›Istanbul‹: Geistige Wanderungen aus der ›Welt in Scherben‹ [1. Aufl.] 9783839404744

Können die Erfahrungen des Exils in Istanbul großen Wissenschaftlern eine neue Einstellung zu Text, Tradition und Geschi

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German Pages 292 [291] Year 2015

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›Istanbul‹: Geistige Wanderungen aus der ›Welt in Scherben‹ [1. Aufl.]
 9783839404744

Table of contents :
INHALT
Einleitung: ›Istanbul‹, Exil, intellektuelle und symbolische Migrationen
I. IDEEN: SKIZZEN, VERNETZUNGEN UND WEITERFÜHRUNGEN
Hellmut Ritter in Istanbul – Migration und spiritueller ›Orientalismus‹
Traugott Fuchs zwischen Exil und Wahlheimat am Bosporus. Meditationen zu klassischen Bild- und Textmotiven
Said – Orientalismus – Exil: Die Ambivalenz des Exil-Daseins zwischen Bruch und Re-Fundamentalisierung des Eigenen
II. SCHICKSALE: REGIME UND HANDELNDE
Heimat im Exil. Lebensalltag am Bosporus in den Briefen von Traugott Fuchs an Rosemarie Heyd-Burkart
Antagonistische Weltanschauungen in der türkischen Moderne: Die Beteiligung von Emigranten und Nationalsozialisten an der Grundlegung der Nationalphilologien in Istanbul
Im Windschatten der Bagdad-Bahn – deutsch-türkische kulturelle Beziehungen
III. TEXTE: DIE FLIESSENDEN BILDER DES ORIENTS
Deutsche Orientalen: Identifikationsmuster in der deutschen Literatur in ihrem historischen Kontext
Susanna überall. Wie ein indo-europäischer Mythos über zwei lüsterne Götter und eine keusche Frau zu einer biblischen Geschichte, einer arabisch-islamischen Erzählung und einer Novelle im Decamerone wurde
ANHANG
Abbildungen
Bio-bibliographische Angaben zu Erich Auerbach, Traugott Fuchs und Leo Spitzer (Martin Vialon) und Hellmut Ritter (Georg Stauth)
Die Autoren

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Georg Stauth, Faruk Birtek (Hg.) ›Istanbul‹

Georg Stauth lehrt Soziologie an der Universität Bielefeld und forscht an der Universität Mainz über kulturelle und sprachliche Kontakte im Orient. Er leitet eine internationale Studiengruppe zum Thema »Islamische Kultur und moderne Gesellschaft« am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen. Faruk Birtek lehrt Soziologie an der Bogazici University, Istanbul.

Georg Stauth, Faruk Birtek (Hg.) ›Istanbul‹. Geistige Wanderungen aus der ›Welt in Scherben‹

Dieser Band wurde mit Unterstützung des Kulturwissenschaftlichen Instituts NRW Essen und des Sonderforschungsbereichs der Deutschen Forschungsgemeinschaft 295 »Kulturelleund sprachliche Kontakte« an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz vorbereitet.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Umschlagabbildung: Archiv transcript Verlag Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Sigrid Nökel, Geretsried Satz: Jörg Burkhardt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-474-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT

Einleitung: ›Istanbul‹, Exil, intellektuelle und symbolische Migrationen GEORG STAUTH/FARUK BIRTEK 7

I. IDEEN: SKIZZEN, VERNETZUNGEN UND WEITERFÜHRUNGEN Hellmut Ritter in Istanbul – Migration und spiritueller ›Orientalismus‹ GEORG STAUTH 23 Traugott Fuchs zwischen Exil und Wahlheimat am Bosporus. Meditationen zu klassischen Bild- und Textmotiven MARTIN VIALON 53 Said – Orientalismus – Exil: Die Ambivalenz des Exil-Daseins zwischen Bruch und Re-Fundamentalisierung des Eigenen SIGRID NÖKEL 131

II. SCHICKSALE: REGIME UND HANDELNDE Heimat im Exil. Lebensalltag am Bosporus in den Briefen von Traugott Fuchs an Rosemarie Heyd-Burkart YASEMIN ÖZBEK 159

Antagonistische Weltanschauungen in der türkischen Moderne: Die Beteiligung von Emigranten und Nationalsozialisten an der Grundlegung der Nationalphilologien in Istanbul KADER KONUK 191 Im Windschatten der Bagdad-Bahn – deutsch-türkische kulturelle Beziehungen LUDMILA HANISCH 217

III. TEXTE: DIE FLIESSENDEN BILDER DES ORIENTS Deutsche Orientalen: Identifikationsmuster in der deutschen Literatur in ihrem historischen Kontext NINA BERMAN 233 Susanna überall. Wie ein indo-europäischer Mythos über zwei lüsterne Götter und eine keusche Frau zu einer biblischen Geschichte, einer arabisch-islamischen Erzählung und einer Novelle im Decamerone wurde FABRIZIO A. PENNACCHIETTI 251

ANHANG Abbildungen 271 Bio-bibliographische Angaben zu Erich Auerbach, Traugott Fuchs und Leo Spitzer (Martin Vialon) und Hellmut Ritter (Georg Stauth) 275 Die Autoren 287

EINLEITUNG: ›I S T A N B U L ‹, E X I L , I N T E L L E K T U E L L E SYMBOLISCHE MIGRATIONEN

UND

GEORG STAUTH/FARUK BIRTEK I. Landschaften zwischen ›Orient‹ und Okzident Mit der Herausgabe des vorliegenden Bandes folgen wir einer Idee, die wir im Buch von Muhammad Asad »The Road to Mecca«1 zu entdecken glaubten. Nur der in der Fremde, der mit dem Fremden erfahrene Bruch öffnet und erweitert den Blick auf das Eigene. Dieser Bruch darf bei der Bewertung dessen, was nun normativ Kulturerbe wieder genannt wird, nicht unberücksichtigt bleiben. 1

Muhammad Asad, The Road to Mecca, New York: Simon & Schuster, 1954 (Repr. 1980, rev. 4. Auflage 1993). Die Herausgeber legen Wert darauf, die besonderen Bedingungen ihrer Zusammenarbeit zu erläutern. Das Buch entstand aus dem Kontext einer Tagung, die das Kulturwissenschaftliche Institut mit der freundlichen Unterstützung seines Präsidenten, Professor Rüsen, ermöglichte, und die die Herausgeber in verschiedenen Vorgesprächen entwickelten und planten. Dankbar möchten wir auch an die freundlichen und die kritischen Beiträge erinnern, die Professor Ilber Ortayli, der Leiter des Topkapi Museums in Istanbul, im Verlauf der Tagung in Essen geliefert hat. Die Präsentationen und Diskussionen der Tagung sowie die anschließenden Gespräche und Debatten, die über Form und Substanz des Buches geführt wurden, fanden auf Englisch statt. Es war lange offen, ob das Buch nicht auch in englischer Sprache erscheinen sollte. Aus verschiedenen Gründen, nicht zuletzt pragmatischen, haben wir uns für die deutsche Publikation entschieden. Faruk Birtek legt Wert darauf, die Tatsache, dass er des Deutschen nicht mächtig ist, nicht zu verheimlichen. Georg Stauth, der jetzt diese Zeilen schreibt, gibt kund, dass dieses Buch ohne Professor Birteks Arbeit mit den Autoren, seine ständige Bereitschaft zur Diskussion, sein Beharren auf der Idee, nicht zu Stande gekommen wäre. Es sollte auch nicht verschwiegen werden, dass die entscheidenden und schönsten Stellen dieser Einleitung aus der englischen Feder Faruk Birteks stammen. 7

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Bei Asad waren wir von seinen wunderbaren Beschreibungen der Wüste, der Berber, der Araber fasziniert, von seiner erkennenden Leidenschaft, von seiner Liebe für die Gegenstände und Menschen, die er bewunderte, und zu denen er zugleich jene innere Distanz behielt, die ihm diesen außergewöhnlichen Blick verlieh. Wir fanden hier das Phänomen der doppelten Verbindung von Selbstvertiefung und Dekontextualisierung des Selbst, zugleich mit Bezug auf beide Welten, das westliche Wien am Beginn des 20. Jahrhunderts, Ausgangspunkt seiner Orient-Reise, und seine neu gefundene ›Heimat‹, die arabische Wüste und der Islam. Unsere ersten Überlegungen gingen dahin, ob nicht ein ähnlicher Blick in den Arbeiten und Lebensläufen von Figuren wie Hellmut Ritter, Leo Spitzer, Erich Auerbach und Traugott Fuchs zu entdecken sei. Es gibt durchaus schon eine Reihe von biographischen Studien der deutschen Exilanten in der Türkei der 30er, 40er und 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts (die meisten davon finden Erwähnung in den verschiedenen Beiträgen dieses Bandes). Das Phänomen, dass eine große Zahl von Wissenschaftlern, Professionellen und Intellektuellen hier nach ihrer Flucht aus dem Nazi-Deutschland eine neue Heimat fanden, ist also bekannt. In der Tat trugen diese Exilanten, ob Juristen, Mediziner, Architekten, Musiker oder Natur- und Geisteswissenschaftler, viel zur institutionellen Prägung der neuen Türkischen Republik bei. Nach dem Krieg kehrten viele von ihnen zurück und spielten, etwa wie Ernst Reuter, eine wichtige Rolle beim Wiederaufbau. Doch geht es uns hier nicht um diese Form der deutsch-türkischen Beziehungen. Uns interessiert die Frage nach der spezifischen Rolle der Geisteswissenschaftler; einige von ihnen hatten einen grundlegenden Einfluss auf die Bildung eines neuen Kulturbegriffs in den »Humanities« in Amerika und von dort her zurückwirkend auf die junge deutsche Kulturwissenschaft. »Geistige Emigration«, wie wir sie bei Asad vorfanden, war bei diesen Professionellen nicht vorauszusetzen. Auch konnten wir – es handelte sich ja um ein erzwungenes Exil – nicht die Art von Asads wechselhaften Vertiefungen des Blicks in die Landschaft, die Menschen und in ihre Religion, erwarten. Das erzwungene Exil im kosmopolitanen Istanbul setzte andere Bedingungen. Hier wirkte nicht die Anziehungskraft der Wüste oder die Sehnsucht, sich auf die Suche nach einem Ursprünglichen zu begeben. Die Einzigen, die sich in einer Muhammad Asad vergleichbaren Art jetzt hier auf das kulturelle Leben in der Stadt und ihr Hinterland einließen, waren vielleicht Ritter und Fuchs. Diese blieben in ihrer Bedeutung für die Entwicklung der späteren Literaturwissenschaft relativ marginale Akteure, doch insbesondere Fuchs, dem in diesem Band viele Seiten gewidmet sind, ist in diesem Umfeld eine herausragende Figur. Mit seiner Malerei und seinen Zeichnungen warf er einen

