskijs „russische Odyssee“ Im März 1849 veröffentlichte Gončarov autonym in einem von der Redaktion des Sovremennik herausgegebenen „Literaturnyj sbornik“ den „Son Oblomova“ mit dem Hinweis, der Text sei eine „Episode aus einem unbeendeten Roman“. Der Titel „Son Oblomova“ wurde als einzige Kapitelüberschrift in den späteren Endtext übernommen (Teil I, Kap. 9; IV, S. 98). Kurz zuvor war Gončarovs erster Roman Eine gewöhnliche Geschichte erschienen (Einzelausgabe 1848).3 Gončarov steht am Anfang seiner Laufbahn. Er beginnt zwar mit ‚gewöhnlichen‘ Sujets aus dem russischen Alltag, bringt aber zugleich die The3
Zu diesem vgl. Thiergen, Peter: Nachwort. In: Gontscharow, Iwan A., Eine alltägliche Geschichte. Roman. München 1989, S. 391-406.
Oblomovka als Anti-Ithaka
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matik von Erziehung, Bildung und Lebensbewältigung mit ungewöhnlicher Hellsicht zur Sprache. Eine subtilere und zugleich schonungslosere Anamnese zum (scheiternden) Werdegang eines literarischen Helden als im „Son Oblomova“ hatte es bis dahin in Rußland, auch außerhalb der schönen Literatur, nicht gegeben. Das ‚Böse‘ verfehlter Erziehung als Nichterziehung ist in Rußland, so Gončarov, alltäglich, gewöhnlich und geradezu banal. Zugleich stellt sich die Frage, inwieweit ein ‚böser Alltag‘ durch Fehlerziehung und (Schein-) Idylle einen heranwachsenden Protagonisten entlasten oder zumindest in Teilen exkulpieren kann. Ab wann besteht moralische Pflicht zu Selbstverantwortung und Selbsterziehung (samovospitanie)? Eingebettet ist diese Moralund Bildungsfrage in oppositäre Raster wie Reise – Nichtreise, Aufklärung – Obskurantismus, Ganzheit – Fragment, Europa – Asien. Oder anders formuliert: in die Gegenbildlichkeit von Ithaka vs. Oblomovka. Während Gončarov seine Laufbahn beginnt, krönt ein anderer russischer Autor sein Dichterleben nach eigenem Urteil mit einem „monumentalen Meisterwerk“: einige Monate nach Gončarovs „Son Oblomova“ erscheint V. A. Žukovskijs (1783–1852) lange angekündigte Übersetzung der Odyssee. Diese Übersetzung, nicht der „Son Oblomova“, der von slavophiler Seite scharf kritisiert wurde, war für viele Zeitgenossen, sogar auch außerhalb Rußlands (z. B. Varnhagen von Ense), der literarische Höhepunkt der Saison. Žukovskij hatte die Übersetzung seit 1842 mit Unterbrechungen weitgehend in Deutschland zu Papier gebracht (Düsseldorf, Frankfurt/M., BadenBaden). Ausgangspunkt war nicht das griechische Original (obwohl sich Žukovskij um Grundkenntnisse des Griechischen bemüht hatte), sondern eine Reihe von früheren Übertragungen ins Russische und in westliche Sprachen, darunter ins Englische (A. Pope) und vor allem ins Deutsche (J. H. Voss u. a.). Hinzu kam eine extra für Žukovskij angefertigte deutsche Wort-für-WortVersion (Unterlinearsystem) eines Düsseldorfer Gräzisten namens Karl Grashof (1799–1874).4 Das Hexameter-Metrum wurde beibehalten. Während der Entstehung hatte Žukovskij Teile der Übersetzung verschiedenen Besuchern zur Begutachtung vorgetragen (vor allem Gogol’, aber auch Tjutčev, Chomjakov oder Varnhagen von Ense) und regelmäßig an Briefadressaten über den
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Zu diesen und den folgenden Ausführungen vgl. den informativen Homer-Band in der von Aleksandr S. Januškevič (Tomsk) betreuten neuen Žukovskij-Gesamtausgabe: Žukovskij, V. A.: Perevody iz Gomera. M. 2010 (= PSSiP 6). Zu den von Žukovskij benutzten Übersetzungen und Kommentaren zur Odyssee und zu Grashof ebd., S. 410-418. Siehe auch Vinickij, I. Ju.: Dom tolkovatelja. Poėtičeskaja semantika i istoričeskoe voobraženie V. A. Žukovskogo. M. 2006, S. 235ff. u. ö.
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Peter Thiergen
Fortgang der Arbeit berichtet, darunter der Zarenfamilie (der er über viele Jahre als Hauslehrer verbunden gewesen war) und dem langjährigen Bildungsminister S. S. Uvarov, einem Graekophilen, der selber über Homer publiziert hatte. Schon diese Zusammenhänge zeigen, welchen Rang Žukovskijs Odyssee im damaligen Geistesleben Rußlands einnahm. Für Žukovskij ist Homer „Urahn“ und „Gigant“ der europäischen und damit der Weltliteratur und seine Übertragung zugleich Höhe- und Endpunkt seines eigenen Schaffens. Seine „russische Odyssee“ sollte gar das unvergängliche „Grabmonument“ seines literarischen Dienstes für Rußland sein. Dies auch deshalb, weil er nicht nur völlig zu Recht stolz auf seine dichterische Sprachleistung war, sondern in der Odyssee auch eine Art Erziehungsroman erblickte, der für Rußland Beispielhaftes bereithalten könne. Homers Epen stellten für Žukovskij einfache, aber große Handlungsentwürfe dar, die unverfälschte Wahrheiten und exemplarische Orientierungen für eigene Lebensmuster vermitteln. Žukovskij kritisiert, was er die Seicht- und Falschheit der „heutigen Melancholie“ nennt, und plädiert für das mannhaft-ursprüngliche Naive. Die Oppositionsbildung naiv – melancholisch dürfte auf Schillers Gegensatzpaar „naiv – sentimentalisch“ und vielleicht auch auf Kants oder Hegels scharfe Idyllen- bzw. Arkadien-Kritik zurückgehen.5 Žukovskijs briefliche Äußerungen während der Übersetzungsarbeit richten sich wiederholt gegen das Junge Deutschland und den „verrückten Herwegh samt Konsorten“, gegen neuesten „schmutzigen Egoismus“ und „allzerstörenden Demokratismus“ einer, wie er meint, fehlgeleiteten Jugend. Nach der 1848er Revolution spricht er sogar von „roten Räubern“, „Parlamentsschwätzern“ und „unmoralischer Sinnlichkeit“ (beznravstvennaja čuvstvennost’). Das alles sei meilenweit entfernt von der „ursprünglichen Einfachheit“ (pervobytnaja prostota) Homers und besonders der Odyssee.6 Auch wenn solche Zeitkommentare vorrangig an Mitglieder der Zarenfamilie oder an den Bildungsminister gerichtet sind, zeigen sie doch, daß Žukovskij in Homer nicht zuletzt einen Autor des Einfach-Großen und Moralisch-Aristokratischen sehen wollte. Er hatte dabei die Hoffnung, seine Odyssee-Übersetzung nicht nur als Volksausgabe „für alle“ (dlja vsech čitatelej), sondern auch als (ggf. gekürztes) „vorbildgebendes Lehrbuch“ (obrazovatel’naja kniga) für die russische Jugend
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Zur damaligen Arkadien-Diskussion vgl. Thiergen, Peter: Literarische Arkadienbilder im Rußland des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Heinecke, Berthold/Blanke, Harald (Hgg.), Arkadien und Europa. Haldensleben-Hundisburg 2007, S. 169-193. Vgl. Žukovskij, Perevody iz Gomera 2010, S. 625, 659, 663 u. ö. S. auch ebd. S. 387.
Oblomovka als Anti-Ithaka
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herausbringen zu können.7 Die Odyssee halte gerade für junge Leser eine vortreffliche „sittliche und poetische Nahrung“ (nravstvennaja i poėtičeskaja pišča) bereit.8 Hier könne die Jugend ein Musterbeispiel für die Synthese von klassisch-poetischer Ästhetik und moralisch-erzieherischer Appellkraft entdecken. Uvarov hat den Vorschlag einer „gereinigten“ Fassung mit der Begründung abgelehnt, die russische Jugend könne den „vollständigen Homer“ sehr wohl vertragen.
Erziehungsfrage und Bildungsroman Seit der forcierten Westorientierung durch Peter d. Gr. erhält in Rußland die Erziehungs- und Bildungsfrage einen enormen Bedeutungszuwachs. Fehlende Schulen, Universitäten und Lehrer, flächendeckender Analphabetismus, Aufhebung der Dienstpflicht des Adels 1762 und Fortdauer der Leibeigenschaft bis 1861 machten die Rückständigkeit gegenüber Europa besonders deutlich. Das galt zumal für die Provinzen, und das heißt, für 95% des russischen Landes. Zudem waren Orthodoxie und säkulare Bildungsziele nur in Maßen vereinbar. Aufklärungspostulate hatten es im riesigen Provinzraum Rußlands schwerer als in den eher städtisch geprägten Ländern Westeuropas. Noch im „Son Oblomova“ wird konstatiert, daß die seit dem 18. Jahrhundert und dann von Belinskij und anderen Westlern gepredigte Aufklärungsmaxime „Wissen ist Licht, Nichtwissen aber ist Finsternis“ (učen’e svet, a neučen’e t’ma; S. 139) für Rußland häufig nur ein theoretisches Programm, nicht aber einen Praxisbefund darstellte.9 Die Bewohner von Oblomovka sehen, ebenso wie Oblomov, Schulpflicht und Wissensvermittlung für die Bauern geradezu als schädlich an und eigene Arbeit setzen sie mit „Strafe“ gleich (trud kak nakazanie; IV, S. 61, 121). Die wachsende Öffnung Rußlands Richtung Westen machte diese Defizite immer spürbarer. Schon der hochgebildete und europaerfahrene Antioch Kantemir (1708–1744), russischer Botschafter in London und Paris, hatte in seiner sogenannten Verssatirendichtung für weltlich-ethische Bildungsinhalte plädiert. Seine „Satiren“ sind eigentlich aufklärerische Lehrgedichte, was be7 8 9
Vgl. Žukovskij, Perevody iz Gomera 2010, S. 386, 632ff., 641f. u. ö. Žukovskij, Perevody iz Gomera 2010, S. 669f. Vgl. dazu Thiergen, Peter: Aufrechter Gang und liegendes Sein. Zu einem deutsch-russischen Kontrastbild. München 2010, S. 47 und 58f.
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Peter Thiergen
sonders an dem O vospitanii betitelten Text deutlich wird. Kantemir sieht in Erziehung die „Hauptursache“ (glavnaja pričina) für moralisch gelingendes oder moralisch mißlingendes Handeln und tritt – in Anlehnung an Horaz, Juvenal oder Seneca – für das antike Ideal der „virtus“ (dobrodetel’) und des „vir bonus“ ein.10 Stabile moralische Wertesysteme mit „guten Beispielen“ (dobrye primery) sowohl des Tätigseins (trud) mit Weltoffenheit bis hin zu Reisemobilität als auch einer verständnisvoll-humanen Zuwendung gegenüber dem Zögling seien die wichtigsten Erziehungsgrundlagen. Dabei komme es nicht nur auf einzelne Lehrer, sondern auf den Einfluß der gesamten Umgebung der „obstojatel’stva“ an. In diesen 280 Versen ist in nuce ein Programm entworfen, das als regelrechtes Gegenmodell zum im „Son Oblomova“ demaskierten „oblomovschen Erziehungssystem“ (oblomovskaja sistema vospitanija) gelesen werden kann. Daß aber genau dieses Anti-Oblomovka-Modell in der russischen Provinz nur selten zum Tragen kam, bildet bis zur Oktoberrevolution den roten Faden wiederkehrender (Selbst-)Kritik. Die russische Literatur ist hierfür eines der wichtigsten Diskussionsforen. Alle Klassiker von Puškin, Gogol’ und Čaadaev über Herzen, Belinskij, Turgenev, Dostoevskij, Tolstoj et alii bis hin zu Čechov oder Gor’kij haben sich an diesen Kritikreden beteiligt. Čechov diagnostizierte für Rußland noch in den 1880er Jahren allenthalben „Mangel an Erziehung“ (nevospitannost’) sowie fehlende Bildung und Arbeitsliebe, statt dessen aber Desinteresse und „feistes Schlafrockdasein“ (žirnoe chalatničestvo). Gončarovs Oblomov hält er entsprechend für einen „aufgedunsenen Faulpelz“ von „seichter Natur“.11 Die russische Literatur kennt eher Romane scheiternder oder mindestens unvollendeter Helden als idealtypische Erziehungs- bzw. Bildungsromane à la Wilhelm Meister. Das Genre des klassischen Entwicklungsromans hat in Rußland „kaum Bedeutung erlangt“, so daß sich ein „russischer Sonderweg“ ergab.12 Allerdings ist eine Vorliebe für Doppelromanstrukturen zu erkennen (Evgenij Onegin, Oblomov, Väter und Söhne, Anna Karenina u. a.), die gegensätzliche Lebensentwürfe kontrastieren und in manchen Fällen zu Umkehr-
10 11 12
Vgl. Kantemir, Antioch: Sobranie Stichotvorenij. L. 1956, S. 157-172. Vgl. Thiergen, Aufrechter Gang und liegendes Sein, S. 43. Vgl. Hodel, Robert: Alternativen zum Entwicklungsroman in Rußland. In: Hillmann, Heinz/Hühn, Peter (Hgg.), Der europäische Entwicklungsroman in Europa und Übersee. Literarische Lebensentwürfe der Neuzeit. Darmstadt 2001, S. 153-174, passim. – Ich erlaube mir, auf Definitionsunterschiede zwischen Erziehungs-, Entwicklungs- und Bildungsroman zu verzichten, zumal angesichts der typologischen Nähe Normsetzungen problematisch sind.
Oblomovka als Anti-Ithaka
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biographien des Konversionsromans führen. Organische Entwicklungen hin zu Identität mit sich selbst und mit der Gesellschaft sind gleichwohl absolute Ausnahmen. Anstelle von „Schöne-Seele“-Entwürfen mit Kalokagathie-Idealen à la Winckelmann oder Wieland dominieren Geschichten des Irrtums und Verlustes, der Resignation und Entsagung, des Verfalls und Untergangs bis hin zu Dekadenz und „Entartung“ (vyroždenie). Das Defekte und Bruchstückhafte, das Unbehaust- und Überflüssigsein verdrängt in aller Regel das Gelingende und Ganzheitliche. Von der Arkadien- und Romantikdestruktion Gogol’s über Gončarovs oblomovščina-Schrecken bis hin zu Turgenevs oder Pisemskijs Nihilismus-Anklage, Dostoevkijs oder Tolstojs Gottes- und GeschichtsverlustÄngsten und Saltykovs Familienbankrott-Furor zieht sich die Diagnose problematischer Entwicklungs- und Bildungswege. Nicht Hegel, sondern Schopenhauer war der Lieblingsphilosoph Rußlands. Hegels Befund „was wirklich ist, das ist vernünftig“ fand kaum je Zustimmung.13 Aus Zweifel und Illusionsverlust resultierte jener Hang zum Fragen und Infragestellen (Wer ist schuld? Was tun? Was ist Wahrheit? Wann wird kommen der Tag? usf.), der noch Lenins Revolutionsimpetus beflügelte. Warum wird der russische Roman des 19. Jahrhunderts von so viel skeptischer Menschen- und Gesellschaftssicht beherrscht? Zu den überzeugendsten Erklärungen gehört das Fehlen (oder die Unentwickeltheit) von Aufklärung und Bürgertum, von Individualitäts- und Aufstiegsdenken. Dem entsprach Mangel an Philosophietradition, Rechtsempfinden und Wirtschaftsverständnis. Die Hoffnung auf das Gute, Wahre, Schöne erhielt kaum je wirkliche Chancen, zu einer Konsensgrundlage zu werden. Solche Skepsis war kein günstiger Nährboden für harmonische Entwicklungsromane und selbstbewußte Autobiographien. Das Mißtrauen gegen alles Faustische, Odysseeische, Titanische saß tief. Diese (zunächst berechtigte) Aversion gegen das ‚Übermenschenhafte‘ führte allerdings nicht selten zu dem Fehlschluß, es müsse generell das Tüchtige, Ausgreifende, Fortschrittsorientierte und Selbstverwirklichende unter Verdacht gestellt werden. Man schüttete das Kind mit dem Bade aus, was noch an der heutigen Denunziationslust gegenüber Gončarovs Andrej Štol’c sichtbar wird. Der Schopenhauerianer Afanasij Fet formulierte 1880 als Goethe-Kontrafaktur: „Das Gute such ich stets, doch find ich nur das Böse“.14 13
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Vgl. dazu Thiergen, Peter: Deutsche Anstöße der frühen russischen Nihilismus-Diskussion des 19. Jahrhunderts. Paderborn 2008, S. 35f. u. ö., sowie ders., Schopenhauer in Rußland. Grundzüge der Rezeption und Forschungsaufgaben. In: Schopenhauer-Jahrbuch 85 (2004), S. 131-166. Vgl. Thiergen, Deutsche Anstöße der frühen russischen Nihilismus-Diskussion 2008, S. 9 und 35.
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Dieser Vers kann als Motto für viele russische Autoren gelesen werden. Sie waren, gemessen an der Mustergültigkeit des westlichen und vor allem deutschen Entwicklungsromans, ‚Erziehungsdichter ohne Bildungsroman‘. Das kann man auch an der verspäteten Forschung zum Thema ablesen, die selbst in russischen oder englischen Publikationen mit dem deutschen Gattungsbegriff „Bildungsroman“ operiert.15
„Odysseeischer Held“ und Homo viator Das griechische Maskulinum „nóstos“ bedeutet Reise, Rückreise, Heimreise (return home). Zum Trojamythos entstand, wohl im 7. Jahrhundert, ein epischer Heimkehrzyklus „Nostoi“. Nostalgie heißt heute so viel wie Sehnsucht nach Vergangenem, Heimweh, melancholische Rückbesinnung. Mit der Odyssee beginnt die europäische Literatur als Reise- und Heimkehrliteratur. Sie schafft das Grundmuster, welches gefahrvolles Unterwegssein mit dem Dreiklang Ausfahrt, Suche, Rückkehr als Bild für gelingende Lebensfahrt etabliert. Dieses Schema hatte schon die Argonautenüberlieferung zugrunde gelegt, die mit der Durchfahrt durch die Dardanellen und den extrem gefährlichen Bosporus ein besonders markantes Beispiel für den Konnex von Risiko und Belohnung bietet. Das Meistern der äußerlich-geographischen Hindernisreise wird durch Initiation und Individuation zum Nachweis erfolgreich bestandener Charakterprobe. Im letztlich beherrschten Wechselspiel zentrifugaler und zentripetaler, offensiver und defensiver, grenzüberschreitender und grenzziehender Kräfte entsteht die starke Persönlichkeit. Der Archäologe Bernard Andreae hat in seinen Studien zur Odysseusgestalt in der antiken Kunst mit Nachdruck formuliert, Odysseus sei als „Prototyp des europäischen Menschen“ ein „Inbegriffbild“ für Autonomie, Selbstbewußtsein, Tatkraft und Klugheit.16 Diese „exemplarische Persönlichkeit“ stehe im positiven Sinn für Energie, Kühnheit und Wissensdrang.17 Horkheimer und Adorno hatten zuvor in der Dialektik der Aufklärung in einem längeren 15
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Vgl. Krasnoščekova, E. A.: Roman vospitanija – Bildungsroman – na russkoj počve. SPb. 2008, oder Steiner, Lina: For Humanity’s Sake. The Bildungsroman in Russian Culture. Toronto 2011 [ohne Beachtung Gončarovs!]. – Als Einführung in die Gattung vgl. Selbmann, Rolf (Hg.): Zur Geschichte des deutschen Bildungsromans. Darmstadt 1988. Andreae, Bernard: Odysseus. Archäologie des europäischen Menschenbildes. Frankfurt a. M. 1982, S. 12ff. Andreae, Bernard: Odysseus. Mythos und Erinnerung. Mainz 1999, S. 17.
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Exkurskapitel mit dem Titel „Odysseus oder Mythos und Aufklärung“ geschrieben, Homer liefere einen „Grundtext der europäischen Zivilisation“, bei ihm zeige sich früh das „bürgerlich aufklärerische Element“ Europas mit „antimythologischen“ Ansätzen. Der „Weltreisende“ Odysseus, der „sich einschifft“, verkörpere mit seiner subjektiven doch klugen Rationalität, mit seiner Selbstbeherrschung (die Sirenen-Episode), Verteidigung des Eigentums und seiner Ablehnung des dumpfen Dahinvegetierens die „Leistung der ordnenden Vernunft“.18 Ein reisender Held freilich, der verschlagen werde, dürfe in Homers System auch gelegentlich verschlagen sein.19 Auch Andreae hatte auf gewisse Ambivalenzen im Bild des „listenreichen“ Odysseus hingewiesen. Der Typus des „europäischen Menschen“ entsteht aus der nautischen Welt-Er-Fahrung der alten Griechen, die „travelling heroes“ waren.20 Sie vollbrachten eine Pionierleistung der Erkundung, Kolonisation und Kulturbildung, die aus der Kombination von Mythos und Realgeschichte zum Kernmodell der navigatio vitae wurde. Die Odyssee ist einer ihrer Grundtexte und wahrscheinlich der wichtigste.21 Konkrete Exploration und fiktive Ausgestaltung derselben ergaben einen der wirkungsvollsten Lehrtexte der Weltliteratur. Die Ilias hatte zuvor das thymotische Prinzip des „heroischen Zorns“ als „Europas erstes Wort“ vorangestellt.22 Europas Literatur beginnt neben dem Reisemodell mit dem elementaren Konfliktstoff von Krieg und Frieden in einem Urmaß, das von ‚schmerzfreier Idylle‘ und ‚pazifistischer Benommenheit‘ meilenweit entfernt ist. Sloterdijk spricht von einem „glücklichen Bellizismus“ der homerischen Welt, der uns – notwendiger- und dankenswerterweise? – völlig fremd geworden ist.23 Die Odyssee ist weniger martialisch als die Ilias, gleichwohl aber kennt sie thymotische Momente (der Freiermord z. B.). Oblomovs „heiliger Zorn“ hingegen ist zu einer bloßen Ohrfeige verkümmert (S. 445), was seinem „Mauselochdasein“ mit Minimierungszwängen entspricht. Das marastische Oblomovka und Oblomov bringen weder achilleischen Thymòs noch odysseeischen 18
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Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a. M. 152004, S. 50-87. Vgl. Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung 2004, S. 71. Vgl. Fox, Robin L.: Reisende Helden. Die Anfänge der griechischen Kultur im homerischen Zeitalter [Aus d. Engl. von Susanne Held]. Stuttgart 2011. Vgl. u. a. Malkin, Irad: The Returns of Odysseus. Colonization and Ethnicity. Berkeley 1998. Vgl. Sloterdijk, Peter: Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch. Frankfurt a. M. 2006, Einleitung S. 9ff. Sloterdijk, Zorn und Zeit 2006, S. 12ff.
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Navigationstrieb hervor. Das binnenländische Oblomovka ist kein insulares Ithaka. Die Oblomover begegnen, wie schon oben angesprochen, der AufklärungsMaxime „Učen’e svet, a neučen’e t’ma“ mit Unverständnis. Gončarov hat diese Maxime in Kursivdruck gesetzt!! (IV, S. 139). Oblomovka mißtraut jeder Form von Mündigkeit, Evasion und Modernisierung. Stattdessen dominieren die Statik herkömmlicher Normen, Aberglauben, Fremdenfeindlichkeit und Gewohnheitsdiktat, Leibeigenschaft inbegriffen. Zur Aufklärung aber gehören das Autonome und Ausgreifende mit Veränderungslust, bis hin zu Reise und Wanderung auf See und im Hochgebirge, aufkommender Ballonfahrt und kosmopolitischen Orientierungen des homo mundanus mit Menschenrechtsidealen und enzyklopädischem Wissen. Neue Fächer wie Universalgeschichte und naturwissenschaftliche Anthropologie beanspruchen Gehör. Interessen, Biographien und Sozialstruktur verändern sich. Hölderlins odisches Gedicht Lebenslauf schließt mit den Versen Alles prüfe der Mensch, sagen die Himmlischen, Daß er, kräftig genährt, danken für alles lern, Und verstehe die Freiheit, Aufzubrechen, wohin er will.
Diese Freiheit des Aufbruchs, die einen Verstehens-Appell an Selbstverantwortung enthält, hat wenig zu tun mit den heteronomen viator-Mustern des büßenden Pilgers oder Kreuzfahrers oder auch des Ahasver-Bildes. Der säkulare mundanus hat andere Triebfedern und Ziele. Radiščevs Putešestvie von 1790 trägt als Motto einen Vers aus V. K. Trediakovskijs odysseeischer Tilemachida (1766), einer russischen Übersetzung von Fénelons aufklärerischem Bildungsroman Les aventures de Télémaque (um 1700). Fénelon wie Radiščev mußten für ihre Texte staatliche Repressionen hinnehmen. Die Oblomover lesen weder Fénelon noch Diderot (der immerhin in Rußland gewesen war) oder Radiščev, sondern – wenn überhaupt – Cheraskovs Rossijada (IV, S. 136). Der Name Radiščev ist für sie und in Gončarovs Ironiesystem nur ein Briefschreiber, der um ein „Bierrezept“ bittet!!! Ob dieser Bittsteller jemals das Rezept erhalten hat, ist „unbekannt“ (IV, S. 135f.). Und das, obwohl „Küche und Essen [...] die erste und wichtigste Lebenssorge“ in Oblomovka sind (IV, S. 110). Nackter Materialismus hat nichts mit Aufklärung und „ordnender Vernunft“ odysseeischer Welterschließung zu tun. Wie schnell „honigsüße“ Verführung zu Phagomanie und Pflichtvergessenheit führen kann, hat Homer in der Lotophagen-Episode der Odyssee gezeigt (IX, 79ff.): im Genuß des „vkusnyj lotos“ der „mirnych lotofagov“ (Žukovskij) sind die Gefährten des
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Odysseus allzu schnell bereit, angesichts der Verlockungen eines „friedlichen Winkels“ (mirnyj ugolok) auf Heimkehr und Heimatsuche zu verzichten. Für Oblomov wird der „mirnyj ugolok“ in Oblomovka (IV, S. 99) und bei Agaf’ja zur verhängnisvollen Dominante. Sedentarität und Obesität führen nicht zu odysseeischem Weltverständnis.
Fabula docet Zu den typischen Literaturgattungen der Aufklärung gehören der Entwicklungsroman, das bürgerliche Drama, die (nicht-hagiographische) Autobiographie und die Fabeldichtung. An letztere erinnert das Finale des Oblomov, welches Gončarov zu einem nochmaligen expliziten Belehrungsbekenntnis nutzt. Štol’c bezeichnet gegenüber dem „literator“ als Ursache für Oblomovs Untergang – sozusagen als abschließenden Befund – die dem Leser seit dem 4. Kapitel des II. Romanteils bekannte „Oblomoverei“. Danach lauten die Schlußsätze des Romans: Oblomoverei! – wiederholte der Literator mit Erstaunen. – Was ist denn das? - Ich werd’s dir sogleich erzählen: laß mich nur meine Gedanken und Erinnerungen sammeln. Und du schreib’s auf: vielleicht wird es irgendjemandem nützen (možet byt’, komu-nibud’ prigoditsja). Und er erzählte ihm, was hier geschrieben steht (IV, S. 493).
Gončarov präsentiert wie üblich nicht nur eingängig-kalkulierte Fabulierlust, sondern ebenso die mahnende Konklusion des fabula docet. Suggestive Poesie und nüchterne Belehrungsprosa gehen Hand in Hand, gemäß der horazischen Kombination von Erfreuendem (delectare) und Nützlichem (prodesse; Ars poet. 333f.), die im russischen Klassizismus als „poleznoe uveselenie“ auftaucht. Gogol’ hatte sich über die Nützlichkeitsforderung am Schluß der Nase lustig gemacht,24 Gončarov kehrt zum Ernstnehmen zurück. Das fabula docet-Schema kann hier in verschiedener Weise nutzbar gemacht werden. Zum Leitmotivsystem des Oblomov gehört u. a. die rekurrente Bildlichkeit des Flusses und Fließens, des Ufers und der ozeanischen Weite, der Versumpfung und Austrocknung. Wanderung, Bergsteigen und Schiffsreise sind Initiationsbilder für Erwachsenwerden und Persönlichkeitsreifung. Oblomov fürchtet – im Unterschied zu Štol’c und Ol’ga – nichts so sehr wie
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Vgl. Gogol’, N. V.: PSS. M. 1938, III, S. 75. – Zur Zeitschrift Poleznoe uveselenie (1760– 1762, Moskau) vgl. Russkaja periodičeskaja pečat’ (1702–1894). M. 1959, S. 27. Ähnliche Titel auch ebd., S. 37, 93 u. ö.
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die Weite des Wassers und die Höhe der Berge. Diese traditionellen Naturbilder des Erhabenen sind ihm, wie allen Oblomovka-Bewohnern, Bilder aus der Nähe des Grauens. Oblomov will nicht „Gladiator“ in der „Arena“, sondern „Zuschauer“ am „Ufer des Lebensstromes“ sein (IV, S. 474). Während das Leben bei Agaf’ja mit einer „sukzessiven Schlammablagerung“ (postepennaja osadka ila; IV, S. 377) verglichen wird, gilt für Štol’c und Ol’ga die Gleichsetzung von einem „weit ausströmenden Fluß“ (razliv širokoj reki) mit dem „Über-Fluß des Lebens“ (razliv žizni) (IV, S. 423). Beider Leben vereinigen sich am Ende zu einem „gemeinsamen Flußlauf“ (IV, S. 452). Bei Ivan Krylov (1769?–1844) gibt es eine Fabel mit dem Titel Prud i reka (Der Teich und der Fluß). Der Teich preist sein Dasein als stehendes bzw. liegendes Gewässer (leža v nege, i v pokoe), verachtet alles irdische Getriebensein zwischen Handel und Wandel und gibt sich ebenso bewegungs- wie sorglos pseudophilosophischen Tagträumen hin. Am Ende aber versumpft und vertrocknet er und ist zur ‚Leerstelle‘ geworden. Der Fluß hingegen sorgt in erfüllter Bewegung für Frische und Klarheit, für Dauer, Fortschritt und Ruhm: „Ona tečet ponyne“. Damit die rational-plakative Wirkungsästhetik der Aufklärung nicht verfehlt wird, lautet der Schluß: Tak darovanie bez pol’zy svetu vjanet, Slabeja vsjakij den’, Kogda im ovladeet len’ I oživljat’ ego dejatel’nost’ ne stanet.25 So welkt Begabung ohne Nutzen für die Welt dahin, Tagtäglich schwächer werdend, Sobald sie wird beherrscht von träger Faulheit, Und Tätigkeit sie nicht mehr wird beleben.26
Krylovs Fabel faßt in fünfzig Versen zusammen, wofür Gončarov fünfhundert Seiten gebraucht hat. Mit Bedacht freilich läßt Gončarov – als autobiographische Reminiszenz, zu der auch Äsop gehört – den jungen Andrej Štol’c Krylovs Fabeln auswendig lernen und die Tilemachida studieren (S. 152)! Die Bildbereiche istočnik, rečka/ručej/reka, struja, potok, prud, fontan usf. sind fester Bestandteil auch der russischen Fabeldichtung. In der Regel wird
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Krylov, I. A. : Basni. M./L. 1956, S. 105. Übersetzung von mir, P. T. Rudolf Bächtold (Krylow, Iwan A.: Sämtliche Fabeln. Zürich 1960, S. 126) übersetzt folgendermaßen: „So wird auch die Begabung welken und verschwinden, / ganz nutzlos für die Welt, / sobald der Trägheit sie verfällt, / statt mit der Tätigkeit stets neu sich zu verbünden.“ Das ist in Reim und Metrum näher am Original, in der Wortwahl etwas freier.
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das Flußbild mit Mobilität, Fruchtbarkeit, Freiheit und „Nutzen für die Gesellschaft“ gleichgesetzt.27 Der „lenivyj prud“ als Tümpel hingegen versinnbildlicht mit seinen Sumpfpflanzen (tina) einen Verfallsprozeß bis hin zu Überwuchertwerden und Stillstand. Sein trübes und also ‚obskures‘ Wasser ist gleichsam licht- und aufklärungsscheu.28 Es gibt aber auch Warnungen anderer Art. Ein nicht gezähmter Strom kann Häuser zerstören und zu weit getriebene Meeresfahrt kann ein Menetekel für gescheiterte „Seelenruhe“ (pokoj duši) und für Hybrisglauben an die „slepaja Fortuna“ sein, welcher das „rechte Maß“ (umerennost’) verfehlt.29 Es geht um das alte Horaz-Motiv des „procul negotiis“ (Epod. II, 1): Neben der Notwendigkeit des – manchmal erfüllenden, manchmal bloß geschäftigen – negotium steht das Recht auf otium, wenn möglich als otium cum dignitate. Die alten Römer hatten Rückzugsorte, die man heute „Otiumvillen“ nennt (M. Tombrägel). In moralischer Hinsicht hat freilich jedes otium ein neg-otium zur Voraussetzung. Gončarov kannte den „Beatus ille“-Vers, er zitiert ihn u. a. in der Gewöhnlichen Geschichte (S. 366).30 Auch die Odyssee hat in die Fabelliteratur Eingang gefunden. In einem auffallend langen Text La Fontaines wird Odysseus als exemplarischer Held beschrieben, der Klugheit, Maß und Durchhaltevermögen besitzt. Mit diesen Vernunfttugenden unterscheidet er sich von seinen Gefährten, die in ihrer vernunftwidrigen Blindheit für die Majorität der Menschen stehen. Odysseus aber erscheint als exemplum virtutis. Auf Odysseus-Fabeln soll an anderer Stelle eingegangen werden. Fabelliteratur ist Erziehungsliteratur. In einer Fabel von Äsop findet sich die Formel „pathémata – mathémata“: Leiden sind Lehren bzw. Leiden bringt Erkenntnis. Bei Aischylos erscheint das als „páthei máthos“: durch Leiden lernen. Gončarovs Gewöhnliche Geschichte läßt im Schlußkapitel vor dem Epilog den einst idealistisch-romantischen Träumer Aleksandr Aduev zu der Erkenntnis kommen, daß „Leiden die Seele reinigen“ (stradanija očiščajut dušu) und „den Menschen erhöhen“ (vozvyšajut ego). Wer das Leiden nicht kenne, sei „nicht der ganzen Fülle des Lebens teilhaftig“. Nur „ständiger Kampf“ und „ewiges Vorwärtsstreben“ (stremit’sja vpered), nicht aber „verschlafene Stagna27
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Vgl. Stepanov, V. P. (Hg.): Russkaja basnja. M. 1986, S. 99f. (M. M. Cheraskov) und 325 (F. N. Glinka). Vgl. Russkaja basnja, S. 323 (F. N. Glinka). Rezeptionsgeschichtlich vgl. Tarkovskij, R. B./ Tarkovskaja, L. R.: Ėzop na Rusi. SPb. 2005. Russkaja basnja, S. 196 (G. R. Deržavin) und 219ff. (I. I. Dmitriev). Gončarov, I. A.: Obyknovennaja istorija. Roman v dvuch častjach. In: PSSiP 1997, I, S. 172469. Die Band- und Seitenangaben im Text folgen dieser Ausgabe.
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tion“ (zastoj, son) seien Ausdruck erfüllten Daseins (I, S. 450). Oblomovs ‚Leidens-Tränen‘ verweisen zwar auf sein theoretisches Wissen um sein Ungenügen, führen aber nicht zu konkretem Änderungshandeln. Das ist anders bei Ol’ga und Štol’c. Ol’gas Leiden wird von Štol’c als Folge des (zu) hochstrebenden „Prometheusfeuers“ eingeordnet, dem er mit Nachdruck und zu Ol’gas Nutzen Grenzen setzt. Wer zu viel will, setzt sich dem „obščij nedug čelovečestva“ aus (IV, S. 461f.). Oblomovs Ungenügen kommt aus einem Zuwenig, Ol’gas Ungenügen aus einem Zuviel. Beides kann Ausdruck eines „fruchtlosen Geistes“ (besplodnyj um; IV, S. 456) sein.31 Aber es ist leichter, ein Zuviel zu mäßigen als ein Zuwenig zu vergrößern. Zum Idealstreben von Štol’c gehört das Bemühen um Ausgewogenheit (ravnovesie) und Maß (razmer, umerennost’), auch und gerade in Erziehungsfragen (IV, S. 220, 451 u. ö.). Doch auch für ihn – ebenso wie für Ol’ga und jeden „odysseeischen Menschen“ – gilt das Menander-Motto, das Goethe seiner Autobiographie Dichtung und Wahrheit vorangestellt hat: „Ὁ μή δαϱεἱϛ ἄνϑϱωπος οὐ παιδεύεται“ – „Der nicht geschundne Mensch wird nicht erzogen“. Im Jahre 1810 schrieb Goethe an den Prinzenerzieher Karl Ludwig von Knebel (1744–1834): „Ein Grundübel bei uns ist es, daß auf die erste Erziehung zu wenig gewandt wird. In dieser aber liegt größtenteils der ganze Charakter, das ganze Sein des künftigen Menschen“. Der ‚nicht erzogene‘ Oblomov hat keine Zukunft. Wenn Ol’gas Liebe einem „zukünftigen Glück“ (IV, S. 344) mit einem „künftigen Oblomov“ (Ja ljubila buduščego Oblomova!; IV, S. 370) gilt, kann auch diese Liebe keine Zukunft haben. Dieses Scheitern wird früh im „Son Oblomova“ angedeutet, als sich die erziehungsunfähige Mutter Oblomovs ihren verwöhnten Iljuša als künftigen Helden einer „glänzenden Epopöe“ (blistatel’noj ėpopei) zurechtphantasiert. Eine entsprechende „Zukunft Iljušas“ (buduščnost’ Iljuši) aber wird es nicht geben (IV, S. 114). Oblomovka ist nicht Ithaka.
Kurzer Blick auf die Forschung Schon eine flüchtige Betrachtung der Gončarov-Forschung zeigt, daß das Antike- bzw. Homer-Thema bislang kaum mehr als ein Nebenaspekt gewesen ist. Homer spielt weder in den zentralen Gončarov-Biographien und Werkgeschichten (Mazon, Alekseev, Ehre, Setchkarev, Krasnoščekova ...) noch in den Oblomov-Interpretationen der von Bodo Zelinsky herausgegebenen Bände 31
Zum „fruchtlosen“ Oblomov siehe oben die Einleitung des Beitrags.
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zum russischen Roman eine Rolle,32 auch wenn es gelegentliche Nebenbeierwähnungen gibt und schon Merežkovskij auf Gončarovs Homer-Interesse hingewiesen hatte. Die wenigen vorhandenen Ansätze haben keinen eigenen Forschungszweig etabliert. Auch Untersuchungen vom Typus „Homer in Rußland“ haben, wenn ich recht sehe, das Thema übergangen.33 Ich kann allerdings nicht ausschließen, die eine oder andere Publikation, etwa in russischen Periodika oder Sammelbänden, übersehen zu haben.34 Eine gewisse Aufmerksamkeit hat die Frage nach dem Bezug Gončarovs zu Winckelmann gefunden, zumal Gončarov Texte Winckelmanns übersetzt, dann aber die Übersetzungen vernichtet hat.35 1938 wagte der Literaturwissenschaftler Aleksandr P. Rybasov (1907–1961) die These, Gončarov habe unter dem Einfluß von Winckelmann seinen Andrej Štol’c nach altgriechischem Muster als vorbildhaften Helden entworfen. Štol’c und Tušin seien „wie Hellenen, wie vollkommene menschliche Individualitäten gezeichnet“. Damit habe Gončarov zum ersten Mal in der russischen Literatur „starke, ganzheitliche Charaktere“ (sil’nych, cel’nych charakterov) geschaffen, die sowohl in ihrer allgemeinen moralischen Haltung als auch in ihrem konkreten Tun Idealformen des „Heroismus“ darstellen sollten.36 Rybasov fügte hinzu (ebd., Abschnitt 16), Gončarovs Beziehungen zur westeuropäischen Literatur seien „bis heute vollkommen unerforscht“. Diese Ausführungen riefen sowjetischen Protest hervor, und Rybasov mußte von seiner ‚Provokation‘ Abstand nehmen. Im Oblomov-Kapitel seiner Gončarov-Darstellung von 1957 fehlen die Hinweise auf Winckelmann, auf das „hellenische“ Ganzheitsmuster und auf entsprechende Forschungslücken.37 Andererseits ist erkennbar, daß Rybasov laviert. Zunächst nennt er Štol’c immer noch einen „harmonisch ganzheit32
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Vgl. Rothe, Hans: Gontscharow: Oblomow. In: Zelinsky, Bodo (Hg.), Der russische Roman. Düsseldorf 1979, S. 111-133 und 411-413; Herlth, Jens: Ivan Gončarov: Oblomov. In: Zelinsky, Bodo (Hg.), Der russische Roman. Köln/Weimar/Wien 2007, S. 139-163 und 503-507. Bei Egunov, A. N.: Gomer v russkich perevodach XVIII-XIX vekov. M./L. 1964, wird Gončarov nicht erwähnt. Nahezu unergiebig ist Pyrkov, I. V.: „Son Oblomova“ i „Ščit Achilla“ (Gomerovskie motivy v poėtike I. A. Gončarova). In: Ždanova, M. B. et al. (Hgg.), I. A. Gončarov. Materialy Meždunarodnoj naučnoj konferencii, posvjaščennoj 190-letiju so dnja roždenija I. A. Gončarova. Ul’janovsk 2003, S. 66-72. Vgl. Gončarov, I. A.: Avtobiografii. In: ders., SS. M. 1980, 7, S. 217-226, hier: S. 219. Vgl. Rybasov, A. P.: Literaturno-ėstetičeskie vzgljady Gončarova. In: Gončarov, I. A.: Literaturno-kritičeskie stat’i i pis’ma. L. 1938, S. 5-52, bes. 37-40 (Abschnitt 12). Vgl. Rybasov, A. P.: I. A. Gončarov. 1812–1891. M. 1957, S. 223-254.
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lichen Menschen“ mit „feinem“ Empfindungsvermögen, dann aber einen „bourgeoisen Aktionisten“ (buržuaznyj delec), der bloß für „kapitalistischen Fortschritt“ stehe und dessen „ideale Züge“ nur „deklariert“ seien.38 Konstantin Ju. Lappo-Danilevskij hat diese Widersprüche in seiner großen Winckelmann-Monographie zur Sprache gebracht.39 Es dauerte fast 50 Jahre, bis der Gončarov-Kenner Vladimir Mel’nik, auch unter Bezug auf Rybasov, mit Nachdruck eine Herausarbeitung der AntikeBezüge Gončarovs forderte und von „bogatejšie vozmožnosti“ entsprechender Deutungsansätze sprach. Die Antike bilde im Oblomov den „durchgängigen historischen und moralischen Hintergrund der gesamten Handlung“, wobei das antike Ganzheitsideal als moralische Korrektiv-Folie für das Bruchstückdasein Oblomovs und der Oblomovka-Bewohner zu sehen sei. Oblomovka sei gerade keine Idylle, sondern eine „entartete Metamorphose“ (urodlivaja metamorfoza) antiker Ideale und Sinnbild für „geistigen Tod“ (priznak duchovnoj smerti).40 Auch Mel’nik mußte für seine Hellsicht Kritik einstecken, z. B. von Interpreten, die in Oblomovka einen ernstgemeinten Idyllenentwurf erkennen wollen und nicht sehen, daß Gončarov mit Oblomovka und dem Agaf’ja-Ambiente Scheinidyllen geschaffen hat.41 In späteren Arbeiten hat Mel’nik seine ‚homerischen‘ Ansätze leider nicht mehr verfolgt und Gončarov eher als ‚christlichen‘ Autor einzuordnen versucht.42 1994 war es dann Hans Rothe, der – unabhängig von Rybasov und Mel’nik – die Fregatte Pallas und die Argonautensage zusammenbrachte und im konkreten wie übertragenen Bild der Lebensreise ein Grundschema für den Realis38 39
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Vgl. Rybasov, I. A. Gončarov 1957, S. 242-246. Lappo-Danilevskij, Konstantin Ju.: Gefühl für das Schöne. Johann Joachim Winckelmanns Einfluss auf Literatur und ästhetisches Denken in Russland. Köln/Weimar/Wien 2007, S. 339-346. – Zu Winckelmann siehe auch Heier, Edmund: Zu I. A. Gončarovs Humanitätsideal [...]. In: Thiergen, Peter (Hg.), Ivan A. Gončarov. Leben, Werk und Wirkung. Köln/Weimar/Wien 1994, S. 45-71, sowie Danilevskij, Rostislav Ju.: Gončarov i nemeckaja literatura. In: ebd., S. 353-364. Mel’nik, V. I.: Realizm I. A. Gončarova. Vladivostok 1985, S. 109-124 (Kap. „Sovremennost’ i istorija. Antičnye motivy u I. A. Gončarova“), hier: S. 112, 114 (Hervorhebung von mir, P. T.) und 121. Vgl. die abweisenden Bemerkungen bei Ljapuškina, E. I.: Russkaja idillija XIX veka i roman I. A. Gončarova „Oblomov“. SPb. 1996, S. 94f. und 104f. Vorsichtiger ist Klein, Joachim: Gončarovs „Oblomov“. Idyllik im realistischen Roman. In: Thiergen (Hg.), I. A. Gončarov 1994, S. 217-245. Zur komplexen Idyllen-Frage vgl. im vorliegenden Sammelband den Beitrag von Michaela Böhmig. Mel’nik, V. I.: Ėtičeskij ideal I. A. Gončarova. Kiev 1991; ders., Gončarov i pravoslavie. Duchovnyj mir pisatelja. M. 2008.
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mus Gončarovs erkannte.43 Schon vorher hatte er, allerdings ohne Homer-Bezug, das Reisemuster als zentrales Thema russischer Literatur und Welterfahrung behandelt.44 Warum solche Deutungsansätze bisher kaum weitergeführt worden sind, ist schwer verständlich. Immerhin gab die amerikanische Slavistin Amy Singleton 1997 einem Buchkapitel die Überschrift „Goncharov’s Oblomov as Odyssey“.45 Die Odyssee bilde für Gončarov einen „Homeric“ bzw. „parodic subtext“, der evoziert werde, um Il’ja Oblomov in ironisch-komisches Licht zu setzen und sein „ambivalentes“ Figurenkonzept zu verdeutlichen. Singleton geht es vor allem um die „comic disjunctures between the text and subtext“. Dabei kommen durchaus anregend beobachtete „Homeric motifs“ zur Sprache. Doch in der Überbetonung des Komisch-Ironischen steckt ein störender Reduktionismus. Singleton betrachtet nur die ‚unhomerische‘ Oblomov-Figur, während sie den ‚odysseeischen‘ Andrej Štol’c nahezu ganz außer acht läßt. Diese Ausblendung zeigt sich auch in der Nichtbeachtung einschlägiger Kontexte und Sekundärliteratur: Singleton ignoriert sowohl Žukovskijs Odyssee-Übersetzung als auch die Fregatte Pallas und das Sibirienthema, ebenso Winckelmann, Ėngel’gardt, Rybasov, Mel’nik oder Rothe. Use it or lose it. Die Tomsker Žukovskij-Editionen werden hier, so ist zu hoffen, künftig Abhilfe schaffen. Mit Nachdruck sei nochmals auf Il’ja Ju. Vinickijs Kapitel „Teodisseja Žukovskogo“ hingewiesen.46 Und zu Winckelmanns Wirkung in Russland hat die erwähnte Studie von Konstantin Ju. Lappo-Danilevskij einen Meilenstein gesetzt, darunter zu Gončarov.47 Im kürzlich erschienenen Homer-Handbuch (siehe unten unter „Weitere Literatur“), das sich schwerpunktmäßig auch mit Fragen der Nachwirkung befaßt, findet sich ein Beitrag „Homer in den slawischen Literaturen“ (S. 390395). Im Abschnitt zur russischen Literatur wird Gončarov nicht erwähnt.
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Rothe, Hans: Das Traumschiff oder zur theoretischen Grundlegung des Realismus bei Gončarov. In: Thiergen (Hg.), I. A. Gončarov 1994, S. 105-124. Rothe, Hans: Reisen und Reiseerlebnisse in der russischen Literatur 1825–1855. In: Krasnobaev, B. I. et al. (Hgg.), Reisen und Reisebeschreibungen im 18. und 19. Jahrhundert als Quellen der Kulturbeziehungsforschung. Berlin 1980, S. 281-329. Singleton, Amy C.: Noplace Like Home. New York 1997, S. 69-92 (Kap. 4). Vinickij, Dom tolkovatelja 2006, S. 235-261. Lappo-Danilevskij, Gefühl für das Schöne 2007.
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Weltreisender und Bettler: Odysseeisches bei Gončarov Gončarov teilt in autobiographischen Texten mit, daß er sich um Kenntnisse in Griechisch und Latein bemüht und daß Homer zu seinen Bildungserlebnissen gehört habe.48 Im literarischen Rußland dürfte die Odyssee spätestens seit Trediakovskijs Tilemachida (1766) und frühen Übersetzungen bzw. seit Cheraskovs Rossijada (1779) und danach seit Uvarovs graekophiler Bildungsoffensive als Referenztext etabliert gewesen sein.49 Regelmäßige Homer-Bekenntnisse gerade bei den Klassikern von Gogol’ über Tolstoj bis zu Bunin sind überliefert. Homer war für viele neben der sakralen Bibel ein säkularer Grundtext der Lese- und Moralerziehung. In Gončarovs Bibliothek stand die Ilias-Übersetzung von N. Gnedič.50 Žukovskij hat seine Übertragung der ersten Odyssee-Gesänge dem Großfürsten Konstantin Nikolaevič (1827– 1892), einem Bruder des späteren Zaren Alexander II., gewidmet. Der Großfürst war meererprobter Admiral im Ministerrang und hatte den Auftrag, die russische Flotte auszubauen. Er befehligte Kriegsschiffe, die die Namen „Odysseus“ und „Pallas“ trugen (auf dieser „Pallas“ reiste später Gončarov), wiederholte die vermeintliche Reiseroute des Odysseus und hat Gončarov zu dessen Weltumsegelung ermuntert. Von Žukovskij wurde er „nördlicher“ bzw. „russischer Odysseus“ genannt!51 Hans Rothe wiederum nennt Žukovskij den „vielleicht überzeugtesten Anwalt der Reise als Erziehungsmittel“.52 Selbst Dostoevskij, der Lobredner der Demutsethik, konnte sich zu Elogen auf die Ilias hinreißen lassen, da er in ihr die „ewigen Ideale“ der „Lebenskraft“ (žiznennaja sila!), des wahrhaft Schönen und der Ganzheitlichkeit präsentiert sah, Ideale, mit denen ein zu weit getriebenes Ängstlichkeitsdenken „veredelt“ werden könne.53
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Vgl. Gončarov, Avtobiografii 1980, S. 218, 222; ders.: Vospominanija. I. V universitete. In: ders., SS 1980, 7, S. 227-257, hier: S. 231ff., 246, 250 u. ö. Vgl. Egunov, Gomer v russkich perevodach 1964; Thiergen, Peter: Studien zu M. M. Cheraskovs Versepos „Rossijada“. Bonn 1970; Gomer, Odisseja [Perevod V. A. Žukovskogo, pod red. V. N. Jarcho]. M. 2000; Žukovskij, Perevody iz Gomera 2010; Vinickij, Dom tolkovatelja 2006. Vgl. Opisanie biblioteki I. A. Gončarova. Katalog. Ul’janovsk 1987, S. 32f. Vgl. Januškevič, A. S.: O posvjaščenii i predislovii k perevodu „Odissei“ V. A. Žukovskogo. In: Gomer, Odisseja 2000, S. 347-352. S. auch Vinickij, Dom tolkovatelja 2006, S. 254f. Rothe, Reisen und Reiseerlebnisse 1980, S. 285. Dostoevskij, F. M.: Rjad statej o russkoj literature. II. G-n – bov i vopros ob iskusstve. In: ders., Stat’i i zametki. 1845–1861. L. 1978 (= PSS, 18), S. 70-103, hier: S. 95f.
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Auch im Oblomov werden Homer, die Ilias und Odysseus wiederholt wie Selbstverständlichkeiten genannt. Diese Nennungen sind kein bloßes namedropping als Bildungsdekorum, sondern ein indirekt kommentierender Sub-, Prä- oder Kontext, der jederzeit mitgedacht werden sollte, weil er das Verständnis des Romans substantiell befördern kann. Dies erst recht, wenn man Gončarovs eigene Weltumsegelung und die Fregatte Pallas hinzunimmt. Schon Aleksandr Aduev wollte nicht in der russischen Provinz „versauern“ (gasnut’), sondern mit Aufbruch und Reise Leben erobern (pora, pora! [...] neobchodimo echat’; nel’zja že pogibnut’ zdes’!; I, S. 448). Gončarov selber hat früh – unter dem Einfluß seines Lehrers N. N. Tregubov (1774–1849), der in der Schwarzmeerflotte gedient hatte – von Weltreisen zu Wasser und zu Land geträumt, hat entsprechende Reiseberichte bzw. Weltbeschreibungen von J. Cook bis zu A. v. Humboldts Kosmos zur Kenntnis genommen und dabei zugleich die gewaltigen Leistungen der meerfahrenden „Homerischen Helden“ (Gomerovy geroi) im Auge behalten.54 Die Lektüre solcher Seefahrer- und Expeditionsberichte wurde, nautische Zeitschriften inbegriffen, während der Weltumsegelung 1852–1854 intensiviert. Die erste Einzelausgabe der Fregatte Pallas von 1858 hat Gončarov (möglicherweise in Anlehnung an Žukovskijs Odyssee?) ebenfalls dem Großfürsten Konstantin Nikolaevič gewidmet,55 und im Vorwort des Bandes wurde Gončarovs Reisebericht von seinem Freund I. I. L’chovskij (1829–1867) anspielungsreich eine „bescheidene Odyssee“ (skromnaja odisseja) genannt!56 Die historische, schon 1831/32 gebaute Pallas-Fregatte war im übrigen, und das nicht nur aus heutiger Sicht, ein eher hochseeuntauglicher Seelenverkäufer (ein Dreimaster von ca. 50 m Länge), der während Gončarovs Fahrt mehr als einmal in höchste Seenot geriet, darunter im Juli 1853 in einen Taifun zwischen Hongkong und den Bonin-Inseln im Stillen Ozean.57 Diese Gefährdungen haben bei Gon-
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Vgl. Gončarov, Ivan Aleksandrovič: Fregat „Pallada“. Očerki putešestvija v dvuch tomach. SPb. 1997 (= PSSiP 1997, II), S. 9f. sowie ders.: Fregat „Pallada“. Materialy putešestvija. Očerki. Predislovija. Oficial’nye dokumenty ėkspedicii. SPb. 2000 (= PSSiP 2000, III), S. 402, 541ff. u. ö. S. auch ders.: Oblomov. Roman v četyrech častjach. Primečanija. SPb. 2004 (= PSSiP 2004, VI), S. 580. Vgl. Gončarov, PSSiP 2000, III, S. 450f. Vgl. Gončarov, PSSiP 2000, III, S. 531. Vgl. Gončarov, PSSiP 2000, III, S. 404f., 602f., u. ö. und PSSiP 1997, II, S. 294ff. Abschnitt „Uragan“ (Taifun). Deutsche Teilübersetzung des Taifun-Kapitels in Gontscharow, I.: Briefe von einer Weltreise, ergänzt durch Texte aus der „Fregatte Pallas“ [hg. und übers. von Erich Müller-Kamp]. Hamburg/München o. J., S. 166-172.
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čarov „böse Erinnerungen“ (zluju pamjat’) hinterlassen.58 Boris M. Ėngel’gardt (1887–1942) hat die Strapazen und Todesgefahren der „Pallas“-Reise mit aller Drastik beschrieben. Die Fregatte Pallas enthalte mit ihrer „heroischen Fahrt“ (geroičeskij pochod) und letztlich antiromantischen Erlebniswelt die „ganze Thematik“ (vsja tematika) der Werke Gončarovs! Im Grunde dominiere anstelle einer verklärt-geheimnisvollen Wunderwelt die mühevolle Arbeits- und Aufbauwelt der europäischen Zivilisation. Die Fregatte Pallas sei, zusammen mit den Romanen Gončarovs, eine Widerlegung des „russischen Romantismus“ (russkogo romantizma).59 Auf Homer, Winckelmann oder Schiller – mögliche antiromantische Zeugen – geht Ėngel’gardt nicht ein. Während der „Pallas“-Expedition hat Gončarov in Briefen davon gesprochen, er wolle einen Text mit dem Titel Oblomovs Reise bzw. Die Weltreise [...] I. Oblomovs (Putešestvie vokrug sveta [...] I. Oblomova) schreiben.60 Diese Äußerungen werden von manchen Interpreten als bloß ironischer Scherz abgetan.61 Die Scherz-These ist zwar nicht ganz von der Hand zu weisen, doch sollte sie andere Aspekte nicht verdunkeln. Fügt doch Gončarov hinzu, daß auch ein russischer Reisender zu Selbstverantwortung und Autonomie verpflichtet sei und sich nicht immer nur „nach Mütterchen Rußland“ und seinem Dienstbotensystem zurücksehnen solle. So ähnliche Sätze finden sich später im Oblomov. Gončarov hatte zudem seit 1852 überlegt, seinem entstehenden Roman den Pejorativtitel Oblomovščina (Oblomoverei) zu geben. Das zweijährige „Pallas“-Unternehmen dürfte ihm endgültig die Augen dafür geöffnet haben, daß nicht vertrödelte Oblomover, sondern „odysseeische Menschen“ Rußland voranbringen werden.62 In einem Brief von Ende 1852 an Nikolaj A. Majkov und dessen Frau fragt sich Gončarov, ob er wohl als Berichterstatter der „Pallas“-Reise einer Rolle à la Homer gewachsen sei, und in einem Rückblick auf die Reise aus dem Jahre 1874 hält er mit ernst-unernstem Stolz fest, die „Pal-
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Gončarov, PSSiP 1997, II, S. 300. Vgl. Ėngel’gardt, B. M.: Izbrannye trudy, hrsg. von A. B. Muratov. SPb. 1995, S. 225-269 (Kap. „Fregat ‚Pallada‘“). Noch sind offenbar nicht alle Texte Ėngel’gardts publiziert (vgl. Gončarov, PSSiP 2000, III, S. 403 und 538). Warum diese Lücke? Siehe aber auch Gončarov, I. A.: Fregat „Pallada“, hrsg. von T. I. Ornatskaja. L. 1986, S. 722-760 und 845ff. (Ornatskajas kritische Stellungnahme). Vgl. u. a. Ėngel’gardt, Izbrannye trudy 1995, S. 260 oder Gončarov, PSSiP 2000, III, S. 467f. Vgl. z. B. Gončarov, PSSiP 2000, III, S. 467/Anm. 3. Vgl. hierzu auch die treffenden Beobachtungen bei Krasnoščekova, E.: Fregat ‚Pallada‘ i Oblomov (Vzaimovlijanija). In: Thiergen (Hg.), I. A. Gončarov 1994, S. 305-318. Allerdings nur mit einer Nebenbeierwähnung Homers.
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las“-Expedition enthalte die „ganze Odyssee und Aeneis“.63 Als Gončarov gegen Ende der Expedition über Sibirien wieder Richtung Heimat fährt, vergleicht er diese Rückreise mit der Rückkehr des Odysseus nach Ithaka zu Familie und heimischem Herd.64 Es gibt in der Fregatte Pallas und ihren Umkreistexten (Briefe, Erinnerungen) nicht wenige weitere Verweise auf Homer und die Argonauten, so daß sich eine systematische Zusammenstellung lohnen würde. Für unsere Zwecke mögen die angeführten Belege zunächst ausreichen. Als Oblomov zu Agaf’ja auf die „Wyborger Seite“ zieht, verhilft er ihr damit zum „Zenit ihres Lebens“, sich selber aber stürzt er in den endgültigen Verlust der „Ideale“ und in den „weiten Sarg“ seines erloschenen Lebens, das – wie früh prognostiziert – im „apoplektischen Schlag“ endet (S. 472-475). Agaf’ja blüht in der ‚Idylle‘ auf und sie spricht mit Blick auf ihre KüchensorgeMaterialwelt den Satz „Gott liebt Mühe und Arbeit!“ (Bog trudy ljubit!; S. 471). Oblomov aber hat sich, wie der Erzähler festhält, ins „Mauseloch-Dasein“ geflüchtet und sich damit „wie schon in Oblomovka, billig aus dem Leben davongemacht“ (emu udavalos’ deševo otdelyvat’sja ot žizni; S. 473). Für die Beschreibung von Agaf’jas ungesunder ‚Küchen-Daseinsfülle‘ benötigt derselbe Gončarov-Erzähler „die Feder eines zweiten Homer“ (S. 470). Das ist wieder die Interferenz von (Selbst)Ironie und Ernst. Kein russischer Autor konnte sich nach Žukovskijs Übersetzungs-Monument der Odyssee ernstlich mit Homer vergleichen. Sehr wohl aber konnten die homerischen WeltfahrtEntwürfe als Maßstabsetzung des „europäischen Menschen“ fungieren. Gogol’ erklärte in seiner Besprechung von Žukovskijs Odyssee-Übersetzung, das homerische Epos sei vor allem ein „moralisches Werk“ und verkünde als Hauptaufgabe des menschlichen Daseins, Nöte und Leiden nicht nur zu ertragen, sondern zugleich unablässig zu bekämpfen. Der „unermüdliche Odysseus“ (neutomimyj Odissej) sei ein Beispiel für alle Menschen, entworfen vom „Dichter aller Dichter“ (poėt vsech poėtov). Vor dem Hintergrund Homers und seiner Einordnung durch Gogol’ oder Žukovskij mußte Oblomovs Rückzug-Existenz um so deutlicher und vor allem fragwürdiger hervortreten. Andrej Štol’c, der schon als Kind Landkarten studiert und die Welt erkundet hat, reist mit Ol’ga durch Europa, Oblomov aber gibt schon nach wenigen Seiten den Versuch auf, Reiseberichte auch nur zu lesen. Dieses Scheitern der Reise- und Entdeckungslektüre hat Leitmotivcharakter. Früh hatte der Arzt 63
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Gončarov, Fregat „Pallada“ 1986, S. 574 und 627 bzw. PSSiP 1997, II, S. 738. Deutsch Müller-Kamp, Briefe, ergänzt durch Texte o. J., S. 47 und 403. Gončarov, PSSiP 1997, II, S. 632. S. auch Gončarov, Fregat „Pallada“ 1986, S. 491 und 823. Deutsch Müller-Kamp, Briefe, ergänzt durch Texte o. J., S. 305ff., hier: S. 311.
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Oblomov vorgeschlagen, eine therapeutische Fahrt nach Amerika vorzunehmen, und Štol’c hatte für Oblomov ein ganzes Reiseprogramm „quer durch Europa“ bis zum Vesuv entworfen. Ol’ga spielt später ironisch darauf an, daß Oblomov sogar Reiseberichte über Afrika hatte lesen wollen (S. 194). Nur ein mit klugem Erkenntnisinteresse realisiertes Reisen ist sinnvoll, andernfalls gilt das Diktum: „Caelum, non animum mutant, qui trans mare currunt“ (Horaz, Epistulae I, 11, 27). Oblomov ist ein bloß virtueller Reisender, Ol’ga und Štol’c hingegen sind Realreisende im fiktionalen Raum, wie Odysseus. Gončarov selbst war Realreisender im Realraum. Schon von daher erhält die Nicht-Reise Oblomovs eine besondere Kontur. Bei ihm fallen proklamierter und realisierter Lebensentwurf auseinander, während Štol’c und Ol’ga eine Übereinstimmung von theoretischem und konkretisiertem Lebensplan erreichen. Das spiegelt sich auch in dem wichtigen Thema von Hausbau und Eigentum. Štol’c hat früh den Vorsatz, ein großes Haus zu besitzen (četyrechėtažnyj dom; S. 159), und er realisiert diesen Plan mit Erfolg. Ol’ga wiederum kann mit Hilfe ihres Verehrers Baron von Langwagen ihr Immobilienerbe sichern, was im Text mit einem mehrfachen „Kakoj dom! Sad! [...] svoe imenie“ u. ä. hervorgehoben wird (vgl. S. 343). Später wohnen beide, bevor sie endgültig auf ihr „Gut“ (imenie) übersiedeln wollen, an der Küste der Krim in einem eher bescheidenen Haus (dem „Cottage“), das gleichwohl „warmes Leben“, „ästhetisches Gefühl“ und die „Schönheit menschlicher Tätigkeit“ (krasota čelovečeskogo dela) ausstrahlt (S. 447). Es ist der Tugendtriumph eines positiv gesehenen Bildungs- und Weltbürgertums mit russischen Einschlägen. Oblomovka hingegen erfüllt (bevor es von Štol’c gerettet wird) seinen sprechenden Namen durch Verfall, ebenso wie am Ende das moralisch verwahrlosende zweite Oblomovka bei Agaf’ja auf der „Wyborger Seite“. Erhalt bzw. Wiederaufbau des Familienbesitzes als Erbe wie bei der Rückkehr des Odysseus zu Penelope sind mehr als gefährdet. Die von Štol’c und vom Erzähler wiederholt formulierte Alternative „Jetzt oder nie!“ (Teper’ ili nikogda!; S. 182, 185ff., 265, 388) bringt für Oblomov und Oblomovka ohne Hilfe durch Štol’c doch nur den „zastoj“ des Niemals. Das „Jetzt“ steht für Andrej Štol’c, dem Oblomov entsprechend seinen eigenen (nach Štol’c benannten) Sohn Andrej zur Erziehung überantwortet. Nur Štol’c kann einen Telemach aus ihm machen. Auf der einen Seite also Homers Odysseus, sein zum Kämpfer herangewachsener Sohn Telemach und Penelope – auf der anderen Gončarovs Oblomov, der weggegebene Andrjuša und Agaf’ja: Ithaka ist nicht Oblomovka.
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Wo Verfall herrscht, entsteht Bettlertum. Die letzten Kapitel des Romans zeigen, daß Zachar nach dem Tod Oblomovs zum Bettler geworden ist. Es geht um „die Geschichte dieses Bettlers“ (istoriju ėtogo niščego; S. 492) und um die grundsätzliche Frage „wie wird man zum Bettler?“ (kak možno sdelat’sja niščim?; S. 490). Das ist Vorbereitung auf die Schlußfrage „Was ist denn das – Oblomoverei?“. Anis’ja und Oblomov sind tot, Agaf’ja und Zachar müssen würdelos in system- wie selbstverschuldeter Unmündigkeit leben. Das „oblomovsche Erziehungssystem“ hat zu Abhängigkeit, Bettlertum und Untergang geführt. Agaf’jas „Häuschen“ (domik) verkommt, zumal das Schmarotzertum des „Brüderchens“ und seiner Trabanten erneut Einzug gehalten hat. Agaf’jas Liebe zu Oblomov gründet auf einem vertikalen System: Er ist für sie nicht nur „Liebhaber“ und „Ehemann“, sondern bis zum Schluß – und das vor allem – der „Herr“ (barin) (S. 488). So wie in alten Zeiten in Oblomovka das „Herrenrecht“ (gospodskoe pravo; vgl. schon S. 9) gegolten hatte. Štol’c dagegen wird mit „Bürgerrechten“ in Verbindung gebracht (S. 154). Entsprechend finden Štol’c und Ol’ga „im Tausch der Rechte“ zueinander (S. 408, 421), und sie gestalten ihr Leben in bewußter Gleichrangigkeit auf einer Ebene, auch wenn Štol’c lange die Rolle des „Erziehers“ zukommt. Diese Gleichrangigkeit der Würde entspricht dem ‚aufklärerischen System‘ von Odysseus und Penelope. Nicht zufällig ist in Homer-Interpretationen, nicht nur bei Horkheimer und Adorno, vom „Bürger Odysseus“ die Rede. Indem Štol’c und Ol’ga Andrej Oblomov erziehen, wird dieser an die Aufgaben eines entschlußfreudigen ‚russischen Telemach‘ herangeführt. Ob er einer solchen Rolle wird gerecht werden können, zeigt Gončarov allerdings nicht mehr. Man lese jedoch Gončarovs pädagogische Briefe – zum Beispiel an Sof’ja A. Nikitenko (1840– 1901) – über das Elend der „oblomovschen Erziehung“, über den „Sumpf“ und „lethargischen Schlaf“ der „russischen Oblomovkas“ (našich oblomovok), welche die „menschliche Bestimmung“ verfehlen: dann erhält das HomerischOdysseeische als idealisierbarer Gegenentwurf um so mehr Kontur. Die „homerische Epoche“ (gomerovskaja ėpocha) diente Gončarov wiederholt als rühmliche Vergleichsfolie.65 Figur und ‚Elendsbild‘ des Bettlers sind seit der Odyssee fester Bestandteil der europäischen Literatur. Als Odysseus nach zwanzigjähriger Welt- und Lebensfahrt zurückkehrt nach Ithaka, verwandelt ihn seine Schutzgöttin Pallas Athene in einen gealterten Bettler, damit er in dieser Tarnkappen-Gestalt 65
Zu den Briefzitaten vgl. Gončarov, SS 1980, 8, S. 216, 284ff. u. ö.
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unerkannt erkunden kann, wie die Dinge in seinem ehemaligen Haus- und Herrschaftsbereich stehen. Es geht vor allem um eine Moral- und Treueprobe. Haben sich doch in seinem Burghof ebenso lüsterne wie schmarotzende Griechen eingenistet, die seinen Sohn und Erben Telemach umbringen und seine Penelope zu erneuter Heirat nötigen wollen, um Zugriff auf ihren Besitz zu erlangen. Odysseus erfährt, daß ihm die meisten seiner Hirten bzw. Diener und vor allem die „züchtige Penelope“ immer noch treu ergeben sind und tiefen Schmerz über die parasitäre Anmaßung der sog. „Freier“ empfinden. Immer wieder betont Homer dabei, daß nur „beständige Sorge“, „unermeßliche Arbeit“ und „Kampfesmut“ wahre Dignität hervorbringen, nicht aber Zuchtlosigkeit mit Mägden, Faulheit und das Verprassen fremden Eigentums (Žukovskij: „Plod že tjaželych zabot požirajut bez platy drugie“; Odyssee XIV, 417). Das alles verweist auf die Opposition von Oblomoverei und dem ‚homerischen‘ Heldentypus Štol’c. Andrej Štol’c bekennt sich als Sprachrohr Gončarovs zu den Grundsätzen, Haus und Eigentum zu schützen, niemals „auf fremde Kosten“ zu leben, nicht „Schuld bei anderen“ zu suchen und stets die Ideale von Energie, Wissenserwerb und Lebenskraft hochzuhalten. Mühe und Arbeit seien „Form, Inhalt, Wesen und Ziel des Lebens, jedenfalls des meinen“ (S. 182).66 Gončarovs Erzähler ruft aus: „Wieviel Štol’ce müssen noch unter russischen Namen erscheinen!“ (S. 164), während Oblomov – mit indirektem Bezug auf die „unreinen Geister“ im Markus-Evangelium 5 – von sich und seinesgleichen sagt: „Unser Name ist Legion!“ (S. 184). Diese Legion ist Meister der Prokrastination und Nutznießer einer extraktiven Wirtschaftsform. Gleich zu Beginn der Odyssee erklärt Zeus das Versagen der „Sterblichen“ damit, daß sie Schuld nicht bei sich selbst, sondern bei anderen suchen (Gesang I, 32ff.). Die Oblomover meiden „ewiges Streben“ (večnych stremlenij; S. 121), d. h. Anstrengung, Leidenschaften, Reisen und jeglichen „Kampf ums Dasein“ (bitva s žizn’ju; S. 455). Sie kennen kein thymotisches Prinzip. Ihre „Norm des Lebens“ besteht in „Geburt, Heirat, Begräbnis“, wozu der Erzählerkommentar sagt: „Es verlor sich der schwache Mensch“ (Terjalsja slabyj čelovek; S. 117) bzw. „sie vergaßen den eigentlichen Menschen“ (zabyvali samogo čeloveka; S 123). Ihr Ideal ist, am Ufer eines „ruhigen Flusses“ zu sitzen und die „unvermeidlichen Geschehnisse zu beobachten“ (S. 122). Heroik oder wenigstens Tüchtigkeit vermitteln sie dem kleinen Iljuša lediglich durch Erzählungen der Kinderfrau und der Mutter über die „Heldentaten unserer Achilleuse und 66
Gončarov hat später bestätigt, daß Štol’c in der Tat ein „Vertreter der Arbeit, des Wissens, der Energie, mit einem Wort, der Kraft“ sei, wenn auch „nur als Idee“. Diese Idee kann bis zu Homer zurückverfolgt werden (vgl. Gončarov, SS 1980, 8, S. 113 und 115).
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Odysseuse“ aus den Bylinen. Diese Erzählungen sollen nach dem Muster Homers eine „Ilias des russischen Lebens“ (Iliadu russkoj žizni) erschaffen (S. 116f.). Die ironische Pointe besteht darin, daß die imaginäre Phantasiewelt durch die Realität der Oblomoverei von Grund auf dementiert wird. Zutreffend vergleicht sich Oblomov selber mit einem Bettler („Da, ja skuden, žalok, nišč … bejte, bejte menja!“; S. 371). Oblomov fürchtet, im Unterschied zu Štol’c und Ol’ga, geradezu panisch alles, was „Strom“ und „Arena“ des Lebens verkörpert und die Rolle des „Gladiators“ verlangt.67 Er toleriert nicht nur parasitäre Trabanten (das „Brüderchen“, Tarant’ev, sogar Zachar), sondern schmarotzt gleichsam an sich selbst. Die einen stehen sich, Oblomov liegt sich im Wege. Er wird zum Kleinformat eines Hedonisten, der genußvolle Piroggen, Alkohol und Nichtstun liebt, davon träumt, Mägde zu tätscheln und eine Geliebte zu haben, und sich am Ende an Agaf’jas „nackten Armen“ und „Sofakissenbrüsten“ delektiert (S. 298, 304 u. ö.). Das hat nichts mit der von Gončarov ansonsten gepriesenen „Humanität“ (gumanitet) zu tun. Die unzüchtigen Mägde in Ithaka wurden, ebenso wie die „Freier“, umgebracht. Oblomovs Konkupiszenz liefert ihn der Erpressung durch das „Brüderchen“ aus. Von Ol’ga verlangt er sogar „einen anderen Weg zum Glück“ (sie soll seine heimliche Geliebte werden), um sich mit ihr nicht offiziell verloben und in der Öffentlichkeit zeigen zu müssen (vgl. S. 203f., 286). Einem Penelope-Ideal ist er nicht gewachsen,68 während in der Odyssee – wie Joachim Latacz formuliert – die „Wiedererkennung der Gatten […] das eigentliche Ziel des Epos“ ist. Penelope ist die durch Bewährung nobilitierte Dia gynaikōn, Ol’ga aber erscheint Oblomov nur im transitorischen Hochgefühl als Casta diva. Von Agaf’ja ganz zu schweigen. Penelope und Odysseus stehen für das erprobte und zukunftssichere, Oblomov und Ol’ga/Agaf’ja für ein bloß fingiertes bzw. halbiertes und also trügerisches Liebesideal. Leben und Liebe werden nicht durch die verklärende Perspektive eines Oblomov, sondern durch den klaren Blick eines ‚homerischen‘ Andrej Štol’c begriffen und bestanden. Entsprechend sind die Anagnorisis-Begegnungen in Oblomov und Odyssee von konträrer Anlage. Wenn Štol’c in großen Abständen Oblomov auf der 67
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Zum Leitmotiv „Gladiator/Arena“ vgl. Gončarov, PSSiP 1998, IV, S. 55, 66, 377, 410, 474 u. ö. In früheren Fassungen des Oblomov hatte, mit Blick auf Štol’c und Ol’ga, ein Vergleich mit Penelope gestanden, s. Gončarov, I. A.: Oblomov, hrsg. von L. S. Gejro. L. 1987, S. 494. Gestrichen wurde auch Oblomovs Hinweis, er „habe sich wieder an Winckelmann gemacht“ (ebd., S. 465).
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„Wyborger Seite“ besucht, erkennt er seinen bei Agaf’ja ‚abgestiegenen‘ Freund kaum wieder und ist entsetzt ob der „Sumpfgrube“ (jama, boloto; S. 482), in der er Oblomov gefangen sieht. Mit Zachar steht ihm am Ende ein wirklicher Bettler gegenüber. Der Eintritt in das „zweite Oblomovka“ (S. 389, 484) bei Agaf’ja wird leitmotivisch von jenem bösen Kettenhund begleitet, der schon Oblomov empfangen hatte. Der Hund ist angekettet wie später Oblomov auf der „Wyborger Seite“. Bei Homer ist es der alte Hund Argo, der im verkleideten Bettler seinen Herrn Odysseus in einer ergreifenden Szene als erster erkennt (Gesang XVII, 290ff.). Es kommt danach zu einer ganzen Anagnorisisfolge (Telemach, Eurykleia, Eumaios), die im Wiedererkennen mit Penelope und dem Vater Laertes gipfelt. Begegnung und Anagnorisis bilden für Homers Odysseus eine aszendente Glückskurve, für Gončarovs Oblomov und Zachar hingegen eine deszendente Unglückskurve. Ohne den ‚odysseischen‘ Andrej Štol’c gibt es für die „Bruchstück-Menschen“ der Oblomoverei keine Irrtumsauflösung und keine Wendung zu aufsteigender Entwicklung. Nur wer Pallas Athene – das Sinnbild für Vernunft, Kraft und Maß – an seiner Seite weiß, kann den Schlüssel zu Kultur und Ordnung gewinnen. Die Oblomover aber haben, wie Gončarov mehrfach betont, den „Schlüssel“ (ključ) zum Dasein verloren. Agaf’ja hingegen verwaltet als „Schließerin“ (ključnica) im Bereich der materiell-„maschinenhaften“ Küchenwelt „sämtliche Schlüssel“, während der ‚odysseische‘ Štol’c über den „Schlüssel“ zum gesamten Dasein verfügt, in dem er sich – im Unterschied zu den Oblomovern – „niemals verliert“.69 Ihn trägt „der Stolz des tätigen Menschen“, der Oblomov abhanden gekommen ist.70 Ithaka steht für vita activa, Oblomovka für vita passiva.
Schluß: Odysseus versus „Schlaf der Vernunft“ Das Mittelmeer und Griechenland gelten als Wiege der europäischen Kultur.71 Die maritime Erfahrung von Schiffahrt, Stadtgründung, Kampfesmut und Ko69 70
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Zum Motiv des „Schlüssels“ vgl. Gončarov, PSSiP 1998, IV, S. 117, 162, 164, 315, 449 u. ö. Zum Lob des „tätigen Lebens“ (trud, delovaja žizn’, zanjatyj čelovek) vgl. Gončarov, PSSiP 1998, IV, S. 61f., 121, 181f., 247, 392, 422, 453, 471 u. ö. Zum Mittelmeer-Komplex vgl. neben den Arbeiten von Fernand Braudel u. a. Richter, Dieter: Das Meer. Geschichte der ältesten Landschaft. Berlin 2014; Abulafia, David: Das Mittelmeer. Eine Biographie. Frankfurt a. M. 2013; Schulz, Raimund: Die Antike und das Meer. Darmstadt 2005; Timpe, Dieter: Der Mythos vom Mittelmeerraum: Über die Grenzen der
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lonisation ist in Ilias und Odyssee manifest geworden. Mythologie als Götterglaube ging in Vernunftorientierung als Glaube an die zivilisatorische Kraft des Menschen über, bis hin zur Entwicklung des Römischen Rechts. Kant sprach in der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft vom „bewundernswürdigen Volke der Griechen“. Die Befreiungskämpfe Griechenlands seit den 1820er Jahren fanden gerade in Rußland Aufmerksamkeit und Sympathie. Dem parallel ging eine wachsende Faszination für Homer und eine Art Sehnsucht nach homerischer Heroik. Bei Kant und Hegel finden sich scharfe Äußerungen gegen das Rührende, Arkadische und Idyllische.72 Aufklärung und Rousseauismus sind wenig kompatibel. Gončarovs permanenter Rekurs auf Homer kann als Absage gegen alles Biedermeierliche und StagnativBehagliche gelesen werden. Weder Spitzwegs „armer Poet“ noch der „Poėt“ und „Träumer“ (mečtatel’) Oblomov finden seinen Beifall. Erst recht hätte er die „Feierabendidyllik“ eines Leberecht Hühnchen verachtet.73 Andrej Štol’c sollte ursprünglich Andrej Počaev heißen, also der „Beginner“, zu dem Initiative, Individuation, moralische Anlage und Fortschritt gehören.74 Andreas war der erstberufene Apostel (= Andrej Pervozvannyj), der später als Schutzpatron für Rußlands Religions- und Staatssymbolik eine überragende Rolle spielen sollte. Sogar die Flagge der russischen Kriegsmarine trug das Andreas-Kreuz. Christliches und Antikes überlagern sich. Deshalb wußte Gončarov in doppelter Weise um den Zwiespalt von „Idealen und Idealisierung“ einerseits und „extremer Unvollkommenheit“ (krajnee nesoveršenstvo) des Menschen andererseits. Zwischen Wirklichkeit und Ideal könne „ein Abgrund“ liegen, und Aufbruch mit Risikoimpetus kollidiere permanent mit Ängstlichkeit und der Indolenz durch „Apathie“. Hellsichtig unterschied Gončarov eine auf Verwöhnung und geistiger Schlaffheit beruhende „viehähnliche Apathie“ (skotskaja apatija) von einer gleichsam nobilitierten, aus langem Lebenskampf und philosophischer Begründung herkommenden „Resignation“
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alten Welt. In: Chiron 34 (2004), S. 3-23; Horden, Peregrine/Purcell, Nicholas: The Corrupting Sea. A Study of Mediterranean History. Oxford 2000 (hier S. 43: „The Odyssey has been the creator of the Mediterranean“); Chrysos, Evangelos et al. (Hgg.): Griechenland und das Meer. Mannheim 1999. Thiergen, Literarische Arkadienbilder 2007. S. Seidel, Heinrich: Leberecht Hühnchen. Prosa-Idyllen. Frankfurt a. M. 1985. Heinrich Seidel, Schwiegervater von Ina Seidel, lebte von 1842–1906. Zum „Biedermeier-Glück“ vgl. u. a. Weber, Annemarie: Immer auf dem Sofa. Berlin 1982. Zu den Namensvarianten vgl. Gončarov, Oblomov 1987, S. 442ff., 600f., 681, 686 u. ö. In den frühen Fassungen war Počaev eine Parallelfigur zu Štol’c. S. auch Gončarov, PSSiP 2004, VI, S. 42ff.
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(rezignacija) mit „Müdigkeit der Seele“.75 Das Postheroische darf nicht zu anerzogener Trägheit verkommen. Weshalb fordernde Erziehung und Vorbildsetzung – z. B. als Paideia-Ideal mit Blick auf Homer – um so wichtiger sind.76 Gončarov verstand Literatur als „Denken in großen Bildern“, weshalb er glaubte, nur „langsam und mühevoll“ schreiben zu können.77 Auch Homer hat „große Bilder“ geschaffen. Historia magistra vitae? Das 19. Jahrhundert gilt als das „historische Jahrhundert“, dessen Leitwissenschaft das Fach Geschichte war. Im Jahre 1814 schrieb K. N. Batjuškov (1787–1855) ein zwölfzeiliges Gedicht Das Schicksal des Odysseus (Sud’ba Odisseja, publiziert 1817). Das war eine freie Übersetzung von Schillers Epigramm Odysseus. Batjuškov spricht vom Meerfahrer, Dulder und Ithaka-Sucher Odysseus, dem er eine „hohe Seele“ (duši vysokoj) zuspricht, die jedoch – wie bei Schiller – bei der Rückkehr „das Vaterland nicht mehr erkennt“.78 In zeitgleichen Briefen spricht Batjuškov, der an der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 teilgenommen hatte, von „meiner Odyssee“ und vergleicht sich mit den „Kriegern Homers“.79 Wer damals über Rußland hinauskam, sah sich gern als „zweiten Odysseus“. Auch Gogol’ hat, wie viele andere, darüber geschrieben, wie notwendig das Reisen gerade für Russen sei, um sich vom „Provinziellen“ und „Herumliegen“ zu befreien.80 Die seit dem 18. Jahrhundert einsetzenden Sibirien-Expeditionen Rußlands vermitteln in gewisser Weise die Ideale des „odysseeischen Menschen“. Hier erscheint Asien nicht mehr als Kontinentalmasse unzugänglicher Wildnis oder realitätsferner Kaukasusromantik, sondern als Raum für aufklärende 75
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Vgl. Gončarov, I. A.: I. I. L’chovskomu. 5/17 nojabrja 1858 goda ‹Peterburg›. In: ders., SS 1980, 8, S. 250-255, hier: 252f.; ders.: E. A. i S. A. Nikitenko. Bulon’, 16/28 avgusta ‹1860›. Vtornik. In: ders., SS 1980, 8, S. 304-309, hier: S. 306f.; ders.: S. A. Nikitenko. Boulogne-sur-mer. 21 avgusta/2 sentjabrja ‹1866›. In: ders., SS 1980, 8, S. 312-319, hier: S. 318f. (Hervorhebung im Orig.) u. ö. Vgl. die monumentale, seit den 1930er Jahren wiederholt aufgelegte Studie von Jaeger, Werner: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. S. dazu Thiergen, Peter: „Pictoris nos ars delectat“ (Vossius) oder „Der Dichter denkt in Bildern“. In: Schöner, Petra/Hübner, Gert (Hgg.), Artium conjunctio [FS für Dieter Wuttke]. Baden-Baden 2013, S. 199-217, zu Gončarov S. 209ff. Batjuškov, K. N.: Opyty v stichach i proze. M. 1977, S. 233f. S. Batjuškov, Opyty v stichach i proze 1977, S. 544. Das Odyssee-Bild taucht auch in Batjuškovs bekanntem Kontrast-Gedicht Stranstvovatel’ i domosed auf (Vers 90; ebd., S. 310). Vgl. die entsprechenden Kapitel in den Vybrannye mesta iz perepiski s druz’jami. In: Gogol’, N. V., PSS. M./L. 1952, VIII, S. 213-418 oder den umfangreichen Konspekt zum Reisebericht von P. S. Pallas (1741–1811) (PSS 1952, IX, S. 277-414).
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Exploration und ordnende Welterschließung, in dem Aktivitätssimulation und Agoraphobie à la Oblomovka keinen Platz haben können. Bloße Ammenmärchen (im doppelten Wortsinn) schaffen keine odysseeische Welt. Als Gončarov 1854 mit der „Fregatte Pallas“ die russische Ostküste anläuft, bedauert er zwar den „Abschied vom Meer“, empfindet aber zugleich Freude über die Sicherheit des Festlandes und variiert den oben zitierten Ithaka-Vergleich (s. o.). Noch 10.000 Werst müsse er bis Petersburg zurücklegen: „Was für ein gewaltiges Ithaka und wie sollen es unsere Odysseuse zu ihren Penelopes schaffen!“ Und dann: „Wir sind alle Odysseuse“.81 Das ist kein bloßes Wortgeplänkel zwischen Scherz und Selbstgefälligkeit, sondern doch wohl – am Ende der Weltreise – Bewußtsein um die Größe der zu bewältigenden Aufgaben, vor denen ein expandierendes und sich transformierendes Rußland steht. In diesem Zusammenhang benutzt Gončarov wiederholt das Wort „Zivilisation“: Diese könne nicht mit „gleichgültigen, zurückgebliebenen, faulen, verschlafenen Menschen“ erreicht werden. Nicht Epikurs Lathe biōsas! (Lebe unauffällig!), sondern Kants publice age! (Handle öffentlich!) erschließt die Welt. Um andere Völker und überhaupt die Welt zu verstehen, notiert Gončarov zu Beginn der „Pallas“-Reise in einem Brief vom Dezember 1852, solle man sich nicht auf „nackte Tatsachen“, sondern auf „den Schlüssel zu ihnen“ (ključ k nim) konzentrieren. Um diesen „Schlüssel“ wolle er sich bemühen. Später heißt es in der Fregatte Pallas, ohne „Schlüssel zur Weltanschauung“ der Japaner, ohne „Schlüssel“ zu ihrem Gesellschaftsgebäude könnten weder Christentum noch „Aufklärung“ (prosveščenie) bei ihnen eingeführt werden.82 Wir erinnern uns: die aufklärungsfernen Oblomover haben den Schlüssel zum Dasein verloren, Štol’c hingegen besitzt ihn (s. o.). Das Wortfeld „ključ“ ist bei Gončarov ein zentrales ‚Schlüsselwort‘ zum Roman Oblomov und zur Frage gelingender navigatio vitae. Sibirien zu kultivieren, verlangte eine Pionierleistung. Das so verstandene sibirische Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist das Gegenteil des topophobischen Oblomovka.83 Für die Erschließung der Welt und also auch Sibiriens ist eine „odysseeische Erziehung“ erforderlich: ein anordnendes „In-die-Welt-Schicken“ und ein akzeptiertes „In-die-Welt-Gehen“. So wie Andrej Štol’c erzogen worden 81
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Gončarov, PSSiP 1997, II, S. 633: „Kakaja ogromnaja Itaka i kakovo našim Ulissam dobirat’sja do svoich Penelop!“; S. 635: „Nas vsech, Ulissov […]“. S. Gončarov, Fregat „Pallada“ 1986, S. 348, 364, 621 u. ö. bzw. PSSiP 1997, II, S. 35, 314, 448, 470 u. ö. Zum Komplex „Sibirskoe civilizatorstvo“ vgl. auch Krasnoščekova, Fregat ‚Pallada‘ i Oblomov 1994, S. 313ff.
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ist. Progression statt Regression. Homerisch argumentiert, heißt das: Lebensfahrt mit Thymotik, reziproken Pflichten und Rechten, positivem Begriff von „Stolz“ und dem agonalen Prinzip der aemulatio.84 Thymòs und Stolz müssen allerdings kontrolliert, von Vernunft bestimmt und durch ausgleichenden Ataraxiegewinn gemäßigt sein. Keineswegs geht es um Bellizismus oder Megalomanie. Das wissen wir Heutigen, die wir Antikriegsliteratur wie Arnold Zweigs Erziehung vor Verdun (1935) gelesen haben, nur zu gut. Auch Gončarov wußte es. Evasion darf nicht zu Invasion führen. Ohne das Evasive allerdings wird Oblomovka zur Ruinenstätte und zum Friedhof der Aufklärung. Bei Hermann Hesse steht: „Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise, / Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen“ (Stufen). Und Goya wußte: Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer. Wie im „Son Oblomova“. Štol’c warnt Oblomov ausdrücklich vor dem „Schlaf der Seele“ (son duši; S. 170). Die großen Reisenden Odysseus und Telemach haben alle Herausforderungen durch Ungeheuer und das Ungeheuerliche gemeistert. Ausfahrt und Heimkehr, Lebenskampf und Rückzug stehen am Ende bei ihnen im Gleichgewicht. Unzählige russische Autoren haben vor dem Vernunftschlaf und dem Monströsen als Aufklärungsverlust gewarnt. Radiščevs Reise stellt als Motto einen Vers aus der Tilemachida voran: „Čudišče oblo, ozorno, ogromno, stozevno, i lajaj“.85 Im „Son Oblomova“ dominiert Aberglaube an Ungeheuer und Monstren (čudovišča), so daß die dortige „Dämonologie“ (demonologija) vernunftlosen Schrecken hervorbringt, in welchem „sich der schwache Mensch verliert“ (S. 117). Bulgakov gibt später seiner antisowjetischen Erzählung Hundeherz den Untertitel „Eine monströse Geschichte“ (čudoviščnaja istorija). Zu den Deutungen von Goyas Schlaf der Vernunft gehört, daß Mangel an Aufklärung und Vernunft aus dem Unterbewußtsein heraus Ungeheuer(liches) entstehen lasse. Im „Son Oblomova“ erklärt Gončarov explizit, daß Iljušas frühkindliche Prägung durch die „oblomovsche Atmosphäre“ des Vernunftlosen und Verwöhnenden „unbewußt“ (bessoznatel’no) erfolge und damit unwiderruflich sein ganzes „Lebensprogramm“ bestimme (IV, S. 109, 116, 84
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Zu Begriff und Sache der aemulatio vgl. Rhoby, Andreas/Schiffer, Elisabeth (Hgg.): Imitatio – aemulatio – variatio. Wien 2010 oder Müller, Jan-Dirk et al. (Hgg.): Aemulatio. Kulturen des Wettstreits in Text und Bild (1450–1620). Berlin 2011. Zu einem Plädoyer für selbstbewußten Stolz siehe Doehlemann, Martin: Mut zum Stolz und Hochmut. Bedingungen einer höheren Kultur. Berlin 2011. Manche Oblomov-Sympathisanten wollen Oblomovs Namen nicht von „oblomok“ ableiten, sondern von einem positiv gedeuteten „oblyj“. Zur Korrektur sollte allein schon Trediakovskijs Vers ausreichen.
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120, 123). Frühkindliche Fehlerziehung hat eine lange Inkubationszeit. Da kann selbst das odysseeische Figurenkonzept eines Andrej Štol’c nicht zum Korrektiv werden. Doch das Homerische bleibt gleichwohl eine Idealsetzung, zumal es 1849 von Žukovskij erneut begründet worden war. Vladimir Nabokov hält fest: „Gewiß waren russische Leser im kultivierten Rußland stolz auf Puschkin und Gogol, aber ebenso stolz waren sie auf Shakespeare und Dante, Baudelaire und Edgar Allan Poe, Flaubert und Homer, und das machte ihre Stärke aus.“86 Zum Urgrund der Bildung, so Nabokov weiter, gehöre der Gang zu den Quellen mit freiem Lesen und Denken: „Leser werden frei geboren und sollten auch frei bleiben.“ Zur Bekräftigung dieses Postulates zitiert er Puškins Gedicht Iz Pindemonti aus dem Jahre 1836, darunter die Verse […] Rechenschaft Leg ich vor niemand ab; nur meiner eignen Kraft Dien ich und folge ich; vor Mächten und Livreen Beug weder ich den Hals noch Wissen und Ideen.87
Solche Bekenntnisse sind Ausdruck von Aufklärung, Bürgerstolz und ‚odysseeischem‘ Menschenbild – als Gegenbild zu Oblomovka. Gončarovs ‚homerische‘ Ideale haben dem zugestimmt – mit der Einschränkung, daß Ideal und Realität auseinanderfallen können und daß – gemäß Kant – „die Idee des Menschen als eines Vernunftwesens sich nur in der Gattung, nicht im Individuum vollständig entwickeln kann“.88 Gleichwohl: Für Gončarov bleibt Homer, zumal in der Odyssee, ein großartiger Autor der konkreten Wirklichkeit, sei es in der Beschreibung gewaltiger Kämpfe, sei es in der Darstellung würdevoller Alltäglichkeit. 1877 schreibt er an den ehemaligen Minister P. A. Valuev (1815–1890): „Was oder wer war realitätsnäher als Homer? Was für eine Wahrheit […]“.89
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Nabokov, Vladimir: Die Kunst des Lesens. Meisterwerke der russischen Literatur [Aus d. Amerik. von Karl A. Klewer]. Frankfurt a. M. 1984, S. 39 (Hervorhebung von mir, P. T.). Als russische Ausgabe vgl. ders., Lekcii po russkoj literature. SPb. 2010, S. 41. Nabokov, Kunst des Lesens 1984, S. 40 bzw. Lekcii 2010, S. 42: „Nikomu / Otčeta ne davat’, sebe liš’ samomu / Služit’ i ugoždat’; dlja vlasti, dlja livrei / Ne gnut’ ni sovesti, ni pomyslov, ni šei.“ Zur Deutung des Gedichts vgl. Rothe, Hans: Puškins „Iz Pindemonti“ (1836). Zwei Kapitel über Erklärungen und Erklären. In: Zeitschrift für Slavische Philologie 64 (2005/2006), S. 279-338. Mittelstraß, Jürgen: Kant und die Dialektik der Aufklärung. In: Schmidt, Jochen (Hg.), Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart. Darmstadt 1989, S. 341-360, hier: S. 356. „Čto ili kto byl real’nee Gomera? Kakaja pravda […]“ (Gončarov, PSSiP 2004, VI, S. 582).
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Rezeption Wiederholt haben sich Schriftsteller, Kritiker und Wissenschaftler mit der Frage auseinandergesetzt, ob es sich in dem Roman Oblomov und vor allem in dem Kapitel Son Oblomova um eine Idylle handelt bzw. Elemente des Idyllischen ausgemacht werden können. Dabei scheiden sich die Ansichten: Eine lange Tradition sieht in Oblomovka einen Abglanz des Goldenen Zeitalters oder des Irdischen Paradieses, während neuere Forschungen eher eine Ambivalenz der Idyllik, eine Abkehr vom Idyllischen oder sogar eine Umkehrung desselben in sein Gegenteil zu belegen versuchen. Die erste Interpretationslinie ist ansatzweise in Nikolaj Dobroljubovs Aufsatz Čto takoe oblomovščina angedeutet, der kurz nach dem Erscheinen des Romans 1859 in den „Otečestvennye zapiski“ veröffentlicht wird. Dobroljubov nimmt die Episode aus dem IV. Kapitel des zweiten Teils des Romans, in der Oblomov seine Vorstellung eines glücklichen Lebens auf dem Land ausmalt, zum Anlaß folgender Bemerkung: И если б Илье Ильичу не лень было уехать из Петербурга в деревню, он непременно привел бы в исполнение задушевную свою идиллию. Вообще обломовцы склонны к идиллическому, бездейственному счастью, которое ничего от них не требует: «Наслаждайся, мол, мною, да и только...». Und wenn Il’ja Il’ič nicht zu faul gewesen wäre, Petersburg zu verlassen und aufs Land zu fahren, hätte er unweigerlich seine herzinnigliche Idylle verwirklicht. Im allgemeinen neigen
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Michaela Böhmig die Oblomover zum idyllischen, tatenlosen Glück, das nichts von ihnen verlangt: „Genieße mich und sei’s zufrieden …“.1
In seinem Essay über Gončarov (1896) schreibt Dmitrij Merežkovskij weniger als vierzig Jahre später im gleichen Sinn über Oblomovka: Вот природа, как ни один из новых поэтов не понимает ее, — природа, лишенная тайны, ограниченная и прекрасная, какой представляли ее древние: декорация для идиллии феокритовских пастухов или, еще лучше, для счастия патриархальных помещиков. […] В счастливой Обломовке смерть — такой же прекрасный обряд, такая же идиллия, как и жизнь. Und hier ist eine Natur, wie sie keiner der neuen Dichter versteht, eine Natur ohne Geheimnis, begrenzt und von großer Schönheit, wie sie die Alten darstellten: die Kulisse für eine Idylle theokritischer Hirten oder, besser, für das Glück patriarchalischer Gutsbesitzer. […] Im glücklichen Oblomovka ist der Tod ein Ritus von gleich großer Schönheit, dieselbe Idylle, wie das Leben.2
Julij Ajchenval’d nennt den Schriftsteller in seinem Porträt Gončarovs (1910) einen „Goracii s Povol’žja“ [Horaz aus der Volgaregion], dem er eine gute Kenntnis der Idylle zuschreibt, hinter der jedoch eine „zadumčivaja pečal’“ [nachdenkliche Traurigkeit], die Puškinsche „svetlaja pečal’“ [lichte Traurigkeit] durchscheinen.3 In dieser Tradition bewegt sich auch Joachim Klein, der ausführlich die „Idyllik im realistischen Raum“ des Oblomov belegt.4 Erste kritische, politisch eingefärbte Überlegungen stellt Petr Kropotkin an, der dasselbe Kapitel wie Dobroljubov zum Anlaß für folgende Betrachtung nimmt: Когда Обломов мечтает о жизни в деревне в собственном имении, жизнь эта представляется ему как ряд пикников и идиллических прогулок в сообществе добродушной, покорной и дородной жены, которая с обожанием глядит ему в глаза. Вопрос о том, каким образом достается ему вся эта обеспеченность, чего ради люди должны работать на него, никогда не приходит ему в голову. Но разве мало найдется разбросанных по всему миру владельцев фабрик, хлебных полей и каменноугольных шахт или акцио-
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Dobroljubov, Nikolaj A.: Čto takoe oblomovščina. In: ders., Sobranie sočinenij v trech tomach. M. 1986–1987, Bd. 2, S. 218-257, hier: S. 235f.; wenn nicht anders angegeben, sind alle Übersetzungen von mir (M. B.). Merežkovskij, Dmitrij S.: Gončarov. In: ders., Večnye sputniki. Portrety iz vsemirnoj literatury. SPb. 2007, S. 195-213, hier: S. 196, 197. Ajchenval’d, Julij I.: Gončarov. In: ders., Siluėty russkich pisatelej. M. 1994, S. 207-216, hier: S. 212, 216. Vgl. Klein, Joachim: Gončarovs „Oblomov“: Idyllik im realistischen Roman. In: Thiergen, Peter (Hg.), Ivan A. Gončarov. Leben, Werk und Wirkung. Beiträge der I. Internationalen Gončarov-Konferenz. Köln/Weimar/Wien 1994, S. 217-245.
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неров различных предприятий, которые смотрят на свою собственность точно так же, как Обломов смотрел на свое имение, т. е. идиллически наслаждаясь работой других и не принимая самим ни малейшего участия в этой работе? Und wenn er [Oblomov] vom Landleben auf seinem Gut träumt, so denkt er an hübsche Gewächshäuser, an Picknicks im Walde, an idyllische Spaziergänge mit einer gutmütigen, willfährigen und ruhigen Frau, die ihm in die Augen sieht und ihn anbetet. Die Frage, warum und wie er zu all diesem Reichtum gekommen ist, und warum all diese Leute für ihn arbeiten müssen, beunruhigt seinen Geist niemals. Aber – wie viele von jenen in der ganzen Welt, die Fabriken, Weizenfelder oder Kohlenbergwerke oder Anteile von solchen besitzen, wie viele von ihnen denken jemals an Bergwerke, Weizenfelder und Fabriken anders als Oblomov an sein Landgut dachte – d. h. mit idyllischen Betrachtungen darüber, wie die anderen arbeiten, und ohne die geringste Absicht, ihre Bürde zu teilen.5
Michail Bachtin behandelt Oblomov im Rahmen seiner Abhandlung zum idyllischen Chronotop und stellt den Roman in die Reihe der Bildungsromane Stendhals, Balzacs und Flauberts, in denen das idyllische Weltbild im Zusammenstoß mit der neuen kapitalistischen Ordnung auseinander- und zusammenbricht. Trotzdem sieht er sowohl in Oblomovka als vor allem auf der Vyborger Seite eine Idylle. Im Kapitel „Idilličeskij chronotop v romane“ aus Formy vremeni i chronotopa v romane (1937–1938) schreibt Bachtin: Своеобразное место занимают романы Гончарова […] (особенно «Обыкновенная история»). В «Обломове» тема [изменение положительного человека идиллического мира – M. B.] разработана с исключительной ясностью и четкостью. Изображение идиллии в Обломовке и затем идиллии на Выборгской стороне (с идиллической смертью Обломова) дано с полным реализмом. В то же время показана исключительная человечность идиллического человека Обломова и его «голубиная чистота». В самой идиллии (особенно на Выборгской стороне) раскрываются все основные идиллические соседства — культ еды и питья, дети, половой акт, смерть и т. д. (реалистическая эмблематика). Подчеркнуто стремление Обломова к постоянству, неизменности обстановки, его боязнь перемещения, его отношение к времени. Einen eigenen Platz nehmen die Romane Gončarovs ein […] (vor allem Eine alltägliche Geschichte). Im Oblomov ist das Thema [der Veränderung des positiven Menschen der idyllischen Welt; Anm. von mir – M. B.] mit außergewöhnlicher Klarheit und Präzision herausgearbeitet. Die Darstellung der Idylle in Oblomovka und dann der Idylle auf der Vyborger Seite (mit dem idyllischen Tod Oblomovs) ist vollkommen realistisch. Gleichzeitig wird die außergewöhnliche Menschlichkeit des idyllischen Menschen Oblomov und seiner „sanftmütigen Reinheit“ gezeigt. In der eigentlichen Idylle (besonders auf der Vyborger Seite) werden die hauptsächlichen idyllischen Begleiterscheinungen aufgedeckt: der Kult 5
Kropotkin, Petr A.: Ideale und Wirklichkeit in der russischen Literatur. Frankfurt a. M. 1975, S. 163-164 (d.tsche Übersetzung von B. Ebenstein); die russische, aus dem Englischen übersetzte Version Idealy i dejstvitel’nost’ v russkoj literature wurde 1907 in Petersburg veröffentlicht; nutzbar unter: http://referat.znate.ru/pars_docs/tw_refs/28/27411/27411.pdf.
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Michaela Böhmig des Essens und Trinkens, die Kinder, der Geschlechtsakt, der Tod usw. (realistische Emblematik). Es werden Oblomovs Bestrebung nach Beständigkeit, Unveränderlichkeit der Umstände, seine Angst vor Umstellungen, sein Verhältnis zur Zeit unterstrichen.6
Der nächste Schritt zur Relativierung einer zu einseitigen Interpretation von Oblomov und vor allem von Son Oblomova als Idylle ist die Feststellung, daß die idyllisch anmutenden Textstellen durch verschiedene Stilmittel abgeschwächt oder sogar infrage gestellt werden. Hans Rothe spricht dem Traum idyllischen Charakter zu, denn „die Kindheit wird als Idylle gesehen […] mit den Gattungsmerkmalen der Entrückung aus der realen Welt und der Verklärung durch Erinnerung“.7 Wie schon Setchkarev8 weist Rothe aber auch auf die ironischen und distanzierenden Züge hin, mit denen der Autor die Diskrepanz zwischen Traum und Wirklichkeit hervorhebt und somit vermeidet, daß die Distanz übersehen wird, „die Gončarov für den Leser auch zur Idylle herstellt“.9 Weiter wird angedeutet, wie sich die Idylle ins Unheimliche wandelt.10 Renate Lachmann sieht in Son Oblomova ein „ambivalentes Phantasma“11 und nach Vasilij Ščukin ist Oblomovka, dem keineswegs idyllische Züge fehlen, dem Genre der mündlichen Volksdichtung zuzuordnen, da wir es mit „skazka, pererodivšajasja v byl’“ [einem Märchen, das zu einer wahrheitsgetreuen Erzählung wird], zu tun haben.12 Diese Interpretation geht vielleicht auf eine Be-
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Bachtin, Michail M.: Formy vremeni i chronotop v romane. Očerki po istoričeskoj poėtike. In: ders., Literaturno-kritičeskie stat’i. M. 1986, S. 121-291, hier: S. 267 [zuerst in ders., Voprosy literatury i ėstetiki. M. 1975, S. 234-407]. Rothe, Hans: Nachwort. In: Gontscharow, Iwan: Son Oblomova. Stuttgart 1987, 2004, S. 141-155, hier: S. 143. Vgl. Setchkarev, Vsevolod: Ivan Goncharov. His Life and His Works. Würzburg 1974, S. 128-129. Die ironische Distanz, die Gončarov mit Hilfe des Erzählers zu seiner Hauptfigur herstellt, wird auch von Singleton erwähnt (Singleton, Amy C.: No Place Like Home. The Literary Artist and Russia’s Search for Cultural Identity. Albany [N. Y.] 1997, S. 69). Rothe, Nachwort 2004, S. 145f. (Hervorhebung durch Kursivschrift von H. Rothe). Vgl. Rothe, Nachwort 2004, S. 149. Vgl. Lachmann, Renate: Das Leben – ein Idyllentraum: Gončarovs „Son Oblomova“ als ambivalentes Phantasma. In: Compar(a)ison: An International Journal of Comparative Literature (1993) 2, S. 279-300. Ščukin, Vasilij: Turgenevskoe gnezdo i Oblomovka. In: ders., Mir dvorjanskogo gnezda. Geokul’turologičeskoe issledovanie po russkoj klassičeskoj literature. Krakow 1997, S. 117-140, hier: S. 134 (Hervorhebung durch Kursivschrift von V. Ščukin).
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trachtung des kleinen Il’ja Il’ič Oblomov zurück, für den Leben und Märchen verwoben sind („skazka u nego smešalas’ s žizn’ju“).13 Die neuere Forschung – außer Lohff,14 Ljapuškina15 und Otradin16 – geht noch weiter und entlarvt in Oblomov und vor allem in Son Oblomova der Idylle geradezu entgegengesetzte Züge. Vladimir Mel’nik stellt als einer der ersten fest, daß „vpečatlenie idilličnosti oblomovskoj žizni, nesomnenno, ložno“ [der Eindruck der Idyllik des Oblomovschen Lebens unzweifelhaft falsch ist].17 Annette Huwyler benutzt in Bezug auf Son Oblomova die Bezeichnung „Scheinidylle“.18 Unvereinbar mit einer wirklichen Idylle sind nach Huwyler die Vernachlässigung und der Zerfall Oblomovkas, der Geiz der Bewohner des Ortes, ihr eingefleischter Aberglaube, sowie die Behandlung der Tiere und, wie ich hinzufügen würde, auch der nicht zum Kreis der Familie Gehörenden (Leibeigene, Bedienstete, Fremde und sogar Gäste). Für Katharina Hansen Löve erweist sich das vermeintliche Paradies, das in Son Oblomova entworfen wird, in Wirklichkeit als ein „mock-
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Gončarov, Ivan A.: Oblomov. Roman v četyrech častjach. L. 1987, S. 93; die Seitenzahlen weiterer Zitate oder Hinweise aus Oblomov werden in Klammern im Text angegeben. Vgl. Lohff, Ulrich: Die Bildlichkeit in den Romanen Ivan Aleksandrovič Gončarovs (1812– 1891). München 1977 (auf S. 29 ist von der „Idylle Oblomovka“ die Rede). Ljapuškina, Ekaterina I.: Idilličeskij chronotop v romane I. A. Gončarova „Oblomov“. In: Vestnik leningradskogo universiteta 2. Serie (1989) 2/9, S. 27-33; Ljapuškina, Ekaterina I.: Idilličeskie motivy v russkoj lirike načala XIX veka i roman I. A. Gončarova „Oblomov“. In: Markovič, V. M. (Hg.), Ot Puškina do Belogo. Problemy poėtiki russkogo realizma XIX-načala XX veka. Mežvuzovskij sbornik. SPb. 1992, S. 102-117; Ljapuškina, Ekaterina I.: Russkaja idillija XIX veka i roman I. A. Gončarova „Oblomov“. SPb. 1996 (die Autorin hält in ihren Arbeiten am „idyllischen Chronotop“ fest). Otradin, Michail V.: „Son Oblomova“ kak chudožestvennoe celoe (nekotorye predvaritel’nye zamečanija). In: Russkaja literatura (1992) 1, S. 3-17 (auf S. 4 charakterisiert der Autor das alltägliche Leben (byt) in Oblomovka als „poetisch“, wodurch es ein wichtiger Bestandteil der „idyllischen Welt wird“; auf S. 5 bezeichnet er dann den „Winkel“ als dem sentimental-idyllischen Bewußtsein nahe; und auf S. 6 hebt er schließlich hervor, daß sich in „Son Oblomova“ zwei Landschaftsbeschreibungen gegenüberstehen: die idyllische und die ossianische, wobei der Vorzug der ersteren gilt). Mel’nik, Vladimir I.: Antičnost’ v romane I. A. Gončarova „Oblomov“. K voprosu o svoeobrazii tipizacii. In: Kuz’mičev, I. K. (Hg.), Struktura literaturnogo proizvedenija. Vladivostok 1983, S. 86-96, hier: S. 93. Huwyler, Annette: Ist Oblomov ein „Heiliger“?. In: Thiergen, Peter (Hg.), I. A. Gončarov. Beiträge zu Werk und Wirkung. Köln/Wien 1989, S. 57-70, hier: S. 60f., 68; vgl. auch Thiergen, Peter: Oblomov als Bruchstück-Mensch. Präliminarien zum Problem „Gončarov und Schiller“. In: ders. (Hg.), I. A. Gončarov. Beiträge zu Werk und Wirkung 1989, S. 163191, hier: S. 174.
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idyll“ und ein „anti-paradise“.19 Vladimir Kantor geht noch weiter und zitiert zuerst Loščic, der von „Antiutopie“ spricht, in der es keine Zukunft gibt, aber auch feststellt, daß der vom „verlorenen Paradies“ träumende Il’ja Il’ič „tvorit odnu iz samych bezzaščitnych, chotja po-svoemu i obajatel’nych, idillij, kotorye kogda-libo grezilis’ čeloveku“ [eine der hilflosesten, wenn auch auf ihre Art bezauberndsten Idyllen schafft, die je einem Menschen vorschwebten],20 um dann zu resümieren, daß Oblomov sich zwar eine Idylle erschafft, der der Schriftsteller in seiner Antiutopie aber den Nimbus nimmt.21 Weiter meint Kantor sogar, daß Oblomovka als „satira na idilliju“ [S a tire auf die Idylle] geschaffen wurde.22 Auch Ščukin versteht Son Oblomova als „chorošo zamaskirovannuju antislavjanofil’skuju satiru“ [gut getarnte antislavophile Satire].23 Meines Erachtens geht es trotz aller nicht zu übersehender unidyllischer Momente zu weit, von Satire zu sprechen, da Gončarov die satirische Tonart fremd war. Im Gegensatz zu Kantor, der feststellt, daß in Oblomovs Traum das für jede Idylle wesentliche utopische Moment fehlt, ist für den italienischen Slavisten Vittorio Strada das utopische Anliegen unverkennbar. Strada spricht von einem „regressiven Traum“, in dem sich der Träumer in einen embryonalen Zustand zurückversetzt, dabei aber ein utopisches Modell entwickelt, das polemisch gegen eine vom „Stolzismus“ beherrschte Gesellschaft gerichtet ist.24 Ich selbst habe die Interpretationen der „ironischen Umkehrung der Idylle“ und einer „antiutopischen Perspektive“ zum Ausgangspunkt eines Aufsatzes genommen,25 dem Elena Krasnoščekova in ihrer Gončarov-Monographie zustimmt, obwohl sie selbst die Ambivalenz in der Darstellung von Oblomovka
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Hansen Löve, Katharina: The Structure of Space in I. A. Gončarov’s „Oblomov“. In: Russian Literature 28 (1990), S. 175-210, hier: S. 185. Loščic, Jurij M.: Gončarov. M. 21986, S. 201; auch in Kantor, Vladimir K.: V poiskach ličnosti: opyt russkoj klassiki. M. 1994, S. 183-194. Vgl. Kantor, Vladimir K.: Dolgij navyk k snu (razmyšlenija o romane I. A. Gončarova „Oblomov“). In: Voprosy literatury (1991) 1, S. 149-185, hier: S. 154. Kantor, Dolgij navyk k snu 1991, S. 155 (Hervorhebung durch Sperrschrift von V. Kantor). Ščukin, Turgenevskoe gnezdo i Oblomovka 1997, S. 135. Strada, Vittorio: Le veglie della ragione. Visioni dello spirito russo. In: ders., Le veglie della ragione. Miti e figure della letteratura russa da Dostoevskij a Pasternak. Torino 1986, S. 3-14, hier: S. 7f. Böhmig, Michaela: Il “Sogno di Oblomov”: apologia dell’orizzontalità. In: Europa orientalis 12 (1993) 1, S. 33-48, hier: S. 34; Bemig, Michaėla: „Son Oblomova“: apologija gorizontal’nosti. In: Ždanova, M. B./Lobkareva, A. V./Smirnova, I. V. (Hgg.), Materialy meždunarodnoj konferencii, posvjaščennoj 180-letiju so dnja roždenija I. A. Gončarova. Ul’janovsk/Simbirsk 1994, S. 26-37, hier: S. 27.
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unterstreicht und den Kontrast zwischen Idylle und Antiutopie in Son Oblomova herausarbeitet.26 Peter Thiergen reiht Son Oblomova entschieden in die Gattung der Scheinidylle ein, in der „vordergründig […] eine Idylle beschrieben [wird]. Hintergründig aber […] das Böse [lauert]“, und resümiert: „Ihre [Gogol’s und Gončarovs] ‚Idyllen‘ sind von vornherein Pseudo- oder Antiidyllen, bewohnt von reduzierten Bruchstückmenschen“.27 Gegen Interpretationen dieser Art wendet sich der Einwand von Joachim Klein, der behauptet: „Das Leben von Oblomovka ist keine Antiidylle, sondern eine reale Idylle, die teilhat an der Ambivalenz des Wirklichen“.28 Es besteht daher immer noch die Frage, ob es sich bei Oblomov im allgemeinen und bei Son Oblomova im besonderen um eine Idylle, eine Antiidylle oder eine Zwischenform handelt, die ich, in Anlehnung an Peter Thiergens Bruchstückmenschen,29 als Bruchstückidylle bezeichnen würde. Diese Interpretation wäre schon dadurch nahegelegt, daß „Oblomovka“ ein aus dem Wort oblomok gewonnener Ortsname für einen verlorenen Winkel mit baufälligen Hütten, schiefen, wackeligen Treppen, einsturzgefährdeten Hängegalerien und umgefallenen Zäunen ist.
Idyllendichtung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts In der Frage nach Gončarovs eigener Idyllenkonzeption und danach, ob er Son Oblomova als Idylle oder als deren Gegenteil angelegt hat und wie er dieses Kapitel, aber auch den ganzen Roman, verstanden wissen wollte, ist es nicht müßig, die Idyllendichtung und die damit verbundene theoretische und kritische Auseinandersetzung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts genauer zu betrachten.
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Vgl. Krasnoščekova, Elena: Gončarov i mir tvorčestva. SPb. 1997, S. 258 (auf S. 253 behauptet die Autorin, daß „Gončarov das Bild Oblomovkas sehr konsequent nach den Gesetzen des Idyllengenres konstruiert hat“ [Gončarov očen’ posledovatel’no stroil kartinu Oblomovki po žanrovym zakonam idillii], lenkt dann aber auf S. 255 ein, daß die Idylle in „Son Oblomova“ eher vielschichtig ist). Thiergen, Peter: Literarische Arkadienbilder im Russland des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Heinecke, Berthold/Blanke, Harald (Hgg.), Arkadien und Europa. Haldensleben-Hundisburg 2007, S. 169-193, hier: S. 183, 184. Klein, Gončarovs „Oblomov“. Idyllik im realistischen Roman 1994, S. 227. Vgl. Thiergen, Oblomov als Bruchstück-Mensch 1989, S. 163-191.
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Im Jahr 1820, als Gončarov acht Jahre alt ist, erscheint in Petersburg die vielleicht umfangreichste und meistbeachtete Idyllensammlung im russischen Sprachraum, die Idillii von Vladimir Panaev.30 Sie enthält 25 in Versform geschriebene Idyllen sowie ein ausführliches, beinahe zwanzig Seiten umfassendes Vorwort des Verfassers, in dem die Entstehung, die verschiedenen Gattungen (Idylle, Ekloge), die Formen (Ode, Hymne, Elegie), sowie die Themen der Idylle erläutert werden.31 Als unübertroffenes Vorbild nennt Panaev nach den antiken Autoren (Hesiod, Stesichorus, Theokrit) und den Vertretern der nationalen – italienischen, französischen, deutschen und englischen – Literaturen32 vor allem Salomon Gessner, aus dessen „An den Leser“ gerichtetem Vorwort er einige Argumentationen beinahe wortgetreu übernimmt33 und dem nach eigener Aussage auch seine eigenen Idyllen nachempfunden sind.34 In Panaevs Idyllen agieren Personen aus der griechischen Mythologie, die in Harmonie mit ihrer friedlichen kleinen Welt leben, die die Götter verehren, sich an der Natur ergötzen, keine Not leiden und sich in Gesang und Schalmeispiel üben, um ihre Liebste zu erobern. 30
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Die weitverzweigte Familie der Panaevs hatte enge Beziehungen zur Literatur und zu deren Vertretern und brachte selbst Dichter und Prosaiker hervor. Der Idyllendichter Vladimir Ivanovič Panaev ist der Onkel des Schriftstellers, Kritikers, Memoiristen und Journalisten Ivan Ivanovič Panaev. Dieser gehörte dem Kreis um Belinskij an, war mit Nekrasov der Herausgeber des „Sovremennik“ und wurde bald der verantwortliche Redakteur dieser Zeitschrift, in der Gončarov 1847 die Obyknovennaja istorija publizierte. Die Bekanntschaft Gončarovs mit Ivan Panaev war 1835-1836 in dem Kreis um die Familie Majkov erfolgt. Panaev erwähnt Gončarov wiederholt in seinen literarischen Memoiren. In Gončarovs Bibliothek befanden sich Ivan Panaevs Sobranie stichotvorenij Novogo poėta (SPb. 1855), mit der Widmung auf dem Umschlag: „Ivan Aleksandrovič Gončarov von einem der glühendsten Verehrer seines Talents. Panaev 28 Okt. 18[…]“ (Ivanu Aleksandroviču Gončarovu ot odnogo iz samych gorjačich poklonnikov ego talanta. Panaev 28 akt. 18[…].) (vgl. Baranovskaja, I. Ė. [Hg.]: Nikitina, N. I./Sukajlo, V. A./Kukueva, A. I. [Verfasser]: Opisanie biblioteki Ivana Aleksandroviča Gončarova. Katalog. Ul’janovsk 1987, S. 69, Nr. 141). Panaev, Vladimir I.: Vmesto predislovija. In: ders., Idillii. SPb. 1820, S. III-XX; die Seitenzahlen weiterer Zitate oder Hinweise aus den Idillii werden in Klammern im Text angegeben. Unter den Russen ist nur Sumarokov genannt (vgl. Panaev, Vmesto predislovija 1820, S. XIX). Vgl. Gessner, Salomon: An den Leser. In: ders., Idyllen von dem Verfasser der Daphnis. Zürich 1756, S. 5-12. Auf der letzten Seite seiner Vorrede schreibt Panaev: „Ich habe versucht, ihn [Gessner] überall dort nachzuahmen, wo es meine geringe Begabung und die Schwierigkeit der Versform erlaubten, mit welcher diese Art Dichtung eng verbunden ist“ ([J]a staralsja podražat’ emu [Gesneru] vezde, gde pozvoljali to slabye moi sposobnosti i trudnost’ stichosloženija, s koeju v osobennosti soprjažen sej rod Poezii; Panaev, Idillii 1829, S. XX).
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Nach Panaev soll die Hirtendichtung, die vor allem das Leben und die Gebräuche von Urvölkern darstellt, jedoch auch den Ansprüchen der zeitgenössischen Gesellschaft genügen, indem sie ästhetische und ethische Anliegen verbindet (S. IV). Hauptthemen sind Dankbarkeit für eine unsichtbare, doch gütige Gottheit, sowie die Liebe, die sich in einer patriarchalischen Weltordnung entfaltet, wie sie von Moses beschrieben wurde und sich in dem heidnischen Goldenen Zeitalter wiederfindet. Die handelnden Personen sind die einfachen, glücklichen, unschuldigen und – von allen Leidenschaften und Bedürfnissen – freien Bewohner der fruchtbaren Täler Siziliens und der Ufer des LadonFlusses (S. IV-V). Panaev unterscheidet zwischen Idylle und Ekloge, zwei Gattungen, die in den Idyllen Salomon Gessners vereint sind und unter dem Begriff der „Schäferdichtung“ zusammenfallen (S. VI). Hier agieren neben Hirten auch Fischer, Bauern und Gärtner, weshalb Panaev für die Schäferdichtung den Namen „Poėzija Sel’skaja“ vorschlägt (S. VII) und dieser Gattung außer den Georgica von Virgil auch Les Saisons (1769) von Jean-François de Saint Lambert und den Homme des Champs (1802–1805) von Jacques Delille zuordnet. In diesen neueren Werken besingt der Dichter die Liebreize der Natur und die Freuden des Landlebens, ohne sich dabei mit der Phantasie in das Goldene Zeitalter zurückzuversetzen (S. VII). Für den besten Idyllendichter bis zur Hälfte des 18. Jahrhunderts hält Panaev Virgil, bis der Theokrit ebenbürtige Salomon Gessner auf den Plan trat (S. XI). Er hat als erster die Grenzen der Schäferdichtung erweitert, indem er in seinen Idyllen Ehrfurcht vor den Göttern, Liebe in allen Spielarten, Gefühle der Freundschaft und des Mitgefühls, ausgelassene Heiterkeit und stillen Kummer vereinte, wodurch seine Dichtungen „raznoobraznymi, pravdopodobnymi, zanimatel’nymi, blizkimi k serdcu vsjakogo čuvstvitel’nogo čeloveka“ [abwechslungsreich, wahrheitsgetreu, anregend und dem Herzen jedes empfindsamen Menschen nahe sind; S. XIII]. Panaev stellt sich auch die Frage, warum die Dichter die Idylle nicht in die jetzige Zeit versetzen, und antwortet, daß die Werke dadurch jeden Wert und sogar ihre Glaubwürdigkeit verlieren würden, da die heutigen Hirten und Bauern durch die lange Sklaverei grob und verschlagen seien (S. XIII-XIV). Außerdem kann der Dichter, der die Handlung in fernen Zeiten ansiedelt, aus dem reichen Schatz der Mythologie schöpfen. Weiter führt Panaev aus, daß es die einfachen Sitten der Zeit Theokrits und die Achtung vor dem Ackerbau sind, die zum Erfolg der Idylle beitrugen. Jetzt haben die Menschen hingegen ihre Verbindung zur Natur verloren und
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Trompeten und Leier schallen lauter als die Schalmei (S. XV). Die Sprache des Hirten ist die Sprache des Herzens und das Weltall [vselennaja] ist für ihn auf das Landgut [usad’ba derevni] mit seinen Tälern, Bergen und Wäldern beschränkt (S. XVI-XVII). Daher soll auch der Stil der Idylle, im Einklang mit der Unschuld der Sitten der Hirten, einfach und rein sein (S. XVII). Nach Panaev zeichnet sich die deutsche „Poėzija Sel’skaja“ vor allen anderen aus. Unübertroffenes Vorbild ist Gessner, „popavšijsja mne v ruki v to sčastlivoe vremja žizni, kogda čuvstvovanija, koimi oduševleny ego tvorenija, naibolee dejstvujut na serdce čeloveka“ [der mir in der glücklichen Zeit des Lebens in die Hände gefallen ist, als die Gefühle, die seine Schöpfungen beseelen, am stärksten auf das menschliche Herz wirken; S. XIX-XX]. Die Veröffentlichung der Idillii Panaevs ist ein literarisches Ereignis. Dem Autor wird die goldene Medaille der „Rossijskaja Akademija“ verliehen, das „Obščestvo ljubitelej slovesnosti, nauk i chudožestv“ wertet die Idillii als eine Art literarisches Manifest und Panaev erhält den Spitznamen eines „russischen Gessner“.35 In derselben Zeit entspinnt sich in den literarischen Kreisen eine heftige Diskussion zur Idylle, bei der sich die Meinungen in zwei Lager spalten: Auf der einen Seite stehen die Anhänger Gessners und Panaevs, für die Arkadien nur in patriarchalischen, antiken und biblischen Zeiten vorstellbar ist, auf der anderen positionieren sich die Verehrer von Johann Heinrich Voß36 und Johann Peter Hebel und deren Übersetzer Vasilij Žukovskij, gefolgt von Fedor Glinka und Nikolaj Gnedič. Diese fordern einen nationalen Charakter für die Idylle, was in Russland die Entwicklung in Richtung einer russischen volkstümlichen [prostonarodnaja] Idylle beschleunigt, die ohne mythologische Gestalten auskommt, nicht in ferner Vorzeit angesiedelt ist und auf Idealisierungen zu verzichten versucht. Im Vorwort zu seiner Anfang der zwanziger Jahre entstandenen Übersetzung der Syrakusanerinnen von Theokrit, die erst 1832 in Petersburg veröffentlicht wird, fordert Gnedič die Rückbesinnung auf die „volkstümlichen“ Idyllen Theokrits und fragt sich, wo, wenn nicht in Rußland, noch Menschen zu finden seien, deren Sitten und Bräuche genauso einfach und naturverbunden sind. Als Quellen für eine nationale Idylle nennt er den Glauben und Aberglaube, die Sitten und Trachten, die häusliche Lebensweise und die russische Natur, die Hochzeiten, die Reigentänze, die verschiedenen Spiele, die ländlichen und kirchlichen Feiertage, die ganzen 35
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Vgl. Vacuro, Vadim E.: Russkaja idillija v ėpochu romantizma. In: Grigor’jan, K. N. (Hg.), Russkij romantizm. L. 1978, S. 118-138, hier: S. 121. Die Luise von Johann Heinrich Voß ist 1820 in der Übersetzung von Pavel A. Terjaev erschienen, Der siebzigste Geburtstag 1829 in der Übersetzung von Michail P. Zagorskij.
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lebendigen Idyllen des Volkes, die auf ihre Dichter warten.37 In seinen eigenen Idyllen verbindet Gnedič das Leben des russischen Volkes mit dem homerischen Weltbild, wobei Ähnlichkeiten zwischen der antiken und der nationalen Wirklichkeit hervortreten. Unter diesen Einflüssen überdenkt auch Panaev sein Idyllenverständnis und bewegt sich auf eine „russische, nationale Idylle“ zu, deren Themen aus dem Umkreis eines östlich der Volga gelegenen patriarchalischen Gutes mit seinem geschlossenen Familienkreis, aus der Folklore und dem Leben des Volkes geschöpft sind. Für diese Art von Idylle sind vor allem die Gefühle wichtig, die aus dem direkten Kontakt mit der Natur (Jagd, Fischfang) entstehen, wobei der Volkscharakter mit dem des russischen Bauern identifiziert wird, dessen Haupteigenschaften patriarchalischer Habitus und Demut sind.38 In der Zeit, in der Gončarovs Romane entstehen, ist die Diskussion über die Idylle zwar erschöpft, das Interesse für die alten und neueren Idyllendichter aber noch keineswegs erloschen. In den 1857 in Petersburg veröffentlichten Stichotvorenija Lev Mejs sind viel beachtete Übersetzungen aus Anakreon und Theokrit (Volšebnica, 1856) enthalten sowie der Versuch einer eigenen Idylle aus dem antiken Rom (Cvety, 1855). In seiner Rezension meint Dobroljubov, daß Mej an einigen Stellen Theokrit sogar übertrifft, der in ähnlichen Beschreibungen nicht dieselbe Kraft und Plastizität erreiche. Переводы Феокрита весьма далеки от подлинника и могут быть названы вольными; но зато они большею частию близки к тому направлению, которое выражает г. Мей, изменяя некоторые фразы Анакреона. […] Здесь уже г. Мей превосходит Феокрита: у греческого автора нет такой силы и рельефности в подобных изображениях. Вдохновленный древними авторами, г. Мей и сам сочинил идиллию из римской жизни: «Цветы», воспроизводящую известный анекдот о том, как Нерон засыпал было цветами своих гостей во дворце. Пир Нерона описан весьма живо и отчетливо, с тем же глубоким знанием римской жизни, какое показано г. Меем в его «Сервилии». Die Übertragungen Theokrits sind weit vom Original entfernt und können als freie Übersetzungen bezeichnet werden, doch sind sie dafür zum großen Teil der Richtung nah, die Herr Mej ausdrückt, indem er einige Sätze Anakreons abändert […]. Schon hier übertrifft Herr Mej Theokrit: Der griechische Autor hat in ähnlichen Darstellungen nicht dieselbe Kraft und Plastizität. Von antiken Autoren beeinflußt, hat Herr Mej selbst eine Idylle aus dem römischen Leben verfaßt: Cvety, die die bekannte Anekdote über Nero wiedergibt, der seine Gäste im Palast mit Blumen zuschütten wollte. Das Festgelage Neros ist sehr lebendig und genau 37
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Vgl. Gnedič, Nikolaj I.: Sirakuzjanki, ili Prazdnik Adonisa. Idillija. In: ders., Stichotvorenija. L. 1956, S. 182f., hier: S. 183. Ausführlich in Vacuro, Russkaja idillija v ėpochu romantizma 1978, S. 118-138.
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geschildert, mit derselben profunden Kenntnis des römischen Lebens, die Herr Mej in Servilia bewiesen hat.39
Gončarovs Idyllenkonzeption Obyknovennaja istorija (1847) Gončarov hatte eine ziemlich genaue Vorstellung vom Genre der Idylle: In seinen Werken sind Theokrit, Mme Deshoulières und vor allem Gessner mehrmals erwähnt, meist im Zusammenhang mit Orten, die er als Idylle wahrnimmt oder so bezeichnet. In den Jahren vor der Entstehung des Oblomov versucht sich Gončarov mehrmals an der Beschreibung von Idyllen, wobei er die Namen bekannter Idyllendichter zitiert. Gessner, dessen Idyllen ins Russische übersetzt wurden und für viele Russen zu den Kindheitslektüren gehörten,40 wird im III. Kapitel des zweiten Teils von Obyknovennaja istorija mit einem seiner bekanntesten Werke erwähnt. In der Szene, in welcher der deutsche Lehrer von Julija Pavlovna Tafaeva seine verstaubten Bücher aus dem Schrank kramt, fallen ihm als erstes die Idyllen Gessners in die Hand: „’Gut!‘ – skazal nemec i s naslaždeniem pročel idilliju o razbitom kuvšine“ [„Gut“,[41] – sagte der Deutsche und las mit Vergnügen die Idylle vom zerbrochenen Krug].42 Im folgenden Kapitel gibt es die Episode, in der Aleksandr Aduev angelt und in seinem Aufzug „na idilličeskogo rybaka“ [an einen idyllischen Angler; 39
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Dobroljubov, Nikolaj A.: Stichotvorenija L. Meja. In: ders. Sobranie sočinenij v trech tomach 1986–1987, Bd. 1, S. 329-333, hier: S. 330. Gesner, Salomon: Idillii i pastuš’i poėmy. M. 1787 (Übersetzung von V. A. Levšin), und Gesner, Salomon: Polnoe sobranie sočinenij v 4-ch tomach. M. 1802-1803 (Übersetzung von I. F. Timkovskij). Dazu kommen ab 1772 die Veröffentlichungen einzelner Idyllen in Zeitschriften (z. B. in M. M. Cheraskovs „Večera“) und die Übersetzungen und Umdichtungen von N. M. Karamzin (Derevjannaja noga, 1783), A. Ch. Vostokov, A. A. Del’vig, G. R. Deržavin, G. P. Kamenev, Ja. B. Knjažnin, M. N. Murav’ev, D. I. Fonvizin, A. S. Šiškov und anderen. Für viele Russen der Generation V. A. Žukovskijs und der Brüder A. I. und N. I. Turgenev, sowie der folgenden Generation (A. I. Herzen und seine Altersgenossen) gehörten die Werke Gessners zu den Kindheitslektüren. Sicher kannte Gončarov wenigstens vom Hörensagen durch Ivan Ivanovič Panaev auch die Idyllen Panaevs. Deutsch im Text. Gončarov, Ivan A.: Obyknovennaja istorija. In: ders., SS v 8 t. M. 1977-1980, T. 1, S. 228; die Seitenzahlen weiterer Zitate oder Hinweise aus Obyknovennaja istorija werden in Klammern im Text angegeben.
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S. 261] erinnert, wodurch indirekt an Gnedičs Idylle Rybaki (1821) angespielt wird.
Fregat „Pallada“ (1855-1857) Die Reiseskizzen Fregat „Pallada“, begleitet von einigen in derselben Zeit geschriebenen Briefen, sind das Werk Gončarovs, in denen das Wort idillija, oft unter Hinweis auf Theokrit, Mme Deshoulières und Gessner, am häufigsten gebraucht wird. Bei der Schilderung der fernöstlichen Landschaften, der Menschen, ihren Sitten und Bräuchen verwendet Gončarov wiederholt das Wort idillija, wobei sich jedoch sofort einige Besonderheiten des Gončarovschen Idyllenverständnisses erkennen lassen: Die Idylle ist nur möglich – und auch das nur eingeschränkt –, wenn sie in weit entfernten Landstrichen angesiedelt ist und Lebensweisen veranschaulicht, die an längst entschwundene Zeiten erinnern. Außerdem wird das mehrfach gebrauchte Wort idillija durch Adjektive, ironische Bemerkungen oder darauffolgende Beobachtungen oft relativiert und als illusorisch entlarvt. Als Gončarov und seine Begleiter z. B. die Umgebung von Shanghai durchstreifen und auf dem Rückweg an Feldern vorbeikommen, die kübelweise mit Stalldünger übergossen werden, flüchten sie so schnell sie können „ot ėtoj pachučej idilii“ [aus dieser streng riechenden Idylle].43 In dem IV. Kapitel des zweiten Teils, das den Ryukyu-Inseln gewidmet ist, erscheinen schon im Untertitel die Bezeichnungen „Idillija“, aber auch „Drugaja storona idillii“ (S. 380). Beim Landgang ist der Schriftsteller von der üppigen Vegetation überwältigt, die aus der Durchdringung von Garten und Wald einen Park entstehen läßt. Nach Gončarov ist die bildliche Darstellung, die Basil Halls Reisebericht Account of a Voyage of Discovery to the West Coast of Corea and the Great Loo-Choo Island in the Japan Sea (1818) beigelegt ist, nur ein schwaches Abbild der Wirklichkeit, die sich vor seinen Augen ausbreitet (S. 381). Die Aufzeichnungen von Basil Hall sind Gončarovs Leitfaden und Vorbild bei der Entdeckung und Beschreibung der Inseln. Er bereitet sich auf das Lesen eines Reiseberichts vor, findet aber, nach eigener Aussage, die Schilderung einer Idylle („dumaete pročest’ putešestvie i čitaete – idilliju“), worauf er be43
Gončarov, Ivan A.: Fregat „Pallada“. Očerki putešestvija v dvuch tomach. L. 1986, S. 330; die Seitenzahlen weiterer Zitate oder Hinweise aus Fregat „Pallada“ werden in Klammern im Text angegeben.
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kräftigt: „Da, ėto idillija, brošennaja sredi beskonečnych vod Tichogo okeana“ [Ja, das ist eine in die unendliche Weite des Stillen Ozeans hingeworfene Idylle; S. 382], eine Bezeichnung die sich beinahe wörtlich in dem Brief an das Ehepaar Ekaterina und Michail Jazykov vom 13./25. März 1854 wiederfindet.44 Um seine Beobachtungen zu veranschaulichen, zieht der reisende Schriftsteller Watteau heran und fragt sich: „Čto ėto? gde my? Sredi drevnich pastušeskich narodov, v zolotom veke? Uželi Feokrit v samom dele prav?“ [Was ist das? Wo sind wir? Unter alten Hirtenvölkern, im Goldenen Zeitalter? Hat Theokrit doch recht?; S. 382]. Darauf gibt er seiner steigenden Verwunderung Ausdruck und fühlt sich an Antoinette Deshoulières45 sowie an Gessner mit ihren mythologischen Gestalten Menalkas, Chloe und Daphnis erinnert (S. 382). Die Idylle wird vervollständigt, als die Schafe der Fregatte vom Schiff an Land gebracht werden. Kurz darauf folgt allerdings die ernüchterte Feststellung, daß die Männer sehr wohl einen Menalkas abgeben könnten, die sonnengegerbten Frauen aber nicht zu einer Chloe taugten, so wie im allgemeinen das heiße Klima den Damen abträglich sei (S. 384). Die Landschaft ist malerisch (S. 383), „ėto muravejnik ili v samom dele idilličeskaja strana, otryvok iz žizni drevnych. Zdes’ kak vse rodilos’, tak, kažetsja, i ne menjalos’ celye tysjačiletija. […] Zdes’ ešče vozmožen zolotoj vek“ [ein Ameisenhaufen oder ein im wirklichen Sinn idyllisches Land, ein Bruchstück aus dem Leben der Antike. So wie hier alles entstanden ist, so scheint es sich ganze Jahrtausende nicht verändert zu haben. […] Hier ist das Goldene Zeitalter noch möglich; S. 383]. In seinen ersten Eindrücken erwähnt Gončarov wiederholt die patriarchalische Lebensweise und das patriarchalische, ehrwürdige Aussehen der Alten, die an starcy erinnern (S. 382, 383, 390, 392). Hier sind „deti prirody“ [Kinder der Natur; S. 383] beheimatet und es ist in Gončarovs Worten „edinstvennyj ucelevšij kločok drevnego mira, kak izobražajut ego Biblija i Gomer“ [das einzig unversehrt gebliebene Fetzchen der Alten Welt, so wie es in der Bibel und bei Homer dargestellt ist; S. 383]. Gončarov sieht hier „ne dikari, a narod – pastyri, pitajuščiesja ot stad svoich, patriarchal’nye ljudi, s polnym, razvitym ponjatiem o religii, ob objazannostjach čelo44
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Gončarov, Ivan A.: Pis’mo Jazykovym E. A. i M. A., 13/25 marta 1854 g. Ostrov Kamiguni, port Pio-Quinto. In: ders., Fregat „Pallada“. Očerki putešestvija v dvuch tomach 1986, S. 687690, hier: S. 688. Mme Deshoulières wird wiederholt auch von Panaev zitiert (Panaev, Idillii 1820, S. X, XIX und 97); ihre Idyllen wurden mit dem Titel Idillii gospoži Dezul’er in der Übersetzung Aleksej F. Merzljakovs 1807 in Moskau publiziert.
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veka, o dobrodeteli“ [keine Wilden, sondern ein Volk von Hirten, die sich von ihren Herden ernähren, patriarchalische Menschen mit einem voll ausgeprägten Begriff von Religion, von den Pflichten des Menschen, von der Tugend; S. 383]. Der Schriftsteller fährt fort: Идите сюда поверять описания библейских и одиссеевских местностей, жилищ, гостеприимства, первобытной тишины и простоты жизни. Вас поразит мысль, что здесь живут, как жили две тысячи лет назад, без перемены. Люди, страсти, дела — всё просто, несложно, первобытно. В природе тоже красота и покой: солнце светит жарко и румяно, воды льются тихо, плоды висят готовые. Книг, пороху и другого подобного разврата нет. Kommt hierher, um die in der Bibel und in der Odyssee enthaltenen Beschreibungen der Gegenden, der Behausungen, der Gastfreundschaft, der unberührten Stille und Einfachheit des Lebens zu überprüfen. Ihr werdet von dem Gedanken überrascht, daß man hier ohne Veränderung wie vor zweitausend Jahren lebt. Die Menschen, die Leidenschaften, die Beschäftigungen, alles ist einfach, unkompliziert und ursprünglich. Auch in der Natur herrscht Schönheit und Ruhe: Die Sonne scheint heiß und purpurrot, die Gewässer fließen friedlich, die Früchte hängen reif an den Bäumen. Es gibt weder Bücher, noch Schießpulver oder sonstige Laster (S. 383).
In einem Gespräch mit einem englischen Missionar werden den Reisenden dann jedoch viele der Illusionen genommen und Gončarov bemerkt: „[N]am očen’ chotelos’ otstojat’ idilliju i mečtu o zolotom veke“ [Wir hatten den grossen Wunsch, die Idylle und den Traum vom Goldenen Zeitalter zu bewahren; S. 391]. Als der Missionar dann aber erzählt, die Einwohner würden dem Trunk und dem Glücksspiel frönen, meint Gončarov: „Vot tebe i idillija, i zolotoj vek, i Odisseja!“ [Da hast Du Deine Idylle, das Goldene Zeitalter und die Odyssee; S. 392]. Von Idylle spricht Gončarov wieder, als er auf einen Matrosen des Schiffs trifft, der in einem Wald Schafe hütet (S. 394). Als wenige Tage später der Vorsteher der Stadt „ne sovsem patriarchal’noj naružnosti“ [von nicht gerade patriarchalischer Erscheinung] auf der Fregatte erscheint, verabschiedet sich Gončarov endgültig von der Idylle, idem er ausruft: „[U]vy, proščaj, idillija!“ [O weh, lebe wohl Idylle; S. 396]. Den Abend verbringen die Reisegefährten dann an Land: Sie trinken am Ufer Tee unter einer Überdachung aus Myrten und Papyrusstauden und Gončarov resümiert: „[S]lovom, proveli večer soveršenno idilličeski“ [Mit einem Wort, wir verbrachten den Abend vollkommen idyllisch; S. 397]. In Manila wird Gončarov durch abgelegene Gäßchen mit armen Hütten kutschiert, vorbei an Lichtungen und Plantagen. Seine Eindrücke faßt er so zusammen: „Iz-za derev’ev prodolžali vygljadyvat’ idillii v takich kraskach, kakie, konečno, ne snilis’ samomu otcu Feokritu“ [Hinter den Bäumen sahen weiter-
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hin Idyllen in solchen Farben hervor, wie selbst Vater Theokrit sie sich wahrlich nicht hätte träumen lassen; S. 417]. Durch die Hinweise auf Theokrit, Mme Deshoulières und Gessner entlarvt Gončarov bewußt den literarischen Charakter seiner Erzählung und eines Idyllenverständnisses,46 das er dann im Angesicht der Wirklichkeit zu revidieren und zu relativieren gezwungen ist. Er erkennt die Gefahr, daß „ėtot zabytyj, drevnij ugolok“ [dieser vergessene Winkel aus der Antike; S. 383] von einer neuen Zivilisation aufgestört wird, und sieht, wie Antike Welt, Goldenes Zeitalter, Irdisches Paradies vor dem westlichen, vor allem dem amerikanischen Einfluß zurückweichen. In den Briefen, die der Schriftsteller während seiner Reise an Michail Jazykov und dessen Ehefrau Ekaterina sowie an Nikolaj Majkov und dessen Gattin Evgenija Petrovna schreibt, finden sich ganz ähnliche Schilderungen. In dem Brief an das Ehepaar Jazykov, der am 13./25. März 1854 vom Hafen San Pio Quinto auf der Insel Camiguin abgesendet wird, erzählt Gončarov von den Inseln, über die er so viel gelesen hat: Die von Hall beschriebene Naivität der Einwohner, ihre Gastfreundschaft, Demut und Sanftmütigkeit, die patriarchalische Lebensweise und andere Tugenden des Goldenen Zeitalters hält Gončarov anfänglich für einen Scherz, doch muß er zu seiner Verwunderung feststellen, daß „kartina ego [Galla] ėtoj brošennoj sredi okeana idillii daleko ne polna“ [das von ihm [Hall] gezeichnete Bild dieser in den Ozean hingeworfenen Idylle keineswegs vollständig ist; S. 688].47 Die liebreizende Landschaft läßt ihn wieder einmal an Theokrit oder an das russische Märchen über das Land, wo Milch und Honig fließen,48 denken und den Vorsatz fassen, das von Hall gegebene Bild so gut wie möglich zu vervollständigen (S. 689). In dem folgenden Brief an das Ehepaar Majkov, den Gončarov am 13. Januar 1855 aus Irkutsk abschickt, spricht er von einer „morskaja idillija“ [Meeresidylle], die er einem anderen Brief beigelegt hat.49
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Vgl. Engel’gardt, Boris M.: „Fregat ‚Pallada‘“. In: Gončarov, Fregat „Pallada“. Očerki putešestvija v dvuch tomach 1986, S. 722-760, hier: S. 757. Pis’mo Jazykovym E. A. i M. A., 13/25 marta 1854, S. 688. In seinem zweiten Traum erscheint dem kleinen Il’ja Il’ič seine njanja, die ihm vom Land, in dem Milch und Honig fließen, erzählt (Gončarov, Oblomov 1987, S. 92). Gončarov, Ivan A.: Pis’mo Majkovym E. P. i N. A., 13 janvarja 1855 g. Irkutsk. In: ders., Fregat „Pallada“ 1986, S. 712-715, hier: S. 714.
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Oblomov (1859) Nun stellt sich die Frage des Wortgebrauchs und des Begriffs der Idylle in Oblomov, in dem das Wort selbst nur einmal auftaucht, beinahe am Ende des Romans, im IX. Kapitel des vierten Teils, in dem das befriedigte und befriedete Leben Oblomovs im Haus von Agaf’ja Matveevna auf der Vyborger Seite beschrieben wird. Das Kapitel, das mit den Worten: „Mir i tišina pokojatsja nad Vyborgskoj storonoj“ [Frieden und Stille liegen über der Vyborger Seite]50 beginnt, führt im zweiten Absatz mit den Worten: „Vse ticho i v dome Pšenicynoj“ [auch im Hause der Pšenicyna ist alles still; S. 363] in das Reich von Agaf’ja Matveevna. Beim Eintritt in den kleinen Hof „budeš’ ochvačen živoj idilliej“ [wirst du von einer lebendigen Idylle umfangen werden; S. 363]. Dies ist der Ort, an dem Oblomov entscheidet, daß „ideal svoej žizni osuščestvilsja, chotja bez poėzii“ [sich sein Lebensideal erfüllt hatte, wenn auch ohne Poesie; S. 367]. Im IX. Kapitel des ersten Teils, dem „Traumkapitel“ (S. 79f.), und im IV. Kapitel des zweiten Teils (S. 138f.), in dem Oblomov, von Štol’c nach dem Ideal oder der Norm seines Lebens befragt, seine Vorstellungen eines geruhsamen und beschaulichen Lebens auf dem Land ausmalt, kommt das Wort Idylle nicht vor und es wird auch weder auf Theokrit noch auf Gessner verwiesen. Im Gegenteil werden Oblomovs bildreiche Ausführungen von Štol’c als „Oblomov-Utopie“ abgetan und somit das „Ideal“ als Hirngespinst entlarvt (S. 142). Während ihres Gesprächs erinnert sich Štol’c auch an Oblomov als „tonen’kim, živym mal’čikom“ [schlanken, lebhaften Knaben; S. 144], der zwei junge Mädchen für die Lektüre von Roussaeu, Schiller, Goethe und Byron zu begeistern versuchte, ein Bild, das der Vergangenheit angehört.
Obryv (1869) Im Roman Obryv ist wieder häufiger von Idylle die Rede, zuerst im letzten Kapitel des ersten Teils, in dem Rajskij am Vorabend seiner Abreise auf sein Gut die Vision zu einem geplanten Roman hat. Er zweifelt jedoch an der Möglichkeit, das Vorhaben auf dem Land verwirklichen zu können, und stellt mutlos fest: „Kakoj roman najdu ja tam, v gluši, v derevne! Idilliju, požaluj, meždu ku50
Gončarov, Oblomov 1987, S. 363; die Seitenzahlen weiterer Zitate oder Hinweise aus Oblomov werden in Klammern im Text angegeben. Bei meinen Übersetzungen habe ich sowohl die von Clara Brauner (Gontscharow, Iwan: Oblomow. Roman in vier Teilen. Frankfurt a. M. 1961) als auch die von Vera Bischitzky (Gontscharow, Iwan: Oblomow. Roman in vier Teilen. München 2012) eingesehen, zum Teil aber eigene Wörter und Redewendungen bevorzugt.
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rami i petuchami, a ne roman u živych ljudej, s ognem, dviženiem, strast’ju“ [Was für einen Roman werde ich dort finden, in der Einöde, auf dem Land! Vielleicht eine Idylle mit Hühnern und Gockeln, aber keinen Roman unter lebendigen Menschen, mit Feuer, Bewegung, Leidenschaft].51 In einer Szene, die große Ähnlichkeiten mit dem Oblomovschen Wunschbild vom Landleben hat, ruft Rajskij kurz nach seiner Ankunft aus: „Tak i est’: idillija! Ja znal!“ [So ist es: eine Idylle! Ich wußte es!; S. 156]. Er entschließt sich, glücklich zu sein, den alles zersetzenden Verstand auszuschalten und das Leben mit allen Sinnen aufzunehmen. Er fragt sich aber dennoch, ob die beobachteten Personen – Marfa, die Großmutter, Vera – „godjatsja: v roman, v dramu ili tol’ko v idilliju“ [zu einem Roman, zu einem Drama oder nur zu einer Idylle tauglich sind; S. 162]. Im dritten Teil des Romans findet eine lange Aussprache mit Vera statt, während der Rajskij ihren Brief an eine Freundin liest. Danach kehrt er in sein Zimmer zurück und überlegt, den Brief als Material für seinen Roman zu benutzen. In Gedanken an Vera verzweifelt er jedoch an seinem Vorhaben, schleudert die Hefte in die Ecke und „[v]se pročee vyletelo opjat’ iz golovy: babuškiny gosti, Mark, Leontij, okružajuščaja idillija“ [alles andere verflüchtigte sich wieder aus seinem Kopf: die Gäste der Großmutter, Mark, Leontij und die umgebende Idylle].52 In den angeführten Textstellen ist die Idylle in zwei Varianten ausgeprägt: einer ‚exotischen‘ und einer, die als ‚heimische‘ bezeichnet werden könnte. Auf der einen Seite, wie in Fregat „Pallada“, werden die in südlichen Meeren verstreuten Inseln mit ihrem an die Antike gemahnenden Lebensstil von Gončarov wiederholt als Idylle bezeichnet und zum Teil auch so wahrgenommen. Er breitet eine von Reisetagebüchern, geographischen Lehrbüchern und literarischen Texten geprägte Bilderbuchidylle aus zweiter Hand aus, die jedoch dem Vergleich mit der Wirklichkeit auf die Dauer nicht standhält. Außerdem scheint die Idylle nur in einer sowohl räumlichen als auch zeitlichen Entfernung bestehen zu können: Sie ist mit fernen Gegenden verbunden, die sich in einem vorzivilisatorischen Urzustand befinden, bewohnt von Völkern, deren Leben und Sitten an das Altertum, an die Bibel und an Homer erinnern („Ėto edinstvennyj ucelevšij kločok drevnego mira, kak izobražajut ego Biblija i
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Gončarov, Ivan A.: Obryv. In: ders., SS v 8 t. 1977–1980, T. 5, S. 152; die Seitenzahlen weiterer Zitate oder Hinweise aus Obryv werden in Klammern im Text angegeben. Gončarov, Ivan A.: Obryv. In: ders., SS v 8 t. 1977–1980, T. 6, S. 48.
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Gomer“).53 Schon Panaev hatte ja behauptet, daß die Idylle nicht oder nur schwer in die Gegenwart versetzt werden kann.54 Doch selbst in diesem Umfeld erscheint sie meist nur bruchstückweise, als otryvok (iz žizni drevnich), kločok (drevnengo mira) oder (zabytyj, drevnij) ugolok,55 was an den ugolok des altväterlichen Oblomovkas gemahnt. Auf der anderen Seite, wie in den Vyborger Kapiteln des Oblomov und in den Szenen auf dem Landgut in Obryv, konkretisiert sich die Idylle in einem zeitgenössischen Rahmen, ist jedoch auf die elementarsten Bedürfnisse des Lebens beschränkt und entbehrt jeglicher ‚Poesie‘ („ideal svoej žizni osuščestvilsja, chotja bez poėzii“)56 und, wie ich hinzufügen würde, auch jeder Erotik, da die Liebe – wie alle anderen Genüsse und Freuden des Lebens – entweder auf rein physiologische Aspekte reduziert oder zur Gewohnheit und Bequemlichkeit verkümmert ist. In den beiden Varianten lebt die Idylle entweder in der aus Lektüren gespeisten Vorstellung und Erwartung oder aber als Wunschvorstellung bzw. als Tagtraum. Außerdem ist eine kritische oder ironische Distanz des Autors zu seinen eigenen Ausführungen oder zu den Gedankengängen seiner Figuren zu beobachten, wodurch jegliche Idyllik relativiert wird.
Son Oblomova (1849) Vor diesem Hintergrund ist nun zu fragen, ob Son Oblomova als Idylle angelegt ist oder ob es sich um eine Antiidylle, eine Scheinidylle oder eine Bruchstückidylle handelt. Unter Berücksichtigung der verschiedenen kritischen und theoretischen Ausführungen zur Idylle soll der Text selbst auf Motive, Bilder und rekurrente Wörter befragt werden, die eine Interpretation als Idylle oder Nicht-Idylle untermauern würden. 53
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Gončarov, Fregat „Pallada“ 1986, S. 383; die Zeit der Bibel und Homers, als die Sitten weniger streng und die Dinge daher einfacher waren, wird noch einmal heraufbeschworen, als der Übersetzer den Reisenden erklärt, Frauen dürfe von Fremden nicht die Hand gegeben werden (Gončarov, Fregat „Pallada“ 1986, S. 397). Panaev, Idillii 1820, S. XIII-XIV. Gončarov, Fregat „Pallada“ 1986, S. 383. Gončarov, Oblomov 1987, S. 367; die Seitenzahlen weiterer Zitate oder Hinweise aus Oblomov werden in Klammern im Text angegeben.
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Der „Traum“ nimmt das IX. Kapitel des ersten Teils des Romans ein und trägt als einziges Kapitel eine Überschrift. Als „Ėpizod iz nekončennogo romana“ [Episode aus einem unbeendeten Roman] wurde es schon 1849, zehn Jahre vor dem Roman, veröffentlicht und ist, nach Gončarov, „Schlüssel und Ouvertüre“ zum Roman.57 In den Beschreibungen von Oblomovka kommt das Wort Idylle nicht vor und es fehlen auch Verweise auf Theokrit oder Gessner. Ebenso deutlich sind die Abweichungen von den Vorgaben für eine klassische Idylle, wie sie von Vladimir Panaev noch 1820 gefordert wurden. Son Oblomova, der nach Panaevs Klassifizierung eher in die Gattung der Ekloge fällt, ist ein Text in Prosaform, die Handlung ist in einer nördlichen Gegend angesiedelt und spielt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Außerdem gibt es unter den Personen weder Hirten noch mythologische Gestalten und schon gar keine Götter. Die handelnden Personen haben keinerlei Beziehung zu der sie umgebenden Natur, die Verehrung der Götter hat sich in Furcht und Aberglaube verwandelt, die erotische Liebe ist abgestorben und die Elternliebe zur erdrückenden Affenliebe verkommen. Doch reicht das schon, um von einer Schein- oder gar Antiidylle zu sprechen? Zur Klärung der Frage möchte ich Son Oblomova der Einfachheit halber anhand der Bachtinschen Kategorien zum idyllischen Chronotop untersuchen, der drei Eigenschaften besitzen soll: 1. die Einheit des geschlossenen und friedlich in sich ruhenden Raumes, der die mit zyklischem Rhythmus sich wiederholende Zeit in sich birgt; 2. die Beschränkung auf wenige wesentliche Lebenswirklichkeiten (Liebe, Geburt, Tod, Ehe, Arbeit, Essen und Trinken, Lebensalter); und 3. die enge Verbindung des Lebens der Menschen mit dem der Natur.58 Daraus ergibt sich die strikte Trennung von Innen und Außen, sowie die positive Bewertung des Innenraums bei gleichzeitigem Widerstand gegen alles, was aus der negativ besetzten Außenwelt hereindringt.59
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Gončarov, Ivan A.: Pis’mo Ganzenu P. G., 30 avgusta 1878 g. In: ders., SS v 8 t. 1977–1980, T. 8, S. 472-474, hier: S. 473. Vgl. Bachtin, Formy vremeni i chronotop v romane 1986, S. 258f. Vgl. Bachtin, Formy vremeni i chronotop v romane 1986, S. 258f. Ganz ähnliche Kategorien finden sich in Wilhelm von Humboldts Über Goethes Hermann und Dorothea (Humboldt, Wilhelm von: Ästhetische Versuche. Erster Teil: Über Goethes Hermann und Dorothea [1797–1798]. In: ders., Gesammelte Schriften. Berlin 1903–1936 [Photomechanischer Nachdruck. Berlin 1968], Bd. 2, S. 113-332), in den Kapiteln LXVII (Unterschied zwischen der Epopee und der Idylle. – Charakter der letzteren in Rücksicht auf die Stimmung,
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Ort Auf den ersten Blick trägt Oblomovka Züge, die dem idyllischen Chronotop des geschlossenen, selbstgenügsamen Raumes gerecht werden und uns einen abgeschiedenen, friedlich in sich ruhenden Winkel vorführen. Die eingangs als „blagoslovennyj ugolok zemli“ [gesegneter Erdenwinkel], „čudnyj kraj“ [herrlicher Landstrich], „mirnyj ugolok“ [friedlicher Winkel], „izbrannyj ugolok“ [auserkorener Winkel] oder „blagoslovennyj bogom ugolok“ [gottgesegneter Winkel] bezeichnete Ortschaft (S. 79, 81, 82),60 liegt ein- und abgeschlossen zwischen sanften Hügeln und einer Schlucht mit einem Bach. Der Leser erfährt: „Obitateli ėtogo kraja daleko žili ot drugich ljudej. […] Interesy ich byli sosredotočeny na nich samych“ [Die Bewohner dieser Gegend lebten weit von anderen Menschen entfernt. […] Ihre Interessen waren auf sich selbst beschränkt; S. 83]. Doch der Schein trügt und bald ändert sich der Ton: „[L]jubimoe mesto“ [Der geliebte Ort; S. 80] oder „rjad živopisnych ėtjudov“ [die Reihe malerischer Etüden; S. 80]61 wird zum „zabytyj vsemi ugolok“ [von allen vergessenen Winkel; S. 80], um dann als wie aus weiter Entfernung – „v tom kraju“ [in jenem Landstrich; S. 80, 81, 82, 83, 86, 89] – wahrgenommen zu werden oder sich als bescheidene und anspruchslose Gegend („[vid] ėtoj skromnoj i nezatejlivoj mestnosti“; S. 82) zu entpuppen. Die Ortschaft, um die eine imaginäre Umfriedung, eine fast unüberwindliche räumliche Grenze gezogen ist, bleibt aber nur für die Bewohner, vor allem den kleinen Oblomov, von der Außenwelt abgeschirmt: Jede zentrifugale Kraft ist suspekt, Il’ja Il’ič darf kaum aus dem Haus, jeglicher Versuch, sich frei zu bewegen, wird strengstens überwacht und sein Unterricht in einem anderen Ort unter allen möglichen Vorwänden alsbald unterbunden; die geizigen Oblomover horten ihr Geld und bringen es nicht in Umlauf (größere Ausgaben kommen ihnen fast wie Selbstmord vor; S. 101), sogar die Öfen bleiben verschlossen und der Rauch wird bis zur allgemeinen Kohlendunstvergiftung nicht abgelassen (S. 106). Literarische Übersetzungen werden skeptisch be-
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aus der sie herfließt), S. 250-252, und LXVIII (Charakter der Idylle in Rücksicht auf den Gegenstand, den sie schildert), S. 252-254. Denselben Ausdruck „blagoslovennyj bogom ugolok“ gebraucht Gončarov in Bezug auf Simbirsk in einem Brief, den er am 13. Juli 1849 aus Simbirsk an Nikolaj A. Majkov und dessen Familie schickt (Gončarov, Ivan A.: Pis’mo Majkovu N. A. i ego sem’e, 13 ijulja 1849 g. Simbirsk. In: ders., SS v 8 t. 1977–1980, T. 8, S. 194-199, hier: S. 194). V. Bischitzky übersetzt die Apposition „veselych, ulybajuščich pejsažej“ leider mit „heiterer, lächelnder Idyllen“ (Gontscharow, Oblomov 2012, S. 149).
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urteilt, da sie nur dazu dienten, dem Adel das Geld aus der Tasche zu locken (S. 108). Einzig Malan’ja Petrovna, die „Dame von Welt“, deren Vornamen vom Griechischen melaina (= schwarz, dunkel, düster) abgeleitet ist, erdreistet sich, vors Tor zu laufen und die Mägde auf allerlei dumme Gedanken zu bringen (S. 103). Die für die Idylle typische Einheit des Ortes ähnelt in Oblomovka eher einem Zwang: Aus Oblomovka gibt es kein Entrinnen, alle Fluchtversuche des jungen Oblomov werden abgefangen – der letzte ähnelt dank des Verbs ovladet’ einer Gefangennahme durch ausgeschickte Häscher (S. 112) –, so daß die Ein- und Abgeschlossenheit zur klaustrophobischen Enge wird und der Ort vor allem für Il’ja Il’ič, dessen Erziehung den Verboten des Laufens, Kletterns, Kräftemessens unterliegt, kein behütetes „Paradies“, sondern ein „goldener Käfig“,62 wenn nicht ein Gefängnis ist. Die Abgeschiedenheit Oblomovkas stellt aber kein Hindernis für allerlei von außen heranziehende Gefahren dar. Katharina Hansen Löve spricht in diesem Zusammenhang von „spatial intrusions“.63 Die Außenwelt, alles Neue, Unerwartete, Bedrohliche, dringt ungehindert nach Oblomovka ein und sorgt für Aufregung, Unruhe und schlimmste Befürchtungen: Ein größerer Diebstahl wird einem durchfahrenden Fuhrmann zugeschrieben (S. 84); der am Dorfrand in einem Graben gesichtete Fremde wird von den Dorfjungen als schrecklicher Drache oder Werwolf gemeldet (S. 84); ein in der Schlucht gefundener Hund wird für tollwütig erklärt und gnadenlos vertrieben (S. 86); Gäste scheinen eher unwillkommen und werden kurzgehalten (S. 100); der junge Il’ja Il’ič kommt nach Ansicht der besorgten Eltern vom Unterricht bei Štol’cens Vater jedes Mal wie aus einem Spital zurück (S. 110). Höhepunkt der von außen eindringenden Beunruhigungen ist ein Brief aus der Stadt, der größte Aufregung auslöst und das geordnete Leben aus der Bahn zu werfen droht. Der Absender ist Filipp Matveevič Radiščev, eine ironische Anspielung auf den Autor der Putešestvie iz Peterburga v Moskvu und der Ode Vol’nost’, wodurch indirekt die Gegenüberstellung von Statik und Dynamik, Rückständigkeit und Aufklärung, vor allem aber von sehr unterschiedlichen Auffassungen von Raum und Zeit evoziert wird, ist doch in Oblomovka schon der Weg vom Speicher in die Küche eine Reise (S. 89). Nach Wochen der um62
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Scandura, Claudia: Il ritorno a „Oblomovka“: alcune osservazioni a proposito del romanzo di Gončarov. In: A. d’Amelia (Hg.), Studi in onore di E. Lo Gatto. Roma 1980, S. 275-283, hier: S. 279. Hansen Löve, The Structure of Space in I. A. Gončarov’s „Oblomov“ 1990, S. 180.
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ständlichsten Bemühungen, eine Antwort zu Papier zu bringen, gibt der alte Oblomov auf, und der Autor bemerkt: „Neizvestno, doždalsja li Filipp Matveevič recepta” [Es ist nicht bekannt, ob Filipp Matveevič je zu seinem Rezept gelangt ist; S. 108].64 In der Gegenüberstellung von friedlichem und vertrautem Innenraum und unbekannter und bedrohlicher Außenwelt – sowie in zahlreichen anderen Details, wie der Darstellung in Form eines Tagtraumes und den Motiven des Essens und des Aberglaubens – eine Gegenüberstellung, die es in der klassischen Idylle in dieser Schärfe nicht gibt, reiht sich Son Oblomova in die Nachfolge von Gogol’s Erzählung Starosvetskie pomeščiki ein, eine „Idylle“, die ins Unheimliche abgleitet.65
Zeit Anklänge an den für die Idylle typischen zyklischen Rhythmus der Zeit sind in Oblomovka durch die Monotonie und Wiederkehr des ewig Gleichen gegeben: „Pravil’no i nevozmutimo soveršaetsja tam godovoj krug“ [Regelmäßig und unbeirrt vollzieht sich dort der Kreislauf des Jahres; S. 80]; „vse idet obyčnym, predpisannym prirodoj obščim porjadkom“ [alles verläuft nach der gewohnten, von der Natur vorgeschriebenen Ordnung; S. 80]. Der Erzähler stellt sogar fest: „Ich [oblomovcev] zagryzet toska, esli zavtra ne budet pochože na segodnja, a poslezavtra na zavtra“ [Gram hätte sie [die Oblomover] verzehrt, wenn das Morgen nicht dem Heute und das Übermorgen nicht dem Morgen geglichen hätten; S. 105]. Der gleichförmige Verlauf wird jedoch immer wieder vom Hinweis auf mit dem Pendel pochende Uhren unterbrochen, die sehr unidyllisch die Stunden schlagen und auf das Fortschreiten der Zeit und des Lebens hindeuten (S. 101, 104). Von welch unangenehmen Assoziationen das unaufhaltsame Vergehen 64
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Eine ähnliche Episode durchzieht die Kapitel I-VIII des ersten Teils mit dem als „neprijatnyj sjurpriz“ bezeichneten Brief des Dorfältesten (Gončarov, Oblomov 1987, S. 10-79). Il’ja Il’ič Oblomov ist nicht imstande, einen Brief zu schreiben und mit der Außenwelt in Verbindung zu treten (vgl. auch Huwyler, Annette: Gončarovs drei Romane – eine Trilogie?. München 1991, S. 34). Vgl. Lotman, Jurij M.: Problema chudožestvennogo prostranstva v proze Gogolja. In: ders., Izbrannye stat’i v trech tomach. Tallinn 1992–1993, Bd. 1, S. 413-447. Wenn Gogol’ den beschriebenen Ort als „blagoslovennaja zemlja“, „spokojnyj uglok“ und „mirnyj ugolok“ bezeichnet (Gogol’, Nikolaj V.: Starosvetskie pomeščiki. In: ders., Sobranie sočinenij v 7-mi tomach. M. 1984–1986, Bd. 2, S. 7-28, hier: S. 14, 15, 19), spricht Gončarov gleich im zweiten Satz von „blagoslovennyj ugolok“, dann von „blagoslovennyj bogom ugolok“ und gebraucht wiederholt „mirnyj ugolok“ (Gončarov, Oblomov 1987, S. 79, 81, 82).
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der Zeit begleitet ist, veranschaulicht der Vergleich des Läutens der Uhr mit dem Knurren eines Hundes und dem gleichzeitigen Fauchen einer Katze, wenn die beiden Tiere dabei sind, aufeinander loszugehen (S. 104). Außerdem werden für den kleinen Oblomov genaue Altersangaben gemacht, die ihn erst als Kleinkind, dann als siebenjährigen Jungen und endlich als dreizehn, vierzehn Jahre alten Knaben zeigen. Das Motiv des Verrinnens der Zeit steht mit dem für eine Idylle seltsamen Leitmotiv von Alter und Tod in Verbindung, das den Traum durchzieht. Wörter wie smert’ und mertvyj erscheinen wiederholt im Text66 und die Geschichten über Tote (mertvecy) gehören zusammen mit denen über Ungeheuer und Werwölfe zu den beliebtesten Gesprächsthemen der Oblomover;67 auch mogila mit den um Mitternacht aus ihren Gräbern steigenden Toten wird wiederholt erwähnt.68 In Oblomovka überschneiden und durchdringen sich ein für die Idylle typischer zyklischer Verlauf und eine fortschreitende Entwicklung, zwei sich einander widersprechende Begriffe der Zeit, die sich zu einer verschwommenen Zeitebene verdichten. Dieses undifferenzierte Zeitverständnis resultiert auch aus dem ständigen Wechsel von Verben im Präsens und in Formen der Vergangenheit oder der Zukunft. Dazu schreibt Dmitrij Lichačev: Грамматические формы и виды соединены в одной фразе: переходы от прошедшего к настоящему и от будущего к прошедшему подчеркивают, что время в Обломовке не имеет особого значения. Произошло что-нибудь один раз или несколько, или происходит всегда в заведенном раз и навсегда порядке — не имеет для автора особого значения, не имеет оно значения и для обитателей Обломовки. Verschiedene grammatische Formen und Aspekte sind in einem Satz vereint: Die Übergänge von der Vergangenheit in die Gegenwart und von der Zukunft in die Vergangenheit unterstreichen, daß die Zeit in Oblomovka keine besondere Bedeutung hat. Ob sich etwas einmal oder mehrere Male ereignet hat, oder ob es immer in einer ein für allemal festgelegten Ordnung abläuft, hat für den Autor keine besondere Bedeutung und hat auch für die Bewohner Oblomovkas keine Bedeutung. 69
Die Zeitrechnung der Oblomover selbst richtet sich nach den Feiertagen, den Jahreszeiten und anderen, auf ihr engstes Umfeld beschränkten Ereignissen, ohne auf den Monat oder das Datum zu achten, vielleicht auch weil alle, außer
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S. 80, 83, 84, 89, 91, 94, 97. S. 93, 94, 95. S. 94 (zweimal), S. 95, 98. Lichačev, Dmitrij S.: Poėtika drevnerusskoj literatury. In: ders., Izbrannye raboty v trech tomach. L. 1987, Bd. 1, S. 261-654, hier: S. 592f.
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dem alten Oblomov, „putali i nazvanija mesjacev, i porjadok čisel“ [die Namen der Monate und die Reihenfolge der Daten ständig durcheinanderbrachten; S. 102].
Die Landschaft Die Landschaftsbeschreibung ist eines der wichtigsten Indizien, um festzustellen, ob Gončarov im Sinne hatte, Oblomovka zu einer Idylle zu stilisieren. Bei der Ausmalung der Landschaft des Ortes gebraucht der Autor Redewendungen und Bilder, die Anklänge an seine eigene Auffassung einer Idylle haben, relativiert oder negiert sie aber mit Formulierungen, die die Idylle infrage stellen oder sogar aufheben. Dem träumenden Oblomov scheint, daß die drei, vier Dörfer, die zu Oblomovka gehören, „byli kak budto slučajno brošenny gigantskoj rukoj i rassypalis’ v raznye storony“ [wie zufällig von der Hand eines Riesen hingeworfen und in verschiedene Richtungen verstreut waren; S. 82]. Es entsteht der Eindruck kleiner Inseln, die eine Art Archipel formen,70 ein Eindruck, der auch dadurch verstärkt wird, daß jede Beschreibung einer Landschaft zwischen den einzelnen Dörfern fehlt. Zum Vergleich sei daran erinnert, daß wenige Jahre später der reisende Gončarov zur Charakterisierung seiner ersten Eindrücke der Ryukyu-Inseln dasselbe Verb gebrauchen wird, wie schon zur Kennzeichnung Oblomovkas und der umliegenden Dörfer. Dabei wird er aber ausdrücklich von einer Idylle sprechen: „[I]dillija, brošennaja sredi beskonečnych vod Tichogo okeana“ [Eine in die unendliche Weite des Stillen Ozeans hingeworfene Idylle],71 deren landschaftliche Besonderheiten er ausführlich beschreiben wird. Die liebliche, doch eher dürftige Landschaft Oblomovkas wird, wenn überhaupt, mittels Negationen charakterisiert: „Net, pravda, tam morja, net vysokich gor, skal i propastej, ni dremučich lesov“ [Es gibt dort zwar kein Meer, keine hohen Berge, Felsen und Abgründe, keine dichten Wälder; S. 79]. Das Gelände spiegelt den Charakter des Landstrichs und seiner Bewohner wider, da es gleichsam nicht die Kraft aufbringt, etwas Bedeutendes, von der platten
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Elena Krasnoščekova, die Oblomovka den Charakter eines Insellandes vor der Erfindung der Segel attestiert, vergleicht den Landstrich mit den von Eingeborenen besiedelten südlichen Inseln, die in Fregat „Pallada“ beschrieben werden (Krasnoščekova, Gončarov i mir tvorčestva 1997, S. 257). Gončarov, Fregat „Pallada“ 1986, S. 382.
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Norm Abweichendes hervorzubringen.72 Außerdem fehlen gerade die Elemente, die Panaev für eine Idylle fordert, in der die Helden, „sčastlivye obitateli plodonosnych dolin Sicilii i živopisnych beregov Ladona“ [die glücklichen Bewohner der fruchtbaren Täler Siziliens und der malerischen Ufer des LadonFlusses],73 in Tälern, Bergen und Wäldern agieren.74 Gončarov selbst wird die Idylle dann in den fernöstlichen Inseln finden, wo es Meer, Berge und üppige Wälder im Überfluß gibt. Ein wichtiges landschaftliches und symbolisches Element in Oblomovka ist die Schlucht (ovrag), auch in der Zusammensetzung „Abgrund der Schlucht“ (obryv ovraga). Wenn der Erzähler hervorhebt, daß es in Oblomovka keine Berge gibt (nichts Erhobenes oder Erhebendes und schon gar nichts Erhabenes), ist es umso überraschender, daß sich eine Schlucht auftut, die in unheimliche Tiefen – auch der Bewußtseinsschichten – führt. Dieser Schlucht, die in einem sonst eher flachen Landstrich eine geomorphologische Ausnahme ist, kommt eine wichtige symbolische Funktion zu. Die Auffassung mehrerer Interpretationen, die in Gončarovs „negativer“ Landschaftsbeschreibung eine Reaktion auf die Naturdarstellungen der Romantiker sehen, muß daher überdacht werden, da die Schlucht eines der wichtigsten Bestandteile des romantischen Weltbildes ist. Möglicherweise ist das Bild der Schlucht in seiner negativen Bedeutung nach der Aufführung des Freischütz in die russische Literatur eingegangen. Die Oper war 1823 von einer deutschen Truppe und im Jahr darauf im Petersburger „Mariinskij teatr“ mit großem Erfolg inszeniert worden und blieb ein fester Bestandteil des Repertoires. Schluchten werden in mehreren Werken bis in die zweite Hälfte des Jahrhunderts zum zentralen Schauplatz, wie z. B. in Aleksandr Ostrovskijs Tragödie Groza (1860), in dem die Regieanweisungen für die zweite Szene des dritten Aktes, in dem sich die Tragödie von Katarina anbahnt, „Noč’. Ovrag […]“ lautet, und Gončarov selbst nimmt diese Tradition in seinem Roman Obryv (1869) auf. Die Schlucht ist für die Oblomover „samoe strašnoe mesto v okolotke“ [der schrecklichste Ort weit und breit; S. 86], der von allerlei abergläubischen Geschichten und Gerüchten über Räuber, Wölfe und andere Ungeheuer umwo72
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In typologischer Sicht ist es interessant anzumerken, daß ein Text vom Anfang des 14. Jahrhunderts, das didaktische Epos Der Renner von Hugo von Trimberg, die Sünde der Faulheit per negationem mit der Anapher „Sie ist weder… noch…“ charakterisiert, da ihr wegen ihrer Trägheit keine Eigenschaften zugeschrieben werden können. Panaev, Idillii 1820, S. V. Panaev, Idillii 1820, S. XVII.