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EINLEITUNG

ebenso tiefen Blick in die Trockenzonen Anatoliens und seiner Leute wie Asad in die Arabiens. Hierin zeigen sich durchaus Parallelen zu Asads Sichten, wie wir sie in dessen Wüstenbeschreibungen gefunden haben. Wie Ansichten, kulturelle Ikonen und Legenden des Orients seit frühen Zeiten den umgekehrten Weg Asads gegangen sind und die geistige Brache Europas befruchteten und belebten, zeigen Nina Berman und Fabrizio Pennacchetti in diesem Band auf ungewöhnliche Weise. Obwohl also Istanbul nichts mit der Wüste zu tun hat, die Asads ganze Aufmerksamkeit fand, so herrschte hier doch – so man einen inneren Sinn für solche Lagen hat – eine bestimmte eigene Natur, ja man müsste sagen Zwitternatur vor, die unzweifelhaft auch Fuchs und Ritter, Auerbach und Spitzer, berührt haben musste. Istanbul steht unter dem klimatischen Einfluss zweier gegensätzlicher Windrichtungen, die sich – gewissermaßen in Konkurrenz zueinander – in die Stimmung der Stadt einmischen. Auch heute noch – so empfinden es viele Istanbuler – drücken, gewiss in gemilderten Formen der Intensität, die daraus resultierenden verschiedenen klimatischen Lagen – wenn vielleicht auch nur unbewusst – auf das Gemüt der Istanbuler und der Istanbul-Reisenden. Wenn der Nordwind weht, der früher den griechischen Namen poyraz trug, scheint die Stadt sich ganz an der Härte der Natur zu orientieren, sie verwestlicht sich, in kühler Laune, klaren Worten, in gerader Zielrichtung. Deutlicher noch, so wird gesagt, sei das in früheren Zeiten gewesen. Wenn poyraz, der Nordwind blies, schienen die Geschäfte besser zu gehen, die Schiffe fuhren nach Fahrplan, die Leute schienen fleißiger. Man könnte ihn auch den Westwind nennen, der sich im Bosporus Bahn brach. Die Lokalen sprechen davon, dass sein Einfluss spürbar war von Istanbul bis nach Aleppo. Der Südwind, lodos, vom Griechischen nodos, war im Volksmund von ganz anderem Charakter. Die Willenskraft schmolz dahin, die Leute hingen in den Straßen, Lethargie und schlechte Laune verbanden sich mit einander. Schiffe brauchten größeren Aufwand um ablegen zu können. Züge blieben stehen. Die Leute wollten nicht miteinander reden. Kinder widersprachen häufiger. Das war der spezifische Orient Istanbuls und dieser konnte sich bis nach Mazedonien, wo Skopye, die Hauptstadt, sich orientalisierte, reichen. Den je vom Nord- oder Südwind beherrschten Launen entsprechen zwei gegensätzlichen Gemütslagen der Stadt, die zerstörerisch aufeinander wirken. Sie schaffen auf kultureller Ebene Erfahrungsbedingungen, die auf wechselhafter Orientierungslosigkeit beruhen, ja die man geradezu mit einem Mangel an Dezision und Wille bezeichnen könnte. Wer im März einmal auf der Suche nach dem mediterranen Frühling nach Istanbul reist, in das Haus eines Freundes verschlagen wird, und dort nächtens über eine breite Fenstergalerie das Schneetreiben über dem Bosporus

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verfolgt, wenn unten die großen Schiffe langsam und still vor den Buchten die Wasserenge entlang treiben, der könnte, wenn nicht die gegenüberliegenden Hügel des anderen Kontinents wären, leicht die Zedern für Tannenbäume halten, und glauben es sei hier Weihnachten an der Elbmünde in Hamburg. Und doch ist schon am andern Morgen bei lachender Sonne fast aller Schnee geschmolzen, die Basiliken und Moscheen unten werden sichtbar, und auch die Dächer der Dörfer, die eher an die anatolischen Hügellandschaften erinnern als an die Stadt, in der sie jetzt stehen. Über allem aber liegt doch jetzt ein tief östlicher Einschlag der Sonne und der Milde, ja manchmal könnte man dann meinen, man atmete mediterrane Luft. Faruk Birtek hat diesen wechselhaften Erfahrungszustand in einer Diskussion einmal auf Englisch als »lack of reference« bezeichnet, eine Metapher, die man mit »Mangel an Bezug« nur schwer übersetzen kann. Der ›Geist des Ortes‹ – so möchte man sagen – erscheint, als wäre er von einer paradoxen Beziehungslosigkeit geprägt. An den Punkt in einer anderen Welt und Kultur gesetzt zu sein, von dem zurück man in die kulturelle und geschichtliche Ferne blickt, weil man am Gegenwärtigen der eigenen nicht teilhaben kann, ja mit Grausen sich von ihr abwenden muss, stellt einen Bruch ganz eigener Art dar. Emigrierte Sprach- und Literaturwissenschaftler wie Erich Auerbach und Leo Spitzer haben diesen Bruch in Istanbul erfahren, und in diesem Bruch haben sie die Grundlagen für die neue ›Philologie‹ gelegt. In dem ihren Spuren nachgehenden Denken der Generation eines Edward Said ist dem beginnenden 21. Jahrhundert die ›neue Wissenschaft‹, die »Kulturwissenschaft«, beschert worden. Wie sie es im Bruch mit ihrer gewachsenen Umwelt erfahren hatten, machten Auerbach und Spitzer die konkrete Lebensbedingung des Autors zum Gegenstand, der sich in seinen Texten widerzuspiegeln habe: Der gelebte Kontext galt fortan als der Schlüssel zum Werk. Traugott Fuchs und Hellmut Ritter, die im Zentrum der Beachtung in diesem Band stehen, waren bedingt zeitgleich mit Auerbach und Spitzer in Istanbul. Zwar waren sie an der ›mimetischen Transformation‹ nicht unmittelbar beteiligt; aber sie waren Zeugen und auf ihre je spezifische Art Anwender und Mitgestaltende derselben in ihrem jeweiligen oft gemeinsam geteilten Umfeld. Auch Fuchs und Ritter haben in Istanbul die Koordinaten ihrer Sicht der Dinge – bei Ritter in engerem Sinne auch der ganz fachlichen Dinge – neu gesetzt und in ihren Arbeiten die Tangenten der Innen- und Außenbeziehung des Begreifens, die sich mit der Wanderung in die Fremde verschoben hatten, nachvollzogen. Sie beide haben den Bruch im ›Leben zwischen zwei Kulturen‹ in ihrer Arbeit durchaus spüren, ja im Falle Ritters begrifflich reflektiert einfließen lassen. Doch haben weder Fuchs (in der Kunst) noch Ritter (in der Orientalistik) diesen Bruch grundlegend

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methodisch reflektiert. So stehen sie denn in Bezug auf die aus heutiger Sicht ungeheuer wirksamen mimetischen Umwälzungen der modernen Geistesgeschichte, die mit Auerbach und Spitzer in Istanbul reflektiert ansetzten und die in den Literaturwissenschaften in ihren ersten Nährboden fanden, nur an marginaler Stelle. Es ist diese Marginalität zum Zentrum des damals vollzogenen geistigen Umbruchs, die sie heute interessant macht, ja wichtig erscheinen lässt, gerade weil ihre Wirkungsgeschichte so wenig sichtbar ist. Die im inneren Wahrheitsbegriff der deutschen Aufklärung verhafteten Geisteswissenschaftler wie Fuchs, Auerbach, Ritter und Spitzer, die nicht nur geistig sondern auch tatsächlich lebensbestimmend emigrieren mussten, hatten sich in Istanbul auch im praktisch realen Sinne der Lebensgestaltung eine neue kulturelle Welt zu erschließen. Man muss – worauf Sigrid Nökel hinweist – sich daran erinnern, was diese neue kulturelle Welt war, es war eben nicht einfach der ›Orient‹, es war auch der Kemalismus. Hier gibt die bio-und sozial-technische Nazi-Kultur der untergehenden abendländisch-humanistischen Kultur den letzten Stoß, dort ist es der nationalistische und modernistische Kemalismus, der zugleich den ›Orient‹ überwinden will. Wir haben es insgesamt mit einer Zeit der großen Verschiebungen und des neuen Umgangs mit parallelen Beständen zu tun. Wie gehen die Geisteswissenschaftler in der Situation des Exils mit dieser Lage um? In Teil I und II dieses Bandes kann man einzelne Momente dieses Umgangs erspüren. Doch wir wissen noch zu wenig über die Wirkungen dieser Prozesse. Das Resultat aber kennen wir: Sie arbeiteten an der Aufhebung eingefahrener Begriffsgrenzen. Darin waren sie dem heutigen essenzialistischen und vielfach äußerlich religiös bestimmten Differenzdenken weit voraus: weltoffen, kulturübergreifend kenntnisreich. Ihre Orientierungslinien waren auf Beziehungen zwischen Welt und Mensch und zugleich auf Welt-Kultur gerichtet. Fuchs und Ritter haben hier Subtiles, Eigenständiges geleistet. Mit dem vorliegenden Band wollen wir in ihre Vorstellungswelt eindringen. Sie bleiben dabei, was sie waren: einzelne Personen, singuläre Erscheinungen, sich und ihren Erfahrungen Ausdruck verschaffende Individuen, Lehrer und Wissenschaftler, beide nicht ohne Ambitionen im weiten Feld der modernen kulturüberschreitenden Kunst.