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ben ist. Nach Ulrich Lohff ist sie gar Symbol des Todes, da die Oblomover ihre Tierkadaver hineinwerfen.75 Die größte Befürchtung der Eltern ist, daß der kleine Oblomov, auf den die Schlucht eine magische Anziehungskraft ausübt, sich ihr nähern könnte. Doch triumphiert auch hier die Trägheit und trotz aller Gefahren wird sie von den Kutschern aus Oblomovka zum Durchfahren benutzt, um den Weg abzukürzen. Es folgen weitere Negationen, die Oblomovka jeglicher grandiosen, wilden und düsteren Aura berauben („net ničego grandioznogo, dikogo, ugrjumogo“; S. 79): Die Luft ist nicht vom Duft der Zitronen und des Lorbeers erfüllt, man kennt keine schrecklichen Stürme und Verwüstungen, es gibt weder ägyptische noch anderweitige Plagen, keine außergewöhnlichen Naturerscheinungen, keine Giftschlangen oder wilden Tiere, sondern nur friedliche Kühe, Schafe und Hühner, weder Nachtigallen noch Rosen, aber Wachteln im Überfluß, die noch dazu in Käfige gesperrt sind, keinen Diebstahl, keinen Mord, keine schrecklichen Zwischenfälle, keine heftigen Leidenschaften, keine kühnen Unternehmungen (S. 80-83). Dem Ort wird jede Besonderheit abgesprochen und die im wirklichen und übertragenen Sinn platteste ‚Normalität‘ attestiert. Die Landschaftsbeschreibung Oblomovkas schließt mit den Worten ab: „Kak vse ticho, vse sonno v trech-četyrech dereven’kach“ [Wie still, wie verschlafen ist alles in den drei, vier Dörfchen; S. 82], was noch einmal mit „[t]icho i sonno vse v derevne“ [still und schläfrig ist alles im Dorf; S. 83] bekräftigt wird. Damit wird das zweite durchgängige Motiv der Stille und des Stillstands angesprochen. Es folgen der Reihe nach: „bezmolvnye izby“; „ne vidno ni duši“; „mertvoe molčanie“; „glubokaja tišina“; „tišina i nevozmutimoe spokojstvie“ [stumme Isben; man sieht keine Menschenseele; totes Schweigen; tiefe Stille; Stille und unerschütterliche Ruhe; S. 83]. In Oblomovka ist alles still, sogar totenstill, während die klassische Idyllendichtung von Melodien erfüllt ist und eines ihrer wichtigsten Motive der Gesang und das Flötenspiel der Hirten ist.
Die Figurenkonstellation Ein weiteres Indiz, das Oblomovka als wenig idyllisch oder sogar als negative Idylle ausweist, sind die Bewohner des Ortes. Es gibt keine fröhlichen, zufrie-
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Vgl. Lohff, Bildlichkeit in den Romanen Gončarovs 1977, S. 14; im selben Sinn schreibt Katharina Hansen Löve, die sich auf Ehre beruft (Ehre, Milton: Oblomov and his Creator. Princeton [N. J.] 1973, S. 177): „The forest localizes danger, the ravine is identified with death“ (Hansen Löve, The Structure of Space in I. A. Gončarov’s „Oblomov“ 1990, S. 186).
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den und in friedlichem Einvernehmen mit der Natur lebenden Menschen, die ihr Raunen vernehmen oder über sie sinnieren. Die spärlichen Bauern sind Randfiguren, die als kaum wahrnehmbare Ameisen im Schweiße ihres Angesichts ihr mühsames Tagewerk auf dem Acker verrichten (S. 83). Die Hauptpersonen sind adlige Gutsbesitzer mit ihren greisen und verwirrten Verwandten (prestarelaja tetka; požilye devuški; nemnogo pomešannyj dever’; staruški i starički; S. 86) und ein verhätscheltes Kind, die in einer jede tiefere Empfindung abtötenden Einförmigkeit und Monotonie dahinvegetieren, sich molluskenartig in ihr Haus zurückgezogen haben und jede Verbindung mit der Natur meiden. Im Gegenteil, alle natürlichen Erscheinungen, die über die Domestizierung hinausgehen – der Graben, die unbekannten oder wilden Tiere, die Nacht – sind mit Gefühlen der Angst verbunden. Streunende Hunde werden vertrieben, frei fliegende Insekten gequält. Lästige Fliegenschwärme künden von Schmutz und Vernachlässigung und ihr Gesumme verbindet sich nicht mit Vogelgesang (es gibt ja keine Singvögel in Oblomovka), sondern mit Stöhnen, Husten und Schnarchen (S. 90).
Das Leben, seine Stationen und die Beschäftigungen der Menschen Die nach Bachtin für eine Idylle wesentlichen Lebenswirklichkeiten (Liebe, Geburt, Tod, Ehe, Arbeit, Essen und Trinken, Lebensalter), die die hauptsächlichen Realitäten des idyllischen Lebens ausmachen und den Erfahrungshorizont der handelnden Personen bestimmen, sind in Oblomovka auf einige wenige beschränkt und erfahren eine besondere Wendung. Der junge Il’ja Il’ič sieht im Traum die auf drei reduzierten Hauptakte des Lebens: Geburten, Hochzeiten und Begräbnisse (S. 97). Die Ehe erscheint in Form von Gewohnheit und die Liebe als abartige Elternliebe; die einzige Geburt, von der berichtet wird (eine Witwe bringt Vierlinge zur Welt), ist ein monströses und sensationelles Ereignis, das Empörung auslöst (S. 81f.); und das sechste Kind der Anna Andreevna, zu jener Zeit keine Ausnahme, gibt Anlaß über die Mühen der Geburt und Erziehung zu sinnieren (S. 102). Das Leben besteht nicht in freudigen Tätigkeiten, sondern „tjanetsja besprevyvnoj odnoobraznoj tkan’ju“ [zieht sich als ununterbrochenes eintöniges
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Gewebe hin; S. 98], das ameisengleiche Geschäftigkeit (S. 89),76 Sorgen, Mühen und sogar Strafen bereithält. Der nicht zu stillende Durst nach dem üppigen Mittagessen, das alle in einen totenähnlichen Schlaf treibt, ist eine Strafe Gottes (S. 91) und auch die Arbeit, die in einer Idylle leicht von der Hand geht, wird als Strafe empfunden (S. 97). Selbst das Mittagessen ist mühsam (trudnyj obed; S. 106). Anstrengende Arbeit oder beschwerliches Lernen werden tunlichst vermieden, und alle danken Gott, wenn wieder ein Tag vorüber ist („Vot den’-to i prošel, i slava bogu!“; S. 92). Keiner der Oblomover geht einer produktiven Arbeit oder einer schöpferischen Tätigkeit nach: Die Hauptbeschäftigungen des Vaters bestehen darin, am Fenster zu sitzen und unermüdlich alles zu beobachten (S. 88), sonst bestimmen Essen, Trinken und vor allem Schlafen, eine von Bachtin nicht vorgesehene Eigenschaft der Idylle, den Tageslauf. In Oblomovka herrschen Passivität und ein verschlingendes Moment vor. Emsiges Hin- und Hereilen und ständige Sorge sind in Oblomovka mit dem Essen und dessen Zubereitung verbunden. So erfahren wir: „No glavnoju zabotoju byla kuchnja i obed“ [Die größte Sorge galt der Küche und dem Mittagessen], und weiter: „Zabota o pišče byla pervaja i glavnaja žiznennaja zabota v Oblomovke“ [Die Sorge um das Essen war die vorrangigste und wichtigste Lebenssorge in Oblomovka; S. 88]. Nur die Geschäftigkeit und das Klopfen der Messer um die Mittagszeit unterbricht die sonst herrschende Lethargie und Totenstille. Nach dem Essen überkommt die Oblomover ein unbesiegbarer, alles abtötender Schlaf, der als ansteckende Krankheit bezeichnet wird, die die Oblomover heimsucht (S. 90). Auch stellt er eine geradezu tödliche Gefahr dar, wenn einer der Oblomover nach einem kurzen Erwachen „padaet opjat’ na postel’, kak podstrelennyj“ [wie angeschossen wieder aufs Bett zurückfällt; S. 90]. In Oblomovka sind Schlaf und Tod Synonyme: „[S]on, istinnoe podobie smerti“ [Der Schlaf ist das wahre Ebenbild des Todes; S. 89], noch einmal bekräftigt mit der Feststellung: „Vse mertvo“ [Alles ist tot; S. 89]; umgekehrt ist der Tod das Ebenbild des Schlafes („Vse sulit […] snu podobnuju smert’“; S. 80). Und wenn das Leben schläfrig ist („sonnaja žizn’“; S. 87), wird der Leser zu der Schlußfolgerung geführt, daß es totengleich ist. In seinem Essay Lučše pozdno, čem nikogda (1879) spricht Gončarov ausdrücklich von „totem Leben“, wenn er in Oblomov „[v]oploščenie sna, zastoja, nepodvižnoj, mertvoj 76
Das Bild des Ameisenhaufens kommt auch in Fregat „Pallada“ vor, allerdings gleichgesetzt mit einem im „wirklichen Sinn idyllischen Land“ [eto muravejnik ili v samom dele idilličeskaja strana] (Gončarov, Fregat „Pallada“ 1986, S. 383).
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žizni“ [die Verkörperung des Schlafes, des Stillstandes, des unbeweglichen, toten Lebens] sieht.77 Ganz ähnlich, allerdings in nicht unbedingt negativer Bewertung, beschreibt Nikolaj Suškov das Leben der russischen Gutsherren in seinen Aufzeichnungen Kartina russkogo byta v starinu, die 1852 in Moskau erscheinen und sich auf die Jahre 1810–1830 beziehen, dieselbe Zeit, in der Son Oblomova angesiedelt ist. In Suškovs Beschreibung ist der Rhythmus des Tages nicht vom Stand der Sonne, sondern von der Befindlichkeit des Magens von Mensch und Vieh diktiert: В самом деле, что может быть питательнее и успокоительнее, как восемь раз покушать и три раза в сутки соснуть, и всё в один и те же часы? – пробуждение от сна сопровождается коротенькой молитвой, в простоте сердец, и упокоительным чаем, со всеми принадлежностями. Потом занятия по хозяйство, чтение, рукоделье, музыка. После всех этих подвигов завтрак. После завтрака – краткое отдохновение, с недочитанной книгой, дремота, полузабвение, полусон. Перед обедом – закуска. После обеда – двухчасовой сон, для сварения желудка. Тут – кофей и лакомство. Позже – чай и полдник. Наконец, ужин и продолжительный сон […]. Und wirklich, was ist nährender und beruhigender, als achtmal am Tag zu speisen und dreimal ein Schläfchen zu halten, und das immer zu derselben Uhrzeit? – Das Erwachen wird von einem kurzen, in der Einfachheit der Herzen gesprochenen Gebet und von einem beruhigenden Tee mit allem Zubehör begleitet. Dann folgen häusliche Verrichtungen, Lektüre, Handarbeit, Musik. Nach all diesen Heldentaten ein Frühstück. Nach dem Frühstück eine kurze Ruhe mit einem nicht zu Ende gelesenen Buch, Schläfrigkeit, Dösen, Halbschlaf. Vor dem Mittagessen ein Imbiß. Nach dem Mittagessen ein zweistündiger Schlaf für die Verdauung. Dann Kaffee und Naschwerk. Später Tee und Vesper. Zuletzt das Abendessen und ein ausgiebiger Schlaf […].78
Aufschlußreich sind die Bedeutungen des im Titel von Son Oblomova vorgegebenen und im ganzen Kapitel leitmotivisch dominierenden Wortes son. In einem Text von weniger als 34 Seiten kommt es in der Bedeutung von ‚Traum‘ nur neunmal vor.79 Viermal wird das Verb snit’sja/prisnit’sja gebraucht.80 Da-
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Gončarov, Ivan A.: Lučše pozdno, čem nikogda. In: ders., SS v 8 t. 1977–1980, T. 8, S. 99148, hier: S. 113; für Ajchenval’d ist der Begriff der oblomovščina gleichbedeutend mit „mertvoe ozero žizni“, eines schlammigen Sumpfes, der die lebendigen Menschen verschlingt (Ajchenval’d, Siluėty russkich pisatelej 1994, S. 214); Valerian F. Pereverzev spricht in seinem Aufsatz Social’nyj genezis oblomovščiny von „mertvaja dremota russkoj provincii“ (Pečat’ i revoljucija [1925] 2, S. 62f.; zit. aus Ščukin, Turgenevskoe gnezdo i Oblomovka 1997, S. 119). Suškov, Nikolaj V.: Kartina russkogo byta v starinu. Iz zapisok N. V. Suškova. In: Raut na 1852 god. Istoričeskij i literaturnyj sbornik. M. 1852, Bd. 2, S. 441-492; hier: S. 478 (zit. aus Ščukin, Turgenevskoe gnezdo i Oblomovka 1997, S. 137). Son (Traum): S. 79 (zweimal mit dem Titel), S. 85 (zweimal) und S. 105 (fünfmal).
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durch wird dem statischen Hauptwort eindeutig der Vorzug vor einem Verb gegeben, das noch dazu einen nur inneren Vorgang bezeichnet. Zum Traummotiv paßt weiterhin, daß der Novejšij sonnik eines der wenigen Bücher ist, das die Oblomover ab und zu und eher zufällig lesen (S. 108). Son erscheint dagegen siebzehnmal in der Bedeutung von Schlaf,81 verstärkt durch das achtmal wiederholte Adjektiv/Adverb sonnyj/sonno.82 Das Motiv des Schlafens und Dösens ist auch mit Wörtern wie spat’, počivat’, zasypat’/zasnut’, zaspannyj, dremat’/dremat’sja, dremota, zevat’/zevnut’, chrapet’ und chrapen’e gegeben, die insgesamt 28 Mal gebraucht werden.83 Eine ähnliche Rekurrenz weisen – wie schon erwähnt – mit dem Todesmotiv verbundene Wörter auf. Umirat’/umeret’ wird elfmal gebraucht, smert’ sechsmal, mertvyj/mertvo viermal, mertvec viermal, mogila viermal und pokojnik sogar neunmal.84 Das Leben erscheint den Oblomovern als „pokojnaja reka“ (S. 97), ein für Gončarov durchaus üblicher Gebrauch der Wortverbindung, obwohl die geläufigere Wendung spokojnaja reka wäre. So aber schwingt außer der Bedeutung ‚ruhig‘, ‚still‘, auch die von ‚verstorben‘, ‚tot‘ mit. Das Todesmotiv verbindet sich mit dem der Stille: in dem „mertvoe molčanie“ [toten Schweigen; S. 83], das in einer Hütte herrscht, erwartet eine alte Frau auf dem Ofen ihren Tod; um die Mittagszeit herrscht „nevozmutimaja tišina – vse kak budto vymerlo“ [unerschütterliche Stille, als sei alles ausgestorben; S. 89], eine Stille, die in „mertvaja tišina“ [Totenstille; S. 89] übergeht. Diese Darstellungen heben sich von dem Klanggewebe aus Stimmen und Melodien ab, das die Idyllen von Gessner und Panaev durchzieht. Die leitmotivisch wiederholten Wörter ‚Ruhe‘, ‚Stille‘, ‚Schlaf‘ und ‚Tod‘ lassen an ein Leichenhaus oder einen Friedhof denken, auf dem die lästig summenden Fliegen an Verwesung erinnern. Man könnte in Oblomovka auch ein 80 81 82 83
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Snit’sja / prisnit’sja: S. 92, 100, 105, 109. Son (Schlaf): S. 80, 84, 85, 87, 89 (viermal), S. 90 (dreimal), S. 91 (dreimal), S. 92, 94, 105. Sonnyj / sonno: S. 82, 83, 85, 87, 91, 92, 94, 103. Spat’: S. 79, 85, 89 (zweimal), S. 90, 91, 93, 94, 95 (zweimal), S. 97, 102, 109; počivat’: S. 92, zasypat’ / zasnut’: S. 89, 92; zaspannyj: S. 104; dremat’ / dremat’sja: S. 80, 88, 102, 105; dremota: S. 102; zevat’ / zevnut’: S. 91, 100, 101 (zweimal), S. 104, 105; chrapet’: S. 89; chrapen’e: S. 89, 90. Umirat’ / umeret’: S. 84, 85, 97, 99, 102 (viermal), S. 103, 107, 110; smert’: S. 80, 84 (zweimal), S. 89, 94, 97; mertvyj / mertvo: S. 83, 89 (zweimal), S. 91; mertvec: S. 93, 94, 95 (zweimal); mogila: S. 94 (zweimal), S. 95, 98; pokojnik: S. 94 (zweimal), S. 95, 102, 104 (viermal), S. 107.
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von Larven oder lebenden Mumien bewohntes Totenreich sehen. Il’ja Il’ič versetzt sich im Traum-Kapitel in dieses Reich, wenn er „davno umeršuju mat’“ [die vor langer Zeit verstorbene Mutter; S. 85] erblickt. Auch Kantor deutet darauf hin, wie das vermeintlich idyllische Oblomovka in Il’ja Il’ičs Erinnerung als Totenreich erscheint, wenn dieser kurz vor seinem Tod in einem Schwebezustand zwischen Traum und Erinnerung noch einmal Fetzen aus seiner Vergangenheit in Oblomovka vor seinem inneren Auge vorbeiziehen läßt und „viditsja emu […] sidjaščaja za kruglym stolom pokojnaja mat’ i ee gosti“ [er sieht seine am runden Tisch sitzende verstorbene Mutter und ihre Gäste; S. 372]. Der Verzicht auf Ol’ga bedeutet nach Kantor Verzicht auf seelische Mühe, auf die Notwendigkeit, in sich das Leben zu erwecken, und bestärkt somit den heidnischen Kult des Essens, Trinkens, Schlafens, den Totenkult, der der christlichen Verheißung des ewigen Lebens widerspricht.85 Der physische Stillstand und die geistige Stagnation drücken sich auch in der lähmenden Faulheit aus, die das Dorf in ihren Bann geschlagen hat. Die Trägheit ist in den Formen len’, lenivo, lentjaj und apatija anzutreffen.86 In Oblomovka herrschen Lethargie, Apathie, Langeweile, die sich zu einer atavistischen Lebensuntüchtigkeit ausformen. In einem Brief an Petr Ganzen vom 30. August 1878 nennt Gončarov als Hauptmotiv des Romans und wichtigste Charaktereigenschaft Oblomovs potuchanie oder pogasanie, die „apatija, son, bezučastie ko vsemu“ [Apathie, Schlaf, allgemeine Teilnahmslosigkeit] zur Folge hat.87 Vielleicht sind dies die Merkmale, die ausschließen, Son Oblomova dem Genre der Idylle zurechnen zu können. In diesem Zusammenhang sind die Be85 86 87
Vgl. Kantor, Dolgij navyk k snu 1991, S. 184. Len’: S. 84, 96; lenivo: S. 90, 100; lentjaj: S. 93; apatija: S. 98. Pis’mo Ganzenu P. G. 30 avg. 1878, S. 473; vgl. auch den Brief an Sof’ja A. Nikitenko vom 8./20. Juni 1860, in dem Gončarov aus der „Oblomovschen Erziehung“ den „lethargischen Schlaf“ der ganzen russischen Gesellschaft ableitet (Gončarov, Ivan A.: Pis’mo Nikitenko S. A., 8/20 ijunja 1860 g. Marienbad. In: ders., SS v 8 t. 1977–1980, T. 8, S. 284-288, hier: S. 285); in dem Brief an die Schwestern Sof’ja A. und Ekaterina A. Nikitenko vom 6./18. August 1860, sieht Gončarov in der Teilnahmslosigkeit eine Alterserscheinung (Gončarov, Ivan A.: Pis’mo Nikitenko E. A. i Nikitenko S. A., 6/18 avgusta 1860 g. Boulogne-sur mer. In: ders., SS v 8 t. 1977–1980, T. 8, S. 298-300, hier: S. 299), wodurch indirekt das Motiv der gealterten und abgestorbenen Bewohner Oblomovkas angedeutet ist; vgl. dazu auch in Oblomov die Episode, in der Oblomov sich bei Štol’c beklagt, daß „žizn’ moja načalas’ s pogasanija“ und dann so weitergegangen sei (Gončarov, Oblomov 1987, S. 144-145); Ajchenval’d spricht von „zlo bessilija, bespomoščnosti i ravnodušija, kotoroe ukladyvaet ljudej v ‚prostoj i širokij grob‘ sonnogo prozjabanija“ (Ajchenval’d, Siluėty russkich pisatelej 1994, S. 214).
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trachtungen Schillers zur idyllischen Dichtung von Bedeutung, die Gončarov bekannt gewesen sein dürften. In seiner ersten Autobiographie ist zu lesen: „Vse svobodnoe ot služby vremja [Gončarov] posvjaščal literature. Gončarov mnogo perevodil iz Šillera, Gete (prozaičeskie sočinenija), […] a potom uničtožal“ [Jeden vom Dienst freien Moment widmete er [Gončarov] der Literatur. Gončarov übersetzte viel aus Schiller, Goethe (die Prosawerke) […], und vernichtete es dann].88 In seiner Bibliothek befanden sich sowohl Goethe’s poetische und prosaische Werke der Jahre 1836–1837 (zwei Bände) als auch Sämtliche Werke Schillers in der Ausgabe von 1827 (neun Bände). Die beiden Ausgaben überführte Gončarov – im Unterschied zu anderen Büchern aus seinem Besitz – erst 1881 in die „Karamzinskaja biblioteka“ in Simbirsk (Ul’janovsk).89 Es könnte also durchaus sein, daß er Schillers Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung (1795–1796) kannte, in der die Idylle der sentimentalischen Dichtung zugeordnet und auch Gessner behandelt wird.90 Vor dem Hintergrund von Schillers Ausführungen zur idyllischen Dichtung und vor allem zum Begriff der Ruhe wird in Son Oblomova geradezu eine Antiidylle entworfen, da hier die „Ruhe“ in der von Schiller getadelten Form der Trägheit anzutreffen ist. Vor allem zwei Abschnitte scheinen mir für Son Oblomova relevant: Die poetische Darstellung unschuldiger und glücklicher Menschheit ist der allgemeine Begriff dieser Dichtungsart. Weil diese Unschuld und dieses Glück mit den künstlichen Verhältnissen der größern Sozietät und mit einem gewissen Grad von Ausbildung und Verfeinerung unverträglich schienen, so haben die Dichter den Schauplatz der Idylle aus dem Gedränge des bürgerlichen Lebens heraus in den einfachen Hirtenstand verlegt und derselben ihre Stelle vor dem Anfange der Kultur in dem kindlichen Alter der Menschheit angewiesen. Man begreift aber wohl, daß diese Bestimmungen bloß zufällig sind, daß sie nicht als der Zweck der Idylle, bloß als das natürlichste Mittel zu demselben in Betrachtung kommen. Der Zweck selbst ist überall nur der, den Menschen im Stand der Unschuld, d. h. in einem Zustand der Harmonie und des Friedens mit sich selbst und von außen darzustellen. […] Der Begriff dieser Idylle ist der Begriff eines völlig aufgelösten Kampfes sowohl in dem einzelnen Menschen, als in der Gesellschaft, einer freien Vereinigung der Neigungen mit dem Gesetze, einer zur höchsten sittlichen Würde hinaufgeläuterten Natur, kurz, es ist kein andrer, als das Ideal der Schönheit, auf das wirkliche Leben angewendet. Ihr Charakter be-
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Gončarov, Ivan A.: [Avtobiografija 1]. In: Russkij chudožestvennyj listok (1859) 14 (mit Kürzungen), dann vollständig in: Russkaja starina (1911) 10 (Datum des Autors: 16. Dezember 1858); jetzt in: Gončarov, Ivan A.: SS v 8 t. 1977–1980, T. 7, S. 217-220, hier: S. 219. Vgl. Baranovskaja (Hg.), Opisanie biblioteki Gončarova. Katalog 1987, S. 112, Nr. 261, und S. 116, Nr. 283. Zu Gončarov und Schiller vgl. Thiergen, Oblomov als Bruchstück-Mensch 1989, S. 163-191.
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steht also darin, daß aller Gegensatz der Wirklichkeit mit dem Ideale, der den Stoff zu der satyrischen und elegischen Dichtung hergegeben hatte, vollkommen aufgehoben sei und mit demselben auch aller Streit der Empfindungen aufhöre. Ruhe wäre also der herrschende Eindruck dieser Dichtungsart, aber Ruhe der Vollendung, nicht der Trägheit; eine Ruhe, die aus dem Gleichgewicht, nicht aus dem Stillstand der Kräfte, die aus der Fülle, nicht aus der Leerheit fließt und von dem Gefühl eines unendlichen Vermögens begleitet wird. Aber eben darum, weil aller Widerstand hinwegfällt, so wird es hier ungleich schwüriger, als in den zwei vorigen Dichtungsarten, die Bewegung hervorzubringen, ohne welche doch überall keine poetische Wirkung sich denken läßt. Die höchste Einheit muß sein, aber sie darf der Mannigfaltigkeit nichts nehmen; das Gemüth muß befriedigt werden, aber ohne daß das Streben darum aufhöre. Die Auflösung dieser Frage ist es eigentlich, was die Theorie der Idylle zu leisten hat.91
Die Atmosphäre In Son Oblomova können einige wenige Bruchstücke ausgemacht werden, die Anklänge an das von der kritischen Literatur geforderte Modell der Idylle haben. Auch gibt es eine Episode, die an das Leben in der Antike erinnert, wenn die Oblomover – in Anlehnung an die von Nikolaj Gnedič übersetzte Ilias Homers – wie olympische Götter lachen (S. 103f.).92 Dieses hyperbolische Gelächter, das sich an der Erinnerung an einen Unfall entzündet, ähnelt der von Vladimir Propp als „razgul’nyj smech“ [zügelloses Lachen] bezeichneten Gefühlsregung, einem wahrhaft Rabelaisschen Lachen, das nach Propp von Völlerei und anderen Ausschweifungen begleitet ist und die animalische Freude an der rein physiologischen Existenz ausdrückt.93 Genauso unvermittelt und grundlos fängt jemand zu weinen an (S. 106). Doch auch dieses Gefühl ist episodisch, es hält nicht lange an, sondern geht alsbald in Gähnen und Verstummen über. Im allgemeinen ist das Dorf von einer dumpfen Atmosphäre aus Angst, Furcht, Vorurteilen und Aberglaube überschattet. Die Wörter strach, strašnyj/ strašno, straščat’, užas, užasat’/užasnut’, bojazn’, bojat’sja und pobojatsja, die ins-
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Schiller, Friedrich von: Über naive und sentimentalische Dichtung. In: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Frankfurt a. M. 1992–2002, Bd. 8, S. 706-810, hier: S. 769f., 775f. (Hervorhebung durch Kursivschrift von F. Schiller). In Gončarovs Bibliothek befand sich die dritte Ausgabe der Ilias, die von Gnedič überarbeitet worden war und mit Illustrationen von John Flaxman 1861 in Petersburg veröffentlicht wurde (vgl. Baranovskaja [Hg.], Opisanie biblioteki Gončarova 1987, S. 32, Nr. 44). Vgl. Propp, Vladimir Ja.: Problemy komizma i smecha. M. 1999, S. 165.
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gesamt 43 Mal auftreten, drücken das Unbehagen der Oblomover in ihrer Welt aus.94 Weniger als halb so oft werden mit Freude und Glück verbundene Wörter wie radost’, radostnyj/radostno, radovat’sja/obradovat’sja, otradnyj, ščast’e und ščastlivyj/ščastlivo gebraucht (insgesamt 21 Mal).95 Die Feststellung von Rothe: „[…] schließlich ist in allen Einzelepisoden die Wirkung eines ‚unbekannten Grauens‘ zu spüren. […] Ein unheimliches Grauen ist im ‚Traum‘ das wichtigste Motiv“,96 wird auf lexikalischer Ebene bestätigt. Wenn auf den ersten Seiten (S. 79-83) bei der Landschaftsbeschreibung wiederholt betont wird, daß es in Oblomovka nichts Schreckliches oder Furchterregendes gibt, wodurch ein durchaus der Idylle verpflichtetes liebliches Bild entsteht, verdüstert sich alsbald der Gesamteindruck und der Schrecken bricht mit dem in der Schlucht gefundenen Fremden über Oblomovka herein. Das Unheimliche erweist sich als allgegenwärtig und wird mit Schauermärchen und abergläubischen Geschichten über Räuber, Ungeheuer, Waldgeister, Gespenster und wilde Tiere noch weiter genährt. Vor allem die njanja erzählt gerne und ausführlich von Dämonen, Ungeheuern, Werwölfen und immer wieder von Toten und Leichen. Der Erzähler stellt daher fest: „Naselilos’ voobraženie mal’čika strannymi prizrakami; bojazn’ i toska zaseli nadolgo, možet byt’ navsegda, v dušu. On pečal’no oziraetsja vokrug i vse vidit v žizni vred, bedu“ [Die Phantasie des Knaben wurde von seltsamen Gespenstern bevölkert; Furcht und Bangen nisteten sich auf lange, vielleicht für immer in seiner Seele ein. Traurig schaut er um sich und sieht im Leben nichts als Unheil und Not; S. 95]. Auch wenn Il’ja Il’ič den Glauben an Gespenster mit der Zeit verliert, bleibt doch „kakoj-to osadok stracha i bezotčetnoj toski“ [ein Rest von Schrekken und unwillkürlichem Bangen; S. 95] und „na každom šagu vse ždet čego-to strašnogo i boitsja“ [auf Schritt und Tritt erwartet er immer etwas Schreckliches und fürchtet sich; S. 95].
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Strach: S. 79, 86, 91, 94, 95 (zweimal); strašnyj/strašno: S. 79, 80, 81, 82, 83 (zweimal), S. 84, 86, 91, 92 ( zweimal), S. 93, 94, 95, 105, 107; straščat’: S. 105; užas: S. 84, 91, 94 (dreimal), S. 101, 105; užasat’/užasnut’: S. 80, 94, 98; bojazn’: S. 95, 107; bojat’sja: S. 90 (zweimal), S. 91, 95 (zweimal), S. 96, 105; pobojatsja: S. 95. Radost’: S. 85, 86, 95, 98 (zweimal), S. 102, 112 (zweimal); radostnyj/radostno: S. 81, 86, 104; radovat’sja/obradovat’sja: S. 81, 101, 105; otradnyj: S. 79; ščast’e: S. 80, 81, 98; ščastlivyj/ščastlivo: S. 83, 84, 110. Rothe, Hans: Gontscharow. Oblomow. In: Zelinsky, Bodo (Hg.), Der russische Roman. Düsseldorf 1979, S. 111-133, hier: S. 115f.
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Diese von Märchen und Verboten genährte Angst, die sich meist auf imaginäre Gefahren bezieht und die Kindheit und das ganze weitere Leben Oblomovs überschattet, ist befremdlich und mit einer Idyllendichtung unvereinbar.
Die Negation des Poetischen und des Erhabenen Dem „gesegneten Erdenwinkel“ Oblomovka wird trotz einiger idyllisch anmutender Bilder jegliche poetische Aura abgesprochen. Die Naturerscheinungen sind personifiziert und erscheinen oft im Diminutiv, um sich der Dimension des ugolok anzupassen. Der Himmel schmiegt sich eng an die Erde und breitet sich so niedrig über dem Kopfe aus, wie das schützende Dach des Elternhauses (S. 79). Dabei bleibt zu fragen, ob ein tiefer Himmel nur beschützend oder eher bedrückend ist. Poetische Bilder werden negiert oder entzaubert: Der Mond wird von den Bewohnern Oblomovkas nur „mesjac“ genannt und erscheint sehr prosaisch als „mednyj vyčiščennyj taz“ [blank geputzte Kupferschüssel; S. 82]. Weiter wird ausgeführt, daß er einen Dichter genauso treuherzig angeblickt hätte, wie eine Dorfschöne die leidenschaftlichen und beredten Blicke eines Gecken aus der Stadt erwidert hätte. Der Erzähler stellt fest, daß kein Dichter oder Träumer sich an der Gegend hätte berauschen können (S. 82): Hier gibt es keine heftige Leidenschaft und in der Nacht, wenn die Natur in feierlicher Stille verharrt, „kogda sil’nee rabotaet tvorčeskij um, žarče kipjat poėtičeskie dumy, kogda v serdce živee vspychivaet strast’ ili bolee noet toska […] v Oblomovke vse počivajut tak krepko i pokojno“ [wenn der schöpferische Verstand stärker arbeitet, die poetischen Gedanken heißer lodern, wenn im Herzen lebhafter die Leidenschaft entbrennt oder die Schwermut schmerzlicher quält […], schlafen in Oblomovka alle tief und ruhig; S. 92]. Die Oblomover scheuen alle seelischen Aufregungen und Leidenschaften, die „volkaničeskaja rabota vnutrennego, duševnogo ognja“ [vulkanische Arbeit des inneren Seelenfeuers; S. 97] ist ihnen fremd, so daß ihre Seele „mirno, bez pomechi utopala v mjagkom tele“ [friedlich, ohne Hindernisse in ihrem weichen Körper versank; S. 97]. Dazu merkt Krasnoščekova an: „Ėtot mirok dlja tela, raspoložennogo k pokoju, no ne dlja duši, žažduščej vpečatlenij i dviženija“ [Diese kleine Welt ist für den Körper, der zur Ruhe neigt, und nicht für die Seele, die nach Eindrücken und Bewegung verlangt].97 Weniger überzeugend ist die Meinung von Klein, der auf den Spuren von
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Krasnoščekova, Gončarov i mir tvorčestva 1997, S. 257.
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Hegel einen Gegensatz zwischen der „Poesie des Herzens“ und der „entgegenstehenden Prosa“ feststellt.98 Man könnte an Jean Pauls „Vorrede“ zum Leben Fibels (1811) denken, eines Werkes, das der Autor in der Vorschule der Ästhetik (Zweite Abteilung, 12. Programm, § 73) allerdings zu den Idyllen zählt:99 Nimmt also ein irrender Leser dasselbe [Werk] darum in die Hand, um sich darin auf seinem Sessel mit den größten Himmels- und Erden-Stürmern, die es je gegeben, in Bekanntschaft zu setzen – und mit Riesenkriegen gegen Riesenschlangen auf Riesengebirgen – mit reißenden Höllenflüssen der Leidenschaften mit – Nachhöllen voll Kreuzfeuer romantischer Liebes-Qualen – mit weiblichen Erzengeln und männlichen Erzteufeln […]; nimmt darum der Leser geneigt mein Buch in die Hand: so wart’ er so lange, bis ers durchgelesen hat, um nach einem andern zu greifen, worin dergleichen Sachen wirklich stehen. Wahrlich in diesem steht nichts – einige wenige harmlose, schuldlose, lichtlose, glanzlose Leute mit ähnlichen Schicksalen durchleben darin ihr Oktavbändchen – das Ganze ist ein stillendes Still-Leben – eine Wiege erwachsener Leser zum Farniente – ein leises graues laues Abendregnen, unter welchem statt der Blumen etwan die unscheinbare Erde ausduftet, wozu höchstens noch ein Fingerbreit Abendrot und drei Strahlen Abendstern kommen möchten. Weiter gibts nichts darin, im Buch. Wendet man sich freilich am Ufer um von diesem stillen Meerchen100 und blickt landeinwärts in das Treiben und Laufen jetziger Zeit und Politik samt deren darangehängten Menschen: so erstaunt man über den Unterschied und Glanz dieser Treiber und Läufer […] –– […]. So haben leise Menschen tiefer, wenigstens fruchtbringender in die Zukunft hinein gehandelt als laute; den Stillen im Lande wurde öfters Raum und Zeit das Sprachgewölbe, das sie zu den Lauten außer Landes machte.101
Wenn anspruchslose Selbstgenügsamkeit, „stillendes Still-Leben“, das „Farniente“ zur Idylle reichen, könnte auch Son Oblomova dieser Gattung zugerechnet werden. Doch sind im Fall des Lebens in Oblomovka noch andere Aspekte zu berücksichtigen.
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Vgl. Klein, Gončarovs „Oblomov“ 1994, S. 219. Vgl. Jean Paul: Vorschule der Ästhetik. In: Jean Paul: Werke. München 1959–1963, Bd. 5, S. 7-456, hier: S. 259. Ein ähnlicher Vergleich wird von Gončarov gebraucht, wenn er schreibt, daß in Oblomovka das Leben wie ein ruhiger Fluß an den Menschen vorbeirinnt und sie nur an seinem Ufer zu sitzen brauchen, um die unvermeidlichen Erscheinungen, die vor ihnen auftauchen, zu beobachten (Gončarov, Oblomov 1987, S. 97). Jean Paul: Leben Fibels. In: Jean Paul: Werke. München 1960–1963, Bd. 6, S. 367-368 (Hervorhebung durch Kursivschrift von Jean Paul); in einem Brief an Nikolaj A. und Evgenija P. Majkov vom 9./21. August 1860 zählt Gončarov neben Goethe und Schiller auch Jean Paul und Lamartine zu den großen Schriftstellern (Gončarov, Ivan A.: Pis’mo Majkovym V. N. i E.P., 9/21 avgusta g. Bulon’. In: ders., SS v 8 t. 1977–1980, T. 8, S. 301-304, hier: S. 302).
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Zusammen mit der Poesie fehlt in Oblomovka auch alles im wörtlichen oder übertragenen Sinn Erhabene und somit das Sakrale. Das wird symbolisch schon dadurch ausgedrückt, daß der Himmel tief herabhängt und es keine weit hinauf fliegenden Vögel wie Lerchen gibt. In dieser Umgebung sind auch alle hochtrabenden oder erhabenen Gefühle abgestorben. Ekaterina Ljapuškina stellt fest, daß „[s] točki zrenija čeloveka bol’šogo mira, nositelja obyknovennogo soznanija, žizn’ v Oblomovke – ėto suščestvovanie ‚po gorizontali‘, ėto tol’ko byt“ [vom Gesichtspunkt des Menschen aus der weiten Welt, der ein normales Bewußtsein hat, das Leben in Oblomovka ein Dasein auf der ‚horizontalen Ebene‘, nur byt ist],102 und Katharina Hansen Löve schreibt, daß in der Landschaft Oblomovkas „a vertical axis is replaced by a more horizontal modelling of the world“.103 Ich selbst habe dargelegt, wie sich in Oblomovka alles (die Landschaft, der Geisteshorizont der Bewohner, die Erziehung des kleinen Il’ja Il’ič, die vorherrschende Körperhaltung – Schlafen/Liegen) auf die Horizontale reduziert,104 und Ščukin meint sogar, daß Gončarov bei der Beschreibung eines „platten, ebenen Ortes“, hinter dem sich das „Banale“ (pošloe) verbirgt („mesto ėto ploskoe, ravninoe i, čto za tem skryvaetsja – pošloe“), die beiden Bedeutungen des französische Wortes plat im Sinn hatte.105 Herlth spricht zusammenfassend von der „programmatisch unerhabenen Welt Oblomovkas“.106 In dieser Welt, in der die Menschen auf ihre animalische oder vegetative Existenz eingeschränkt sind, wird der aufrechte Gang, ja sogar das aufrechte Stehen erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht.107 So kann sich Onisim Suslov in seiner Behausung nicht in voller Größe aufrichten (S. 83) und die Bewohner Oblomovkas, die es könnten, verbringen ihr Leben hauptsächlich sitzend oder liegend. So schlagen auch alle Bemühungen von Štol’cens Vater und später von Štol’c und Ol’ga fehl, Il’ja Il’ič aus seiner horizontalen Lebenseinstellung aufzurütteln. In dem eintönigen Leben – oder vielleicht sollte man sagen: auf der platten Lebensebene der Oblomover – ist die Vertikale die fehlende oder gefürchtete 102 103 104
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Ljapuškina, Idilličeskij chronotop v romane I. A. Gončarova „Oblomov“ 1989, S. 31. Hansen Löve, The Structure of Space in I. A. Gončarov’s „Oblomov“ 1990, S. 203. Vgl. Böhmig, Il “Sogno di Oblomov” 1993, S. 33-48, und Bemig, „Son Oblomova“ 1994, S. 26-37. Ščukin, Turgenevskoe gnezdo i Oblomovka 1997, S. 130-131. Herlth, Jens: Oblomov. In: Zelinsky, Bodo (Hg.), Der russische Roman. Köln/Weimar/ Wien 2007, S. 146-163, hier: S. 146. Vgl. Thiergen, Peter: Aufrechter Gang und liegendes Sein. Zu einem deutsch-russischen Kontrastbild. München 2010; vgl. auch Böhmig, Il “Sogno di Oblomov” 1993, S. 44.
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Dimension, sie gleicht einem Tabu und erweckt geradezu phobische Ängste. Schon in der Landschaft ist sie auf ein Minimum reduziert (es gibt keine hohen Berge), im Dorf selbst ist alles Senkrechte oder Hochgelegene vom Verfall bedroht und mit Verboten belegt: Das Herrenhaus ist baufällig, die Galerie ist einsturzgefährdet und wird notdürftig mit den eigenen Bruchstücken (oblomki; S. 99) abgestützt, Treppen hängen schief und wackeln, Pfähle sind umgestürzt, die Gehege und Zäune liegen meist am Boden; dem kleinen Oblomov ist es verwehrt, zu klettern, er soll nicht auf die steile Treppe zum Heuboden steigen, darf sich nicht auf Zäune setzen und schon gar nicht die Galerie oder den Taubenschlag erklimmen oder auf ein Dach klettern; fliegenden Insekten, wie den Libellen,108 die als „narušiteli ėtoj tišiny“ [Ruhestörer; S. 90] bezeichnet werden, reißt Il’ja Il’ič die Flügel aus oder durchbohrt sie mit einem Strohhalm. Das ungeliebte Studium in Verchlëvo (Oberdorf) wird unter allen möglichen Vorwänden bald eingestellt. So werden dem kleinen Oblomov die Flügel gestutzt und jeder Versuch, sich aufzuschwingen und über die Horizontale zu erheben, wird unterbunden. In seinen 1841 in „Otečestvennye zapiski“ veröffentlichten autobiographischen Aufzeichnungen Patriarchal’nye nravy goroda Malinova beschreibt Aleksandr Herzen ein auch auf Oblomov zutreffendes Leben: Встречались люди, у которых сначала был какой-то зародыш души человеческой, какая-то возможность, — но они крепко заснули в жалкой, узенькой жизни. Случалось говорить с ними о смертном грехе против духа — обращать человеческую жизнь в животную: они просыпались, краснели; душа, вспоминая свою орлиную натуру, расправляла крылья; но крылья были тяжелы, и они, как куры, только хлопали ими, на воздух не поднялись и продолжали копаться на заднем дворе. Man traf Leute, die am Anfang sehr wohl den Keim einer menschlichen Seele hatten, eine Möglichkeit, doch sie schliefen fest in einem kläglichen, beschränkten Leben. Manchmal sprach man mit ihnen über die Todsünde wider die Seele: das menschliche Leben in ein tierisches zu verwandeln. Sie erwachten und erröteten; die Seele breitete in Erinnerung an ihre Adlernatur die Flügel aus; aber die Flügel waren schwer und die Menschen, gleich Hühnern, schlugen nur mit ihnen, hoben sich nicht in die Lüfte und fuhren fort, im Hinterhof zu picken.109
Die Bewohner Oblomovkas verbringen ihre Tage liegend, sitzend oder in gemächlicher, beinahe widerwilliger Bewegung. Der psychologische Parallelismus zwischen der Landschaft und der den Flecken beherrschenden Stimmung 108 109
Strekoza hat auf Mädchen bezogen auch die Bedeutung von „Wildfang“, „Quecksilber“. Gercen, Aleksandr I.: Patriarchal’nye nravy goroda Malinova. In: ders., Sobranie sočinenij v tridcati tomach. M. 1954–1966, Bd. 1, S. 287-315, hier: S. 295 (der Text ist Teil der autobiographischen Erzählung Zapiski odnogo molodogo čeloveka, S. 257-316).
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sowie der Gemütsverfassung und den Gewohnheiten der Oblomover wird wiederholt unterstrichen: „Ta že glubokaja tišina i mir ležat i na poljach“ [Die gleiche tiefe Stille, der gleiche Friede liegen auch auf den Feldern; S. 83]; „Tišina i nevozmutimoe spokojstvie carstvujut i v nravach ljudej“ [Stille und unerschütterliche Ruhe herrschen auch in den Sitten der Menschen; S. 83]. Hier „kriecht“ (polzet) sogar der Fluß und bei dem Gemurmel der Bäche, die ihm entspringen, läßt es sich süß schlummern (S. 80).110 Genauso laden die kühlen Winkel, die sich im Garten und Hof bilden, schon am frühen Morgen zum Sinnen und Schlafen ein (S. 87). In der von Irina Abramovskaja in ihrer Dissertation getroffenen Unterscheidung zwischen zwei in der russischen Literatur vorherrschenden Weltanschauungen, der des ‚Wanderers‘ (stranstvovatel’) und der des ‚Stubenhockers‘ (domosed), ist der Platz der Oblomover leicht auszumachen.111 Bei ihnen entsprechen sich Körperhaltung, Lebensstil und Gemütsverfassung, die sich in Lethargie und Apathie ausdrücken. In einem Brief vom 16./28. August 1860 an die Schwestern Ekaterina und Sof’ja Nikitenko unterscheidet Gončarov zwei Formen der Apathie: „Est’ skotskaja apatija, proischodjaščaja ot otsutstvija ponimanija, videnija i čuvstva, i est’ apatija, dostajuščajasja v udel posle glubokogo znakomstva s žizn’ju, posle upornoj bor’by s nej“ [Es gibt eine viehische Apathie, die aus dem Fehlen von Einsicht, Weitsicht und Gefühl herrührt, und eine Apathie, die man nach tiefer Lebenskenntnis erringt, nach beharrlichem Kampf mit dem Leben].112 Die Oblomover, die das Leben „kak idealom pokoja i bezdejstvija“ [als Ideal der Ruhe und Untätigkeit; S. 97] verstehen, sind in der ersten Art der Apathie gefangen, die alles Streben, die Willenskraft, die Wünsche und jede Initiative lahmlegt. Sie vegetieren vor sich hin. So wird Il’ja Il’ič mit einer exotischen Blume verglichen, die sich langsam und schlaff in einem Gewächshaus entwickelt (S. 111). Diese ironisch als „stoische Reglosigkeit“ (stoičeskaja nepodvižnost’; S. 98) bezeichnete Untätigkeit, die keineswegs eine die Kontemplation befruchtende 110
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Vgl. Thiergen, Aufrechter Gang und liegendes Sein 2010, besonders das Kapitel „Das Oblomov-Syndrom: Torso Existenz im Liegen und Kriechen“, S. 42-45. Vgl. Abramovskaja, Irina S.: Russkaja idillija: ėvoljucija žanra v proze konca XVIII – pervoj poloviny XX veka. Diss. na soisk. učenoj stepeni k.f.n. Velikij Novgorod 2000; nutzbar unter: http://www.dissercat.com/content/russkaya-idilliya-evolyutsiya-zhanra-v-proze-kontsa-xuiiipervoi-poloviny-xix-veka. Gončarov, Ivan A.: Pis’mo Nikitenko E. A. i Nikitenko S. A., 16/28 avgusta g. Bulon’. In: ders., SS v 8 t. 1977–1980, T. 8, S. 304-309, hier: S. 307; vgl. dazu Thiergen, Literarische Arkadienbilder 2007, S. 183.
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Muße, sondern eine jegliche körperliche und vor allem geistige Anstrengung vermeidende geradezu abulische Passivität ist, hat kein kreatives, sondern höchstens ein bewahrendes, meistens aber ein destruktives Potential. Der Traum, der zum Albtraum wird, endet mit der Episode, in der Il’ja Il’ič, inzwischen zum Jugendlichen herangewachsen, von dem Gesinde eingefangen wird, eine Episode, die schon im Vokabular an eine Gefangennahme erinnert („ovladeli barčonkom“; S. 112). Der Halbwüchsige, der sich, von einem Teufelchen geritten, in einem letzten Anflug von Lebendigkeit in einer Schneeballschlacht mit den Dorfburschen austobt, wird übermannt und wie ein Kleinkind in Pelze und Decken gehüllt und auf den Armen nach Hause getragen, wo er für drei Tage ins Bett gesteckt wird. Damit wird seine Entwicklung gewaltsam und unnatürlich zurückgeschraubt, er wird zum Kleinkind gemacht, das noch nicht laufen kann und in Windeln gewickelt werden muß.113 Die Prozedur erinnert an die althergebrachte Methode des Puckens, durch die ein Säugling ruhiggestellt und bewegungsunfähig gemacht wird. Il’ja Ilič gleicht auch den Gänsen, die man in Oblomovka zur Mastzeit der „Motion“ beraubt und in Säcken aufhängt (S. 88). Man könnte sogar noch weiter gehen und sagen, daß er in ein embryonales Stadium zurückversetzt wird, als ob ein gerade ausgeschlüpfter Falter sich wieder zur Larve verwandeln und in seinen Kokon einspinnen müßte. Dieser Kokon findet dann in dem chalat des physisch erwachsenen, aber geistig weiterhin unmündigen Oblomov seine Entsprechung.
Schluß In Oblomovs Traum können sehr wohl einige bruchstückhafte Elemente ausgemacht werden, die vordergründig an eine Idylle gemahnen, doch werden sie von Gončarov ironisch relativiert oder unterschwellig aufgehoben. Anders gesagt: Die Verfremdung durch den Traum-Schlaf oder Schlaf-Traum erlaubt es dem Autor, die nötige kritische Distanz zu dem Träumenden-Schlafenden herzustellen und eine klare Grenze zwischen Innensicht und Außenperspektive zu ziehen. Kann sich der träumende Oblomov aus seiner Sicht in der Illusi-
113
Vgl. Krasnoščekova, Gončarov i mir tvorčestva 1997, S. 269. Diese Feststellung ist in dem Kapitel „Iljuša kak Anti-Ėmil’“ (S. 260-270) enthalten, in dem die Autorin dem „Son Oblomova“ ein didaktisches Anliegen zuschreibt, das darin besteht, aufzuzeigen, wie ein Kind nicht erzogen werden soll.
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on einer Idylle wiegen, so wird diese Illusion aus der Perspektive des Autors und des Lesers aufgehoben. Der idyllisch geschlossene Raum ist es nur für die Bewohner Oblomovkas bzw. für die Gutsbesitzer. Die imaginäre Grenze wird aber von den Fuhrleuten und Bauern aus dem einfachen Volk überschritten und ist in der umgekehrten Richtung für allerlei Unannehmlichkeiten durchlässig. In dem ewig gleichen Kreislauf der Tage, Monate und Jahre, der das Leben der Oblomover bestimmt, gemahnen schlagende Uhren an das Vorwärtsschreiten der Zeit dem Alter und Tod entgegen. Die Landschaft hat neben idyllischen auch sehr unidyllische Züge: Die Natur ist nicht der organische Lebensraum der Menschen, sondern das ‚Andere‘, das ‚Fremde‘, das teilnahmslos oder sogar feindselig wahrgenommen wird. So leben in Oblomovka die – meist alten – Menschen nicht in idyllischem Einvernehmen mit der Natur und empfinden keine Freude an deren Erscheinungen. Es gibt einen Garten, der ist aber verwildert und kaum besucht, der Graben ist von Tierkadavern verschandelt, die Dunkelheit ist gruselig. Die Neugier und Lebensfreude ist abgestorben oder wird von der Angst vor allerlei realen und vor allem imaginären Bedrohungen unterhöhlt. Die Oblomover bleiben – besonders in der Nacht, wenn sich die Bäume in Ungeheuer oder Riesen und die Büsche in Räuberhöhlen verwandeln (S. 92, 95) – in ihrem Haus verschanzt, das sich zu einer Art Festung gegen die in der freien Außenwelt lauernden Gefahren ausgestaltet. Es ist jedoch kein behagliches Heim, sondern eine verwahrloste Behausung mit wenigen brüchigen und abgeschabten Möbeln, da die Oblomover lieber Unbequemlichkeiten ertragen, als Geld auszugeben (S. 101). Es fehlen die kleinsten Verschönerungen, wie Bilder an den Wänden, die genauso wie das Lesen oder Spazierengehen als überflüssig, wenn nicht als Luxus gelten (S. 108). Die Faulheit der Oblomover, gepaart mit ihrem Geiz, wirft ihren unheilvollen Schatten auf ihr Heim und die nähere Umgebung. Die Stimmung ist – außer in der Episode der eher krampfartigen Lachanfälle – keineswegs lebenslustig, sondern von Sorgen um das Essen und das Wohlergehen des kleinen Il’ja Il’ič bestimmt und von irrationalen Ängsten überschattet. Anders als in der Idylle, in der die Hirten singen oder Sängerwettbewerbe austragen, hört man in Oblomovka, wenn nicht Totenstille herrscht, hauptsächlich lästige Geräusche: das laute Klopfen der Messer, das Surren der Spinnräder, das Summen von Fliegen, das Husten, Niesen, Schnarchen der Menschen, die Schritte des Hausherrn, die schläfrige, träge Unterhaltung. Nur ein-
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mal erklingt das dünne Stimmchen einer Frau und es ist nicht zu erkennen, ob sie weint oder ein wehmütiges Lied ohne Worte improvisiert (S. 87). Der Aberglaube nimmt in Oblomovka den Platz der Götterverehrung ein. Aleksandr Herzen befaßt sich mit diesem Problem in seinem 1847 im „Sovremennik“ publizierten Aufsatz Novye variacii na starye temy. Hier knüpft er an die ersten Verse „Predrassudok! On oblomok / Drevnej pravdy […]“ des Gedichtes von Evgenij Baratynskij an, das 1841 in „Otečestvennye zapiski“ veröffentlicht worden war, und benennt die Begleiterscheinungen des Aberglaubens. Er beschreibt, wie diese „Ruinen“ (razvaliny) auf dem Boden der Gewohnheit, der Faulheit, der Furchtsamkeit und des Kindesalters der Gedanken gedeihen: Баратынский превосходно назвал предрассудок обломком древней правды. Эти обломки составляют одно начало для противоречий, о которых мы говорим, по другую сторону их — отрицание, протест разума. Развалины эти поддерживаются привычкой, ленью, робостью и, наконец, младенчеством мысли, не умеющей быть последовательною и уже развращенной принятием в себя разных понятий без корня и без оправданья, рассказанных добрыми людьми и принятых на честное слово. Это совершенно противно духу мышления, но оно очень легко: вместо труда и пота — орган слуха, вместо логической наготы — готовое богатство, вместо нравственной ответственности перед самим собою — младенческая зависимость от внешнего суда. Baratynskij hat das Vorurteil trefflich als Überrest der alten Wahrheit bezeichnet. Diese Überreste sind eine der Ursachen für die Widersprüche, über die wir reden, auf der anderen Seite sind es die Negation, der Einspruch der Vernunft. Diese Ruinen werden von der Gewohnheit, der Faulheit, der Furchtsamkeit und, nicht zuletzt, von dem Kindesalter des Gedankens aufrechterhalten, der nicht konsequent zu sein vermag und schon sittlich verdorben ist durch die Aufnahme verschiedener Begriffe ohne Wurzeln und ohne Rechtfertigung, die von guten Menschen erzählt und als Ehrenwort genommen werden. Das ist dem Geist des Denkens vollkommen zuwider, doch ist es sehr leicht: statt der Mühe und des Schweißes – Gehörsinn, statt logischer Blöße – fertiger Reichtum, statt moralischer Verantwortung vor sich selbst – infantile Abhängigkeit von einem außenstehenden Richter.114
Ganz ähnlich beschreibt Gončarov in einem Brief vom 8./20. Juni 1860 aus Marienbad an Sof’ja Nikitenko die Folgen der „Oblomovschen Erziehung“: А вы представьте себе обломовское воспитание, тучу предрассудков, всеобщее растление понятий и нравов, среди которого мы выросли и воспитались и из которого как из летаргического сна только что просыпается наше общество; если б Вы могли представить себе всю грубость и грязь, которая таится в глубине наших обломовок, потом в недрах казенных и частных училищ, потом в пустоте и разврате общественной жизни, 114
Gercen, Aleksandr I., Novye variacii na starye temy. In: ders. Sobranie sočinenij v tridcati tomach 1954–1966, Bd. 2, S. 86-102, hier: S. 87 (der Text ist das dritte Kapitel des Aufsatzes Kaprizy i razdum’e, S. 49-102); auf den Zusammenhang mit den Versen Baratynskijs hat schon Vladimir Mel’nik hingewiesen (vgl. Mel’nik, Vladimir I.: Realizm Gončarova. Vladivostok 1985, S. 40-41) (Hervorhebung durch Kursivschrift von mir – M. B.).
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где мелкое тщеславие заменяло всякие разумные стремления, за отсутствием их, где молодой человек задумывался над вопросом, что ему делать, или, не задумываясь, пил, ел, волочился, одевался франтом, потом женился и потом направлял детей своих по тому же пути, уча служить (то есть занимать выгодные места и брать чины) и наслаждаться — в ущерб чести, нравственности и тому подобное. Stellen Sie sich aber die Oblomovsche Erziehung vor, eine Unmenge von Vorurteilen, ein allgemeiner Verfall der Begriffe und Sitten, inmitten dessen wir aufwuchsen und erzogen wurden und aus dem unsere Gesellschaft wie aus einem lethargischen Schlaf gerade erwacht; wenn Sie sich nur die ganze Grobheit und den Schmutz vorstellen könnten, der sich im tiefsten Inneren unserer Oblomovkas verbirgt, sowie in den Tiefen der staatlichen und privaten Lehranstalten, weiter in der Leere und den Lastern des gesellschaftlichen Lebens, wo engherzige Eitelkeit an die Stelle allen vernünftigen, doch fehlenden Strebens getreten war, wo ein junger Mann sich im Nachdenken darüber verlor, was er machen soll, oder, ohne nachzudenken, trank, aß, den Hof machte, sich als Geck kleidete, dann heiratete und später seine Kinder auf denselben Weg schickte, indem er sie lehrte, zu dienen (d. h. vorteilhafte Posten einzunehmen und Dienstgrade zu erwerben) und zu genießen – zum Schaden von Ehre, Moral und Ähnlichem.115
Die von Panaev geforderte moralische Verpflichtung der Idylle ist in Son Oblomova folglich nur insoweit vorhanden, als ein negatives Beispiel mit seinen Begleiterscheinungen ausgemalt wird. Oblomovs Traum kann daher kaum als Idylle angesehen werden, doch greift auch die Definition der Antiidylle zu weit bei einem Autor, der jegliche explizit programmatische oder tendenziöse Ausrichtung seiner Werke meidet. Vielleicht könnte man in Anlehnung an Peter Thiergen von einer Bruchstückidylle sprechen, was auch durch den Namen „Oblomovka“ nahegelegt wäre. Aus der Innensicht der Oblomover, die auf die Horizontale beschränkt ist und durch die Abgeschiedenheit keine Vergleichsmöglichkeiten bietet, kann das altväterliche Dorf für Momente als ein idyllischer Winkel erscheinen, als ein Fragment aus dem verlorenen Paradies. Aus der Außenperspektive des Autors oder Lesers, die den ugolok aus der Vertikalen betrachten und daher Vergleichsmöglichkeiten haben, entlarvt sich die Oblomovsche Idylle als Fiktion oder Illusion, ein Traum-Schlaf oder Schlaf-Traum, der nicht nur beim Erwachen, sondern auch im Vergleich zu einem ganzheitlichen Leben seine Gehaltlosigkeit entlarvt. Somit negiert son in der Bedeutung von Traum sich selbst in der Bedeutung von Schlaf, dessen horizontale Stellung den Schlaf mit dem Tod verbindet.
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Pis’mo Nikitenko S. A. 8/20 ijunja 1860, S. 285.
Daniel Schümann Appell zum Andersdenken Bemerkungen zu den Rezeptionspotentialen von Gončarovs Oblomov 1. Polyvalenz, Paralyse und Produktivität in der OblomovRezeption Ivan Gončarovs bekanntester Roman, der 1859 erstmals in Buchform veröffentlicht wurde, ist eine crux interpretum, daran hat sich in den mittlerweile rund anderthalb Jahrhunderten kritischer, akademischer und publizistischer Diskussion über diesen Text nicht grundsätzlich etwas geändert – zum Glück, so ist man als Literaturwissenschaftler geneigt hinzuzufügen. Gerade auch international ist Oblomov so bekannt wie wenige andere Werke des an bekannten russischen Romanen so reichen 19. Jahrhunderts. Deutschland hat sich schon früh als besonders fruchtbarer Boden für die Oblomov-Rezeption erwiesen: Hierzulande konnten sich Leser immerhin bereits seit 1868 auch ohne Russischkenntnisse ein eigenes Bild von Oblomov machen (in diesem Jahr erschien die Übersetzung von B. Horsky). Seitdem entstand in Rußland, in Deutschland und anderswo eine große Fülle unterschiedlicher Interpretationsversuche und Rezeptionszeugnisse – zu viele, um sie hier einzeln aufführen zu können.1 Es gab diverse zeitgebundene Moden der Oblomov-Deutung, und gerade im interkulturellen Vergleich läßt sich immer wieder ein Einfluß des Zeitgeistes und prägender kultureller Leitmuster auf die Urteile von Oblomov-Lesern über den Gegenstand ihrer Lektüre erkennen. Das Besondere an diesem Werk, wahrscheinlich der Hauptgrund dafür, daß sein Autor Gončarov (1812–1891) bis heute auch international im literarischen Kanon des 19. Jahrhunderts vergleichsweise fest verankert ist – anders als viele seiner in Rußland
1
Zur Verdeutlichung mag meine anderswo bereits publizierte Übersicht verschiedener Interpretationsansätze gelten (vgl. Schümann, Daniel: Oblomov-Fiktionen. Zur produktiven Rezeption von I. A. Gončarovs Roman Oblomov im deutschsprachigen Raum. Würzburg 2005, S. 39-93). Dort erörtere ich auch die Eignung des Begriffs Rezeption als Sammelbezeichnung für Interpretationen, Adaptionen und die breitere gesellschaftliche Diskussion über ein literarisches Werk (vgl. ebd., S. 33-38).
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durchaus berühmten Zeitgenossen wie A. A. Fet (1820–1892), N. A. Nekrasov (1821–1877), M. E. Saltykov-Ščedrin (1826–1889), N. G. Černyševskij (1828–1889) – ist aber, daß Oblomov ein zeitgeprägter und zeitloser Text zugleich ist. Letztlich haben sich bisher alle Moden und Konjunkturen als kurzlebiger erwiesen als Gončarovs Geschichte vom heruntergekommenen Gutsherren Il’ja Il’ič Oblomov, dem wohl berühmtesten Faulpelz und Müßiggänger der Weltliteratur. Zeit, Zeitgebundenheit, Zeitlosigkeit und Zeitgenossenschaft sind freilich dehnbare Begriffe, internationale Bekanntheit ist relativ, zudem wird auch Weltliteratur in Zukunft wohl anders definiert werden als heute, und über internationale kulturelle Bedeutsamkeit entscheidet auch in Zeiten der Globalisierung nicht nur die literarische Wirksamkeit im Ausland. Wahrscheinlich bestimmt sich der kanonische Stellenwert in der Literaturgeschichte auf lange Sicht auch nicht durch die Präsenz in literaturwissenschaftlichen Diskurssystemen – Literaturwissenschaft, Literaturkritik, Theater, Massenmedien usw. –, sondern es entscheidet darüber zu einem erheblichen Teil das Buch selbst. Die medialen Rahmenbedingungen, unter denen sich die Rezeption von Literatur vollzog, waren in den letzten Jahrzehnten einem immer schnelleren Wechsel unterworfen, so daß es heute schwerfällt, eindeutige und dauerhafte Kriterien für den kanonischen Status eines literarischen Werkes wie Oblomov zu geben; Rezeptionsforschung kann auch nicht nur rein empirisch funktionieren, sondern sie muß neben aller Empirie immer wieder auf Intuition setzen. Eine solche Intuition, die aber durchaus auch empirisch bis in die Gegenwart der Oblomov-Rezeption begründbar ist, läßt mich die Prognose wagen, daß zentrale Themen dieses Werkes nicht veralten werden. Im Rückblick auf die vergangenen Jahre scheint es, als durchliefen wir gerade ein Tal der internationalen Oblomov-Rezeption – mit einem punktuellen Anstieg des Interesses 2012. Das Jubiläumsjahr war freilich ein Jahr, in dem besonders an Gončarov erinnert wurde, nicht nur in Rußland. Für die Gončarov-Rezeption setzte es insofern wichtige Akzente, und damit natürlich auch für die Oblomov-Rezeption. Wiederum spielte Deutschland hierbei eine besondere Rolle, was sich nicht zuletzt darin äußerte, daß es 2012 zwei unterschiedliche Oblomov-Dramatisierungen auf deutschen Bühnen zu sehen gab.2 2
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit können hier die Dramatisierung Oblomow durch den lettischen Regisseur Alvis Hermanis für das Schauspiel Köln (Premiere: 11. Februar 2011) sowie ein Stück unter dem Titel Oblomow: Only the Lonely von Daniel Schrader genannt werden. Letzteres war z. B. am 24., 27. und 28. Oktober 2012 am Berliner Theater Ballhaus Ost zu sehen.
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Die breiteste und öffentlichkeitswirksamste Erinnerung an den russischen Autor und sein literarisches Erbe fand aber erwartungsgemäß in Rußland selbst statt. Es entspricht dem neuen Selbstverständnis Rußlands in der Welt, daß für die Pflege des eigenen literarischen Erbes diesmal offensichtlich staatlicherseits deutlich mehr Ressourcen zur Verfügung gestellt werden als noch zwanzig Jahre zuvor. Im Jahre 2012 gab es immerhin drei größere Gončarov gewidmete Konferenzen in Rußland sowie ein 2011 rechtzeitig vor dem Jubiläum veröffentlichtes Sammelbandprojekt.3 Augenscheinlich war diesmal die internationale Reaktion auf das Gončarov-Jahr 2012 aber insgesamt etwas verhaltener, als es die viel zitierten internationalen Sammelbände der 1980er und 1990er Jahre hätten erwarten lassen.4 Sie enthalten eine Vielzahl unterschiedlicher Zugänge zu den großen Texten Gončarovs, v. a. natürlich Oblomov, und sie lassen auch erkennen, daß der literaturwissenschaftliche Umgang mit diesem Autor bei einer grundsätzlichen Kongruenz mancher Meinungen und Bewertungen gleichwohl punktuell zu sehr verschiedenen, teils sogar diametral gegensätzlichen Ergebnissen führen kann. Dies spricht für eine inhärente Polyvalenz insbesondere von Oblomov. Die Erkenntnis von Polyvalenz – wohl ein Merkmal aller langfristiger Diskussion lohnenden Literatur – birgt aber auch eine große Gefahr für den Umgang mit Büchern, Theorien und Ideen: die der Paralyse des Betrachtenden, der letztlich vor lauter möglichen Bedeutungen resigniert wie Oblomov oder sich eilig auf den Weg macht zu neuen Interessens- und Betätigungsfeldern wie Štol’c. Sicherlich war aber auch die Finanzkrise mit ihren diversen Epizentren in der nordwestlichen Erdhemisphäre ein praktischer Grund dafür, daß der 200. Geburtstag bisher auf internationalem Terrain scheinbar nur eine recht übersichtliche Zahl fachspezifischer, Gončarov gewidmeter Forschertreffen in der Art desjenigen, aus der dieser Beitrag erwachsen ist, hervorgebracht hat. Unter Umständen weiß man in der Gončarov-Forschung bisher 3
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Im Mai 2012 wurde in Moskau – organisiert von MGU, Gor’kij-Institut und Staatlichem Literaturmuseum – eine Konferenz unter dem Titel „I. A. Gončarov v sovremennom mire“ abgehalten; die zentrale Jubiliäumsveranstaltung Rußlands fand im Umfeld von Gončarovs 200. Geburtstag in Ul’janovsk (Simbirsk) statt; im Oktober desselben Jahres ehrte schließlich auch das Institut für russische Literatur der Russischen Akademie der Wissenschaften in Sankt Petersburg (IRLI RAN) den Autor des Oblomov mit einer internationalen Tagung sowie einer Ausstellung unter dem Titel „Nasledie I. A. Gončarova v fondach Puškinskogo Doma“. Thiergen, Peter (Hg.): I. A. Gončarov. Beiträge zu Werk und Wirkung. Köln/Wien 1989; Thiergen, Peter (Hg.): Ivan A. Gončarov. Leben, Werk und Wirkung. Beiträge der I. Internationalen Gončarov-Konferenz. Bamberg, 8.-10. Oktober 1991. Köln/Weimar/Wien 1994; Diment, Galya (Hg.): Goncharov’s Oblomov. A Critical Companion. Evanston 1998.
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trotz aller Vernetzungsmöglichkeiten aber auch schlichtweg zu wenig voneinander; da auch in der Globalisierung Sprachbarrieren und räumliche Entfernung keinesfalls obsolete Hindernisse für den Informationsaustausch geworden sind, gleicht ein Gesamtüberblick über die internationale Gončarov-Rezeption der letzten Jahre einer Herkulesaufgabe, die hier nicht geleistet werden kann.5 Nachfolgend seien einige subjektive Eindrücke zur Entwicklung der Oblomov-Rezeption in den letzten Jahren formuliert. Es überrascht immer wieder, wie unterschiedlich, ja sogar konträr bisweilen die Bewertungen des Romans in unterschiedlichen kulturellen und sozialen Kontexten ausfallen. Übersetzungsschwierigkeiten sind sicherlich ein Grund für divergierende Wahrnehmungsmuster, doch sie alleine erklären die Heterogenität der Interpretationsansätze kaum. Zudem ist gerade im internationalen Vergleich immer wieder überraschend, wie wenig synchron sich bestimmte Deutungstendenzen bisweilen manifestieren – gerade so, als habe es die vorangegangenen Kontroversen über Oblomov gar nicht gegeben. Wenn der Roman bis heute immer wieder kontrovers gelesen werden kann, so liegt das zum einen wohl an seiner großen Verbreitung auf der ganzen Welt – was an der Zahl der Übersetzungen unschwer abzulesen ist6 –, zum anderen hat dies offenbar aber auch mit Faktoren zu tun, die dem Text selbst innewohnen. Diesen werkimmanenten Eigenschaften möchte der vorliegende Beitrag besonders nachspüren. Es überrascht, daß ausgerechnet Gončarov mit seinem Oblomov auf so großes Interesse auch außerhalb Rußlands stieß. Für eine breite internationale, zumindest europäische Rezeption seiner Werke ist Gončarovs Ausgangslage schließlich keinesfalls günstig: Anders als sein in Deutschland und der westlichen Welt weithin bekannter Zeitgenosse Ivan Turgenev (1818–1883) war er kein öffentlichkeitswirksam auf internationalem Parkett agierender Vermittler zwischen Ost und West. Zwar entstand ausgerechnet Gončarovs Oblomov tatsächlich nicht in Rußland, sondern während eines Kuraufenthalts in Marien-
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Die nachfolgenden Angaben erheben deshalb keinen Anspruch auf Vollständigkeit. 2012 gab es mindestens zwei explizit Gončarov gewidmete Forschertreffen außerhalb Rußlands: eine Gončarov-Sektion auf dem 11. Deutschen Slavistentag in Dresden im Oktober 2012 sowie im September 2012 im ungarischen Szombathely eine internationale Konferenz unter dem Titel „Romany Gončarova v literature XIX-XX vv.“. Deren Ergebnisse sind bereits publiziert (vgl. Károly, Gadányi u. a. [Hgg.]: Gončarov: živaja perspektiva prozy. Naučnye stat’i o tvorčestve I. A. Gončarova. Szombathlely 2013). Vera Bischitzky hat kürzlich die stattliche Zahl von 47 Sprachen genannt, in die Gončarovs Roman übersetzt worden sei (vgl. Bischitzky, Vera: Nachwort. In: Gontscharow, Iwan, Oblomow. Roman in vier Teilen. Herausgegeben und übersetzt von Vera Bischitzky. München 2012, S. 739-760, hier: S. 758).
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bad, doch das ist unerheblich für die Handlung. Wenn man sich dem Urteil von Vladimir Nabokovs Titelheld in Zaščita Lužina (Lužins Verteidigung, 1930) anschließen möchte, so war Gončarov als Kulturvermittler überhaupt nicht erfolgreich.7 Er war wohl auch nicht wirklich ein Meister der kurzen Prosaformen, die ihn zu einem bei knappem Zeitbudget attraktiven Autor machten, zumindest nicht bei großen Leserschichten.8 Das relativ konstante Interesse an Oblomov erstaunt insofern umso mehr, als es ganz offensichtlich auf der genuinen Faszination (und der zähen Ausdauer) individueller Leser basiert, phasenweise nach 1945 eventuell noch behutsam unterstützt durch die kontinuierliche intermediale Präsenz des Romans auf Bühnen, in der Publizistik und im Radio. Diese Bereiche sind bis in die Gegenwart hinein produktive Terrains der Oblomov-Rezeption geblieben, auch wenn der Stellenwert des Mediums Buch heute nicht mehr derselbe ist wie noch vor zwei bis drei Generationen – in Deutschland, in Rußland und wohl auch in großen Teilen Europas überhaupt. Dies kann sich aber wieder ändern.
2. Oblomov als Roman von Polyvalenzen und Polaritäten Was also begründet – unabhängig von Zeitgeist und kulturellen Affinitäten – die anhaltende Popularität von Oblomov? Eine mögliche Antwort ist: daß der Roman Leser polarisiert, schon alleine auf Grund seiner Länge bei gleichzeitig programmatischer Handlungsarmut. Nicht alle Leser konnten und können dies goutieren. Aber auch diejenigen, die sich auf den Text in seiner Gesamtheit einzulassen bereit sind, polarisiert Gončarovs Roman oftmals. Vor allem polarisiert er wohl seiner beiden Hauptfiguren wegen, nicht zuletzt aber auch 7
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Nabokovs Protagonist Aleksandr Ivanovič Lužin ist der Ansicht, die Bücher seines schriftstellernden Vaters seien so langweilig wie V. G. Korolenkos Slepoj muzykant (Der blinde Musikant, 1886/1896) oder Gončarovs Fregat Pallada (Die Fregatte Pallas, 1855–1857) (vgl. Nabokov, Vladimir Vladimirovič: Sobranie sočinenij v četyrech tomach. T. 2. M. 1990, S. 3-152, hier S. 15). Gončarovs Kurzprosa ist im Ausland eher unbekannt geblieben, auch wenn sie in der Forschung gelegentlich behandelt wird. Walter Koschmal etwa führt einige überzeugende Gründe für seine These an, der späte Gončarov entferne sich in seinen Erzählungen von der Poetik des Realismus (vgl. Koschmal, Walter: Postrealismus in Rußland. Ivan Gončarovs späte Erzählungen. In: Russian Literature 51 [2002], S. 421-442). Literaturgeschichtliche und ästhetische Innovation scheint jedoch in Gončarovs Fall kein Faktor gewesen zu sein, der seinen literarischen Ruhm begründete; für die meisten Leser ist und bleibt er der Autor des Oblomov, so langatmig und ästhetisch unambitioniert der Text auch manchen vorkommen mag.
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deswegen, weil diese beiden Hauptfiguren weniger eindeutig gezeichnet sind, als es der erste Eindruck suggeriert. Zunächst erscheint alles einfach: der russische Landadelige Oblomov verkörpert scheinbar den genauen Gegensatz zu dem Deutschen Štol’c, der von bürgerlicher Herkunft ist. Während Oblomov in der russischen Hauptstadt ein Leben des Müßiggangs lebt, finanziert aus den immer spärlicher fließenden Einnahmen seines Landguts, und die Anforderungen des täglichen Lebens nur mit Hilfe anderer, v. a. seines Dieners Zachar, bestehen kann, wird Štol’c in unermüdlicher Tätigkeit gezeigt, gleichsam als Bilderbuchdeutscher. Doch dann blickt man genauer hin, liest sich vielleicht auch in die bestehende Forschungsdiskussion ein, und bemerkt, daß in diesem Roman stets ein zweiter (respektive dritter usw.) Blick vonnöten ist. Oblomov bietet dem aufmerksamen Leser immer wieder Impulse, das scheinbar bereits Vertraute anders zu bewerten. Nicht nur ist Štol’c bestenfalls zur Hälfte Deutscher – wenn man das ius sanguinis recht großzügig zur Nationalitätenbestimmung anwendet –, nicht nur kann er aufgrund seiner teilweise in Deutschland absolvierten Ausbildung lediglich mit etwas gutem Willen aus deutscher Sicht als ‚Bildungsinländer‘ bezeichnet werden (Štol’c hat in Bonn, Jena und Erlangen studiert). Seinen Namen entsprechend der deutschen Orthographie zu schreiben (Stolz) suggeriert eine eindeutige nationale Zugehörigkeit, die Gončarovs Roman immer wieder explizit unterläuft. Hybride Charaktere haben es jedoch schwer in der Gunst eines in Nationalstaatskategorien denkenden Lesepublikums, nur selten werden sie zu Sympathieträgern. Es gibt prominente negative Leserreaktionen auf Gončarovs Štol’c-Figur – allen voran die von A. P. Čechov (1860–1904), der Štol’c als „produvnaja bestija“ [gerissene Bestie]9 bezeichnete. Vielleicht bereitete der Autor von Višnëvyj sad (Der Kirschgarten, 1904) damit jener Interpretationsrichtung in der Oblomov-Rezeption den Boden, die man als ‚Gutsbesitzernostalgie‘ (pomeščič’a nostal’gija) bezeichnen könnte. Nikita Michalkovs berühmte Verfilmung Neskol’ko dnej iz žizni I. I. Oblomova (Einige Tage aus dem Leben des I. I. Oblomov, 1979) basiert darauf, und verbunden ist damit eben auch eine ungebührliche Abwertung der Štol’c-Figur zugunsten des scheinbar herzensguten, aber antriebsschwachen Titelhelden. Doch Oblomov ist bei genauerem Hinsehen nicht viel weniger komplex als sein germanoider Jugendfreund. So können selbst hartgesottene Kritiker
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Čechov, Anton Pavlovič: Pol’noe sobranie sočinenij v tridcati tomach. Pis’ma v dvenadcati tomach. T. 3. M. 1980, S. 201.
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Oblomovs nur entweder den Roman politisch instrumentalisieren wie Lenin10 oder ihn sehr selektiv lesen wie beispielsweise Josef Rattner,11 wenn sie seinen Helden pathologisieren – ob auf sozialpolitischer oder auf psychosozialer Grundlage. Es fällt schlichtweg schwer, in Oblomov nur einen personifizierten Psychopathen zu sehen, dessen Charakter sich in krankhafter Fettleibigkeit und chronischem Antriebsmangel erschöpft. Ebenso schwer fällt es, Štol’c nur als das genaue Gegenbild zu Oblomov anzusehen. Vielmehr kommt man bei genauer Lektüre von Gončarovs Roman kaum umhin, eine grundsätzliche Ambivalenz der beiden Hauptfiguren zur Kenntnis zu nehmen, die nicht zuletzt darin begründet zu sein scheint, daß beide in einer komplizierten kompositorischen und konzeptuellen Abhängigkeitsbeziehung zueinander stehen.
3. Kein Oblomov ohne Štol’c, kein Štol’c ohne Oblomov Diese Abhängigkeitsbeziehung reicht bereits in die Vorgeschichte der beiden Figuren zurück. So kommt Štol’c’ Vater Ivan als junger Mann ohne großes Kapital, aber mit guter Ausbildung aus Deutschland, genauer: aus dem seinerzeit überbevölkerten Sachsen, nach Rußland und erhält auf dem abgelegenen Landgut der Familie Oblomov im Volgagebiet seine große Lebenschance, die ihm die deutsche Heimat offensichtlich nicht bieten konnte: er wird Verwalter von Oblomovka und heiratet eine einheimische Frau mit stereotypen Merkmalen einer ‚russischen Seele‘ – Emotionalität und Sinn fürs Feingeistige. Die Erziehung der Sprößlinge Andrej Štol’c und Il’ja Oblomov – beides sind Einzelkinder – wird offensichtlich trotz aller kulturellen und standesmäßigen Unterschiede zwischen Gutsbesitzer und Verwalter als gemeinsames Anliegen beider Familien definiert. So gilt bereits in diesem frühen Alter: kein Oblomov ohne Štol’c, kein Štol’c ohne Oblomov. Doch dann trennen sich die Wege, und alle Pläne für einen weiteren gemeinsamen Bildungsgang scheitern an der übertriebenen Ängstlichkeit von Oblomovs Eltern sowie an der kompromißlosen Härte des alten Štol’c, der seinen heranwachsenden Sohn unbarmherzig in die weite Welt hinausjagt; der Kontakt zu Oblomov wird damit nachhaltig unterbrochen. Später verhindern Oblomovs Behäbigkeit, Štol’c’ unstete Le-
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Zu dessen Oblomov-Deutung vgl. Mierau, Fritz: Russische Dichter. Poesie und Person. Neunzehn Erkundungen. Dornach 2003, S. 25ff. Rattner, Josef: Verwöhnung und Neurose. Seelisches Kranksein als Erziehungsfolge. Eine psychologische Interpretation zu Gontscharows Roman „Oblomow“. Zürich/Stuttgart 1968.
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bensweise sowie seine fehlende Geduld, aber auch schlichtweg unglückliche Fügungen, daß die Pläne gemeinsamer Bildungsreisen ins Ausland in die Tat umgesetzt werden. Gleichwohl bleibt Oblomovs Petersburger Wohnung aber ein fester Punkt auf Štol’c’ Heimatbesuchen im Anschluß an seine häufigen Reisen, gleichsam ein vertrauter Hafen inmitten ständiger Ortswechsel und ruheloser Tätigkeit. Oblomov braucht Štol’c zur Lösung seiner Alltagssorgen, das ist klar. Da Štol’c so viel unterwegs ist, gerät Oblomov in die Fänge von Betrügern und Ausbeutern à la Tarant’ev und Ivan Matveevič. Doch Štol’c braucht umgekehrt auch Oblomov, um seine eigene Lebenseinstellung auf der Kontrastfolie der nostalgischen Utopie von Oblomovka zu entwickeln. Wenn Štol’c während des berühmten Streitgesprächs mit Oblomov über die Zukunft des Gutsbesitzerlebens feststellt, die Arbeit sei für ihn ‚Abbild, Inhalt, Element und Ziel des Lebens‘,12 so fühlt er sich zu dieser Aussage durch Oblomovs Vision einer aufgeklärten Gutsbesitzeridylle herausgefordert. Ohne die Affinität seines Jugendfreundes zum Märchenhaften und Phantastischen wäre kaum jener dialektische Schlagabtausch in Gang gekommen, an dessen Ende Štol’c’ Formulierung der eigenen Grundsätze steht. Štol’c seinerseits sorgt für die Bekanntschaft zwischen Oblomov und Ol’ga und bringt damit einen Handlungsstrang des Romans in Gang, der das zentrale kompositorische Movens der Teile II und III darstellt. In diesen Romankapiteln springt Ol’ga gleichsam für Štol’c ein und macht die Erziehung Oblomovs zu ihrem Anliegen. Bald scheitert sie jedoch mit ihrem Vorhaben, da sich Oblomov in der Zwischenzeit allzu gemütlich im Hause der Kollegiensekretärswitwe Agaf’ja Pšenicyna auf der Vyborger Seite eingerichtet hat. Die Folgen für seine Gesundheit sind freilich ruinös; Anne Hultsch spricht unter Bezugnahme auf ein Zitat aus dem Roman von einem „allmählichen Selbstmord“13 des Titelhelden. Ohne daß Oblomov damit seiner Eigenverantwortung enthoben werden soll, läßt sich aber doch hinzufügen: es gibt weitere Faktoren als das verlockend gute Essen und Trinken im Hause Pšenicyna, die Einfluß auf den letalen Aus-
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Gončarov, Ivan Aleksandrovič: Sobranie sočinenij v vos’mi tomach. T. 4. M. 1979, S. 185. Zitate aus dem Originaltext von Oblomov erfolgen fortan im laufenden Text nach dieser Ausgabe. Hultsch, Anne: „Sovetuju imet’ tonkij, izjaščnij stol“. I. A. Gončarov als Ernährungsratgeber. In: Giesemann, Gerhard/Rothe, Hans (Hgg.), Schulbildung und Weiterentwicklung. Gedenkband zum 100. Geburtstag von Alfred Rammelmeyer. München/Berlin 2010, S. 355374, hier: S. 365.
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gang des Romans haben. Zum einen ist dies Ol’gas ungestümes Drängen, Oblomov zu einem ‚neuen Menschen‘ umzuerziehen, das – wie alle Entwicklungshilfe, die zu wenig auf die Eigeninitiative des zu Entwickelnden und zu sehr auf schnelle Traditionsbrüche setzt – angesichts der sozialen Inkompatibilität Oblomovs in der Welt der Gegenwart zum Scheitern verurteilt ist. Vor allen Dingen ist aber auch Štol’c mit seinen Versuchen, Oblomov zu erziehen, nicht sonderlich erfolgreich. Da er ständig unterwegs ist, können seine Ratschläge und pädagogischen Initiativen kaum die erwünschten Früchte tragen. Auf Dauer läßt sich Lebenssinn auch nicht in Imperativsätzen, Ultimaten und aktivistischen Slogans verpacken, das muß Štol’c allmählich selbst erkennen. Er möchte seinem Freund aufrichtig helfen, doch er kommt schließlich zu spät. So ist Štol’c’ Befreiungsschlag gegen das Schmarotzerduo Tarant’ev / Ivan Matveevič nur noch vorübergehend von Erfolg gekrönt. Oblomov vermag seinem zunehmend von obesitas und Apathie geprägten Leben keine radikale Kehrtwendung mehr zu geben, zudem ist aus seiner Hausgemeinschaft mit Agaf’ja inzwischen ein Sohn hervorgegangen – Andrjuša. Man muß nicht zu solch auffälligen dramaturgischen Mitteln greifen wie Regisseur Michalkov, der aus Štol’c einen Technologiefanatiker macht, welcher Oblomov (und Zachar) gegenüber seine aus dem Ausland mitgebrachte Rohkostmühle als Zukunftsvision eines gesunden Lebens anpreist und dem ein extravagantes Dreirad die traditionelle Trojka ersetzt (für die auf Leibeigenschaft beruhende ‚Dienstleistungsgesellschaft‘ des traditionellen Rußlands ist dies natürlich ein Angriff auf die Grundfesten). Nicht nur Michalkovs Film, sondern auch Gončarovs Roman wirft immer wieder mit verhaltener Ironie die Frage auf, ob denn der Fortschritt, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts allerorten in der Luft liegt und dem der Geschäftsmann Štol’c so vehement zu huldigen scheint, tatsächlich zu einem Mehr an Menschlichkeit in der Welt führen wird. Gončarovs Apotheose des Romans mit dem heruntergekommenen Zachar, der, blind und völlig mittellos, Štol’c und den ihn begleitenden Literaten mit einer phantastischen Lügengeschichte um ein paar Kopeken angeht, deutet zumindest leise Zweifel daran an, daß die im Erscheinungsjahr des Romans (1859) noch gar nicht vollzogene, aber für einen Petersburger Staatsdiener wie Gončarov bereits absehbare Bauernbefreiung für die Menschheit tatsächlich durchweg einen Fortschritt bedeutet. Ebenso scheint in Oblomov bisweilen verhaltene Kritik am Ideal allgemeiner Beschleunigung anzuklingen, das mit den technologischen Veränderungen, insbesondere dem Bahnbau, auch vor dem patriarchalischen Rußland nicht Halt mach-
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te.14 Freilich bedeuten diese gelegentlichen Anklänge von Nostalgie und Melancholie nicht, daß die feudale Vergangenheit von Gončarov idealisiert wird. Oblomovka, der Inbegriff vergangener Gutsbesitzerherrschaft, ist trotz der komischen Momente ein satirisches Zerrbild der vorkapitalistischen Wirtschaftsweise und „eine pädagogische Scheinidylle“,15 keine ernstzunehmende pädagogische Provinz im Rousseauschen Sinne. Es sind wohl nicht zuletzt auch diese und ähnliche innere Widersprüche und versteckte Polyvalenzen des Romans, die ihm sein nachhaltiges Interesse weltweit gesichert haben – nicht nur in Rußland, wo die Erinnerung an die Bauernbefreiung, Modernisierungsdiskurse und Gutsbesitzernostalgie Teil des nationalen Bewußtseins sind. Vielmehr scheint der Roman auch überall dort reiche Anschlußmöglichkeiten zu bieten, wo Gesellschaften in einen schnellen sozialen und wirtschaftlichen Wandel hineingeraten, der zu einer vertieften Reflexion über die soziale, politische und (neuerdings auch) ökologische Erwünschtheit hastig implementierter Wirtschafts- und Sozialreformen zwingt. Freilich ist dazu eine gewisse intellektuelle Distanz zu den unmittelbaren Folgen der Veränderungen vonnöten. So geben wohl auf hohem Komplexitätsgrad angelangte Gesellschaften mit einem grundsätzlichen Saturiertheitsgefühl bei rasch fortschreitender Erosion traditioneller Lebensweisen einen besonders produktiven Boden für die Rezeption eines Romans wie Oblomov ab. Auf textimmanenter Ebene scheint die Stärke von Gončarovs Roman jedenfalls darin zu liegen, daß Oblomov und Štol’c – entgegen dem oberflächlichen Eindruck – keine reinen Antipoden sind, sondern eher Komplementärfiguren. Es ist müßig zu versuchen, die gegenseitige Durchdringung, ja Kontamination der Charaktere quantitativ zu erfassen. Der Roman scheint Leser (respektive Fernsehzuschauer, Kinogänger und Radiohörer) weltweit anzusprechen, weil Oblomov einen Teil von Štol’c in sich trägt und umgekehrt – wohl wie auch viele Rezipienten. Der polnische Liedermacher Jacek Kaczmarski (1957–2004) hat dies knapp in Worte gefaßt, wenn er in seinem 2002 veröffentlichten Lied Obłomow, Stolz i ja (Oblomov, Štol’c und ich) am Ende über Gončarovs Titelhelden konstatiert: „Taki z nim i Stolzem kram / A ja
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Gončarovs Roman bietet insofern gute Anknüpfungspotentiale für jenen kulturkritischen Ansatz, der in Deutschland seit einigen Jahren unter dem Stichwort Entschleunigung diskutiert wird (vgl. Reheis, Fritz: Entschleunigung. Befreiung vom Turbokapitalismus. In: Fischer, Ernst Peter/ Wiegandt, Klaus [Hgg.], Dimensionen der Zeit. Die Entschleunigung unseres Lebens. Frankfurt a. M. 2012, S. 213-226). Unter dem Begriff расскорение könnte dieser Diskurs auch auf Russisch geführt werden. Thiergen, I. A. Gončarov 1989, S. 174.
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obu w sobie mam“ [So ein Kreuz ist es mit ihm und mit Štol’c / Und ich habe beide in mir].16 Als habe er seiner psychologischen Intuition nicht vertrauen wollen, legt Gončarov aber noch eins obendrauf: mit dem nachgeschalteten letzten Kapitel, einer Art Epilog, macht er Oblomov und Štol’c auch kompositorisch voneinander abhängig. Štol’c, der Tatmensch, ein Kind seiner prosaischen Zeit, überlebt seinen Jugendfreund, der von der romantischen Re-Poetisierung seines Lebens geträumt hatte und letztlich seiner sich zur Paralyse steigernden Antriebslosigkeit zum Opfer gefallen war. Kein Oblomov ohne Štol’c, kein Štol’c ohne Oblomov – das wird durch die Manuskriptfiktion am Ende nochmals bekräftigt. Štol’c, dessen eigenes Leben kaum den Stoff für einen interessanten Roman hätte abgeben können (wenngleich der Sozialistische Realismus mit z. T. ähnlichen Heldenentwürfen experimentierte),17 sorgt nicht nur dafür, daß Oblomovs und Agaf’jas Sohn Andrjuša überlebt und damit vermutlich nicht der ‚Oblomovitis‘ anheimfallen wird, sondern er sorgt auch für das Überleben der Kunde von Oblomov. Er tut dies mit den Mitteln der Kunst, mit Hilfe des erzählerischen Wortes, und damit betritt er ein Gebiet, das zuvor die Domäne des Titelhelden gewesen war. „Да ты поэт, Илья!“ [‚Aber du bist ja ein Poet, Il’ja!‘; S. 181], so hatte Štol’c einst Oblomovs Utopie eines aufgeklärten Oblomovka kommentiert. Somit greifen im Finale von Oblomov noch einmal Leben und Kunst ineinander, und ein letztes Mal verflechten sich die Lebenslinien der beiden männlichen Protagonisten. Das Romanende erscheint vor diesem Hintergrund keinesfalls als kompositorische Verlegenheitslösung zur realistischen Motivierung einer romantisch anmutenden Manuskriptfiktion; vielmehr zementiert es mit narrativen Mitteln die Poetologie des Romans, daß im wahren, im realistischen Leben keine Extremposition auf Dauer Bestand haben kann – weder Oblomovs von Bett und Divan aus betriebene Realitätsverweigerung, noch Štol’c’ von Nomadismus und Arbeitsaktivismus geprägte Lebensweise. Die Literatur 16 17
Vgl. Kaczmarski, Jacek: Mimochodem. Warszawa 2002 (CD-Produktion von Polskie Radio). Es soll nicht verkannt werden, daß Štol’c zwei wesentliche Eigenschaften des ‚positiven Helden‘ des Sozialistischen Realismus fehlen: narodnost’ (‚Volksnähe‘) und partijnost’ (‚Parteilichkeit‘). Für einen späteren Helden Gončarovs, den Sägewerksbesitzer Tušin im Roman Obryv (Die Schlucht, 1869), hat Ulrich Schmid bereits einen Vergleich mit Heldenkonzeptionen des Sozialistischen Realismus zur Diskussion gestellt – jedoch nicht ohne die notwendige Skepsis: „Diese im wahrsten Sinn des Worts etwas hölzerne Vision eines genuin russischen Štol’c […] wird jedoch ebenfalls mit Vorbehalten präsentiert“ (Schmid, Ulrich: Glanz und Elend des Kapitalismus. I. A. Gončarovs Inspektion der Weltwirtschaft. In: Wiener Slawistischer Almanach. Sonderband 54 [2001], S. 85-99, hier: S. 97).
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hingegen braucht ebendiese Extreme, wenn sie Leser dauerhaft ansprechen will. Deshalb heißt Gončarovs Roman Oblomov, obwohl Oblomovs Geschichte eigentlich von dem kompositorisch nicht minder wichtigen Štol’c erzählt wird, deshalb erfindet sich sein Autor zwei Protagonisten, die für zwei unterschiedliche Lebensprinzipien stehen, obgleich sie doch so vieles miteinander verbindet.
4. Oblomov und Štol’c zwischen Bruchstückhaftigkeit und Ganzheitlichkeit Der Name des Titelhelden – Oblomov als mögliches Derivativum von russ. oblomok (‚Bruchstück‘)18 – legt die Deutung nahe, Gončarov habe dem Leser in seinem Roman das Schreckensbild einer im Nichts verlaufenden Biographie eines jungen, talentierten Mannes vor Augen führen wollen. Es gibt viele Detailbeobachtungen, die diese Interpretation stützen: die ungelesenen Zeitungen und Bücher in Oblomovs Umgebung, der zunehmend schadhafte orientalische Morgenmantel (chalat), Ruinen, Schmutz und Verfall allerorten in Oblomovs Umgebung, die ewig Projekt bleibenden Lebenspläne des Protagonisten. Wie üblich, wenn man es mit weltweit wirksamer Literatur zu tun hat, ist die Charakterisierung der Figuren aber nicht so eindeutig, wie man angesichts der Namenssymbolik meinen könnte. Weder ist Oblomovs Charakter restlos durch die Etymologie seines Familiennamens zu erklären, noch ist Štol’c wegen der Mehrdeutigkeit des Substantivs Stolz namensmäßig eine eindimensionale Figur. Auch muß man bei genauer Romanlektüre zur Kenntnis nehmen, daß die Leitmotivkomplexe ‚Ganzheitlichkeit‘ und ‚Bruchstückhaftigkeit‘ im Text mit beiden Protagonisten verbunden werden, wenn auch mit einer unterschiedlichen Richtung und Dynamik. Eine Vielzahl von Deutungsansätzen zu Gončarovs Roman rekurriert auf den Umstand, daß die Titelfigur durch ihren Vornamen in gänzlich anderer Weise charakterisiert wird als durch ihren Nachnamen. Der russische Vorname Il’ja – der durch Oblmovs Vatersnamen Il’ič (‚Sohn des Il’ja‘) noch zur Potenz erhoben wird – ist in der russischen Bibelübersetzung der Name des alttestamentlichen Propheten Elia(s). War dieses Wissen durch die neuen kulturellen Wertigkeiten der Zeit des ‚real existierenden Sozialismus‘ in der Sowjetunion wieder in Vergessenheit geraten, so war es in der westlichen Oblo18
Vgl. dazu Thiergen, I. A. Gončarov 1989, S. 163-191, hier S. 177-182.
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mov-Deutung nach wie vor präsent.19 Nach jahrzehntelanger Tabuisierung kamen biblisch argumentierende Interpretationsansätze zu Oblomov im Rußland der Transformationszeit geradezu eruptiv wieder zutage – mit erstaunlich unterschiedlichen Ergebnissen.20 Ohne hier mehr oder minder spekulative Bezüge zwischen Gončarovs Titelhelden und der theologischen Theorie und Praxis der Ostkirchen postulieren zu wollen, sei doch kurz daran erinnert, wer sich hinter der biblischen Figur des Elia verbirgt. Elia, dem letzten übriggebliebenen Propheten Gottes nach einer langen Phase der Fremdherrschaft und des damit verbundenen Religionswechsels in Israel, gelang eine rhetorisch-psychologische Großtat: mithilfe eines Gottesurteils auf dem Berge Karmel – das Feuer des Herrn steckte einen völlig durchnäßten Holzstoß mit einem Opfertier in Brand, während vierhundertfünfzig Propheten des heidnischen Gottes Baal zuvor vergeblich versucht hatten, einen trockenen Holzstoß entzünden zu lassen – bewegt Elia das Volk Israel zu einer Rückkehr zu ihrem alten Glauben.21 Oblomov trägt also einen großen, einen biblischen Namen, der ihm die Rolle des Propheten gleichsam in die Wiege legt. Infolge elterlicher Überbehütung – so unterstreicht es das viel gedeutete Traumkapitel des Romans – bleiben diese und andere Anlagen im Keim stecken. Eher Pantoffelheld als Prophet, bleibt Oblomov mit seiner Alternative zum Wertesystem seines Freundes Štol’c im Gestus unproduktiver Opposition stecken. „Где же тут человек?“ [‚Wo bleibt denn da der Mensch?’; S. 176], so fragt Oblomov rhetorisch in seinem Streitgespräch mit Štol’c. Oblomov wiederholt damit einen Gedanken, der ihm bereits nach dem Besuch Volkovs gekommen war (vgl. S. 23), und darin besteht eben gerade sein Problem: sein Protest bleibt im Kognitiven und in bloßer Rhetorik verhaftet, anstatt zu aktivem Handeln zu werden. Oblomovs Streitgespräche mit Zachar in Teil I sind deshalb so komisch, weil sie vor allem große Rhetorik enthalten bei gleichzeitig so lächerlich geringer Pragmatik. Oblomov strebt zwar – entgegen seinem Familiennamen – nach Ganzheitlichkeit, nach Totalität, nach hehren Werten, doch er scheitert letztlich kläglich an seinen eigenen Ansprüchen. Offensichtlich scheitert Oblomov aber nicht zuletzt auch an seiner eigenen Kompromißlosigkeit, die ihn – an19
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Vgl. Neuhäusers häufig abgedrucktes, 1980 erstmals veröffentlichtes Nachwort zur dtv-Ausgabe des Oblomov: Neuhäuser, Rudolf: Nachwort. In: Gontscharow, Iwan, Oblomow. Roman. Aus dem Russischen übersetzt von Josef Hahn. Mit einem Nachwort, einer Zeittafel und Literaturhinweisen von Rudolf Neuhäuser. München 21998, S. 664. Vgl. Schümann, Oblomov-Fiktionen, S. 74f. Vgl. 1. Könige 16,29ff.
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ders als Štol’c – nur im Entweder-Oder verharren läßt, anstatt im Sowohl-alsAuch die kleinen Lebens- und Entwicklungschancen zu erkennen. Dabei steckt gerade zu Beginn des Romans erhabene Größe in Oblomovs kompromißloser Pose, in seiner vehementen Weigerung, sein Bett zu verlassen, ja auch noch in seiner späteren Ablehnung des Wertesystems der ‚feinen‘ Petersburger Gesellschaft. Bei genauer Lektüre verliert die Haltung des Titelhelden allerdings schnell an Glanz: an die Stelle von Philosophie, als deren Vertreter Štol’c seinen Freund im Zuge des Streitgesprächs über die Ideale des Lebens apostrophiert (vgl. S. 178), treten auf der Vyborger Seite zunehmend Gastrosophie und Philosomnie. So ist am Ende nichts mehr übrig von Oblomovs einstiger grandeur; sein Leben verdämmert in Apoplexie und Paralyse, doch das foto- und telegene Bild des Divanphilosophen ließ und läßt offensichtlich auch viele Leser nicht mehr los, obgleich die späteren Kapitel einen ganz anderen Oblomov zeigen als der Romanbeginn. Es ist wohl diese Fähigkeit des Romanciers Gončarov, viele Leser dazu zu bringen, Oblomov auch im Angesichte seines wenig ästhetischen und wenig philosophischen Endes noch solidarisch die Treue zu halten, die für den Welterfolg des Romans in so unterschiedlichen Kulturkreisen mitverantwortlich ist. Langfristige Wirksamkeit erreicht Literatur gerade dann, wenn sie vielschichtige Figuren entwirft, wenn sie es schafft, auch den offensichtlichen Schwächen einer Figur noch den Anflug eines Faszinosums zu verleihen. Es scheint zweifelhaft, daß einem Roman mit Štol’c im Zentrum ein ähnlicher Erfolg bei Generationen von Lesern hätte beschieden sein können.22 Anders als Oblomov erscheint Štol’c auch wenig bühnenwirksam, wenig fotound telegen, da seinem Leben die grandiosen Gesten eher fremd sind. Zwar läßt auch er es bei seinen frühen Auftritten nicht an apodiktischer Rhetorik fehlen – etwa der bereits erwähnten Formel ‚Jetzt oder nie!‘ –, doch Štol’c gibt immer wieder der pragmatischen Lösung, dem kleinen Schritt, dem Prinzip der Evolution anstelle von Revolution, den Vorzug vor dem Streben nach dem Absoluten. Das ist weniger spektakulär, als sich wie Oblomov mit theatralischer Geste gegen alle Veränderungen zu wehren, doch es sichert das Überleben inmitten von Umbruchzeiten, wie sie den sozialhistorischen Hintergrund
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Der Schweizer Autor Paul Nizon, der einen Roman mit dem Titel Stolz (1975) veröffentlicht hat, schreibt darin signifikanterweise die bei Gončarov vorzufindende Rolle dieser Figur radikal um: Iwan Stolz ist hier ein antriebsarmer Student der Kunstgeschichte, der an der selbstgewählten Aufgabe scheitert, eine Arbeit über Vincent van Gogh zu schreiben. Am Ende läßt er sich zu einem Jagdausflug im winterlich verschneiten Spessart verführen, indem er sich verirrt und aus dem er wohl nicht mehr lebend herausfindet.
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von Gončarovs Roman bilden. Štol’c verkörpert den Typus des self-made man, dem in Oblomov unverkennbar die Zukunft gehört, doch der vielleicht auch deswegen so wenig literarische Sympathien verströmt hat, weil für die Literatur als Medium das Tempus des Präteritums so ungleich wichtiger ist als das des Futurs. Unter Umständen liegt die eher geringe Popularität der Štol’c-Figur aber auch daran, daß psychologisch interessante Literatur zumeist eher den Schwachen eine Stimme verleiht als den Starken oder gerade sie Schwächen der Starken exponiert. Freilich gibt es in der bisherigen Rezeptionsgeschichte des Gončarovschen Romans auch explizite und unzweideutige Bekenntnisse zu Štol’c.23 Dabei ist Štol’c durchaus gar kein so eindeutig starker Charakter, unter dessen Hand sich alles zum Erfolg wendet, was er anfaßt.24 Vielmehr ist Gončarovs Text, wenn man ihn denn genau liest, auch in Bezug auf die Štol’c-Figur wiederum erstaunlich ambivalent. Wie beim Titelhelden selbst äußert sich Štol’c’ Heterogenität ebenfalls in der Namensgebung, denn Stolz ist bekanntermaßen eine sehr ambivalente Charaktereigenschaft.25 (Der auch selbst über gute passive Deutschkenntnisse verfügende Gončarov konnte davon ausgehen, daß die Mehrheit seiner Leser die Namensbedeutung bewußt reflektierte). In positiver Hinsicht ist Stolz eine Tugend, die sich mit ‚Selbstbewußtsein‘ und ‚Selbstwertgefühl‘ umschreiben läßt. Sie steht – gerade vor dem Hintergrund von Gončarovs Geschichte der progressiven Paralyse Oblomovs – auch für Freiheit, in erster Linie Willens- und Entscheidungsfreiheit, was Antriebsschwäche und Unselbständigkeit von vornherein ausschließt.26 Daneben gibt 23
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Aus Peter Thiergens Abhandlung zum ‚Bruchstückmenschen‘ Oblomov ist dieses Bekenntnis deutlich abzulesen (vgl. besonders Thiergen, Oblomov als Bruchstück-Mensch, S. 190f.). Ebenso auch aus seinem Beitrag im vorliegenden Sammelband. Oft wurde Štol’c als ‚positive Alternative zu Oblomov‘ (Valentin Nedzveckij) angesehen; dies bedarf jedoch unbedingt der Ergänzung, daß sich Štol’c erst im Laufe des Romans in diese Richtung entwickelt (vgl. Nedzveckij, Valentin Aleksandrovič: Roman I. A. Gončarova „Oblomov“. Putevoditel’ po tekstu. Učebnoe posobie. Moskva 2010, S. 209). Vgl. Thurnherr, U.: Stolz. In: Ritter, Joachim/Gründer, Karlfried (Hgg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 10. Darmstadt 1998, Spalte 201-208, hier: Spalte 204ff. Wie üblich fehlen in dieser Darstellung zur Geschichte des Begriffs Ausführungen zum Russischen (gegenüber solchen zur griechischen, lateinischen, französischen, englischen und deutschen Begriffstradition). Es dürfte spannend sein, den Unterschieden zwischen einem tendenziell eher individualistischen Verständnis von ‚Stolz‘ in der westlichen Geistesgeschichte und einer eher kollektivistischen Bewertung dieser Eigenschaft bei russischen Philosophen nachzuspüren. Es fällt schwer, Michail Otradins Einschätzung zu folgen, Oblomov sei wie Hamlet durch die innere Freiheit charakterisiert, niemanden auf sich (wie auf Hamlets Flöte) spielen zu
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es aber auch ein negatives Begriffsverständnis von Stolz im Sinne von ‚Hochmut‘ (lat. superbia), ja sogar ‚Dünkelhaftigkeit‘, was sich bis zur Hybris steigern kann – einer der sieben mittelalterlichen Todsünden. Die Geschichte der Oblomov-Rezeption zeigt, daß auch die Štol’c-Figur sehr unterschiedliche Ausdeutungen zwischen gordost‘ (‚Stolz‘) und gordynja (‚Hybris‘) erfahren hat – letzteres bezeichnenderweise auch immer wieder wegen der nationalen Herkunft.27 Wie erwähnt, ist Gončarovs Štol’c aber auch in nationaler Hinsicht keine eindeutige Figur. Vielmehr wurde er vom Autor als eine interkulturelle Hybridfigur entworfen. In Štol’c mischen sich der deutsche Vater und die russische Mutter, doch damit nicht genug: obendrein wird er von Gončarovs Erzähler auch noch mit einem englischen Vollblutpferd verglichen (vgl. S. 164). Štol’c reist tatsächlich im Laufe der mittleren Romankapitel nach England (wo er laut Andeutung des Erzählers bereits zuvor war),28 und es kommen noch weitere kulturelle Einflüsse hinzu: Belgien, Paris und ein längerer Aufenthalt mit Ol’ga in der Schweiz. Štol’c stellt insofern das Pendant des 19. Jahrhunderts für den modernen Weltenbürger dar, und das ist zunächst einmal alles andere als ein Ausweis von Ganzheitlichkeit; kulturelle Hybridität kann bekanntlich unterschiedlich bewertet werden – u. a. auch als lediglich bruchstückhafte Zugehörigkeit zu einzelnen Kulturen. Die Beschreibung seiner Physis weist Štol’c bei seinen ersten Auftritten im Roman in der Tat als Bruchstückmenschen aus: die Stilfiguren der Hyperbel und das Pars pro toto (Štol’c bestehe ganz aus Knochen, Muskeln und Nerven) sowie der Gestus der Verneinung (Štol’c weise keinerlei rote Farbe im Gesicht auf, er mache keine un-
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lassen. (vgl. Otradin, M. V.: Ėpilog romana „Oblomov“. In: Denisenko, S. V. [Hg.], Oblomov: konstanty i peremeny. Sbornik naučnych statej. SPb. 2011, S. 13-24, hier S. 15f.). Den wahren Sachverhalt trifft eher Leonhard Fuest, wenn er konstatiert: „Wer zu faul ist, etwas zu tun, läuft Gefahr, daß andere nicht nur an seiner Stelle, sondern auch mit seiner Person etwas tun, das ihm nicht recht sein muß“ (Fuest, Leonhard: Poetik des Nicht(s)tuns. Verweigerungsstrategien in der Literatur seit 1800. München 2008, S. 177). Ein Extrembeispiel für die Deutung der Štol’c-Figur im Sinne einer Verkörperung von nationaler Hybris findet sich in Franz Xaver Kroetz’ Dramatisierungsversuch des Romans Oblomow oder der Freund der Leidenschaften (1989), in dem ein nur noch deutscher Stolz als rücksichtsloser Fortschrittsfanatiker dem russisch-herzlichen Oblomow gegenübergestellt wird (vgl. dazu Schümann, Oblomov-Fiktionen, S. 264-270). Im Kontext der ökonomischen Ansichten des Autors Gončarov, die sich aus seiner Romantrilogie – Oblomov, Obyknovennaja istorija (Eine gewöhnliche Geschichte) und Obryv –, seiner Reisebeschreibung Fregat „Pallada“ sowie aus seiner Publizistik herleiten lassen, erscheint England als negatives Modell des Kapitalismus (vgl. Schmid, Glanz und Elend des Kapitalismus 2001, S. 98).
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nützen Bewegungen) bestimmen zunächst den optischen Eindruck vom zweiten Protagonisten des Romans. Hinzu kommt die Betonung des Erzählers, die Sphäre des Herzens sei für Štol’c (noch) eine terra incognita (vgl. S. 166). So wie das erste Bild von Oblomov nicht dem Rest des Romans entspricht, so ist auch im Falle von Štol’c der erste Eindruck für den Leser irreführend. Dabei verläuft die Entwicklung von Štol’c im Laufe des Romans genau in umgekehrter Richtung zu der von Oblomov: vom Bruchstückmenschen zum ganzheitlichen Helden, wohingegen Gončarovs Titelfigur nur auf virtuellem Gebiet Ganzheitlichkeit zu erlangen vermag – in seiner Gutsbesitzerutopie. Anders als Oblomov lernt Štol’c etwas hinzu, nicht zuletzt, daß seine bisherigen Lebensideale und Arbeitsethos-Maximen nur Stückwerk waren. Obgleich dies von Čechov und anderen übersehen wurde, ist Štol’c’ Lebenshaltung durch einen ausgesprochenen Hang zum Altruismus geprägt, selbst wenn dieser nicht immer konsequent zum Tragen kommt. Oblomov tut hingegen kaum etwas für andere; sein Denken und sein rudimentäres Handeln kreisen bis kurz vor seinem Tod fast ausschließlich um die eigene Person und die eigenen Sorgen, auch wenn er nicht bewußt egoistisch lebt. Štol’c hingegen entwickelt sich weiter, was in Bezug auf seine Haltung in Liebesdingen besonders augenfällig wird: an die Stelle der einstigen terra incognita ist nunmehr die Erkenntnis getreten, daß die Liebe ‚wie der Hebel des Archimedes‘ die Welt bewegt (vgl. S. 454). Auch erkennt Štol’c – offensichtlich v. a. unter dem Eindruck von Ol’gas temporären Anwandlungen von unerklärlicher Schwermut –, daß auch er höhere Ziele im Leben braucht, als sie sich aus dem sehr bodenständigen Arbeitsethos seines Vaters ableiten lassen. Er versucht diese Neuorientierung mit Hilfe der Inspiration durch einen Ortswechsel zu erreichen. An symbolischem Ort, auf der seit Jahrhunderten im Schnittpunkt unterschiedlicher Kulturen gelegenen Krim, bemüht er sich um eine Reintegration von Kunst und Ästhetik (und damit des Erbes seiner russischen Mutter) in sein Leben und muß zugleich erkennen, daß auch die angestrebte Harmonie wiederum kein Dauerzustand sein kann. Vielmehr wird wohl auch dieser Zustand der Harmonie wiederum in einem dialektischen Prozeß mit erneuter Disharmonie kontrastiert und zu neuen Synthesen geführt werden müssen. Oblomov bleibt dialektisches Denken bis zum Schluß fremd. Sein Entwicklungsgang verläuft von imaginärer Ganzheitlichkeit zu realer Bruchstückhaftigkeit, ja sogar in die Richtung jener Automatenhaftigkeit, die Nikita
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Michalkovs filmische Interpretation des Romanklassikers Štol’c unterstellt.29 In Gončarovs Werk hingegen wird das Bild des Mechanischen und Automatenhaften ganz klar mit dem Ende des Titelhelden verbunden, über den es nicht umsonst heißt, er sei ohne Schmerz und Leiden dahingeschieden, so wie eine Uhr stehengeblieben sei, die man aufzuziehen vergessen habe (vgl. S. 492). So gehen im Verlaufe des Romans scheinbar unmerklich Eigenschaften auf Oblomov über, die ursprünglich eher Štol’c entsprechen. Demgegenüber übernimmt Štol’c spätestens im Krimkapitel die Rolle des Philosophen, in der zunächst Oblomov aufgetreten war. Sein Denken kreist nunmehr um Fragen wie „Wo ist die Lüge?“ und „Wo ist die Wahrheit?“, wie überhaupt die grammatische Form des Fragesatzes in diesem Kapitel eine auffällig hohe Frequenz aufweist. Die vielleicht letzte Entwicklungsstufe erreicht Štol’c schließlich im Finale des Romans, wenn er – wohl in Anbetracht der Unmöglichkeit einer konkreten Realisierung seines Harmoniestrebens – seinen Wirkungsbereich auf virtuelles Gebiet, das der Literatur, verlegt: er erzählt dem Literaten Oblomovs Lebensgeschichte in der Hoffnung, daß diese dereinst jemandem nutzen möge. Was zunächst wie ein Ausdruck von Štol’c’ unverbesserlichem Utilitarismus erscheinen mag, ist in Wirklichkeit ein geschickter narrativer Schachzug des Autors. Štol’c’ Hoffnung jedenfalls, daß die Kunde von Oblomov dereinst noch der Nachwelt Nutzen bringen kann, ist letztlich aufgegangen. Die Geschichte der vielfältigen Oblomov-Rezeption hat hiervon wiederholt beredtes Zeugnis abgelegt und, so meine Prognose, wird dies auch weiterhin tun, solange Russen, Deutsche und andere Ethnien in Europa sich in friedlicher Koexistenz üben.
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Man vergleiche etwa die Vielzahl der Textstellen, die Oblomov mit der Adverbialform mašinal’no in Verbindung bringen (S. 46, 86, 188, 203, 261, 377, 486). Der Leitmotivkomplex des Maschinenhaften in Zusammenhang mit der Titelfigur gipfelt in Oblomovs bizarrem Liebesbekenntnis gegenüber Ol’ga: „я машина […]. Ты огонь и сила этой машины“ [ich bin eine Maschine […] Du bist Feuer und Kraft dieser Maschine; S. 356]. Štol’c ist demgegenüber der ‚Herr‘ der Maschinen (vgl. S. 55, 407). Nur einmal wird eine Bemerkung von ihm mithilfe des Adverbs mašinal’no charakterisiert – als er das Scheitern seiner pädagogischen Bemühungen um Oblomov erkennen muß: „Погиб! – машинально, шепотом сказал он. – Что ж я скажу Ольге?“ (‚Du bist zugrunde gegangen!‘, sagte er mechanisch, im Flüsterton. ‚Was soll ich Ol’ga sagen?‘; S. 490).
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5. Anti-Bildungsroman und Bildungsroman zugleich Eine wesentliche Eigenschaft von Gončarovs Roman Oblomov ist also, daß der Text potentiell mehrdeutig, daß er voll von inneren Widersprüchen ist, daß er den aufmerksamen Leser immer wieder zu einer Überprüfung und Korrektur des ersten Eindrucks zwingt. Er erscheint im Gewand eines roman à thèse, doch nicht zuletzt auch seine ungewöhnlich vielfältige Rezeptionsgeschichte kann als Indiz dafür gewertet werden, daß die vermeintliche These keinesfalls klar formuliert ist. Das Changieren zwischen Polyvalenz und Parteilichkeit ist vor allem auf die Ambivalenz der beiden Hauptfiguren – Oblomov und Štol’c – zurückzuführen, die im Laufe der Handlung mit Merkmalseigenschaften des jeweils anderen ‚kontaminiert‘ werden: Oblomov nimmt zunächst die Position des Philosophen und des prophetischen ‚Mahners in der Wüste‘ ein, der theatralisch und rhetorisch gegen oberflächliche Fortschrittsgläubigkeit und modischen Modernitätswahn, ja sogar gegen das von Štol’c eingangs repräsentierte Ideal eines auf Mobilität und ständiges Wachstum setzenden Kapitalismus zu Felde zieht. Vom Ende aus betrachtet erscheint der Titelheld freilich in einem gänzlich anderen Licht.30 Oblomovs Dahindämmern auf der Vyborger Seite, seine fortschreitende Paralyse und die Unfähigkeit, sein Leben (und das der mit ihm verbundenen Agaf’ja und des gemeinsamen Sohns) selbst in Ordnung zu bringen, stehen im starken Kontrast zu seiner argumentativen Schlagfertigkeit in den ersten Romankapiteln. Ein Ausweg aus dem Dilemma der dem Text inhärenten Polyvalenz v. a. für russische Interpreten ist, Oblomov von einem (Unterlassungs-)Täter zu einem Opfer unerwünschter ausländischer Einflußnahme umzuwerten. Diese Interpretationsrichtung hat sich für Rußland als fruchtbarer erwiesen als für das Ausland, das sich aufgrund der kulturellen und historischen Distanz meist nicht so leicht tut, das nostalgische Deutungspotential des Romans zu erkennen.31 In Nikita Michalkovs auch international recht bekannter Verfilmung ist dieses Potential einer nostalgischen Stilisierung Oblomovs zum Opfer des aus 30
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Leonhard Fuest sieht in Oblomovs Haltung die „Verweigerung allen nützlichen Tuns“ (Fuest, Poetik des Nicht(s)tuns, S. 194). Verweigerung impliziert jedoch eine bewußte Entscheidung, das Vorhandensein einer Strategie. Hiervon kann am Ende des Romans nicht mehr ernsthaft gesprochen werden. Im Ausland hat man die vermeintliche Opferrolle der Oblomov-Figur denn auch eher psychologisch oder ästhetisch zu fassen versucht, so etwa Jean Blot mit der theatralischen Metapher, daß Oblomov in einer ‚Komödie der Masken‘ zugleich die Rolle des Regisseurs und des Opfers spiele (vgl. Blot, Jean: Ivan Gončarov ili nedostižimyj realizm. Perevod s francuzskogo Michaila Jasnova. SPb. 2004, S. 221).
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dem Westen importierten Kapitalismus voll erschlossen – mit Tendenz bis zum Kitsch, wenn die vermeintliche Landidylle von Oblomovka in der Schlußeinstellung des Films als heile Welt der Kindheit präsentiert wird. In der Literaturkritik und Literaturwissenschaft hingegen wurde die soziale Inkompatibilität Oblomovs in der Welt der Gegenwart z. T. unter Schlagworten wie lišnij čelovek (‚überflüssiger Mensch‘) oder tragizm Oblomova (‚Oblomovs Tragik‘) diskutiert. In einem soziopolitischen Kontext betrachtet ist Oblomov ein Opfer einer Krise der alten patriarchalischen Gutsbesitzerwirtschaft, ein von der Moderne überrollter Landadeliger, der in der sich dynamisch entwickelnden Welt der Hauptstadt völlig fehl am Platz ist; diese Deutung scheint bei einem Teil der westdeutschen Oblomov-Begeisterten aus der 68erGeneration unterschwellig präsent gewesen zu sein. Kapitalismus- und Modernismuskritik wurde aber auch auf der Basis religiöser Argumentationsmuster aus Oblomov herausgelesen.32 Inwieweit auch Leser in anderen Ländern als Westdeutschland und Österreich ähnliche Wege gegangen sind, z. B. in Italien, wo die Kapitalismuskritik nach 1945 salonfähiger war als anderswo in Westeuropa, scheint bisher nicht literaturwissenschaftlich untersucht zu sein. So ist gut möglich, daß kapitalismuskritische Lesarten von Oblomov im Zuge von wirtschaftlichen und sozialen Umbrüchen wieder Konjunktur in Publizistik und Literaturkritik erlangen. Es sei allerdings hinzugefügt, daß die Stilisierung Oblomovs zum Opfer, ganz gleich auf welcher politischen, ideologischen oder religiösen Grundlage, der textimmanenten Diagnose widerspricht, die Oblomovs Freund und Nachlaßverwalter Štol’c zum Schluß stellt. Das russische Original verwendet zur Bezeichnung für Oblomovs Untergang das Wort „пропал“ (S. 500), das an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig läßt: angewendet auf einen Menschen, impliziert es zumindest die Teilschuld einer Person an ihrem unerwünschten Verschwinden, an ihrem Verfall und im Extremfall sogar ihrem eigenen Exodus.33 Wenn in den vorangegangenen Ausführungen von der Vielseitigkeit der Hauptfiguren des Romans die Rede war, so sei zum Schluß nicht vergessen, daß zur kompositorischen Anlage von Oblomov auch zwei zentrale weibliche Charaktere gehören, von denen einer, Ol’ga Il’inskaja, sich besonders im Mit32 33
Vgl. Neuhäuser, Nachwort, S. 669. Das Romanende enthält insofern ein Übersetzungsproblem im Deutschen. Josef Hahn ist mit seiner Übersetzung für „пропал“ als „er ist umgekommen“ weiter vom Original entfernt als Vera Bischitzky, die Štol’c’ Diagnose als „[er] ist zugrunde gegangen“ übersetzt (vgl. Oblomow, 21998, S. 654; Oblomow 2012, S. 746).
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telteil sehr dynamisch und eigenständig entwickelt. Diverse Ansätze, den Typus der sich emanzipierenden Frau theoretisch fundiert aus dem Werk herauszulesen, haben nicht nur im westlichen Ausland, sondern auch in Rußland einige nennenswerte Ergebnisse gezeitigt.34 So sehr sich Geschlechterrollen in Rußland, Deutschland und Europa seit der Erscheinungszeit von Oblomov gewandelt haben, so ist doch in dieser Hinsicht auch heute noch ein erhebliches produktives Rezeptionspotential in Gončarovs Text vorhanden, denn das Verhältnis der Geschlechter zueinander wird für Literaturrezipienten und breite Öffentlichkeit wohl von zeitlosem Interesse sein. Zumindest zeigte unlängst die erwähnte Oblomov-Dramatisierung von Alvis Hermanis, daß der Roman noch allemal für ein genderbezogenes Lesen zwischen den Zeilen herangezogen werden kann: die Aufwertung der Titelfigur und die Abwertung ihres Gegenspielers Štol’c gegenüber der Romanvorlage äußerte sich in Hermanis’ Inszenierung nicht zuletzt darin, daß die aus der englischsprachigen OblomovForschung bekannte These von Ol’gas Orgasmus beim nächtlichen Spaziergang mit Oblomov im Park hier bühnenwirksam umgesetzt wurde.35 Sowohl Oblomov als auch Štol’c und Ol’ga scheitern bei Gončarov an ihren eigenen Ansprüchen, doch ihr Umgang mit diesem Scheitern ist jeweils ein anderer. Während Oblomov und Ol’ga, die allerdings durch eine postnatale Depression explizit exkulpiert wird (vgl. S. 452; S. 461), in eine tiefe Sinnkrise verfallen, erweist sich Štol’c als flexibler und kreativer im Umgang mit allen Anfechtungen durch Schwermut und Krisen. Zudem scheint er insbesondere am Ende des Romans altruistischer veranlagt zu sein als der zunehmend egomanische Oblomov. Dieser zerstört sich, und er droht auch andere mit sich zu reißen. Das Schicksal des ebenso wenig modernisierungsfähigen Zachar führt dem Leser vor Augen, daß sich Oblomov seiner Verantwortung für andere bis zuletzt kaum bewußt ist. Im Falle des eigenen Sohnes scheint Oblomov immerhin mehr Weitblick zu besitzen; er überträgt Štol’c rechtzeitig die Fürsorge für das gemeinsame Kind mit Agaf’ja, und dieser sorgt dafür, daß Andrjuša das Schicksal seiner wieder vom Schmarotzerduo Tarant’ev und Ivan Matveevič drangsalierten Mutter erspart bleibt. Štol’c ist also der eigentliche Protagonist des Romans, nicht nur, weil er sich aktiv entwickelt, sondern weil er für das Überleben Oblomovs sorgt – in 34
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Den Diskussionsstand zu genderbezogenen Fragestellungen bis kurz nach der Jahrtausendwende gebe ich anderswo wieder (vgl. Schümann, Oblomov-Fiktionen, S. 87-89). Diese kühne Hypothese wurde von John Givens in die Diskussion eingeführt (vgl. dazu Givens, John: Wombs, Tombs, and Mother Love. A Freudian Reading of Goncharov’s Oblomov. In: Diment, Goncharov’s Oblomov 1998, S. 97).
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biologisch-genetischer Hinsicht als Ziehvater seines Sohnes und in ästhetischer Hinsicht als Gewährsmann des Literaten. Das Nützlichkeitsdenken des utilitaristisch geprägten Štol’c wird damit ein letztes Mal zu einem Projekt entwickelt – diesmal einem Buch, das – wie die meisten Bücher – seine Langzeitwirkung mit unabsehbaren Folgen erst in einer unbekannten Zukunft entwickeln wird. Daß Štol’c bisher gleichwohl bei Lesern so wenig explizite Sympathien zu gewinnen im Stande war, liegt wohl daran, daß Oblomovs Lebenslauf der weitaus spektakulärere ist, daß das endgültige und tragische Scheitern Oblomovs in so großem Kontrast zu dessen grandiosen Auftritten in den ersten Romankapiteln steht. Štol’c mag Oblomov am Ende überleben, doch er braucht Oblomov mindestens so dringend wie umgekehrt, denn ohne den Kontrast zum Titelhelden fehlte ihm der dialektische Anstoß zur Entwicklung. Und Štol’c entwickelt sich in umgekehrter Richtung zu Oblomov, so daß das v. a. von Elena Krasnoščekova und Galya Diment in die Diskussion eingebrachte Konzept des Bildungs- und Entwicklungsromans sich tatsächlich gewinnbringend auf den Roman anwenden läßt:36 in Bezug auf die OblomovHandlung ist Gončarovs Werk ein Anti-Bildungsroman, in Bezug auf die Štol’c-Handlung ist es ein Bildungs- und Entwicklungsroman. Allem äußeren Anschein zum Trotz sind Entwicklung und Dynamik also ein wichtiges Element in Oblomov. Gončarov verknüpft die Handlung seines Werks mit einem komplexen System von Thesen, Antithesen und Synthesen, in dem der erste Eindruck von einer handelnden Figur zumeist im Laufe des Geschehens ergänzt und oft sogar revidiert wird. Die so geschaffene Polyvalenz äußert sich insbesondere in Bezug auf die beiden männlichen Protagonisten, und dies ist wohl auch der Grund für die ausgesprochen vielseitige Deutungstradition von Oblomov. Eindeutige Interpretierbarkeit des Textes hat der Autor Gončarov immer wieder vermieden, obgleich mit fortschreitender Handlung immer klarer wird, daß Štol’c – nicht der Titelheld Oblomov – das eigentliche kompositorische und konzeptuelle Zentrum des Romans darstellt. Indem er sich – als Antwort auf Ol’gas seelische Krise – selbst die ursprünglich von Oblomov besetzte terra incognita des Emotionalen erschließt, erreicht Štol’c eine Reife, die in deutlichem Kontrast zu seinen ersten Auftritten im
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Vgl. Krasnoščekova, Elena Aleksandrovna: Ivan Aleksandrovič Gončarov. Mir tvorčestva. SPb. 1997, S. 272, 276. Vgl. außerdem Diment, Goncharov’s Oblomov 1998, S. 18. Das Russische ist mit dem eingebürgerten Begriff des roman vospitanija (‚Erziehungsroman‘) freilich begrifflich nicht so genau wie das Deutsche, wo es zur semantischen Differenzierung auch noch die Ausdrücke Bildungsroman und Entwicklungsroman gibt.
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Roman steht. Freilich fehlte wohl vielen Lesern die Kondition, dies zu erkennen. Nicht nur wegen seiner Länge, sondern auch wegen seiner Komplexität wird Oblomov wohl auch weiterhin konträre Leserurteile hervorrufen. Bleibende literarische Produktivität entsteht schließlich v. a. dann, wenn für genügend Leser genügend Fragen offen bleiben, wenn ein Text immer wieder aufs Neue die Möglichkeit gibt, die bisherigen Interpretationen ‚gegen den Strich‘ zu lesen. Solche Texte zwingen den Leser dazu, über das scheinbar bereits Erkannte und erschöpfend Interpretierte immer wieder aufs Neue anders zu denken. Sie rufen bei vielen Rezipienten wechselnde Allianzen zu den Protagonisten hervor, da Negatives und Positives in ihnen nicht gleichmäßig verteilt ist. Mit Oblomov ist Gončarov dieses Kunststück gelungen.
Martin Gaži Gončarov zwischen Dostoevskij, Wasser und Erde Aus tschechischer Sicht Die Romane Ivan Aleksandrovič Gončarovs haben scheinbar eine harte Schale. Sie werden mehrheitlich streng soziologisch ausgelegt: als Schilderung der russischen Welt der Übergangszeit. Die Behauptung eines Übergangs von altem zu neuem Rußland wird durch die Suche nach gesellschaftlichen Typen und die ständige Versicherung gestützt, daß den Autor antiromantische Skepsis oder wenigstens Spott über Beschwingtheit und Ideale prägen.1 Die Obyknovennaja istorija pflegt als realistischer Rückblick auf des Autors Jugend, Oblomov als Kritik des romantischen Helden, als Satire, deren Grundlage der zu dieser Zeit in Rußland übliche Menschentypus bildete, und Obryv als halbabsonderliches, nahezu seniles und vor allem durch den bloßen Gedanken an das Ende der alten Zeiten aufgeschrecktes Werk interpretiert zu werden. Zusammengefaßt: Epik des Alltagslebens und nichts weiter. Nicht einmal in Rußland selbst erfolgte die Aufnahme Gončarovs ohne Verlegenheit. Die Obyknovennaja istorija wurde mit Sympathie aufgenommen, vor allem nachdem sie der Großmeister Belinskij gutgeheißen hatte.2 Auf Oblomov wartete man deshalb besonders ungeduldig. Und weil es möglich war, das alte Maß anzulegen, wurde die Erwartung zur Zufriedenheit erfüllt. Es wurden des Autors Gewandtheit und großartig beherrschtes Handwerk be-
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Diese Einschätzung wurde schon zu Zeiten Belinskijs und Dobroljubovs eingeführt. Sie wurde Ende der 1920er Jahre auch von Michail Bachtin übernommen, als er Gončarov zusammen mit Turgenev und Tolstoj – in Abgrenzung zu dem Genretyp der Werke Dostoevskijs – als typischen Schöpfer eines „sozial-psychologischen“, „Familien-“ oder Romans „aus der Gesellschaft“ bezeichnet (Bachtin, Michail M.: Dostoevskij umělec. K poetice prózy. Praha 1971, S. 138). Ihr enthielt sich auch nicht der tschechische Aufsatz von Arne Novák aus dem Jahr 1912, der ansonsten im Kontext des tschechischen literaturkritischen Denkens recht bemerkenswert ist (Novák, Arne: Básník Oblomova. In: Mužové a osudy. Kniha studií a podobizen. Praha 1914, S. 169-182). Oblomov wird in ihm als Gericht über die Romantik als „ungesunde soziale Erscheinung“ und die Hauptpersonen von Obryv werden als „typische Vertreter der Jugend der 40er Jahre“ interpretiert. Belinskijs Lob wurde als wesentlicher Teil der Studie Vzgljad na russkuju literaturu 1847 goda veröffentlicht. Auf Tschechisch erschien sie zuerst selbständig 1901 in Pelcls Kritická knihovna, später in dem Band Bělinskij, Vissarion G.: Stati a recenze 1846–1848. Praha 1973, S. 460-482.
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wundert. N. A. Dobroljubov fand plötzlich in der gesamten russischen Literatur ‚Oblomover‘3 und lenkte deshalb die Aufmerksamkeit auf die ‚soziologischen‘ Züge des Romans. Gončarovs Popularität kulminierte. Auf den Obryv wartete man noch länger als auf Oblomov, er enttäuschte jedoch. Die Zahl der Abonnenten des Vestnik Evropy (in dem der Roman 1869 herausgegeben wurde) stieg zwar in der betreffenden Zeit, die Kritiken, zu denen auch Artikel solcher Autoritäten wie Saltykov-Ščedrin und Skabičevskij zählten, bewegten sich allerdings im Spektrum von stumpfer bis scharfer Begriffsstutzigkeit. Anstatt grundlegende Dinge zu erwägen, wurde begonnen, allein über eine Figur, den schematisch gezeichneten Nihilisten Mark Volochov, zu diskutieren, so daß die Debatte zum Selbstzweck wurde. Die Ewiggestrigen schlugen sich an die Brust, weil sie die Möglichkeit, daß solch ein Abschaum existieren könne, nicht zulassen wollten, die jungen Ungestümen erkoren ihn hingegen zum Vorbild. Gončarov war enttäuscht. Kann man denn sein eigenes Werk theoretisch auslegen, ohne daß dies einer Niederlage gleichkäme (das Werk soll schließlich für sich selbst sprechen – hätte er eine philosophische Abhandlung schreiben wollen, hätte er keinen achthundertseitigen Roman geschrieben)? Er schrieb zwar Antworten auf die Kritiken,4 und aus dem Ton der Artikel wird der Drang ersichtlich, wenigstens anzudeuten, daß der Gedanke der Trilogie in etwas anderem bestehe als in der bloßen Typisierung menschlicher Haltungen an der allgemein empfundenen Epochenschwelle; Dietriche zum Öffnen des Schlössertrios zu überreichen, erlaubte ihm jedoch der Stolz nicht. Vielleicht war dies auch der Grund dafür, daß er im Jahr seines einhundertsten Geburtstags (1912) von den Intellektuellen zum Träger der westeuropäischen Kultur erklärt wurde, was im damaligen Rußland eine Beziehung von zurückhaltender Reserviertheit bedeutete. Dabei verbirgt Gončarov keineswegs den Grundzug seines Werks. Er zählt nicht zu denjenigen, die aus strategischen Gründen alles mit Schwärze überziehen, damit der Rezipient zunächst wegen der scheinbaren Undurchdringbarkeit des Werks einen schweren Kopf hat, ehe er im zweiten Schritt sieghaft allen Fallen zum Trotz ‚das Wesentliche‘ enthüllen kann. Er verhüllt den Reichstag weder in einen Schlafrock noch 3
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Tschechisch erschien Dobroljubovs Aufsatz zuerst in der Übersetzung Vilém Mrštíks in Pelcls Kritická knihovna (Dobroljubov, Nikolaj A.: Oblomovština. Kritický rozbor románu Oblomov od J. A. Gončarova. Praha 1896), später auch in dem Auswahlband mit Übersetzungen Vybrané literární stati. Praha 1950, S. 15-51. Sowohl das Predislovie k romanu „Obryv“ als auch die Namerenija, zadači i idei romana „Obryv“ (die für den persönlichen Gebrauch der Großfürstin Marija Aleksandrovna geschrieben wurden) erschienen erst postum (Gončarov, Ivan A.: SS. M. 1980, 6, S. 425-452 und 453464).
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läßt er ihn, als Zauberkünstler, verschwinden, selbst am im Chor vorgebrachten „Ach“ des Publikums weidet er sich nicht. Es ist befremdlich (und das gilt für Rußland doppelt), daß gerade Gončarov gegen die Wand geredet hat, obwohl er auf die Seele zielte. Dafür eine überzeugende Erklärung zu geben, wage ich nicht. Ein Grund kann jedoch gewiß in seinem bürgerlichen Wirken gesehen werden. Die fortschrittlichen unter den Literaturhistorikern nahmen und nehmen beim Aussprechen des Namens Gončarovs höchste Wachsamkeit ein, denn ein Intellektueller und Dichter muß doch, so sieht es ihre Gliederung der Welt durch Barrikaden vor, in Opposition zur herrschenden Macht stehen, erst recht zur zaristischen, er muß ärgern, beißen, in den Kerker, in Verbannung geraten oder zumindest emigrieren. Gončarov war Zensor und rühmte sich damit, daß er auf dem heimischen Sofa liegend amtieren könne. D. S. Merežkovskij,5 der bekannte Enthüller der Tiefen russosophischer Symboliken, versuchte, sich Gončarov von einer anderen Seite zu nähern und biß sich an den Romanen ebenfalls die Zähne aus. Er ließ sich auf eine durch die zeitgenössische Rivalität bedingte Auslegung Gončarovs als Pendant „des Genies der Angemessenheit“ Turgenev ein. Beide betrachtete er als Vertreter einer der Etappen des Abkühlens des Puškin’schen Geistes im „herbstlichen Welken“ der russischen Literatur. Ihr Bemühen nennt er einen redlichen, doch gescheiterten „Versuch der Rückkehr zu Ruhe und Gleichgewicht“ und verfolgt mit Bitterkeit die Verwandlung von Puškins „Halbgott“ in den „winzigen kleinbürgerlichen Deutschen Štol’c“ und in den „Teufel und Versucher auf Kreisebene Volochov“. Oblomov gestand er einen „Heiligenschein stiller Poesie“ zu, er spürte, daß man Il’ja Il’ič lieben könne, den tätigen Štol’c jedoch nicht. Zugleich identifizierte Merežkovskij aber im Geist Gončarov mit seiner Romangestalt. Er attestierte ihm Unfähigkeit, sich zu berauschen und Bedrücktheit allergrößten Ausmaßes und machte aus ihm schließlich einen „großen Humoristen“ (wahrscheinlich in Anlehnung an die weite Bestimmung des Begriffs, wie sie schon seit Belinskij tradiert wird). Das einzige, was er ihm nicht absprach, war das „Verständnis für die Poesie der Vergangenheit“, d. h. die Kunst, auf den Blättern des „gigantischen Baums“ der Romantrilogie die Schönheit „kleiner Tautropfen“ einzufangen. Später war es noch schlimmer. Viktor Šklovskij, einer der Köpfe der russischen Formalen Schule, widmete Gončarov in seiner einflußreichen Studie 5
Die folgenden Überlegungen stützen sich vor allem auf Merežkovskijs Arbeiten aus den 1890er Jahren: die Essays über Gončarov und Puškin, die in den Band Merežkovskij, Dmitrij S.: Věční přátelé. Praha 1930, v. a. S. 257-283 und 382-386 aufgenommen sind, und teilweise auf die Essaysammlung von 1910: ders.: Nemocné Rusko. Praha 1928, v. a. S. 151-162.
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über die Prosa ein einziges Absätzchen, und zwar ein verdammendes: Oblomov habe eine „machtlose“ Exposition, während Il’ja auf dem Sofa liege, schlendre ihm immerzu jemand durch das Zimmer.6 Der nach Prag emigrierte Literaturhistoriker Evgenij Ljackij schätzte Gončarov zwar etwas mehr, aber ohne jedes Anzeichen, daß ihm dessen Werke ein wahres Erlebnis bereitet hätten (erwähnenswert ist sein Kompliment für die Reinheit, logische Klarheit, Genauigkeit – also die „Klassizität“ der Sprache Gončarovs). Obryv gestand er zwar eine „Erweiterung des ideologischen Gehalts der ersten zwei Romane“ zu, ging aber nur auf die sozialen und politischen Angelegenheiten ein.7 In noch späteren Zeiten wurde am häufigsten die bloße Schilderung von Problemen enthüllt, was an sich ein sehr vages Verfahren ist. N. A. Verdeevskaja8 läßt ihre Auffassung vom russischen klassischen Roman auf dem Kontrast zwischen „dem Widerstand des Inneren gegen die Umwelt“ und „sozialem Determinismus“ basieren. Viel Bahnbrechendes kann man darin nicht finden. In Böhmen hat man auf Gončarov als auf einen von geblickt. Seinen Namen vergaß man nie in den Aufzählungen der russischen Klassiker des goldenen Zeitalters der dicken Romane zu nennen (er figuriert deshalb auch in den Essays von F. X. Šalda und V. Černý), damit endete es jedoch auch schon. Dabei fehlten nicht einmal Übersetzungen ins Tschechische, wobei die von Vilém Mrštík zu den besten seiner Zeit gezählt werden können.9 V. Mrštík ließ sich in seinen theoretischen Abhandlungen ziemlich von der russischen Kritik leiten, er übernahm von ihr auch das Denken in sozialen und nationalen Typen – allerdings keineswegs in einer derart gesunkenen Form, wie es später die Regel wurde. „Der Dichter versteht es, sich vollkommen und ganz in das Blut und den ganzen Organismus der von ihm gewählten Figur hineinzuversetzen, auch wenn er sie ablehnt und durch Entwürdigung straft.“10 Der russische Oblomov dient ihm gleich der tschechischen Babička
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Šklovskij, Viktor: Teorie prózy. Praha 1933, S. 71. Ljackij, Jevgenij: Klasikové ruské literatury. Praha 1930, S. 169-187, hier: S. 172. Auch die Interpretation des Sujets von Obryv (S. 184f.) ist simplifizierend und führt auf Abwege. Verdeevskaja, N. A.: Russkij roman 40–60-ich godov 19. veka. Kazan’ 1980, v. a. S. 99ff. Emanuel Vávra versuchte als erster in Böhmen, Oblomov schon zwei Jahre nach dessen Erscheinen in Rußland zu übersetzen (1861); die Obyknovennaja istorija wurde bereits 1872 übersetzt und 1900 folgte eine weitere Übersetzung (von Bronislava Herbenová im Rahmen der Ruská knihovna im Verlag Otto); Mrštíks Übersetzungen von Oblomov und Obryv erschienen in den Jahren 1902 bzw. 1906f. Mrštík, Vilém: Moje sny. Pia desideria I. Praha 1902, S. 375.
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deshalb als Typus, weil er auf die Kräfte fundamentaler Vitalität hinsteuert, die durch die konkrete menschliche Gesellschaft definiert werden. Über Obryv äußerte Mrštík kein klares Urteil: „Es gibt Stellen in dem Roman – wenn es bei uns nur etwas Verständnis für die Bedeutung solch eines Werkes und vor allem dieser Stellen gäbe –, so müßte dieses Werk bei den zerfahrenen Ansichten über die eindeutigsten Dinge nur so eine Wohltat sein.“11 Für Arne Novák stellte Gončarov einen westlerischen „Analytiker der Herrenkreise“ dar, der durch den Roman die Epoche „richtete“.12 Ladislav Hofman, dem vorzeitig gestorbenen Historiker mit dichterischen Ambitionen, erschien Boris Rajskij als eines der verdrängten, jedoch nicht vollkommen zu verdrängenden Ichs: halb unfähiger Dilettant und unfruchtbarer Dekadent.13 Karel Sezima wiederum ließ seine halb irre Mutter die Romane Gončarovs, zusammen mit denen Dostoevskijs, Jacobsens, Flauberts, Turgenevs und weiterer Lieblinge der Jahrhundertwende lesen. Diese würdigte zwar Obryv verdientermaßen, endete jedoch gleichwohl nach kurzer Zeit gelähmt und ohne Verstand.14 Der kolossal fleißige Josef Jirásek, der allerdings über keine anderen Werkzeuge als einen angeknabberten Stift zum Abschreiben, einen Staubwedel und manchmal vielleicht eine feine Feile verfügte, wirkt im Gegensatz zu seinen Nachfolgern wenigstens wirklich seriös, wenn schon nicht bahnbrechend. Auf Grundlage der Kenntnis von Gončarovs eigener Literaturkritik hat er die Schublade seines Realismus doch zumindest etwas relativiert.15 In dem faden, jedoch bis heute an den Hochschulen benutzten Kompendium über die Geschichte der klassischen russischen Literatur von Radegast Parolek und Jiří Honzík16 wird die Romantrilogie auf eine Weise charakterisiert, daß damit beim besten Willen nichts Klares ausgesagt wird: „unaufdring11
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Das Zitat stammt aus einem Brief an Ladislav Quis vom November 1904, hier zitiert nach: Parolek, Radegast: Vilém Mrštík a ruská literatura. Praha 1964, S. 138. Außer auf das bereits zitierte Werk von Novák verweise ich auch auf seine Ansichten aus den 1930er Jahren: Novák, Arne/Novák, Jan Václav: Přehledné dějiny literatury české. Olomouc 1936-1939, S. 975. Davon zeugt sein sich selbst gegenüber die Beichte ablegendes Tagebuch: Hofman, Ladislav K.: Sebrané spisy II. Spisy smíšené. Praha 1905, S. 187 und 189. Von Hofmans ‚russischem‘ Seelengewand handelt der Aufsatz von Blümlová, Dagmar: Strasti serdca Ladislava Hofmana. In: Gaži, Martin (Hg.), Na/prů/pozor na Rus. České Budějovice 1996. Sezima, Karel: Z mého života I. Kniha vzpomínek a nadějí. Praha 1945, S. 53. Jirásek, Josef: Přehledné dějiny ruské literatury I. Brno/Praha 1946, S. 201-204. Parolek, Radegast/Honzík, Jiří: Ruská klasická literatura. Praha 1977, v. a. S. 295-302.
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lich zuverlässiger Führer durch die russische Wirklichkeit“. Oblomov wird hier durch aufgeblähte und gänzlich leere Worte gelobt: „naturgemäßes Produkt einer bestimmten sozial-historischen Situation“, und Obryv ist ihnen fast nicht der Rede wert.17 Im Lexikon literarischer Werke, aus dem an den Mittelschulen so gern fleißige Mädchen abschreiben, wird selbstverständlich nur Oblomov aufgeführt (wie übrigens auch in Bohuš Balajkas Literaturlehrbuch18), wobei seine Charakterisierung so phrasenhaft ist, daß man über sie nicht anders urteilen kann, als daß man sie des Geschwätzes bezichtigt.19 Selbst Hochschulskripta so renommierter Autoren wie des Ehepaars Ladislav Zadražil/Miluše Zadražilová teilen über Gončarov nichts Wesentliches mit. Es wird hier zwar angedeutet, daß die „inhaltsreichen menschlichen Typen“ „fast symbolische Bedeutung“ annehmen, über Obryv waren sie jedoch nicht in der Lage, mehr zu sagen, als daß er „schwungvoll“ sei.20 In dem letzten tschechischen Überblick über die russische Literatur21 stellt Josef Dohnal Gončarov erneut geschmack- und geruchlos vor: als Illustrator der russischen gesellschaftlichen Veränderungen, der durch die Kenntnis des Milieus und die eigene soziale Zugehörigkeit determiniert ist. In der Geschichte der russischen Literatur dänischer Herkunft22 wird für die Prosa der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Fächer von Formvarianten des Realismus entfaltet. Das wirkt auf den ersten Blick beeindruckend, auf den zweiten schon weniger. Gercen ist ein philosophischer Realist, Turgenev ein poetischer, Saltykov-Ščedrin ein satirischer, Dostoevskij ein psychologischer und Tolstoj ein plastischer. Für Gončarov blieb die absonderlichste Schublade: der pragmatische Realismus. Wahrscheinlich deshalb, weil Zensoren schließ17
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Obryv wurde vor allem wegen seines „kritischen Verhältnisses zur revolutionären Jugend“ kritisiert, was angeblich Einfluß auf die „Verletzung der künstlerischen Struktur des Werkes“ hatte (z. B. Parolek, Mrštík 1964, S. 138). Der Falle der -ismen verfiel man zu dieser Zeit allerdings auch im Westen. Als typisches Beispiel kann die Arbeit des Amerikaners Moser, Charles A.: Antinihilism in the Russian novel of the 1860s. The Hague 1964 dienen. Eine existenzialistische Sicht auf Rajskij ohne Gott, der von Langerweile und Mattigkeit heimgesucht ist, kann man in der Arbeit von Rehm, Walther: Gontscharow und Jakobsen oder Langeweile und Schwermut. Göttingen 1963 finden. Balajka, Bohuš: Přehledné dějiny literatury I. Praha 1995, S. 215. Mravcová, Marie. In: Slovník světových literárních děl. Praha 1989, S. 308f. Zadražil, Ladislav/Zadražilová, Miluše: Literatury národů SSSR I. Praha 1972, v. a. S. 63f. Panorama ruské literatury. Boskovice 1995, S. 138. Stender-Petersen, A.: Geschichte der russischen Literatur I–II. München 1957.
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lich der allgemeinen Überzeugung zufolge nicht nichtpragmatisch sein können. Ähnliche Beispiele könnten zu Dutzenden herangezogen werden. Die Interpreten Gončarovs verstehen nicht, daß sein Werk mit dem, was wir unter dem Begriff realistischer Roman verstehen, zwar durch eine ähnliche äußere Form übereinstimmt, aber keineswegs durch ihre Endabsicht, ihre innere Gestalt und somit auch nicht durch ihren Sinn (dieses Interpretationsproblem betrifft auch weitere russische Romane, die Gončarovs jedoch um so mehr, als sie als „klassischste“ ihrer Art gebrandmarkt zu werden pflegen). Zu diesem Irrtum führt den Rezipienten wahrscheinlich der erste Eindruck von der Breite des Erzählflusses und das Befühlen der Dicke der Bände. Sogenannte „Typen“ gibt es in den Romanen genug – all die Dienstmädchen, Diener und Leibeigenen, Nachbarn und falschen Freunde, Schürzenjäger und Ökonomen, Wochenendgäste und provinziellen Salondebattierer, sorgsamen Beschützer sowie berechnenden Heimtücker. Sie sind mit fester gesunder Zeichnung dargeboten, manchmal unter Betonung eines besonders typischen (d. h. geschickt vom Leben abgezeichneten) Details, das der gesamten Stimmung wohlgefälligen Ruhens und der fast lyrischen Grazien nicht schadet. Und was besonders wichtig ist: die Figuren und Figürchen leben. Sie leben durch ihren Appetit auf ordentliches Essen, Trinken und Lieben, sie leben durch ihren gesunden Schlaf. Um all dies geht es zwar auch, das Wesentliche besteht jedoch in etwas Weitreichenderem, Tieferem und Höherem. Bei den Figuren auf der ersten Ebene, den Figuren, die ihre Psyche und Physis enthüllen (sie sind nichts anderes als die artesischen Brunnen der Psyche und Physis), fehlt plötzlich die Grazie, der Schwung wird schwermütig. Schwerfällige bis unklare, bis zur Erschöpfung wiederholte und ‚nur‘ in Nuancen variierte Handlungen. Die Charaktere werden geschüttelt vom Brausen dunkler Ströme und der Qual von Gedankenverdrehungen. Dabei lauert nahebei der angenehme Dämon des weich bösen Graus. Gerade in diesen Figuren liegt der Hund und der Schlüssel zum Verstehen des Ganzen begraben. Die Mehrzahl der vorangehenden Interpreten betonte den Konflikt zweier Welten, des alten und des neuen Rußlands, anhand der Gegensätze der Hauptfiguren. Merežkovskij23 übernahm diese Methode nur teilweise. Er griff drei typische Paare heraus, auf deren einer Seite er „leere und unentschlossene“ Figuren, auf deren anderer Seite er hingegen „tatkräftige Naturen mit starkem und festem Willen“ ausmachte. Aleksandr Aduev steht ihmzufolge dem Onkel, 23
Merežkovskij, Věční přátelé 1930, S. 271-274.
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Oblomov Štol’c und Rajskij Volochov gegenüber. Ich denke, daß auch diese Interpretation in die Irre führt. Im übrigen spricht auch Gončarov selbst in der Erläuterung zu dem Roman nur von „Gegensätzen der Leidenschaften“,24 nicht jedoch von Gegensätzen der Figuren. Aduev, Oblomov und auch Rajskij sind gerade darin spezifisch, daß man sie nicht in scharfen Kontrast stellen kann, denn sie sind nicht in der Lage, durch eigene Kraft eine feste Gestalt zu bewahren. Sie grenzen sich nicht gegen das Umfeld ab, sie sind nicht heilig (durch Demut stark), sie sind keine Titanen (stark durch Revolte). Sie sind zentrale Figuren in den Romanen, die erwähnten gegensätzlichen Leidenschaften steuern auf sie durch ihre eigene Beweglichkeit hin, schicksalshafte Gegenspieler haben sie nicht. Das heißt allerdings nicht, daß sie keine Antipoden und Besänftiger hätten, ganz im Gegenteil: sie müssen solche haben, denn sie werden durch diese definiert. Das mütterliche Gefühl und des Onkels Großstadterfahrung in Verbindung mit der melancholischen Zuneigung der Tante definieren das „Ich“ des jungen Aduevs. Die energischen Eingriffe von Štol’c und der Gestank der Parasiten Muchojarov und Tarant’ev, die fast magische Unzugänglichkeit Ol’gas und die weißen Ellbogen Agaf’ja Pšenicynas bilden die Grenze für die Existenz Oblomovs. Die Freundschaft Ajanovs und Kirilovs künstlich-künstlerische Führung, später die angriffslustige moralische Verleugnerei Volochovs und die feste, aber vollkommen uneroberbare und deshalb über sich selbst resignierende Männlichkeit Ivan Tušins definieren die flüchtige Seele Rajskijs. Existierten nicht all die Wärter und Spötter, wäre der im weiblichen Nest sitzende Aduev keinen Roman wert. Er lebte in einer Welt großer Gesten, würde für Taubenliebe und für 160 Werst Galopp für ein freundschaftliches Schulterklopfen eintreten. Für dieses Leben reichte, ein gefälliges, dankbares und liebendes Herz zu haben – alles wäre in Ordnung und nicht erzählenswürdig. Ähnlich verhält es sich auch bei den beiden anderen Romanen. Gäbe es nicht Oblomovs Jugendfreund und die fürsorgliche Hausfrau, hätte das Entflammtsein für Ol’ga weder Anfang noch Ende. Ohne Ajanov und Kirilov erforschte der vor Liebe schmachtende Rajskij nicht die antike Schönheit Sof’jas, ohne Volochov und Tušin verfiele er nicht der quälenden Teilhabe an der Tragödie Veras. Aduev, Oblomov und Rajskij tappen im Dunkeln, sie verfügen über keinen klaren Willen, sind nicht fähig, sich auf ein festes und dauerhaftes Ziel zu konzentrieren – und eben das verbindet sie. Dieser gemeinsame Charakterzug wird allerdings in der Regel überschätzt, wahrscheinlich deshalb, um ein 24
Gončarov, Namerenija 1980, 6, S. 453f..
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Gleichheitszeichen zwischen den Schöpfer und die Romanfiguren setzen zu können. Das Gleichheitszeichen erleichtert dem Interpreten seine Position, alles, so scheint es, paßt fest in das Bild Gončarovs als des Reisenden, der während des Sturms auf hoher See in dem muffigen, aber relativ sicheren Unterdeck gähnte. Ein wichtiges Detail wird bei all dem jedoch übersehen: Aduevs naive Reinheit begann in Petersburg zu stinken, die Seele Oblomovs ertrank schließlich in dem „weichen Körper“, von der Seele Rajskijs kann man dies jedoch nicht behaupten. Bei den ersten beiden wurde alles Störende und Nagende (die Fähigkeiten von Seele und Körper, die Vorstellungskraft und die Erinnerungen) zurückgedrängt, wuchs in das Fett ein, atrophierte und wurde in den aufwallenden Rachen des städtischen Konformismus bzw. zwischen die Ellbogen des gutherzigen und sich still opfernden ‚Siddur‘ Agaf’ja serviert. – Der Schluß des fünfteiligen Obryv, der voller Aufschwung in den Raum, luftig und in vielerlei Hinsicht hoffnungsvoll offen ist, steht in jähem Kontrast zu dem melancholischen Feuchtwerden der Augen am Ende der Obyknovennaja istorija und zu dem Punkt aller Punkte am Finale des vierteiligen Oblomov. Übrigens kann man fünf Rosen zu einer Hochzeit mitbringen, vier nur auf einen Kirchhof. Der Autor bezeichnet in seinen Abhandlungen über den Obryv die Figur der Tat’jana Markovna Berežkova selbst konsequent als „Babuška“ (also mit Majuskel am Anfang). In seinen Briefen aus der Zeit der Beendigung des Obryv wird ersichtlich, daß er erregt ist: Solch eine Kühnheit kann nur unter der Feder eines erstklassigen Schöpfers, Puškins oder Gogol’s, gerechtfertigt werden […]. Mir ist bange von diesem mir vollkommen ungewohnten Zufluß an Phantasie, ich fürchte, daß meine Feder viel zu läppisch ist, daß sie dies nicht aushält.25
Worin besteht der Zusammenhang? Die Babuška, Marfin’ka und Vera sind keine Typen oder artistischen Miniaturen eines Traums vom Glück, sie sind nicht einmal Träger der Gewohnheiten und der Routine der alten Welt. Jede von ihnen trägt einen Diamanten in sich und zwar nicht ein kaltes Juwel, sondern einen festen Kristall des Grundelements aller lebenden Materie, welcher fest ins Leben eingesetzt ist. Sie sind auch keine Abbildung von dreierlei Prinzipien, von mechanischen ersten Prämissen oder letzten Schlüssen, von Abstrakta – sie tun weh und wärmen. Jede hat ihren Namen im göttlichen Plan: Liebe, Hoffnung und Glaube. Obryv ist 25
Gejro, L. S.: Komentarii. In: SS 1980, 6, S. 467-514, hier: S. 492 (Zitat aus Gončarovs Brief an M. M. Stasjulevič vom 7./19. Juni 1868).
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ein Roman des Kampfes mit ihnen, des Kampfes mit der Weiblichkeit der Rus’. Deshalb ist Obryv ein russosophischer Roman. Er antizipiert auf diese Weise direkt die Werke Dostoevskijs und seiner Fortsetzer im Silbernen Zeitalter. Aber Achtung! Ich wiederhole, daß weder Marfin’ka-Hoffnung noch VeraGlaube noch Babuška-Liebe als Gewichte in die Lebendigkeit implantiert sind. Sie sind in ihren Grundfesten unveränderlich und dennoch lebendig und sündhaft. Sie sind heiß verkörpert (im Sinn von „und das Wort ward Fleisch“). Zwischen der Abbildung und der Verkörperung in dem sogenannten Plan der Nebenfiguren pulsiert eine der Hauptadern aller Literatur. Figuren, die einige der metaphysischen Prinzipien abbilden, sind oft Klippen, manchmal auch Felsblöcke auf dem Weg der Haupthelden, in besseren Fällen Führer und Initiatoren. Dafür lassen sich viele Beispiele anführen: von Dantes Beatrice, Goethes Mephisto bis zu Hesses Pablo, Demian oder dessen Frau Mutter Eva, von den mythisch-märchenhaften Gestalten E. T. A. Hoffmanns bis zu den humorvoll-tragischen G. Meyrinks. Nichts anderes sind selbst der Reigen von Dirnen und Heiligen der Romantiker über den der Dekadenten bis hin zu dem der Surrealisten. Sie leben nicht wahrhaftig, ihr Körper ist kein Körper von Fleisch, Blut, Milch, Leidenschaft, Schwäche in der Stärke und Stärke im Dahinsiechen, sie sind ein bloßer Behälter, ein dicker Strich, der das Weltprinzip begrenzt, mit dem die Figur, die im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Rezipienten steht, aneinandergerät. Die Form des Werks setzt sich dann aus mehr oder weniger schachähnlichen Partien zusammen. Gegenteilig verhält es sich mit den verkörpernden und verkörperten Figuren. Ich spreche absichtlich von beiden Richtungen, denn wie soll man Herkunft und Urheber bestimmen? Widerspiegeln sich im Menschen die Kräfte von Himmel und Erde oder verhält es sich umgekehrt? Gerade die Unmöglichkeit, dies zu bestimmen, ist für die Figuren-Verkörperungen bezeichnend, enthalten sie doch nicht einen Schimmer von Schizophrenie. Balzsacs Gobseck oder Lermontovs Bela und Vulič sind nicht bleichsüchtig und leiden nicht an Anämie. Gončarovs Trilogie ließe sich auch als Werk über das Werk lesen oder als Aufforderung zum Kampf mit der (eigenen?) schöpferischen Unzulänglichkeit und der Unzulänglichkeit im Leben. Hier liegt der grundsätzliche Unterschied zwischen dem Autor und seinen Geschöpfen bzw. Figuren. Die Gespräche zwischen Aleksandr und seinem Onkel sind darauf ausgerichtet, das Verhältnis von Gefühl und Verstand im künstlerischen Prozeß zu durchdringen. Sie werden mit dem Ergebnis beendet, daß bei Mangel an fester Kraft weder Verstand noch Gefühl ausreichen. Oblomov spricht mit seinem faulenden
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Dahinmodern auf seine Weise ebenfalls von demselben, allerdings auf einer höheren Stufe: es wird sich hier nach Kraft gesehnt und verloren. Obryv, der auch ein Roman über einen Roman ist, trug in der ursprünglichen Version den Titel Chudožnik. Rajskijs flatterhaftes Anhäufen von Material zum Praktizieren verschiedener Künste – vom Malen von Porträts ‚erweckter‘ Frauen, Schreiben eines Romans bis hin zur Bildhauerei irgendwo im fernen Europa – ist eine Aussage darüber, wie man nicht schaffen kann. Der Text selbst ist die überzeugendste Antwort auf wissenschaftliche Abhandlungen über Gončarovs beschreibenden oder kritischen Realismus. Er nahm angeblich die Methode aus Europa, mischte russische Realien zum Gebräu hinzu und schweißte das Ergebnis so perfekt durch, bis die Masse schön aus einem Guß war. In diesem Zusammenhang stellt sich mir eine einzige Frage: waren und sind die Schubladisierer denn bis heute nicht fähig zu lesen? Die Trilogie verzeichnet mit bewundernswerter Genauigkeit und Nuanciertheit die Genesis schwankender Gefühle an der Grenze (d. h. nirgendwo wirklich) schöpferischer Inspiration, der Liebe zur Frau und im Endeffekt auch Europas und Asiens. Der erste Teil gibt die Richtung aus Rußland nach Petersburg vor, von der idyllischen Harmonie zur harten Modernität; der zweite ist vollkommen in Petersburg angesiedelt, Rußland nimmt er nur als Traum vom unzugänglichen Glück wahr; und der dritte ist aus Petersburg hinaus gerichtet, in die „Stille des Festlands“ und öffnet sich durch diese im Epilog als Erleichterung nach Europa. Schon aus diesem einfachen Schema wird offensichtlich, daß des Autors Bemühen nicht darin bestand, Europa einfach in Rußland zu implantieren, eher im Gegenteil: Rußland sollte sich durch das rein Russische (seiner Auffassung nach also das nicht-Petersburgische) Europas würdig erweisen. In den Handbüchern wird immer die strikte Einteilung der Schöpfer in Westler und Slavophile vorgenommen. Gončarov wird unter der ersten Gruppe angeführt. Woraus die Autoren ihre merkwürdigen Gewißheiten schöpfen, würde mich wirklich interessieren. Die Romane Gončarovs handeln in erster Linie vom Willen und dem Mangel an Willen, von der Sehnsucht nach dem Überwinden der Unzulänglichkeit, also von der Initiation. Wievielmal werden hier Motive der Sehnsucht nach der Befreiung seiner selbst aus der Erstarrung, nach allgemeinem Erwachen,26 nach Aufbäumen zur Tat wiederholt – und immer durch eine Frau. Der Zwist zwischen männlicher und weiblicher Leidenschaft, der Kampf um 26
Das im Original verwendete tschechische Wort ‚procitnutí‘ [Aufwachen, Erwachen] enthält als Element ‚cit‘ [Gefühl], d. h., man wird sich bei diesem Vorgang seiner Gefühle bewußt [Anm. d. Übers.].
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das Fünkchen, das zur Flamme werden kann (zur Flamme des Lichts, der Wärme, verzückend angenehmer, aber auch peinigender Glut und nachfolgender Vertikale), ist Gončarovs großes Thema. Hier rasen die Männer an der Schwelle der Initiation, die Frauen verbrennen und vergeuden sich, und zwischen beiden befindet sich eine glühende Barriere. In der Trilogie widerspiegelt sich Gončarovs schöpferischer Weg, der am Schluß seinen Sinn als Wallfahrt zur Mutter erhält. Initiation kann nichts anderes sein als die Versöhnung mit der dreieinigen Seele der Erde. Gerade das meint Vera, als sie sich Rajskij verweigert: „Das ist nicht Leidenschaft, nur Eitelkeit und Phantasie!“; gerade mit Körper und Gefühl, jedoch nicht ganzer Seele, versöhnt ist Vera, als sie Volochov für einen Augenblick unterliegt; und gerade nur ihrer Seele nach versöhnt ist sie, als sie Tušin undeutliche Hoffnung macht. Der Körper des russischen Glaubens ruft nach einem Gewaltmenschen, der demütige ist ihm zu farblos. Als würde mit diesen drei Reaktionen die Grundlage aller Konversionen der letzten zwei Jahrhunderte beleuchtet. In welcher Hinsicht? Die Babuška sagt zu Rajskij den Schlüsselsatz: „Du bist nach der Sintflut geboren.“ Sie denkt dabei nicht nur an Rajskij. Nach der Sintflut sind auch Volochov und Tušin geboren (letzten Endes auch Kozlov, auch wenn dieser abseits steht und ihn erst der Verlust der Frau, die er nie hatte, aus der Buchwelt der Antike, in die – allerdings quälend lethargische – Gegenwart herausreißt). Alle sind ihre Enkel. Vera, d. h. der Glaube, gerät so in den Kampf dreier auf sie selbst gerichteter Faszinationen. Alle drei Boten der Welt nach der Sintflut, Volochov, Tušin und Rajskij, brauchen Vera. Volochov braucht sie zur Verehrung der Natürlichkeit und des Triebes, zum Zerstören der Reste der Welt und ihrer Tradition; Tušin zur Verstärkung der Tatkraft in der Arbeit; Rajskij zum künstlerischen Schaffen. Alle drei bedrohen Vera tödlich durch ihr je eigenes „Warum“. Die Welt nach der Sintflut ahnt nicht, daß sie gerade durch dieses unschuldige „Warum“ das Verderben auf sich zieht. Keiner der drei hat ohne Vera ausreichend Kraft, aber dennoch bestehen zwischen ihnen Unterschiede. Als Volochov und Rajskij den Mantel tauschten, paßte er beiden akkurat, Tušin hätte dies nicht passieren können (wie poetisch genau ist das Bild des Sturms, in dem der schmutzige Rajskij unglücklich hinter Tušin – „dem festen und schweren Berg“ – her trippelt, der leicht und sicher Vera im Arm trägt!). Vera bleibt nichts übrig, als mit allen weiblich mitzufühlen und zu kämpfen. Der Blick Christi aus der dunkel gewordenen Ikone in der alten, durch Überschwemmung teilweise zerstörten Kapelle ist dabei in die alte Welt versenkt und es scheint, daß er die Welt nach der Sintflut schon nicht mehr beachtet …
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Der Glaube [= Vera] „bettelt“ bei seinem teilnahmslosen Blick um „Fünkchen“ und erbettelt nichts. Er [Sie] wurde zwar nicht „für alle Zeiten“ aus dem Maß herausgerissen, durch die drei Männer wurde er [sie] jedoch zu einem von der Welt des selbstverständlichen Gottes unabhängiger Wert. Darin wurzelt alle Tragödie von ihm [ihr] und ihnen. Merežkovskij nennt Vera „die Verkörperung der menschlichen Seele“ und ich gestehe, daß ich ihn in diesem Moment überhaupt nicht verstehe. Schließlich verfügt sie gleich Babuška und Marfin’ka über Körper und Seele (wenn auch nicht über die gleichen), warum also ausgerechnet sie? Vielleicht wegen des gelegentlichen durchsichtig grünen Nixenblicks und des katzenhaften Ištar-Lachens? Sind vielleicht das Verlangen und Leiden ihres Körpers nur zweitrangig, kennt sie weder Hitze noch Frost? Schließlich kennt diese sogar Marfin’ka, die auf den ersten Blick so rein wirkt. Nur daß dieser genügt, sich das Gesicht mit „Gurkenwasser“ zu waschen, um wieder ausgeglichen zu sein. Marfin’ka ist stets vollkommen an die Babuška und durch diese an alles menschlich und metaphysisch Wesentliche gebunden. Die Hoffnung kennt keinen Wahnsinn an der Grenze von Sein und Nichtsein, sie existiert einfach oder existiert nicht. „Sie ist ihrer Pflicht, d. h. ihrer Liebe zur Babuška treu und die Pflicht ist ihr keine Last, sondern ihr Glück. Ohne die Babuška hat sie sogar Angst zu leben, selbstverständlich wird sie mit der Zeit, wenn sie Erfahrungen gesammelt hat, auf ihre Weise eine gleiche Babuška sein.“27 Darin liegt wirklich alle Hoffnung. Marfin’ka wird vielleicht, wenn sie einst stärker geworden ist, eine Babuška, Herrin über das anvertraute Land, Beschützerin und Fürsorgerin, ein Zufluchtsort weit geöffneter Arme. Tat’jana Markovna (verweist ihr Vatersname nicht symbolisch gerade auf Mark Volochov, den Verführer Veras?) ist aber mehr als feste Kraft, sie ist Sünderin. Die Passage, die den künstlerischen Höhepunkt des Romans bildet, das Bild der durch die Felder irrenden Babuška, die mit aufgerissenen Augen den Untergang der Welt, die weder Tradition noch Gott kennt, prophezeit, der halbverrückten Babuška, die an ihrer eigenen und Veras Sünde leidet, wird schon etwa zweihundert Seiten zuvor vorweggenommen – die Babuška fühlt das Schicksal ihres Geschlechts und sinkt am Fuße des Kreuzes nieder. Die bisherigen Kritiker und Literaturhistoriker konstatieren einträchtig, daß das opus primum innerhalb des Schaffens Gončarovs Oblomov sei, Obryv las27
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sen sie nur die zweite, häufiger sogar noch die dritte Geige spielen; lassen wir uns aber nicht täuschen: Gončarovs chef d’œuvre ist Obryv. Im Hinblick auf die Bedeutungsvielfalt kann man ihn vielleicht allein mit den Brat’ja Karamazovy vergleichen (auf den ersten Blick scheint es, daß beide Romane im Rahmen des gesamten Schaffens ihrer Autoren eine ähnliche Stellung einnehmen: sie markieren den Aufbruch aus Petersburg in die ‚russischere‘ dörfliche Rus’), allerdings unter Betonung großer Unterschiede. Den Vergleich kann man allerdings nicht so durchführen, wie dies der schon mehrfach zitierte Parolek getan hat. Dieser hat in Gefangenschaft der irrigen These vom unumkehrbaren literarischen Fortschritt den Werken Dostoevskijs das Etikett eines „qualitativ neuen Schritts in der künstlerischen Entwicklung der Menschheit […] seit dem traditionellen Realismus von Balzac und Gončarov“ zugeschrieben.28 Er war nicht der erste, der solch eine Erfindung aus der Feder ließ, trotzdem trifft die irgendwo aus den Stratosphären gefallene Behauptung weder auf Balzac noch auf Gončarov, ja nicht einmal auf Dostoevskij zu. Haben wir Gončarov als Künstler mit russosophischen Ambitionen bezeichnet, empfiehlt es sich, seine Sensibilität mit anderen Russosophen zu vergleichen. Dabei bietet sich der unübersehbare Vertreter des russischen Messianismus, Dostoevskij, naturgemäß als erster an. Das Werk Dostoevskijs hat im Gegensatz zu dem Gončarovs viele widersprüchliche Interpretationen erfahren, es wurde in weit größerem Maße und intensiver erneut durchlebt. Dennoch neidete Dostoevskij selber Gončarov mehr als jedem anderen die Höhe seiner Honorare und die Ruhe zum Schreiben. Er sah in ihm „einen Gentleman mit der Seele eines Beamten, ohne Ideen, mit Augen eines gekochten Fischs, den Gott quasi zum Hohn mit einem bedeutenden Talent ausgestattet hat“.29 Rajskij erschien ihm als bloße Abbildung „eines dutzendfach geschilderten pseudorussischen Wesenszugs“ und „Verleumdung des russischen Charakters“.30 Die getroffene Feststellung, daß sich Gončarovs Figuren an Orten einer geistigen Grenze bewegen, korrespondiert mit Bachtins Charakteristik der „an der Schwelle von Leben und Tod, Lüge und Wahrheit, Verstand und Irrsinn“31 stehenden Akteure der Werke Dostoevskijs. Entdeckten wir innerhalb 28
29 30 31
Parolek, Ragdegast: Doslov. In: Bachtin, Dostoevskij 1971, S. 366. Über die orthodox stalinistische Monographie Parolek, Radegast: F. M. Dostojevskij. Praha 1963 reden wir vielleicht lieber nicht einmal. Dostojevskij, F. M.: Dopisy. Praha 1966, S. 73 (Brief an A. J. Vrangel vom November 1856). Dostojevskij, Dopisy 1966, S. 202f. (Brief an N. N. Strachov vom Februar 1869). Bachtin, Dostoevskij 1971, S. 201.
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der zentralen Helden Gončarovs das kumulierte und melancholische Wiederholen grundlegender Lebensschritte, harmoniert dies mit Boris Bursovs Analyse sogenannter „analoger Szenen“ in den Romanen Dostoevskijs: Die Helden sind gezwungen, zu ein und denselben Gedanken zurückzukehren, sich selbst durch ähnliche Taten zu beglaubigen. […] Dieser Pluralismus im menschlichen Denken und in den Taten war nach Auffassung Dostoevskijs wahre Pein, trotzdem aber auch zuverlässige Rettung.32
Zuverlässige Rettung? An Rettung durch diese Last glaubte Gončarov nicht, er verstand sie nicht als Ideologie. Während er die Verkörperung sehr grundsätzlicher irdischer Konstanten schuf, verbiß sich Dostoevskij, vor allem in seinem ‚nachsibirischen‘ Schaffen, in etwas anderes: seine Figuren und in ihnen auch die Ideen sind radikal verinnerlicht. Abermals mit den treffenden Worten Bursovs ausgedrückt: Shakespeare [und wir ergänzen: auch Gončarov; M. G.] schilderte die Tragödie des Menschen aus Fleisch und Blut. Bei Dostoevskij geht es um die Tragödie des menschlichen Geistes: versunken in die selbsterforschende Analyse, kann er sich nicht mit sich selbst als Teilchen des gesamten Kosmos abfinden.33
Gegenüber der kosmischen Realität ist ihm der Körper eine bloße „Laus“, die das umhüllt, was allein wesentlich ist: das durch die kleinste Berührung (und vor allem Selbstberührung, die sich durch die Laushaftigkeit offenbart) verletzbare Innere. Dostoevskij entwickelt das Drama „великого грешника“ [des großen Sünders], der einsam die scharfe Vertikale der Heiligkeit und des Frevels trägt, als gegebene Neigungen der Seele (die Grenze Aleša–Ivan), und des Überlebenden des Schwerts, oder eher des alten verunreinigten Rasiermessers, allerdings eines verpraßten, versoffenen, befleckten und schließlich beweinten (der alte Karamazov und nach ihm Mit’ja und letzten Endes auch Smerdjakov). Die Karamzovs können wie auch immer lüstern sein, Zosimas heiliger Körper kann zu stinken beginnen – doch Aleša bleibt stets rein. Seine geerbte „жажда жизни“ [Lebensgier] und Zosimas Aufforderungen, sich der Erde zu öffnen, versetzen ihn maximal in merkwürdige ekstatisch-apathische Zustände. Weiter kann er nicht gehen, die reine Seele würde den Ansturm von Sinnlichkeit nicht aushalten. Der Mensch sündigt, eisige
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Bursov, B. I.: Dostojevskij a jeho svět. Praha 1978, S. 360f. Bursov, Dostojevskij 1978, S. 492. Bursov betont Dostoevskijs Verhältnis zum Kosmos und bezeichnet ihn sogar als „Kosmozentristen“ (S. 475).