II. Orient als Exil Die besondere Bedingung des erzwungenen Exils ist eine Sache, eine andere ist die des Ortes, an den man verbannt ist, in diesem Falle Istanbul.

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Wir haben auf die Besonderheiten hingewiesen, die das kulturproduktive Feld dieser Existenzen am Ort belegen. Istanbul ist zwar Ort der räumlichen und historischen Präsenz von Orient und Okzident und Repräsentationen des Verschiedenen sind in unterschiedlichen Stufen der Intensität überall in Istanbul sichtbar. Es handelte sich ja einst um die Hauptstadt eines christlichen und später eines islamischen Reiches. Aber vermitteln die sich? Vielleicht könnte der Begriff »interstatiality« (Faruk Birtek) weiterhelfen, kann er das Spannungsfeld zwischen den Gemütslagen, den historischen und sozialen Lagen am Ort bezeichnen? Die spezifische Sedimentierung der Felder der kulturellen Spannung, in denen unsere Akteure sich bewegten, lässt »Differenz« zu, die sich nicht mehr konkret auf ein einzelnes Feld zu beziehen braucht. Auch dies ist eine Möglichkeit des Zugangs: das »In-Differenz-Leben« – das hervorstechende, aber geduldete Leben in Andersheit – man erinnere sich mit Vorsicht an Spitzers: »In Istanbul war ich Cäsar« – meint auch eine »interstatiale« Bedingung dafür, dass ganz andere, neue Brücken geschlagen werden konnten Man macht es sich zu einfach, wenn man das, was hier kulturell gedacht und erlebt wurde, nur als Ausdruck der im Sterben begriffenen Kolonialkultur versteht, und Kultur lediglich als dekadenten Ausfluss des alten Beherrschungsstrebens Europas über den Orient begreift. Die Türkei selbst war nie Kolonialgebiet, sondern über einen langen Zeitraum eine beherrschende Macht; sie war im Ersten Weltkrieg ein Verbündeter der Achsenmächte und verharrte bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs in einer ambivalenten Neutralität. In diesem Kontext war die Türkei sicher auch Gegenstand der Kolonialpolitik und entsprechender kultureller Attitüden der hier lebenden Europäer und der ihnen verbundenen Oberund Mittelschichten. Die Aufsätze von Ludmila Hanisch, Kader Konuk und Nina Berman zeigen, wie wichtig Einflüsse und Haltungen des hegemonialen westlichen Orientalismus waren. Es wäre dennoch eine schreckliche Vereinfachung, Ritter und Fuchs, Figuren des intellektuellen Europa, und das ihnen eigene Kulturverständnis lediglich als Ausfluss des ›Orientalismus‹ zu begreifen. Die Frage der kulturellen Existenz dieser Figuren in Istanbul ergibt sich nicht einfach aus dem, kolonialer Herrschaft und Strategie angehängten, deutschen Wertekonservativismus. Erzwungene Exilierung und das Leben im Exil bedeuten anderes. Gleichermaßen wichtig ist die kulturelle Besonderheit des Ortes im Exil, seine klimatische Eigentümlichkeit, die historisch räumliche Bedingung des Ortes mit seinen allenthalben sichtbaren Zeugnissen griechischrömischer, christlicher und islamischer Geschichte. Sie ist gewissermaßen Basis eines intensivierten Lebensfaktums. Die deutschen Auswanderer kamen nach Istanbul in einer Zeit, als

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Europa in Scherben lag und Hitler sich daran machte, den Scherbenhaufen zu vergrößern. Aus dieser Welt der Scherben kamen sie an die Ufer des Bosporus, die meisten nicht als politische Rebellen und Verfolgte, sondern als von einer neudeutschen Macht- und Monopol-»Kultur« Ausgegrenzte. Von den Vorstellungen zu einer kulturellen Erneuerung Europas vor und nach dem Ersten Weltkrieg waren auch sie geprägt, hatten sie z.T. selbst mitgetragen. Aber dann kam die neudeutsche Realität und sie wurden von der Welle der stupiden und faschistischen Umsetzung solcher Ideen selbst überrollt. Sie konnten nicht mehr mitschwimmen, wurden aus dem Strom herausgetrieben, ganz eigene, einsame Wesen und als solche Ausgegrenzte und tendenzielle Opfer. In Istanbul stellten sie im Denken und Tun ganz singuläre Zeichen des Anders-Seins dar, ein Anders-Sein, das zu Hause nicht mehr geduldet wurde, in der Fremde aber sogar gepflegt werden konnte. Von solcher Erfahrung her kann man sich vorstellen, wie diese Emigranten, als Menschen und als Geisteswissenschaftler, einen Kurs einschlugen, der auf die Überwindung der Kultur-Grenzen gerichtet war.

I I I . D i e A u f h e b u n g d e s O r i e n ta l i sm u s Es ist an der Zeit, dem Denken in simplen Trennungen von Orient und Okzident ein Ende zu setzen. Dieses Denken der Trennung, der absoluten Differenz im Bezug auf das Andere, hat seit dem Erscheinen von Edward Saids »Orientalism«2 – der kritischen Intention des Autors zum Trotz – einen neuen Höhepunkt erreicht. Das von Said in Szene gesetzte, an Europa geschulte Ressentiment, mit dem er die zum Objekt gemachte Welt des »Orients« zum Opfer der Wissenschaft machte, schlägt heute auf doppelte Weise zurück: als Begriff simplifizierter Kultur des »Irrationalismus« und als simple Reaktion darauf die Forderung nach ihrer Unterdrückung. Erst mit der Vereinfachungslogik des Freund-FeindDenkens und der simplen These, dass es mit der exotisierenden Irrationalisierung des »Orients« Europa gelungen sei, sich als Kraft der Aufklärung und des Rationalismus zu bestärken, ja sich im Orient ein Surrogat seiner Selbst, ein untergründiges »Eigenes« zu schaffen, sind kulturübergreifende Spannungsfelder wie die, in denen die Exilanten in Istanbul operieren konnten, aus dem Blick geschwunden. Indessen präsentiert der »zurückgewendete Orientalismus«3, der mit dem einmal aufgestülpten

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Edward Said (1978) Orientalism, New York: Vintage. S.J. al-Azm, »Orientalism and Orientalism in Reverse«, Khamsin, 8 (1981). S. 5-26. 13

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Bild des Irrationalen zurückschlägt, in »Religion« und »Spiritualität« sein scheinbar äquivalentes, befreiendes, emanzipatives Pendant zur »Säkularität« und »Materialität« des Westens. Solche Vereinfachungen dienen heute dazu, Religion als modernen Selbstbegriff kultureller Macht zu instituieren, ja, sie »wieder« zum zentralen Mittel politischer Legitimität zu machen. Das ›Istanbul‹ einer Hand voll Männer, die dort – zum Teil dauerhaft, zum Teil vorübergehend, in jedem Falle aber lebensprägend – in der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts, vor und nach dem Zweiten Weltkrieg, einer Zeit, in der Europa geistig und ganz konkret ›in Scherben‹ lag, die Idee des Lebens in zwei Kulturen auf sich nahmen, setzt andere Zeichen. In der Tiefe der wechselhaften Geschichte und der tangentialen welthistorischen Verschiebungen, die Istanbul zu einem kulturellen Grenzort machten, suchten sie ein neues humanistisch inspiriertes, geistig und lebenspraktisch sensibles Weltmenschentum zu erspüren. Istanbul ist in der Periode, in der Europa in den Zustand einer Ruine versetzt wurde, ein von der Zerstörung verschonter Außenposten, kein Ort des Widerstandes, an dem eine anti-faschistische Alternative gedieh, und vielleicht wäre die Kulturgeschichte des Orients in dieser Zeit der faschistischen Besetzung Europas noch einmal ganz anders zu schreiben: Istanbul, aber auch Alexandria, Kairo und Jerusalem waren Fluchtpunkte, keine Orte einer Gegenbewegung oder gar der Gegenkultur. Nur in der »Stille«, wie der von Martin Vialon wiedergegeben Brief Auerbachs an Fuchs zeigt, und in den Erfahrungen der Einzelschicksale und des Denkens und Tuns Einzelner zeichneten sich die geistigen Wegweiser ab, die erst später im Übersiedeln nach Amerika oder zurück nach Europa, zuweilen auch im »Bleiben«, im Ausharren am Ort, den Charakter von neuen Denkrichtungen annahmen. Hellmut Ritter und Traugott Fuchs stehen aus dieser Perspektive im Zentrum einer aus der Marginalität der Fremde erwachsenden kulturwissenschaftlichen Erneuerung Europas, die wir heute noch überhaupt nicht als abgeschlossen betrachten können. Es ist, wie Sigrid Nökel in ihrem Beitrag aufzeigt, ausgerechnet Said, der in seinen späteren Jahren in einer ›post-orientalistischen‹ Attitüde diese sehr stille Bewegung aufspürt und sie konzeptuell einzubinden sucht. Der vorliegende Band kann nicht der ganzen Fülle des Schaffens und der Bedeutung dieser sich in den »Orient« rettenden Männer gerecht werden. Die Beiträge, die dieser Band versammelt, liefern einen kleinen Anfang. Martin Vialon und Yasemin Özbek nehmen sich – von unterschiedlichen Perspektiven ausgehend – der singulären Existenz des Einzelnen im »Leben in zwei Kulturen« an: Traugott Fuchs in Istanbul. Es sind »Individu-