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Tropfen fließen auf der Beule von Dostoevskijs Stirn zu Strömen zusammen und der Glaube bleibt dank dieses hartnäckigen Bemühens unbefleckt. Gončarov geht weiter und läßt mehr zu als Dostoevskij. Nicht nur die Liebe, sondern der Glaube selbst kennt die Sünde! Er ist dadurch um nichts schlechter, sondern im Gegenteil lebendiger, kerniger. Während es im Obryv um das Drama der dreieinigen Erde geht, wird in den Brat’ja Karamazovy zwar die Erde unter Tränen geküßt, allerdings nur unbewußt, in einer merkwürdigen Ekstase, als die Sinne nicht ihrer Funktion nachkommen und als die Weltlichkeit in die „himmlische“ Welträumlichkeit mündet; also im Sehnen nach dem hinunterschauenden Blick des dreieinigen Gottes, des Logos. Vielleicht wird deshalb in Dostoevskijs Werken so viel gesprochen. Das Herz ergießt sich und kann dabei nie das schicksalshaft und aus Strafe einsame Ich überschreiten.34 Immer von neuem wird das Darinnen durchackert, immer von neuem wird zu den Trieben und der Irrationalität der menschlichen Seele zurückgekehrt. Warum das alles? Weil dem Autor vor dieser ‚Animalität‘ graust und er sich und die Welt davon überzeugen will, daß man sie leugnen kann. Wodurch? Nur durch eines: durch das Wort, das er als grundlegende Konstruktionsidee des Kosmos und des Lebens begreift. Das lange, oft krampfhafte und arg anstrengende aus Worten gewebte ‚Reden‘ und ‚sich Herausreden‘ hallt allerdings im kommunikativen Raum durch die Leere. Einverständnis kommt nur ausnahmsweise, wir befinden uns tief im Kellergeschoß. Am direktesten drückt dies der Held und gleichzeitig ‚Erzähler‘ am Ende des untergründigen Stromes der Erzählung Krotkaja [Die Sanfte] aus: „Die Sonne gibt angeblich der Welt das Leben. Aber sehen Sie sich die Sonne an: ist sie nicht selbst tot, bis sie aufgeht? Alles ist tot und überall sind Leichen. Die Menschen sind allein und überall ringsum Schweigen – das ist die Erde!“ Zu diesen ausweglosesten Worten aus dem gesamten Werk Dostoeskijs müssen allerdings weitere hinzugefügt werden, die aus dem Munde Mit’ja Karamazovs stammen: „Leben ist auch unter der Erde. […] Wenn ich keine Sonne sehe, weiß ich, daß sie existiert. Und zu wissen, daß die Sonne existiert, darin besteht schon das ganze Leben.“ Ivan und Aleša überzeugen sich gegenseitig, daß es nötig sei, das Leben zu lieben. Die Akteure von Dostoevskijs Werken schwören oft hoch und heilig bei den Worten vom „lebendigen Leben“, 34
„Kein Romanautor hat so viele demütigende Beichten, so viele scheue und jähe seelische Revolutionen“ (Hennequin, Émile: Spisovatelé ve Francii zdomácnělí. Studie vědecké kritiky. Praha 1896, S. 151). Ansonsten ist allerdings Hennequins Analyse der Körperhaftigkeit in Dostoevskijs Romanen nicht präzise. Er unterliegt zu sehr der Vision Dostoevskijs als eines grausamen und geilen Asiaten.
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womit sie das unumstößlichste Sehnen Dostoevskijs ausdrücken. In diesem Punkt weiche ich von den ansonsten guten Interpretationen Dostoevskijs und seiner Werke aus den Federn F. X. Šaldas und František Kautmans ab.35 Erliegen wir nur dem, was Dostoevskijs Figuren sagen, gelangen wir jedem Gedanken nur zur Hälfte auf den Grund und treffen dort einen anderen, der zum ersten das Gegenteil bildet und ihn widerlegt (Bachtin würde das „Vielstimmigkeit“ nennen und zum Nachweis von Polyphonie eilen – ich bliebe lieber bei ‚bloßer‘ Vielstimmigkeit …). Šalda und Kautman erlagen der in den Romanen so häufigen Anbetung des „lebendigen Lebens“ und der „Erde“ und haben sich dabei eines nicht ausreichend bewußt gemacht: diese Archetypen werden nur deshalb angebetet, weil beide dem Geist Dostoevskijs fehlen. Dostoevskij war sich hierbei seines Mangels völlig bewußt und nannte ihn verschieden, zum Beispiel auch teuflischen Traum (Ivans Teufel: „Mein Traum ist, sich zu verkörpern.“) oder Lächerlichkeit (Traum eines lächerlichen Menschen): der Selbstmörder schreit verzweifelt, wie er gerade deshalb die Erde und ihren Schmerz liebt, weil er durch den fernen Kosmos fliegt. Seinem Schöpfer ist nicht das gegeben, was allein die Erde und die ‚Diesseitigkeit‘ geben können, nämlich allmähliches Steigen und Fallen, Atem des Erdbodens und der Wege, ohne Schrei und Gesten an etwas zu hängen. Die Gefühle seiner Figuren werden von der alles beherrschenden ‚Konkurrenz‘ zweier magnetischer Felder, von der absoluten Bipolarität von Gut und Böse hin und her geschleudert. „Sie sind bipolar, wie der gesamte moralische Kosmos Dostoevskijs bipolar ist.“36 Abgebrochene Sprünge von Magnet zu Magnet zerschlagen ihre Selbstwahrnehmung. Nicht umsonst zitiert Mit’ja, der am meisten vom Trieb gejagt wird, woraus sich schließen ließe, daß er auch der erdverbundenste Bruder ist, in der „Beichte eines innigen Herzens“ die Verse des kompromißlosen Radikalen des Entweder-Oder, Schillers: „Geilheit war den Insekten gegeben – zu Gott blikken Engel auf.“ Entweder unterirdisches Insekt oder Engel im Himmel (oder jetzt Insekt, aber im nächsten Moment Engel, und umgekehrt), für den irdischen Menschen ist hier kein Platz. Von den Versuchen, den Weg zum „leben-
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„All seine Menschen sind verzweifelt ins Leben verliebt, zunächst ins irdische Leben, ins Leben zunächst im gewöhnlichen Sinn: atmen, essen, trinken, fühlen, ehebrechen, herrschen, sich und andere quälen […]“ (Šalda, František X.: Dílo Dostojevského a jeho položení evropské. In: Šaldův zápisník 3. 1930–1931, S. 333). Ähnlich dazu, in der Argumentation jedoch gründlicher, Kautman, František: Dostojevskij. Věčný problém člověka. Praha 1992, bes. S. 169-194. Šalda, Dílo Dostojevského 1930–1931, S. 331.
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digen Leben“ (das immer nur mit einer Frau verbunden ist) zu finden, bleibt Aleša nur das verzweifelte Mahnen: „du mußt barmherziger sein“. Während Gončarov das Innere lange betastet (einen Damm von Unzulänglichkeit stellten wir auch in seiner Welt fest), um es in Richtung außen zu überschreiten, d. h. zur Frau und erst durch diese zu Gott, schafft Dostoevskij ein inneres und durch das Innere begrenztes Seelendrama, das sich in einem direkten Zug zu Gott erschöpft, einem direkten Zug, mithin einem Zug ohne Vermittler. In dem Höhlendunkel ist es auch nicht anders möglich. Im Kellergeschoß existiert nämlich keine Liebe zum Nächsten. Der Kellergeschoßmensch liebt entweder im Nächsten die Projektion seiner selbst und schließt sich so im Teufelskreis ein oder er verwechselt Liebe mit Mitgefühl. „Ich liebte sie nicht durch Liebe, sondern Mitleid“, sagt Myškin über seine Beziehung zu Nastas’ja Filippovna. Das Mitgefühl wird dann als Liebe christlichen Zuschnitts ausgegeben, für Dostoevskij stellt diese die einzige Alternative zur triebhaften Selbstliebe dar. Schon ihrem Wesen nach nimmt sie Züge allumfassender Offenheit an, verliert an Schärfe und ihre Konturen verschwimmen. Also: entweder kann man im Nächsten sich lieben – und dann existiert nichts außer dem ‚Ich‘, oder man liebt den Nächsten, dann verliert man aber das ‚Ich‘. Einen dritten Weg gibt es nicht. In Dostoevskijs Welt kann man nicht passieren. Wegen lauter ‚Wohin‘ gibt es entweder kein ‚Was‘ oder es gibt keinen ‚Wen‘. „Die Welt Dostoevskijs neigt nicht zum Durchschnitt, im Gegenteil, sie distanziert sich scharf von ihm. Es ist eine Welt sich gegenseitig anziehender Extreme.“37 ‚Durschnitt‘ ist ein Wort, das zum Grinsen geschaffen wurde – doch gibt es ein Extrem, wenn es keinen Durchschnitt gibt? Existieren Propheten, Dichter, Verrückte, wenn es keine Normalen gibt? Kann man zu irgendeinem Ziel pilgern, wenn die Fußsohlen nicht die Erde berühren? Kann man auf der Erde leben, ohne Teil der Welt seiner Vorfahren und Nachfahren zu sein? In der Antwort auf diese Fragen unterscheiden sich Gončarov und Dostoevskij grundlegend. Gončarovs zögerndes, doch durch den Schmerz der Vernunft getrübtes „Nein“ führte Rajskij zurück in die klar abgegrenzte Welt der Babuška und seinen Schöpfer zur Aussöhnung mit der Erde. Dostoevskijs nicht minder schmerzhaftes „Ja, anders ist es unmöglich“ steckte einen der Anfänge des irrigen Stroms der modernen europäischen Literatur ab. In diesem Zusammenhang kann ich nicht einmal mit Černýs Interpretation der Karamazovrosette als Verkörperung der „Menschenfamilie“ überein-
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Bursov, Dostojevskij 1978, S. 457.
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stimmen.38 Es geht hier nicht um die Familie, schließlich muß die Mitte einer Familie die Mutter bilden – und die Trojka der Mütter saust, wie bekannt, nur an dem Buch vorbei. Ihre Glöckchen klingeln zwar in den Momenten, die für den Aufbau des Romans besonders wichtig sind (z. B. hält Dmitrij vom Vatermord ab, daß in ihm eine Vision von den Tränen der Mutter aufblitzt); die ‚Mutter‘ ist so für die Gestalt des Werkes außerordentlich wichtig, allerdings vor allem dadurch, daß sie fehlt. Und damit sind wir wieder bei diesem Schlüsselwort. Je mehr die Mutter dem Vater und den Brüdern fehlt, desto weniger können sie eine Familie bilden. Es geht hier um das von der Frau weit entfernte Innere des Menschen, um die eine in Scherben der einzelnen Figuren zertrümmerte Seele, die sich nicht ihrer selbst entledigen kann und sich deshalb rasend selbst benagt wie eine räudige Hündin. Ihr Bestandteil sind alle Karamazovs (und man ist geneigt zu sagen, alle Menschen, denn gerade hier befindet sich die Grundlage für Dostoevskijs Neigung zur Universalität – alle erreicht die Strafe), nur jeder von ihnen blickt in eine andere Richtung. Sogar der Teufel ist Bestandteil dieser besessen symmetrischen Verbindung der Neigungen vierer Brüder und eines Vaters (gerade darin besteht die Verkörperung der menschlichen Seele, nicht in einem von ihnen allein39), der sich selbst genug ist, der nichts als sich, den Teufel und Gott wahrnimmt und für den die Erde ist, „wo alles beendet ist und alles ohne Spuren zu hinterlassen und ohne Auferstehung stirbt“.40 Auch mit ihrer Natur liegt sie irgendwo hinter dem Wesentlichen …41 Der Mensch ist mehr, er hat ein höheres Gesetz als die Erde, 38
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Černý, Václav: Tvorba a osobnost II. Praha 1993, S. 466. Ljackij, Klasikové 1930, S. 262 spricht ebenfalls von der „Familie“ Karamazov und (obgleich er seine Behauptung unmittelbar danach in Frage stellt, wenn er die Atomisierung der Familie konstatiert) lehnt sich auch über den wirklichen Sinn des Werks hinaus. „Dostoevskij gruppierte die Charaktere der Söhne symmetrisch“ (Horák, Jiří: Z dějin literatur slovanských. Praha 1948, S. 165). Větrinskij, Č. (Hg.): F. M. Dostjoevskij ve vzpomínkách vrstevníků, dopisech a poznámkách. Praha 1924, S. 495 (Brief Dostoevskijs an N. L. Ozmidov vom Februar 1878). „Bei Dostoevskij existiert keine objektive Darstellung des Milieus, der Lebensweise, der Natur, von Dingen, d. h. all dessen, worauf sich der Autor hätte stützen können […]. Der Autor als Träger einer eigenen Idee kommt nicht mit einem einzigen Ding direkt in Berührung, er ist nur mit Menschen in Berührung.“ (Bachtin, Dostoevskij 1971, S. 136). Dagegen ließe sich mit kurzen Ausschnitten aus den Werken, mit Präparaten, in denen hier und da die Schilderung des Umfelds des Helden aufblinkt, argumentieren. Dies führt jedoch zu einer bloßen Collage von Einzelheiten am Rand des Wesentlichen. Diese Ansicht vertrat Tesková, Anna: Dostojevskij a živá příroda. In: Dostojevskij. Sborník statí k padesátému výročí jeho smrti. Praha 1931, S. 42-59, deren Argumentation sich allerdings nur über die Suche nach Tieren erbarmte (vor allem dieser Hunde). Hier führt der Weg entschieden nicht entlang. Besser nimmt sich dieses Problems Tukalevskij, Vladimir: „Na zemi“ nebo „na ne-
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deshalb ist er verpflichtet, ihr sich ständig aufzwingendes tierisches Diktat zu leugnen oder wenigstens zu ignorieren. Das heißt jedoch nicht, daß Dostoevskij nicht fähig gewesen wäre, die Natur wahrzunehmen. Diese neuzeitliche Krankheit, gegen die zu gleicher Zeit mit solchem Widerwillen John Ruskin entflammt war (und der in ihr eine der Hauptquellen für den Niedergang nicht nur der dichterischen und allgemein der menschlichen Vorstellungskraft, der weisen Intelligenz, sondern auch der Liebesfähigkeit sah42), ergriff Dostoevskij nicht mit solcher Intensität wie jene pathologischen Psychologen, die ihm nachfolgten und sich nicht selten direkt auf ihn beriefen (die französischen Existenzialisten oder ein beträchtlicher Teil der amerikanischen Novellistik sind dafür regelrecht Musterbeispiele). Am eindrücklichsten schildert Dostoevskij die Natur vielleicht auf den ersten Seiten der Belye noči [Weiße Nächte]. Allerdings bebt in jeder Zeile Unsicherheit und mehr – tödlicher Schrecken, der durch diese Unsicherheit hervorgerufen worden ist. Er erblickt in der Natur ein kränkliches kleines Mädchen, das für einen Augenblick mit unerwarteter Kraft betäuben kann. Das kurze Aufblitzen dieser Kraft (von der er sich lange überzeugt, daß sie nur eine Täuschung war) peinigt Dostoevskij. Die Vorwürfe des Großinquisitors gegen Christus und seine ‚überirdische‘ Lehre sind aus demselben Grund voller Bitterkeit. Das menschliche Schicksal ist nämlich mit der Erde und dem irdischen Teufel unüberwindbar verbunden. Gerade das stellt Dostoevskijs dunkelsten Alptraum, das Phantom dar, nach dem man immer wieder das in die Romanseiten verschüttete Tintenfaß schleudern muß. Dostoevskij geht es um die russische Idee, die Frucht der von dem kosmischen Bruch schwangeren Zeit. Seine Vision der Geschichte (einer Welt eines bizarren Geflechts erschaffener Figuren und seiner selbst) ist eine chiliastische Vision, die sich im Endeffekt in einem einzigen Gedanken erschöpft, dem Gedanken des Großen Bruchs. Boris Engel’gardt enthüllt in den Figuren von Dostoevskijs Romanen ein Losreißen von der Erde und eine „Besessenheit“ von einer Idee. Aus dieser Besessenheit leitet er die Darstellung platonisierender „lebender Ideen“ ab.43 Das erfaßt es jedoch nicht ganz korrekt. Dostoevskij ist nicht nur Philosoph, auch nicht der im Hinblick auf die Bilder
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besích“? In: Dostojevskij 1931, S. 182-199 an, der dabei von Zosimas Ansprachen ausgeht. Er betont jedoch nicht genug, daß Zosima nach Ächtung seines jugendlichen Übermuts anstelle einer konkreten Erde eher ihre Idee wahrnimmt (er quält sich damit und hält deshalb Aleša, seinen Nachfolger, zur ganzheitlichen Selbstöffnung hinter Klostermauern an). Ruskin, John: Sensibility to external nature. In: Sinclair, W. (Hg.), Selections from the writings. Edinburgh 1907, S. 504-509. Engel’gardt, B. M.: Ideologičeskij roman Dostoevskogo. In: F. M. Dostoevskij. Stat’i i materialy II. M./L. 1924, S. 90-93.
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fähigste (wie Platon), etwas Grundsätzliches bleibt jedoch bestehen: wieder das Kellergeschoß, wieder die Höhle. Dostoevskij blieben zwei einzige Wege zur Erde: der Weg der Ideologien (also durch ein abgeschlossenes und deshalb lebloses System – s. počvenničestvo [Bodenständigkeit]) oder des ekstatischen Veitstanzes (in seinen Romanen alles rasende Küssen der Erde, aber auch in die Ohren Beißen und an den Nasen Ziehen). Wieder Sprünge zwischen den Magneten, wieder Entweder-Oder: entweder Geschlossenheit in der Theorie oder volle Offenheit, die zum Selbstzerfall oder zur Selbstauflösung führt. Die Russische Erde ist für Dostoevskij nur durch ihre Frucht, die Idee des Paradieses wichtig, die er in ihrem Kellergeschoß übermittelt. Deshalb droht so sehr Gefahr, daß aus der Dunkelheit anstelle von Heil Verderben wuchert. In dem tobenden Erwarten der kosmischen Geburt schlägt er die alte Mutter Rus’ mit der Peitsche (den halbverrückten gedanklichen Kurzschlüssen zufolge ist gerade sie schuldig), beschwört aus ihrem Schoß rasend das herauf, was er fürchtet und auf was er gleichzeitig allein hofft. Unmittelbar darauf zeigt er Reue und schlägt sich nach Vorbild der mittelalterlichen Flagellanten über die empfindlichsten Stellen der eigenen Seele, allerdings fürchte ich, nicht wegen der Schmerzen der Frau, die er verletzt hat. Er peinigt sich aus eigener Wollust an der Buße. Auch in ihr ist er jedoch eingeschlossen. Seien wir jedoch gerecht: Dostoevskij kennt außer Selbstbespiegelung auch Erbarmen. Und gerade die Macht des Erbarmens (z. B. die vielfach akzentuierte Betonung des Leidens von Kindern) glüht den Stahlreifen, der seine Einsamkeit umschließt, zum Menschlichen. Wenn wir uns nicht im Osten befänden, würde ich sagen, während Dostoevskijs geistige Geburt aus dem reinen lutherisch-calvinistischen Feuer erfolgte, geht die Gončarovs auf das marianisch-annische Rom zurück. Aber wir sind im Osten und so hinkt der Vergleich. Ich höre den Einwand, daß wir hier über die Trennung Dostoevskijs von der Erde und der Frau sprechen und dabei in seinen Romanen ständig vor den Frauen niedergefallen wird und ihre Füße geküßt werden (Kautman nennt dies sogar „Fetischismus des Fußes“). Raskol’nikov wurde durch Son’ja zum Wort Gottes geführt und die Brat’ja Karamazovy sind auch ein Roman über die Umkehr Grušenkas (ihre Rivalin Katerina Ivanovna ist eine in mehrfacher Hinsicht rätselhafte Figur – man kann vielleicht mutmaßen, daß sie in dem Teil des Romans, der letztendlich nicht geschrieben worden ist, eine wesentliche Rolle spielen sollte). Der Idiot ist unter anderem auch ein Drama über die Erschütterung der Schönheit Nastas’ja Filippovnas. Wichtige weibliche Figuren gibt es bei Dostoevskij mehr als genug. Unter ihnen befindet sich aber
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keine, die in sich die Größe einer Madonna44 tragen würde, vielleicht mit Ausnahme Sof’ja Dolgorukovas im Podrostok [Der Jüngling] (was der Roman ist, der auch in anderen Merkmalen der Poetik Gončarovs am nächsten kommt). Der Archetyp der Dirne (welche von Dostoevskijs weiblichen Hauptfiguren ist nicht zumindest zum Teil Dirne?) ist der schroffe Gegensatz zur Mutter. Die Dirne kann führen und hinausführen, sie kann streicheln, sie kann herrschen, sie kann sich auch opfern – darin sind sich Dirne und Mutter verwandt, die Dirne kann sich aber nie in ihrer Ganzheit hingeben. Die Unfähigkeit, die ganze Gabe zu geben, hat ihre Wurzel in der Doppelheit des Dirnencharakters. Es ist offensichtlich, daß Dostoevskij den vergewaltigten Körper strikt von der reinen Seele trennt. Alle, von Aleša Karamazov bis hin zu seinem Vater Fedor, quälen sich durch ihre Beziehung zu einer Frau oder zu Frauen (die Gründe lassen wir hier beiseite) und aus dieser Qual führt kein Weg hinaus. Für Mitja wurde Grušenka zum einzigen Lebensziel, daher nennt er sie „durchtriebenes Luder“ und unmittelbar danach „Königin der Königinnen“. Das Ziel, das Dostoevskijs Helden zu erreichen suchen und das sich ihnen in den entscheidenden Augenblicken in einen spukhaften Wirbel von Lockpfeifen verwandelt, ist die weibliche Schönheit. Die Schönheit blendet alle und nimmt ihnen den Willen, sie ordnet sich das Umfeld unter. Die Schönheit verführt die menschliche Seele, beherrscht sie und spaltet sie mittels des Verstandes. Im Gegensatz dazu festigen Glaube, Hoffnung und Liebe die Seele. Die Schönheit ist eine Idee, so wie Raskol’nikovs Folgerungen Ideen sind. Glaube, Hoffnung und Liebe sind Kräfte, eigentlich eine Kraft (man kann sie nämlich nicht trennen). Oblomovs Fieber nach Ol’ga nähert sich analogen Situationen bei Dostoevskij, jedoch quasi in entgegengesetzter Richtung: er sehnt sich nach Kraft und erhält reine Ideen. Erinnern wir uns noch einmal an die Worte, die Vera zu Rajskij sagt, mit denen sie ihm vorwirft, daß er nicht mit Leidenschaft, sondern mit Eitelkeit und Phantasie liebe, und nehmen den Gegensatz zwischen Kraft auf der einen und Idee und Bild auf der anderen Seite wahr. In Rajskijs Wandel von jemandem, der dem Bild und der Idee dient (seine sog. ‚künstlerischen‘ Ambitionen), zu jemandem, der die irdischen Kräfte annimmt, besteht ein Hauptgedanke des Obryv. Dostoevskij blieb bisher bei den Worten Mit’jas: 44
Vgl. Kautman, Dostoevskij 1992, S. 66-154. Der Kampf des „Ideals Sodoms“ mit dem „Ideal der Madonna“ gehört gemeinsam mit der Abgrenzung von „Liebe–Haß“ und „Liebe– Mitgefühl“ zu den am besten ausgearbeiteten Thesen des Buchs. Von vielen Überlegungen auf diesen Seiten bin auch ich ausgegangen.
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Die Schönheit ist eine schreckliche und entsetzliche Sache! Schrecklich, weil sie nicht definierbar ist und nicht definierbar ist sie, weil uns Gott lauter Rätsel aufgegeben hat. Die Ufer laufen hier zusammen, alle Widersprüche leben hier nebeneinander.
Die Ufer laufen zusammen, aufgelöste Gegensätze verschmelzen, das Phantasieren über das Paradies auf Erden beginnt. Dostoevskijs Vision von der Erlösung besteht in der völligen Unterordnung der Kraft unter die Idee. Im Gegensatz dazu zeugt das Ende von Gončarovs Obryv von genau dem Gegenteil. Einen der verheerendsten Gedanken, für die sich der Mensch jemals begeisterte, stellt Erlösung durch eine herauspräparierte Idee dar, selbst wenn es sich um die Schönheit aller Schönheiten handeln sollte. Gončarov unterlag diesem Erlösungs-Gedanken nicht vollkommen, er ist, auch wenn das nach der Lektüre des vereinsamten zweiten Teils der Trilogie nicht so scheint, durch Glaube, Hoffnung und Liebe breit der Erde geöffnet – im Unterschied zu Dostoevskij, der nur in das offenbarte Wort und die Lockpfeifen der inneren Schönheit versenkt ist. Gončarovs Obyknovennaja istorija wirkt gegenüber den beiden weiteren Romanen nur wie eine Skizze. Sie ist zwar abgerundet, formal bis ins Detail durchgearbeitet, dennoch lockert sie die kleinen Wellen auf dem See bei Aleksandrs Geburtshaus in Grači, die glänzende Oberfläche des unbeweglichen Flusses, der im Blickfeld des blauen Kleides von Naden’ka „nur manchmal aus dem Traum heraus plätschert“, oder jenen seichten Bach, an den man schon nur noch angeln geht, nur leicht auf. Man könnte eine Analogie zu Dostoevskijs Arbeiten vor seiner Zeit in Sibirien herstellen, besonders aufdringlich entsteht die Assoziation zu Varen’kas Erinnerung an ihre Kindheit in der Nachbarschaft einer unbeweglichen Oberfläche eines Sees (Bednye ljudi [Arme Leute]). Die Faszination für das Element Wasser ist jedoch für Gončarovs Prosa wesentlich merkmalhafter (welch wichtige Rolle spielt in allen drei Romanen der Raum ‚am anderen Ufer‘!), außerdem trägt jeder Teil der Trilogie das Wasserelement in seinem Wappen. Während es sich in der Obyknovennaja istorija nur um anonymes stehendes Wasser handelt, ist dies in den beiden weiteren Teilen anders. Oblomov ist ein Neva-Roman.45 Dieser Fluß existiert, um sich dem Meer zu unterwerfen. Von Zeit zu Zeit rauft er mit dem Meer und zwar in voller Län45
Als Fluß-Romane wurden später vor allem die umfangreichen Familien- oder Generationensagas, seien sie nun französischer, deutscher oder russischer Provenienz, bezeichnet (J. Romains, R. Rolland, R. Martin du Gard, T. Mann, M. Gor’kij). Der Vergleich der russischen ‚Romane persönlicher Schicksale‘ mit einem Fluß, allerdings ohne konkrete Spezifi-
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ge: von der Quelle an, das heißt von dem einen Meer, das wohl nur aus Versehen als Ladogasee bezeichnet wird, bis zur Mündung, das heißt bis zum zweiten, unstreitigen Meer. Er pflegt in lange Unbeweglichkeit zu verfallen, unter dem Eis scheint er gar nicht zu existieren, und schafft doch Abgründe zwischen den Menschen und in den Menschen. Er konzertiert dabei auf den vermoderten Knochen der Petersburger Toten. Die Neva ist kein Fluß im wahren Sinn des Wortes, sondern eigentlich nur ein breites Delta mit vielen Läufen, die einen Sumpf bilden, auf dem die feste und regelmäßige Stadt voller verschiedenartiger kleiner Inseln schwankt. Oblomov ist ein Geißler- und ausweglos geschlossener Roman, vielleicht handelt es sich um das hoffnungsloseste Buch der klassischen russischen Literatur überhaupt (schließlich finden wir die einzige Offenheit, die sich nach Willen des Autors nicht als trügerisch erweist, in Štol’c und diese ist zum Schlechten). Dadurch ist der mittlere Teil der Trilogie Dostoevskijs unterirdischen Flüssen am nächsten. Obryv ist hingegen ein Volga-Roman. Lang und ruhig durchfließt die Volga die russische Ebene unweit der Schlucht, die sie selbst ausgehöhlt hat, ihre ‚Breite‘ kennt rasche Läufe, Wirbel, verräterische Stillen, kennt es, von den Ufern aus zu überschwemmen, alles fortzureißen, was im Weg ist, aber auch langsam Sedimente anzuhäufen und die kleinen Inseln unaufgeregt zu umspülen. Sie unterliegt nicht ihrer Mündung, nur ihrer Vorbestimmung und ihrer eigenen, oft eigensinnig kapriziösen, Weiblichkeit. Rajskij vergleicht an mehreren Stellen seinen künftigen Roman mit einem allumfassenden Ozean. Das sind Stellen der Versuchung. Ein Ozean ist möglicherweise im Einklang mit dem kalten Kosmos anzuführen, nicht jedoch mit der Erde. Die Meeresversuchung ist eine List der falschen Frau – eine Versuchung durch städtischen Alltag, Resignation und Selbstverliebtheit. Der Fluß ist die Ader der Erde, ohne ihn kann man nicht leben. Im Gegensatz dazu kann man auf dem Meer in der Unabsehbarkeit von unzähligen Ufern nur überleben oder ertrinken. Über Wellen zu gehen, ist dem Menschen nicht gegeben. Der zunehmenden Bedeutung der semantischen Funktion des Flusses entspricht deshalb in jedem Teil der Trilogie auch die Steigerung der Durchbruchsbreite zu dem, was Gončarov als Rettung der russischen Seele erschien, als Kraft, nicht den Verlockungen zu unterliegen. Dies reicht von einzelnen genauen Skizzen der weiblichen Charaktere in der Obyknovennaja istorija über die bitter vollzierung, kann man in dem Buch von Verdeevskaja, Russkij roman 1980, S. 55 finden: „Er ist einem großen Fluß ähnlich. Seine Bewegung von der Quelle bis zur Mündung ist keineswegs gerade und linear, sie ist aber unumkehrbar. Sie wird durch die Landschaft bestimmt, durch deren Hindernisse, äußere Gründe. Zurückfließen kann er nicht.“
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blütigen Porträts der erhabenen Ol’ga, die sich selbst durch ihren Verzicht auf Liebe verleugnet, und der unerhabenen Agaf’ja, die in der alltäglichen Liebe ertrunken ist, in Oblomov bis hin zur heiligen Dreifaltigkeit des russischen Landes im Obryv. Aduev stellt Gončarovs Autobiographie hinsichtlich der Enttäuschung, Oblomov seine Autobiographie hinsichtlich der Bitterkeit dar und die ursprüngliche Intention Rajskijs war eine Autobiographie an der Grenze zur Ironie (keiner leichten, humorvollen Ironie, sondern – mit den Worten von Čapeks hinkendem Pilger gesprochen – einer schwermütigen Ironie). Die Absicht blieb zum Glück nur Absicht und entglitt dem Autor (wahrscheinlich verweist gerade darauf das Zittern in den persönlichen Briefen). Aus dem Vorhaben, das allzu Menschliche zu erforschen, entstand ein Weg, dessen Beginn als auch Ziel am Rande des Mythos angesiedelt sind: ein einziger Punkt auf der Leinwand des Textes krönte seine tausend Seiten und gab ihnen Gestalt. Wahrscheinlich geriet auch der Autor selbst darüber in Staunen, daß dieser Punkt etwas zu bescheinen hat, aber damit begeben wir uns schon in zu mystische Gefilde. In diesem Jahrhundert haben wir uns angewöhnt, ein Gleichheitszeichen zwischen Resignation (angesichts des Glaubens, der Hoffnung, Liebe, Erde und Gottes) und Wahrheit zu setzen. Je grausamer ein Werk sich selbst, seinen Autor und alle ringsherum durch eine Handvoll längst erkalteten Schlamms geißelt, um so leichter, paradoxerweise leichter, wird ihm unter den Konsumenten beigepflichtet. Engel fürchten wir fieberhaft, mit Teufeln geben wir weltmännisch an – vielleicht deshalb, weil wir nicht einmal an sie glauben. Gončarov durchlief Oblomov wie einen Feuerofen. Für Hohn ‚angeberischen‘ Zuschnitts hatte er nichts übrig, weil er mehr wollte. Er wollte mehr und fand so zur Demut. Das Ende des Obryv ist eindeutig. Gott ohne konkrete und säkulare Macht, ohne die heiß trübe Erde, gibt es nicht. Nehmen wir zur Kenntnis, wie nah es dieses Wort zu weichem Sekret und zu festem Metall hat (Demut handelt schließlich vom gleichen).46 Die Flut des Verderbens ist für dieses Mal gebannt. (Aus dem Tschechischen von Anne Hultsch) Dieser Essay erschien 1996 im tschechischen Original in der Zeitschrift Souvislosti.
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Es geht hier um die Wurzel, durch die die semantisch vermeintlich gegensätzlichen tschechischen Worte ‚kal‘ [Bodensatz, Schlamm, Schlick] und ‚kalit‘ [härten (Stahl, Glas)] miteinander verbunden sind [Anm. d. Übers.].
Yvonne Pörzgen Willensfreiheit versus Oblomovščina 1. Deutungshoheit im Diskurs Die Frage nach der menschlichen Willensfreiheit ist ein altes Thema, das in der Philosophie seit Jahrhunderten behandelt wird. Der persische Philosoph Jalallu’din Rumi erklärte im 12. Jahrhundert, Vertreter von Notwendigkeit oder Willensfreiheit würden bis in alle Ewigkeit miteinander diskutieren.1 Getan haben dies u. a. René Descartes (1596–1650), John Locke (1632–1704) und Arthur Schopenhauer (1788–1860) – und sind doch auf keine einheitliche Antwort gekommen. Die Frage nach der Willensfreiheit ist auch ein aktuelles Thema, das kontrovers diskutiert wird.2 Den Anstoß lieferten die Experimente des Neurobiologen Benjamin Libet.3 Er wies den Anstieg neuronaler Aktivität vor dem Zeitpunkt nach, zu dem sich eine Versuchsperson für eine Bewegung mit einem Finger der rechten oder der linken Hand entschied. Neurowissenschaftler beanspruchten die Deutungshoheit für ehemals den sog. Geisteswissenschaften vorbehaltene Fragen. Es entspann sich ein interdisziplinärer Diskurs, aus dem neue Interdisziplinen hervorgingen wie Neurophilosophie und Neurotheologie. In der Folge machten vor allem diejenigen Biologen und Philosophen von 1
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Mit dem Verweis auf Rumi leitet der US-amerikanische Philosoph Robert Kane eine seiner Übersichtsstudien zur Willensfreiheit ein und nennt gleich im Anschluß John Miltons Paradise Lost, um nicht nur die lange Dauer, sondern auch die kulturell und geographisch umfassende Bedeutung des Themas herauszustellen (vgl. Kane, Robert: A Contemporary Introduction to Free Will. New York 2005, S. 1). Das Thema wird immer wieder für abgeschlossen erklärt, beispielsweise 1930 vom Physiker und Philosophen Moritz Schlick, der beklagte, David Hume habe die Frage nach der menschlichen Willensfreiheit endgültig beantwortet, aber trotzdem werde noch immer Papier und Druckerschwärze auf weitere Lösungsversuche verschwendet, was einem Skandal gleichkäme (vgl. Schlick, Moritz: Fragen der Ethik. Frankfurt am Main 1984, S. 133). Libet, Benjamin/Gleason, Curtis A./Wright, Elwood W./Pearl, Dennis K.: Time of Conscious Intention to act in Relation to Onset of Cerebral Activity (Readiness-Potential). The Unconscious Initiation of a freely Voluntary Act. In: Brain 106 (1983), S. 623-642. Zur Interpretation der Ergebnisse von Libet et al. im Zusammenhang mit der deterministischen Philosophie Schopenhauers siehe Hampel, Andrea: Die Bedeutung der Philosophie Schopenhauers im Lichte der modernen Gehirnforschung. In: Schopenhauer-Jahrbuch 86 (2004), S. 231-251.
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sich reden, die medienwirksam deterministische Positionen vertraten, also die Existenz eines freien Willens ablehnten. Ivan A. Gončarovs (1812–1891) Darstellungen von Gesellschaft und Individuen werden häufig als deterministisch oder sozialdeterministisch bezeichnet. Dieser Beitrag hat zum Ziel, Gončarovs Determinismus in den Willensfreiheitsdiskurs einzuordnen und zu den Determinismuskonzeptionen von Schopenhauer, Taine und Searle/Roth in Bezug zu setzen. Der französische Historiker Hippolyte Taine (1828–1893) ist der Stichwortgeber für den Milieudeterminismus und somit für die Untersuchung von Gončarovs sozialdeterministischer Tendenz die logische Wahl. Philosophischer Hauptvertreter des Determinismus im 19. Jahrhundert war Arthur Schopenhauer. Seine Willensphilosophie ist in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts auf große Resonanz gestoßen. Eine genetische Verwandtschaft von Schopenhauers und Gončarovs Schriften konnte zwar bislang nicht nachgewiesen werden, typologische Ähnlichkeiten aber durchaus.4 Der Aspekt der Willensfreiheit bzw. des Determinismus ist dabei noch nicht ausgelotet worden. Der Neurophilosoph John R. Searle und der Neurobiologe Gerhard Roth greifen Schopenhauers Argumentation auf und aktualisieren sie für die gegenwärtige Debatte. Die Argumentation der (Neuro-)Philosophie wird als Anstoß verstanden, um Gončarovs Darstellung der Willensbildung in den Fokus zu rücken. Das Ziel ist es nicht, Gončarov einer der Hauptschulen der Willensfreiheit zuzuordnen. Vielmehr soll die Kontextualisierung von Oblomov und Obryv in den Willensfreiheitsdiskurs aufzeigen, welche literarischen Mittel der Figurengestaltung, Handlungsführung und Erzählperspektive dem Schriftsteller Gončarov zur Verfügung stehen, um die Vielfalt der Erscheinungen von Willensentscheidungen darzustellen und dabei Phänomene aufzuzeigen, die in den Systemen der (Neuro-)Philosophie nicht oder kaum berücksichtigt werden. Die Literatur wird dabei als Medium verstanden, welches Spielraum für das Experimentelle bietet, während die Philosophie den grundlegenden Entwurf des Menschen zu deuten anstrebt. In der Analyse wird eine konzeptionelle Nähe zu Hippolyte Taines und Arthur Schopenhauers Determinismusvorstellungen aufgezeigt. 4
Besonders überzeugend arbeitet Galina Time Schopenhauers Definition des unveränderlichen menschlichen Charakters heraus: Time, Galina A.: Oblomov i Lavreckij: „russkaja ideja“ ili nemeckaja filosofija? In: Thiergen, Peter (Hg.), Ivan A. Gončarov. Leben, Werk und Wirkung. Köln/Weimar/Wien 1994, S. 389-398. Zu Schopenhauer und Gončarov siehe auch u. a. Setchkarev, Vsevolod: Ivan Goncharov. His Life and his Works. Würzburg 1974, S. 151. Baer, Joachim T.: Arthur Schopenhauer und die russische Literatur des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. München 1980, S. 19.
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Untersucht werden die Romane Oblomov (1859) und Obryv (1869). Oblomov präsentiert „ein Dilemma oder eine Unentschiedenheit, die so unheimlich, wenn nicht gar ungeheuerlich ist, daß sie bis heute und über den heutigen Tag hinaus die Moderne heimsuchen wird“, konstatiert der Germanist Leonhard Fuest.5 An der Figur Oblomov lassen sich die Fragen nach Tun, Entscheiden und Wollen durchexerzieren. Es stellt sich heraus, daß Gončarov eine weitere Ebene einzieht: das Wollen-Wollen. Es ist der Entscheidung und letztlichen Handlung vorgelagert. In der Analyse von Obryv liegt der Schwerpunkt auf der Willensgenese. Diese Fokussierung erlaubt es, Rajskij und Vera als Figuren herauszuarbeiten, die unterschiedlichen Vorstellungen von Determinierung und Freiheit angehören.
2. Was ist Willensfreiheit? Willensfreiheit lässt sich in zwei Komponenten einteilen: Entscheidungsfreiheit und die Freiheit, die Entscheidung umzusetzen. Diese Unterscheidung nimmt u. a. Schopenhauer vor,6 sie wird in einschlägigen Studien in der Regel übernommen. Bezüglich der Freiheit dieser Entscheidung haben sich in der Philosophie drei Grundpositionen herausgebildet, die von der Neurophilosophie erörtert und mit neuen Argumenten fortgeschrieben werden. Wie der Mensch sich entscheidet, wird von Vertretern des Indeterminismus als dessen freier Wahl unterstellt gesehen. Typischerweise sind es christliche Kirchenlehrer wie Thomas von Aquin, die den Menschen als einzig ausschlaggebend in Willensbildung und Willensakten sehen. Mit den Prinzipien der Kausalität, dem Primat von Ursache und Wirkung, bzw. der Gesetzmäßigkeit von Prozessen argumentieren Vertreter des Determinismus wie Arthur Schopenhauer und Hippolyte Taine, wie weiter unten ausführlicher behandelt wird. Die Vereinbarkeit von Freiheit und Determination ist die Position des Kompatibilismus. Beispielsweise argumentiert John Locke, die menschliche
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Fuest, Leonhard: Poetik des Nicht(s)tuns. Verweigerungsstrategien in der Literatur seit 1800. Paderborn 2008, S. 180. Sie findet sich in Grundzügen u. a. bei Thomas Reid (1788) (Reid, Thomas: Essays on the Active Powers of the Human Mind. An Inquiry into the Human Mind on the Pinciples of Common Sense. London 1843, darin v. a. Essay IV. On the Liberty of Moral Agents).
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Willensfreiheit sei gegeben, wenn rationales Überlegen als determinierender Faktor die Willensbildung begleite und zu einer vernunftbestimmten Entscheidung führe.7
3. Determinismus 3.1 Determinismus in der Gončarov-Interpretation In Arbeiten zu den Schriften Gončarovs ist nicht selten von Determinismus die Rede, doch verbleibt die Analyse in der Regel auf der Ebene der Literaturgeschichte und Epochencharakteristik. Selten wird darauf eingegangen, wie das Konzept des Determinismus bei Gončarov aussieht. D. S. Mirsky bezeichnet in A History of Russian History from Its Beginnings to 1900 Oblomovs Ende als “inevitable doom” und “irrevertible action of the slime sucking him in”. Das Imperfektive, die Konzentration auf den prozeßhaften Ablauf von Handlung, sieht er als Charakteristikum russischer realistischer Literatur überhaupt. “But nowhere is it so all-prevailing and so justified as in Oblómov, for here the evolutionary determinism of the manner (which is in fact the negation of the efficacy of human will) is in complete harmony with the indolent and impotent determinism of the hero.”8 T. A. Malygina sieht in Gončarovs Ablehnung des Positivismus den Beleg, daß er das Prinzip der Willensfreiheit unterstütze: Богом в человеке изначально заложено сознание того, что хорошо, а что плохо, что является добром, а что злом. Соответственно, по мнению Гончарова, человек свободен в своем выборе, и, по какому пути он пойдет, зависит от него, от его внутренней силы и воли.9 Gott hat dem Menschen von Anfang an das Bewußtsein dafür gegeben, was das Gute und was das Böse ist. Entsprechend ist nach Gončarovs Auffassung der Mensch frei in seiner Wahl, und welchen Weg er einschlägt, hängt von ihm ab, von seiner inneren Kraft und seinem Willen.10
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Locke, John: An Essay Concerning Human Understanding. Oxford 1975, Book 2, Chapter XXI. Mirsky, D. S.: A History of Russian Literature from Its Beginnings to 1900. New York 1926, Reprint 1999, S. 192 bzw. 193. Malygina, T. V.: Ėvoljucija „ideal’nosti“ u Gončarova. In: Ždanova, M. B./Lobkareva, A. V./ Smirnova, I. V. (Hgg.), Materialy Meždunarodnoj konferencii, posvjaščennoj 190-letiju so dnja roždenija I. A. Gončarova. Ul’janovsk 2003, S. 218-225, hier: S. 223. Übersetzung der Verfasserin, Y. P.
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Malygina ordnet diese Aussage aber nicht theoretisch ein und verknüpft sie nicht mit den Prozessen der Willensbildung in Gončarovs Werken, so daß es sich eher um eine Forderung als eine belegte These handelt. Intensiver setzt sich N. V. Borzenkova11 mit der Bedingtheit des menschlichen Willens bei Gončarov auseinander. Sie erkennt eine Entwicklung vom Verhältnis Mensch-Gesellschaft in Obyknovennaja istorija und Oblomov hin zur Individualpsychologie in Obryv. In den ersten beiden Romanen konzentriere sich Gončarov auf die gegenseitige Einwirkung von Charakter und Milieu. Das Wesen eines Menschen zeige er durch die Wiedergabe von dessen Geschichte auf.12 In Obyknovennaja istorija sieht Borzenkova Sozialdeterminismus am Werk. Die unterschiedliche Wirkung der gesellschaftlichen Konventionen auf Onkel und Neffe Aduev erkläre sich durch ihre unterschiedlichen Naturen. In Oblomov erkennt Borzenkova den Willen als Hauptgegenstand, Oblomovs Wille sei nicht frei, da Oblomov nicht fähig sei, aktiven Willen zu entwickeln. Der Wille anderer Personen und die äußeren Umstände bedingten Oblomovs Willen. Erziehung und Milieu seien an der Willenslosigkeit Oblomovs schuld, aber auch Oblomov selbst.13 In diesem Zusammenhang sieht Borzenkova die Funktion der biographischen Exkurse, in denen die Formung des jeweiligen Charakters nachvollzogen wird. In Obryv, so Borzenkova, wird die Wirkung der äußeren Umstände von derjenigen des Bewußtseins verdrängt. Dabei stünden irrationale Entscheidungen und Handlungen aus Leidenschaft im Vordergrund. Entsprechend konzentriere Gončarov sich in den biographischen Exkursen, z. B. zu Rajskij, nicht auf den Einfluß äußerer Umstände, sondern auf die Innenwelt des Helden und seine naturgegebenen Eigenschaften.14 Borzenkovas Ausführungen zur Charakterausformung bilden einen guten Ausgangspunkt, um den auch von ihr nur einmal genannten Begriff Determinismus aus soziologischer und (neuro-)philosophischer Perspektive zu schärfen und anschließend auf die Romananalyse anzuwenden.
11
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Borzenkova, N. V.: Ėvoljucija psichologičeskoj manery I. A. Gončarova-romanista. In: Ždanova et al. (Hgg.), Materialy 2003, S. 208-217. Vgl. Borzenkova, Ėvoljucija 2003, S. 209. Vgl. Borzenkova, Ėvoljucija 2003, S. 212. Vgl. Borzenkova, Ėvoljucija 2003, S. 215.
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3.2 Determinismus soziologisch: Hippolyte Taine Was Borzenkova als Sozialdeterminismus bezeichnet, ist ein Konzept, das der Historiker, Soziologe und Literaturwissenschaftler Hippolyte Taine (1828– 1893) im Vorwort zu seiner Histoire de la littérature anglaise (1864) entwirft. Die Aufgabe der Geschichtsschreibung müsse es sein, den Menschen hinter den Ereignissen und überlieferten Artefakten zu suchen und die physischen und moralischen Ursachen für seine Gefühle zu erforschen, denn: il y en a [des causes] pour l'ambition, pour le courage, pour la véracité, comme pour la digestion, pour le mouvement musculaire, pour la chaleur animale. Le vice et la vertu sont des produits comme le vitriol et le sucre, et toute donnée complexe naît de la rencontre d'autres données plus simples dont elle dépend.15 Dem Ehrgeiz, dem Muth oder der Wahrheitsliebe liegen ebenso gut Ursachen zu Grunde, wie z. B. der Verdauung, der Muskelbewegung oder der thierischen Wärme. Laster und Tugenden sind nicht minder Produkte, wie Vitriol oder Zucker, und jede zusammengesetzte Erscheinung entsteht aus dem Zusammentreffen anderer, einfacherer Erscheinungen, von denen sie abhängt.16
Taine sieht den Menschen bzw. bestimmte Gruppen von Menschen ebenso als Produkt: De même qu’en minéralogie les cristaux, si divers qu’ils soient, dérivent de quelques formes corporelles simples, de même, en histoire, les civilisations, si diverses qu’elles soient, dérivent de quelques formes spirituelles simples. Les uns s’expliquent par un élément géométrique primitif, comme les autres par un élément psychologique primitif.17 Ebenso wie sich in der Mineralogie die Krystalle, so verschieden sie auch seien, von einigen einfachen physikalischen Formen ableiten lassen, lassen sich in der Geschichte die Civilisationen, so verschieden sie auch seien, von einigen einfachen geistigen Formen ableiten. Werden jene durch ein primitives geometrisches Element erläutert, so finden diese ihre Erklärung durch ein primitives psychologisches Element.18
Ausschlaggebend für die kollektive Ausprägung sind laut Taine drei Faktoren: 1. Die Rasse (angeborene, erbliche Anlagen). Die angelegten Eigenschaften werden aber von den Lebensumständen bedingt. Deren Effekt sei umso stärker, je häufiger sie wirkten. Der 2. Faktor ist die Sphäre (Natur und Mitmenschen). Als 3. Größe muß der Zeitpunkt berücksichtigt werden. Rasse, Sphäre 15 16
17 18
Taine, Hippolyte: Histoire de la littérature anglaise. Paris 21866, S. XV. Taine, Hippolyte: Geschichte der englischen Literatur. Band 1: Die Anfänge und die Renaissance-Zeit der englischen Literatur. Bearbeitet und mit Anmerkungen versehen von Leopold Katscher. Leipzig 1878, S. 10. Taine, Histoire 1866, S. XVIII. Taine, Geschichte 1878, S. 12.
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und Zeitpunkt prägen die Nation, wie Erziehung, Laufbahn, Lebensumstände und Aufenthaltsort das Individuum prägen. Beiden Größen, Nation und Individuum, ist gemein, daß sie von äußeren Kräften geformt werden.
3.3 Determinismus philosophisch: Schopenhauer Während Taine die determinierenden Aspekte auflistet, analysiert Arthur Schopenhauer deren Wirkmechanismen. Als einen der Kernbegriffe seiner Philosophie hat Schopenhauer den Willen in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung19 entwickelt. Das Teilproblem der Willensfreiheit untersucht er fokussiert in der Preisschrift für die Königlich Norwegische Societät der Wissenschaften zu Drontheim und beantwortet die Preisfrage „Läßt die Freiheit des menschlichen Willens sich aus dem Selbstbewußtseyn beweisen“20 abschlägig. Zur Begriffsbestimmung erklärt Schopenhauer, die physische Freiheit sei die Möglichkeit, willkürlich zu handeln. Das Handeln aus einem eigenen Willen heraus werde als frei gesehen, wobei unberücksichtigt bleibe, wie der Wille selbst zustande komme. Moralische Freiheit ist nach Schopenhauer die Abwesenheit von Notwendigkeit. Der freie Wille würde sich dann äußern, indem nicht Ursachen, also zureichende Gründe, einen Willensakt bestimmten. Daraus wiederum folge, „daß einem damit begabten menschlichen Individuo, unter gegebenen, ganz individuell und durchgängig bestimmten äußern Umständen, zwei einander diametral entgegengesetzte Handlungen gleich möglich sind.“21 Der Wille sei aber das Wesen des Menschen, etwas anderes zu wollen hieße für ihn, ein anderer zu sein. Die Illusion, gegensätzliche Dinge wollen zu können, beruhe auf der Verwechslung von Wollen und Wünschen. Der Verstand begreife die Welt als vom Gesetz der Kausalität bestimmt. Ursachen und Wirkungen bestimmten die Außenwelt notwendig. Bei Pflanzen wirkten Reize als Ursache, bei Tieren und Menschen Motive. Da Tiere zwar ein Bewußtsein haben, aber nur der Mensch denken könne, wirkten nur 19
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Band I: Leipzig 1819; 2., vermehrte Auflage Leipzig 1844; 3., verbesserte und vermehrte Auflage Leipzig 1859. Band II: Leipzig 1844. Schopenhauer, Arthur: Preisschrift über die Freiheit des Willens, gekrönt von der Königlich Norwegischen Societät der Wissenschaften, zu Drontheim, am 26. Januar 1839. In: Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden, nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütkehaus. Frankfurt am Main 2006. Band III, Kleinere Schriften. Die beiden Grundprobleme der Ethik: Ueber die Freiheit des menschlichen Willens, Ueber das Fundament der Moral. S. 359-458, hier S. 361. Schopenhauer, Preisschrift 2006, S. 367.
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gegenwärtige Motive bei Tieren. Der Gesichtskreis des Menschen sei zeitlich und räumlich ausgedehnter, wodurch auch die Wahlmöglichkeiten zunehmen. Beim Überlegen betrachte der Mensch die unterschiedlichen Motive nacheinander, was ihn vom Zwang des Gegenwärtigen befreie.22 Reflektiere der Mensch aber seine Entscheidungen, lasse er sich von der Distanz der Motive dermaßen irritieren, daß er ihr Daseyn, oder doch die Nothwendigkeit ihres Wirkens bezweifelt und meint, was gethan wird, könne ebenso gut auch unterbleiben, der Wille entscheide sich von selbst, ohne Ursache, und jeder seiner Akte wäre ein erster Anfang einer unabsehbaren Reihe dadurch herbeigeführter Veränderungen.23
Aufgrund seines Selbstbewußtseins erlebe sich der Mensch als wollendes Wesen. Das auf Objekte gerichtete Bewußtsein erkenne die Notwendigkeit der Kausalität. Die Wirkung der Motive bleibe dem Selbstbewußtsein aber verborgen. Die Motive wirkten bei jedem Menschen anders, da jeder Mensch einen individuellen, angeborenen, unveränderlichen Charakter habe. Arthur Schopenhauer führt in die Analyse der Willensfreiheit das Element des Unbewußten ein und zieht mit der Dominanz des Bewußtseins auch die für Locke und andere Kompatibilisten ausschlaggebende Instanz der Rationalität in Zweifel.
3.4 Determinismus neurophilosophisch: John Searle und Gerhard Roth Die Philosophie Schopenhauers und die moderne Neurobiologie beruhen z. T. auf gemeinsamen theoretischen Annahmen, so daß bezüglich des Determinismusverständnisses ein Blick auf neurobiologische bzw. -philosophische Ansätze sinnvoll erscheint.24 22
23 24
In Die Welt als Wille und Vorstellung formuliert Schopenhauer, der Mensch werde „zum Kampfplatz des Konflikts der Motive“, im Kampf komme der individuelle Charakter zum Vorschein (Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung I. In: Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden, nach den Ausgaben letzter Hand herausgegeben von Ludger Lütkehaus. Frankfurt am Main 2006. Bd. I, S. 393). Schopenhauer, Preisschrift 2006, S. 399. Daniel Schubbe sieht Parallelen in der Erkenntniskonzeption Schopenhauers, der zwischen dem Willen als Ding an sich und der Erkenntnis aufgrund von Anschauung unterscheidet, und Gerhard Roths Konstruktivismus, der die Welt in vom Gehirn hervorgebrachte Wirklichkeit und Realität teilt, über die keine Aussage möglich ist. Beide sehen das Ich-Bewußtsein als untergeordnet, Schopenhauer als sekundäres Phänomen des Willens, Roth als Produkt von Gehirnprozessen (vgl. Schubbe, Daniel: Die Bedeutung Schopenhauers für das
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Als Beispiel für die neurophilosophische Herangehensweise an die Frage nach der menschlichen Willensfreiheit sei hier der Neurophilosoph John R. Searle genannt; eine typische Publikation von ihm trägt den Titel Freiheit und Neurobiologie.25 Searle erklärt, das Leib-Seele-Problem habe auf der falschen Annahme beruht, Mentales und Physisches seien getrennt. Stattdessen gelte, daß alle mentalen Zustände, auch das Bewußtsein, durch neurobiologische Hirnprozesse hervorgerufen würden. Das Bewußtsein „ist einfach der Zustand, in dem sich das System von Neuronen befindet“26. Searle unterscheidet Wahrnehmungs- und Willensbewußtsein und schreibt dem Willensbewußtsein die Eigenschaft zu, es erzeuge „das Gefühl, daß mir alternative Handlungsmöglichkeiten offenstehen.“27 Zwischen bewußten Zuständen besteht eine Lücke. Diese Lücke können wir in der Praxis nicht wegdenken, wir können also gar nicht entscheiden, als gäbe es keine Willensfreiheit. Ich denke, daß die meisten Neurobiologen meinen würden, daß das Gehirn wahrscheinlich so funktioniert, daß wir die Erfahrung von Willensfreiheit haben, daß es sich dabei aber um eine Illusion handelt; weil die neuronalen Prozesse kausal hinreichend sind, um nachfolgend Zustände des Gehirns zu determinieren, unter der Annahme, daß es keinen äußeren Reizinputs oder Wirkungen vom restlichen Körper gibt. Dieses Ergebnis ist jedoch verstandesmäßig sehr unbefriedigend, weil es eine Form von Epiphänomenalismus beinhaltet. Es bedeutet, daß unsere Erfahrung der Freiheit keine kausale oder erklärende Rolle für unser Verhalten spielt.28
Das widerspräche aber allem, was über die Evolution bekannt sei. Die Prozesse der bewußten Rationalität sind ein so wichtiger Teil unseres Lebens, und vor allem ein biologisch so kostspieliger Teil unseres Lebens, daß es so anders als alles wäre, was wir von der Evolution wissen, wenn ein Phänotyp dieser Größenordnung überhaupt keine funktionale Rolle im Leben und für das Überleben des Organismus spielen würde.29
Das Bewußtsein sei aber relevant, da es kausal wirke, die willkürlichen Körperbewegungen steuere und dadurch Planung ermögliche. Diese Aspekte lassen
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moderne Bild des Menschen oder Zwischen Willensmetaphysik und moderner Neurobiologie. In: Schopenhauer-Jahrbuch 86 [2004], S. 191-210). Andrea Hampel sieht Schopenhauer und, stellvertretend für die Neurobiologie, Libet „in vollkommenem Einklang miteinander“ (Hampel, Die Bedeutung der Philosophie 2005, S. 240). Searle, John: Freiheit und Neurobiologie. Originaltitel: Liberté et neurobiologie. Aus dem Französischen von Jürgen Schröder. Frankfurt am Main 2004. Searle, Freiheit 2004, S. 47. Searle, Freiheit 2004, S. 16. Searle, Freiheit 2004, S. 41f. Searle, Freiheit 2004, S. 50.
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sich mit Searle als Aufgaben des Bewußtseins deklarieren, freie Willensbildung aber nicht. Diese sei eine Illusion. Nicht die gesamte Neurobiologie als Disziplin, wohl aber der Bremer Neurobiologe Gerhard Roth teilt Searles Ansicht. Er definiert Willensfreiheit als (1) die Gewissheit, diese Tätigkeit werde von uns bzw. unserem Willen erzeugt und gelenkt, wir bzw. unser Wille seien der Verursacher unserer Handlungen; (2) die Überzeugung, wir könnten auch anders handeln oder hätten im Rückblick auch anders handeln können, wenn wir nur wollten bzw. gewollt hätten; (3) wir fühlen uns für diese Handlungen verantwortlich und akzeptieren (bereitwillig oder widerstrebend), für die Konsequenzen unseres Handelns zur Verantwortung gezogen zu werden.30
Roth sieht wie Schopenhauer die physische Freiheit (1), den Alternativismus (2) und die Verantwortung (3) als die Erfahrungsebene eines freien Willens. Die Erfahrung, einen Willen zu haben, und die Wahrnehmung, dieser sei frei, gingen in der Regel Hand in Hand. In Experimenten ließen sich die Phänomene trennen, indem beispielsweise Hirnregionen gereizt werden und Patienten Handlungen ausführen, die ihnen als aufgezwungen erscheinen, oder indem Patienten zur nachträglichen Selbstzuschreibung von Handlungen gebracht werden. Das rationale Abwägen, das gerne als Kennzeichen menschlicher Willensfreiheit herangezogen werde, sei nicht weniger determiniert als emotionale Entscheidungen, denn welche Argumente herangezogen werden könnten, hänge vom unbewussten Erfahrungsgedächtnis ab. Das individuelle Gefühl von freier Willensentscheidung trete auf, weil die Motive, die zu ihr geführt haben, nicht bewusst rekonstruierbar seien. Auch in diesem Punkt folgt Roth der Argumentation Schopenhauers. Statt nach der Willensfreiheit zu suchen, solle man die Autonomie menschlichen Handelns in den Blick fassen, die Fähigkeit, Handlungen auf der Grundlage individueller Erfahrung vorzunehmen.31 Mit diesem Vorschlag macht Roth deutlich, daß der Streit um die Willensfreiheit in vielerlei Hinsicht auch ein linguistisch-definitorischer ist. Roth zitiert u. a. die Positionen der Philosophen Peter Bieri und Michael Pauen, die Willensfreiheit als Autonomie definieren, als Handeln aus sich selbst heraus: „Ich entscheide so, wie mein Selbst, meine gesamte Persönlichkeit dies festlegen.“32
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31 32
Roth, Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Neue, vollständig überarbeitete Ausgabe. Frankfurt am Main 2007, S. 495. Vgl. Roth, Fühlen 2007, S. 533. Roth, Fühlen 2007, S. 502.
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Was die Literatur der Philosophie und den Neurowissenschaften voraus hat, ist die Möglichkeit, das Unbestimmte darzustellen. Vor dem Hintergrund des (neuro-)philosophischen Konzepts von Determination betrachtet können literarische Texte Positionen aufzeigen, die im bisherigen Willensfreiheitsdiskurs nicht zu finden sind. Dies soll im Folgenden mit Bezug auf Gončarov herausgearbeitet werden.
4. Handeln, Entscheiden, Wollen in Oblomov 4.1 Was tut Oblomov? Der Roman Oblomov ist in erster Linie dafür bekannt, daß die Titelfigur im ersten Teil die meiste Zeit im Bett verbringt. Aus dem Haus geht er nur unter Protest. Doch Oblomovs Unbeweglichkeit mit Untätigkeit gleichzusetzen, wäre falsch. Borzenkova verweist auf Oblomovs inneres Leben als Gegengewicht zu seiner physischen Statik.33 Leonhard Fuest weist in seiner Poetik des Nicht(s)tuns auf die Aktivität im Nicht-Tun hin, das eine Verweigerung des Tuns darstellt, einen Kampf gegen ein Objekt, das „sich dem Subjekt aufzudrängen“ scheint: „Man kann also annehmen, daß Verweigerung immer schon aktiv ist.“34 Oblomov verweigert sich einem Leben, wie Štol’c es führt, denn Oblomovs Ansicht nach ist das kein Leben: «Не нравится мне эта ваша петербургская жизнь!» «Какая же тебе нравится?» fragt Štol’c – «Не такая, как здесь»35 [‚Dieses euer Leben in Petersburg will mir gar nicht gefallen‘ […] ‚Was für ein Leben gefällt dir denn?‘ fragte Stolz. ‚Jedenfalls nicht so eins wie hier‘].36 Oblomov tut, woran er gewöhnt ist: täglich viel essen, sich nicht bewegen, das Haus nicht verlassen. Die Erzählerstimme verweist darauf, daß dieses Verhalten nicht rational ist. Selbst Štol’c und Ol’ga können Oblomov nicht ändern und zu Handlungsweisen bringen, die für sie und die Erzählinstanz rational wären. Warum? Gehen wir einen Schritt weiter:
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Vgl. Borzenkova, Ėvoljucija 2003, S. 212. Fuest, Poetik 2008, S. 17. Gončarov, Ivan Aleksandrovič: Oblomov. In: ders., PSSiP v 20 t. T. 4. SPb. 1998, S. 5-493, hier: S. 172. Gontscharow, Iwan: Oblomow. Revidierte Übersetzung aus dem Russischen von Reinhold v. Walter. Frankfurt am Main 1981, S. 250.
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4.2 Wozu entscheidet sich Oblomov? Trifft Oblomov eigene Entscheidungen? Beruht sein Tun und aktives Nichttun auf bewußten Entschlüssen? In der Regel entscheidet er sich für das Abwarten, also das Aufschieben einer Entscheidung. Oder er ergibt sich dem Drängen anderer, überläßt also ihnen, meist Štol’c und Ol’ga, die Entscheidungen. Wenn er selbst einmal eine Entscheidung getroffen hat, läßt er sich rasch zu einer anderen überreden. Beispielsweise erklärt sein angeblicher Freund Tarant’ev, es müsse Porter zum Essen gereicht werden. Oblomov entscheidet erst dagegen: «Вот теперь портер! Мало тебе...», doch dann läßt er sich von Tarant’evs Beharren überreden: «а он еще портер набавил! Ну хорошо, купи портеру»37 [‚Jetzt auch noch Porter! Hast du immer noch nicht genug…‘ […] ‚Also gut, kauf Porter‘].38 Oblomov verhält sich ganz nach den physischen Prinzipien von Ursache und Wirkung, die den Gegnern der Willensfreiheit als Argument dient. Oblomov bewegt sich nicht, sondern wird bewegt, in seinem Entscheiden und Handeln verhält er sich wie eine Billardkugel, die von einer anderen angestoßen wird. Anders als eine Billardkugel gibt er diese Bewegung aber nicht weiter, sondern setzt sie in die Erschaffung einer inneren Welt um, die keine Wirkung nach außen hat. Die Wirkung wird in seinem Inneren gehemmt. Gončarov liefert die Erklärung für Oblomovs Charakter durch die Beschreibung von Oblomovs Kindheit, die in Oblomovs Traum präsentiert wird, und einen Rückblick auf seine Schul- und Universitätszeit sowie seine Anstelligkeit als Beamter. Wenn die Traumszenerie als repräsentativ für Oblomovs Erziehung angesehen werden kann,39 hat der kleine Oblomov bei jeder Regung eines eigenständigen Wollens Frustration erlebt. Kaum bewegt er sich in Richtung Tor, ertönt schon die Warnung der Mutter vor einem Hitzschlag. Sein Wunsch spazierenzugehen gibt nur Anlaß zur Sorge, er könne sich erkälten. Die zum Lernen notwendige geistige Anstrengung sieht seine Familie als gesundheitsgefährdend an und läßt ihn oft genug nicht in die Schule fahren. Er wird gefüttert und verwöhnt und schaut sich die Untätigkeit seiner Umgebung als Vorbild ab. Er wird als typisches Produkt des Landadelsystems ge-
37 38 39
Oblomov 1998, S. 48. Oblomow 1981, S. 69. Auch zu Štol’c und Ol’ga sowie anderen Charakteren werden Beschreibungen ihrer Kindheit, Jugend, Erziehung und Bildung geliefert. Somit handelt es sich um ein typisches Erklärungsmodell Gončarovs. Die Person in ihrem jeweils gegenwärtigen Zustand wird als notwendiges Produkt ihrer Anlagen und Erfahrungen dargestellt.
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zeigt, wie beispielsweise D. S. Mirsky bemerkt: “[Oblomov’s Dream] is a vast, synthetically intended picture of the life of the rural gentry, the soil of vegetable comfort, easy wealth, and irresponsibility, that produced the flower of Oblómov.”40 Oblomovs Handeln ist also ein Nicht-Handeln. Eigene Entscheidungen, die er in eigenes Handeln umsetzen könnte, trifft er nicht. Impulse von außen gehen in ihm verloren. Entspricht das dem, was Oblomov will?
4.3 Was will Oblomov? Oblomov will einen Willen haben. Dessen Inhalt soll die Umsetzung seiner Verbesserungspläne für sein Landgut sein. Aber er scheitert darin, diesen Willen zu seinem eigenen zu machen, ihn sich anzueignen. Es gelingt ihm nicht, die physische Freiheit im Sinne Schopenhauers oder die Autonomie in der Begrifflichkeit Roths zu erreichen. Schopenhauer sieht die physische Freiheit als denjenigen Aspekt, der mit dem Erleben eines freien Willens einhergeht, als den Ausgangspunkt des Freiheitsgefühls. Doch nicht einmal diese erste Stufe erreicht Oblomov, wie er selbst erkennt. Zu Štol’c sagt er: «Всё знаю, всё понимаю, но силы и воли нет»41 [Alles weiß ich, sehe alles ein, aber Kraft und Willen fehlen mir].42 Oblomov hat keinen Willen. Oblomov ist ein Mensch, der wollen will. Er verfügt über den Willen zum Willen. Auch das sieht Oblomov: «Стоит захотеть!»43 [Man braucht ja nur zu wollen].44 Regungen sind gelegentlich kurz davor, zu einem Willen zu werden, der auch zu Entscheidungen führt, aber etwas kommt doch immer dazwischen: и вдруг загораются в нем мысли, ходят и гуляют в голове, как волны в море, потом вырастают в намерения, зажгут всю кровь в нем, задвигаются мускулы его, напрягутся жилы, намерения преображаются в стремления: он, движимый нравственною силою, в одну минуту быстро изменит две-три позы, с блистающими глазами привстанет до половины на постели, протянет руку и вдохновенно озирается кругом... Вот-вот стремление осуществится, обратится в подвиг... и тогда, Господи! Каких чудес, каких благих последствий могли бы ожидать от такого высокого усилия!.. Но, смотришь, промелькнет утро, день уже клонится к вечеру, а с ним клонятся к покою и утомленные силы Обломова.45
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Mirsky, A History 1926/1999, S. 191. Gončarov, Oblomov 1998, S. 182. Gontscharow, Oblomow 1981, S. 265. Gončarov, Oblomov 1998, S. 96. Gontscharow, Oblomow 1981, S. 138.
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Dann erwachten in ihm Gedanken, wogten wie Wellen im Meer in seinem Hirn auf und ab, wuchsen zu Vorsätzen heran und steckten sein ganzes Blut in Brand; die Vorsätze bilden sich zu Bestrebungen aus; von sittlicher Kraft durchdrungen, wechselt er in einem Augenblick zwei, drei Stellungen, erhebt sich mit leuchtenden Augen vom Lager, streckt die Hand vor und blickt begeistert um sich ... Jetzt gleich wird sich sein Streben verwirklichen und sich in eine Heldentat umsetzen ... und dann, o Gott! Welches Wunder, welche furchtbaren Folgen konnte man von so einer großen Anstrengung erwarten! ... Wenn man aber nach einer Weile hinschaut, ist der Morgen dahingeschwunden, der Tag neigt sich dem Abend zu, und mit ihm zugleich verlangen Oblomows ermüdete Kräfte nach Ruhe; der Sturm und die Erregung besänftigen sich in seiner Seele, der Kopf ernüchtert sich nach dem Denken, und das Blut kreist langsamer durch die Adern. Oblomow legt sich still und sinnend auf den Rücken, richtet seinen traurigen Blick auf das Fenster und folgt mit den Augen wehmütig der Sonne, die sich majestätisch hinter irgendein vierstöckiges Haus versteckt.46
Gerhard Roth arbeitet mit dem Willensmodell von Franz Emanuel Weinert,47 der fünf Qualitäten und Funktionen des Wollens unterscheidet: das energetisierende Wollen (treibt Handlungsabsichten voran); die Richtungsfunktion (ich will dies, nicht etwas anderes); die Selbstinitiierung (Auslösen einer Handlung ohne erkennbare externe Faktoren), Kontrollfunktion (Konsequenz bewahren) und Bewußtseinsqualität (Ich tue etwas, weil ich es will). Keine dieser Funktionen läßt sich bei Oblomov feststellen, was zu der Schlußfolgerung führt: er hat keinen Willen. Der erste Teil des zitierten Abschnitts liest sich wie eine Übertragung von Libets neurologischem Bereitschaftspotential auf die gesamte menschliche Physis. Oblomov ist mit seinem ganzen Wesen bereit, etwas zu beginnen, wenn der richtige Anstoß käme, die seinen Charakter ansprechenden Motive auftauchten, aus denen heraus sich sein Wille formen könnte. Doch kommt es nicht dazu. Oblomovs Charakter ist für die Macht der Motive verloren. Vsevolod Setschkareff verweist auf die Rolle von Schopenhauers Zufallskonzeption im Werk Mark Aldanovs.48 Zur Analyse der Erzählung Ul’mskaja noč’ beruft er sich auf Schopenhauers Ausführungen in Parerga und Paralipomena zur Unmöglichkeit des Zufalls, da alle Ereignisse Teil einer Kausalkette seien, die Vielzahl und Interaktion von Kausalketten aber das menschliche
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Gončarov, Oblomov 1998, S. 65f. Gontscharow, Oblomow 1981, S. 94. Weinert, Franz Emanuel: Bildhafte Vorstellungen des Willens. In: Heckhausen, Heinz/ Gollwitzer, Peter Max/Weinert, Franz Emanuel (Hgg.), Jenseits des Rubikon. Der Wille in den Humanwissenschaften. Berlin 1987, S. 10-26. Setschkareff, Vsevolod: Die philosophischen Aspekte von Mark Aldanovs Werk. München 1996.
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Fassungsvermögen übersteigen.49 Auf ähnliche Weise läßt sich Schopenhauers Vorstellung von Willensfreiheit bzw. ihrer Unmöglichkeit, wie er sie in seiner Preisschrift (s. o.) konzipiert, als Leitgedanke für die Oblomov-Lektüre verwenden. Hierbei zeigt sich, daß Gončarov dem Handeln, Entscheiden und Wollen, den Instanzen der Willenserscheinungen, wie sie auch Schopenhauer unterscheidet, eine weitere Stufe vorschaltet: das Wollen-Wollen. Für Schopenhauers Standpunkt wird häufig die zugespitzte Formulierung angeführt „Der Mensch kann tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will.“ Für Oblomov muß ein drittes Element angefügt werden: Oblomov kann nicht tun, was er will, und auch nicht wollen, was er will, weil er nicht einmal wollen kann.
5. Und was will Boris Rajskij? Willensentwicklung in Obryv Boris Rajskij, die männliche Hauptfigur in Gončarovs nächstem Roman Obryv, wird als nicht so willenlos wie sein Vorgänger Oblomov wahrgenommen. Doch auch in diesem Roman ist die Willensentwicklung von zentraler Bedeutung. Wieder ist die sozial- oder milieudeterministische Orientierung Gončarovs zu beobachten. Stärker aber als in Oblomov wird thematisiert, wie sich der Wille entwickelt. Dazu dienen Passagen, in denen die Hauptfiguren des Romans über Freiheit und Determinierung des Willens nachdenken. Gončarov folgt auch in diesem Roman seinem typischen Verfahren, zu jeder eingeführten Figur Kindheit, Jugend und weiteren Werdegang zu liefern bis zum Moment, da die Figur in die Handlung eingetreten ist. Dies gilt für Haupt- und Nebenfiguren gleichermaßen. Das soziale Umfeld und die Erziehung determinieren die geistig-seelische Entwicklung des Menschen und kontrollieren, welche Anlagen zur Ausprägung gelangen. In bezug auf Rajskijs Schulfreund, den späteren Provinzlehrer Leontij Kozlov kommentiert der Erzähler: «Глядя на него, еще на ребенка, непременно скажешь, что и ученые, по крайней мере такие, как эта порода подобно поэтам, тоже – na-
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Einen Überblick über die russische Schopenhauerrezeption und die Forschung dazu bietet v. a. Thiergen, Peter: Schopenhauer in Rußland. Grundzüge der Rezeption und Forschungsaufgaben. In: Schopenhauer-Jahrbuch 85 (2004), S. 131-166. Für Einzelanalysen siehe u. a.: Siegel, Holger: Bemerkungen zum Einfluß Schopenhauers auf Lev Tolstojs Roman Anna Karenina. In: Schopenhauer-Jahrbuch 85 (2004), S. 167-178. Weber, Mathias: Von Toulon bis Ceylon – Schopenhauers und Čechovs Reiseaufzeichnungen. In: Schopenhauer-Jahrbuch 85 (2004), S. 179-190.
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scuntur»50 [Verfolgte man sein Leben von seinen Kindheitsjahren an, so kam man zu dem Schluß, daß auch der Gelehrte dieses Schlages, gleich dem Dichter, ‚geboren werden muß‘].51 Die Anlagen kommen durch Kozlovs Ausbildung und die Reaktionen seiner Mitschüler auf seinen Studieneifer zur Ausformung und lassen Kozlov zum Typus des Gelehrten werden. Ebenso verhält es sich bei Rajskijs Einschätzung seiner Großtante. Die Kenntnis des Jahrzehnte zurückliegenden Skandals erschließt ihm ihr ganzes Wesen: «У него в руках был ключ от прошлого, от всей жизни бабушки. Ему ясно всё: отчего она такая?»52 [Er hielt nun den Schlüssel zu der Vergangenheit der Großtante wie überhaupt zu ihrem ganzen Leben in der Hand. Alles wurde ihm jetzt klar, warum sie gerade so geworden, wie sie war].53 Auf sich selbst bezogen sieht Rajskij die Aussagekraft seines bisherigen Lebens für sein weiteres Verhalten nicht so klar. Doch empfindet er sich in seiner Willensbildung nicht als frei. Nachdem er sich den Avancen von Kozlovs Ehefrau ergeben hat, resümiert er: Нет воли у человека […], а есть паралич воли: это к его услугам!» А то, что называют волей, – эту мнимую силу, так она вовсе не в распоряжении своего господина, «царя природы», а подлежит каким-то посторонним законам и действует по ним, не спрашивая его согласия. Она, как совесть, только и напоминает о себе, когда человек уже сделал не то, что надо, или если он и бывает тверд волей, так разве случайно или там, где он равнодушен.54 Nein, der Mensch hat keinen freien Willen […], wohl aber gibt es eine Lähmung des Willens, eine Willenlosigkeit, die er nötigenfalls willkürlich ins Spiel setzen kann. Das, was man den freien Willen nennt, diese vermeintliche Seelenkraft, steht dem Herrn der Schöpfung durchaus nicht zur Verfügung, sondern ist gewissen von ihm unabhängigen Gesetzen unterworfen, nach denen sie wirkt, ohne daß er um seine Einwilligung gefragt wird. Gleich dem Gewissen meldet sie sich immer erst dann, wenn der Mensch das getan hat, was ihm nicht richtig scheint; zeigt er wirklich einmal festen Willen, so geschieht das nur zufällig oder in Dingen, die ihm gleichgültig sind.55
Seine Unfähigkeit, sein Handeln nach moralischen Prinzipien auszurichten, empfindet Rajskij als Willenslähmung, als Determinierung durch äußere Faktoren, deren Wirken er nicht versteht. Sein Bewußtsein erscheint ihm für sein 50 51
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Gončarov, Ivan Aleksandrovič: Obryv. In: ders., PSSiP v 20 t. T. 7. SPb. 2004, S. 187. Gontscharow, Iwan: Die Schlucht. Revidierte Übersetzung aus dem Russischen von August Scholz. Leipzig/Weimar bzw. Wiesbaden 1981, Bd. 1, S. 244. Gončarov, Obryv 2004, S. 755. Gontscharow, Die Schlucht 1981, Bd. 2, S. 519. Gončarov, Obryv 2004, S. 444f. Gontscharow, Die Schlucht 1981, Bd. 2, S. 118.
Willensfreiheit versus Oblomovščina
155
Handeln überflüssig, da es erst im Nachhinein in Aktion trete. Gerade diesen Sachverhalt beschreibt Gerhard Roth und begründet ihn mit dem zeitlichen Vorrang unbewußter neuronaler Prozesse: „Das Gefühl des ‚freien‘ Willensaktes entsteht in uns, nachdem limbische Strukturen und Funktionen bereits festgelegt haben, was wir zu tun haben.“56 Darin stimmt er mit Schopenhauers Erklärungen zum Primat des Willens überein: „Der Intellekt nämlich erfährt die Beschlüsse des Willens erst a posteriori und empirisch.“57 Schopenhauer schreibt der Vernunft die Möglichkeit zu, über den Intellekt Gegenmotive, für die der Charakter zugänglich ist, anzuführen und so eine Handlungsabsicht, einen Wunsch, abzuändern. Dies erkennt Rajskij freilich nicht. Seine Einsicht in die Funktionsweise des Willens bleibt vorübergehend und ohne Wirkung. Er beruhigt sich, indem er sich sagt, er habe alles ihm Mögliche getan. Wie seine Skizzen für Gemälde und Romane bleibt auch die Erkenntnis nur Entwurf und wird nicht weiter verfolgt. Zurück bleibt bei Rajskij die Scham, sich anders als Vera, deren Entschlossenheit ihn fasziniert, nicht nachdrücklich für eine Sache einsetzen zu können. Rajskij findet das Ziel seiner Tätigkeit lange nicht, kann deswegen keinen ausgeprägten Willen entwickeln und tut letztlich, wie er sich selbst zum Vorwurf macht, nichts und ist in dieser Hinsicht Oblomov sehr ähnlich. Doch er unterscheidet sich deutlich von der ihm suspekten Zufriedenheit und Wunschlosigkeit, wie er sie an seiner reichen, verwitweten Cousine Sof’ja kritisiert. Sof’ja erklärt: «Чего же еще: у меня всё есть, и ничего мне не надо...»58 [Was soll ich denn noch? Ich habe ja alles, was ich brauche, und hege sonst keine Wünsche …].59 Rajskij findet diese Einstellung unmenschlich und lebensfern. Seine Kritik an Sof‘jas Desinteresse an der Herkunft ihres Lebensunterhalts und den Bedingungen, unter denen er erarbeitet wird, verkennе die Abfolge von Ursache und Wirkung. Rajskijs Diagnose: ihre Mutter und Erzieherinnen und anschließend ihre Tanten haben bei ihr „systematisch und auf höchst raffinierte Weise alle Freiheit des Denkens und Fühlens unter-
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Roth, Fühlen 2007, S. 553. Schopenhauer, WWV 2006, Bd. I, S. 381. Gončarov, Obryv 2004, S. 32. Gontscharow, Die Schlucht 1981, Bd. 1, S. 39.
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Yvonne Pörzgen
drückt“60 («совершено систематически утонченное умерщвление свободы духа, свободы ума, свободы сердца»).61 Vera ist das genaue Gegenstück von Sof’ja, und auch mit Rajskijs Suche nach Leidenschaft als Motor und Inspirationsquelle von Aktivität hat sie nichts gemein. Die Großtante Tat’jana Markovna sagt über Vera: „свой ум, видишь ли, и своя воля выше всего»62 [Sie hat ihren Kopf für sich, siehst du, und ihr freier Wille geht ihr über alles].63 In Rajskijs Augen zeichnet sich Veras Wille durch seine Lebendigkeit aus: «ум [...] был смелее, воля живее, чем у Татьяны Марковны, и притом Вера развита»64 [diese besaß einen kühneren Verstand, einen lebendigeren Willen, ein entwickelteres Denken als Tatjana Markowna].65 Vera zeichnet sich also dadurch aus, daß sie über einen Willen, einen eigenen Willen, verfügt, den sie vehement und gegen die Einsprüche Tat’jana Markovnas und Rajskijs verfolgt. Auch die Konsequenzen für ihre nicht abgesegnete Liaison mit Mark Volochov trägt sie als Folgen ihres eigenmächtigen Tuns. Sie ist im Sinne Roths autonom, verfügt mit Schopenhauer über ihre physische Freiheit. Über die Genese ihres Willens wird damit aber nichts ausgesagt. Auch wenn Rajskij von Veras Selbständigkeit fasziniert ist, erfaßt die von ihm vorübergehend erkannte Abhängigkeit des menschlichen Willens von Prozessen, die von ihm nicht bewußt kontrolliert werden können, auch die freiheitssuchende Vera.
6. Schlußbetrachtung Gončarovs Determinismus weist Aspekte der Konzeptionen von Taine und Schopenhauer auf. Gončarov leugnet nicht die Freiheit des menschlichen Willens, wobei er Willensfreiheit als Willensautonomie begreift. Er zeigt Menschen, die darum kämpfen, sich einen Willen anzueignen (Oblomov) und ihn gegen innere (Rajskij) und äußere (Vera) Widerstände umzusetzen.
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Gontscharow, Die Schlucht 1981, Bd. 1, S. 135. Gončarov, Obryv 2004, S. 103. Gončarov, Obryv 2004, S. 427. Gontscharow, Die Schlucht 1981, Bd. 2, S. 95. Gončarov, Obryv 2004, S. 589. Gontscharow, Die Schlucht 1981, Bd. 2, S. 303.
Willensfreiheit versus Oblomovščina
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Der Blick aus der Perspektive der Willensfreiheitsforschung zeigt auf, was Oblomov von anderen Menschen unterscheidet und was mit seiner Absage an das agonale Prinzip allein nicht zu fassen ist. Nicht nur, daß er seine Ruhe wollte und deswegen dem Wettkampf mit seinen Mitmenschen entsagte. Da ist mehr: Oblomov hat keinen Willen, der über die Selbsterhaltung hinausginge, und kann ihn aufgrund seiner Charakteranlagen in Verbindung mit seinen Erfahrungen auch nicht haben. Der Wille zum Wollen reicht nicht. Die Figuren in Gončarovs Werken sind durch unterschiedliche Faktoren determiniert. An Oblomov wirkt vor allem der Milieudeterminismus, wie ihn Hippolyte Taine charakterisiert. Rajskij läßt sich mit den Vorstellungen Schopenhauers vom Wirken unbewußter Mechanismen bei der Willensbildung in Verbindung setzen, wie sie von John R. Searle und Gerhard Roth aufgegriffen und auf die Sphäre der Hirnforschung übertragen wurden. Vera sagt mit ihrer Abneigung gegenüber Konventionen der Einschränkung ihrer Autonomie den Kampf an. Gončarov zeichnet sie als Menschen, der einen eigenen Willen entwickelt, den er nicht von Verwandten und anderen Mitmenschen beeinträchtigt sehen will. Die Analyse von Gončarovs Romanen Oblomov und Obryv zeigt die Vielschichtigkeit der literarischen Umsetzung des Willensfreiheitsproblems. Nicht zufällig ziehen Willensfreiheitsforscher, Philosophen oder Neurobiologen gleichermaßen, gerne Beispiele aus der Literatur zur Illustration ihrer Thesen heran.66 Den literarischen Text auf die Funktion als Beispielquelle zu reduzieren wird ihm aber nicht gerecht. Unter umgekehrten Vorzeichen kann die Anwendung der (neuro-)philosophischen Konzepte auf die Textinterpretation dagegen zum tieferen Verständnis der Literatur beitragen.
66
Searle beschreibt das Urteil des Paris und seine Bevorzugung der Aphrodite gegenüber Pallas Athene und Hera als neurobiologisch determiniert. Der Neurowissenschaftler und Medizin-Nobelpreisträger Eric Kandel nimmt eine Zusammenschau von künstlerischen Hochleistungen und naturwissenschaftlichem Erkenntniszuwachs mit Bezug auf das Unbewußte vor (s. Kandel, Eric: The Age of Insight. The Quest to Understand the Unconscious in Art, Mind, and Brain, from Vienna 1900 to the Present. New York 2012).
Anne Hultsch „Bol’še vsego jazykom čelovek prinadležit svoej nacii“ I. A. Gončarov als Sprachpatriot Der Untertitel des Beitrags, Gončarov als Sprachpatriot, enthält bereits die Thesen, daß Gončarov a) die Sprache als die Entität sieht, durch die eine Nation bestimmt wird und daß er b) es für wert hält, für die nationale – also sprachliche – Zusammengehörigkeit einzutreten. In dem ersten Teil soll aus den uns überlieferten nicht- bzw. semi-fiktionalen Äußerungen Gončarovs Konzeption von Sprache, Patriotismus und Nation herausgearbeitet werden. In einem zweiten Schritt wird dann überprüft, inwiefern diese Konzeption in seinen fiktionalen Texten entweder umgesetzt wird oder aber wichtig für deren Verständnis ist. Abschließend wird auf der Grundlage des gesamten Textkorpus die Frage gestellt, ob Gončarov in den vorliegenden Überlegungen berechtigt als ‚Sprachpatriot‘ tituliert wird. Es sind vor allem drei Themenbereiche, in deren Zusammenhang sich Gončarov in seinen Briefen und Abhandlungen über die Frage der nationalen Zugehörigkeit und Sprache äußert, die hier mehr oder weniger chronologisch betrachtet werden. Erstens stellt er selbstverständlich in der Fregat „Pallada“ Überlegungen über Sprachen, Nationen und das Verhältnis zur jeweiligen Staatsmacht an. Zweitens ist interessant zu verfolgen, wie Gončarov auf Übersetzungen seiner Werke oder ihrer Teile in andere Sprachen reagiert. In diesen Kontext gehört ebenfalls die Neobyknovennaja istorija, in der er zwischen ‚echtem‘ und ‚unechtem‘ Kosmopolitismus unterscheidet bzw. sich Gedanken über die Verbreitung russischer Kultur in der Welt macht. Und drittens liegen uns Reaktionen Gončarovs auf die Verbreitung der französischen Sprache unter Russen vor, die für das Thema sehr aufschlußreich sind.
Fregat „Pallada“ (1852-54) Bei seiner Weltumsegelung wird Gončarov mit vielen fremden Ländern und Sprachen konfrontiert. In seiner Darstellung wird deutlich, daß er einen Zusammenhang zwischen Sprache und Volks- oder Nationalcharakter herstellt,
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Anne Hultsch
denn seine ablehnende Haltung gegenüber dem Auftreten bestimmter Völker geht einher mit einer negativ konnotierten Darstellung ihrer Sprache. Dies wird am deutlichsten am Beispiel des Englischen. Es sei nur kurz daran erinnert, daß 1854, während er sich auf Reisen befindet, der Krim-Krieg – mit England als einem offiziellen Feind Rußlands – ausbricht. Das Englische verfüge über „неуловимые звуки“ [unfaßbare Laute]1 und sei „без того исковерканный […] язык“ [eine ohnehin schon verdrehte Sprache].2 Als den Reisenden scharfes Curry vorgesetzt wird, „иной, проглотив вдруг, делал гримасу, как будто говорил по-английски“ [schnitt [einer] eine Grimasse, als spräche er Englisch].3 Ein englischer Schiffer „пролаял мне глухие звуки, без согласных“ [bellte […] ein paar dumpfe Laute ohne Konsonanten vor],4 als er nach dem Namen einer Insel vor Shanghai gefragt wurde. Wenn ein Engländer einen chinesischen Namen ausspricht, dann muß sich in Gončarovs Ohren der Mißklang potenzieren. Die Sprache an sich ist jeweils nicht das Thema, sie dient vielmehr der Charakterisierung und wird eher beiläufig als unangenehm dargestellt. Charakter und Sprache repräsentieren einander. Bestimmte Sitten sind Gončarovs Darstellung zufolge an eine bestimmte Sprache gebunden. In Manila beobachtet er, daß die Übernahme europäischer Gepflogenheiten mit dem Vergessen der eigenen Muttersprache einhergehe,5 obwohl die europäischen Sprachen „чужды им и по духу, и по формам“ [ihnen dem Geiste als auch den Formen nach]6 fremd sein müssen. Nationalbewußtsein, Patriotismus und Religion definiert Gončarov in der Fregat „Pallada“ als Dreiheit, die eine Staatsmaschinerie in Gang halte.7 So 1
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Gončarov, Ivan Aleksandrovič: Fregat „Pallada“. Očerki putešestvija v dvuch tomach. SPb. 1997 (= PSSiP 1997, II), S. 41 bzw. Gontscharow, I. A.: Fregatte Pallas [Aus dem Russischen übersetzt von Horst Wolf]. Berlin 1953, S. 53. Fregat „Pallada“ 1997, S. 421 bzw. Fregatte Pallas 1953, S. 451. Fregat „Pallada“ 1997, S. 143 bzw. Fregatte Pallas 1953, S. 197. Fregat „Pallada“ 1997, S. 404 bzw. Fregatte Pallas 1953, S. 430. Vgl. Fregat „Pallada“ 1997, S. 574 bzw. Fregatte Pallas 1953, S. 600. Fregat „Pallada“ 1997, S. 506 bzw. Fregatte Pallas 1953, S. 519. „У китайцев нет национальности, патриотизма и религии — трех начал, необходимых для непогрешительного движения государственной машины. Есть китайцы, но нации нет; в их языке нет даже слова «отечество», как сказывал мне один наш синолог“ [Die Chinesen haben keine Nationalität, keinen Patriotismus und keine Religion – die drei Grundlagen, die für die unfehlbare Bewegung der Staatsmaschine erforderlich sind. Es gibt Chinesen, aber keine Nation; wie mir ein Sinologe erzählte, existiert in ihrer Sprache nicht einmal das Wort ‚Vaterland‘] (Fregat „Pallada“ 1997, S. 602; die [ost-]deutsche Übersetung
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gebe es zwar Chinesen, doch (noch) keine chinesische Nation, weil die Chinesen sich keiner höheren zentralen Macht verpflichtet fühlen. Die Sprache, an der die Chinesen als solche zu erkennen sind, geht also der Nation voraus. Die Japaner leben im Gegensatz zu den Chinesen in ständiger lähmender Angst vor der Zentralmacht, stellen also wohl in Gončarovs Auffassung eine Nation dar, allerdings fehle ihnen das Gefühl der Liebe und Dankbarkeit dieser Macht gegenüber, die die Sorge um das allgemeine Wohl auf sich nimmt.8 Angst und Patriotismus sind nicht vereinbar. Patriotismus muß einen positiven Ausgangspunkt haben und gleichzeitig positiv nach außen wirken. Einem Engländer, der in Ostindien als Militärarzt angestellt ist, spricht Gončarov mehr oder weniger seine Nationalität ab, denn „[...] никто не станет так говорить о своих соотечественниках, да еще с иностранцами“ [niemand wird so abfällig über seine Landsleute sprechen, noch dazu Ausländern gegenüber].9 Wenn Fehlverhalten von Landsleuten toleriert oder zumindest verschwiegen werden soll, allein weil es sich um Landsleute handelt, stellt in den Augen Gončarovs die nationale Zugehörigkeit einen höheren Wert dar als das individuelle Menschsein. Seinen Reisebericht leitet dennoch eine Kritik an den Russen ein, die Frankreich und England besser kennen als ihr Vaterland10 und eine ähnliche Bemerkung steht auch an seinem Ende: „Ох, еще сильна у нас страсть к иностранному: не по-французски, не по-английски, так хоть по-якутски пусть дети говорят!“ [Ach, die Vorliebe für alles Ausländische steckt uns wohl tief im Blute! Wenn’s kein Französisch oder Englisch sein kann, dann wenigstens Jakutisch].11 Gončarov konstatiert zwar verständnislos, daß in Ostsibirien alle Russen Jakutisch sprechen,12 dennoch ist er sich sicher, daß dort das Nichtrussische, womit er nicht die Sprache, sondern die Verwaltung und öffentlichen Institutionen (wie Krankenhaus, Gefängnis, staatlicher Kornspeicher, die bereits russisch sind) meint, „со временем будет тоже русское“ [im Lauf der Zeit aber ebenfalls russisch werden wird].13 Der auf der russischen Sprache
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ist komplett um Gončarovs Ausführungen über den Charakter/die Eigenheiten der Chinesen und Japaner [Fregat „Pallada“ 1997, S. 600/Z. 19 bis S. 605/Z. 5] gekürzt). Fregat „Pallada“ 1997, S. 604. Fregat „Pallada“ 1997, S. 149 bzw. Fregatte Pallas 1953, S. 206. Vgl. Fregat „Pallada“ 1997, S. 35 bzw. Fregatte Pallas 1953, S. 44. Fregat „Pallada“ 1997, S. 659 bzw. Fregatte Pallas 1953, S. 682. Fregat „Pallada“ 1997, S. 659, 662, 700 bzw. Fregatte Pallas 1953, S. 682, 686, 726. Fregat „Pallada“ 1997, S. 674 bzw. Fregatte Pallas 1953, S. 703.
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basierende Patriotismus weist also noch Reserven auf und auch Gončarovs eigener Patriotismus kann zu dieser Zeit (1854) noch ohne die gemeinsame Sprache auskommen.
Übersetzungskritik und Neobyknovennaja istorija Was schon in der Fregat „Pallada“ anklang, wird in der Korrespondenz mit bzw. über Übersetzer explizit: eine Sprache zu beherrschen, heißt nach Gončarov, nicht nur mit ihrer Lexik und Grammatik vertraut zu sein, sondern mit ihrem ‚Geist‘ (30. 5. 1878).14 Dieser sei aber einem fremden Muttersprachler unzugänglich. Weil er die russische Sprache nicht kenne, bricht Gončarov eine Diskussion mit seinem Übersetzer ins Französische (Charles Deulin) über die Qualität der einzelnen Teile des Oblomovs ab (27. 8./8. 9. 1877).15 Mit dem Jahre 1868, als die erste deutsche Übersetzung dieses Romans erscheint, setzt Gončarovs generelle Kritik an der Übersetzung seiner Werke oder ihrer Teile in andere Sprachen ein. Soweit es in seiner Macht steht, versucht er, Übersetzungen zu verhindern. Mit welcher Begründung? „[Я] пишу для русских и меня вовсе не льстит внимание иностранцев.“ [[I]ch schreibe für russische Leser, die Aufmerksamkeit der Ausländer schmeichelt mir keineswegs.],16 so schreibt er angesichts des deutschen Oblomovs in der Auslage einer Schwalbacher Buchhandlung an Nikitenko (4./16. 7. 1868), denn die Sprache stelle eine gewaltige Differenz, fast eine Kluft dar, die den Autor vom – ausländischen – Leser trenne (18./30. 9. 1870).17 Sein vielleicht einziges Verdienst bestehe in der mehr oder weniger getreuen Nachbildung einiger nationaler Typen, weil diese Typen jedoch jenseits der Landesgrenzen wenig bekannt seien, 14
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Gončarov, Ivan Aleksandrovič: Pis’mo Stasjuleviču M. M., 30 maja 1878 g. In: Lemke, M. K. (Hg.), Stasjulevič i ego sovremenniki v ich perepiske. T. 4. SPb. 1912, S. 140. „Cette discussion n’amenerait pas à une solution désirable, faute de vonnaissance de la lanque [sic] russe de Votre part“ ([I. A. Gončarov – Š. Delenu] ‹27.08/8.09. 1877›. In: Demichovskaja, E. K. und O. A. [Hgg.], I. A. Gončarov v krugu sovremennikov. Neizdannaja perepiska. Pskov 1997, S. 301f., hier: S. 301). Gončarov, Ivan Aleksandrovič: Pis’mo Nikitenko S. A., 4/16 ijulja – četverg ‹1868› g. In: ders., Sobranie sočinenij v 8 t. T. 8. Stat’i, zametki, recenzii, avtobiografii, izbrannye pis’ma. M. 1955 (= SS 1955, VIII), S. 388-390, hier: S. 388 bzw. dt. zitiert von Bischitzky, Vera: Nachwort. In: Gontscharow, Iwan: Oblomow. Roman in vier Teilen. München 2012, S. 749-760, hier: S. 758 und dies. Zur Neuübersetzung. In: Oblomow 2012, S. 764-776, hier: S. 764. Vgl. Gončarov, I. A.: S. A. Nikitenko. [Peterburg,] 18 (30) sentjabrja [1870 g.]. In: ders., Sobranie sočinenij. 8. M. 1952 [= SS 1952, VIII], S. 410-412, hier: S. 411.
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können sie seiner Meinung nach nicht bei einem ausländischen Leser auf Interesse stoßen (11./28. 7. 1877):18 „[…] все действующие лица моих сочинениях, нравы, местность, колорит – слишком национальные, русские – и от того, казалось мне всегда, они будут мало понятны в чужих странах, мало знакомых […] с русскою жизнию!“ [[A]lle handelnden Personen meiner Werke, die Sitten, die Lokalitäten, das Kolorit sind sehr national, sehr russisch – und deshalb schien es mir immer, daß sie in fremden Ländern, die wenig mit dem russischen Leben vertraut sind, schlecht verstanden werden können] (12. 3. 1878).19 „[J]e volkstümlicher, nationaler [ein Autor] ist, desto dürftiger wird er in der Übersetzung“ (3. 2. 1888),20 schreibt Gončarov an Nikolaj Leskov. Literatur soll dem Leser nichts Neues entdecken, sondern ihn Bekanntes wiedererkennen lassen. Seine eigenen Werke verortet er eindeutig und ausschließlich in dem russischen nationalen Kontext. Zudem sei die Adaptionsfähigkeit der Russen an fremde Kulturen sehr begrenzt: „Я вообще убежден, что Русский и Русская никогда не могут усвоить себе девиза ubi bene, ibi patria, т. е. офранцузиться, онемечиться и обангличаниться, тогда как иностранцы весьма способны обрусеть“ [Ich bin überhaupt überzeugt, daß ein Russe und eine Russin niemals in der Lage sein werden, sich die Devise ubi bene, ibi patria zu eigen zu machen, d. h. sich zu französieren, zu germanisieren und zu anglisieren, wogegen die Ausländer überaus befähigt sind, sich zu russifizieren].21 Vor diesem Hintergrund wird es noch wichtiger, das Russische zu ‚bedienen‘ und kultiviert zu pflegen. Sein Patriotismus weist nicht über die Landesgrenzen hinaus, sondern ist nach innen gerichtet. Er hat nichts Missionarisches, was damit zusammenhängen mag, daß Gončarov auch Mißstände beschreibt, die seiner oben zitierten Auffassung zufolge keinen Ausländer etwas angehen.
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„[…] la réproduction, plus ou moins fidèle, de certains types nationaux constitue peut être le seul mérite de mes écrits dans ce genre et que ces types: peu connus hors du pays ne peuvent présenter de l’intérêt à un lecteur étranger“ ([I. A. Gončarov – Š. Delenu] S. Petersbourg le 11/28 juillet 1877. In: Demichovskaja [Hgg.], Gončarov v krugu sovremennikov 1997, S. 288-290, hier: S. 289). I. Gončarov – P. G. Ganzenu. 12 marta, 1878. In: ders., Očerki. Stat’i. Pis’ma, Vospominanija sovremennikov. M. 1986, S. 445-447, hier: S. 447. Dt. zitiert von Bischitzky, Nachwort 2012, S. 759. Eine Veröffentlichung des russischen Originals konnte ich nicht finden. Gončarov, I. A.: Pis’mo Tolstoj A. A., ‹S.-Peterburg›. 21 ijunja 1878. In: ders., Novye materialy i issledovanija. M. 2000, S. 420-422, hier: S. 421.
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Dies meint er wohl auch mit seiner Selbstbezeichnung als ‚beschränkter Patriot‘,22 durch die er sich in der Neobyknovennaja istorija (1875/76, 1878) den Kosmopoliten gegenüberstellt. Das Beschränkte, Enge ist die Nationalität. Dieser steht die Menschheit insgesamt gegenüber, für deren Wohl es für eine einzige brüderliche allgemeine Liebe zum Nächsten einzutreten gelte.23 Darin ist sich Gončarov mit den ‚echten‘ Kosmopoliten einig.24 Es unterscheidet sich der avisierte Weg zu diesem Ziel:25 Если бы все народы и слились когда-нибудь в общую массу человечества, с уничтожением наций, языков, правлений и т. д., так это, конечно, после того, когда каждый из них сделает весь свой вклад в общую кассу человечества […]! Вот почему патриотизм — не только высокое, священное и т. д. чувство и долг, но он есть — и практический принцип, который должен быть присущ, как религия, как честность, как руководство гражданской деятельности, — каждому члену благоустроенного общества, народа, государства! Надо прежде делать для своего народа, потом для человечества и во имя человечества! 26 Wenn auch alle Völker einst in die allgemeine Masse der Menschheit eingingen, mit der Abschaffung der Nationen, Sprachen, Regierungen usw., so geschieht dies selbstverständlich, nachdem jedes Volk all seinen Einsatz in die allgemeine Kasse der Menschheit eingebracht hat […]! Deshalb ist der Patriotismus nicht nur ein hohes, heiliges usw. Gefühl und Pflicht, sondern er ist auch ein praktisches Prinzip, das jedem Mitglied einer wohlgeordneten Gesellschaft, Nation, eines Staates eigen sein sollte wie die Religion, wie die Rechtschaffenheit, als Richtlinie bürgerlicher Aktivität! Man muß zuerst für sein Volk tätig sein, dann für die Menschheit und im Namen der Menschheit!
Deshalb müsse ein russischer Autor in dem russischen Kontext seine Wirkung entfalten.
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Gončarov, I. A.: Neobyknovennaja istorija (Istinnye sobytija) [1875/1876 und 1878]. In: ders., Novye materialy 2000, S. 184-304, hier: S. 256. „Als Schillerianer, der er war, schweben ihm Entwürfe der Integration und der Ganzheit vor, die ‚das Deutsche‘, ‚das Französische‘ oder ‚das Russische‘ hinter sich lassen.“ Ihn interessiere das Existentielle. „Nicht einengende Nationalität, sondern eine die besten menschlichen Eigenschaften vereinende Perfektibilität ist sein Ideal“ (Thiergen, Peter: Deutsche und Halbdeutsche bei Ivan Gončarov. Eine Skizze, in: Herrmann, Dagmar [Hg.], Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. 19./20. Jahrhundert: Von den Reformen Alexanders II. bis zum Ersten Weltkrieg. München 2006, S. 350-365, hier: S. 364). Insofern scheint mir Mel’niks Behauptung, daß Gončarov „против космополитизма“ [gegen Kosmopolitismus] auftrete, nicht zutreffend (Mel’nik, V. I.: Narod v tvorčestve I. A. Gončarova [K postanvoke voprosa]. In: Russkaja literatura [1987] 2, S. 49-62, hier: S. 55). Vgl. Neobyknovennaja istorija 2000, S. 255f. Neobyknovennaja istorija 2000, S. 256.
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Reaktion auf unter Russen verbreitetes Französisch In etwa die gleiche Zeit wie Gončarovs grundsätzliche Infragestellung der adäquaten Übersetzbarkeit russischer Werke in fremde Sprachen fällt seine Auseinandersetzung mit der Verbreitung des Französischen unter Russen. An seine Urlaubsbekanntschaft Aleksandra Jakovlevna Kolodkina schreibt Gončarov 1866 als Reaktion auf ihren in französischer Sprache verfaßten Brief: Вы предоставляете мне угадать, почему пишете мне по-французски, а не по-русски. […] Я боюсь другой, горшей причины: французская речь лучше помогает быть любезным в принятых формах, нежели русская, не обязанная быть в то же время искренней. […] Я уверен, что после новых, очень немногих прогулок со мною вы перейдете на русскую речь. Русских женщин я считаю лучшими из всех, и не по одному только патриотизму, а и по строгому, долговременному изучению их: язык есть самое живое и чуть ли не единственное выражение национальности. Женщина, постоянно говорящая и пишущая на чужом языке, всегда бы осталась для меня незнакомою, как бы я часто ни видал ее.27 Sie stellen mich vor die Aufgabe zu mutmaßen, warum sie mir Französisch und nicht Russisch schreiben. […] Ich fürchte einen anderen, schlimmeren Grund: die französische Sprache hilft besser, in annehmbaren Formen liebenswürdig zu sein als die russische, ohne daß sie gleichzeitig aufrichtig sein muß. […] Ich bin überzeugt, daß Sie nach einigen wenigen weiteren Spaziergängen mit mir zur russischen Sprache übergehen werden. Russische Frauen halte ich für die besten von allen und zwar nicht nur aus Patriotismus, sondern aus ihrem genauen, lange währenden Studium: die Sprache ist der lebendigste, wenn nicht der einzige Ausdruck der Nationalität. Eine Frau, die beständig in einer fremden Sprache spricht und schreibt, würde mir immer unbekannt bleiben, wie oft ich sie auch gesehen haben mag.
Hier findet eine Abgrenzung der russischen von der französischen Sprache statt. Das Französische sei vordergründig liebenswürdiger und das Russische im Umkehrschluß direkter. Sprache dient – wie bei den Romantikern – als Mittel der Erkenntnis,28 wenn der wahre Charakter (nicht nur einer Frau) erst bei Verwendung der Muttersprache zur Geltung kommen kann. 1870 setzt Gončarov Sof’ja Andreevna Tolstaja seine Auffassung von der 27
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[Gončarov an Aleksandra Jakovlena Kolodkina, Boulogne-sur-Mer, Sommer 1866]. Zitiert von Kudrinskij, F. A.: K biografii I. A. Gončarova. In: Piksanov, N. K. (Hg.), I. A. Gončarov v vospominanijach sovremennikov. L. 1969, S. 86-95 (der Brief befindet sich auf S. 87-90), hier: S. 88. Vgl. Bär, Jochen A.: Nation und Sprache in der Sicht romantischer Schriftsteller und Sprachtheoretiker. In: Gardt, Andreas (Hg.), Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Berlin/New York 2000, S. 199-228, hier: S. 224.
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Funktion der russischen Sprache, der gegenüber sich die Russen zu seinem Bedauern geringschätzig verhalten, auseinander (11. 11. 1870). Es nehme gerade die Sprache, gleich nach der Religion und nach der Ergebenheit und dem Vertrauen gegenüber einer höheren Macht unbestritten den dritten Platz als Banner ein, um das sich alle nationalen Kräfte eng drängen.29 Aber: „Никогда Россия, говоря по-французски и по-английски, не займет следующего ей места, то есть центра и главы славянских народов […]“ [Solange in Rußland Französisch und Englisch gesprochen wird, nimmt das Land nicht den ihm zustehenden Platz als Zentrum und Haupt der slavischen Völker ein].30 – Dies ist übrigens die einzige Stelle, auf die ich gestoßen bin, an der Gončarov über die Grenzen des Russischen Reiches hinaus argumentiert. – Um moralische Kraft und Autorität zu erlangen, müsse die (nationalsprachliche) Literatur der Gesellschaft als lebensnotwendige Nahrung dienen und sich die Wissenschaft, die Kunst und das öffentliche Wirken der russischen Sprache bedienen.31 Im weiteren nimmt Gončarov die Argumente auf, die wir bereits in der Neobyknovennaja istorija lesen konnten: ‚durch Nationalität zum allgemeinen Ideal der einen Menschheit‘. Dieses Ideal wird gerade dadurch gestört, daß es nicht mehr Ausdruck von Bildung sei, Fremdsprachen zu benutzen, sondern dies vor allem zu einer Frage der Klassenzugehörigkeit geworden sei.32 Gončarovs ausgearbeitete Sprachkonzeption können wir schließlich seiner Kritik an Elizaveta Alekseevna Naryškinas Romanmanuskript entnehmen (18. 2. 1877), der das Zitat aus dem Titel dieses Beitrags entnommen ist. Im Laufe der Jahre ist, wie schon in dem zitierten Brief an Kolodkina vorausgedeutet, die Sprache an die erste Stelle bei der Bestimmung der nationalen Zugehörigkeit getreten und hat sowohl die Religion als auch die zentrale höhere Macht, um die sich die Nation gruppiert, von den ersten Plätzen verwiesen.
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Gončarov, I. A.: Pis’mo Tolstoj S. A., 11 nojabrja ‹1870 g. Peterburg›. In: ders., SS 1955, VIII, S. 433-441, hier: S. 436. Pis’mo Tolstoj, 11 nojabrja ‹1870 g.›, S. 436f. Vgl. Pis’mo Tolstoj, 11 nojabrja ‹1870 g.›, S. 437. Pis’mo Tolstoj, 11 nojabrja ‹1870 g.›, S. 438. Dies wird auch sehr deutlich in Gončarovs Erinnerungen Na rodine (1887), in denen sich die bessere Provinzgesellschaft vieler französischer Redewendungen bedient, obwohl einige Fräulein nur eher schlecht als recht die französische Sprache beherrschen. Und der Beamte Prochin fühlt sich zurückgesetzt, weil er keine Fremdsprachen beherrscht (Gončarov, I. A.: Na rodine. In: ders., Sobranie sočinenij v 8 t. T. 7. Očerki, povesti, vospominanija. M. 1954 (= SS 1955, VII), S. 224-315, hier: S. 284 und S. 301, 310, 311, 314 bzw. Gontscharow, I. A.: Erinnerungen. II. In der Heimat [Deutsch von Beate Petras]. In: ders., Ein Monat Mai in Petersburg. Erzählungen und Erinnerungen 1875–1891. Leipzig/Weimar 1988, S. 300-404, hier: S. 368 und S. 388, 398, 399, 402).
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Die beiden Hauptpersonen in dem Manuskript sprechen untereinander Französisch. „Это уже снимает с них последний след какого-нибудь характера, какой они могли бы иметь, если б они говорили на родном языке“ [Dies nimmt ihnen die letzte Spur von Charakter, den sie haben könnten, wenn sie in ihrer Muttersprache sprächen]. Aber auch als Franzosen gehen sie nicht durch, weil ihr Französisch nicht lebendig, sondern frei von allen Emotionen, der dazugehörigen Physiognomie und Mimik sei. Ihr Blut, Denken, ihre Nerven korrespondieren nicht mit dem Französischen.33 Die Sprache wird hier als organischer Bestandteil des Körpers und der nationalen Natur verstanden. Die angeborene Sprache nicht zu benutzen, kann einen nicht einer anderen Nation zugliedern, sondern lediglich der eigenen entfremden. Ибо язык – все. Больше всего языком человек принадлежит своей нации. […] Язык – не есть только говор, речь: язык есть образ всего внутреннего человека: его ума, того, что называют сердцем, он выразитель воспитания, всех сил умственных и нравственных – недаром сказано: ‚le style c’ est l’ homme‘. Да, язык – есть весь человек в глубоком, до самого дна его природы, смысле.34 Denn die Sprache ist alles. Vor allem durch sie gehört der Mensch seiner Nation an. […] Die Sprache ist nicht nur die Mundart, die Rede; die Sprache ist das Bild des ganzen inneren Menschen, seines Verstandes, dessen, was man Herz nennt, sie ist Ausdruck der Erziehung, aller geistigen und moralischen Kräfte. Nicht umsonst wird gesagt: ‚le style c’ est l’ homme‘. Ja, die Sprache ist der ganze Mensch im tiefen, auf den Grund seiner Natur reichenden Sinn.
Demzufolge seien Denken, Sprechen und Schreiben nur dann authentisch, wenn sie in ein und derselben Sprache erfolgen. Originalität, Kraft, Kolorit etc. könne einem Autor nur durch seine Nationalität, seine eigene Natur und Sprache, verliehen werden.35 Dies gilt allgemein für jede Nation und jede Sprache – für den Russen heißt das demzufolge, daß er konsequent russisch(sprachig) sein muß.36 Die Sprache und Literatur verkörpern in sich das Leben selbst, deshalb berühre die Beschäftigung mit literarischen Werken alle Fragen, Interessen, Begriffe, Leidenschaften, durch die eine Gesellschaft lebe – und deshalb erachtet es Gončarov für sehr sinnvoll, wenn junge Menschen darum bemüht sind, sich
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Gončarov, I. A.: E. A. Naryškinoj, 18 fevral’ 77. In: Demichovskaja, O. A.: Gončarov o pisatel’skom trude. Pis’ma k E. A. Naryškinoj i S. A. Tolstoj. In: Literaturnoe nasledstvo (1977) 87, S. 9-22 (der Brief befindet sich auf S. 13-17), hier: S. 14f.. E. A. Naryškinoj, 18 fevral’ 77, S. 15. E. A. Naryškinoj, 18 fevral’ 77, S. 16. Gončarov, I. A.: Excusez du peu! [Analyse des Romans der Naryškina] Fevral’ 1877 g. In: Demichovskaja, Gončarov o pisatel’skom trude, S. 19-22, hier: S. 22.
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mit russischer Sprache und Literatur zu beschäftigen (26. 11. 1877).37 Man kann Maurice William Rosenbaum zustimmen: „There can be no question of Goncharov’s love of the mother tongue“.38 Er sei ein großartiger Stilist und verfüge über eine sehr schöne, reiche Sprache.39
Literaturnyj večer (1877) Aus der gleichen Zeit wie diese letzten Überlegungen stammt Gončarovs Skizze Literaturnyj večer (1877), als deren Auslöser neben Valuevs Roman Lorin eben auch Naryškinas Manuskript gilt.40 Die Frage der Sprache, der Reinheit der Sprache, die in Sprachpurismus übergeht, spielt eine zentrale Rolle in diesem Text. Ist es zunächst nur die gesellschaftlich übliche Konversation der Damen und mit den Damen, die in französischer Sprache vollzogen wird, so gipfelt der erste Teil in die Frage des Grafen Pestov, warum der Autor sein Werk nicht auf französisch geschrieben habe, die dann zur Aufforderung, dies doch zu tun, umformuliert wird.41 Damit ist thematisch der Boden für den zweiten Teil bereitet. Der General erweist sich als Purist, der die russische Sprache aller Fremdund Lehnwörter entledigen möchte: — Хорошо, очень хорошо! я с удовольствием слушал! — похвалил генерал. — Теперь что-то не пишут так! […] — Так приятно, плавно, по-русски, чтобы всякий понимал! Возьмешь книгу или газету — и не знаешь, русскую или иностранную грамоту читаешь! Объективный, субъективный, эксплуатация, инспирация, конкуренция, интеллигенция — так и погоняют одно другое! Вместо швейцара пишут тебе портье, вместо хозяйка или покровительница — патронесса! Еще выдумали слово «игнорировать»! ‚Ich habe mit Vergnügen zugehört!‘ lobte der General. ‚Heute schreibt man nicht mehr so!‘ […] ‚So angenehm, so flüssig und in einem Russisch, das jeder versteht! Jetzt ist es doch so:
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Gončarov, I. A.: Pis’mo Mar’e Michajlovne (neustanovlennoe lico), 26 nojabrja 1877 g. S.-Peterburg. In: ders., Novye materialy 2000, S. 432f., hier: S. 433. Rosenbaum, Maurice William: Ivan Alexandrovich Goncharov and the Sociological Novel in Russia. New York 1945 [Ann Arbor 1991], S. 213. Starosel’skaja, Natal’ja: Roman I. A. Gončarova „Obryv“. M. 1990, S. 219. Demichovskaja, O. A.: Predislovie. In: dies.: Gončarov o pisatel’skom trude, S. 9-13, hier: S. 9. „Pourquoi n’ avez vous pas écrit cela en français?“ – „Dites lui, qu’ il écrive cela en français!” (Gončarov, I. A.: Literaturnyj večer. In: ders., SS 1954, VII, S. 100-192, hier: S. 128, 133 bzw. Gontscharow, Der Literaturabend [Deutsch von Beate Petras]. In: ders., Monat Mai 1988, S. 12-115, hier: S. 42, 48).
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Man nimmt ein Buch oder eine Zeitung zur Hand – und weiß nicht, ob man das Russische oder eine Fremdsprache vor sich hat! Objektiv, subjektiv, Exploitation, Inspiration, Konkurrenz, Intelligenz – so jagt ein Fremdwort das andere! Statt Pförtner sagt man Portier, statt Herrin oder Gönnerin jetzt – Patronin! Und dann hat man noch das Wort ›ignorieren‹ ausgedacht!‘42
Der General und Krasnoperov treten für die Korrektheit und Unantastbarkeit des Stils ein.43 In der Art der Darstellung kann man unschwer die distanzierte Haltung des Autors gegenüber der Forderung nach von allen fremdsprachlichen Einflüssen befreiter Reinheit des Russischen sehen. Pharisäerhaftes Reinlichkeitsgetue lehnt deren Hauptopponent Krjakov ab, denn „переделать русский язык на хороший тон, так придется не говорить по-русски, а только тыкать пальцем в воздух!“ [[reduziert man] die russische Sprache auf den sogenannten guten Ton […], so kommt man am Ende dahin, daß man nicht mehr russisch spricht, sondern nur noch mit dem Finger in die Luft sticht!].44 Der Philologieprofessor hingegen vertraut auf die selbstregulierende Kraft der Sprache: „Неологизмы, чуждые духу языка, никогда не войдут в плоть и кровь его“ [Die dem Geist der Sprache fremden Neologismen werden sowieso niemals in ihren Grundbestand eingehen].45 Die Sprache sei das letzte Bindeglied zwischen dem Volk und der Aristokratie, das diese zu zerstören bemüht ist, um von jenem nicht verstanden zu werden, so Krjakov.46 Allerdings bildet laut Čechnev, der fast wortwörtlich Gončarovs Überlegungen über den nicht im Widerspruch zum Nationalismus stehenden wahren Kosmopolitismus übernimmt und dessen Worte alle Gesprächsteilnehmer lo42
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Literaturnyj večer 1954, S. 135 bzw. Literaturabend 1988, S. 50. Das Wort ‚ignorieren‘ wird auch in den Slugi starogo veka (1885–87) kommentiert: „[…] «игнорировал», как говорят у нас печатно некоторые... знатоки французского языка“ [›ignorierte‹ […], wie sich bei uns in der Presse einige Kenner der französischen Sprache auszudrücken pflegen] (Gončarov, I. A.: Slugi starogo veka. In: ders., SS 1954, VII, S. 316-383, hier: S. 370 bzw. Gontscharow, I. A.: Dienstboten vergangener Tage [Deutsch von Beate Petras]. In: ders., Monat Mai 1988, S. 116-196, hier: S. 179). Der General beobachtet, daß den Diskutanten schnell „русского пороха нехватило“ [das russische Pulver ausgeht] und sie ins Französische oder Lateinische verfallen (Literaturnyj večer 1954, S. 153, 155 bzw. Literaturabend 1988, S. 71, 72). Was seiner Meinung nach aber verwendet werden darf, sind allgemein übliche Worte, auch wenn sie fremden Ursprungs sind (wie ‚salutieren‘) (Literaturnyj večer 1954, S. 177 bzw. Literaturabend 1988, S. 97). Literaturnyj večer 1954, S. 166 bzw. Literaturabend 1988, S. 85. Literaturnyj večer 1954, S. 136 bzw. Literaturabend 1988, S. 51. Literaturnyj večer 1954, S. 172 bzw. Literaturabend 1988, S. 92. Welche Formen es annehmen kann, wenn das Volk sich bemüht, den sprachlichen Klassenunterschied zu überwinden, kann man gut an dem Diener Valentin aus den Slugi sehen (Slugi 1954, S. 320-336, besonders S. 326f., 332 bzw. Dienstboten 1988, S. 121-139, besonders S. 129f., 135).
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ben, das Volk nur einen Teil der Nation, zudem „[н]ародность, или, скажем лучше, национальность — не в одном языке выражается […]. Она в духе единения мысли, чувств, в совокупности всех сил русской жизни!“ [die nationale Eigenart kommt nicht allein in der Sprache zum Ausdruck […]. Sie ist die geistige Einheit aller Gedanken und Gefühle sowie aller sonstigen Kräfte des russischen Lebens].47 Diese würden im Krisenfalle dazu führen, daß Verwender verschiedener Sprachen eine einzige gemeinsame Sprache finden würden – „будто под наитием святого духа“ [gewissermaßen inspiriert vom Heiligen Geist].48 Er wird dafür von Krjakov des Chauvinismus geziehen, darauf reagiert er jedoch mit den Worten: „‚нет, я не ослепляюсь условными сентиментами и не поддаюсь ходячему, дешевому патриотизму!‘“ [‚nein, ich bin nicht durch konventionelle Sentiments verblendet und unterwerfe mich nicht dem gängigen, billigen Patriotismus!‘].49 Er bringt implizit zum Ausdruck, daß seiner Meinung nach Patriotismus und Pflichtgefühl Hand in Hand gehen.50 Diese Argumentation kann als Fortsetzung der Fregat „Pallada“ gesehen werden: Ostsibirien werde im Krisenfall auch in sprachlicher Hinsicht russisch. Das heißt jedoch, daß nationales Bewußtsein der Sprache vorausgehen muß.
Weitere Kurzprosa Im Gegensatz zu diesem relativ späten Text, in dem parallel zu den Überlegungen in der Korrespondenz die Frage von Sprache und nationaler Zugehörigkeit reflektiert und ironisch auf die Spitze getrieben wird, weist die weitere Kurzprosa Gončarovs keine derartigen Reflektionen auf. Allerdings fällt auch in ihr auf, daß Gončarov dieses Thema nahe ist. Wie in Literaturnyj večer, dessen Speisenfolge eine gesonderte Untersuchung verdient hätte, so werden auch in weiteren Werken französische Speisen aufgetischt, die nicht anders als französisch benannt werden. Fürst Kopylin aus Maj mesjac v Peterburge (1891) verwechselt die russischen Worte für Leber und Niere. Er versteht erst, als man ihm die französische Bezeichnung nennt.51 47 48 49 50 51
Literaturnyj večer 1954, S. 173 bzw. Literaturabend 1988, S. 93. Literaturnyj večer 1954, S. 174 bzw. Literaturabend 1988, S. 94. Literaturnyj večer 1954, S. 175 bzw. Literaturabend 1988, S. 95. Vgl. Literaturnyj večer 1954, S. 176 bzw. Literaturabend 1988, S. 97. Gončarov, I. A.: Maj mesjac v Peterburge. In: ders., SS 1954, S. 409-426, hier: S. 417 bzw. Gontscharow, I. A.: Ein Monat Mai in Petersburg [Deutsch von Ute Baum]. In: ders., Mo-
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Sollen die gesellschaftliche Konversation und die mit ihr verbundenen Konventionen ironisiert werden, dann greift Gončarov ebenfalls zum Französischen.52 Dabei klingt häufig ein spöttisch distanzierter Unterton durch, der die Sprachnot der Protagonisten konterkariert. So läßt sich Elena aus der Sčastlivaja ošibka (1839) plötzlich mit „Mademoiselle Hélène“ ansprechen, nachdem der Erzähler um „[т]акое мудреное, нерусское слово... ко... ко... так и вертится на языке... да, да! — кокетством! кокетством! Насилу вспомнил“ [ein kluges, nichtrussisches Wort … Ko … Ko … es liegt mir auf der Zunge … ja, ja! Koketterie, Koketterie! Mit knapper Not ist es mir eingefallen], gerungen hat, um sie zu charakterisieren.53 Der stoličnyj drug (1848) schreibt: „Порядочный, хорошего тона муж […] будет вести себя в отношении к жене, как и к другой женщине. Он никогда не забудет тех... вот по-русски и нет слова для этого... égards, хочу я сказать“ [Ein ehrenhafter Ehemann mit guten Manieren wird sich […] zu seiner Ehefrau genauso wie zu anderen Frauen verhalten. Er wird niemals diese … das Russische hat nicht einmal ein Wort dafür … gewissen égards vergessen, will ich sagen].54 Der Erzähler der Dva slučaja iz morskoj žizni (1858) will kein „oiseau de mauvais augure“ sein – „скажу, для вас, по-французски! Это вам понятнее“ [Ich sage Ihnen das auf französisch, weil Sie es so besser verstehen …].55 In allen diesen Fällen wird durch Auslassungspunkte und Kommentare markiert, daß Erzähler oder Person zu einer anderen als ihrer Muttersprache greifen. Der
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nat Mai 1988, S. 225-244, hier: S. 233f. Ähnlich unwissend zeigt sich Uglickij in Na rodine, der nicht weiß, wie „ris de veau“ in russische Sprache zu übersetzen ist (Na rodine 1954, S. 282 bzw. In der Heimat 1988, S. 366). Sprachmischungen gelten von alters her als Mittel zur Darstellung des Komischen und als lächerliches Phänomen (vgl. Genthe, Friedrich Wilhelm: Geschichte der Macaronischen Poesie, und Sammlung ihrer vorzüglichsten Denkmale. Halle/Leipzig 1829). Gončarov, I. A.: Sčastlivaja ošibka. In: ders., Obyknovennaja istorija. Stichotvorenija. Povesti i očerki. Publicistika, 1832–1848. SPb. 1997 (= PSSiP 1997, I), S. 65-102, hier: S. 71f. bzw. Gontscharow, I. A.: Ein glücklicher Irrtum [Deutsch von Evelyn Beitz]. In: ders., Die Hügelstürmer von St. Petersburg. Erzählungen 1838–1874. Leipzig/Weimar 1986, S. 51-93, hier: S. 58f. Gončarov, I. A.: Pis’ma stoličnogo druga k provincial’nomu ženichu. In: PSSiP 1997, I, S. 470-493, hier: S. 487 bzw. Gontscharow, I. A.: Briefe eines hauptstädtischen Freundes an einen Provinzbräutigam [Deutsch von Bogdan Kovtyk]. In: Hügelstürmer 1986, S. 173-201, hier: S. 194. Gončarov, I. A.: Dva slučaja iz morskoj žizni. In: SS 1954, VII, S. 78-99, hier: S. 86 bzw. Gontscharow, I. A.: Zwei Ereignisse aus dem Seemannsleben [Deutsch von Beate Petras]. In: ders., Hügelstürmer 1986, S. 202-227, hier: S. 211.
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Erzähl- bzw. Redefluß wird unterbrochen, das Russische gerät nicht nur lexikalisch, sondern auch syntaktisch ins Stocken. Die Helden werden dadurch kompromittiert.56
Romane In der Obyknovennaja istorija (1847) und im Oblomov (1859) sind die fremdsprachlichen Elemente rar und dienen also kaum der Personencharakterisierung. Lediglich Volkov in Oblomov wird durch seine französisch durchsetzte Sprache als modebwußter Salonlöwe eingeführt.57 Der Titelheld selbst hingegen beherrscht das Gesellschaftsfranzösisch nicht sehr gut, Englisch liest er „[с] трудом“ [mit einiger Mühe].58 Er hat sich der Gesellschaft also auch sprachlich entfremdet. Insofern scheint eine der ersten Fragen des Onkels an den Neffen in der Obyknovennaja istorija symptomatisch: „[А] умеешь ли ты порядочно писать по-русски?“ [Kannst du auch ordentlich russisch schreiben?].59 Gerade die Unkenntnis der Schriftsprache beobachtet Gončarov bei vielen Vertretern der Vätergeneration Na rodine.60 In den beiden ersten Romanen wird das schriftsprachliche Russisch von fremdsprachlichen Wendungen weitestgehend rein gehalten. Gončarovs Russisch sei exakt seiner Arbeit angepaßt und extrem national, so André Mazon.61 Die Sprachenfrage kommt im Hinblick auf die Lehrer von Julija Tafaeva zum Tragen.62 Neben zwei Franzosen, einem Deutschen und einem Italiener zählte zu diesen auch ein Russe, für den sich der Vater – gegen den Willen der 56
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Vgl. Brodskaja, V. B.: Nabljudenija nad jazykom i stilem rannich proizvedenij I. A. Gončarova. In: Učenye Zapiski L’vovskogo Gosudarstvennogo Universiteta im. Iv. Franko. Voprosy slavjanskogo jazykoznanija 11 (1949) 2, S. 137-167, hier: S. 162. Gončarov, I. A.: Oblomov. Roman v četyrech častjach. SPb. 1998 (= PSSiP 1998, IV), S. 1720 bzw. Oblomow 2012, S. 25-30. Oblomov 1998, S. 220, 232 bzw. Oblomow 2012, S. 330, 349. Gončarov, I. A.: Obyknovennaja istorija. Roman v dvuch častjach. In: PSSiP 1997, I, S. 172469, hier: S. 215 bzw. Gontscharow, Iwan A.: Eine alltägliche Geschichte. Roman [Revidierte Übertragung aus dem Russischen von Ruth Fritze-Hanschmann]. München 1989, S. 61. Na rodine 1954, S. 263, 268 bzw. In der Heimat 1988, S. 345, 350. Mazon, André: Un maitre du roman Russe. Ivan Gontcharov. 1812-1891. Paris 1914, S. 303. Tafaeva habe keine individuellen Lehrer, sondern werde mit Nationen konfrontiert (Sobol, Valeria: Febris Erotica: Lovesickness in the Russian Literary Imagination. Seattle 2009, S. 113).
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Mutter – eingesetzt hat: „— Как же без русского учителя? нельзя!“ [Wie soll man ohne russischen Lehrer auskommen? Das geht nicht].63 Die Grammatik lehrte er sie nur theoretisch, so daß „осталась при грамматических ошибках на всю жизнь“ [sie für das ganze Leben bei ihren grammatischen Fehlern blieb].64 Ihre gemeinsame Lektüre beschränkte sich auf Texte aus dem 18. Jahrhundert. Insofern entsteht die Frage, weshalb es ohne russischen Lehrer nicht gehen soll. Der Vater ist fortschrittlich in seiner Forderung, setzt ihren Sinn jedoch nicht durch. Erst durch Texte Puškins, die ihr ein Vetter borgte, „познала сладость русского стиха“ [erkannte sie die Anmut des russischen Verses]65 – und versucht, ihr Leben nach dessen Roman zu gestalten. Ihre Annäherung an das Russische ist rein literarisch begründet, die Lehrer appellieren nur an ihre Imagination, nicht aber an ihren Intellekt.66 Liza liest Childe Harold in französischer Übersetzung. Das mißfällt Aleksandr, weil durch die Übersetzung „потеряны красота и могущество языка поэта. Посмотрите, какой здесь бледный, бесцветный, жалкий язык! Это прах великого поэта: идеи его как будто расплылись в воде.“ [Schönheit und Macht der Sprache des Dichters verlorengeht. Sehen Sie, was für eine blasse, farblose, klägliche Sprache das ist! Das ist nur die Asche des großen Dichters, seine Ideen sind verwässert].67 Im Oblomov wird die Frage des Patriotismus an den Antipoden Tarant’ev und Štol’c festgemacht. Tarant’ev empfindet „какое-то инстинктивное отвращение к иностранцам“ [einen instinktiven Widerwillen gegenüber allen Ausländern],68 zu denen er Štol’c zählt. „Коренной, русский служака […] по чужим краям не шатается“ [Ein echter Russe von Schrot und Korn […] treibt sich […] nicht in fremden Ländern rum […].69
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Obyknovennaja istorija 1997, S. 361 bzw. Alltägliche Geschichte 1989, S. 244. Obyknovennaja istorija 1997, S. 364 bzw. Alltägliche Geschichte 1989, S. 247. Obyknovennaja istorija 1997, S. 365 bzw. Alltägliche Geschichte 1989, S. 248. Sobol, Febris Erotica 2009, S. 113. Obyknovennaja istorija 1997, S. 401 bzw. Alltägliche Geschichte 1989, S. 294. Oblomov 1998, S. 50 bzw. Oblomow 2012, S. 75. Oblomov 1998, S. 291 bzw. Oblomow 2012, S. 438. Ähnlich – meiner Meinung nach falsch – argumentiert Demichovskaja im Hinblick auf Lichaja bolest’: Gončarov „осуждает […] тех, которые родному краю предпочитают чужие страны (Зуровы погибают в Америке)“ [verurteilt diejenigen, die fremde Länder der Heimat vorziehen (die Zurovs sterben in Amerika)] (Demichovskaja, O. A.: Rannee tvorčestvo I. A. Gončarova. In: Materialy jubilejnoj gončarovskoj konferencii. Ul’janovsk 1963, S. 54-86, hier: S. 84).
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Ivan Matveevič schimpft pauschal auf alle, die französisch reden, was ihm als Synonym für diejenigen, die eine andere Erziehung als er genossen haben, dient.70 Passend ist in diesem Zusammenhang, daß seine Nichte und sein Neffe von Oblomov im Französischen unterwiesen werden.71 Vanjuša mag das Französische jedoch nicht, weil es in ihm „много нехороших слов...“ [so viele hässliche Wörter] gibt.72 Tarant’ev und Ivan Matveevič bewegen sich nicht aus Rußland fort und sprechen keine andere Sprache als Russisch – sind sie deshalb die russischsten Patrioten? Tarant’ev fragt Oblomov, welchen Nutzen das Vaterland von ihm (Oblomov) habe.73 Richtet man diese Frage an Tarant’ev, fiele die Antwort nicht positiver aus. Oblomov sorgt unbewußt durch seine Gutgläubigkeit zumindest dafür, daß solche Gestalten wie Tarant’ev und Ivan Matveevič nicht schlecht leben. Štol’c, dessen Muttersprache Russisch ist,74 erinnert Oblomov daran, daß er „хотел […] объехать чужие края, чтоб лучше знать и любить свой“ [fremde Länder bereisen [wollte], um [s]ein eigenes besser kennen und lieben zu lernen].75 Das heißt, kein anderer als Štol’c appelliert an Oblomovs Patriotismus, um ihn in Bewegung zu setzen. Und da Štol’c als Vielgereister gilt, impliziert seine Mahnung, daß er selbst Rußland gut kennt und liebt. An Stasjulevič schreibt Gončarov über Obryv (1869), daß er in ihm viel warme Liebe zu seinem Heimatland zum Ausdruck gebracht habe und der Roman mit einer religiösen und patriotischen Apotheose ende (1. 7./19. 6. 1868).76 In
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Oblomov 1998, S. 363 bzw. Oblomow 2012, S. 546. Oblomov 1998, S. 429 bzw. Oblomow 2012, S. 648f. Oblomov 1998, S. 429 bzw. Oblomow 2012, S. 649. Oblomov 1998, S. 49 bzw. Oblomow 2012, S. 73. Oblomov 1998, S. 152 bzw. Oblomow 2012, S. 229. Die Rede der Deutschen empfand die Mutter als „грубая“ [grob] (Oblomov 1998, S. 155 bzw. Oblomow 2012, S. 233). In den Handschriftenvarianten wird Štol’c’ Kenntnis des Russischen explizit auf die ganze Breite und Tiefe der Sprache, die geographisch und historisch verstanden werden, ausgeführt (Gončarov, I. A.: Oblomov. Roman v četyrech častjach. Rukopisnye redakcii. SPb. 2003 [= PSSiP 2003, V], S. 247). Oblomov 1998, S. 181 bzw. Oblomow 2012, S. 272. Gončarov, I. A.: Pis’mo Stasjuleviču M. M., 1 ijulja/19 ijunja 1868 g. Bayern, Kissingen. In: Lemke (Hg.), Stasjulevič 1912, S. 24-27, hier: S. 25. Vgl. seine Bemerkungen gegenüber K. Romanov über patriotische Gedichte (3. 10. 1888): „нужно – или умалчивать, или говорить сильно, тонко, оригинально, горячо и убедительно или образно“ [man muß entweder schweigen oder kräftig, feinsinnig, originell, voller Eifer und nachdrücklich oder
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Obryv wird die Petersburger Gesellschaft, in der sich Rajskij zu Beginn bewegt, durch die Verwendung der französischen Sprache charakterisiert. Besonders Sof’ja Belovodova dient das Französische, um gegenüber Rajskij ihre Unnahbarkeit zu verteidigen. Rajskij läßt einen porträtierten Ahnen von ihr, aber wohl sie meinend, „на своем нечеловеческом наречии, высказывающем нечеловеческие понятия“ [in seiner kalten, starren Sprache, die nichts Menschliches mehr an sich hat] sprechen.77 Von ihr erfahren wir, daß „тогда в свете заговорили, что надо знать по-русски почти так же хорошо, как пофранцузски...“ [es […] damals allgemein [hieß], man müsse Russisch fast ebenso geläufig können wie Französisch …], doch ihre Mutter befahl, daß sie mehr Französisch statt Russisch schreiben solle.78 Ajanov, der Petersburg nie verläßt, verträgt die deutsche Sprache nicht: „вчера и сегодня чувствую шум в голове: всё слышится, будто колокола звонят; вчера в клубе около меня по-немецки болтают, а мне кажется, грызут грецкие орехи...“ [[…] es brummt mir seit gestern […] so im Kopfe, als ob ich in einem fort Glockengeläute hörte; wie ich gestern im Klub war, wurde neben mir deutsch gesprochen, und mir war’s, als knacke jemand Walnüsse …].79 Er selbst ist französisch sozialisiert, über das Russische weiß er fast nichts.80 Rajskij hingegen hat früher zwar die russische Sprache geliebt, aber alles, was nach grammatischem Zwang aussah, abgelehnt.81 Kozlov flicht seiner Profession entsprechend hin und wieder lateinische Wendungen in seine Rede ein. Auf dem Lande dann werfen diejenigen mit französischen Phrasen nur so um sich,82 die Rajskij ‚umgarnen‘ wollen und wissen, daß man eben so in der
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anschaulich sprechen] (Gončarov, I. A.: Pis’mo k [Romanovu K.], 3 oktjabrja 1888. In: ders., Literaturno-kritičeskie stat’i i pis’ma. L. 1938, S. 348f., hier: S. 349). Gončarov, I. A.: Obryv. Roman v pjati častjach. SPb. 2004 (= PSSiP 2004, VII), S. 27 bzw. Gontscharow, Iwan: Die Schlucht [Deutsch von August Scholz]. Zürich 1959, S. 41. Obryv 2004, S. 97f. bzw. Schlucht 1959, S. 151f. Obryv 2004, S. 23 bzw. Schlucht 1959, S. 35. Obryv 2004, S. 15 bzw. Schlucht 1959, S. 22. Obryv 2004, S. 49 bzw. Schlucht 1959, S. 74. In der universitären Grammatikvorlesung „он не слушал законов строения языка, а рассматривал всё, как говорит профессор […]“ [interessierten ihn weniger die Regeln des Satzbaus und die sonstigen Sprachgesetze, als die Art, wie der Professor sie vortrug] (Obryv 2004, S. 85 bzw. Schlucht 1959, S. 131). Kozlovs Frau versteht nicht einmal die Hälfte der französischen Lektüre und und schreibt nur fehlerhaft Russisch (Obryv 2004, S. 206 bzw. Schlucht 1959, S. 317). Obryv 2004, S. 83 bzw. Schlucht 1959, S. 128.
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Petersburger besseren Gesellschaft spricht, seien es die Töchter des Adelsmarschalls oder Pavlina Karpovna Krickaja. Besonders in der Person der letzten wird das Gesellschaftsfranzösisch parodiert. Sie wird dadurch zu einem provinziellen Zerrspiegel Sof’jas, an der letzten Endes das Wort „faux pas“83 hängenbleibt, obwohl ihrem Äußeren und ihrem Gebaren nach die beiden Frauen kaum gegensätzlicher sein könnten. Krickaja fehlt die zu dem russischen Französisch gehörende Zugeknöpftheit. Der dann aus dem Hause gejagte Nil Andreevič Tyškov läßt sich zwar zunächst selbst mit französischen Sprichworten und Wendungen aushelfen, für die sich andere schämen,84 durch das Französisch der Krickaja fühlt er sich jedoch gereizt, weil er es offensichtlich nicht versteht.85 Weder Marfin’ka noch Vera noch die Großtante oder der formvollendete Tit Nikonyč sprechen Französisch, obwohl sie es beherrschen. Marfin’ka tut es an einer Stelle mit Vikent’ev, nachdem sie die Großtante zu mehr Seriosität im Umgang angehalten hatte.86 Dies endet jedoch in einer Lachsalve. Die positiven weiblichen Gestalten des Romans, die die angekündigte Apotheose Rußlands am Ende rahmen, sind also durch die Verwendung der russischen Sprache gekennzeichnet.
Gončarov – ein Sprachpatriot? Man kann sehen, daß sich als eine Kritik durch fast alle Texte zieht, daß selbst diejenigen, die die russische Sprache verwenden und sogar lieben, nicht ihre grammatischen Regeln beherrschen. In dieser Hinsicht kann man Mel’nik zustimmen, der schreibt, daß Gončarov gerade der Zustand der Nationalsprache mehr als alles andere beunruhige, weil er eben die Sprache als Grundlage der nationalen Einheit betrachte.87
83
84 85 86 87
Obryv 2004, S. 566, 567, 568, 569, 570, 572 bzw. Schlucht 1959, S. 866, 867, 868, 869, 870, 871. Obryv 2004, S. 367 bzw. Schlucht 1959, S. 560. Obryv 2004, S. 373 bzw. Schlucht 1959, S. 568. Obryv 2004, S. 319f. bzw. Schlucht 1959, S. 486f. Vgl. „Основой национального единства он считал язык, но именно состояние национального языка тревожило его более всего“ [Die Sprache betrachtete er als Grundlage der nationalen Einheit, aber gerade der Zustand der Nationalsprache beunruhigte ihn mehr als alles andere] (Mel’nik, Vladimir Ivanovič: Ėtičeskij ideal I. A. Gončarova. Kiev 1991, S. 127).
Gončarov als Sprachpatriot
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Gončarov erweist sich als guter Schüler Ševyrevs, denn was Udolph über Ševyrevs Anknüpfen an das Sprachprogramm Šiškovs schreibt, läßt sich modifiziert auch über Gončarov sagen: „Zurückdrängung des französischen Einflusses, der das Russische verderbt habe“,88 die Pflege der eigenen Sprache, denn: „Die Erziehung in einer fremden Sprache führe zwangsläufig zum Verlernen der eigenen und zur kulturellen Überfremdung“.89 Näher noch scheint Gončarov, der als Verehrer Karamzins selbstverständlich nicht wie Šiškov für den ‚staryj slog‘ und das Kirchenslavische plädiert, das Rassuždenie o ljubvi k Otečestvu (1812). Die darin formulierten Kriterien für die Vaterlandsliebe sind der Glaube als erstes und wichtigstes Kriterium, die Sprache und die Erziehung.90 Über die Sprache heißt es, daß sie die Seele des Volkes sei, ein Spiegel der Sitten, ein zuverlässiges Merkmal der Bildung, nicht verstummender Verkünder der Dinge. Er sieht – für seine Zeit selten, so Boris Solomonovič Mejlach – einen Zusammenhang zwischen Wortverbindungen und der Bedeutung, zwischen Sprache und Denken.91 Allerdings kann man dies auch schon bei Lomonosov, auf den sich Šiškov gern beruft, in der Widmung der Rossijskaja grammatika (1755) finden, wo jener schreibt, daß in der Sprache das Denken und die Welt repräsentiert werden.92 Zwischen dem Wohlbefinden einer Nation und ihrer Sprache sieht Šiškov einen direkten Zusammenhang, der sich wiederum positiv auf die vereinende Kraft der Sprache auswirke. „Одним словом, язык есть мерило ума, души и свойств народных“ [Mit einem Wort, die Sprache ist der Maßstab des Verstandes, der Seele und der nationalen Eigenheiten].93 Verliert der Mensch die in ihn gelegte Liebe zur Muttersprache, verliert er auch die Liebe zum Vaterland. Karamzin formuliert diese Überlegungen kürzer: „Язык важен для патриота“ [Für den Patrioten ist die Sprache maßgebend].94 88
89 90
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92
93 94
Udolph, Ludger: Stepan Petrovič Ševyrev 1820–1836. Ein Beitrag zur Entstehung der Romantik in Rußland. Köln/Wien 1986, S. 366. Udolph, Ševyrev 1986, S. 208. Šiškov, Aleksandr Semenovič: Rassuždenie o ljubvi k Otečestvu. In: Čtenie v Besede ljubitelej Russkogo slova. Knižka pjataja. SPb. 1812, S. 3-54, hier zitiert nach: http://az.lib.ru/s/shishkow_a_s/text_1812_rassuzhdenie_o_lubvi_k_otechestvu_oldorfo.s html (Abruf am 29. 9. 2012). Mejlach, B. S.: A. S. Šiškov i Beseda ljubitelej russkogo slova. In: Istorija russkoj literatury v 10 t. T. V. Literatura pervoj poloviny XIX veka. Č. 1. M./L. 1941, S. 183-197, hier: S. 186. Lomonosov, M. V.: Rossijskaja grammatika. In: ders., Trudy po filologii 1739–1758 gg. (= PSS, VII). M./L. 1952, S. 389-578, hier: S. 392. Šiškov, Rassuždenie 1812. Karamzin, N. M.: O ljubvi k otečestvu i narodnoj gordosti [1802]. In: ders., Izbrannye sočinenija v dvuch tomach. Tom vtoroj. M./L. 1964, S. 279-286, hier: S. 286.
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Trifft auf Šiškov die Aussage Harald Haarmanns über die Begriffsbildung zu, daß ,nacija‘ im Russischen ein a-politischer Ausdruck sei,95 so findet er bei Gončarov bis 1877 politische Verwendung. Erst in den Texten aus dem Jahr 1877 hat er seine politische Bedeutung verloren und konzentriert sich zunehmend auf die individuellen Menschen als Vertreter einer Nation:
95
„Der seit 1705 im Russischen verwendete Ausdruck nacija bezieht sich auf folgende Elemente der Gemeinschaftsbildung: eine gemeinsame Sprache, das Kriterium der territorialen Ausdehnung der Sprachgemeinschaft, Gleichartigkeit des Wirtschaftslebens und ein Selbstbewußtsein, das sich im Kulturleben ausdrückt“ (Haarmann, Harald: Nation und Sprache in Rußland. In: Gardt [Hg.], Nation und Sprache 2000, S. 747-824, hier: S. 751).
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Gončarov war zweifelsohne Patriot,96 daß sein Patriotismus im Lauf der Jahre zunehmend enger mit der Sprache verbunden ist, konnte man an den angeführten Zitaten und der schematischen Darstellung sehen. Ist er deshalb aber ein Sprachpatriot? Andreas Gardt nennt drei Kennzeichen von Sprachpatriotismus und Sprachnationalismus: 1. emphatisches Lob der eigenen Sprache und zugleich ihre Vergegenständlichung, d. h. ihre Hypostasierung zu einer Größe jenseits historischer und sozialer Bezüge; sie habe eine eigene, von den Sprechern unabhängige Natur (Charakter, Wesen, Kraft, Geist, Genie etc.); 2. Übereinanderblenden des Sprachlichen mit dem Kulturell-Ethnischen, des Politischen, z. T. des Anthropologischen; der Sprachcharakter entspreche dem Volks- und Nationalcharakter; – bei Sprachnationalismus – 3. behauptete Überlegenheit der eigenen Sprache, deren Gefährdung durch fremde Sprachen, damit einhergehend die Abwertung des sprachlich Fremden.97 Diese drei Kennzeichen sollen hier noch durch zwei der identitätsbildenden Merkmale bzw. Argumente des Sprachlobs, die Holger Kuße beschreibt, ergänzt werden: 4. sozial integrative Funktion; 5. Historizität, Kontinuität.98 Einen eigenen Geist oder Charakter spricht auch Gončarov den verschiedenen Sprachen zu (vgl. Fregat „Pallada“, Korrespondenz, Literaturnyj večer). Diesen könne nur ein Muttersprachler erkennen. Damit korrespondiert seine Übersetzungskritik (vgl. Korrespondenz, Obyknovennaja istorija). 96
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98
Vgl. R[emizov, N.]: Ivan Aleksandrovič Gončarov v religiozno-ėtičeskich i social’noobščestvennych vozzrenijach svoich proizvedenij. In: Vera i razum (1913) 18, S. 758-789 und 19, S. 55-71, hier: S. 68 Gardt, Andreas: Sprachpatriotismus und Sprachnationalismus. Versuch einer historisch-systematischen Bestimmung am Beispiel des Deutschen. In: Gardt, Andreas/Haß-Zumkehr, Ulrike/Roelcke, Thorsten (Hgg.), Sprachgeschichte als Kulturgeschichte. Berlin/New York 1999, S. 89-113, hier: S. 91f. Kuße, Holger: Sprachlob und Sprechenbewerten. In: Kempgen, Sebastian/Gutschmidt, Karl/Jekutsch, Ulrike/Udolph, Ludger (Hgg.), Deutsche Beiträge zum 14. Internationalen Slavistenkongress Ohrid 2008. München 2008, S. 217-230, hier: S. 223f.
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Ebenso beobachtet er einen Zusammenhang zwischen Sprach- und Volksbzw. Nationalcharakter, zwischen Sprache und Sitten (vgl. Fregat „Pallada“, Korrespondenz). Die Sprache sei Teil des Körpers und stehe in Wechselwirkung mit Physiognomie, Mimik, Blut, Denken, Nerven. Die Sprache ist der Mensch und Kennzeichen seiner nationalen Zugehörigkeit. Das ‚russische Französisch‘ sei eben kein authentisches Französisch (vgl. Kritik an Naryškinas Manuskript). Eine Überlegenheit des Russischen wird durch Gončarov direkt zum Ausdruck gebracht, wenn er dessen Differenziertheit und unverfälschte Aufrichtigkeit konstatiert (vgl. Korrespondenz), ansonsten bringt er sie eher indirekt zum Ausdruck, indem er die – v. a. phonetischen – Nachteile anderer Sprachen darstellt (vgl. Fregat „Pallada“, Korrespondenz, Obryv): Englisch:
unfaßbare Laute; verdreht; Grimasse;
afrikanische Sprachen: unmenschliche Laute; Chinesisch:
unharmonisch;
Japanisch:
klangvoll;
Tagalisch:
klangvoll;
Spanisch:
nicht klangvoll;
Deutsch:
als knacke jemand Walnüsse;
Französisch:
liebenswürdig; nicht aufrichtig; kalt; starr; nichts Menschliches; häßliche Wörter; nicht ganz anständige Ausdrücke.
Die Gefährdung des Russischen durch fremde Sprachen – speziell das Französische – beklagt Gončarov (vgl. Fregat „Pallada“, Korrespondenz, Literaturnyj večer), wie man nicht zuletzt an der vielfach formulierten Kritik daran sehen kann, daß selbst diejenigen, die die russische Sprache verwenden und sogar lieben, nicht ihre grammatischen Regeln beherrschen (vgl. Korrespondenz, Obyknovennaja istorija, Obryv, Na rodine). Die Nichtverwendung des Russischen wird als sozial desintegrativ dargestellt (vgl. Korrespondenz, Oblomov, Literaturnyj večer, Slugi starogo veka), was im Umkehrschluß bedeutet, daß das Russische über eine sozial integrative Funktion verfügt (vgl. Korrespondenz, Neobyknovennaja istorija). Historizität und Kontinuität des Russischen spielt bei Gončarov hingegen keine große Rolle. Diese Merkmale klingen aber z. B. noch in den Varianten
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zum Oblomov an, wenn es um die gründliche Kenntnis des Russischen durch Štol’c geht. Sie haben jedoch keinen Eingang in den endgültigen Text gefunden. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Gončarovs Sprachpatriotismus mit einer Kritik an seinen Landsleuten einhergeht, die sich im Gegensatz zu ihm (noch?) nicht der Verantwortung gegenüber der eigenen Muttersprache bewußt sind. Der ‚beschränkte Patriotismus‘ bildet die Voraussetzung für die allgemeine Menschheitsliebe, die das endgültige Ziel darstellt, und sollte demzufolge für jeden verbindlich sein. Wegen dieses allgemeinmenschheitlichen Ziels ist Gončarovs Patriotismus weder missionarisch (er richtet sich nur an seine eigenen Landsleute) noch exklusiv (Positives anderer Nationen erkennt er problemlos an).
Alexander Graf Gončarov und das russische „neue Drama“ Michail Ugarovs Oblom off Auf den ersten Blick mag es vielleicht verwundern, gerade Ivan Gončarov mit dem russischen „neuen Drama“ in Verbindung zu bringen, hat doch der Schriftsteller selbst, abgesehen von kleinen, nicht erhaltenen Jugendsünden und seiner beruflichen Tätigkeit im Zensurkomitee, kaum künstlerische Affinitäten zum Theater gezeigt und sich auch gegen die Dramatisierung seiner eigenen Werke vehement, wenn auch erfolglos zur Wehr gesetzt.1 Auf den zweiten Blick jedoch erscheint es umso bezeichnender, daß gerade ein Roman wie Oblomov für eine künstlerisch rebellierende Bewegung wie das „neue Drama“ mit dessen teils radikalen und oft traditionsfeindlichen Standpunkten zum Prüfstein einer neuen Ästhetik werden konnte: Es gibt wohl nur wenige russische Romane des 19. Jahrhunderts, die unmittelbar nach ihrem Erscheinen eine von breiten Leserschichten akzeptierte Deutung erhalten haben, wie es bereits 1859 durch Nikolaj Dobroljubovs berühmten Aufsatz Čto takoe oblomovščina? [Was ist Oblomoverei?] in der Zeitschrift Otečestvennye zapiski der Fall war, und deren Interpretation ungeachtet aller historischen und politischen Veränderungen im russischen Kaiserreich und in der Sowjetunion in ihren Grundaussagen weitgehend unverändert blieb. Bis heute sind Versuche, den Roman umzudeuten, im russischen Kulturraum eher die Ausnahme als die Regel.2 Bot sich also die Neubearbeitung des Materials schon alleine aus ideologischer Sicht an, so eröffnete die lange Tradition oft kontrovers diskutierter Inszenierungen3 zudem die Möglichkeit, dem Theaterpublikum praktisch vor Augen zu führen, wodurch sich die Praktiken des „neuen Dramas“ von überkommenen Theaterformen absetzen, zumal das Thema des Romans, unbesehen der Art der Auslegung, von zeitloser Aktualität geprägt ist. 1
2
3
Vgl. Steltner, Ulrich: Gončarov und das russische Drama. In: Thiergen, Peter (Hg.): Ivan A. Gončarov. Leben, Werk und Wirkung. Köln/Weimar/Wien 1994, S. 135-147, hier: S. 136. Vgl. Prozorov, Jurij: Čitaem „Oblomova“… In: Voprosy literatury (2012) 11-12, S. 188-196, hier: S. 188f. Vgl. Kalinina, N. V.: Inscenirovki romana. In: Gončarov, I. A.: PSSiP v 20 t. T. 6. SPb. 2004, S. 423-452.
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Ein interessanter Nebenaspekt ist die Entstehungsgeschichte von Ugarovs Oblom off, da sie gleichsam im Detail das Dilemma der russischen Theaterlandschaft um die Jahrtausendwende und die geradezu systematische Marginalisierung einzelner progressiver und experimenteller Bereiche durch den alteingesessenen Theaterbetrieb widerspiegelt: Das Stück entstand ursprünglich unter dem Titel Smert’ Il’i Il’iča [Der Tod des Il’ja Il’ič] auf Anregung Oleg Efremovs für das Moskauer Künstlertheater, wurde aber nach Efremovs Tod im Jahre 2000 wie so manch anderes Projekt des verstorbenen künstlerischen Leiters auf Eis gelegt und fand den Weg auf die Bühne erst, als sich der bislang nur als Dramatiker tätige Ugarov widerwillig überreden ließ, selbst Regie zu führen und sein Werk im kurz zuvor gegründeten „Zentrum für Dramaturgie und Regie“ von Aleksej Kazancev und Michail Roščin zu inszenieren.4 Dieses 1998 ins Leben gerufene Zentrum, so viel sei hier in aller Kürze angemerkt, bildet bis heute eine der wichtigsten Plattformen des „neuen Dramas“ und geht auf jenes seit den 1990er Jahren regelmäßig stattfindende Theaterfestival „Ljubimovka“ zurück, in dessen Kielwasser sich auch die Gründung der Moskauer Theater „Teatr.doc“ (2002 durch Elena Gremina und Michail Ugarov) und „Praktika“ (2006 durch Ėduard Bojakov) vollzogen sowie die Kooperationen mit dem Londoner Royal Court Theatre (seit 1999, initiiert von Tat’jana Oskolkova, der damaligen Leiterin des Festivals „Zolotaja maska“) und das alljährliche Festival „Novaja drama“ (erstmals 2002 von Ėduard Bojakov und Elena Gremina organisiert) entstanden.5 Michail Ugarov hatte sich bereits in den 90ern den Ruf eines pragmatischen Vordenkers und Theoretikers der jungen dramatischen Richtung erworben und legte schließlich als einer der ersten ein klar formuliertes Manifest des „neuen Dramas“ vor, in dem er überaus deutlich die Positionen der „Neudramatiker“ (novodramovcy) zum Ausdruck brachte und die Gründe für ihre teils heftigen Konflikte mit der traditionellen Theaterlandschaft aufzeigte. Unter dem Titel Krasota pogubit mir! [Schönheit wird die Welt zugrunde richten!] stellte er dem überkommenen Theater ein denkbar schlechtes Zeugnis aus und bezeichnete es als Verwertungsbetrieb von Illusionen und Zerstreuungen, deren alleiniger Zweck es sei, das Publikum für die Dauer der Aufführung den Alltag vergessen und in einen lethargischen Schlaf fallen zu lassen. Dieses „bezaubernde“ Theater habe allerdings im Konkurrenzkampf mit der modernen 4
5
Vgl. Gremina, Elena: Tajnye svedenja o M. U. In: Ugarov, M. Ju.: Oblom off: P’esy. Povest’. M. 2006, S. 5-8, hier: S. 8. Zu den Details vgl. Matvienko, Kristina: Chroniki „Novoj dramy“. In: Matvienko, Kristina/Koval’skaja, Elena (Hgg.), Novaja drama: [p’esy i stat’i]. SPb. 2008, S. 485-495.
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Unterhaltungsindustrie schon längst den Platz des Verlierers eingenommen und sei zu einem sinnentleerten kulturellen Gestus verkommen. Weder die Technik der Schauspieler könne noch begeistern, noch die Regie das Theater zum „Herren über die Gedanken“ des Publikums machen, wie dies im „Sovremennik“ der 60er Jahre oder im Taganka-Theater früher der Fall gewesen sei. Als Gegenentwurf sieht Ugarov den „gut organisierten Angriff“ auf das Theater durch die jungen Dramatiker, deren Auftreten in gleichem Maße von pathetischer Erneuerungsrhetorik und geringschätziger Verachtung für das herkömmliche Theater geprägt ist. Viele von ihnen können allerdings auch nicht mit großem Wissen um diesen Gegenstand glänzen, da ihnen klassisches Theater und dessen Vertreter weitgehend unbekannt sind. Dies wiederum ist natürlich ein gefundenes Fressen für alle Gegner der neuen Bewegung, da es kein schlagkräftigeres Argument gibt als den gerechtfertigten Vorwurf der Unwissenheit. Dabei wird allerdings übersehen, daß das „neue Drama“ die geltenden Traditionen bewußt ablehnt bzw. ignoriert, da es einen grundsätzlich anderen Zugang zum Theater wählt und dabei einigen sehr eigenen Regeln konsequent gehorcht. Ugarov benennt zum einen das „Produzentenprinzip“ (princip prodjuserskij), nach welchem im Grunde jeder Mensch fähig ist, ein Stück zu schreiben, seine Aufgabe dabei besteht lediglich darin, persönliche Erfahrungen abzubilden und mit unverfälschten Worten jenen Personen eine Stimme zu verschaffen, die nur er selber kenne. Zum anderen verweist Ugarov auf das „Regisseursprinzip“ (princip režisserskij), das die Gleichsetzung von Textverständnis und Inszenierung bedeutet. Der Autor hält in seinem Stück durch Personentext und Regieanweisungen alles fest, was er als notwendig und passend zum Ausdruck seines Anliegens erachtet. Die weitere Interpretation durch Regisseur oder Schauspieler ist weder intendiert noch erwünscht. Nur wenn Regisseur und Schauspieler zum vollständigen gemeinsamen Verständnis des Schauspieltexts gelangen und sich jeder Versuchung, weiter zu denken und etwaige weiße Flecken auszufüllen, erwehren können, nur dann ist eine erfolgreiche Inszenierung möglich.6 Diese neue Textzentriertheit erklärt auch, warum, abgesehen von organisatorischen und ökonomischen Gründen, die „čitka“, die (szenische) Lesung mit verteilten Rollen, zur beliebtesten und erfolgreichsten Darstellungsform des „neuen Dramas“ wurde. In letzter Konsequenz stehen hinter alledem, genau genommen, das Streben und die Forderung nach einem ungeschönten Dokumentartheater, das sich im Wesentlichen
6
Vgl. Ugarov, Michail: Krasota pogubit mir! – Manifest „novoj dramy“. In: Iskusstvo kino (2004) 2, S. 91-95.
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der „Verbatim“-Technik7, also der wörtlichen Übernahme des milieutypischen Soziolekts bedient und sich thematisch an den unteren Randbereichen der Gesellschaft orientiert. Mark Lipoveckij unterscheidet insgesamt drei grundlegende Tendenzen in der Entwicklung des „neuen Dramas“8: Als neobekenntnishaft (neoispovedal’nye) bezeichnet er Stücke, die sich mit der Autodekonstruktion des Aussagesubjekts befassen, wie dies bei Evgenij Griškovec durchgehend, bei Autoren wie Ol’ga Muchina (Tanja-Tanja) oder Ivan Vyrypaev (Kislorod, Bytie Nr. 2, Ijul’) überwiegend der Fall ist. Unter der Bezeichnung Neonaturalismus bzw. Hyperrealismus (neonaturalizm, giperrealizm) faßt Lipoveckij alle jene Stücke zusammen, die sich der Themen Kriminalität, Drogensucht, sexuelle Gewalt, Obdachlosigkeit usw. annehmen und lexikalisch-motivisch jene Gruppe bilden, die das „neue Drama“ zum kulturellen Skandal gemacht haben. Ihnen ist unter dem Titel Performing Violence auch die bisher einzige vorliegende Monographie zum russischen „neuen Drama“ gewidmet.9 Eine gesonderte dritte Strömung schließlich bilden Dramen, die den Naturalismus mit der intensiven Verwendung grotesker intellektueller Metaphern verknüpfen, wie es in den Texten der Brüder Presnjakov, bei Maksim Kuročkin oder Jurij Klavdiev der Fall ist. Eines der Hauptprobleme des „neuen Dramas“ besteht allerdings darin, daß es keine aktuelle soziale Tradition gibt, an die man anschließen könnte, da gerade die großen Träume der „Sechziger“ (šestidesjatniki) und der Liberalen jenen Gesellschaftszustand während der 90er Jahre verursacht haben, der die Figuren der heutigen Dramatiker rat- und hilflos verzweifeln läßt. Es nimmt daher wenig Wunder, daß das sozial-ästhetische Augenmerk des „neuen Dramas“ neben der weit verbreiteten „černucha“ am ehesten auf die physiologische Skizze im Stil des 19. Jahrhunderts gerichtet ist sowie auf die Barfüßerthematik in der Nachfolge Maksim Gor’kijs. Als einer der wesentlichsten Unter7
8
9
Zur Übernahme der vom Londoner Royal Court Theatre entwickelten Technik („In-YerFace Theatre“) und ihrer weiteren Verbreitung in Rußland vgl. Bolotjan, I. M.: Verbatim: metod, stil’, žanr? In: Bidermann, I./Ševčenko, E. N./Šachmatova, T. S. (Hgg.), Sovremennaja rossijskaja drama: Sbornik statej i materialov meždunarodnoj naučnoj konferencii (27–29 sentjabrja 2007 g.). Kazan’ 2008, S. 58-65. Zum folgenden vgl. Lipoveckij, Mark: Paralogii: Transformacii (post)modernistskogo diskursa v russkoj kul’ture 1920–2000-ch godov. M. 2008, S. 759-769. Beumers, Birgit/Lipovetsky, Mark: Performing Violence. Literary and Theatrical Experiments of New Russian Drama. Bristol/Chicago 2009; in russischer Sprache erschienen als Bojmers, Birgit/Lipoveckij, Mark: Performansy nasilija. Literaturnye i teatral’nye ėksperimenty „novoj dramy“, M. 2012.
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schiede bleibt allerdings festzuhalten, daß sich das „neue Drama“ nicht wie die Literatur des 19. Jahrhunderts mit der objektiven Wirklichkeit auseinandersetzt, sondern mit der Unfähigkeit seiner Charaktere, mit der subjektiv empfundenen Wirklichkeit um das Individuum herum zurechtzukommen.10 In diesem Zusammenhang ist auch jene Gruppe von Vertretern des „neuen Dramas“ zu sehen, die entgegen der landläufigen Meinung sehr wohl auf die literarische Tradition Bezug nimmt und vielleicht weniger radikal, darum aber nicht weniger bestimmt die Maximen der neuen Richtung auf klassische Vorlagen anwendet. Man greift auf ‚kanonische‘ Texte zurück, um sich an althergebrachten Situations- und Rollenbildern im modernen Kontext abzuarbeiten, und verhilft auf diese Weise der produktiven Rezeption des 19. Jahrhunderts zu einer neuen Blüte, die nicht zuletzt die ideologieschwangeren und als verlogen empfundenen Interpretationen der scheinbar liberalen sowjetischen Intelligencija demaskieren will. In diese Kategorie fallen Stücke wie Bednye ljudi, blin von Sergej Rešetnikov, Jama von Vasilij Sigarev, Bašmačkin und Antonij i Kleopatra. Versija sowie Černyj monach von Oleg Bogaev, Apokalipsis ot Firsa ili Višnevyj son Firsa sowie Smert’ Firsa von Vadim Levanov, Nikolaj Koljadas Gogol’-Trilogie Starosvetskie pomeščiki, Korobočka und Ivan Fedorovič Špon’ka i ego tetuška, Čajka von Konstantin Kostenko und Voskresenie. Super der Gebrüder Presnjakov. Diese Aufzählung ließe sich ohne weiteres fortsetzen. Keinesfalls handelt es sich dabei, wie Lipoveckij polemisch möchte glauben machen,11 lediglich um billige Remakes, die das Original bloß als neu zu gestaltendes Bilderbuch betrachten. Vielmehr stehen existentielle Fragen im Mittelpunkt, die Aktualisierung kultureller Codes dient dem Auffinden sozialer Gemeinsamkeiten innerhalb des Publikums, neben der Dekonstruktion der Vorbilder steht ganz bewußt die Konstruktion möglicher Zukunftsentwürfe. Je nach Bildungs- und Erwartungshorizont lassen sich Inklusions- und Exklusionsprozesse beobachten, die auf den althergebrachten Fragen nach Eigenheit und Fremdheit, Verständnis und Unverständnis, Bereitschaft zur Teilnahme oder Nichtbereitschaft beruhen.12 Das „neue Drama“ wird auf diese Weise zum interaktiven Prozeß, ein passives Publikum bedeutet das Scheitern jeder Aufführung. So ist es verständlich, daß die Autoren überwiegend auf 10 11 12
Vgl. Lipoveckij, Paralogii 2008, S. 768. Vgl. Lipoveckij, Paralogii 2008, S. 768. Vgl. Žurčeva, O. V.: Receptivnye strategii v novejšej dramaturgii: invariant ili variativnost’. In: Prochorova, T. G./ Ševčenko, E. N. (Hgg.), Sovremennaja rossijskaja drama i teatr: sbornik statej i materialov meždunarodnoj naučnoj konferencii (7–9 oktjabrja 2010 g.). Kazan’ 2011, S. 138-146, hier: S. 139.
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Werke zurückgreifen, von denen sie annehmen können, die Zuschauer seien mit ihnen bekannt. Das trifft insbesondere auf jene Texte zu, die sich zumindest bis heute noch in den Lehrplänen der russischen Gesamtschulen und Gymnasien halten konnten, obzwar auch hier die Perspektive immer düsterer wird. Ugarov ist also mit seinem Stück Oblom off durchaus kein Einzelfall, doch nimmt er vor dem Hintergrund der breiten Flut an Klassikerbearbeitungen insofern eine Sonderstellung ein, als er zum einen der erste unter den Neudramatikern war, der sich einer klassischen Vorlage zuwandte, und zum anderen bis heute nachwirkende stilistische Maßstäbe für derlei Unterfangen setzte. Der Grundtenor aller Kritiken bestand darin, daß Ugarov mit seinem Drama ein eigenständiges Werk geschaffen habe, dessen Anlage und Figurenkonstellation sich zwar auf Gončarovs Roman beziehe, dessen Aussage in seiner Gesamtheit jedoch vollkommen neue Auslegungspotentiale erschließe. Wenn man sich nun die lange Reihe von Interpretationsansätzen vor Augen führt, die auf den Roman im Lauf der Geschichte in Anwendung gebracht wurden und welche Daniel Schümann in seiner Bamberger Dissertation über die Oblomov-Fiktionen im deutschsprachigen Raum anschaulich aufgelistet hat,13 so wird rasch deutlich, daß sich Ugarov an drei wesentlichen Denkrichtungen orientiert, auf deren konkrete Auswirkungen im Folgenden noch einzugehen sein wird. Es handelt sich dabei, erstens, um die psychologische Deutung des Romans, wie sie lange Zeit vor allem in der westlichen Hemisphäre vorherrschend war, zweitens, um die Betrachtung Oblomovs als Nonkonformisten bzw. Verweigerer und schließlich, drittens, und dieser Punkt kristallisiert sich als der wesentlichste heraus, um die Auseinandersetzung, ob Oblomov als Bruchstückmensch betrachtet werden könne oder aber vielmehr als ganzheitlicher Charakter auf einer dem Alltag entrückten Ebene gesehen werden müsse. Im Grunde wurden die Aktualität und ebenso die Zeitlosigkeit dieser Fragestellung bereits vor mehr als einhundert Jahren von Dmitrij Ovsjaniko-Kulikovskij formuliert, doch soll sie hier kurz in Erinnerung gerufen werden, um die unmittelbare Wirkung auf Ugarov und sein Publikum zu verdeutlichen: Дело в том, что в этой художественной фигуре, кроме конкретного лица Ильи Ильича Обломова, приуроченного к определенному времени, к известному социальному строю, заключен еще и другой, более обобщенный образ, другой Обломов, не приуроченный к данному времени и данному порядку вещей, – Обломов уже не историчес13
Vgl. Schümann, Daniel: Oblomov-Fiktionen. Zur produktiven Rezeption von I. A. Gončarovs Roman Oblomov im deutschsprachigen Raum. Würzburg 2005, S. 39–93.
Ugarovs Oblom off
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кий, не бытовой, а, так сказать, психологический, и этот последний и сейчас жив и здравствует, между тем как первый, конкретный Илья Ильич, уже отошел в прошлое и является для нас фигурою историческою.14 Die Sache ist die, daß in dieser literarischen Gestalt außer der konkreten Person Il’ja Il’ič Oblomovs, die an eine bestimmte Zeit, an eine bekannte Gesellschaftssituation gebunden ist, auch noch ein anderes, allgemeiner gehaltenes Bild beschlossen liegt, ein anderer Oblomov, der nicht an eine bestimmte Zeit und an eine bestimmte Ordnung der Dinge gebunden ist, – ein Oblomov, der nicht mehr historisch, nicht mehr im Alltag angesiedelt, sondern sozusagen psychologisch ist, und dieser letztere ist auch heute noch lebendig und bei guter Gesundheit, während der erste, der konkrete Il’ja Il’ič bereits der Vergangenheit angehört und uns als historische Figur erscheint.
Ein Reibungspunkt, der unmittelbar auf Ugarovs Auseinandersetzung mit Oblomov als psychologischem Phänomen einwirkte, ist zweifelsohne der Film Neskol’ko dnej iz žizni I. I. Oblomova aus dem Jahre 1979 unter der Regie von Nikita Michalkov und mit Oleg Tabakov in der Titelrolle, da die hochgejubelte und heute als Klassiker verehrte Verfilmung im wesentlichsten Punkt, nämlich in der Darstellung Oblomovs als weltoffenem, vertrauensvollem, naivem und abgrundtief ehrlichem Wesen dem literarischen Charakter einen Bärendienst erweist und durch die Umdeutung des gesamten Texts zum Traumgeschehen eine ideologische Verschiebung in Richtung cinéma russe in Farbe vornimmt, die von der Bedrohung des altrussischen Idylls durch den Fortschritt zeugt.15 Hier ist für Agaf’ja Pšenicyna kein Platz, und auch Štol’c nimmt bestenfalls den Stellenwert einer Karikatur ein. Was bleibt, ist ein recht eigentümliches Bild, das mit Gončarovs Roman nicht mehr viel zu tun hat: Слабодушная манерная Ольга и карикатурный делец Штольц – прямой сноб, человек дюжинного ума и узкой души; «истертая ветошка» Алексеев; слёзный, с лубочной картинки, смиренник Захар; долгое любованье разнотравьем, мебелью, костюмами и сухой рябиной на банном подоконнике и проч.: всё это подробности «почвеннического» упоения, «палехского» фона и умело составленного гербария, по красивому полю которых прекрасным лебедем проплывает и в благом воздухе матушки-России растворяется сусальный русский праведник Илья.16 Eine wankelmütige und gekünstelte Ol’ga und der karikaturenhafte Hansdampf Štol’c, ein echter Snob, ein Mensch mit gewaltigem Verstand und kleinem Herzen; der „abgerissene Lumpenträger“ Alekseev; der weinerliche, wie aus einem Holzschnitt stammende Scheinheilige Zachar; die lange ergötzliche Betrachtung verschiedener Gräser, Möbel, Kleidungs-
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Ovsjaniko-Kulikovskij, D. N.: Iz „Istorii russkoj intelligencii“. In ders., Literaturnokritičeskie raboty v dvuch tomach. T. 2. M. 1989, S. 3-273, hier: S. 231. Vgl. Cholkin, V. I.: Teatr dlja sebja (Dva romana Gončarova. Sceničeskaja verojatnost’). In: Denisenko, S. V. (Hg.), Oblomov: konstanty i peremennye. Sbornik naučnych statej. SPb. 2011, S. 253-261, hier: S. 257. Cholkin, Teatr dlja sebja 2011, S. 257.
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stücke und der getrockneten Schneeballbeeren auf dem Fenstersims der Badestube und dgl.: all dies sind Details „bodenständiger“ Verzückung, eines „Palech-Hintergrunds“ und eines gekonnt zusammengestellten Herbariums, über deren wunderschönes Feld als prächtiger Schwan der süßliche russische Gerechte Il’ja vorüberzieht, um sich in der wohligen Luft von Mütterchen Rußland aufzulösen.
Obwohl Ugarov gerade gegen eine solche Verniedlichung Oblomovs anschreibt und versucht, der Subjektbezogenheit des Diskurses Rechnung zu tragen, stammt das Verfahren der Beschränkung auf einige ausgewählte Szenen, in die der Rest der Romanhandlung durch Berichte, Andeutungen, Verweise integriert ist, zu einem maßgeblichen Teil wohl aus dem Handwerkskasten Michalkovs. Die Straffung dient Ugarov allerdings nicht nur dazu, die Handlung in darstellbarem Rahmen und Umfang auf die Bühne zu bringen, sondern sie verhilft ihm auch zu einer ‚Bereinigung‘ des Originals17, aus dem er so gut wie alle zeittypischen Details des 19. Jahrhunderts ebenso entfernt wie die gesellschaftlichen Konventionen, die ja ein Gutteil der Gewissensbisse und seelischen Qualen Oblomovs begründen, so daß letztlich tatsächlich ein vergleichsweise zeitloses Drama überbleibt, in dem zwar Gesellschaft und Individuum, Herr und Diener, Wirtin und Untermieter eine gewisse Rolle spielen, diese Rollen aber auf ein auch in der heutigen Zeit vorstellbares Maß reduziert sind. Die Frage nach der Bedeutung des Romantitels Oblomov wurde schon oft gestellt und ebenso oft beantwortet. Seien es die „oblomki“, also die Bruchstücke, oder der „oblom“ als Nichtrealisierung einer Vision oder aber auch nur der „lom“ als Gradmesser der Unlust etwas zu vollenden, so eröffnet Ugarov mit der Schreibweise „Oblom off“ eine ganze Reihe neuer Assoziationen. Zum einen verweist Ugarovs Titel auf die Tradition des Off-Theaters als Bühne für jedermann bzw. für dasjenige Publikum, das mit der glamourösen Inszenierung im Stile des Broadways nichts anfangen kann. Zum anderen stellt das Wörtchen „off“ im Computerzeitalter auch den Gegensatz zu „on“ dar, was zunächst einigermaßen banal erscheint, im konkreten Fall aber durchaus tragend wird. Verweist der ursprüngliche Titel Smert’ Il’i Il’iča noch ganz eindeutig auf Tolstojs Erzählung Smert’ Ivana Il’iča und damit auf einen Prozeß des langsamen Verlöschens und Dahindämmerns, an dessen Ende jedoch die Erkenntnis einer Wahrheit sowie die Unterordnung unter deren Anfordernisse stehen, so bedeutet „off“ in Oblom off nichts anderes als die Absage Oblo17
Vgl. hierzu den Dialog Milyj, milyj „Oblom-off“ des Theaterwissenschaftlers Kamariddin Artykov und der Journalistin Marija Stal’bovskaja aus Anlaß der Premiere des Stückes Oblom off am Theater Il’chom in Taškent am 3. Dezember 2005 (http://cultureuz.net/theatre/ilkhom/oblomoff.html; Abruf am 15.09.2012).