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en«, wie Fuchs, die von der Suche nach der inneren Authentizität der ›einen Kultur‹ besessen sind, wenn sie ›das Andere‹ erfahren. Dabei sammeln sie Spuren derjenigen Kultur, die ihnen für immer verloren gegangenen scheint, und erfahren jetzt in der Fremde erst, was neu zu bestimmen ist. In der Frage nach der »Authentizität« – die das unerbittliche Denken in ›Differenz‹ beflügelt – scheint Verbindung und Aufhebung von Grenzen möglich, wird Denken »in zwei Kulturen« zur Lebenstatsache. »Leben in zwei Kulturen« ist so das beseelte Suchen nach Formen der ideellen und der gelebten Aufhebung der Kulturgrenzen, und der über Kultur gesetzten und verhärteten sozialen Grenzen. Letzteres wurde im Leben der Männer, die wir in dieser ›Ecke‹ stehend betrachten, zum Programm. Wo Vialon und Özbek erstmals ein umfassendes Bild von Leben und Werk des Traugott Fuchs in Istanbul zu zeichnen versuchen, setzen sich Georg Stauth und Sigrid Nökel mit Fragen der Begriffsentwicklung und Ideenbildung auseinander. Stauth zeigt, wie in Ritters Auseinandersetzung mit islamischen Denkern »Weltbegriffe« konstruiert werden. Nökel verfolgt die spätere Wirkung bis hin zu Edward Said, bei dem die Einflüsse Erich Auerbachs sichtbar werden. Wenn wir in Deutschland und in deutscher Sprache im Weltmenschentum den Lebenskern und die intellektuelle Orientierung jener Wissenschaftler und professionellen Menschen herauszuheben suchen, so sind ein paar methodische und begriffliche Orientierungspunkte zu setzen, mit denen wir zugleich auch zur Vorsicht gemahnen wollen. Zu warnen ist vor jener »Orientologie«, die wir nicht betreiben wollen: Wir wollen weder ein neues Orientbild aus den Feldern herausfiltern, mit denen sich diese Männer beschäftigten, noch den Orient neu beschreiben, wie diese Männer ihn sahen. Auch können wir nicht den Bedürfnissen des westlichen Publikums, meist Fachpublikum nachspüren, für das sie ihr Orientbild – oder Literatur als ihr Heimatbild – entwarfen, noch den technisch-ökonomischen Apparat, der die Bedingungen ihrer Existenz mitschuf oder den wissenschaftlich-politischen Apparat, an dem sie andererseits Teil hatten, untersuchen; wie gesagt, Hinweise hierzu werden in einzelnen Beiträgen, insbesondere in den in Teil II versammelten, gegeben. Von den Zentren des wissenschaftlichen Betriebs fühlten sie sich ohnehin marginalisiert, auch wenn sie sich mit dieser Marginalisierung nicht abfinden mochten und sie durch zuweilen unterwürfigste Spiele aufzuheben trachteten. Schließlich orientierte sich ja ihre ganze Arbeit, die Kraft ihrer Schriften und das Formbild ihrer Ideen, an dem Ziel, gerade die Negativität und Nichtigkeit dieser Apparate – das Traugott Fuchs im Bild der »Welt in Scherben« noch am deutlichsten symbolisierte – zu überwinden.

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Es kann hier auch nicht um den Versuch gehen, eine einfache Revision der »Orientalismus-These« Edward Saids zu betreiben. Gibt es einen spezifisch deutschen Zugang zum Orient? So sehr unsere Figuren interessante Einzelergebnisse über Leben und Werk, modifizierte Sichtweisen über Intentionen und Symbolik zulassen, man wird die deutsche Denklinie des 20. Jahrhunderts, die selbst vom wie immer pauschalen »Orientalismus«-Vorwurf errettet werden will, hier nicht erspüren können. Was wäre auch gewonnen, wenn man das authentisch Deutsche an dieser Orient-Reise aus dem sich selbst als kolonialen ›Underdog‹ verstehenden Deutschtum herausnehmen würde und vom Orientalismus freisprechen wollte? Hier mag als schicksalhafter Wink den kulturgeschichtlichen Positionierungen des Deutschen, des aufs ›Selbst‹, d.h. aufs Ganze gehenden, geistigen Migrationen, angezeigt werden, dass ja auch jene von Voltaire erfundene, traurige Figur des Aufklärungs-besessenen Weltdeutschen, Candide, nur aufgrund eines großen Missverständnisses über die »beste aller Welten« unter den Olivenhainen und Weinhügeln an den Ufern des Bosporus endete. Die Said-These ist so ernst zu nehmen, wie sie von ihrer Wirkungsgeschichte her ernst zu nehmen ist. Dies zeigen die Beiträge von S. Nökel und M. Berman. Für das Beispiel der Figuren in Istanbul bedeutet das wenig. Sie waren keine – gezielt vorgehenden oder auch nur nichtintendierte, verhinderte – imperialistischen Kulturanalytiker. Sie hatten weder subjektiv noch objektiv die Funktion, die authentische Kultur verklärend und hegemonialen Interessen unterwerfend, aufzubereiten. Sie waren weder Kolonialbeamte noch Kolonialstrategen. Sie waren gleichermaßen keine »Pilger« wie Said sie sieht, Teil eben jenes Heeres von Literaten und Halbliteraten, Abenteurern, Wissenschaftlern und an der Wissenschaft orientierten compradores, die in endlosen Reisewellen, Relikte sammelnd, an den Ruinen der alten Welt, im Orient, notgedrungen den Ursprüngen Europas nachtrauerten. Sie waren Exilanten, die im Verlust – ja im Wandern auf den Ruinen des alten Konstantinopel – mit Europa sprachen, auch mit seiner hier verschütteten Geschichte, aber das Andere zum praktischen und geistigen Lebensfaktum hatten. Die Gruppe der Istanbul-Migranten – hier stehen Hellmut Ritter und Traugott Fuchs in einem paradigmatischen Sinne als Einzelerscheinungen (und deshalb ist auch hier vor Vereinfachung zu warnen) – bestand nicht durchweg aus Opfern des Nazi-Regimes. Es wäre deshalb auch unangemessen, ihr besonderes Gespür für die in dieser Stadt verkörperten Kulturen, ihre Einfühlungskraft, nur dem Moment jener in Europa wütenden rassistisch-politischen Ausgrenzung zuzuordnen. Der deutsche Faschismus ist für diejenigen unter ihnen, die sich nach Istanbul buchstäblich gerettet hatten, ein wichtiger Aspekt. Das Erstaunliche aber ist,

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dass die meisten, ja selbst die Juden unter ihnen, in großen Teilen zutiefst in jenem deutschen Kulturkonservatismus verankert blieben, der sich im Neo-Romatismus der Zwanziger Jahre neu formierte und letztendlich auch die geistigen Grundlagen, für jene Zerstörungsmaschine war, die sie selbst zu potenziellen Opfern und Migranten gemacht hatte. Es ist diese eigentümliche Verbindung von Rückwärtsgewandtheit und zukunftsorientiertem individuellem Karrierestreben, dem Bestreben, Anerkennung im kulturorientierten Wissenschaftsbetrieb zu finden (sozusagen in der Umgehung der sozialtechnologisch orientierten Moderne, die im Nazi-Deutschland ihren grausigen Höhepunkt fand), die das Substrat nicht nur für die Erneuerung der Geisteswissenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg lieferte, sondern wie neuerdings gehofft wird, auch das Substrat für eine humanistische multikulturelle Welt gegen eine menschenverachtende Globalisierung sein kann.