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movs an den Lebensentwurf des ständig tätigen Menschen. Il’ja Il’ič ist der einzige, der sich nicht vom Prinzip der unbedingten Produktivität vereinnahmen läßt und gleichsam die Notbremse zieht, indem er das System anhält, den Prozeß der Zerstückelung nicht zuläßt.18 Auf die Deutung soll im Anschluß an die folgenden Ausführungen zu Struktur und Anlage des Dramas nochmals näher eingegangen werden. Das Sujet des von Ugarov mit dem sperrigen Untertitel P’esa v dvuch dejstvijach, odinnadcati scenach po motivam romana I. A. Gončarova „Oblomov“ versehenen Stückes entspricht im Wesentlichen dem Roman. Die gravierendsten Unterschiede bestehen zum einen darin, daß Ugarov auf Andrej Oblomov, den Sohn aus der Verbindung Il’ja Il’ičs mit Agaf’ja Matveevna verzichtet, die Erbfolge des russischen Oblomov also abbricht und ihn auch nicht der Obhut eines neuen Štol’c anvertraut, zum anderen darin, daß mit dem Doktor Arkadij Michajlovič ein neuer Charakter eingeführt wird, der nicht nur das Stück eröffnet, sondern auch zum wichtigsten Widerpart Oblomovs im Verlauf der Handlung wird. Štol’c, auf den ebenfalls noch einzugehen sein wird, spielt im Vergleich zum Roman hier nur eine Nebenrolle. Eine weitere Besonderheit offenbart sich darin, daß der erste Akt höchst ironisch von einer Oblomov-Figur dominiert wird, die Kind zu bleiben versucht und erfolgreich allen anderen handelnden Personen ihr infantiles Spiel aufzwingt, während der Oblomov des zweiten Akts ohne auch nur einen Anflug von Ironie ein von Selbstzweifeln geplagter Charakter ist, der sein Recht hinterfragt, nach eigenen, als nicht kompatibel mit der Gesellschaft erkannten Regeln leben zu wollen.19 Zu Beginn der Handlung wirkt Oblomov tatsächlich kindlich und geradezu infantil: Als der Arzt Arkadij Michajlovič das Zimmer betritt, sitzt Oblomov unter dem Tisch, wo er sich schon vor dem Eintreffen des Doktors unter der Tischdecke versteckt hat. Nur zögerlich kommt er hervor: АРКАДИЙ. А зачем же вы, позвольте спросить, залезли под стол? ОБЛОМОВ. Я просто так здесь сижу. У меня здесь домик. АРКАДИЙ. Что? Обломов, кряхтя, вылезает из-под стола. Поднимает руки над головой, сделав ладони углом – вид островерхной крыши. 18
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Vgl. Karpeeva, T. A.: Interpretacija klassičeskich obrazov i motivov v p’ese M. Ugarova „Smert’ Il’i Il’iča“ („Oblom off“). In: Bidermann, I./Ševčenko, E. N./Šachmatova, T. S. (Hgg.), Sovremennaja rossijskaja drama: Sbornik statej i materialov meždunarodnoj naučnoj konferencii (27–29 sentjabrja 2007 g.). Kazan’ 2008, S. 167-173, hier: S. 171f. Vgl. hierzu auch die Kritik von Tat’jana Tichonovec unter http://newdrama.perm.ru/oblomoff; Abruf am 15.09.2012.
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«Я в домике!» Ну, так говорится. Если мы с вами, к примеру, в салочки играем, то нечестно меня салить, если я перед этим сделал так (ладони над головой) и сказал: «Я в домике!». АРКАДИЙ (в полной растерянности). Ну... ОБЛОМОВ. Баранки гну!20 ARKADIJ. Und warum sind Sie dann, entschuldigen Sie die Frage, unter den Tisch gekrochen? OBLOMOW. Ich sitze hier einfach so. Ich habe hier ein Häuschen. ARKADIJ. Was? Oblomow kriecht schnaufend unter dem Tisch hervor. Führt die Fingerspitzen über dem Kopf zusammen und bildet mit den Handflächen ein Dächlein. OBLOMOW. „Ich bin im Häuschen!“ Nun, so heißt das. Wenn wir beide beispielsweise Fangen spielen, ist es unfair, wenn man mich abschlägt, wenn ich vorher so gemacht (Hände über dem Kopf.) und gesagt habe: „Ich bin im Häuschen!“ ARKADIJ. (Völlig verwirrt.) Nun… OBLOMOW. Suppenhuhn! (S. 5).
Dem frischgebackenen Doktor Arkadij gegenüber, der stolz ist, nicht nur im Obuchov-Krankenhaus, sondern auch in Augsburg, Paris und Wien die beste medizinische Ausbildung genossen zu haben und der auf Nervenleiden spezialisiert ist, erzählt Oblomov treuherzig von diversen Schlägen gegen den Kopf, die er sich in den unmöglichsten Situationen zugezogen hat. Nicht weniger eigentümlich sind allerdings auch die Feststellungen des Arztes, die voller Seitenhiebe auf die Psychoanalyse stecken: Jede Krankheit sei die Folge eines Traumas, jede Verletzung ebenso, denn man schlage sich nicht einfach das Knie auf, dabei handle es sich vielmehr um eine unbewußte Selbstbestrafung, da „jeder Mensch in irgendeiner Weise schuldig“ sei: „Vsjakij čelovek v čemnibud’ da vinovat.“ (268). Das Urteil des Mediziners ist rasch gefällt, und es entfahren ihm an Oblomov gerichtet voll Begeisterung die Worte: „Vy – nastojaščij sumasšedšij!“ (269) [Sie sind ein echter Verrückter!; S. 6]. Umso erstaunlicher ist es dann allerdings für den Zuschauer mitzuverfolgen, wie der angeblich verrückte Oblomov blitzschnell den Spieß umdreht, den Doktor scheinbar spielerisch zum Krähen und Bellen bringt, um ihm daraufhin seinerseits eine Geisteskrankheit zu attestieren. Bevor man noch weiß, ob es sich um Spaß oder Ernst handelt, referiert Oblomov unter Beachtung der wesentlichen psychoanalytischen Schlüsselbegriffe seine Furcht vor dem Ende 20
Ugarov, Michail: Oblom off: P’esy. Povest’. M. 2006, S. 268. Im Weiteren beziehen sich die den Zitaten in runden Klammern nachgestellten Seitenangaben auf diese Ausgabe. Die Übersetzung folgt dem Manuskript Oblom-off (deutsch von Alexander Kahl, o. J.) des Hartmann & Stauffacher Verlags für Bühne, Film, Funk und Fernsehen in Köln, auch wenn die Übersetzung stellenweise zweifellos verbesserungswürdig ist.
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der Zeit und frühkindliche Kastrationsängste (der Doktor ist begeistert), bevor er unvermittelt zum Kern seiner ‚Krankengeschichte‘ kommt, wo von Spaß oder Geistesschwäche nicht mehr im geringsten die Rede sein kann, obwohl er die Situation kurz darauf wieder ins Lächerliche kippen läßt: ОБЛОМОВ (поспешно). Я не мужчина! АРКАДИЙ. То есть как это? ОБЛОМОВ. Я – Обломов. АРКАДИЙ. Да, но... ОБЛОМОВ. Обломов больше мужчины! АРКАДИЙ. Позвольте!.. ОБЛОМОВ. Мужчин половина, и женщин ровно столько же. Как же я могу сказать, что я мужчина? Ведь это сразу сделаться половинкою вместо целого! Эдак вы меня на части разделите! (274). OBLOMOW. (Schnell.) Ich bin kein Mann! ARKADIJ. Bitte? Wie meinen Sie das? OBLOMOW. Ich bin ein Oblomow. ARKADIJ. Ja, aber… OBLOMOW. Ein Oblomow ist mehr als ein Mann! ARKADIJ. Erlauben Sie!.. OBLOMOW. Die Hälfte Mann, und Frau genau so viel. Wie könnte ich behaupten, ich sei ein Mann? Das hieße doch gleich nur Hälften statt eines Ganzes [!] machen! So reißen Sie mich in Teile! (S. 8).
Mag also der Name Oblomov ursprünglich durchaus „die Dominanz von Fragmentarität und das Fehlen von Totalität“21 signalisieren, so handelt es sich bei Ugarovs Oblomov um eine Figur, für die es keine größere Angst gibt als geteilt, unvollständig, nicht ganz zu sein. Daß Il’ja Il’ič mit seinem Wunsch nach der Absage an die Welt nicht alleine ist, beweist wiederum der Doktor, der durch Tröpfcheninfektion vorübergehend ebenfalls an Oblomovs Leiden erkrankt, sich sogar dessen Schlafrock ausborgen will und nach einem mißglückten Hypnoseversuch, der in Selbsthypnose endet, gesteht, selbst ein Holzpferdchen im Schrank zu haben, auf dem er in unbeobachteten Momenten durchs Zimmer reite. Unweigerlich fühlt man sich hier auch an Andrej Štol’c erinnert, der ebenfalls das Steckenpferd des Gefühls reitet, jedoch stets auf das richtige, ‚gesunde‘ Maß bedacht ist.22 Arkadij Michajlovič überwindet allerdings die Infektion und wird zum soliden, geschäftstüchtigen Doktor, der die Praxis voller Patienten hat und sich letztlich am Ende des Stückes, nachdem er 21
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Thiergen, Peter: Oblomov als Bruchstück-Mensch: Präliminarien zum Problem „Gončarov und Schiller“. In: ders. (Hg.), I. A. Gončarov. Beiträge zu Werk und Wirkung. Köln, Wien 1989, S. 163-191, hier: S. 177. Vgl. Setschkareff, Vsevolod: Andrej Štol’c in Gončarovs Oblomov: Versuch einer Reinterpretation. In: Thiergen (Hg.), I. A. Gončarov 1989, S. 153-162, hier: S. 156.
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Oblomov mit der Diagnose, dieser leide an „Totus“ und diese Krankheit führe unweigerlich zum Tode, konfrontiert hat, professionell-unverbindlich und gleichzeitig unpassend von Il’ja Il’ič verabschiedet: „Vsego chorošego. Ešče uvidimsja. Vse budet chorošo. Zaedu kak-nibud’. Ne zabyvajte“ (327) [Alles Gute. Wir sehen uns noch. Es wird schon werden. Ich komme mal vorbei. Vergessen Sie mich nicht; S. 39)]. Und doch zieht sich Arkadij, als er Zachars Nachruf auf dessen Herrn hört, in das „Häuschen“ zurück, das zum Symbol für Oblomovs ‚Krankheitsbild‘ geworden ist. Das Holzpferdchen existiert, nebenbei bemerkt, auch noch immer, es verstaubt nur zwischenzeitlich langsam im Schrank, bleibt aber als potentielle Möglichkeit bestehen. Die Figur Zachars, Oblomovs treuem Diener, ist zwar nicht allzu weit von der Romanvorlage angesiedelt, doch nimmt Ugarov auch hier einige Modifikationen vor, welche die Tonalität des Charakters verändern. Zachar klagt, ganz dem Original entsprechend, über die Arbeit, führt die Sauberkeit und Ordnung der Deutschen, die ihm als Vorbild präsentiert werden, auf deren Armut zurück, weil nicht verstauben könne, was nicht vorhanden sei, dient ansonsten aber in erster Linie als Stichwortgeber für seinen Herrn sowie als behütender guter Geist. Er nimmt gleichsam die Rolle der verlorenen Mutter ein, wenn er versucht, Oblomov vor den Gefahren der Straße zu bewahren und ihn stattdessen in den Schlaf zu wiegen. Er räumt wegen Oblomov nicht auf, um diesem das Verlassen des Zimmers zu ersparen; er ist es auch, der jenen berühmt-berüchtigten Brief des Verwalters bewahrt, der im Roman in den Falten von Oblomovs Bettstatt zeitweise verlorengeht. Zachar rät seinem Herrn eindringlich, den Brief nicht zu lesen, um seine Nerven zu schonen. Als Oblomov sich dennoch an die Lektüre macht und ratlos vor dem letzten Satz sitzt, der da auch für russische Ohren ziemlich unverständlich lautet: „Aki zychalu unesli tak porchalo dude ne bu prjasnitsja donesut ščelo“ (280),23 deutet Zachar diese „dunkle Stelle“ als Klage der Grundbesitzer, wofür er als asiatische Seele gerügt wird, und erkennt in ihr ein böses Omen, da er das (nicht existierende) Wort „ščelo“ eindeutig mit dem Tod in Verbindung bringt. Die Rolle, den Tod zu 23
Die einzige mir bisher bekannte Deutung dieses Satzes findet sich anonym im Internet-Forum der „Esperanto novosti“, wo sinngemäß wiedergegen wird, daß der Dorfälteste über die geringen Erträge des Gutes klagt, aber zusichert, weiteres Geld zu schicken, wenn dies nötig würde. Die „Unlesbarkeit“ wird durch Dialektismen sowie akustische und orthographische Fehler des Schreibers erklärt (vgl. http://e-novosti.info/forumo/viewtopic.php?t=4117; Abruf am 15.09.2012). Für Ugarovs Konzeption scheint jedoch gerade die Unverständlichkeit des Satzes wesentlich zu sein, da hier der Schrecken Oblomovs vor dem Rätselhaften und das intuitive Verständnis Zachars für intellektuell nicht erfaßte Zusammenhänge deutlich werden.
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deuten, bleibt ihm bis zum Ende des Stücks bestimmt, sein Monolog über das Wesen Oblomovs, das weitere Schicksal der Kinder und die eigene Hilflosigkeit in der veränderten modernen Welt unterstreichen seine Seelenverwandtschaft mit dem Verstorbenen. Nicht ohne Seitenhieb auf die russische Wirklichkeit nach dem Ende der Sowjetunion läßt ihn Ugarov mit den Worten schließen: Все не то теперь, не по-прежнему, хуже стало. В лакеи только грамотных берут. Сапоги сами снимают с себя. Все какие-то фермы, аренды, акции. Что за акции такие, я не разберу? Это все мошенники выдумывают! Нужны им деньги, так и пустят в продажу бумажки по пятисот рублей, а олухи накупят. Тут все и лопнет. Одни бумажки останутся, а денег нет. Где деньги? – спросишь. Нету – учредитель бежал, все с собой унес. Вот они, акции-то! (328). Alles ist jetzt anders, nicht mehr so, wie es früher war, alles ist schlechter geworden. Ein Lakai muss lesen und schreiben können. Die Stiefel ziehen sich die Herrschaften selbst aus. Überall hört man von Farmen, Pachtgütern, Aktien. Was sind denn eigentlich Aktien, ich begreife das nicht. Das denken sich alles diese Betrüger aus! Weil sie Geld brauchen, bringen sie Papiere im Wert von fünfhundert Rubel in Umlauf, und Dummköpfe kaufen sie. Und dann kracht alles zusammen. Die Papiere bleiben dir, aber Geld hast du keines. Wo ist das Geld? fragst du. Weg, der Veranstalter ist durchgebrannt und hat alles mitgenommen. Das sind Aktien! (S. 39).
Wie weit auch Oblomov in seinem Wesen von der Geschäftswelt entfernt ist, zeigt sich am deutlichsten in einem Vergleich mit Štol’c, der im Roman ja weniger als klassischer Gegenspieler denn als Freund Oblomovs auftritt (die Rolle des ‚bösen Geistes‘ übernimmt dort eher Tarant’ev),24 in Ugarovs Oblom off aber als eindeutiger Gegenpol mit ausgeprägten, zeitweise geradezu karikaturenhaft überzeichneten Charaktereigenschaften ausgestattet ist, die ihn sowohl als Deutschen – er verwendet ständig deutsche Satzbrocken und lacht übertrieben – als auch als beinharten Geschäftsmann festlegen. Oblomovs „chalat“ bezeichnet er hartnäckig als „šlafrok“, er führt auch während des Besuchs bei Oblomov seine Geschäfte mit Hilfe von Laufburschen weiter und gibt ungerührt Anweisungen, die für alle anderen Anwesenden unverständlich bleiben. Die Parallelen zum Auftreten neureicher Russen mit ihren Mobiltelefonen sind sicher kein Zufall. Seine Mitarbeiter beurteilt Štol’c ausschließlich nach ökonomischen Gesichtspunkten, Investitionen werden nur nach persönlichem Nutzen bewertet, die Allgemeinheit muß ebenso zurücktreten wie die Familie, denn die Devise lautet: „Delo nužno delat’! Gešeft!“ (285) [Man muss was tun! Geschäfte!; S. 15]. Je weniger ein Mitarbeiter abseits der ihm gestell24
Vgl. Rebel’, Galina: Oblomov i drugie. In: Voprosy literatury (2012) 11-12, S. 158-187, hier: S. 167.
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ten Aufgaben weiß, desto besser: „Znat’ tol’ko svoe delo […], – ėto sekret vseobščego blaga“ (286) [Sein Handwerk beherrschen muss man […], das ist das Geheimnis des allgemeinen Wohls; S. 15]. Diesem Zerstückelungs- und Teilungsideal steht Oblomov nicht nur ablehnend, sondern völlig verständnislos gegenüber. Die Familie ist für ihn eine feststehende soziale Größe, Investitionen sind gerechtfertigt, wenn sie irgendjemandem, nicht notwendigerweise ihm selbst, Nutzen bringen, das Geschäftsleben – insofern stimmt er Štol’c zu – erfordert nicht den ganzen Menschen, sondern nur ein Bruchstück, darum möchte er damit nichts zu tun haben: Да не весь же человек нужен, чтоб сукном торговать или чиновником быть. Только часть его нужна. Куда ж остальное девать? Остаток – куда? Некуда! Где тут человек? На что раздробляется и рассыпается? Где его цельность? Половинки, осьмушки, четвертинки... А ведь снуют каждый день, взад и вперед, взад и вперед! Всё что-то делают, строят, продают, приказы пишут, покупают, перевозят. И ни у одного ясного, покойного взгляда... (285). Aber nicht der ganze Mensch wird gebraucht, um mit Stoff zu handeln oder Beamter zu sein. Nur ein Teil von ihm. Wohin mit dem anderen? Den Rest – wohin? Nirgendwohin! Wo ist hier der Mensch? Was soll ersich zerstückeln und zersplittern? Wo ist seine Ganzheit? Hälften, Achtel, Viertel… Aber rennen jeden Tag hin und her, hin und her! Immer wird was gemacht, gebaut, verkauft, unterschrieben, gekauft, transportiert. Und nicht einer hat einen klaren, ruhigen Blick … (S. 15).
Die einzige Rechtfertigung für die Turbulenzen eines geschäftigen Lebens besteht für Oblomov im Ziel, künftige absolute Ruhe zu finden. Daß dieser Zustand auf Erden nicht erreichbar ist, weiß Oblomov nicht weniger sicher als Štol’c, nur zieht er daraus die Konsequenz, die Unvollkommenheit zu akzeptieren und sich mit dem Ideal des lebensbejahenden Nichtstuns seiner Berufung als „passiver Künstler“ hinzugeben, der „ausschließlich als Medium genialer Stimmungen“25 zu seiner Erfüllung gelangt. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, daß auch Oblomovs Beziehung zu Ol’ga Il’inskaja zunächst auf der musischen Wahrnehmung basiert, da die von ihr vorgetragene Arie Casta diva das Kernstück der Erinnerungen Oblomovs an dessen Mutter darstellt und von Štol’c ganz bewußt als Lockmittel eingesetzt wird. Ol’ga, die zum Zeitpunkt ihrer Bekanntschaft bereits mit Štol’c liiert ist (dieser spricht von der Heirat als abgemachter Sache), kann sich einen untätigen Mann zwar nicht vorstellen, erliegt aber dennoch Oblomovs Ausstrahlung, beginnt sich sogar an seinen Kinderspielen („v pjatnaški“ – Haschen) zu beteiligen und er25
Gerigk, Horst-Jürgen: Oblomow, Bartleby und der Hungerkünstler. Drei Beispiele für die Überwindung des agonalen Menschen. In: Thiergen (Hg.), I. A. Gončarov 1989, S. 15-30, hier: S. 23.
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klärt sich selbst zu Oblomovs Lebenssinn. Oblomov verändert sich kurzfristig, tritt mit Frack und Fliege auf, doch erklärt ihm der Doktor sogleich, daß dies nicht er selbst sei. Als sich die Situation auflöst, hinterläßt sie bei allen Beteiligten einen schalen Beigeschmack: Ol’ga muß sich eingestehen, daß sie sich in ihrer Eigenliebe gekränkt fühlt, Oblomov nicht fesseln zu können, Štol’c wiederum empfindet einen Anflug von Eifersucht, da Ol’ga kurzfristig eine Verbindung mit Oblomov in Erwägung gezogen hat, und Oblomov selbst gelangt zu der Erkenntnis, daß für ihn das Erreichen des Ziels, also die Verbindung mit Ol’ga, einem Abgrund (propast’) gleichkäme, weil damit der Traum vom zukünftigen Ideal ausgeträumt wäre und der Alltag das Paradies zerstören müsse. Oblomovs Verhältnis zu Agaf’ja Matveevna hingegen ist nicht von Zielvorstellungen bestimmt, sondern von der Gleichförmigkeit eines als unzerstörbar empfundenen Kontinuums. Als Oblomov winters aus dem Fenster blickt, philosophiert er vor sich hin: Вон снег нападал и нанёс сугробы... Покрыл дрова, курятник и конуру. Всё умерло и окуталось в саван. (Смеясь.) А вдруг не взойдет завтра солнце и застелет небо тьма?.. А суп и жаркое всё равно явятся на столе!.. И бельё будет свежо и чисто! И никто не узнает, как это сделается. С кротким взглядом, с улыбкой преданности. С чистыми, белыми руками, с полными локтями. С ямочками!.. (318f.). So viel Schnee ist gefallen und türmt sich auf… Bedeckt das Brennholz, den Hühnerstall und die Hundehütte. Alles wie erstorben und in ein Leichentuch gehüllt. (Lacht.) Und was, wenn die Sonne morgen nicht mehr aufgeht und der Himmel sich mit Dunkelheit bedeckt?.. Suppe und Braten werden dennoch auf dem Tisch stehen!.. Und meine Hemden rein und frisch! Und niemand wird wissen, wie es gemacht wird. Mit einem sanften Blick, mit einem Lächeln tiefer Ergebenheit. Mit sauberen, weißen Händen und festen Ellenbogen. Mit Grübchen!.. (S. 34).
Oblomov weiß dennoch, daß seine Position letztlich unhaltbar ist, er will aber davon nichts hören. Als ihm der Arzt seine Krankheit benennen will, verkündet Oblomov, er glaube nicht mehr an Wörter und Bezeichnungen, und als Beispiel dient ihm dabei Nietzsche, dessen Ausspruch vom Tode Gottes ebenso wenig Gehör gefunden habe („nemčurenku nikto ne poveril“; 326 [„niemand hat diesem Deutschen geglaubt; S. 38]) wie es jemanden beeindrucken würde, von Oblomov zu erfahren, daß der (ganzheitliche) Mensch ausgestorben sei. Die Diagnose ist für Oblomov im wahrsten Sinne des Wortes vernichtend: Er ist jener letzte ganzheitliche Mensch, jener an „Totus“ leidende, der in der heutigen Welt keinen Platz mehr hat. Resignierend merkt er an: ОБЛОМОВ. Как, вы говорите, она называется? Эта болезнь? Totus? Заморочили вы меня своей латынью... Непонятно мне. Что есть – Totus? АРКАДИЙ. Целый. Целый человек. Такой жить не может.
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ОБЛОМОВ (после паузы). Понятно. Спасибо. Хорошо, что не врете. Так лучше. И эти глупости с врачебной тайной... Хорошо, что не соблюдаете. Тоже спасибо. (Пауза. Усмехнулся.) Значит, Pele-mele – жить будет? И Tutti-frutti - тоже? Пол-человека, четверть-человека, осьмушка и одна шестнадцатая – все живы... А бедный Totus – нет? АРКАДИЙ. Нет. ОБЛОМОВ. Я же говорил – человек умер... (Дрогнувшим голосом.) Ну и ладно. (326). OBLOMOW. Wie, sagten Sie, war der Name? Diese Krankheit? Totus? Sie machen mich ganz wirr mit Ihrem Latein… Das verstehe ich nicht. Was heißt Totus? ARKADIJ. Ganz. Ganzer Mensch. Solch ein Mensch kann nicht leben. OBLOMOW. (Nach einer Pause.) Verstehe. Danke. Gut, dass Sie mich nicht belügen. So ist es besser. Diese Dummheit mit der ärztlichen Schweigepflicht… Gut, dass Sie ihr nicht folgen. Auch dafür danke. (Pause. Lacht.) Pele-mele wird also leben? Und tutti-frutti auch? Der halbe Mensch, der Viertelmensch, ein Achtel und ein Sechzehntel, alle werden leben… Aber der arme Totus nicht? ARKADIJ. Nein. OBLOMOW. Ich sage es ja: Der Mensch ist tot… (Mit zitternder Stimme.) Wenn es sein muss. (S. 38).
Oblomov ist also in Ugarovs Version keineswegs „zu faul zum Leben“,26 ganz im Gegenteil, er hängt an seinem Dasein und strebt gleichsam nach dessen utopischer Ausdehnung in die Ewigkeit. Ugarov verhilft so Oblomov erstmals zu einer eigenen, nicht durch den Erzähler gebrochenen Stimme, denn bisher, so scheint es, wurde in der Betrachtung von Gončarovs Roman mit Ausnahme kurzer Nebensätze wie bei Josef Rattner27 kaum jemals die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, wer den Roman eigentlich erzählt. Und dies ist ganz eindeutig Andrej Štol’c, wie man den letzten Zeilen zweifelsfrei entnehmen kann: Штольц вздохнул и задумался. […] – Сейчас расскажу тебе: дай собраться с мыслями и памятью. А ты запиши: может быть, кому-нибудь пригодится. И он рассказал […], что здесь написано.28 Stolz seufzte und wurde nachdenklich. […] „Gleich will ich es dir erzählen: laß mich nur die Gedanken sammeln und die Erinnerung auffrischen. Und schreib es auf: vielleicht nützt es jemandem.“ Und er erzählte […], was hier geschrieben steht.29
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29
Rehm, Walther: Gončarov und Jacobsen oder Langeweile und Schwermut. Göttingen 1963, S. 36. Vgl. Rattner, Josef: Oblomow oder die Ontologie der Bequemlichkeit. In: Thiergen (Hg.), I. A. Gončarov 1989, S. 107-126, hier: S. 125. Gončarov, Ivan Aleksandrovič: Oblomov. In: ders., PSSiP v 20 t. T. 4. SPb. 1998, S. 5-493, hier: S. 493. Gontscharow, Iwan: Oblomow. Aus dem Russischen von Josef Hahn. München 122003, S. 654.
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Diese Tatsache ändert zwar nicht die Deutung der wesentlichen weltanschaulichen und philosophischen Positionen, zwingt aber doch zumindest unter dem Stichwort ‚unzuverlässiger Erzähler‘ (unreliable narrator30), wie er seit nunmehr über einem halben Jahrhundert in der Literaturwissenschaft diskutiert wird, die Darstellung von Oblomovs „Krankheit“ und „Seelenqual“ sowie die „Langeweile, die wie eine Krankheit aus seinen Augen hervorblickt“ zu überdenken. Štol’c will mit seiner Schilderung jemandem nützen: Der didaktische Aspekt seiner Erzählung und damit einhergehend ein Mangel an Objektivität bzw. das Vorhandensein einer zumindest unterschwelligen ‚Tendenz‘ können in einem solchen Fall wohl nur schwer bestritten werden. Auch Ugarovs Oblomov ist beileibe kein Aufbegehrender und kein Mensch der Tat, er verkörpert jedoch eine ganzheitliche Daseinsart, die letztlich auch die letalen Konsequenzen ihres Wesens akzeptiert. Wie sehr Ugarov damit ins Schwarze getroffen hat, beweisen nicht nur seine eigenen, durchweg bejubelten Inszenierungen des Stückes, sondern vor allem die zahlreichen Wiederaufnahmen des Texts und die Vielzahl an Regisseuren, die sich bis heute an diesem Werk versuchen.
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Vgl. Booth, Wayne: The Rhetoric of Fiction. Chicago 1961, S. 158f.
Angelika Molnár „Brief an Oblomov“ Ungarische Dichter lesen Gončarovs Oblomov Gončarovs Oblomov löste in Ungarn eine oft ungerechte Haltung der Kritik gegenüber dem Schaffen dieses ‚russischsten‘ Autors aus. Sein Held schien geeignet, ihn mit Lebensunbeholfenheit und mit Apathie allem gegenüber zu identifizieren. Es dominierten Sichtweisen des Nationalcharakters, der Gesellschaftskritik und der Schaffenspsychologie. Allein indem solcherweise das Verständnis der Romane durch das Prisma der ungarischen Wirklichkeit vermittelt wurde, gelang es, sie dem ungarischen Leser nahezubringen. Die Interpretationen gruppierten sich um folgende Schlüsselbegriffe: ‚Resignation‘, ‚ungesunder Willensmangel‘, ‚Degeneration‘, ‚russische Inaktivität‘ auf der einen; und ‚Traum von einer Idyllenexistenz‘, ‚Sehnsucht nach dem Mutterleib‘, ‚Ablehnung der Gegenwart‘, ‚kontemplative Suche nach dem Sinn der Existenz‘ auf der anderen Seite. Diese Ambivalenz des Verständnisses zeugt von dem verborgenen Sinnpotential des Romans. In dem gegenwärtigen Nachdenken über den Roman tun sich dessen neue und aktuelle Seiten auf. Gegenstand der vorliegenden kurzen Analyse stellen dichterische Umsetzungen des Bildes Oblomovs dar. In der klassischen und modernen ungarischen Literatur ist nämlich prinzipiell nur in Gedichten ein Widerhall auf den Roman Gončarovs zu finden. Wir werden Gedichte der bekannten Dichter Sándor Petőfi, Tamás Falu, István Ágh und András Petőcz in der chronologischen Abfolge ihres Entstehens analysieren. So werden sowohl die Vorgehensweisen verschiedener literarischer Epochen und Richtungen im Hinblick auf den Roman als auch Verarbeitungen des Prätextes durch Posttexte über Intertexte gezeigt werden können. Lyrismus war Gončarov in gewissem Sinn fremd, deshalb stellt es ein erstaunliches Faktum dar, daß fast alle Hinwendungen zu seiner Prosa mittels Lyrik erfolgen. Dies erlaubt, Besonderheiten seiner Poetik aufzudecken, die bisher nicht zur Kenntnis genommen worden sind. Die ungarischen Kritiker enthüllten in der Hauptfigur Eigenschaften, die für den russischen und osteuropäischen Menschen charakteristisch seien, und näherten Oblomov an ungarische Helden an, indem sie auf die Faulheit und das ‚Chalattum‘ des Herrenstandes verwiesen. Das Bild Oblomovs verglichen sie auch mit dem Typus des ‚Gentry‘, des ruinierten ungarischen Gutsherrn,
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der unnütz, faul und unpraktisch ist. Das bekannteste Bild, mit dem Oblomov verglichen worden ist, ist das des Herrn Pál Pató, des Helden des gleichnamigen Gedichts von Sándor Petőfi aus dem 19. Jahrhundert. Pál Pató ist ein ‚Chalat‘-Gutsherr, der seine Lebensinteressen ausschließlich auf physiologische Handlungen begrenzt und alle Geschäfte auf danach verschiebt. Aufgrund der Tatsache, daß man hier lediglich von einem typologischen Parallelismus sprechen kann und nicht von einem Einfluß auf den Roman, beschränken wir uns auf eine nur kurze Behandlung dieses Gedichts.
Sándor Petőfi
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Pató Pál úr (1847)1
Herr Pál Pató
Mint elátkozott királyfi Túl az Óperencián, Él magában falujában Pató Pál úr mogorván. Be más lenne itt az élet, Ha egy ifjú feleség ... Közbevágott Pató Pál úr: „Ej, ráérünk arra még!“
Wie in Zauberschlaf versunken, döste mürrisch, nie recht froh, vor sich hin in seinem Dorfe unbeweibt Herr Pál Pató. Fragte wer: „Aus welchem Grunde hat der Herr noch nicht gefreit?“ – fiel er gleich ins Wort dem Frager: „Hochzeit machen? Hat noch Zeit!“
Roskadófélben van a ház, Hámlik le a vakolat, S a szél egy darab födéllel Már tudj’ isten hol szalad; Javítsuk ki, mert maholnap Pallásról néz be az ég ... Közbevágott Pató Pál úr: „Ej, ráérünk arra még!“
Längst schon stand sein Haus verfallen, Putz war kaum noch an der Wand, und mit einem Teil des Daches war der Wind davongerannt. Fragte wer: „Soll man’s nicht decken, eh es regnet oder schneit?“ – fiel er gleich ins Wort dem Frager: „Dach eindecken? Hat noch Zeit!“
Puszta a kert, e helyett a Szántóföld szépen virít, Termi bőven a pipacsnak Mindenféle nemeit. Mit henyél az a sok béres? Mit henyélnek az ekék? ... Közbevágott Pató Pál úr:
Ganz verwahrlost lag der Garten, Mohn und Unkraut trug das Feld. Fragte wer: „Laßt Ihr die Äcker heuer alle unbestellt, weil die Knechte lieber bummeln und der Pflug die Arbeit scheut?“ – fiel er gleich ins Wort dem Frager:
Original zitiert aus: Petőfi Sándor: Összes költeményei. Budapest 1994. Deutsche Übersetzung von Martin Remané aus: Petőfi, Sándor: Gedichte. Berlin/Weimar 1973, S. 247f. [Anm. d. Übers.].
Ungarische Dichter lesen Oblomov
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„Ej, ráérünk arra még!“ Hát a mente, hát a nadrág, Ugy megritkult, olyan ó, Hogy szunyoghálónak is már Csak szükségből volna jó; Híni kell csak a szabót, a Posztó meg van véve rég ... Közbevágott Pató Pál úr: „Ej, ráérünk arra még!“
„Feld bestellen? Hat noch Zeit!“ Schon ganz mürb war seine Hose und der Dolman abgewetzt, keins von beiden hätte notfalls nur ein Mückennetz ersetzt. Fragte wer: „Wo bleibt der Schneider? Liegt nicht längst der Flaus bereit?“ – fiel er gleich ins Wort dem Frager: „Anzug machen? Hat noch Zeit!“
Életét így tengi által; Bár apái nékie Mindent oly bőven hagyának, Soha sincsen semmije. De ez nem az ő hibája; Ő magyarnak születék, S hazájában ősi jelszó: „Ej, ráérünk arra még!“
Und so fristet er sein Leben ärmlich, immer ohne Geld, er, der von den Vätern erbte Haus und Hof und Vieh und Feld. Laßt uns müßige Worte sparen, denn bekannt ist weit und breit längst die Losung der Magyaren: „Keine Sorge, hat noch Zeit!“
Die typologische Gemeinsamkeit des Gedichts von Petőfi und seines Helden mit dem Roman Gončarovs und dem Bild Oblomovs bestimmen die nachfolgenden Elemente. Der Name des Haupt- bzw. lyrischen Helden dient als Titel des Gedichts. Der Ort des Landsitzes liegt fernab, so wie sich auch Oblomovka schon fast in Asien befindet. Der ungarische Dichter stellt die Apathie, Faulheit, Willen- und Hilflosigkeit seines Helden dar, indem er sein Umfeld, die Landschaft, seine Kleidung, sein Benehmen, sein Sprechen und seine Beziehung zu anderen beschreibt. Die beschriebenen Dinge werden zu Bezeichnenden transformiert, denn die ungarischen Worte werden zu Repräsentationen des Namens des Helden Pál Pató: „pallás“ (Dach), „puszta“ (leer, verwahrlost), „posztó“ (Stoff, Flaus) usw. Diese Worte funktionieren gleichzeitig als Namen der Dinge und als Zeichen der Untätigkeit des Helden. Sie (Haus, Garten, Kleidung) ergeben das ganze Bild des Helden und bringen auch seine Innenwelt zum Ausdruck, deshalb kann ohne diese Teilbedeutungen kein vollständiges Bild entstehen. Hinzukommt, daß jedes dieser Worte die es enthaltende Strophe organisiert, in der es als semantische und formale Dominante auftritt. Als Resultat dieser vielfachen Wiederholung entfaltet sich das Bild des Helden auf allen Ebenen und sein Name wird zur bildhaften Vorstellung des Gedichts im Ganzen (das Werk selbst realisiert die sprachliche und metaphorische Form des Bildes). Das Genre des Gedichts von Petőfi ist das eines Liedes, obgleich seine Struktur eher an ein Sonett erinnert. Die Form wird nicht streng eingehalten, auch wenn sich in den unvollständigen Reimen die Formel ababcdcd erkennen
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läßt. Die gleiche Strophenstruktur wiederholt sich viermal. Die ersten vier Verse stellen den Helden in einer konkreten problematischen Situation vor, anschließend wird in zwei Versen eine mögliche Lösung seiner Probleme vorgeschlagen und in den letzten beiden Versen spricht jeweils der diese Lösung ablehnende Held selbst. Dieser Refrain wurde zum geflügelten Wort in der ungarischen Kultur. Das lyrische Subjekt des Gedichts tritt mit einer offenen Erklärung auf: das Schicksal Pál Patós ist typisch und wird durch den Nationalstolz der ungarischen Adeligen kompensiert (auch wenn dessen materielles Symbol, der Dolman, ebenfalls abgewetzt ist). Der Blickwinkel auf den Helden und sein Lebensbild von außen weist auch eine ironische Schattierung auf, wenn nämlich offensichtliche Mißbilligung durch Lob ausgedrückt wird (s. z. B. die Mohnköpfchen, durch deren Rot die Felder blühen2). Petőfi schafft seinen lyrischen Text mittels einer früher ungewohnten Herangehensweise und einer neuen Sprache, er stiftet eine neue Realität in bezug auf die Erscheinungen der Wirklichkeit. Eben darin kann man schon kleine, jedoch vorhandene Unterschiede zu dem Roman erkennen. In seinen Tagträumen stellt sich Oblomov selbst als märchenhaften Narren-König vor, als klaren Bezwinger von Widersachern usw. Er träumt von einem idyllischen Leben auf dem Gut mit seiner Frau. Der ungarische Held wird hingegen als verfluchter und mürrischer Prinz (királyfi) bezeichnet, der allein in seinem Dorf lebt und nicht zu heiraten wünscht. Freilich wohnt er wie die Oblomover in einem halb eingefallenen Haus, aber er lehnt, im Gegensatz zu diesen, sogar die Reparatur seines Hauses ab. Der Boden von Pál Patós Besitz ist nicht bestellt, die Beschreibung Oblomovkas beginnt indes mit der Darstellung des Tages eines Landwirts. Oblomov tauscht für die Zeit der Begegnungen mit Ol’ga seinen Chalat (und das ‚Chalattum‘) gegen einen Frack ein, der Held von Petőfi wünscht keine neue, adrette und anständige Kleidung zu bestellen. In der letzten Strophe wird als Thema die Verschwendung des Erbes eingeführt. Auch dieses Thema wird in dem Roman Gončarovs anders umgesetzt. Oblomov kann zwar nicht haushalten, das ist aber ein Attribut seiner träumerischen, poetischen Natur. Es muß angemerkt werden, daß wegen der Vielschichtigkeit des Bildes des russischen Helden fraglich und nicht überzeugend erscheint, Oblomov mit Pál Pató in eine Reihe zu stellen. Gončarov vereint Erzähl- und Diskursebenen miteinander, die auf verschiedene Lesarten (‚Kritiken‘) des Hauptbildes ge-
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Etwas abweichend heißt es an dieser Stelle in Remanés Übersetzung: „Mohn und Unkraut trug das Feld“ [Anm. d. Übers.].
Ungarische Dichter lesen Oblomov
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richtet sind. Indem wir, anstatt die Hauptfigur des Romans Oblomov durch das Prisma der Typen des ‚überflüssigen Menschen‘ oder des romantischen Müßiggängers bzw. des gewöhnlichen Faulenzers zu betrachten, die von den Kritikern gestellten Diagnosen neu durchdenken, nehmen wir Oblomov als originellen Poeten im Leben, für den innere Tätigkeit bzw. Aktivität ohne Zufriedenheit und Passivität nicht denkbar sind, wahr. Folglich ist die explizite Kritik, die der ungarische Poet ausspricht, unvereinbar mit der komplizierten narrativen Struktur und den unterschiedlichen Diskursen der Repräsentation Oblomovs.
Tamás Falu
3
Levél Oblomovhoz3
Brief an Oblomov
Itt mi a csenddel takarózunk És a halállal álmodunk. Éles kacaj, síró sikoltás Nem veri fel az otthonunk.
Hier bedecken wir uns mit Stille Und träumen vom Tod. Schrilles Gelächter, weinender Schrei rütteln unser Heim nicht wach.
Szelíd álommadárkák kelnek A szívünk eresze alatt, S ha jő az ősz, elég minékünk Ha egy pihéjük ittmaradt.
Zahme Traumvögel erheben sich zum Flug unter der Dachtraufe unseres Herzens, und wenn der Herbst kommt, reicht es uns, wenn eine ihrer Flaumfedern hier bleibt.
A portánkon béke harangoz, Ásítva zárjuk a kaput. Nem ijedünk fel éjszakánként, S nem keltjük fel, mi elaludt.
Auf unserem Hof läutet der Frieden, wir schließen gähnend das Tor. Wir schrecken in der Nacht nicht auf, und wecken nicht, was eingeschlafen ist.
Vágyak Néváján nem szánkázunk, Pihenten csügged két karunk, Benne újszülött percek mellett Halott éveket ringatunk.
Auf der Neva der Träume fahren wir nicht Schlitten, unsere Arme hängen ausgeruht herab, in ihnen wiegen wir neben neugeborenen Minuten verstorbene Jahre.
Lelkünkön kétség mosolya nem rág, Velünk hízik az unalom. Repkény vagyunk, kik annak élünk, Hogy fel ne kússzunk a falon.
An unserer Seele nagt das Lächeln des Zweifels nicht mit uns nimmt die Langweile zu Efeu sind wir, der lebt, um nicht die Wand zu erklimmen.
Original zitiert aus: Falu Tamás: Csipke [Versek]. Budapest 1917, S. 27. Die Übersetzung dieses und der beiden folgenden Gedichte aus dem Ungarischen besorgte freundlicherweise Valéria Lengyel (Leipzig). Ihr sei dafür ganz herzlich gedankt
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Angelika Molnár
Die Metaphern des Gedichts Brief an Oblomov von Tamás Falu stellen ein anschauliches Beispiel für die Gemeinsamkeit zwischen dem ungarischen Poeten vom Beginn des 20. Jahrhunderts, der den großen Poeten um die Zeitschrift Nyugat [Westen] nahesteht, und dem russischen Klassiker dar. Das Gedicht besteht aus fünf Strophen, deren jede nach analogem Prinzip aufgebaut ist. Die erste und die vierte Strophe weisen die gleiche Reimstruktur auf: aaba, doch das rhythmische System unterscheidet sich leicht. In den übrigen Strophen ist der Reim unvollständig oder überhaupt nicht vorhanden – mit Ausnahme der jeweils zweiten und vierten Verse. Hinter der metrischen Unregelmäßigkeit verbirgt sich aber eine tiefgründigere Geordnetheit des Werks auf lexikalischsemantischer Ebene. Die rhythmischen Wechsel unterwerfen sich die dargestellten Zeichen und Worte. So kommunizieren die verschiedenen Elemente des Gedichts miteinander und treten zwischen den Ebenen in Interaktion. Das Gedicht beginnt mit einer unklaren Aussage über den Ort und die Subjekte: „hier“ (wo?), „wir“ (wer? und weshalb in der Mehrzahl?). Vielleicht präsentiert Falu den Alltag, die belanglosen Ereignisse einer ungarischen ländlichen Gegend und die mit ihnen verbundenen Gefühle und Gedanken, die für alle Bewohner gleich sind. Die erste Verbmetapher konstituiert die Stille als Sache, mit der man sich „bedecken“ kann. Es werden zwei wesentliche Metaphern, sogar Symbole, ins Feld geführt, mittels derer auch bei Gončarov das Bild Oblomovs herausgearbeitet wird. Traum und Tod werden in einem Atemzug genannt, damit verstärken die beiden ebenbürtigen Bedeutungen jeweils gegenseitig ihre Wirkung. Stille und Tod werden infolge ihrer ähnlichen Beugung und ihres ähnlichen semantischen Feldes ebenfalls zu einem Komplex zusammengezogen. Die Dissonanz des dritten Verses der ersten Strophe zeigt sich nicht nur im Fehlen eines Endreims, sondern auch darin, wie dieses Defizit durch die Lautorganisation ausgeglichen wird. Gelächter und Schrei werden durch die menschlichen Eigenschaften der Vehemenz und des Wehklagens personifiziert. Die Bedeutungen und der Klangeffekt dieser Worte kontrastieren mit der Stille und dem Frieden der Dingwelt und der sprachlichen Ordnung der Strophe. Der Reim, der mittels der Wiederholung des lautmalerischen „si-“/„sí-“ (auszusprechen als ‚ši‘) gebildet ist, akzentuiert hier nicht das Ende des Verses, da er sich im Versinnern befindet, sondern geht von dem Zusammenspiel semantisch unzusammenhängender Felder aus. Infolgedessen nähern sich sowohl die Worte als auch ihre Semantik einander an. Die letzten beiden Verse drücken Verneinung aus. Das letzte, gereimte Wort der Strophe klingt durch die wiederholte Behauptung sowohl von Gemeinsamkeit wie auch eines Schlupfwinkels („bedecken“) (eines größeren und hoff-
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nungsvolleren): unser Heim, unser Herd. Dabei bildet das Heim nicht nur ein Reimpaar mit dem Schlupfwinkel, sondern auch mit dem Traum, weshalb beider Bedeutungen ebenfalls miteinander konfrontiert werden. Die zweite Strophe weist eine klarere Reim- (abab) und rhythmische Struktur auf. Das Thema der ersten Strophe wird wiederholt: der Traum, der seine Semantik mittels einer entfalteten Metapher, die fast in eine Allegorie übergeht, erweitert. Mit Hilfe stimmloser („sz“; auszusprechen als scharfes ‚s‘/‚ß‘) und aus der ersten Strophe übernommener stimmhafter Konsonanten („l“, „n“, „k“) werden metaphorisch auch assonierende Einheiten transportiert („szelíd“ [zahm], „szív“ [Herz], „eresz“ [Traufe], „ősz“ [Herbst] und auch „kelnek“ [Luke], „elég“ [(aus)reichen/genug], „alatt“ [unter(halb)]). Die ungarischen Worte bilden explizit die elegischen Motive aus Gončarovs Roman nach: нежный [zärtlich], сердце [Herz], под [unter] und auch сон [Traum], дом [Haus]. Die Metapher, die das Bild des Erwachens/der Geburt der Traumvögel unter der Dachtraufe der Herzen entfaltet, kann man als aktive, lebensvolle bezeichnen, weil das Bild der dörflichen Natur (das Schlüpfen der Vöglein in dem Nest unter der Dachtraufe) im vorliegenden Fall mit dem ewigen Traum zusammenhängt und auf die Motivik der ersten Strophe verweist. Der Vogel, das traditionelle Symbol der Seele, wird hier zur Metapher des Traums, bildet demzufolge also den Anflug der ‚schläfrigen Seele‘ ab. Die neugebildete Semantik wird realisiert: eine Flaumfeder reicht bereits aus, um sich dem schläfrigen Zustand zu überlassen. Der vorliegenden Beziehung wird aber auch ein entgegengesetzter Sinn verliehen, denn Erwachen/Geburt paßt in das Feld der Konnotationen von ‚Schlüpfen‘. Außerdem wird das Wegziehen/Überfliegen der Vögel im Herbst impliziert. Das ist das einen elegischen Ton erzeugende traditionelle Bild des Welkens und Abnehmens, gleichwohl erneuert das Subjekt des Textes ihn durch die Realisierung der Metapher. Ein flüchtiges Geschöpf setzt diese schläfrige Welt in Bewegung, doch diese Bewegung stellt nur die Bedingung für den Traum, den unbeweglichen und todbringenden Zustand dar. Die dritte Strophe enthält ebenfalls ein Oxymoron: „läutet der Frieden“, d. h. die Ruhe, Stille, der friedliche Zustand, der gleichzeitig durch einen unpassenden akustischen Effekt gekennzeichnet wird, läutet wie eine Kirchenglocke. Im vorliegenden Fall erinnert das Läuten wortwörtlich an ein allgemeines Signal der Zeit des Traums (zu Bett gehen) und im übertragenen Sinn an das Seelenheil. Dasselbe läßt sich auch über den folgenden Vers bzw. die folgende Phrase sagen. Das Tor wird geschlossen, der Tag wird beendet, das Leben verstreicht. Hier wird sogar das Schließen mit der Bedeutungsnuance von
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Abgeschlossenheit vertont („portánkon“ [Hof]; „harangoz“ [Läuten]; „zárjuk“ [wir schließen]). Durch die Wiederholung der Verben in der ersten Person Plural wird eine Gemeinsamkeit des Handelns behauptet. Das lyrische Subjekt schreibt im Namen von Personen, die selber nachts nicht aufschrecken und die das, was eingeschlafen ist, auch nicht wecken. Ringsumher wird ein ewiger, ‚alles verzehrender Schlaf‘, eine allgemeine Verweigerung von Bewegung verzeichnet. Wie in Oblomovka gibt es keine Ängste, Sorgen und besonderen Vorkommnisse. Mittels des Reimes nähern sich das Tor und der Schlaf: die Dinge schlafen auch ein, sie werden leblos. Die vierte Strophe bringt eine kategorische Zurückweisung des Petersburger Lebensstils, der Leidenschaften, Wünsche und Kälte („Schlitten“) vor: der Bewegung. Hier werden wieder die bekannten Motive des Romans zusammengetragen, ungewöhnliche Verschiebungen und Konvergenzen zeugen jedoch von den modernistischen Unternehmungen zur Entstehungszeit des Gedichts. Außerdem ist zu spüren, daß das Subjekt des Textes die Initiative ergreift, die Gončarovschen Allusionen um solche neuen Erkenntniselemente zu ergänzen wie: der Fluß – „die Neva der Träume“; die Arme – „hängen ausgeruht herab“. Ein neues Thema stellt die Frage der Zeit dar: die „neugeborenen Minuten“ und deren Opposition, die „verstorbenen Jahre“, die nebeneinander in ein und dieselbe Wiege gelegt werden. Und ungeachtet des allgemeinen Schlafs vollzieht sich Bewegung: das Schwingen der Wiege anstelle der Fahrt, des „Schlittenfahrens“. Die fünfte, abschließende Strophe ertönt als Schlußakkord des Themas. Es entstehen neue entfaltete und realisierte Metaphern: „das Lächeln des Zweifels“, das nicht an der Seele nagt wie ein Wurm, sondern die Langeweile komplettiert und wie der Mensch ‚Gewicht zulegt‘. Der Vogel ist ein Symbol der Seele, allerdings verlieren im vorliegenden Fall sowohl er als auch die Seele die Merkmale der Bewegung. Das Bild des „Wir“ (der Menschen) wird identifiziert mit Efeu, der sich dagegen wehrt, seine Bestimmung zu erfüllen: sich hinaufzubewegen. Der Flug (‚repülés‘), als Handlung der Vögel, wird über die gemeinsame Wurzel mit der ungarischen Bezeichnung für Efeu („repkény“) reproduziert. Diese Annäherung auf formaler Ebene schafft eine engere Verbindung zwischen den Bedeutungen der Worte, die die in Wirklichkeit nicht existierende und in der Alltagssprache gelöschte Übertragung zwischen den Worten, die die Metapher bilden, wiederherstellt. Die überladene Sprache des Gedichts evoziert nicht die Einfachheit der ansonsten traditionellen, konservativen poetischen Sprache von Falu. In seiner allgemeinen Kompliziertheit ist dieses Gedicht nicht charakteristisch für Falus
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Dichtung, die mehrheitlich aus Tagebuchaufzeichnungen oder Liedern besteht, in denen rührend lebendige Emotionen, das Thema gemeinsamer Liebe, des Verstehens und Anerkennens eines anderen Menschen zur Sprache kommen. Im vorliegenden Gedicht spitzt sich hingegen durch das Anhäufen der Metaphern nach und nach die Enttäuschung zu. Die „zahmen Traumvögel“, „der Frieden“, die „Stille“, die Sorglosigkeit, die ewige Erholung, als gewöhnliche Elemente einer Idylle, wandeln sich zu „verstorbenen Jahren“, „Langeweile“, Mangel an Wünschen und „Zweifeln“. Dadurch entsteht eine Atmosphäre starker Resignation und Wehmut, die durch dunkle Töne geprägt ist. Das lyrische Subjekt (das die Interessen der Gemeinde repräsentiert) lebt im Vorgefühl der Zwangsläufigkeit des nahen Endes und verhält sich gegenüber dem Tod mit der Demut eines alternden Menschen. Die Dinge definieren sich durch den Diskurs, der zu einer anderen Ebene von Erscheinungen der Wirklichkeit gehört als die Ebene, die in dem Roman Gončarovs dargestellt wird. Bei letztem werden zwar ebenfalls einstweilige Glücks-, Liebes- und Schönheitskonzeptionen entblößt, aber die Aussage wird dennoch vom Glauben an die schöpferische Kraft und das Genie durchdrungen. Worin zeigt sich das? Die Krise der Handlung fällt zusammen mit der Krise des gewöhnlichen Wortes, weshalb die geplünderten Bedeutungen durch die Metaphorisierung ersetzt werden. Der Zustand des Überdrusses an der Alltäglichkeit und der Sehnsucht nach Schönheit reizt nicht nur zu philosophischen Überlegungen über den Sinn der Existenz, sondern auch zur Bildung neuer Zeichen und Namen. Etwas ähnliches geschieht in reduzierter Form auch bei Falu. Das Genre des Gedichts wird als Epistel („levél“) festgelegt, als lyrischer Brief, dessen Adressat – in Übereinstimmung mit dem Titel – Oblomov ist. Form und Thema des Freundesbriefes unterliegen gewöhnlich bestimmten Normen. In dem Gedicht von Falu sind allerdings weder Preisungen noch Erklärungen zu finden. Der Adressat ist nicht anwesend, folglich fehlen sowohl die Anredesituation als auch die Berücksichtigung der Gegenreaktion. Ebensowenig sind ein freundschaftliches Verhältnis, Ungezwungenheit oder Offiziosität des Stils festzustellen. Das Gedicht enthält nur die Auflistung der metaphorischen Attribute eines schläfrigen Lebens. Es paßt daher weder in den romantischen noch in einen anderen Kanon. Das (kollektive) Redesubjekt ist unbekannt – aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich um die Bewohner von Oblomovka oder ihnen ähnliche Bewohner irgendeines ungarischen ‚Oblomovkas‘. Der Dichter beschreibt eine kleine Welt, den Mangel an Erlebnissen und die schläfrige Weltanschauung eines in sich geschlossenen Kreises irgendeines „Wir“. Er spricht im Namen eines generalisierenden Bildes, ohne
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daß er klar seine Zugehörigkeit zu dem vorherrschenden „Wir“ aufdecken würde. Letzten Endes deutet er das Subjekt des Gedichts an, welches sich selbst im Schaffen kreiert, sein Sein im Gegengewicht zur Schläfrigkeit, zu dem todesähnlichen Zustand konstruiert. Der von ihm skizzierten poetischen Welt nach zu urteilen, meidet er genau auf dieselbe Weise wie Gončarov emotionale Extreme, wird wie dieser durch Neues beunruhigt und stellt mit Nostalgie nur das Vergangene dar. Die Poesie von Falu ist auch in der Hinsicht mit der Prosa Gončarovs verwandt, daß Falu alle Erscheinungen des Lebens als poetische Themen erscheinen. Also, Falu liest Oblomov durch das Prisma des allgemeinen Schlafs, der im Son Oblomova beschrieben und von Štol’c als „oblomovščina“ interpretiert worden ist. Folglich sind die zentralen Motive des Gedichts Stille und Ruhe und der Stil zeichnet sich durch einen stillen, elegischen Ton aus, durch eine leichte Nuance von gesundem Verstand, Belehrung und Ironie.
István Ágh Oblomov álma4 Én, Ilja Iljics Oblomov, azt álmodtam, fölébredek, féléberen nem fordulok hasra szundikálgatni, mint szokásom, dunyhácskámmal lábam között nem birizgálgatom magamat, míg hálóingem hasamra fölcsúszik, ballábbal léptem le az ágyról, nem voltam babonás, hiszen az ágyam abban a sarokban, ahonnan csupán hasmánt lehetne ugrani, ásítottam egy jó nagyot, fölálltam, hetekig behúzott függönyöm széttártam, mint egy szónok, aki az Istennek fölajánlja az Emberiséget, s megláttam a fogyó holdat meglepetten, hát volt már új- és telihold? Luca napja, téli hat óra volt, havas szalma hullott a fákra, és kinyújtottam kezemet, hadd hűtse le ezüst-arany, s kiáltottam: Zahar! Ide a köpenyem! feleségem csókolt nyakamba,
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Original zitiert aus: Ágh István: Emberek éltek itt. Budapest 1991. Deutsch von Valéria Lengyel.
Ungarische Dichter lesen Oblomov kislányom szöszmötölt, zizeregtek Irkái, könyvei, és hupp! a csizma én, meg fázós bokával betértem a fürdőszobába, kihúztam magam, úr vagyok! én, Ilja Iljics Oblomov! szenátori borotvahabban illatoztam, új beretvával nyestem szakállamat, megúsztam kádam tengerét, gatya, ing, zokni, tiszta, tiszta, hideg tej, rántotta, zsömle, feketekávé, tűnődtem cigarettám karikából karikázó karikáin, s észrevettem dúdolni azt a dalt, amit húsz éve elfeledtem, csónak ringott a tó kék vizén, elmondtam a Miatyánkot az utolsó szóig harmincszor 365 nap után, én lennék elaggott szellemű? koromhoz képest túlzottan elhízott? kopasz? Nem Monsieur Goncsarov! költő lettem! ki eddig levelet írtam-nem írtam, s a versbe nem lopózkodott be egyetlen ámbár, vagy, pedig, s hogy, eddig a hogy-ok bénítottak engem „a mozgás vagy a levegő hiányzott neki, esetleg mind a kettő” Nem Monsieur Goncsarov! Maga meg sem írt engem. Szótlanul köszöntöttem az utcát, ahogy a reggeli ifjúság szembejön velem a fényes tanterembe. Oblomovs Traum Ich, Il’ja Il’ič Oblomov, habe geträumt, dass ich aufwache, halbwach wende ich mich nicht auf den Bauch um zu schlummern, was ich sonst tue, mit meinem Federbett zwischen den Beinen fingere ich an mir nicht herum, während mein Schlafrock bis auf den Bauch hochrutscht, mit dem linken Fuß aus dem Bett steige, ich war nicht abergläubisch, da mein Bett in jener Ecke stand, aus der ich nur bäuchlings springen könnte, gähnte ich, stand auf, meinen seit Wochen zugezogenen Vorhang habe ich aufgetan, wie ein Redner, der Gott die Menschheit anbietet, und erblickte den abnehmenden Mond verblüfft, war etwa inzwischen Neu- und Vollmond? Es war Lucia, sechs Uhr im Winter, Schnee fiel wie Stroh auf die Bäume, und ich streckte meine Arme, damit das Silbergold sie abkühlt und schrie: Zachar! Meinen Chalat her! Meine Frau küsste mich auf den Hals,
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meine Tochter spielte vor sich hin, ihre Kritzeleien und Bücher raschelten und hopp, ein Stiefel mit frierenden Knöcheln ging ich ins Bad, streckte mich empor, ich bin ein Herr, ich, Il’ja Il’ič Oblomov! in senatorischem Rasierschaum duftete ich, mit neuer Rasierklinge schnitt ich meinen Bart, habe das Meer meiner Badewanne durchschwommen, Hose, Hemd, Socken, sauber, sauber, kalte Milch, Rührei, Brötchen, Kaffee, ich dachte über die aus den Ringen aufsteigenden Ringe meiner Zigarette nach und merkte, dass ich das Lied singe, das ich seit 20 Jahren vergessen hatte, ein Boot schaukelte im blauen Wasser des Sees, ich sagte das Vaterunser bis zum letzten Wort dreißig Mal nach 365 Tagen auf, und so soll ich alten Geistes sein? im Verhältnis zu meinem Alter viel zu viel Übergewicht zu haben? Kahlköpfig? Nein, Monsieur Gončarov! Ich bin Dichter geworden! der ich bisher Briefe geschrieben – nicht geschrieben habe, und ins Gedicht wagten sich kein dennoch, oder, obwohl und dass, bisher haben mich die dass lahmgelegt, „entweder die Bewegung oder die Luft fehlten ihm, oder eventuell beides“ Nein, Monsieur Gončarov! Sie haben mich gar nicht geschrieben. Ich habe die Straße wortlos begrüßt, wie die morgendliche Jugend mir in das glänzende Klassenzimmer entgegenkommt.
István Ágh ist vor allem ein lyrischer Poet, der darüber schreibt, wie die Umwelt, die einen vorübergehenden, fragmentarischen Charakter hat, den Menschen bedroht, sogar der Tod erscheint als gewaltsame Zerstörung menschlicher Werte. Dem Tod kann – in Form der Suche nach Liebe und nach persönlichem Glück – das Leben entgegenstehen. Ághs Gedichtsammlung Emberek éltek itt [Hier lebten Menschen] ist insgesamt von dem elegischen Ton erfaßt, das Nahen des Endes zu erleben. Gleichzeitig kommen die Notwendigkeit von Erfahrung und die Liebe zum Menschen durch.5 Solch eine lichte Beziehung zum Tod begründet auch die Verwandtschaft des Poeten mit dem Schriftsteller Gončarov. Obgleich das betrachtete Gedicht Oblomovs Traum heißt, hat es doch nichts mit der Romanvariante gemein. In dem Gedicht wird ein Traumbild vom Erwachen und vom Ablauf eines Morgens beschrieben, als mögliche Aussicht, wie sich das Erwachsenen- und Familienleben Oblomovs in der Welt 5
Vasy Géza: Ágh István. In: dies., Költői világok. Budapest 2003, S. 382-410.
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der Gegenwart gestalten würde. Die Traumerklärung und das gewöhnliche Wachsein fließen in einem inneren Monolog zusammen. Unabhängig davon, daß für das Spätwerk von Ágh die Darstellung philosophischer und emotionaler Probleme in weisen Meditationen über den gesetzmäßigen Wechsel von Leben und Tod charakteristisch ist,6 ist dieses Gedicht frei von jedem elegischen Modus, die traurige Stimmung ist entsperrt und die Gegenwart sanktioniert (‚Präsenz im gegebenen Moment‘). Für dieses Werk ist eine einfache bzw. Umgangssprache bezeichnend, d. h. Prosaisierung und Verzicht auf Lyrizität. Oblomovs Traum von Ágh kennzeichnet die erzählende Form, die weniger zu einem Gedicht paßt, und die eher eine lange Aufzählung der Handlungen des lyrischen Helden darstellt. Voraussichtlich verbirgt sich gerade darin der stärkste Einfluß von Gončarovs Roman auf den Poeten. Das Gedicht von Ágh interpretiert originell das traditionelle Verständnis vom Bild des Haupthelden Gončarovs und gibt dem schläfrigen Zustand mittels modernisierter Situation und Lexik einen neuen Sinn (z. B. ist die Andeutung des Onanierens klar der Gegenwart geschuldet). Am Ende des 20. Jahrhunderts projiziert der ungarische Dichter die Situation Oblomovs auf seinen eigenen Wintermorgen. Die narrative Handlung des ‚Aufstehens‘ geht im Gedicht in persönliche Aktivität über (ein ganzes Set von Verben). Die Motive des Romans werden genutzt, ebenso die Form der Detailisierung dieser Motive und die Ausdrücke der Handlungen selbst (das Aufwachen, der Ausstieg aus dem Bett, das Herablassen der Beine, die zugezogenen Vorhänge, das sich an Zachar Wenden, der Chalat usw.), obwohl das Bildmaterial weitaus kompakter, komprimiert ist. Unter den seltenen Tropen dominiert die assoziative Technik der Alliterationen, Wortspiele und etymologischen Figuren. Ich führe als Beispiel „karikából karikázó karikáin“ [die aus den Ringen aufsteigenden Ringe des Zigarettenrauchs] an: in der dreifachen Wiederholung konvertieren die Elemente des Laut- und des Zeichenmodells der Handlung zu einer reimbildenden Lauttrope, zum unerwarteten Wechsel der Bedeutung des Wortes. Neben den gewöhnlichen morgendlichen Handlungen des Subjekts – die in Wirklichkeit wegen ihrer Ungewöhnlichkeit für Oblomov einzigartig sind – ergeben sich außergewöhnliche Verschiebungen und Metaphern („fogyó hold“ [abnehmender Mond] – im Roman „rundgesichtiger“; havas szalma [Schneestroh] – im Roman erfolgt das Aufwachen an einem sonnigen Tag; „hűtse le ezüst-arany“ [das Silbergold kühlt ab] – im Roman sind im Winter Schneewe-
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Tarján Tamás: Az emlékezet széljárása Ágh István epikájáról. In: ders., Kengyelfutó. Budapest 2001, S. 104-108.
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hen und der symbolische Tod Oblomovs findet im Winter statt; „kádam tengerét“ [Meer der Badewanne] – im Roman ist das Meer romantisch voller Unheil, Oblomov wäscht sich in einer kleinen kupfernen Schüssel, die die Gestalt eines Mondes hat usw.). Es wird die Kälte des Mondes konstatiert. Teile dieses Ausdrucks haben im Roman negative Konnotationen, im Traum des lyrischen Subjekts tun sie sich jedoch als Träger des Aufwachens hervor. Das Anziehen und das Frühstück werden durch das bloße Aufzählen von Substantiven dargestellt, hinter einer derartigen Gegenständlichkeit verbirgt sich indes eine besondere Form der Symbolisierung. Es handelt sich darum, daß das Sein als Gleichberechtigung von Mikroereignissen (der Mensch macht sich zur Arbeit fertig) und von parallelen Gedanken überdauert (Makroereignis: das Angebot der Menschheit an Gott). Die Anhäufung von Handlungen und persönlichen Eindrücken dient nicht einfach nur der Synchronizität, sondern der Bloßlegung der verdeckten und tiefen Gemeinsamkeit des Alltäglichen und des Ontologischen. Allein für dessen Gestaltung bedarf es einer neuen Sprache. Das Gedicht ist verschwommen, seine Form ist fragmentarisch – davon zeugen auch seine ungewöhnliche Interpunktion und unregelmäßige Gliederung. Die Verse reimen sich nicht, die Wortfolge und Phrasenstruktur sind absichtlich zersplittert und es gibt praktisch keine beschreibenden Elemente. Allein der Rhythmus des Gedichts ist recht gleichbleibend und drückt einen kontinuierlichen Strom der dargestellten Handlungen und einen freien Strom der Gedanken aus. In die verhältnismäßige Linearität dringen auch Erinnerungen als wichtige Erfahrungen der Vergangenheit ein. Ungeachtet der vorherrschenden Gegenwart werden alle Verben in der Vergangenheitsform verwendet, was den erzählerischen Stil spiegelt. Das Gedächtnis reproduziert die paradiesischen Elemente der Vergangenheit, die andere Zustände andeuten und zu der Gegenwart kontrastieren (er durchschwamm das Meer der Badewanne – schaukelte mit dem Boot im blauen Wasser des Sees; die Schulbücher der Tochter raschelten unangenehm – er sang ein vergessenes Lied). Das lyrische Subjekt ist nicht bestimmt, obwohl es leicht identifiziert werden kann, weil es als emotionaler Lyriker auftritt, als Hypostase. Es raubt einem anderen Menschen, Oblomov, das Leben und indem es dieses in sein eigenes verwandelt, erlebt es eine entlehnte Geschichte. Dabei wird durch beweiskräftige Handlungen eine unverhohlene Polemik geführt, z. B. wiederholt das lyrische Subjekt leicht die Worte des Gebets. Datum und Uhrzeit sind in dem Gedicht genau bezeichnet. In diesem Zusammenhang ist nicht uninteressant anzumerken, daß ungarischem Volksglauben zufolge der Luciatag nicht
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nur der kürzeste Tag des Jahres, sondern auch der Tag der unreinen Kraft ist. In diesem Kontext kann die Wiederholung des Vaterunsers auch als Schutz vor den herbeifliegenden Hexen dienen. Die ironische Anspielung an den Aberglauben zu Beginn des Gedichts erhärtet diese Annahme. Das lyrische Subjekt bestätigt, daß es im Gegensatz zu dem Gončarovschen Oblomov nicht nur Briefe, sondern auch Gedichte ohne Fehler zu schreiben versteht (es werden typische Fehler und Wendungen aus dem Roman zitiert, die den Willen Oblomovs paralysieren, einen Brief in Angriff zu nehmen, die aber für den Liebesbrief an Ol’ga keine Rolle spielen). Der intertextuelle Verweis auf die Krankheit Oblomovs (der Mangel an Bewegung und frischer Luft) wird ebenfalls negiert. Der langweilige Tagesablauf wird zur Vorbereitung auf schöpferische Tätigkeit transformiert, das Kommen aus der ‚Kälte‘ seiner Welt wird transformiert in einen Raum, der für das Weitergeben der Erfahrung offen ist (ein dunkler, frostiger Morgen, die „frierenden Knöchel“ des ältlichen Helden – „glänzendes Klassenzimmer“, „morgendliche Jugend“). Das lyrische Subjekt erklärt offen, daß es nicht nur der Held der Betrachtung, sondern auch Poet und Lehrer sei, eine aktive Persönlichkeit, die sich auf die schöpferische Arbeit vorbereitet. Darin polemisiert Ágh auch mit Gončarov (genauer mit der Erzählebene des Romans, auf der das Bild Oblomovs als zu eindimensional, faul gedeutet wird) – im Bild des Helden verbirgt sich offensichtlich mehr als das, was aus dem Roman herausgelesen werden kann. Nach Meinung des Sprechers schrieb Gončarov nicht die ganze und wahre Geschichte des Helden, er ließ die Möglichkeit aus, das schöpferische Potential Oblomovs zu realisieren. Als iterativer Index erweist sich das französische Äquivalent des Wortes ‚Herr‘, das an den russischen Autor gerichtet wird. Die zweifache Identifikation seiner selbst mit Il’ja Il’ič Oblomov teilt das Gedicht in zwei Teile, organisiert aber gleichzeitig den Text im ganzen. Der metapoetische Held, das Geschöpf wendet sich an seinen Autor, an seinen Schöpfer – und begehrt wegen seiner ‚Unfertigkeit’, seiner ‚Seltsamkeit‘ auf. Der krönende Ausgang des Rollenspiels setzt voraus, daß der Name „Oblomov“ in sich die Bezeichnung des semantischen Programms der Entstehungsgeschichte des Gedichts, des Bekenntnisses zum eigenen Werden einschließt. Es wird die Suche nach einem neuen, einem ergänzenden Wort über Oblomov durchgeführt. In diesem Prozeß bilden das „wortlose Begrüßen“, das Verstummen und gleichzeitig auch der Klangbereich ein wichtiges Glied. Das Wort ist nicht als Zeichen anwesend, sondern als Metapher der Bereitschaft zum schöpferischen Akt. Der Text des Gedichts, das zur Handlung erweitert ist, führt den Leser
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zur Entstehungsgeschichte des neuen Wortes über Oblomov zurück, indem es seine Beziehung zu seiner semantischen Struktur regeneriert. Der ungarische Dichter gewährt ein literarisches Bild nicht eines fett gewordenen Faulpelzes, nicht eines bejahrten Herrn und nicht einmal eines Herrn Pál Pató (wie die Refrain-Allusion dem ungarischen Leser suggerieren könnte). Fremde Deutungen werden in das eigene Verständnis umcodiert und führen dank des Traumkontextes zu einer gegenseitigen Reinterpretation. In den Traum wird das wahre Wesen des Bildes Oblomovs eingearbeitet – er ist ein Poet.
András Petőcz Oblomov álma7
Oblomovs Traum
Két óra elmúlt.
Zwei Uhr ist vorbei.
Csak kapkodom a fejem, túl gyorsan történnek körülöttem a dolgok.
Ich hasche hin und her es passiert alles viel zu schnell um mich herum.
Elfáradtam.
Ich bin müde geworden.
Egy pillanatra, talán ha lehúnytam a szemem, egy percre se, és el is telt a délelőtt.
Für einen Moment, vielleicht habe ich die Augen zugemacht, für keine Minute, und der Vormittag ist vorbei.
A tornác felől éles napsütés, a fény a szemembe vág, elvakít.
Schriller Sonnenschein von der Diele her, das Licht schlägt ins Auge, es blendet mich.
Meg kell, hogy igyam, lassan, a délutáni teát.
Ich muss, langsam, den Tee trinken, den Nachmittagstee.
Álmomban, mintha, már meg is ittam volna, és úgy emlékszem, megjelent a nappaliban Olga.
In meinem Traum, als ob ich ihn schon ausgetrunken hätte, und ich erinnere mich, als ob Ol’ga im Wohnzimmer erschienen wäre.
Beszélgettünk, sétáltunk is, ő nagy ritkán a karomon pihent, és az őszi napsütés alatt
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Wir haben uns unterhalten und sind auch spazieren gegangen, sie fand einige Male Ruhe sich auf meine Arme und in dem Herbstsonnenschein | stützend,
Original zitiert aus: Petőcz András: Európa Rádió. Pozsony 2005, S. 7-9. Deutsch von Valéria Lengyel.
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az idő, velünk, ott, a kertben, csak alig-alig haladt.
die Zeit mit uns, dort im Garten, ging kaum merkbar voran.
Szép álom volt.
Es war ein schöner Traum.
Most a napsütés, miként a kés, a szemembe vág.
Jetzt der Sonnenschein, wie ein Messer, sticht mir ins Auge.
Álmomban Olga öreg szolgálóját is láttam a ravatalon.
In meinem Traum habe ich auch den alten Diener Ol’gas auf der Totenbahre gesehen.
Sárgás, viaszos arca volt, a szeme csukva. Látszott, ahogy meghajolt az ismeretlen erő előtt, még közben is a száját szorította.
Er hatte ein gelbliches Wachsgesicht, seine Augen waren zu. Er schien vor der unbekannten Kraft gebeugt zu sein, drückte die Lippen auch währenddessen zu.
Mint aki mindenkire haragszik ott, valahol, ahol ilyesmi megtörténhet.
Als ob er auf alle böse wäre dort, irgendwo, wo sich sowas ereignen kann.
Mint aki a Seollal már ezerszer farkasszemet nézett.
Wie jemand, der Seol schon tausendmal ins Auge geschaut hätte.
Délután van. Teaidő. Kettő is elmúlt. Eltelik ez a nap is. Ez a hét is. Sok minden történt. Későre jár.
Es ist Nachmittag. Zeit zum Tee trinken. Zwei ist auch vorbei. Dieser Tag endet auch. Auch diese Woche. Es ist viel passiert. Es ist spät geworden.
In den 1980er Jahren war András Petőcz eine der führenden Persönlichkeiten der ungarischen Avantgarde, Begründer der visuellen Poesie (Tyroclonista-versek), Autor akustischer Gedichte. Über das Jahrzehnt verteilt schrieb er durchnumerierte Zárójeles versek [Gedichte in Klammern], oft in Sonettform, die minimalistischen und repetierenden musikalischen Projekten folgen und sich als Poesie, die auf analogen Prinzipien basiert, präsentieren. Zur Jahrhundertwende stellte er den Gedichtzyklus Non-figurativ [Nonfigurativ] zusammen, in dem er die Selbstreflexivität der Poesie erforschte: die Gedichte waren sich selbst gewidmet. Weiter kann man in seinem Schaffensweg eine Hinwendung zu traditioneller Poesie beobachten, zur Stärkung der Tradition der Synthese. In Verbindung mit dem Schaffen des Poeten wird ebenfalls auf die Spaltung des lyrischen Subjekts, auf die Rollenlyrik verwiesen. Die Poesie von András Petőcz basiert auf ihren eigenen und fremden Stimmen, Personen und dem
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gemeinsamen Spiel mit diesen Subjektlinien. Der Poet versucht um der Objektivität willen, von außen auf sich selbst zu blicken, er wendet sich durch ein fremdes Bild an sich selbst, tritt in einer neuen Rolle auf. Bei András Petőcz übernehmen verschiedene Figuren der Reihe nach voneinander die Identität, wobei sie einen gemeinsamen Kern bewahren. In dem Gedichtband Európa Rádió [Radio Europa] eröffnet der Poet eine neue Perspektive für die Fragestellungen der Freiheit und einer europäischen Staatsbürgerschaft, doch als erstes erscheint in dem Band Oblomovs Traum. Dieses Gedicht hat ‚programmatischen‘ Charakter, obendrein ist in ihm ein neues Ideal für die Rollenlyrik ausgewählt, Oblomov. Das populärste Bild für Petőcz war bis dahin Orlando, der im Laufe seiner gesamten Existenz, seinen Charakter, sein Alter, Geschlecht, sozialen Status u. ä. ändert.8 Die Funktion des transitiven und gefügigen Bildes Orlandos wird jetzt auf den Helden Gončarovs übertragen, der ebenfalls gleichzeitig Identität und Differenz zu sich selbst zum Ausdruck bringt. Die Identifikation mit dem neuen literarischen Bild scheint ganzheitlich (ein handelnder lyrischer Held und ein deutendes Subjekt), Allusionen und Verweise jedoch ausgenommen (explizite Intertextualität), und erzeugt einen komplett anderen Effekt. Das Gedicht von Petőcz (Oblomovs Traum) macht die detaillierte Darstellung des allmählichen Aufwachens und den Zustand des lyrischen Helden nach dem Schlaf sowie die Erinnerung an sein Traumbild zu seinem Gegenstand. Diese Situation unterscheidet sich natürlich von der des Romans, aber gleichzeitig nimmt sie eindeutig auf diese Bezug. Die Beschreibung des einen Tages erweitert den zeitlichen Rahmen auf das gesamte Leben des Helden. Es wird nicht der Alltag der Bewohner Oblomovkas dargestellt, sondern ein kurzer Extrakt tief philosophischer Fragen vorgebracht, die in dem Roman mit dem Bild des Haupthelden in Beziehung gesetzt worden sind. Gončarovs Oblomov wird ebenfalls dadurch, daß ihm bewußt wird, daß die Zeit dahinfließt und Angelegenheiten erledigt werden müssen, von seinen Träumereien und Überlegungen über die wichtigeren Fragen des Seins abgelenkt. Sein Traum, sein Wunschtraum, seine Sehnsucht nach dem verlorenen Paradies als in der Welt gegenwärtige Erscheinung stellen sich als Ausdruck seines wirklichen Lebens heraus. Das lyrische Subjekt von Petőcz führt in seinen Gesichtskreis auch andere Aspekte ein. Obwohl die Aufzählung der Launen, Gedanken,
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Szepes Erika: A mozdulatlan mozdulás, avagy Pető cz András nyugtalan utazása. In: Tiszatáj (2001) 3, S. 58-73.
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traumähnlichen, stehenden Szenen zur Schaffung einer ‚Oblomov-Atmosphäre‘ beitragen, liegt hier eine neue Interpretation der Geschichte Oblomovs vor. Nach Auffassung der Forscherin Katalin Fehér tritt als ‚Protagonist‘ und konstruktiver Faktor des Gedichts der ungewöhnliche Chronotop, der einerseits auf der Verflechtung und dem Kontrast der Zeitebenen (Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft; die reale Lebenszeit läuft im Unterschied zu der ewigen Zeit des Traums und des Erinnerns an die Vergangenheit schnell ab, beide bilden jedoch eine Kreisstruktur, die Zyklizität der mythischen Zeit) und andererseits des Raumes (hier: das Haus Oblomovs, die Außentreppe, im Traum das Wohnzimmer, der Garten, die Beerdigung des Dieners Ol’gas; und dort: Seol – die Unterwelt; zwischen ‚hier und dort‘ ist eine dynamische Verlagerung möglich) basiert, auf. Im Zentrum des Gedichts steht die Problematik der Relativität und der Differenzierung der Zeit innerhalb und außerhalb der Grenzen der menschlichen Existenz, die Ungewißheit und der Mangel an Wahlmöglichkeit, wobei sich in diesem Aspekt die Verbindung zu den ontologischen Fragen des Romans verbirgt. Für das lyrische Subjekt ist es wichtig, die Möglichkeit zu haben, die Zeit anzuhalten, sie und bestimmte ihrer Momente zu entdecken, weil der Mensch in der Lage sein muß, das Laufende zu steuern und sein Dasein aus der Herrschaft der Zeit zu befreien.9 Im Hinblick auf die Beobachtungen von Fehér kann man die folgenden Bemerkungen machen. Am Beginn des Gedichts wird in einer kurzen DreiWort-Phrase die genaue Zeit bestimmt: es läuft die dritte Stunde („Két óra elmúlt“ [Zwei Uhr ist vorbei]). Darauf folgt ein Dreizeiler, der unerwartet schnell das Tempo des Verses beschleunigt. Es stimmt also die Form der Äußerung mit dem Inhalt der Äußerung, d. i. mit der Bestätigung der Handlungsbeschleunigung, überein. Diese Beschleunigung wird aber durch das hastige und kurze Konstatieren eines Faktums wieder unterbrochen: das lyrische Subjekt ist durch den Rhythmus des Lebens, von dem es umgeben ist, ermüdet. Und anscheinend ist es auch als Schöpfer des Textes über seine Ermüdung durch die strenge Rhythmisierung der dichterischen Aussagen ‚ermüdet‘. (Es sei angemerkt, daß in dem Roman Gončarovs der Rhythmus ebenfalls auf verschiedenen Ebenen des Textes klar geordnet und harmonisch ist.) Das Autorsubjekt des Gedichttextes vernachlässigt die typischen Formen der Lyrisierung und gibt ausschließlich Enjambements den Vorzug. Die Schroffheit und Abgehacktheit der Aufzählung des Wechsels von Situationen bewirkt auch die Pro9
Fehér Katalin: Az oblomovság rejtélye. Nagyon komoly játék egy verssel. In: Spanyolnátha (2009) 3, hier zitiert nach: http://www.spanyolnatha.hu/archivum/2009-osz/29/jelenlet50petocz-andras-50-szuletesnapjara/feherkatalin/2123/.
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saisierung des Gedichts. Die Fragmente der episodenhaften Ereignisse stiften die authentische Atmosphäre eines ‚Oblomovtums‘. Aufgrund dessen, daß die Reim- und rhythmische Struktur des Gedichts ebenfalls ziemlich systemlos ist, muß man andere Anhaltspunkte für den Zugang zum Ganzen suchen. Das schnelle Tempo wird auch durch die Anhäufung des Vokals „o“ in den ungarischen Worten ausgedrückt („kapkodom“, „gyorsan történnek körülöttem a dolgok“), die die Gedrängtheit der Gedichtsequenz festlegen (vgl. die Terminologie Jurij Tynjanovs). In der folgenden Strophe kann man wiederum einen Vergleich beobachten, jetzt aber auf der zeitlichen Ebene: eine Sekunde des Schlummers wird mit einem ganzen Morgen, mit der ersten Tageshälfte gleichgesetzt. Eine Minute wird zum Äquivalent langandauernder Zeit, fast der Ewigkeit. Die einzige erkennbare Handlung besteht hier in dem Schließen der Augen, alles weitere erfolgt ohne den Willen des lyrischen Helden. Dieses Thema wird anschaulich durch die Wiederholung der Silben „la“ und „le“ realisiert („pillanatra, talán ha lehúnytam a szemem“, „el is telt a délelőtt“), was auch die innere Gereimtheit der Strophe abbildet und lexikalisch nicht miteinander vereinbare Worte verbindet. Auf den Vierzeiler folgt wieder ein Dreizeiler, was an die Sonettform erinnert (die Themen der Vier- und Dreizeiler werden kontrastiv gestaltet), obwohl der strenge Gedichtaufbau des traditionellen Genres hier nicht befolgt wird (weder durch die Strophenstruktur noch durch die Silbenzahl noch durch die Präsenz von Reimen), zudem weist das Gedicht Züge eines japanischen Haikus auf (das Nachdenken über den Tod). Die äußere Welt dringt in die Welt des lyrischen Subjekts ein, das diese Grobheit materialisiert: das starke Sonnenlicht „schlägt ins Auge“ und blendet. In dieser Metapher geht der Himmelskörper fast anthropomorph vor. Auf andere Weise als der Schlaf stellt dies einen Ausschluß des Sehprozesses dar, denn es handelt sich um einen negativen Vorgang und verlangt Gegenwehr. Als solche erweist sich auch das Teetrinken, das für einen Ungarn das Klischee des russischen Lebensbildes schlechthin darstellt. Hier kann es sogar das Lesergedächtnis aktivieren und an den Son Oblomova von Gončarov erinnern. Die kategorische Notwendigkeit eines solchen Vergleichs wird durch die reduzierte Form unterstrichen: die Phrase besteht insgesamt nur aus zwei Versen. Der Zweizeiler tritt als scharfe Koda nicht am Ende, sondern in der Mitte des Gedichts auf. Danach zeigt sich, daß der Lauf des Gedankens absichtlich unterbrochen worden ist, denn er geht in den nächsten beiden Versen weiter. In der Phrasenstruktur fällt besonders die Verlangsamung der Handlung auf (durch die Kommata). Der Traum wird eingefügt und der Handlung der Cha-
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rakter von Ungewißheit („als ob“), Pseudorealität und Abgeschlossenheit verliehen. Dieser Traum wird mit dem Lichteffekt verglichen, der von der Sonne ausgeht, von außen kommt und den Menschen erblinden läßt. Der „schrille Sonnenschein“ symbolisiert das zufällige Aufwachen, das, was ‚geschieht‘. Nun, der Traum ist kein Dunkel, sondern nach Auffassung des lyrischen Subjekts Hellsehen. Ihm werden andere Eigenschaften zugesprochen, die sich von Getümmel, Schnellhetzerei, Hast des Tages unterscheiden. Das Gedicht beginnt hastig, von Feststellungen her, später wird es jedoch offener, fließender. Das Erinnern gewährleistet den Transfer aus diesem Leben in die andere Welt des Traums. Ein weiteres Bild, das von Gončarov in das Gedicht übernommen worden ist, Ol’ga, steht an einer besonderen Position: ihr Name bildet als Krönung der Enjambements der Phrase einen eigenen Vers. Sie verfügt, wie auch der Oblomov von Petőcz, über keinerlei Merkmale. Sie ist einfach ein Namenssignal, das auf den Roman verweist und als Anspielung an die Liebe des Helden aufgefaßt wird. Das „Wohnzimmer“ erweist sich im Gegensatz zur „Diele“ als Teil des häuslichen, inneren Raums. Die Liebe – als stärkster Beweis der Existenz, der Gegenwart des Menschen – wird auf den Traumzustand, auf das Traumbild bezogen. Als ob der Wunschtraum von Gončarovs Oblomov realisiert würde. Allein die Jahreszeit ist nicht Sommer, sondern Herbst und der Handlungsort kein Park, sondern ein Garten. Die Zeit verliert auch ihr schnelles Tempo, es öffnen sich ihre Rahmen. Mit dem Anbruch des Erinnerns an den Traum und dem Erscheinen des Bildes Ol’gas kann auch ein Wechsel des Diskurses beobachtet werden. Es setzt eine Krise der trockenen, konzeptionellen, ‚prosaischen‘ Sprache ein, der Erzähldiskurs, der am Konstatieren von Fakten orientiert ist, ändert sich und das sprachliche Schaffen befreit sich durch die Sprache des Traums. Das ist auch in der Geregeltheit der Mitteilung zu spüren. Obgleich die Strophe aus fünf Versen besteht, erhalten doch die letzten vier einen, wenn auch zugegebenermaßen nicht vollständigen, sich aber klar zeigenden Reim: abab. Anstelle der hastig-kurzen halben sechsfüßigen Jamben sind die Phrasen durch längere Verse und eine melodische metrische Gestaltung gekennzeichnet. Freilich kann kein Zitat verzeichnet werden, aber das Subjekt des Textes ironisiert klar das vorherige poetische Prinzip, die Theorie, die Perzeption und gestaltet seine neue, überdachte Konzeption. Die Handlungsverben im unvollendeten Aspekt verweisen auf die langandauernde Handlung in der Vergangenheit, die bisweilen durch eine kleine Erholung von der Bewegung unterbrochen wird. Die Arme des lyrischen Helden repräsentieren in der Interpretation des Subjekts einen starken und hoffnungs-
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vollen Halt, der Ruhe (einen schlafähnlichen Zustand) für die aktive Ol’ga, die Oblomov aus der liegenden Lage aufrichtet und ihn zu gehen und zu sprechen nötigt, gewähren kann. Die Herbstsonne scheint nicht grell (und „schrill“), blendet nicht, sondern begleitet die Liebenden angenehm, genauer, sie hängt über ihnen. Als Kontrast zu der Bewegung des Paars unter der Sonne wird sogar die Zeit angehalten. Diese Antithese ist ungewöhnlich, stellt der Herbst in der Poesie doch gewöhnlich die elegische Zeit des Welkens dar. Der Locus dessen, was sich ereignet hat, wird in die äußere Welt versetzt, in den „Garten“, der paradiesische Konnotationen erhält. Wegen der Reimposition des Wortes wird der „Garten“ zum Äquivalent der Erholung. Vier Kommata in einem Vers bremsen einerseits stärker die Zeit und die Handlung, andererseits den Rhythmus des Gedichts. Die Metaphorik des Traums und des Aufwachens, der äußeren Einflüsse und der inneren Wünsche, des schrillen Lichts und der Herbstsonne durchdringt die konsequenten Stimmungsbilder. Die „Schönheit“ des Traumbilds wird besonders hervorgehoben. Sie ist verflossen, denn sie war für die Zeit des Traumbilds kennzeichnend. Die dritte Wiederholung des Motivs des Sonnenlichts geht wieder mit einem heftigen Wechsel der thematischen und formalen Elemente einher. Den Dreizeiler kennzeichnet das Reimschema aab. Durch den Reim erweist sich das Licht als Äquivalent des Messers, das das Sehorgan zerstört. Als Materialisierung der Grobheit zerschneiden die Sonnenstrahlen, die Lichtquelle, das traditionelle Symbol der Gedanken, des Aufwachens, der Wärme und des Göttlichen, hier wie ein Messer die Augen, sie tragen nicht zur Verbesserung des Sehens bei, sondern handeln nach entgegengesetztem Prinzip. Es kommt ein ungewöhnliches Paradox, ein Oxymoron, das in eine Metapher mündet, also die Wechselwirkung unvereinbarer Elemente zum Ausdruck. Es ist ein Mangel an Schatten, Finsternis, gewohnten Eigenschaften des Schlafs und der Nacht zu beobachten. In Verbindung damit werden mittels des Bildes des alten Dieners Ol’gas auch das Thema des Todes und der Locus der Unterwelt eingeführt. Das ist ein gänzlich neues Element, das im Roman Gončarovs nicht vorhanden ist. In diesem ist das Bild von Oblomovs Diener Zachar akzentuiert – als unhaltbare Variante eines Oblomovs-Oblomovers, Ol’ga hat nur eine junge Dienerin. Im Roman steht Zachar, als er ein Bettler ist, an der Schwelle des Untergangs, aber seine Figur erinnert auch in diesem Fall in nichts an den geheimnisvollen Diener Ol’gas aus dem Gedicht, dessen Geschlecht nicht genau bezeichnet werden kann. Die Motivation für diese Unverbundenheit kann aus der Lautorganisation der vorliegenden Strophe herrühren. Die Einzelteile der ungarischen Äqui-
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valente für die Worte „Traum“ (álom) und „Oblomovs“ werden in enger Folge wiederholt: „Álmomban Olga öreg szolgálóját is láttam a ravatalon“ [In meinem Traum habe ich auch den altern Diener Ol’gas auf der Totenbahre gesehen]. Die Konzeptionen des ‚Wach‘zustandes werden außer Kraft gesetzt oder werden vielmehr durch ein entgegengesetztes Bild wiederholt. Das „Ich“ „sieht“ jetzt, es ist im Traum nicht allein, es sind latent Ol’ga und auch ihr Diener anwesend. Gemeinsam mit dem Diener wird das Thema Alter und Tod eingeführt. Das Gesicht des gestorbenen Dieners wird als visueller Eindruck charakterisiert: die gelbliche Farbe als Zeichen des verwesenden Körpers kann auch auf die Sonne verweisen, damit wird die Beschaffenheit des Todes auf die Sonne übertragen. Der Leichnam sieht nicht, seine Augen sind geschlossen, er ist, natürlich, des Sehvermögens beraubt, im Gegensatz zu dem Seher des Traumes, der im Traum sieht und darüber einen Text schreibt. Solch eine Existenz wird als zeitlos charakterisiert: für ihre Wiederherstellung werden verblose, mithin außerzeitliche Phrasen verwendet. Die Nominalform bezeichnet Konstanz, Stillstellen der aktiven Weltordnung, ihr Eintauchen in die Ewigkeit. In den folgenden vier Versen wird der objektive Standpunkt durch einen unbestimmten ersetzt, durch die subjektive Verarbeitung der wahrgenommenen Informationen. Das Gedicht von Petőcz erhält einen konditionalen, vibrierenden Charakter: die Lebens- und Todesstimmungen sind höchstoffensichtlich Änderungen unterworfen. An die Stelle des einfachen Fixierens des Sichtbaren treten Mutmaßungen: „Er schien“. Die Verfahren, die genutzt werden, um die ungewissen Verhältnisse auszudrücken, sind in erster Linie alle möglichen Formen von Wiederholungen (z. B. Wiederholung von Wortwurzeln sowie feine Verschiebungen zwischen der Semantik und der Klanghülle eines Wortes) und grammatische Variationen. Drei Verben der momentanen Aktionsart der Handlung („látszott“, „meghajolt“, „szorította“ [er schien; gebeugt zu sein; er drückte zu]) klingen ihrer Form nach aneinander an. Der Tod wird nicht beim Namen genannt, er erscheint nur als unterordnende und sich unterworfen machende „unbekannte Kraft“. Das Gefühl der Ungewißheit ergreift das Wort, das eine genaue Definition fordert. Doch die erklärte Demut ist zweifelhaft, denn der sich Beugende „drückt die Lippen […] zu“. Das kann sowohl von Widerspenstigkeit als auch von der Absicht, keinen Laut von sich zu geben, von einem Verzicht auf das Sprechen zeugen. Das aufgezwungene Schweigen ist also zweideutig – davon zeugt die durch Kursivierung hervorgehobene Wendung „währenddessen“. Obendrein wird noch eine weitere Erklärung eingestreut, die durch die Konditionalform „als ob“ ausgedrückt wird: der Sterbende ist ärgerlich über den sterblichen Charakter des Menschen, über
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eine Weltordnung, in der dem Menschen eine begrenzte Zeit zugemessen ist und jeden der Tod erwartet. Das kann man als Revolte eines Menschen gegen die Stabilität unabwendbarer Erscheinungen interpretieren. Zusammenfassung. Der Tod als gewöhnliches Vorkommnis, das „passiert“, wird durch die poetischen Mittel in ihrer Gesamtheit ausgedrückt. Nicht nur verwendete Pronomina (jener, alle, solcher, wo), sondern auch Indefinitpronomina: dort, irgendwo. Aber das ungarische Wort „valahol“ [irgendwo] hat eine Klanghülle, die auf den Namen Oblomovs verweist. Die Wiederholung dieses Segments greift dem letzten Zweizeiler vor. Dadurch, daß er extra abgetrennt ist, markiert er einen wichtigen Platz des Gedichts. Es wird der Ausdruck „als ob“ in der Anfangsposition der Phrase wiederholt, darauf werden Worte zusammengefaßt, die den Partikel „ol“ von „Seol“, des Namens, mit dem die Unterwelt bezeichnet wird, enthalten. Das Wort „Seol“ bildet auch ein ungarisches Wort, das Pronomen ‚sehol‘ [nirgendwo] nach. Der Reim legt auch die innere Form im Wort offen: die Unterwelt ist nirgends. Das Wortspiel, das sich mittels sich wiederholender Elemente, der Lautwiederholungen realisiert, wird für die Suche nach dem realen, wahren Wort, das nicht zu finden ist, verwendet. Der Traum, Oblomov, Ol’ga, der Diener, der Tod (álom, Olga, szolgáló, volt, ravatalon) – sie alle sind durch die wahre Geschichte und die Abwesenheit im Leben vereint. Sterblich ist das Wort, das nicht existiert, sondern entsteht. Das wird zur Haupterfahrung des Traumbilds. Auf diesem Binnenreim basiert die zentrale Metapher des Gedichts – Oblomovs Traum. Jede der drei Komponenten des Wortes (äußere Form, innere Form und Bedeutung) wird im Text des Gedichts dynamisiert und wegen der semantischen Bezüge, die in verschiedenen Kontexten auftreten, werden dem Wort neue Bedeutungen verliehen. Diese neue Metapher füllt mit ihren semantischen Neubildungen die Lücken, die der frühere Diskurs hinterlassen hat. Der zweite Vers basiert insgesamt auf der Wiederholung von „e“ als Signal zur Bezeichnung der Tapferkeit, des Überlebens der Todesdrohungen. Auf diese Weise entfaltet das Gedicht aus der Antithese von Traum und Leben das breite, ontologische Problem von Leben und Tod. Diese zwei Strophen scheinen vorsätzlich in zwei selbständige zerschlagen worden zu sein. Die ungarischen Worte „ott“ [dort] und „valahol“ [irgendwo] scheinen sich mit der vorhergehenden Strophe zu reimen, „történik“ [sich ereignen] dagegen greift diesem Thema vor und verweist auf die anfänglichen und vorletzten Verse. Die durch teilweise Homophonie verbundenen semantischen Einheiten werden durch Binnenreime über den ganzen Text verteilt. Der Gedichttext wird zum Ort der Konstituierung neuer Zeichen, die ihn selbst schaffen. Die entstande-
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nen neuen Bedeutungen generieren ein neues Thema: der Tod kann „passieren“, deshalb ist es am besten, wenn nichts passiert. Der Schmerz über die Sterblichkeit des Menschen wohnt diesen Versen bei, er wird von dem Bild des Dieners auf das träumende, dann deutende Subjekt projiziert. Durch den Poeten, der sich wie auch Gončarov mit den Fragen des Seins und Nichtseins befaßt, wird die Ablehnung des Todes und die Anerkennung des Traums als Übergang aus dem blinden Leben in eine andersgeartete Existenz dargestellt, wenn auch Gončarov diese Fragen nicht so ‚grob‘ ‚zur Schau‘ stellt. Die abschließende Strophe, die als Rahmen das Gedicht beschließt, antwortet in umgekehrter Reihenfolge kompakt auf die Thesen der Anfangsstrophen. Die Ordnung wird geändert und der erwartete Ausgleich fehlt. Die strukturelle Grundlage des Verses – der Rhythmus, die gegenseitige Beziehung der ihn konstituierenden Einheiten – kehrt zur hart-stockenden Intonation der ersten Strophen zurück. Mit Hilfe sich wiederholender Verse wird eine spiegelbildliche Symmetrie gebildet, in der auch Modifikationen ihren Platz haben. Auf den ersten Blick scheint die Erfahrung des Nachdenkens zu fehlen, die im Verlauf des Begreifens des Traumbilds gewonnen worden ist. Im Rahmen klärt sich nur die genaue Zeit: die zweite Tageshälfte, die Zeit des Teetrinkens, drei Uhr. Die Zeit läuft selbst in dem scheinbaren Nichtstun ziemlich schnell (ein Moment und eine Minute dehnen sich aus zu einem Tag und einer Woche). Die letzte Phrase erinnert an den Ablauf einer Frist und die Notwendigkeit zu handeln. Es wird indes bestätigt, daß insgesamt tatsächlich viel geschehen ist, allerdings nicht im Sinn äußerer Ereignisse. Das Ereignis wird nur in der offenen Wiedergabe der Handlung und dem verdeckten Begreifen des Traumbilds genannt. Das Problem besteht darin, daß das Subjekt nicht in der Lage ist, die resemantisierte Welt der Wortbedeutungen im Vers zu interpretieren, ohne sie auf sich selbst, auf seinen Schaffensweg zu beziehen, d. h. isoliert von seinem Selbstverständnis. Das Variieren der thematischen Motive in der Struktur des Gedichts gewährleistet die schrittweise Aneignung des Problems. Das Gedicht durchdringt die Idee von Leben und Tod, die von einzelnen Verästelungen der Idee durchzogen ist (Traum und Wirklichkeit, Zeit und Ewigkeit, Liebe und Passivität). Diese Fragmente ergeben zusammen ein komplettes Bild, in dem die Idee keine Vollendung erfährt, aber zu immer neuem Umdenken führt. Die bruchstückhafte (‚oblomovsche‘), zerschlagene Verssprache, die vielfachen Brüche in der Versorganisation gehen in Textformen über, wo sich die Akzentuierung einzelner Bedeutungen zu einem auf seine Art einzigen Sinn entfaltet.
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Angelika Molnár
Das Rollenspiel, das auf die Suche nach der verlorenen lyrischen Person und auf die Schaffung einer neuen poetischen Stimme, auf die Qualitäten des inneren Sehens und des philosophischen Inhalts ausgerichtet ist, entfaltet sich zu einem autopoetischen Programm. Letzten Endes werden der lyrische Held, der in dem Gedicht handelt, das lyrische Subjekt, das die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt und das Subjekt des Textes selbst, das sich in seinem Suchen nach dem passenden Wort darüber heraus- und umbildet, zu den Hypostasen des Textsubjekts. Indem es die Handlungen gestaltet, schafft es seine Text-Antwort, die die Aufmerksamkeit auf die eigene Organisation konzentriert. Die neue Rolle im Bild Oblomovs vertiefte die poetische Welt des ungarischen Poeten, wie auch bei den anderen Poeten, von denen im vorliegenden Beitrag die Rede war. Die Prosa des russischen Autors hatte einen fruchtbaren Einfluß auf die ungarische Poesie. Möglich, daß dabei nicht nur das facettenreiche und unerschöpfliche Bild des Helden eine entscheidende Rolle spielte, sondern auch die Tatsache der Poetizität des Romans selbst. Man sollte nicht vergessen, daß der Klassiker seinen Schaffensweg mit dem Schreiben von Gedichten begann, die auch seine ersten Erfahrungen auf dem Feld des Prosadiskurses bestimmten. (Aus dem Russischen von Anne Hultsch)
Anne Hultsch Überblick über deutschsprachige GončarovNeuerscheinungen seit 1994 Bei dem folgenden Überblick handelt es sich um eine kleine, teilweise kommentierte Bibliographie,1 die gerne den Anspruch der Vollständigkeit erfüllen würde, sich aber der Schwierigkeit des Unterfangens bewußt ist, alle Veröffentlichungen zu erfassen, die eben nicht nur dem Bereich der Slavistik entspringen, weil es sich mit Gončarov um einen Autor handelt, der – und vor allem die von ihm geschaffene Figur des Oblomov – sich regen Interesses zahlreicher weiterer Disziplinen, vor allem der Psychowissenschaften erfreut. Das Jahr 1994 als Ausgangspunkt anzusetzen, hat seine Begründung in der Tatsache, daß in diesem Jahr der letzte deutschsprachige Sammelband (Ivan A. Gončarov. Leben, Werk und Wirkung. Beiträge der I. Internationalen Gončarov-Konferenz. Bamberg, 8.–10. Oktober 1991, herausgegeben von Peter Thiergen) erschienen ist, dessen Beiträge auf dem damals aktuellen Forschungsstand basieren. Die folgende Auflistung versteht sich als freie Fortsetzung des 1992 publizierten Aufsatzes Die Gončarov-Forschung der letzten Jahre von Annette Huwyler-Van der Haegen.2 Die „letzten Jahre“ bilden dort den Fünfjahreszeitraum 1987 bis 1991/92. Als Fragestellung, die neu in dem betrachteten Zeitraum in den Fokus der Forschung gerückt sei, nennt die Autorin „Gončarov als philosophischer Autor, der auch die westeuropäische Literatur und Philosophie sehr gut kannte“.3 Im Gegensatz zu Huwyler-Van der Haegen richtet sich der vorliegende Blick jedoch ausschließlich auf deutschsprachige Publikationen (auf publizistische Beiträge in Presse, Funk und Inter-
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Kommentiert wird in den Fällen, in denen nicht der jeweilige Titel, gegebenenfalls unter zusätzlicher Berücksichtigung der Angabe des Verlagsnamens, Aufschluß gewährt, was den Leser erwartet. In: Europa Orientalis 11 (1992) 2, S. 387-403. In der unten genannten Dissertation von Daniel Schümann (2005) findet sich eine umfangreiche Bibliographie (v. a. S. 489-497), auf die hier ebenfalls zurückgegriffen werden kann. In russischer Sprache liegen die beiden aufschlußreichen Arbeiten von Peter Thiergen (Tirgen) aus dem Jahre 1998 über die Rezeption Gončarovs in den deutschsprachigen Ländern vor, die bereits im Vorwort des vorliegenden Buches erwähnt worden sind. Huwyler-Van der Haegen, Gončarov-Forschung 1992, S. 387.
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net sowie Rezensionen wird allerdings nicht eingegangen) und es finden auch neue Übersetzungen Berücksichtigung. Im Hinblick auf die übersetzten Primärtexte wird nämlich schnell deutlich, daß Vera Bischitzky vor allem dadurch, daß sie dem deutschsprachigen Rezipienten einen Teil der Briefe Gončarovs aus den Quellen erschließt, diesen in die komfortable Situation versetzt, nun über Materialien zu verfügen, die selbst einem russischsprachigen Rezipienten in dieser Form noch nicht zugänglich sind. Briefe Gončarovs lagen bisher, wenn man von den Reisebriefen absieht, in keiner deutschen Übersetzung vor. Neben der Anfertigung neuer, besserer Übersetzungen – Oblomov wurde (ebenfalls von Bischitzky) neu übersetzt – sah Thiergen 1998 die Hauptaufgabe der deutschen ‚Gončarologie‘ in der Herausgabe der Essays und Briefe Gončarovs sowie in einer intensiveren wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit seinem Werk.4 Wird der Wunsch nach Übersetzung der Briefe also langsam erfüllt, blieb der Wunsch nach Gončarovs Essays in deutscher Sprache bislang weitestgehend unerfüllt. Von diesen lag lediglich, und das schon seit langer Zeit, Lušče pozdno, čem nikogda [Lieber spät als nie] in der Übersetzung von Erich Müller-Kamp vor.5 Allerneuesten Datums ist Bischitzkys Übersetzung von Narušenie voli [Missachtung des Willens].6 Monographien sind in den letzten zwanzig Jahren zwei erschienen, wobei die eine aus dem Bereich der Philologien (Germanistik und Slavistik), die andere aus dem der Psychowissenschaften stammt. Beide haben Oblomov zum Untersuchungsgegenstand. Mit der Arbeit von Schümann liegt nun eine/die Untersuchung der Rezeption Oblomovs im deutschsprachigen Raum vor, die von Thiergen namentlich angemahnt worden war.7 Unternimmt man den Versuch, die Gončarov und seinem Werk gewidmeten Einzelaufsätze und Buchkapitel thematisch zu systematisieren, ergibt sich grob folgendes Bild:
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Tirgen, Zamečanija o recepcii 1998, S. 53 und ders., O recepcii Gončarova 1998, S. 119. Gontscharow, Iwan: Lieber spät als nie. Kritische Bemerkungen (1879). Übersetzt von Erich Müller-Kamp. In: ders., Die Schlucht. Deutsch von August Scholz. Zürich 1959, S. 1183-1253. Gončarov, Ivan A.: Missachtung des Willens. In: ders., Briefe an Anatolij F. Koni 2016, S. 25-43 (die genauen bibliographischen Angaben s. u.). In meiner Habilitationsschrift Von Ellbogen und anderen Begehrlichkeiten. Liebe im Werk I. A. Gončarovs (Dezember 2013), die augenblicklich zum Druck vorbereitet wird, habe ich den Versuch unternommen, das Gesamtwerk Gončarovs (die Briefe und Kurzprosa eingeschlossen) aus philologischer Sicht unter dem Vorzeichen der Liebe zu betrachten.
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Das größte Interesse gilt in den letzten Jahren psychologischen Aspekten des Romans Oblomov bzw. dessen psychoanalytischer Lektüre. Die aus Amerika nach Deutschland zurückgekehrten psychoanalytischen Diskurse werden hier momentan offensichtlich mit Aspekten der neueren Emotionsforschung verknüpft, wobei zunehmend einzelne (negative) Emotionen wie Weltschmerz, Neid, Schüchternheit, Angst, Hypochondrie oder Verwöhnung bzw. Verhaltensweisen wie die Faulheit oder der Müßiggang untersucht werden. Erst an zweiter Stelle stehen komparatistische Fragestellungen (v. a. mit der deutschsprachigen Literatur als Vergleichsgröße) sowie in engerem Sinne slavistisch-philologische Untersuchungen. Den quantitativ dritten Platz nehmen Überlegungen zu wirtschaftlichen Aspekten ein, die mit dem Werk Gončarovs verknüpft sind. Neben Slavisten als Autoren, die sich mit Gončarovs Werk auseinandersetzen, handelt es sich vor allem um Psychowissenschaflter, aber auch um Germanisten und Historiker. Das bringt mit sich, daß viele Überlegungen nur auf den deutschen Übersetzungen basieren, mithin die Texte nur grob auf ihren Ideengehalt hin untersuchen können. Die sprachlichen Feinheiten, die Poetik der Texte, ihre literarischen Qualitäten und Zusammenhänge mit der russischen Geistesgeschichte können dabei nicht immer gebührend gewürdigt werden. Aus Sicht der slavischen Philologie ist dies zwar bedauerlich, andererseits zeigt es aber das Potential, das vor allem im Oblomov für aktuelle Diskurse liegt. Im besten Falle würde sich die Slavistik provozieren lassen, auf ihren eigenen methodischen Grundlagen basierende Antworten zu geben, also beispielsweise die psychoanalytisch herausgearbeitete „zentrale Funktion“ der Figur Tarant’evs „in der gesamten Erzähldynamik“8 des Romans aus narratologischer Sicht zu untersuchen. Ein weiteres Feld bildet der eher populäre Blick auf Oblomov, wie ihn zum Beispiel Tatjana Kuschtewskaja mit ihren kulinarischen Ausführungen gewährt.9 Oblomov ist nach wie vor das Werk Gončarovs, das die größte Aufmerksamkeit auf sich zieht. Ihm ist mehr als die Hälfte der unten angeführten Arbeiten gewidmet. Allerdings fällt auf, daß auch das Interesse an Fregat „Pallada“ langsam zunimmt, während die zwei weiteren Romane, vor allem aber die Kurzprosa, Essays und Briefe sehr stiefmütterlich behandelt werden. Es bleibt demzufolge, unabhängig von Jubiläen (es böte sich vielleicht eine Frist von 8 9
Polo, Der grobschlächtige Tarantjew 2011, S. 145. Kuschtewskaja, Iwan Gontscharow 2003.
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20 Jahren an, denn der erste uns überlieferte literarische Text Gončarovs, das Gedicht Otryvok. Iz pis’ma k drugu [Fragment. Aus einem Brief an einen Freund] stammt aus dem Jahre 1835), zu wünschen, daß Gončarovs Werk zunehmend als Gesamtwerk wahrgenommen werde und daß die von Thiergen seinerzeit bereits als überfällig bezeichnete deutschsprachige Monographie über Leben und Werk Gončarovs10 tatsächlich irgendwann einmal erscheinen möge.
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„Давно уже пора издать монографию о жизни и творчестве Гончарова“ [Es ist schon längst an der Zeit, eine Monographie über Leben und Werk Gončarovs herauszugeben] (Tirgen, Zamečanija o recepcii 1998, S. 53 und – ohne „уже“ [schon] – ders., O recepcii Gončarova 1998, S. 119). Vgl. auch Kusber, Koloniale Expansion 2003: „Eine moderne, kulturwissenschaftlichen Ansprüchen genügende Biographie über Gončarov fehlt“ (S. 194).
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Primärtexte Gontscharow, Iwan: Für den Zaren um die halbe Welt. Eine Reise in Briefen, ergänzt durch Texte aus der Fregatte Pallas. Aus dem Russischen von Erich Müller-Kamp. Frankfurt am Main: Eichborn 1998 (= Die andere Bibliothek. 168). Auch wenn sie als deutsche Erstausgabe ausgegeben wird, basiert diese schöne Ausgabe auf der Übersetzung Erich Müller-Kamps, die 1965 erstmals bei Heinrich Ellermann in Hamburg/München erschienen ist.
Gončarov, Ivan: Nymphodora Ivanovna. Eine Erzählung aus Sankt Petersburg im Jahre 1836. Aus dem Russischen übersetzt und herausgegeben von Peter Urban. Berlin: Friedenauer Presse 2000. Erste deutsche Übersetzung dieser wohl ersten Prosaarbeit (1836) Gončarovs, deren russisches Original 1959 entdeckt, 1960 philologisch untersucht, aber erst 1993 publiziert worden ist.
Gontscharow, Iwan: Oblomow. Roman in vier Teilen. Herausgegeben und neu übersetzt von Vera Bischitzky. München: Carl Hanser 2012. Darin befindet sich ein sehr umfangreicher, von Vera Bischitzky zusammengestellter Anhang (Nachwort, Angaben zu der Ausgabe und zu ihrer Neuübersetzung, Anmerkungen; S. 747-838). Eine Taschenbuchausgabe dieser Überstzung erschien 2014 im Deutschen Taschenbuchverlag (dtv, München).
Gontscharow, Iwan: Herrlichste, beste, erste aller Frauen. Eine Liebe in Briefen. Herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt von Vera Bischitzky. Berlin: Aufbau 2013. Deutsche Ausgabe der Briefe Ivan Gončarovs an Elizaveta Tolstaja (1855/56), die in dieser Vollständigkeit noch nicht einmal in einer russischen Ausgabe vorliegen. Der Band enthält einen ausführlichen, von Vera Bischitzky zusammengestellten Anhang (Nachwort, Anmerkungen, Editorische Notiz, Bibliographie, Angaben zum Autor und zur Herausgeberin; S. 153-204) sowie eine Vorbemerkung (S. 5-20), die in Gončarovs Liebesbeziehung zu Tolstaja einführt. Bestandteil der Ausgabe ist ebenfalls die Beilage zu zwei Briefen von Oktober/November 1855, der von Gončarov als Entwurf zu einem Romankapitel ausgegebene Text Pour i contre (S. 71-92).
Gontscharow, Iwan: Der Weihnachtsbaum (Aus dem Russischen von Vera Bischitzky). In: Frankfurter Allgemeine Zeitung (30.11.2013) 270, S. L 1 und L 2. Neue und – der redaktionellen Angabe zufolge – erste vollständige deutsche Übersetzung von Roždestvenskaja elka (1875, Erstveröffentlichung 1952). Eine erste Übersetzung dieses Textes (von Beate Petras) erschien in Gontscharow, Iwan Alexandrowitsch: Ein Monat Mai
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in Petersburg. Erzählungen und Erinnerungen 1875–1891. Leipzig/Weimar: Kiepenheuer 1988, S. 5-11.
Gontscharow, Iwan A.: Entgleitendes Leben. In: Breuninger, Renate/Schiemann, Gregor (Hgg.), Langeweile. Auf der Suche nach einem unzeitgemäßen Gefühl. Ein philosophisches Lesebuch. Frankfurt am Main/New York: Campus 2015, S. 127-132. Es sind (unkommentiert) einige Auszüge aus Oblomov in der Übersetzung von Josef Hahn abgedruckt.
Gončarov, Ivan A.: Briefe an Anatolij F. Koni und andere Materialien. Ausgewählt, übersetzt und kommentiert von Vera Bischitzky. Mit einem Geleitwort von Peter Thiergen. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2016 (= Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte. NF B 29). Aus dem Klappentext: „[…] In den letzten beiden Lebensjahrzehnten, in denen seine literarische Produktivität fast erlosch, wurde der briefliche Austausch quasi sein Lebenselixier. Die 90 Briefe aus den Jahren 1879 bis 1891 an den Freund Anatolij Koni beleuchten Lebensumstände und Gedankenwelt des zurückgezogen lebenden Junggesellen und zeugen von einer außergewöhnlichen Persönlichkeit. Sie werden unter anderem ergänzt durch einen vertiefenden Kommentar der Herausgeberin,“ der, das sei hinzugefügt, zum Teil ausführliche Zitate aus Briefen Gončarovs an weitere Adressaten verwendet. Das Buch enthält zudem unter dem Titel Missachtung des Willens (S. 25-43) eine deutsche Übersetzung von Gončarovs Narušenie voli (1889), in dem der Autor sich über den seiner Meinung nach unangemessenen bis unanständigen Umgang mit persönlichen Briefen von Kollegen äußert und mit der Bitte schließt, von ihm geschriebene Briefe nicht zu publizieren, sondern nach dem Tod der Adressaten zu vernichten.
Produktive Rezeption des Oblomov Koerbl, Jörg Michael: Oblomows Traum. Ein deutsches Drama. Nach Personen und Motiven des Romans „Oblomow“ von I. A. Gontscharow. In: Theater der Zeit 51 (1996) 1, S. 75-99. Wagner, Bernd: Club Oblomow. Roman. Berlin: Ullstein 1999. Eine Taschenbuchausgabe dieses Romans erschien 2003 bei Steidl in Göttingen (= SteidlTaschenbuch 185). Zu Koerbl und Wagner s. Schümann, Oblomov-Fiktionen 2005, S. 279-312 bzw. S. 219245.
Werbowski, Tecia: Oblomowa. Erzählung. Aus dem Polnischen übertragen und herausgegeben von Barbara Schaefer. Borsdorf: edition winterwork 2013. Die aus Lwów stammende Autorin hat ihr Lebensweg (über Prag, Polen, wieder Prag, Warschau) 1968 nach Kanada geführt (seit 1989 außerdem nach Prag und Wien), wo diese Er-
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zählung spielt. Die personale Ich-Erzählerin ist als weibliche neuzeitliche Form Oblomovs entworfen, deren Ehemann den Versuch unternimmt, sie qua Testament nach seinem Tod zu Aktivität und gesellschaftlichem Verkehr zu bewegen.
Sekundärtexte Monographien Henning, Frank: Oblomowerei – eine Vorstufe der Sucht? oder: Die Metamorphose des Stolz. Oldenburg: Paulo Freire 2013 (= Lebenswelten. 7) [erschien 2014]. Ein zweiter Untertitel lautet: Ausstieg und Fall des Ilja Iljitsch Oblomow als Beispiel einer großbürgerlichen Drogenkarriere. Eine Untersuchung des Phänomens „Oblomow“, kommentiert aus anthropologischer Sicht. Der Autor ist Psychotherapeut und legt laut Klappentext „den Fokus seiner umfassenden Studie auf die emotionale Not der Romanfigur, ihre Angst vor dem Leben sowie auf ihre Resignation, Menschenscheu und Infantilität“, es scheint sich jedoch vielmehr um eine Apologie von Štol’c zu handeln, der im Verlauf des Romans reift, sich verwandelt und „seine Liebesfähigkeit und seinen Tiefgang“ entwickelt (S. 15). Der Autor arbeitet nicht nach wissenschaftlichen Prinzipien, konkrete bibliographische Angaben fehlen, Seitenzahlen tauchen zwar im Text auf, es wird jedoch nicht angegeben, auf welche Ausgabe sie sich beziehen und sind insofern ohne Aussagegehalt.
Schümann, Daniel: Oblomov-Fiktionen. Zur produktiven Rezeption von I. A. Gončarovs Roman Oblomov im deutschsprachigen Raum. Würzburg: Ergon 2005 (= Literatura. Wissenschaftliche Beiträge zur Moderne und ihrer Geschichte. 16). Neben einem ausführlichen Blick auf die Rezeption und verschiedene Interpretationen Oblomovs handelt es sich in erster Linie um die exemplarische Analyse von auf Oblomov basierenden Prosa- (von Paul Nizon, Uwe Grüning, Günther Rücker, Bernd Wagner) und Dramentexten (von Franz Xaver Kroetz, Jörg Michael Koerbl) sowie von einem Hörspiel (von Max Gundermann/Kurt Lother Tank), einem Hörstück (von Christoph Martin) und zwei Fernsehspielen (von Manfred Bieler/Claus Peter Witt, Sebastian C. Schroeder). Zumindest erwähnt sei, daß das Buch in Poetica 40 (2008), S. 195-199; in Kritikon Litterarum 35 (2008), S. 166-169 sowie auf Russisch in dem in Ul’janovsk erscheinenden Monomach 29 (2007) 2, S. 29 und auf Englisch in The Slavic and East European Journal 52 (2008) 4, S. 604f. rezensiert worden ist.
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Aufsätze/Buchkapitel Beland, Hermann: Das Verlangen nach völliger Übereinstimmung und die Angst vor Denken und Tun (Oblomows Retreat). In: Weiß, Heinz (Hg.), Ödipuskomplex und Symbolbildung. Ihre Bedeutung bei Borderline-Zuständen und frühen Störungen. Hanna Segal zu Ehren. Tübingen: Ed. diskord 1999 (= Perspektiven kleinianischer Psychoanalyse. 5), S. 119-141. Beland, Hermann: Das Verlangen nach völliger Übereinstimmung und die Angst vor Denken und Tun. Oblomows Retreat (Gontscharow) als Paradigma des psychosozialen Mechanismus. In: ders., Die Angst vor Denken und Tun. psychoanalytische Aufsätze zu Theorie, Klinik und Gesellschaft. Gießen: Psychosozial-Verlag 2008, 22014 (= Bibliothek der Psychoanalyse), S. 213-234. Wiederabdruck von Beland 1999. Aus der Einleitung Belands über diesen Aufsatz: „»Das Verlangen nach völliger Übereinstimmung und die Angst vor Denken und Tun« ist die Kurzfassung der Verhaltensstruktur einer Patientin, über deren projektive Identifizierungen, die ich unbemerkt akzeptiert hatte, mir der schwer begreifliche Charakter der Romanfigur von Gontscharow, Oblomow, verständlich wurde. Gontscharow war es gelungen, in der Gestalt des inaktiven Edelmannes das Gesicht seiner Epoche, aber darüber hinaus den psychosozialen Mechanismus abzubilden, durch den quietistische Gesellschaftsstrukturen an die nächste Generation weitergegeben und von dieser verinnerlicht werden. […] meine Entdeckung des psychosozialen Mechanismus für die Weitergabe unbewußter kollektiver Überzeugungen über Generationen. Kurz gefaßt ist es die von der Elterngeneration traumatisch induzierte, dann von ihr akzeptierte projektive Identifizierung des Kindes, mit deren Akzeptanz das Kind wiederum sich identifiziert und eine regulative Struktur ausbildet und fixiert. Die Passivität Oblomows basierte auf der projektiven Abtretung von Intentionalität, Urteilskraft, Selbstkontrolle, Selbstversorgung und aller aggressiver Tüchtigkeiten an einen Orbit von Satellitenpersonen“ (S. 14f.).
Dischner, Gisela: Oblomow, Oblomowerei. In: dies., Wörterbuch des Müßiggängers, Bielefeld/Basel: Edition Sirius im Aisthesis Verlag 22009, S. 208-216. Die Germanistin Dischner stellt Oblomov in ‚seinem‘ Lemma als „populärste[n] Müßiggänger des 19. Jahrhunderts“ vor (S. 208). Gončarov betone an Oblomov die Tugenden der Aufmerksamkeit, Gelassenheit und Konzentration, über die dieser verfüge, sie aber „nicht ins Soziale [zu] übersetzen“ verstehe, weil er „eine geistige Existenz, kontemplativ beobachtend und mit allen Sinnen wahrnehmend“ sei (S. 215). Oblomov findet außerdem Erwähnung in folgenden Einträgen: „Melancholie“ (Oblomovs nach dem Scheitern seiner Liebe zu Ol’ga; S. 175), „Muße“ (Oblomovs stilles Daliegen und aufmerksam einem fliegenden Stäubchen Nachsehen; S. 188), „Müßiggang“ (lediglich Verweis auf das Lemma „Oblomow“; S. 197) und etwas ausführlicher in „Wahnsinn und Musik“ (die entscheidende Rolle der Arie Casta diva für Oblomov; S. 287f.). Wann die erste Auflage erschienen ist, die der hier bearbeiteten zweiten zugrundelag, kann weder dem Buch entnommen werden, noch führten anderweitige Recherchen zu einem Ergebnis.
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Eisner, Margarete: 2.2.2 Oblomow (Gontscharow). In: dies., Über Schüchternheit. Tiefenpsychologische und anthropologische Aspekte. Göttingen: V&R unipress 2012, S. 21f. Das aus Oblomov angeführte Zitat (die personale Sicht des Erzählers auf das Innere Oblomovs, der es ablehnt, wie die ‚anderen‘ zu sein) ist länger als die dazu vorgebrachten knappen Überlegungen der Autorin. Eine weitere kurze Erwähnung Gončarovs/Oblomovs erfolgt auf S. 70f.
Elfrath, Ruth: IV. Ivan Aleksandrovič Gončarov (1812–1891). 1. Oblomov. In: dies., Der Deutsche als Charakter in der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts – seine Funktion und sein Wandel in der Erzählstruktur. Gießen: Kletsmeier 1998 (= Wissenschaftsskripten. 4, Slawische Sprach- und Literaturwissenschaft. 1), S. 44-62. Auch wenn die Ziffer „1.“ zunächst etwas anderes vermuten läßt, beläßt die Autorin es bei der erfreulich textorientierten Auseinandersetzung mit Oblomov bzw. konkret mit Ivan Bogdanovič und Andrej Štol’c in Abgrenzung zu Oblomov sowie einem kurzen Blick auf Baron fon Langvagen.
Frick, Jürg: 4.4 Literarische Darstellungen von Verwöhnung. Gontscharow: Oblomow. In: ders., Die Droge Verwöhnung. Beispiele, Folgen, Alternativen, Bern: Hans Huber (2001) 42011, S. 106f. In den früheren Ausgaben wurden die konkreten literarischen Werke nicht bereits im Inhaltsverzeichnis genannt, sondern fanden lediglich als Zwischenüberschrift im Text Erwähnung (vgl. 32005, S. 88-90). Frick betrachtet Oblomov als „Beispiel für den Zusammenhang von Verwöhnung und gänzlicher Lebensuntüchtigkeit“ (S. 88) und spricht von Oblomovs „gewohnte[m] Zustand von Apathie und Passivität […]“ und davon, daß „Oblomow […] in seiner Zuschauerrolle gefangen“ bleibe (S. 90).
Frühsorge, Gotthardt: Iwan Gontscharow: Oblomow. In: Stauf, Renate/Berghahn, Cord-Friedrich (Hgg.), Weltliteratur. Eine Braunschweiger Vorlesung. Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2004 (= Braunschweiger Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur. 7), S. 275-289. Der Germanist und Kulturwissenschaftler Frühsorge richtet, entsprechend seinen sonstigen Forschungen zum Landleben, sein besonderes Augenmerk auf die Picknick-Szene in Oblomovs Zukunftsvision. Seinen Deutungsansatz „möchte [er] so überschreiben: Die Trauer des Ilja Iljitsch Oblomow. Eine Geschichte vom Landleben“ (S. 282). Die Figur des Oblomov deutet er als die „des großen Verweigerers“, die sich – „aus einer Erkenntnis über das Wesen der historischen Zeit, die die Arbeitspflicht als Arbeitsethos an die Stelle des reinen Daseinszwecks des Menschen als Ebenbild Gottes gesetzt hat“ – „jeder Form von Arbeit“ verweigert (S. 289).
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Fuest, Leonhard: Das Gespenst der Faulheit: Iwan A. Gontscharows Oblomow. In: ders., Poetik des Nicht(s)tuns. Verweigerungsstrategien in der Literatur seit 1800. Paderborn/München: Wilhelm Fink 2008, S. 177-194. Goldschweer, Ulrike: Gemeinsamkeit stiften, Distanz wahren. Kulinarische Motive in I. A. Gončarovs Reiseskizzen Fregat ‚Pallada‘ (Die Fregatte ‚Pallas‘, 1858). In: Franz, Norbert (Hg.), Russische Küche und kulturelle Identität. Potsdam: Universitätsverlag, S. 145-165. Graf, Alexander: Ivan Aleksandrovič Gončarov. In: Arnold, Heinz Ludwig (Hg.), Kindlers Literaturlexikon. Gaa–Hah 6. Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 3 2009, S. 420-423. Mit kurzer Darstellung der drei Romane.
Günther, Hans: Homo Oeconomicus und russische Kultur. Zu Gončarovs Roman ‚Oblomov‘. In: Weitlaner, Wolfgang (Hg.), Kultur. Sprache. Ökonomie. Beiträge zur gleichnamigen Tagung an der Wirtschaftsuniversität Wien 3.– 5. Dezember 1999 (= Wiener Slawistischer Almanach. Sonderband. 54 [2001]), S. 101-113. Gutschmidt, Karl: Namen bei I. A. Gončarov: Obyknovennaja istorija (Eine alltägliche Geschichte). In: Thiergen, Peter (Hg.), Scholae et symposium. Festschrift für Hans Rothe zum 75. Geburtstag. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2003 (= Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte. NF A 44), S. 3755. Hansen-Löve, Aage A.: Dämonik des Banalen – Idyllen des Grauen(s): Gogol – Stifter – Gončarov. In: Friedrich, Lars/Geulen, Eva/Wetters, Kirk (Hgg.), Das Dämonische. Schicksale einer Kategorie der Zweideutigkeit nach Goethe. Paderborn: Fink 2014, S. 201-226. Es werden v. a. Stifter und Gončarovs Oblomov hinsichtlich der „Still-Stände und Leer-Stellen der Existenz und einer entsprechenden Ästhetik der Depression“ untersucht, wobei Gončarov als „spätbiedermeierliches Pendant“ zu Stifter in Rußland aufgefaßt wird (S. 206). Der Schwerpunkt der Darstellung liegt bei Stifter. Die Behauptung, daß Gončarov seine eigene Köchin geheiratet habe (S. 206 und 218), scheint ohne den Nachweis neuer Archivfunde etwas gewagt.
Heier, Edmund: Zu I. A. Gončarovs Humanitätsideal in Hinsicht auf die Gesellschaftsprobleme Rußlands. In: ders., Comparative Literary Studies: Lermontov, Turgenev, Goncharov, Tolstoj, Blok – Lavater, Lessing, Schiller, Grillparzer. München: Otto Sagner 2000 (= Vorträge und Abhandlungen zur Slavistik. 39), S. 64-91.
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Wiederabdruck aus: Thiergen, Peter (Hg.): Ivan A. Gončarov. Leben, Werk und Wirkung. Köln/Weimar/Wien 1994, S. 45-72.
Herlth, Jens: Ivan Gončarov: Oblomov. In: Zelinsky, Bodo (Hg.), Der russische Roman. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2007 (= Russische Literatur in Einzelinterpretationen. Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte. NF A 40,2), S. 139-163 und 503-507. Hodel, Robert: 4.4. I. A. Gončarov: Oblomov. In: ders., Erlebte Rede in der russischen Literatur. Vom Sentimentalismus zum Sozialistischen Realismus. Frankfurt am Main: Peter Lang 2001 (= Slavische Literaturen. Texte und Abhandlungen. 22), S. 133-147. Hultsch, Anne: Jan Maria Oblomov: Zur Intertextualität von Julius Zeyers „Jan Maria Plojhar“ und Ivan Gončarovs „Oblomov“. In: Zeitschrift für Slawistik 49 (2004) 2, S. 127-139. Hultsch, Anne: „Sovetuju imet’ tonkij, izjaščnyj stol“. I. A. Gončarov als Ernährungsratgeber. In: Giesemann, Gerhard/Rothe, Hans (Hgg.), Schulbildung und ihre Weiterentwicklung. Gedenkband zum 100. Geburtstag von Alfred Rammelmeyer. München/Berlin: Otto Sagner 2010 (= Studies on language and culture in Central and Eastern Europe. 15), S. 355-374. Klotz, Volker: Vom Müßig-Gänger zum Un-Täter. Nichtsnutz in Bühnenstücken und Bildergeschichten. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde LV (2001) 104 , S. 23-37. Auf Oblomov wird kurz kontrastiv eingegangen, denn der Autor stellt fest: „Oblomovs Fall berührt sich mit meinem Thema, aber nur von außen. Es kontrastiert geradezu den eigentlichen Müßiggang. Schon das allgeläufige Wort zeigt es an. Müßig sitzt oder steht man nicht. Müßig geht man. Nie liegen sie wie Oblomov auf der faulen Haut, die Müßiggänger“ (S. 24). Eine weitere Arbeit von Klotz mit dem Titel Müßig-Gänger. Un-Täter. Nichtsnutz im Struwwelpeter, Datterich und anderswo. Zwei Essays. Darmstadt: Magistrat 2001 (= Darmstädter Dokumente. 12) war mir nicht zugänglich. Ich gehe jedoch davon aus, daß nicht nur der Titel des ersten Essays mit dem genannten Aufsatz identisch ist.
Koschmal, Walter: Postrealismus in Rußland. Ivan Gončarovs späte Erzählungen. In: Russian Literature LI (2002), S. 421-442. Bei den betrachteten „späten Erzählungen“ handelt es sich um: Maj mesjac v Peterburge [Ein Monat Mai in Petersburg] (1891, Erstveröffentlichung 1892) und Ucha [Die Fischsuppe] (1891, Erstveröffentlichung 1923), durch die sich Gončarov als Mitbegründer der „Erzählung der Moderne in Rußland“ erweise (S. 440).
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Kusber, Jan: Koloniale Expansion und die Wahrnehmung „Asiens“ um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Beispiel Ivan A. Gončarov. In: Conermann, Stephan und Kusber, Jan (Hgg.), Studia Eurasiatica. Kieler Festschrift für Hermann Kulke zum 65. Geburtstag. Schenefeld: EB 2003 (= Asien und Afrika. Beiträge des Zentrums für Asiatische und Afrikanische Studien [ZAAS] der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. 10), S. 189-211. Die Ausführungen Kusbers, deren Fazit lautet: „Für Gončarov war Ostasien, waren China und Japan immer lediglich Kulisse und ihre Schilderung trug nur zur Selbstvergewisserung über seine europäischen Wurzeln bei“ (S. 208), basieren neben Fregat „Pallada“ auf Gončarovs von Ėngel’gardt 1935 herausgegebenen Reisebriefen und auf den 2000 in SPb publizierten Materialien und offiziellen Dokumenten der Expedition, wobei Kusbers Interesse insgesamt aber mehr dem Haupt- denn dem Untertitel seines Aufsatzes gilt. Obwohl Gončarov „populäre[] Stereotype“ befördert habe (S. 203), meint Kusber, daß Gončarovs „Reisebericht sicher auch zu einer ideologischen Fundierung der russischen Fernostpolitik der nächsten Dekaden“ beigetragen habe (S. 204).
Kuschtewskaja, Tatjana: Iwan Gontscharow (1812–1891). In: dies., Die Poesie der russischen Küche. Kulinarische Streifzüge durch die russische Literatur. Mit zahlreichen Rezepten und 24 Linolschnitten von Jana Kuschtewskaja unter Mitarbeit von Lilia Baischewa. Düsseldorf: Grupello 2003, S. 40-45. Es werden kurze Zitate aus Oblomov angeführt, in denen konkrete Speisen erwähnt werden. Darauf folgen Rezepte. Auf diese Weise erfährt der Leser, wie „Kwas“ (S. 40f.), „Kurnik“ (S. 42), „Kurnik für Festtage“ (S. 43), „Rastegaj“ (S. 43f.), „Rebhuhn auf russische Art“ (S. 44f.), „Gegarte Kalbszunge mit Meerrettich“ (S. 45) sowie „Wodka auf Johannisbeerblättern“ (S. 45) zubereitet werden.
Laage, Karl Ernst: Fontanes »Husumerei« und Gontscharows »Oblomowerei«. In: Fontane-Blätter (2000) 70, S. 161-165. Es geht Laage um „den charakterisierenden und karikierenden Effekt von Zusammensetzungen mit dem Suffix »ei«“ (S. 163), die sich durch die deutschen Übersetzungen des russischen Wortes „oblomoviščina“ durch Pietsch (1883) und Zabel (1885) als „Oblomowerei“ in Deutschland – und besonders im Werk Fontanes – verbreitet haben.
Lachmann, Renate: Diskurs: Einbruch des Phantasmas in den realistischen Text – Gončarovs ›Oblomovs Traum‹. In: dies., Erzählte Phantastik. Zu Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002 (= Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft. 1578), S. 270-294. Lachmann, Renate: Der Einbruch des Phantasmas in den realistischen Text – Gončarovs ‚Oblomovs Traum‘. In: Assmann, Aleida/Gaier, Ulrich/Trommsdorff, Gisela (Hgg.), Zwischen Literatur und Anthropologie. Diskurse, Medien, Performanzen. Tübingen: Gunter Narr 2005 (= Literatur und Anthropologie. 23), S. 117-137.
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Bei beiden Aufsätzen von Lachmann handelt es sich um (nahezu) identische Fassungen von Lachmann, Renate: Das Leben – ein Idyllentraum. Gončarovs „Son Oblomova“ als ambivalentes Phantasma. In: Compar(a)ison 2 (1993), S. 279-300.
Lappo-Danilevskij, Konstantin Ju.: I. A. Gončarovs „besonderes Interesse“ für Winckelmann. In: ders., Gefühl für das Schöne. Johann Joachim Winckelmanns Einfluss auf Literatur und ästhetisches Denken in Russland. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2007 (= Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte. NF A 57), S. 339-346. Lappo-Danilevskij bezieht sich auf Gončarovs autobiographische Aussagen sowie dessen weibliches Schönheitsideal, das er mit Ol’ga Il’inskaja und Sof’ja Belovodova – aus Sicht Oblomovs bzw. Rajskijs – in Oblomov bzw. Obryv umsetzt.
Merten, Sabine: Gončarovs „Oblomov“: Der Hypochonder als literarischer Held. In: dies., Die Entstehung des Realismus aus der Poetik der Medizin. Russische Literatur der 40er bis 60er Jahre des 19. Jahrhunderts. Wiesbaden: Harrassowitz 2003 (= Schriften zur Geistesgeschichte des östlichen Europa. 26), S. 275-302. Aus der thematischen Einführung zum Buch: „In Gončarovs Roman ‚Oblomov‘ stehen Hypochondrie und Hysterie im Vordergrund. Hier wendet sich die ‚Entdeckung der Innerlichkeit‘ gegen das Subjekt selbst“, denn der Held entziehe sich konsequent seiner Heilung. Er sei „zu nichts anderem fähig […] als zu seinem eigenen Scheitern“ (S. 10). Für eine slavistische Arbeit ist überraschend, daß nicht mit der kritischen Werkausgabe, sondern mit ‚irgendeiner‘ Oblomov-Ausgabe gearbeitet wird (Vil’njus 1954).
Meyer, Klaus: Gončarovs «Oblomovka»: eine geschlossene Hauswirtschaft? In: Guski, Andreas/Kośny, Witold (Hgg.), Sprache – Text – Geschichte. Festschrift für Klaus-Dieter Seemann. München: Otto Sagner 1997 (= Specimina philologiae Slavicae. Supplementband. 56), S. 201-209. Mierau, Fritz: «Oblomow» und die Oblomowerei. In: ders., Russische Dichter. Poesie und Person. Neunzehn Erkundungen. Dornach: Pforte 2003, S. 2128. Nemere, Maja: Erster Teil: Gončarov. In: dies., Verführerische Lektüren in der Prosa des russischen Realismus. Frankfurt am Main: Peter Lang 2011 (= Slavische Literaturen. Texte und Abhandlungen. 44), S. 21-94. Das Augenmerk der Autorin liegt auf der Obyknovennaja istorija sowie einem Vergleich dieser mit Flauberts Madame Bovary.
Neuhäuser, Rudolf: 4. Gontscharows Roman Die Schlucht und der russische Roman des Realismus. In: ders., Russische Literatur 1780–2011. Literarische
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Richtungen – Schriftsteller – kulturpolitisches Umfeld. 12 Essays. Wien/Köln/ Weimar: Böhlau 2013, S. 147-166. Es handelt sich um einen Wiederabdruck des Aufsatzes „Gončarovs Roman Obryv und der russische Roman des Realismus“ aus: Thiergen, Peter (Hg.), I. A. Gončarov. Beiträge zu Werk und Wirkung. Köln/Wien: Böhlau 1989, S. 85-106.
Oei, Bernd: IV. 5. Gontscharow. In: ders., Tolstoi. Seelenfänger – ein unkonventioneller Revolutionär. Berlin: LIT 2013, S. 230-236. Die Gontscharow-Unterkapitel lauten: IV. 5. 1. Thematischer Vergleich: das Problem der Ehe und IV. 5. 2. Die russische Frage: Rückständigkeit und Utopie. Das erste Kapitel bezieht sich auf die Obyknovennaja istorija, das zweite auf diesen Roman und in geringerem Umfang auf Oblomov.
Oei, Bernd: V. 3. Iwan Gontscharow. In: ders., Seelenfeuer. Dostojewskis Ausnahmemenschen. Bremen: EHV Academicpress 2015, S. 284-293. Die Gontscharow-Unterkapitel, in denen ein Vergleich zu Dostoevskij hergestellt wird, um dessen Einzigartigkeit zeigen zu können (S. 5), lauten: V. 3. 1. Persönliches; V. 3. 2. Oblomow und der überflüssige Mensch; V. 3. 3. Humanismus und Christentum; V. 3. 4. Struktur der Dyade. Beide Autoren verbinde „die Sehnsucht nach vollkommener Schönheit“ (S. 6).
Polo, Alba: Der grobschlächtige Tarantjew. Eine Zumutung für den Leser von Iwan Gontscharows Roman Oblomow. In: Kreuzer, Tillmann F./Weber, Kathrin (Hgg.), Invidia – Eifersucht und Neid in Kultur und Literatur. Gießen: Psychosozial-Verlag 2011 (= Imago), S. 115-146. Rohse, Heide: Die unsichtbaren Tränen. Psychoanalytische Gedanken zu Iwan A. Gontscharows Oblomow. In: dies., Unsichtbare Tränen. Effi Briest – Oblomow – Anton Reiser – Passion Christi. Psychoanalytische Literaturinterpretationen zu Theodor Fontane, Iwan A. Gontscharow, Karl Philipp Moritz und Neuem Testament. Würzburg: Königshausen und Neumann 2000, S. 33-69. Die Autorin erstellt für Oblomov die Diagnose ‚Depression‘, ohne dabei Oblomovs Verhalten zu verurteilen.
Schmid, Ulrich: Glanz und Elend des Kapitalismus. I. A. Gončarovs Inspektion der Weltwirtschaft. In: Weitlaner, Wolfgang (Hg.), Kultur. Sprache. Ökonomie. Beiträge zur gleichnamigen Tagung an der Wirtschaftsuniversität Wien 3.–5. Dezember 1999 (= Wiener Slawistischer Almanach. Sonderband 54 [2001]), S. 85-99. Schmids Ausführungen basieren v. a. auf Beobachtungen hinsichtlich Fregat „Pallada“ und in geringerem Umfang Obryv.
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Schümann, Daniel: Markenzeichen Oblomov. Zum ‚Marktwert‘ eines russischen Romans. In: Thiergen, Peter (Hg.), Scholae et symposium. Festschrift für Hans Rothe zum 75. Geburtstag. Köln/ Weimar/Wien: Böhlau 2003 (= Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte. NF A 44), S. 159-181). Thiergen, Peter: „Weite russische Seele“ oder „Geographie des Winkels?“. Vorstellungen von Weite und Enge in Gončarovs Oblomov. In: ders. (Hg.), Scholae et symposium. Festschrift für Hans Rothe zum 75. Geburtstag. Köln/ Weimar/Wien: Böhlau 2003 (= Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte. NF A 44), S. 205-226. Thiergen, Peter: Deutsche und Halbdeutsche bei Ivan Gončarov. Eine Skizze. In: Herrmann, Dagmar (Hg.), Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht. 19./20. Jahrhundert: Von den Reformen Alexanders II. bis zum Ersten Weltkrieg, München: Fink 2006 (= West-östliche Spiegelungen. B 4), S. 350-365. Thiergen, Peter (Hg.): Russische Begriffsgeschichte der Neuzeit. Beiträge zu einem Forschungsdesiderat. Köln/Weimar/Wien 2006 (= Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte. NF A 50). Der Band enthält mehrere (auch hier nicht aufgeführte russischsprachige) Beiträge, die ausführlicher auf Gončarov Bezug nehmen: Böhmig, Michaela: Von „istina“ zu „chudožestvennaja pravda“. Ein Wandel im russischen ästhetischen Denken des 19. Jahrhunderts, S. 23-50. Engel-Braunschmidt, Annelore: Russkaja len’: Über die axiologische Unbestimmtheit der Faulheit in der russischen Literatur, S. 81-104. Schultze, Brigitte: Furor legendi und Verabschiedung von oblomovščina in der russischen Prosa der 1970er–1990er Jahre, S. 395-410.
Thiergen, Peter: Literarische Arkadienbilder im Rußland des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Heinecke, Berthold/Blanke, Harald (Hgg.), Arkadien und Europa. Beiträge zur Tagung in Hundisburg vom 27. bis 29. April 2007. Hundisburg: KULTUR-Landschaft Haldensleben-Hundisburg e. V. 2007, S. 169-193. In Thiergens Ausführungen wird „der Traum Oblomows [als] eine Art Fortsetzung der Gogol’schen Arkadiendestruktion“ (S. 183) vorgestellt.
Thiergen, Peter: Aufrechter Gang und liegendes Sein. Zu einem deutsch-russischen Kontrastbild. Vorgetragen in der Gesamtsitzung vom 24. Oktober 2008. München 2010 (= Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophischhistorische Klasse. Sitzungsberichte 2010 [3]).
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Thiergen, Peter: ‚Moderne Themen‘ im „alten Oblomov“. In: Time, Galina (Hg.): Musenalmanach. V čest’ 80-letija Rostislava Jur’eviča Danilevskogo. Sankt-Peterburg: Nestor-Istorija 2013, S. 425-439. Die Modernität Gončarovs im Oblomov wird darin gesehen, „dass er Philosophie und Soziologie verbindet (was wiederum Psychologie, Erziehungs- und Rechtsfragen, Wirtschaftsaspekte, Imagologie etc. einschließt)“ (S. 439).
Urban, Peter: Schock Schwere Not. Ein früher Ivan Gončarov. In: ders., Genauigkeit und Kürze. Ansichten zur russischen Literatur. Zürich: Diogenes 2006, S. 120-126. Es handelt sich um einen Wiederabdruck von Urban, Peter: Nachwort. In: Gončarov, Ivan: Die Schwere Not. Eine Erzählung aus Sankt Petersburg im Jahre 1838. Berlin: Friedenauer Presse 1991 (bis 52013), S. 89-95.
Winkel, Heike: Vom Stillstand der Imagination zur Spur der Schrift. Ivan Gončarovs „Fregat ‚Pallada‘“ und der Beginn einer realistischen Poetik der Post. In: Die Welt der Slaven LII (2007), S. 170-189.
Namensindex Abramovskaja, Irina S. 84 Abulafia, David 36 Adorno, Theodor W. 18f., 33, 42 Ágh, István 9, 201, 210-216 Aischylos 23 Ajchenval’d, Julij I. 46f., 74, 76 Aldanov, Mark A. 152 Aleksandr (Alexander) II. 28 Alekseev, Anatolij D. 24 Alt, Peter-André 42 Amelia, Antonella d’ 66 Anakreon 55 Andreae, Bernard 18f. Arnold, Heinz Ludwig 236 Artykov, Kamariddin 190 Äsop (Ėsop) 22, 23 Assmann, Aleida 238 Baak, Joost van 42 Baer, Joachim T. 140 Bachtin, Michail M. 47f., 64, 72f., 113, 126, 129, 131 Bächtold, Rudolf 22 Baischewa, Julia 238 Balajka, Bohuš 118 Balzac, Honoré de 47, 122, 126 Bär, Jochen A. 165 Baranovskaja, Inna Ė. 52, 77, 78 Baratynskij, Evgenij A. 87 Batjuškov, Konstantin N. 38 Baudelaire, Charles 41 Baum, Ute 170 Beitz, Evelyn 171 Beland, Hermann 234 Belinskij, Vissarion G. 15, 16, 52, 113, 115
Bellebaum, Alfred 42 Berghahn, Cord-Friedrich 235 Beumers (Bojmers), Birgit 186 Bidermann, Iogann 186, 191 Bieler, Manfred 233 Bieri, Peter 148 Bischitzky, Vera 42, 61, 65, 92, 108, 162f., 228, 231 Blanke, Harald 14, 51, 241 Blot, Jean 107 Blümlová, Dagmar 117 Bogaev, Oleg A. 187 Böhmig (Bemig), Michaela 8, 26, 45-88, 241 Bojakov, Ėduard V. 184 Bolotjan, Il’mira M. 186 Booth, Wayne 199 Borzenkova, Natal’ja V. 143f., 149 Braudel, Fernand 36 Brauner, Clara 61 Breuninger, Renate 232 Brodskaja, Valentina B. 172 Brommer, Frank 42 Büchner, Georg 45 Bulgakov, Michail A. 40 Bunin, Ivan A. 28 Bursov, Boris I. 127, 130 Byron, George Gordon 61 Cancik, Hubert 44 Carl August, Herzog von Sachsen-Weimar 11 Cejtlin, Aleksandr G. 42 Chatwin, Bruce Cheraskov, Michail M. 20, 23, 28, 56 Cholkin, Vladimir I. 189
244 Chomjakov, Aleksej St. 13 Chrysos, Evangelos 37 Conermann, Stephan 238 Cook, James 29 Čaadaev, Petr Ja. 16 Čapek, Karel 137 Čechov, Anton P. 16, 94, 105 Černý, Václav 116, 131 Černyševskij, Nikolaj G. 90 Dällenbach, Lucien 42 Dahlmann, Dittmar 42 Danilevskij, Rostislav Ju. 26 Dante Alighieri 41, 122 Decher, Friedhelm 42 Del’vig, Anton A. 56 Delille, Jacques 53 Demichovskaja, Elena K. 7, 162f. Demichovskaja, Ol’ga A. 7, 162f., 167f., 173 Denisenko, Sergej V. 104, 189 Deržavin, Gavrila R. 23, 56 Descartes, René 139 Deshoulières, Antoinette 56-58, 60 Deulin (Delen), Charles (Š.) 162, 163 Diderot, Denis 20 Diment, Galya 90, 109, 110 Dischner, Gisela 234 Dmitriev, Ivan I. 23 Dobroljubov, Nikolaj A. 45f., 55f., 113, 114, 183 Doehlemann, Martin 40, 42 Dohnal, Josef 118 Dostoevskij, Fedor M. 8, 16, 17, 28, 113, 117f., 122, 126-136, 240 Dubenjuk, Nadežda V. 42 Dürrschmidt, Jörg 42 Dyk, Viktor 9
Indizes Ebenstein, B. 47 Efremov, Oleg N. 184 Egunov, Andrej N. 25, 28 Ehre, Milton 24, 71 Eisner, Margarete 235 Elfrath, Ruth 235 Engel-Braunschmidt, Annelore 241 Ėngel’gardt, Boris M. 27, 30, 60, 132 Epikur 39 Falu, Tamás 9, 201, 205-210 Fehér, Katalin 219 Fénelon, François 20 Fet, Afanasij A. 17, 90 Fischer, Ernst Peter 98 Flaubert, Gustave 41, 47, 117, 239 Flaxman, John 78 Fontane, Theodor 238 Fonvizin, Denis I. 56 Fox, Robin L. 19 Franz, Norbert 236 Frick, Jürg 235 Friedrich, Lars 236 Fritze-Hanschmann, Ruth 172 Frühsorge, Gotthardt 235 Fuest, Leonhard 104, 107, 141, 149, 236 Fuhrmann, Manfred 42 Futschek, Christoph 42 Gaier, Ulrich 238 Ganzen (Hansen), Petr G. (Peter E.) 64, 76, 163 Gard, R. Martin du 135 Gardt, Andreas 165, 178, 180 Gaži, Martin 8, 10, 113-137 Gejro, Ljudmila S. 35, 121 Genthe, Friedrich W. 171 Gerigk, Horst-Jürgen 196
Indizes Gessner (Gesner), Salomon 52-54, 56-58, 60f., 64, 75, 77 Geulen, Eva 236 Giesemann, Gerhard 96, 237 Givens, John 109 Gleason, Curtis A. 139 Glinka, Fedor N. 23, 54 Gnedič, Nikolaj I. 28, 42, 54f., 57, 78 Goethe (Gete), Johann Wolfgang von 11, 17, 24, 61, 77, 81, 122 Gogh, Vincent van 102 Gogol’, Nikolaj V. 13, 16, 17, 21, 28, 31, 38, 41, 42, 51, 67, 187, 241 Goldschweer, Ulrike 236 Gollwitzer, Peter Max 152 Gor’kij, Maksim 16, 135, 186 Goya, Francisco de 40 Graf, Alexander 9, 183-199, 236 Grashof, Karl 13 Gremina, Elena A. 184 Grigor’jan, Kamsar N. 54 Griškovec, Evgenij V. 186 Gründer, Karlfried 103 Grüning, Uwe 233 Gundermann, Max 233 Günther, Hans 236 Guski, Andreas 239 Gutschmidt, Karl 180, 236 Haarmann, Harald 178 Hahn, Josef 101, 108, 198, 232 Hall (Gall), Basil 57, 60 Hampel, Andrea 139, 147 Hansen Löve, Katharina 49f., 66, 71, 82 Hansen-Löve, Aage A. 236 Hanuš, Jiří 8 Hart Nibbrig, Christiaan L. 42 Haß-Zumkehr, Ulrike 180 Hebel, Johann Peter 54
245 Heckhausen, Heinz 152 Hegel, Georg W. F. 14, 17, 37, 81 Heier, Edmund 26, 236 Heinecke, Berthold 14, 51, 241 Held, Susanne 19 Hennequin, Émile 128 Henning, Frank 233 Herbenová, Bronislava 116 Herlth, Jens 25, 82, 237 Hermanis, Alvis 90, 109 Herrmann, Dagmar 164, 241 Herwegh, Georg 14 Herzen (Gercen), Aleksandr I. 16, 56, 83, 87, 118 Hesiod 52 Hesse, Hermann 40, 122 Hillmann, Heinz 16 Hodel, Robert 16, 237 Hoffmann, Ernst T. A. 122 Hofman, Ladislav K. 117 Hölderlin, Friedrich 20 Homer (Gomer) 12-15, 18-21, 24-38, 40f., 42, 55, 58, 62f., 78 Honzík, Jiří 117f. Horák, Jiří 131 Horaz 16, 21, 23, 32 Horden, Peregrine 37 Horkheimer, Max 18f., 33 Horsky, B. 89 Hübner, Gert 38 Hühn, Peter 16 Hultsch, Anne 7-10, 42, 96, 137, 159182, 226-242 Humboldt, Alexander von 29 Humboldt, Wilhelm von 64f. Hume, David 139 Huwyler-Van der Haegen, Annette 49, 67, 227
246 Jacobsen, Jens P. 117 Jaeger, Werner 38 Januškevič, Aleksandr S. 11, 13, 28, 42f. Jarcho, Viktor N. 28 Jasnov, Michail D. 107 Jazykov, Michail A. 58, 60 Jazykova, Ekaterina A. 58, 60 Jedig, Angelina 42 Jekutsch, Ulrike 180 Jirásek, Josef 117 Juvenal 16 Kaczmarski, Jacek 98f. Kahl, Alexander 192 Kalinina, Natal’ja V. 183 Kamenev, Gavriil P. 56 Kandel, Eric 157 Kane, Robert 139 Kant, Immanuel 14f., 37, 39, 41 Kantemir, Antioch D. 15, 16 Kantor, Vladimir K. 42, 50, 76 Kanunova, Faina Z. 42 Karamzin, Nikolaj M. 56, 177 Károly, Gadányi 92 Karpeeva, Tat’jana A. 191 Katscher, Leopold 144 Kautman, František 129, 133, 134 Kazancev, Aleksej N. 184 Kempgen, Sebastian 180 Kinzler, Sonja 43 Klavdiev, Jurij M. 186 Kleespies, Ingrid 43 Klein, Joachim 26, 46, 51, 80f. Klewer, Karl A. 41 Klotz, Volker 237 Knebel, Karl Ludwig von 24 Knjažnin, Jakov I. 56 Koch, Manfred 43
Indizes Koerbl, Jörg Michael 232f. Koerrenz, Ralf 43 Koljada, Nikolaj V. 187 Kolodkina, Aleksandra Ja. 165f. Koni, Anatolij F. 232 Korolenko, Vladimir G. 93 Koschmal, Walter 93, 237 Kośny, Witold 239 Kostenko, Konstantin St. 187 Koval’skaja, Elena G. 184 Kovtyk, Bogdan 171 Krall, Hanna Krasnobaev, Boris I. 27 Krasnoščekova, Elena A. 18, 24, 30, 39, 43, 50f., 69, 80, 85, 110 Kreuzer, Tillmann F. 240 Kroetz, Franz Xaver 104, 233 Kropotkin, Petr A. 46f. Krylov, Ivan A. 22 Kudrinskij, Fedot A. 165 Kukueva, Anna I. 52 Kulke, Hermann Kuročkin, Maksim A. 186 Kusber, Jan 230, 238 Kuschtewskaja, Jana 238 Kuschtewskaja, Tatjana 229, 238 Kuße, Holger 180 Kuz’mičev, Ivan K. 49 L’chovskij, Ivan I. 7, 29, 38 Laage, Karl Ernst 238 Lachmann, Renate 48, 238 La Fontaine, Jean de 23 Lamartine, Alphonse de 81 Lappo-Danilevskij, Konstantin Ju. 26f., 239 Latacz, Joachim 35, 43 Lebedeva, Ol’ga B. 42f. Lemke, Michail K. 162, 174
Indizes Lengyel, Valéria 205, 210, 216 Lenin, Vladimir I. 17, 95 Lermontov, Michail Ju. 122 Leskov, Nikolaj S. 163 Levanov, Vadim N. 187 Levšin, Vasilij A. 56 Lewin, Bertram D. 43 Libet, Benjamin 139, 147, 152 Lichačev, Dmitrij S. 68 Lipoveckij (Lipovetsky), Mark N. 186f. Ljackij, Evgenij A. 116, 131 Ljapuškina, Ekaterina I. 26, 49, 82 Lobkareva, Antonina V. 50, 142 Locke, John 139, 141f., 146 Lohff, Ulrich M. 43, 49, 71 Lomonosov, Michail V. 177 Loščic, Jurij M. 50 Lotman, Jurij M. 67 Luther, Andreas 43 Lütkehaus, Ludger 145f. Majkov, Apollon N. 7 Majkov, Nikolaj A. 30, 52, 60, 65, 81 Majkova, Ekaterina P. 7 Majkova, Ekaterina V. 7 Majkova, Evgenija P. 30, 52, 60, 81 Malkin, Irad 19 Malygina, Tat’jana A. 142f. Mann, Thomas 135 Manthey, Jürgen 43 Márai, Sándor (Marai, Alexander) 43 Markovič, Vladimir M. 49 Martin, Christoph 233 Maslov, Boris P. 43 Matvienko, Kristina 184 Mazon, André 24 , 172 Mej, Lev A. 55 Mejlach, Boris S. 177
247 Mel’nik, Vladimir I. 26f., 49, 87, 164, 176 Menander 24 Merežkovskij, Dmitrij S. 25, 46, 115, 119f., 125 Merten, Sabine 239 Merzljakov, Aleksej F. 58 Meyer, Klaus 239 Meyrink, Gustav 122 Mierau, Fritz 95, 239 Michajlov, Aleksandr V. 43 Michalkov, Nikita S. 94, 97, 106f., 107f., 189f. Milton, John 139 Mirsky, Dmitry S. 142, 151 Mittelstraß, Jürgen 41 Möllendorff, Peter von 43 Molnár, Angelika 9, 10, 201-226 Moser, Charles A. 118 Mravcová, Marie 118 Mrštík, Vilém 114, 116f. Muchina, Ol’ga 186 Müller-Kamp, Erich 29, 31, 228, 231 Müller, Jan-Dirk 40 Muratov, Askol’d B. 30 Murav’ev, Michail N. 56 Nabokov, Vladimir D. 41, 93 Naryškina, Elizaveta A. 166-168, 179, 181 Nedzveckij, Valentin A. 103 Nekrasov, Nikolaj A. 52, 90 Nemere, Maja 239 Neuhäuser, Rudolf 101, 108, 239f. Nicosia, Salvatore 43 Nietzsche, Friedrich Nikitenko, Ekaterina A. 7, 38, 76, 84 Nikitenko, Sof’ja A. 7, 33, 38, 76, 84, 87f., 162 Nikitina, Nina I. 52
Indizes
248 Nizon, Paul 102, 233 Nothmann, Karl-Heinz 43 Novák, Arne 113, 117 Novák, Jan Václav 117
Prozorov, Jurij M. 183 Purcell, Nicholas 37 Puškin, Aleksandr S. 16, 41, 46, 115, 173 Pyrkov, Ivan V. 25
Oei, Bernd 240 Ornatskaja, Tamara I. 30 Oskolkova, Tat’jana K. 184 Ostrovskij, Aleksandr N. 70 Otradin, Michail V. 49, 103f. Ovsjaniko-Kulikovskij, Dmitrij N. 188f. Ozmidov, Nikolaj L. 131
Quis, Ladislav 117
Pallas, Peter S. 38 Panaev, Ivan I. 52, 56 Panaev, Vladimir I. 52-55, 56, 58, 63f., 70, 75, 88 Parolek, Radegast 117f., 126 Pauen, Michael 148 Paul, Jean 81 Pearl, Dennis K. 139 Pelcl, Josef 113, 114 Pereverzev, Valerian F. 74 Peter der Große (Petr I.) 15 Petőcz, András 9, 201, 216-226 Petőfi, Sándor 201-204 Petras, Beate 166, 168f., 171, 231 Pietsch, Ludwig 238 Piksanov, Nikolaj K. 165 Pisemskij, Aleksej F. 7, 17 Platon 132 Poe, Edgar Allan 41 Pörzgen, Yvonne 8, 139-157 Polo, Alba 229, 240 Pope, Alexander 13 Presnjakov, Oleg P. 186f. Presnjakov, Vladimir P. 186f. Prochorova, Tat’jana G. 187 Propp, Vladimir Ja. 78
Rabelais, François 78 Radiščev, Aleksandr N. 20, 40, 66 Rammelmeyer, Alfred Rattner, Josef 95, 198 Rebecchini, Damiano 43 Rebel’, Galina M. 195 Reheis, Fritz 98 Rehm, Walther 43, 118, 198 Rehmann, Jan 43 Reid, Thomas 141 Remané, Martin 202f. Remizov, Nikolaj A. 180 Remorova, Nina B. 42 Rengakos, Antonios 43 Rešetnikov, Sergej M. 187 Rhoby, Andreas 40 Rieger, Michael 44 Richter, Dieter 36 Ritter, Joachim 103 Röder, Gerda 44 Roelcke, Thorsten 180 Rohse, Heide 240 Rolland, Romain 135 Romains, Jules 135 Romanov, Konstantin N. 28, 29, 174f. Romanova, Marija A. 114 Rosenbaum, Maurice W. 168 Roščin, Michail M. 184 Roth, Gerhard 8, 140, 146, 148, 151, 152, 155-157 Rothe, Hans 9, 11, 25, 26f., 28, 41, 44, 48, 79, 96, 237
Indizes Rousseau, Jean-Jacques 61, 98 Rücker, Günther 233 Rüdiger, Horst 44 Rumi, Jalallu’din 139 Ruskin, John 132 Rybasov, Aleksandr P. 25-27 Saint Lambert, Jean-François de 53 Saltykov-Ščedrin, M. E. 17, 90, 114, 118 Scandura, Claudia 66 Schaefer, Barbara 232 Schiemann, Gregor 232 Schiffer, Elisabeth 40 Schiller (Šiller), Friedrich 14, 30, 38, 61, 77f., 81, 129, 164 Schings, Hans-Jürgen 44 Schippan, Michael 44 Schlick, Moritz 139 Schmid, Ulrich 99, 104, 240 Schmidt, Jochen 41, 44 Scholz, August 154, 175, 228 Schöner, Petra 38 Schopenhauer, Arthur 8, 17, 139-141, 145f., 147, 148, 151-153, 155-157 Schrader, Daniel 90 Schröder, Jürgen 147 Schroeder, Sebastian C. 233 Schubbe, Daniel 146 Schultze, Brigitte 241 Schulz, Raimund 36 Schümann, Daniel 8, 44, 89-111, 188, 227 , 228, 232f., 241 Searle, John R. 8, 140, 146-148, 157 Seel, Martin 44 Seidel, Heinrich 37 Seidel, Ina 37 Selbmann, Rolf 18 Seneca, Lucius Annaeus 11, 16
249 Setchkarev (Setschkareff), Vsevolod 24, 44, 48, 140, 152, 193 Sezima, Karel 117 Shakespeare, William 41, 127 Siegel, Holger 44, 153 Sieroszewski, Wacław Sigarev, Vasilij Vl. 187 Sinclair, William 132 Singleton, Amy C. 27, 48 Skabičevskij, Aleksandr M. 114 Skljarevskaja, Galina N. 44 Sloterdijk, Peter 19 Smirnova, Irina V. 50, 142 Sobol, Valeria 172f. Sova, Antonín 9 Spitzweg, Carl 37 Stal’bovskaja, Marija A. 190 Stanford, William B. 44 Starosel’skaja, Natal’ja D. 168 Stasjulevič, Michail M. 121, 162, 174 Stauf, Renate 235 Steiner, Lina 18 Steltner, Ulrich 183 Stender-Petersen, Adolf 118 Stendhal (Beyle, Marie-Henri) 47 Stepanov, Vladimir P. 23 Stesichorus 52 Stierle, Karlheinz 44 Stifter, Adalbert 236 Strada, Vittorio 50 Strachov, Nikolaj N. 126 Sukajlo, Vjačeslav A. 52 Sumarokov, Aleksandr P. 52 Suškov, Nikolaj V. 74 Szepes, Erika Szlezák, Thomas A. 44
Indizes
250 Šachmatova, Tat’jana S. 186, 191 Šalda, František X. 116, 129 Ščukin, Vasilij G. 48, 50, 74, 82 Ševčenko, Elena N. 186f., 191 Ševyrev, Stepan P. 177 Šiškov, Aleksandr S. 56, 177f. Šklovskij, Viktor B. 115f. Tabakov, Oleg P. 189 Taine, Hippolyte 8, 140f., 144f., 156f. Tank, Kurt L. 233 Tarján, Tamás 213 Tarkovskaja, Lana R. 23 Tarkovskij, Rostislav B. 23 Terjaev, Pavel A. 54 Tesková, Anna 131 Theokrit (Feokrit) 52-61, 64 Thiergen (Tirgen), Peter 8, 9, 10, 11-44, 46, 49, 51, 77, 82, 84, 88, 91, 98, 100, 103, 140, 153, 164, 183, 193, 196, 198, 227f., 230, 232, 236, 241f. Thomas von Aquin 141 Thurnherr, Urs 103 Tichonovec, Tat’jana N. 191 Time, Galina A. 140, 242 Timkovskij, Il’ja F. 56 Timpe, Dieter 36 Tjutčev, Fedor I. 13 Tolstaja, Elizaveta V. 231 Tolstaja, Aleksandra A. 163 Tolstaja, Sof’ja A. 165f., 179 Tolstoj, Lev N. 16, 17, 28, 113, 118, 190 Tombrägel, Martin 23, 44 Torlonem Zara M. 44 Trediakovskij, Vasilij K. 20, 28, 40 Tregubov, Nikolaj N. 29 Trimberg, Hugo von 70 Trommsdorff, Gisela 238 Tukalevskij, Vladimir 131
Turgenev, Aleksandr I. 56 Turgenev, Ivan S. 16, 17, 92, 113, 115, 117f. Turgenev, Nikolaj I. 56 Tynjanov, Jurij N. 220 Udolph, Ludger 177, 180 Ugarov, Michail Ju. 9, 183-185, 188, 190199 Urban, Peter 231, 242 Uvarov, Sergej S. 14, 15, 28 Vacuro, Vadim E. 54, 55 Valuev, Petr A. 41, 168 Varnhagen von Ense, Karl August 13 Vasy, Géza 212 Vávra, Emanuel 116 Verdeevskaja, Natal’ja A. 116, 136 Vergilij (Vergil) 44 Větrinskij, Č. (Češichin-Vetrinskij, Vasilij Je.) 131 Vinickij, Il’ja Ju. 13, 27, 28 Vergil (Virgil) 53 Voehlerm Martin 44 Voß, Johann Heinrich 13, 54 Vossius, Gerhard Johannes 38 Vostokov, Aleksandr Ch. 56 Vrangel, Aleksandr E. 126 Vyrypaev, Ivan A. 186 Wagner, Bernd 232f. Wagner, Thomas 43 Walter, Reinhold v. 149 Watteau, Jean-Antoine 58 Weber, Annemarie 37 Weber, Kathrin 240 Weber, Mathias 153 Weinert, Franz Emanuel 152 Weiß, Heinz 234
Indizes Weitlaner, Wolfgang 236, 240 Werbowski, Tecia 232 Wetters, Kirk 236 Wiegandt, Klaus 98 Wieland, Christoph Martin 17 Winckelmann, Johann Joachim 17, 2527, 30, 35 Winkel, Heike 242 Witt, Claus Peter 233 Wolf, Horst 160 Wright, Elwood W. 139 Wuttke, Dieter 38
251 Zabel, Eugen 238 Zadražil, Ladislav 118 Zadražilová, Miluše 118 Zagorskij, Michail P. 54 Zelinsky, Bodo 24, 25, 79, 82, 237 Zimmermann, Bernhard 43 Zweig, Arnold Ždanova, Margarita B. 10, 25, 50, 142f. Žukovskij, Vasilij A. 12-15, 20, 27, 28, 29, 31, 34, 41, 42, 54, 56 Žurčeva, Ol’ga V. 187
Werkindex Avtobiografija 1 [Autobiographie 1] 77 Dva slučaja iz morskoj žizni [Zwei Ereignisse aus dem Seemannsleben] 171 Fregat „Pallada“ [Fregatte „Pallas“] 9, 26f., 29-31, 39, 57-60, 62f., 69, 73, 93, 104, 121, 159162, 170, 178, 180f., 229, 231, 236, 238, 240, 242 Korrespondenz 7, 9, 30, 33, 38, 39, 41, 58, 60, 64, 65, 76, 81, 84, 87f., 121, 137, 162f., 165-168, 174, 175, 179-181, 229, 231f., 238 Kurzprosa (allgemein) 93, 229 Lichaja bolest’ [Eine bösartige Krankheit bzw. Die Schwere Not] 173, 242 Literaturnyj večer [Literarischer Abend] 168-170, 179-181 Lušče pozdno, čem nikogda [Lieber spät als nie] 73f., 228 Maj mesjac v Peterburge [Ein Monat Mai in Petersburg] 170, 237 Namerenija, zadači i idei romana „Obryv“ [Absichten, Aufgaben und Ideen des Romans „Die Schlucht“] 114, 120f., 125 Na rodine [In der Heimat] 166, 171, 172, 181 Narušenie voli [Mißachtung des Willens] 228, 232 Neobyknovennaja istorija [Eine ungewöhnliche Geschichte] 9, 159, 162, 164, 166, 181 Nymphodora Ivanovna 231 Oblomov 8, 9, 10, 11-13, 15-27, 29-37, 39-41, 45-51, 56, 60, 61, 63-111, 113-125, 134-137, 140-143, 149-153, 155-157, 162, 172-174, 181-183, 188-191, 193, 194f., 196, 198f., 201210, 212-216, 218-226, 228f., 231-242 Obryv [Die Schlucht] 8, 61-63, 70, 99, 104, 113f., 116-126, 128, 130, 134-137, 140f., 143, 153157, 174-176, 181, 239f. Obyknovennaja istorija [Eine alltägliche Geschichte] 8, 12, 23f., 47, 52, 56f., 104, 113, 116, 117, 119-124, 135-137, 143, 172f., 180f., 236, 239f. Otryvok. Iz pis’ma k drugu [Fragment. Aus einem Brief an einen Freund] 230 Pis’ma stoličnogo druga k provincial’nomu ženichu [Briefe eines hauptstädtischen Freundes an einen Provinzbräutigam] 171 Pour i contre [Pour und contre] 231 Predislovie k romanu „Obryv“ [Vorwort zu dem Roman „Die Schlucht“] 114 Publizistik (allgemein) 104, 229 Roždestvenskaja elka [Der Weihnachtsbaum] 231 Slugi starogo veka [Diener der alten Zeit] 169, 181 Sčastlivaja ošibka [Ein glücklicher Irrtum] 171 Ucha [Die Fischsuppe] 237
Autorenverzeichnis Michaela Böhmig, Ordentlicher Professor für russische Sprache und Literatur, Università degli studi di Napoli «L'Orientale» Von „istina“ zu „chudožestvennaja pravda“. Ein Wandel im russischen ästhetischen Denken des 19. Jahrhunderts. In: Thiergen, Peter/Munk, Martina (Hgg.), Russische Begriffsgeschichte der Neuzeit. Beiträge zu einem Forschungsdesiderat. Köln/Weimar/Wien 2006, S. 23-49); Il naso e la nasologia russa in prospettiva europea. In: Ronchetti, Barbara (Hg.), Una bianca corteccia che si sfoglia. Incontri con la cultura russa. Roma 2013, S. 117-159; Raj i ad, limony i Vezuvij: neapolitanski mif v russkoj poėzii na rubeže XIX–XX vekov. In: Talalaj, Michail G./Milano, Andrea/Tokareva, Evgenija S. (Hgg.), Rossija–Italija. Kul’turnye u religioznye svjazi v XVIII–XX vekach. Peterburg 2014, S. 104-139.
Mgr. Martin Gaži, Národní památkový ústav – územní odborné pracoviště v Českých Budějovicích Mitautor von: Rožmberkové. Rod českyých velmožů a jeho cesta dějinami. České Budějovice 2011; Svatyně za hradbami měst. Křížová hora u Českého Krumlova v jihočeských a středoevropských souvislostech. České Budějovice 2012; Opat Bylanský a obrazy zlatokorunské školy. Osvícenství zdola v okrsku světa. České Budějovice 2013.
Prof. Dr. phil. Alexander Graf, Institut für Slavistik, Justus-Liebig-Universität Gießen V poiskach novoj vyrazitel’nosti. O tvorčestve Germana Lukomnikova. In: Učenye zapiski Kazanskogo gosudarstvennogo universiteta. Serija Gumanitarnye nauki (2011) 153.2, S. 7585; Pečorin soblaznennyj. In: Savinkov, Sergej V./Isupov, Konstantin G. (Hgg.), M. Ju. Lermontov: Pro et Contra. Antologija. Bd. 2. SPb 2014, S. 499-510; Koncept „Svoboda“ v sovremennoj russkoj poėzii. In: Acta Universitatis Lodziensis. Folia Litteraria Rossica (2014) 7, S. 193-200.
PD Dr. phil. Anne Hultsch, Institut für Slavistik, Technische Universität Dresden Ein Russe in der Tschechoslowakei. Leben und Werk des Publizisten Valerij S. Vilinskij (1901–1955). Köln/Weimar/Wien 2011; Jan Maria Oblomov. Zur Intertextualität von Julius Zeyers „Jan Maria Plojhar“ und Ivan Gončarovs „Oblomov“. In: Zeitschrift für Slawistik 49 (2004) 2, S. 127-139; Kafka-Rezeption in der ČSR zwischen 1920 und 1957. In: Höhne, Steffen/ Udolph, Ludger (Hgg.), Franz Kafka. Wirkung und Wirkungsverhinderung. Köln/Weimar/Wien 2014, S. 13-60.
256
Autorenverzeichnis
dr. habil. Angelika Molnár, Lehrstuhl für russische Sprache und Literatur, Westungarische Universität Szombathely Poėtika romanov I. A. Gončarova. M. 2004; Goncsarov hármaskönyve. Budapest 2012; Poėzija prozy v tvorčestve Gončarova. Ul’janovsk 2012.
Dr. phil. Yvonne Pörzgen, Integrierte Europastudien, Fachbereich 08/Sozialwissenschaften, Universität Bremen Schwerpunkt: Psychedelik und slavische Literaturen. “To get high”. Topoi der slavischen Psychedelik (mit Tomáš Glánc) und Die Illusion der Wirklichkeit. Andrzej Stasiuks Grenzauslotungen. In: Die Welt der Slaven (2011) 2, S. 217-220 bzw. S. 297-308; Janusz Głowackis Amerika. Destruktion eines Mythos. In: Henseler, Daniel/Makarska, Renata (Hgg.), Polnische Literatur in Bewegung. Die Exilwelle der 1980er Jahre. Bielefeld 2013, S. 289-298; Themenwandel: Schlesien als Topos der deutschsprachigen Literatur. In: Germanoslavica 1 (2015), S. 29-47.
PD Dr. phil. Daniel Schümann, Neuphilologisches Institut, Universität Würzburg; Institut für Slavistik, Universität Bamberg; FHWS i-Campus, Hochschule Würzburg-Schweinfurt Oblomov-Fiktionen. Zur produktiven Rezeption von I. A. Gončarovs Roman ‚Oblomov‘ im deutschsprachigen Raum. Würzburg 2005; Kampf ums Da(bei)sein. Darwin-Diskurse und die polnische Literatur bis 1900. Köln/Weimar/Wien 2015; Raskol’nikov’s Conversion: From Hearing to Listening. In: Ulbandus 16 (2014), S. 6-23.
Prof. Dr. phil. Peter Thiergen, zuletzt Institut für Slavistik, Universität Bamberg; Bayerische, Sächsische und Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften (Hg.), Russische Begriffsgeschichte der Neuzeit. Beiträge zu einem Forschungsdesiderat. Köln/ Weimar/Wien 2006; Deutsche Anstöße der frühen russischen Nihilismus-Diskussion des 19. Jahrhunderts. Paderborn 2008; Aufrechter Gang und liegendes Sein. Zu einem deutschrussischen Kontrastbild. München 2010.
BAUSTEINE ZUR SLAVISCHEN PHILOLOGIE UND KULTURGESCHICHTE NEUE FOLGE, REIHE A: SLAVISTISCHE FORSCHUNGEN HERAUSGEGEBEN VON DANIEL BUNČIĆ, ROLAND MARTI, PETER THIERGEN, LUDGER UDOLPH UND BODO ZELINSKY
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2010. 379 S. GB | ISBN 978-3-412-20493-8
1945–1995 2011. 297 S. GB. | ISBN 978-3-412-20669-7
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