V . D i e S ti l l e d e r g e l e b t e n K u l tu r k r i ti k Wer Weltstädte wie Shanghai, Batavia, Singapur, Alexandria und Kairo, Marrakesch und Casablanca in der Phase der Auflösung der kolonialen Welt – und sei es nur im Film – erlebt hat, weiß um welch offene Kulturwelten es sich hier handelte, mitnichten also um Inszenierungen authentischer lokaler Kultur. Die lokalen Lebenstatsachen in der Fremde waren gar nicht so fremd wie sie sich in den Köpfen der Migranten gaben. War es deshalb schon das einzige Ziel der ›Orientalisten‹, diese fremd zu machen, wie Said uns glauben machen will? Könnte man ihnen nicht auch unterstellen, dass sie ein großes Interesse gehabt haben, die erfahrenen Lebensfreiheiten in diesen Metropolen des kolonialen Schmelztiegels der Kulturen – direkt oder indirekt – ihren Landsleuten zu vermitteln, die eigne Freiheitssehnsucht umsetzend: das Spiel mit der Aufhebung der rigiden Klassentrennung, ethnische Vielfalt und Toleranz, Auflösung des moralischen Holismus, erotisierte Lebenswelten und Kommunikationsformen. Und zweifellos wollten sie solche Erfahrungen idealisieren, selbstverständlich fanden sie in der Geschichte und Volkstradition – wie sie meinten – authentische Exemplare, und sicherlich waren sie an der Wiedereinsetzung derselben beteiligt! Am auffälligsten ist jedoch ein alle Geister dieser Gruppe umspannender Habitus, das (geschichtlich und vermeintlich) Faktische mit einer, wie auch immer fachlich spezifisch gestalteten, transgressiven Vorstellung von Weltewigkeit zu verbinden. Damit versammeln sich die Akteure der Istanbul-Gruppe dann doch wieder zu einer Art Blockgestalten des Neo-Romantismus, indem das individuelle Grenzüberschreiten zu einer

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›ISTANBUL‹

Art neuer Himmelsnähe verklärt wird. Es konstituiert sich in dieser Form der Fremderfahrung ein romantischer Hyper-Individualismus. Der Impetus des Weltmenschentums bedingt gewissermaßen einen innerlich religiösen Blick in die Weiten der Welt und des grenzüberschreitenden Raumes. Ein kulturinnerlich konstituierter Individualismus, der ein für die Fremderfahrung gestärktes Selbstbewusstsein hervorbringt, das sich schon weitgehend von den versichernd-bürokratischen Institutionen gelöst oder die Bindung an diese innerlich überwunden hat, scheint diese Figuren zu beherrschen. Fast alle Mitglieder dieser Gruppe waren Philologen, die über das Schaffen von Textsicherheit – im Falle des Orientalisten Ritter etwa kritische Edition und Interpretation klassischer theologischer Texte – hinaus die Textlosigkeit des faktischen Lebens erkannten. Und gerade in den Spitzfindigkeiten dieses Lebens und seiner inneren kulturellen Wiederfindung in Tradition und Erzählung, jenseits aller Versuche, sie in reinen »Text« zu verwandeln, sahen sie die Ironie des Universellen. In der Faktizität des »Lebens in zwei Kulturen« erkannten sie die Möglichkeit, zwischen den rigiden Standpunkten der öffentlichen Religion und des Skripturalismus – etwa in Christentum und Islam –, aber auch zwischen Religion und Wissenschaft Verbindungen zu suchen, ja, strikte Gegensätze aufzuheben und zu einem Ausgleich zu kommen. Was wir somit finden können, ist eine Art stille gelebte Kulturkritik, nicht eine, die lautstark und bestimmend an der Oberfläche operiert, sondern in einer unbestimmten Grauzone, in Detailfragen sich zeigend und oftmals in Nuancen, die sich in den konventionellen Formen mehr oder weniger verstecken. Es ist diese Form von Interkulturalität, nicht eine einseitige kolonialistisch orientierte Haltung eines europäischen, aneignenden Authentisch-Machens des Fremden, die charakteristisch erscheint für den skizzierten Kreis der Migranten nach Istanbul. Es ging ihnen in erster Linie um eigenes Authentisch-Sein im Anderen, um ein narratives Austauschen, in dem das Fremde zum Eigenen und das Eigene zum Fremden wird. Der nach Frankfurt zurückgekehrte Ritter drückt dies an einer entscheidenden Stelle seines Sufismus-Buches aus. Er zitiert Novalis:4 Einem gelang es – er erhob den Schleier der Göttin zu Sais. Aber was sah er? Er sah – Wunder des Wunders – sich selbst.

4

Novalis, Paralipomena zu den Lehrlingen von Sais. Schriften, hg. von Kluckhohn, I, 41 (zit.n. Ritter, op.cit.). 18

EINLEITUNG

Er fügt hinzu: »Diesen Nachweis verdanke ich der Freundlichkeit von Herrn Lektor Traugott Fuchs, Istanbul«5 Frankfurt, Alexandria und Istanbul im Juli 2006 Georg Stauth und Faruk Birtek

5

Hellmut Ritter, Das Meer der Seele. Mensch, Welt und Gott in den Geschichten des Farîduddîn ´Attâr. Leiden: E. J. Brill, 1955. S. 631. 19

T EIL I I DEEN : S KIZZEN , V ERNETZUNGEN W EITERFÜHRUNGEN

UND

H E L L M U T R I T T ER

IN ISTANBUL

SPIRITUELLER

– MIGRATION ›O R I E N T A L I S M U S ‹ 1

UND

GEORG STAUTH I. Müssen Orientalisten »Pilger« sein, die nach ›Ursprung‹ und ›Goldnen Zeitaltern‹ suchen, sich orientalische Kultur aneignen und in eignem Interesse uminterpretieren? Die Frage drängt sich auf, seit Edward Said das irrationale, exotisierende Orientbild des 19. und 20. Jahrhunderts als die Tat von modernen »Wallfahrern« bezeichnete. Seit dem Erscheinen von Edward Saids »Orientalismus« gilt die europäische Wallfahrt zum Ort des kulturellen Ursprungs2 als das Mittel, den Orient zu domestizieren und zu kolonisieren. Was aber ist ein Orientalist? Hellmut Ritter, der erste Nachkriegsprofessor für orientalische Philologie an der Universität in Frankfurt3, der mehr als ein halbes Leben in Istanbul gelebt und gearbei1

2 3

Den Professoren Ewald Wagner, Gießen, und Leopoldo Waizbort, Sao Paulo, bin ich für empathische Lektüre, vielfältige Hinweise, Anregungen, Korrekturen und Kritik überaus dankbar. In einer sonst sprachlosen Zeit sind solche ›Rückmeldungen‹ von unschätzbarem Wert. Das gilt uneingeschränkt auch für die Reaktionen Martin Vialons, Istanbul. Vgl. Edward Said, Orientalism, New York: Vintage, 1973. S. 166- 197. Frankfurt, das war für Ritter offenbar dann ein trüber Ort in einer trüben Zeit, wenn man den Bericht von Notker Hammerstein hier als verbindlich ansehen darf. Ritter hatte lange für sich und seine private Bibliothek Unterkunft zu suchen, auch klagte Ritter über schlechte Arbeitsbedingungen. Horkheimer unterstützte ihn als Dekan und Rektor sehr. 1949 noch als außerordentlicher Professor berufen, wurde er 1953 bereits zum ordentlichen Professor ernannt und war zwei Jahre später Dekan der Philosophischen Fakultät. Ritter darf zumindest als »erregbar, kantig, und kauzig zugleich« bezeichnet werden. Anlässlich der Berufung von Adorno 1959 zum ordentlichen Professor kam es zu einer Konfrontation, die man durchaus als unfreundlichen und undankbaren, wenn nicht einen anti-semitischen Akt Ritters gegenüber einem Brücken bauenden, und sonst immer hilfreichen Horkheimer bezeichnen könnte. Ritter reichte noch im gleichen Jahr sein 23

IDEEN: SKIZZEN, VERNETZUNGEN UND WEITERFÜHRUNGEN

tet hat, kann schlecht als ein »Wallfahrer« oder gar als Kulturkolonialist bezeichnet werden. Auch gehörte er nicht zu den Orientalisten, für die Residenz im Orient gewissermaßen die notwendige Voraussetzung für wissenschaftliche Arbeit oder persönliche Glaubwürdigkeit war. Ritter ließ sich auch nicht darauf ein, in Istanbul die orientalische Lebensweise zu imitieren.4 Ritter verstand sich – trotz aller Schwere – als Bürger in Deutschland, so wie er sich auch in Istanbul als moderner Bürger verstand. Ritter betrachtete die Zirkulation von orientalischen Ideen und die dortige Lebensweise als Fingerzeig für kulturelle Produktion und Kreativität, als Lehrstücke für die Korrektur westlichen Denkens, vage zeichnet sich in seinen begrifflichen Arbeiten ein den Orient, den Islam einbeziehendes modernes Projekt ab, das tief im Hellenismus gründet. Ritters Karriere war – seine private Lebensorientierung als Homosexueller widersprach der damals, 1926, herrschenden öffentlichen Moral – nur im Ausland fortzuführen, vielleicht war er so zur sublimen Betrachtung und zur Befriedigung seiner Neugier am lebendigen Leben in der Sprache des Orients fähig. So kann Ritter durchaus als ein rastlos zwischen ›Orient‹ und ›Okzident‹ Wandernder und Suchender erscheinen. Die Problemlage der intellektuellen Migration zwischen Istanbul und Deutschland ist im Fall Hellmut Ritters einzigartig gezeichnet und hat doch paradigmatischen Charakter. Dies will ich mit den folgenden Ausführungen zeigen. Man hat Hellmut Ritter (1892-1971) einen der großen deutschen Orientalisten genannt, einen, der für alles das steht, was groß, bleibend und gut sei in der deutschen Orientalistik.5 Dieses überragende Bild mag sich heute aus dem Abstand von mehr als drei Jahrzehnten nach seinem Tod relativiert haben, aber mir geht es nicht um die in den 26 Büchern, 100 Aufsätzen und 220 Buchbesprechungen dokumentierten Leistungen.6

4 5 6

Emeritierungsgesuch ein und ging nach Istanbul zurück. Vgl. Notker Hammerstein, Die Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M.. Von der Stiftungsuniversität zur staatlichen Hochschule, Bd. 1: 1914-1950, Neuwied u.a.: Metzner, 1989. S. 798-802; hier bes. 801. (Ich folge auch hier dankbar einem Hinweis von Leopoldo Waizbort). Es ist in diesem Zusammenhang interessant, dass Martin Plessner, ein früherer Assistent (in Hamburg) von Ritter und Traugott Fuchs, der Freund, beide Juden waren. Plessner scheint den Vorwurf des Anti-Semitismus, in seinem Nachruf widerlegen zu wollen. Vgl. Martin Plessner, »Hellmut Ritter (1892-1971)«, Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft 122 (1971). S. 6-18. Vgl. etwa Saids Beschreibung des ›Orientalismus‹ von Edward William Lane, op.cit. S. 158-161. Richard Walzer, »Hellmut Ritter, 27.2.1892-19.5.1971«, Oriens 23-24 (1970-71). S. 1-6, 2. Ernst August Gruber, Oriens 18-19 (1965-1966). S 5-32. 24

HELLMUT RITTER IN ISTANBUL – MIGRATION UND SPIRITUELLER ›ORIENTALISMUS‹

Mehr als um das Lebenswerk dieses unbestreitbar großen Gelehrten der orientalischen Sprachen und Literatur, geht es mir um eine Annäherung an das gelebte Leben dieses besonderen »Exemplars« des deutschen »Orientalismus« in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ritters Leben stellt eine exemplarische Verschlingung, ein in der Tat singuläres und damit zugleich paradigmatisches Moment des Zusammenspiels von modernem, wissenschaftlich bestimmtem Leben und orientalischer Lebenssehnsucht, eine spannungsgeladene Existenz zwischen positiver Wissenschaft und gelebter Imagination, dar.7 Es sind zunächst ein paar biographische Eckdaten anzumerken. Ritter stammt aus einer hessisch-protestantischen Pfarrersfamilie und ist der jüngere Bruder des in der Weimarer Republik früh berühmt gewordenen Historikers und späteren Doyens der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft Gerhard Ritter (1888-1967).8 Ritter, der jüngere, hat bei Theodor Nöldecke in Straßburg und bei Carl Brockelmann in Berlin (später Halle/Leipzig) studiert und war danach an C.H. Beckers Kolonialinstitut in Hamburg, mit dem die offizielle deutsche Islamwissenschaft begründet wurde. Offenbar stand Ritter Becker sehr nahe, und als Becker (18761933) zunächst nach Bonn ging und dann zunehmend in die Bildungspolitik einstieg, überließ er – wenn auch nach außen hin nur als Mitherausgeber – Ritter die von ihm gegründete Zeitschrift »Der Islam«. Ritter war von 1920 an in Hamburg, wurde aber 1926 zur Aufgabe der Stelle dort gezwungen, als seine Neigung zur Homosexualität öffentlich wurde. 7

8

Der Aufsatz von Th. Lier, indem er das Zusammenspiel zwischen Traugott Fuchs und Hellmut Ritter zumindest anzeigt und umschreibt, wie das Exil in Istanbul über Forschungsorientierung und intellektuelles Interesse bestimmte, ist hier vorbildlich. Vgl. Thomas Lier, »Hellmut Ritter in Istanbul 1926-1949«, Die Welt des Islams, 38 (1998). S. 334-385. Wie der junge Hellmut diesen überragenden Erfolg des älteren Bruders Gerhard Ritter, ein Vertreter der anti-demokratischen, konservativ-protestantischen Geschichtswissenschaft über den Zeitenwandel hinweg praktisch unangefochten, verarbeitet hat, ist ungewiss. Es kommt, wie wir weiter unten sehen werden, nie zu einer offenen Kritik. Für den heranwachsenden Orientalisten darf man vielleicht doch von einem wissenschaftlichen ›Über-Ich‹ sprechen, einem Über-Ich, das man nicht bekriegen, dem man nur, vielleicht es auf andere Art überwindend oder auch imitierend, entfliehen konnte: Gerhard Ritter machte durchaus immer von seinem »Herrenanspruch« Gebrauch, so auch anlässlich seines Heidelberger Habilitationsvortrags, als er sich seinen Kollegen mit dem Eisernen Kreuz am Kragen präsentierte. Vgl. zur Politischen Geschichte G. Ritters: Gerhard Cornelißen, Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert. Schriften des Bundesarchivs 58. Düsseldorf: Droste Verlag, 2001; und Thomas Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte, München: C.H. Beck, 2001. 25

IDEEN: SKIZZEN, VERNETZUNGEN UND WEITERFÜHRUNGEN

Man darf annehmen, dass sich Ritters Beziehung zum Hamburger Kolonialinstitut nicht nur durch die Vermittlung Theodor Nöldeckes ergab, Ritter hatte mit Sicherheit schon 1915 von Istanbul aus Kontakt zum Hamburger Kolonialinstitut, war er doch in der Kriegszeit als Übersetzer für die deutsche Armee für Verbindungen mit der türkischen Regierung zuständig und mit der von Becker und Martin Hartmann als Komponente der deutschen Außenpolitik eingeführten »Islampolitik« vertraut.9 Umgekehrt zeigte sich die Istanbuler Erfahrung als nützlich, Ritter konnte für eine Außenstelle aktiviert werden als er aus Hamburg vertrieben wurde. Von 192710 bis1949 war Ritter Leiter einer neu eingerichteten Zweigstelle der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft in Istanbul11. 1935 wurde er zum Professor an der von Atatürk gegründeten Universität Istanbul berufen. Im international weit verzweigten Netzwerk der damaligen Orientalisten machte sich Ritter einen Namen als »König der Istanbuler Bibliotheken«, und in der Tat, einen Großteil seiner internationalen Anerkennung als Orientalist verdiente sich Ritter durch die Ausbeute des Reichtums der alten Bibliotheken des Osmanischen Reichs und die Verbreitung der Kenntnis über die Manuskript-Schätze an diesen Bibliotheken.12 Erst nach dem Zweiten Weltkrieg konnte Ritter nach Deutschland 9

Vgl. Peter Heine, »Snouck Hurgronje versus C.H. Becker. Ein Beitrag zur Geschichte der angewandten Orientalistik«, Die Welt des Islams, XXIIIXXIV(1984). S. 378-387. 10 Faktisch wurde Ritter von seiner akademischen Position an der Universität Hamburg im August 1926 entlassen, als seine homosexuellen Neigungen öffentlich gemacht worden waren. Im Oktober 1926 nahm er seine Arbeit in Istanbul auf, zunächst mit einem auf 6 Monate befristeten Stipendium der »Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft«, dann mit der Gründung der »Zweigstelle der DMG« betraut und deren Leitung. Beide Anstellungen waren dem Einfluss C.H. Beckers zu verdanken, der damals noch Preußischer Kulturminister in Berlin war. Vgl. Lier 1998, S. 334-338. 11 Diese relativ »unmittelbare« Verbindung zum offiziellen Deutschland auch während der Zeit des Nazi-Regimes mag der Grund dafür sein, dass Ludmila Hanisch Ritter aus »Ausgegrenzte Kompetenz. Portraits vertriebener Orientalisten und Orientalistinnen, 1933-45« ausgegrenzt hat. Ritters Homosexualität war ja schon vor 1933 ein Grund für seine Ausgrenzung. Vgl. Hanisch, op. cit., in: Orientwissenschaftliche Hefte, 1 (2001). S. 15-141. 12 Diese doppelte Orientierung von Ritters Arbeitsweise, einerseits die Edition und Auswertung von Istanbuler Handschriften, andererseits die Vermittlung von Handschriftenmaterial an interessierte Kollegen der internationalen Orientalisten-Szene und deren uneingeschränkte Unterstützung bei der Materialsuche und Edition, trugen weitgehend zur Begründung von Ritters internationalem Gelehrtenruf schon in den 1930er Jahren bei. Für detaillierte Hinweise vgl. Lier, 1998, S. 339-344. 26

HELLMUT RITTER IN ISTANBUL – MIGRATION UND SPIRITUELLER ›ORIENTALISMUS‹

zurückkehren, er übernahm 1949 den Lehrstuhl am Orientalischen Seminar der Universität in Frankfurt. Nach seiner Emeritierung in Frankfurt 1957 zog es ihn wieder nach Istanbul zurück. Eine schwere Krankheit trieb Ritter 1969 wieder nach Frankfurt, er lebte in Oberursel, wo er 1971 verstarb. Ritter war, so darf man aus dem Urteil eines amerikanischen Kollegen schließen, mit tiefer Sympathie voll im Leben und Denken des Orients verwurzelt, aber er blieb doch immer auch ein sehr deutscher Orientalist.13

II. Man kann Rittter also schlecht als »Wallfahrer« im Sinne Saids bezeichnen. Ritter war vor allem Philologe! Er galt als die Säule der deutschen orientalischen Philologie, der u.a. in der von ihm gegründeten Reihe der Bibliotheca Orientalis Istanbuler Handschriften kollationierte, editierte und einführend kritisch kommentierte, der aber auch eine wichtige Komponente orientalischer Kultur, die im Fluss des Alltagslebens, im praktischen Treiben des Volkes verankerte Ideenpflege hervorzuheben wusste. Einem in der modernen Anthropologie wurzelnden, inzwischen modisch gewordenen Paradigma folgend, möchte ich Ritter als singuläre Erscheinung behandeln, als ›Exemplar‹14, ja, als ein manifestes ›Exemplar‹ der geistigen Orientwanderung der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen, ein ›Exemplar‹ das nach dem begrifflichen Potenzial zur Ost-WestÜberbrückung sucht und beides, wissenschaftliches Zweckinteresse und vom Eigenen bestimmte Weltsuche miteinander verbindet. Ritters reale und zugleich spirituelle Migration an den Bosporus vereint eine rare und außergewöhnliche Gelehrtenexistenz mit empathischen Momenten des Lebens in der Fremde. Diese Verbindung aber konnte er erst im Übergang vom lebensbedingten Scheitern an der eigenen Kultur zur inneren Selbsterfahrung durch die ›Kultur des Andern‹ entwickeln. Ritters »Istanbul«, das Migranten-Dasein des professionellen Menschen als Philologe, wie sein ›anderes‹ Verständnis von praktischer Kultur als Kunst und sein Leben in einer orientalischen Künstlerwelt15, ist nicht einfach nur Ausdruck des »Orientalismus« seiner Zeit, sondern gründet in der individuellen Suche des Emigranten nach Kohärenz des 13 »He was attracted by the east and felt deep sympathy with its life and thoughts: but he remained a German by heart«, Walzer, S. 6. 14 Rodney Needham, Exemplars. Berkeley und Los Angeles, 1985. 15 Leider ist die enge Beziehung zu Traugott Fuchs, einem ganz anderen, dichtenden und malenden »Orientalisten« der Istanbuler Szene, zu wenig bekannt, um den Einfluss von Fuchs und der Istanbuler Künstlerszene auf Ritters Arbeit wirklich würdigen zu können. Erste Hinweise bei Lier op. cit. 27

IDEEN: SKIZZEN, VERNETZUNGEN UND WEITERFÜHRUNGEN

Lebens hier wie dort. Ritter wandelte zwischen säkularem Protestantismus und islamischer Theologie, zwischen einer neo-romantisch beeinflussten Philologie, die sich zugleich als Kunst und Theorie verstand, und in Istanbul zwischen gewählten und gewachsenen Beziehungen und Affinitäten, hier wuchs dies alles zu einem »großen Projekt« heran. Vielleicht kann man diesen Typ des »Orientalisten« nur verstehen, wenn man weiß, dass Ritter ein harter Spracharbeiter war und dass das professionelle Ethos in sich auf Verständnis und richtige Interpretation der Sprache und der arabischen, persischen und türkischen Texte gerichtet blieb. Doch über das Pensum der konventionellen orientalischen Philologie und Islamwissenschaft hinaus zeigt er sich – vielleicht unter den Einfluss des älteren Bruders, vielleicht durch den direkten oder indirekten Kontakt zu den großen Intellektuellen seiner Zeit – durchaus auch für unterliegende Theorie-Fragen der Soziologie und der Politischen Theologie aufgeschlossen. Dabei spielte, wie bei vielen anderen Orientalisten und Emigranten seiner Generation, ein großes Stück europäischer Kulturkritik eine Rolle. Namen wie Muhammad Asad, René Guénon und Otto Rescher stehen vielleicht für unterschiedliche Typen des kulturkritischen Konvertiten ein.16 Martin Plessner und Joseph Schacht repräsentieren unterschiedliche Typen des politisch bewussten Emigranten unter den deutschen Orientalisten und Islamwissenschaftlern. Andere teilten sicher die Idee, der »Dekadenz des Abendlandes« oder dem »Europa in Scherben« zu entkommen, suchten nach neuen ideologischen Visionen oder in Bruchstücken nach einer neuen wissenschaftlich begründeten Welt – etwa im Islam, im Zionismus. Ritter versuchte ein im eigenen Tun, an den Zeichen der Zeit gescheitertes Berufsleben in Istanbul neu zu gestalten, vielleicht aber auch ein persönliches, Kunst-gestaltetes Leben im Orient neu zu erschaffen und zu erfüllen. Das sozio-politische Gesicht des deutschen Orientalismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist noch nicht gezeichnet worden, doch weiß man natürlich, wie sehr auch dieses Gesicht von den Schicksalen vor und zwischen den beiden Weltkriegen, vom Niedergang der Weima16 Die Tiefe, die solche Konversionen auch auf den modernen Islam-Diskurs hatten, etwa aber auch auf Neuformungen des Religionsbegriffs in Europa und Amerika, und noch haben, lässt sich erstmals in Mark Sedgwicks, Against the Modern World. Traditionalism and the Secret Intellectual History of the Twentieth Century (Oxford: Oxford University Press, 2004) erahnen. Für den Einfluss »Istanbuls« ist natürlich auch eine Figur wie Rudolf von Sebottendorf (1875-1945) von großem Interesse. Okkultist und Freimaurer, war er vor seiner ›Flucht‹ nach Istanbul in München an der Gründung der Partei maßgeblich beteiligt, die Hitler zur NSDAP umformte. Vgl. Sedgwick, a.a.O., S. 65-67, 95-98. 28

HELLMUT RITTER IN ISTANBUL – MIGRATION UND SPIRITUELLER ›ORIENTALISMUS‹

rer Republik und vom Faschismus geprägt ist. Kulturelle Extravaganz und Homosexualität waren im öffentlichen Leben dieser Zeit in Deutschland nicht, im Staatsdienst grundsätzlich nicht, geduldet. Darüber hinaus ist wichtig, dass Ritter im Schatten Carl Heinrich Beckers sich noch bis 1933, und vielleicht sogar noch danach, Hoffnungen auf einen Lehrstuhl in Deutschland machte. Becker, den Ritter einmal als »Generalstäbler der Wissenschaft« bezeichnet hatte17, war bis zu seinem Tode einflussreich und hatte ja schon Ritters Anstellung in Istanbul vermittelt18, und Ritter hatte offenbar mit Istanbul nur an eine kurze Zwischenstation gedacht, wie aus einem 1933 von Martin Plessner stammenden Brief aus Jerusalem deutlich wird: … dagegen warte ich sehr auf Nachricht von Ihnen und möchte wissen, was aus Ihnen wird. Sie haben doch sicher auch im heutigen Deutschland einflussreiche Freunde, die bereit waeren, sich fuer Sie einzusetzen, und vor allem Leute, die im Stande sind, der Regierung klar zu machen, dass Ihre Arbeit dort unentbehrlich und unersetzlich ist, und dass ein erheblicher Teil Ihres Wertes in ihrer ununterbrochenen Kontinuitaet liegt. Ich moechte Ihnen jedenfalls sehr wuenschen, dass alles beim alten bleibt.19

Wir kennen Ritters Antwort auf diesen Brief nicht. Er blieb in Istanbul und führte seine Studien in türkischer und persischer Literatur fort. Ich 17 »Carl Heinrich Becker«, Der Islam, 24 (1937). S. 175-185, 184. 18 Thomas Lier, »Hellmut Ritter in Istanbul 1926-1949«, Die Welt des Islams, 38 (1998). S. 334-385. 19 Martin Plessner, Brief an Hellmut Ritter datiert vom 13. August 1933, House Abud, Ratisbonne, Jerusalem. In Sammelband Ritter III, Anhang zum Hasan al-Basri-Aufsatz, Orientalisches Seminar der J.W. Goethe-Universität Frankfurt a.M., Seminarbibliothek – AG 3/R390. Hinweisen über einen zweiten Rausschmiss Ritters im Juni 1933 nach Beckers Tod und die wirkliche Situierung seiner Pläne, nach Deutschland zurückzukehren, etwa auf Beckers Lehrstuhl in Bonn, wäre nachzugehen. S.a. Lier, 1998, S. 347. Dabei ist es sehr interessant zu wissen, dass es Repräsentanten des offiziellen Deutschlands in Istanbul für nötig hielten, Ritter vor Gerüchten, er sei ein Opfer des Nazi-Regimes, zu schützen. Solchen nazi-feindlichen Migranten konnte über die deutsche Botschaft der Pass entzogen werden, womit sie auch ihre Anstellung in deutschen wie türkischen Diensten automatisch verloren – ein Schatten, der über allen Anstellungen in Istanbul lag, wie die Beiträge von Vialon, Özbek und Konuk in diesem Band zeigen. Ritter wurde schließlich wieder im August 1933 an der »Zweigstelle« angestellt. Vgl. Lier, S. 349. Plessner wurde 1956 Nachfolger Ritters in Frankfurt und hat in seinem Nachruf ebenfalls Ritter vor Anti-Semitismusvorwürfen in Schutz genommen. Vgl. R. Kany, op. cit. S. 42. 29

IDEEN: SKIZZEN, VERNETZUNGEN UND WEITERFÜHRUNGEN

bin zu wenig Literaturwissenschaftler, um die tieferen psychologischen Herausforderungen erfassen zu können, die eine als Scheitern begriffene Migration auf die Verinnerlichung von Arbeitsprozessen und -richtungen haben, und wie sie sich auf das Forschen und Schreiben auswirken. Sicher verdiente Ritters emphatische Analyse der »Bildersprache«20 und sein »Meer der Seele«21, gerade in der Weise wie sie in dieser Zeit mit kleineren Arbeiten zu Legenden und mythologischen Topoi in den arabischen, persischen und türkischen Volksliteraturen verbunden waren22, einer literaturtheoretischen Würdigung. Hier treten, wie mir scheint, Formen der Sublimation und inneren Begrifflichkeit mit alltäglicher Lebenserfahrung in der Fremde in eine Verbindung, die sich im kulturellen Sinne als äußerst produktiv erweist. Vielleicht waren auch Verbindungen mit Hamburger Künstlern oder der Einfluss von Kulturtheoretikern wie Aby Warburg und Ernst Cassirer am Werk23. In der Tat hat Ritter zeitweise auch an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg gearbeitet24. In Ritters Bearbeitung der Istanbuler Handschriften und der Entdeckung »orientalischer Lebensthemen« ist andererseits durchaus eine Kontinuität islamwissenschaftlicher Betrachtung in der Tradition Ignaz Goldzihers und C.H. Beckers zu spüren. Dabei sind auch Fragen und Theorieeinsichten gewonnen worden, die sich auf das soziologische Denken der Zeit beziehen25. 20 Hellmut Ritter, Über die Bildersprache Nizamis. Berlin und Leipzig: Walter de Gruyter, 1927. Beiheft zu »Der Islam«. 21 Hellmut Ritter, Das Meer der Seele. Mensch, Welt und Gott in den Geschichten des Fariduddin Attar. Leiden: E.J. Brill 1955. Engl. Übers.: The Ocean of the soul: man, the world and God in the stories of Farid al-Din Attar, übers. v. John O’Kane mit edit. Unterstützung v. Bernd Radtke. Leiden: E.J. Brill, 2003. 22 Z.B. »Die goldhaarigen Zwillingskinder. Ein libanesisches Märchen aus dem Volksmund«, Fabula, 10 (1969)S. 86-99. »Die Kreuzigung eines Knabens«; »Kindbeispiele aus ´Amara«, 1942. 23 Ritters »künstlerische Begnadung« war ja auch Gegenstand einer Beurteilung anlässlich seiner Wiedereinstellung durch den Präsidenten des DAI, Wiegand, zit.n. Lier, 1998, S. 346-7. 24 Vgl. Roland Kany, Die religionswissenschaftliche Forschung an der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek, Bamberg: S. Wedel, 1989. S. 41: Hier auch die Erwähnung eines Vortrags von Ritter 1921/22 an der Bibliothek (Hellmut Ritter: Picatrix, ein arabisches Handbuch hellenistischer Magie, in: Vorträge der Bibliothek Warburg 1921-22. S. 94-124; s.a. Das Ziel des Weisen, hg. von Hellmut Ritter. Leipzig/Berlin: Studien der Bibliothek Warburg, 1933). (Mit Dank folge ich hier einem freundlichen Hinweis von Leopoldo Waizbort.) 25 Im Leben der Orientalisten und Islamwissenschaftler spielt – vielleicht mehr als in den anderen Philologien – der Zugriff auf Handschriften eine 30

HELLMUT RITTER IN ISTANBUL – MIGRATION UND SPIRITUELLER ›ORIENTALISMUS‹

Mein Interesse, an diesem ›Exemplar‹ – es muss in aller Deutlichkeit gesagt werden – entspringt nicht nur meiner eigenen Doppelexistenz als Islamwissenschaftler und Soziologe, es tritt ein biographisches Moment hinzu: In der Frankfurter Seminar-Bibliothek, in der ich als junger Student arbeiten durfte, schwebte der »Geist« Hellmut Ritters gewissermaßen als abwesendes Zentrum. Die »Aura« dieser Bibliothek ist von Ritter beherrscht, ich meine dabei nicht nur die heute noch reichlich vorhandenen, seine Handschrift tragenden Karten im Handkatalog. Frankfurt, das war für mich der Widerspruch zwischen philologischer Islamwissenschaft und theorieorientierter Soziologie, von daher darf mich die Theorie-Seite des Werkes von Ritter gewissermaßen naturwüchsig interessieren. Zwei Aufsätze Ritters haben mein Interesse in besonderer Weise geweckt. Deutlich reagiert Ritter in diesen Aufsätzen – direkt oder indirekt – auf begriffliche Fragen, die vom Werk Max Webers beeinflusst sind. Beide Aufsätze versuchen Antworten auf Fragen der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen einerseits, und während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Es geht um die Rolle von Ideologien in Ost und West. Besonders interessieren Ritter die Wirkungen von religiösen Ideen, kulturspezifische Begriffe des Sozialen und universelle Bedingungen des sozialen Handelns. Ritter geht von sehr spezifischen, mikrokosmischen Dingen aus, er fragt, wie Brüderlichkeit und Gemeinschaftssinn sich gegen scheinbar irrationale und sinnlose Kräfte und Prägungen in Staat und religiösen Institutionen behaupten, ja, einen universellen Charakter entfalten können. Diese beiden Aufsätze stelle ich in das Zentrum einer Betrachtung des orientalistischen Theorie-›Exemplars‹ Hellmut Ritter: Es handelt sich erstens um den Aufsatz über Hasan al-Basri in »Der Islam« von 1933, und zweitens um den Artikel über irrationale Solidaritätsgruppen und Ibn Khaldûns ´asabiyya-Begriff, der im »Oriens« 1948, dem ersten Heft der von Ritter in Vorbereitung der Rückkehr nach Frankfurt gegründeten Zeitschrift erschien.26 geradezu schicksalhafte Rolle. Ich kenne das aus eigener Erfahrung, wie viel mehr noch müssen die Arbeitsinteressen und Forschungsmöglichkeiten von Ritter-Schülern und von ihm unmittelbar beeinflussten Orientalisten, wie etwa Joseph van Ess, Wolfhart Heinrichs, Rudolph Sellheim, Fuad Sezgin und Ewald Wagner (und davor Fritz Meier und Martin Plessner), von jenen schicksalhaften Zufällen bestimmt gewesen sein, die mit dem Hinweis auf die Bereitstellung oder gar der apodiktischen Zuweisung von einzelnen Handschriften ins Rollen kamen. Hier eröffnet sich dem interessierten Kulturwissenschaftler ein weites Feld der reflexiven Betrachtung. 26 Herrn Prof. Ewald Wagner, meinem ehemaligen Lehrer am Seminar in Gießen, verdanke ich den bemerkenswerten Hinweis, wie sich die Arbeitsinteressen von Philologen ja doch häufig aus jenen »reinen Zufällen« ent31

IDEEN: SKIZZEN, VERNETZUNGEN UND WEITERFÜHRUNGEN

III. Die Erscheinungsjahre der beiden Aufsätze markieren entscheidende Stadien im Entwicklungsgang des Wissenschaftlers Hellmut Ritter: 1933 – Machtübernahme durch die Nazis und Todesjahr Carl Heinrich Beckers – war für Ritter das Jahr der gewissermaßen definitiven Emigration; 1948 – das dritte Nachkriegsjahr – bezeichnet schon die bevorstehende Rückkehr nach Deutschland, eine neue Orientierungsphase im Westen, in Deutschland. Ritters »Weltbild« ist – wie dasjenige seines älteren Bruders – deutsch-konservativ. Die Emigration war nicht politisch erzwungen und immer auch von enger Zusammenarbeit mit deutschen Kollegen und Institutionen geprägt. Ritter war nicht, wie Auerbach und Spitzer und andere seiner Istanbuler Kollegen, vor der unmittelbaren Gefahr der faschistischen Verfolgung nach Istanbul geflohen. Wie wir sehen werden, blieb auch seine auf kritisch moderne Weltoffenheit zielende Haltung in der Nachkriegszeit eher konservativ. Dass er im Sinne Stefan Georges an der Kleinschrift festhielt und in der Umschrift für das arabische kh das griechische X einführen wollte, war eher Ausdruck eines künstlerisch-rebellischen, wie Becker aber hellenistisch denkenden Einzel-Menschen, durch und durch von konservativem Individualismus geprägt. Hier liegt aber auch das subjektive Potenzial zu zurückhaltend politischer Distanzierung. Die intellektuellen Themen der Zeit, vom George-Kreis, vom Heidelberg der Webers beherrscht, der Zusammenhang von Tradition, Religion und wissenschaftlich-technischer Moderne, wickeln können. Er mutmaßt, dass das Interesse Ritters an Hasan al-Basri einfach durch das Auffinden neuer Handschriften zu Hasan al-Basri in Istanbul geweckt wurde. Ihm scheint die Auswertung des Materials »recht dicht an dem zu bleiben, was Hasan al-Basri selbst sagen wollte«. Er fügt dem hinzu: »Ich glaube im »Meer der Seele« lässt sich mehr »Ritter« finden als bei Hasan al-Basri« (Brief an den Autor vom 19. Februar 2005). Grundsätzlich stimme ich dem natürlich zu. Ich greife hier auf den BasriAufsatz zurück, um in doppeltem Sinne (Basri und Ritter) protestantische und neo-romantische Begriffsorientierungen anzuzeigen. Die im »Meer der Seele« entwickelte Sufismustheorie bleibt in diesen Orientierungen verankert, obwohl sie zugleich weit darüber hinaus weist. Dankenswerterweise zeigt Herr Wagner, dass das »Meer der Seele« einen Sprengstoff eigner, ganz bedeutender Art darstellt. Diesen hier aufzugreifen, schien mir, würde den Rahmen eines Aufsatzes sprengen. Richtig ist, nimmt man den Pfad über Ritter erst einmal auf, dann kommt man an »Meer der Seele« nicht vorbei. Das klingt nach einer Auforderung und ist es auch! Bei Herrn Professor Wagner möchte ich mich an dieser Stelle auch für weitere Hinweise und freundliche Korrekturen an einem ihm in englischer Sprache vorgelegten Erstmanuskript recht herzlich bedanken! 32

HELLMUT RITTER IN ISTANBUL – MIGRATION UND SPIRITUELLER ›ORIENTALISMUS‹

das waren auch Themen, die als unterliegende Folie sich in Hellmut Ritters Arbeit niederschlugen. In offenem Dialog treten Fragen dieser Art erst am Ende seiner Amtszeit als Professor in Frankfurt (1959) in einem anlässlich der von Gustav. E. v. Grunebaum and Willy Hartner organisierten Tagung »Klassizismus und Kulturverfall« gehaltenen Vortrag zu Tage. Ritter sprach hier explizit über ein Weber-Thema: die Rolle der religiösen Gelehrten bei der Ideenentwicklung des Islams. Weber war hierbei von der klassischen Islamwissenschaft inspiriert, er machte, sich auf die Resultate der Islam-Forschung im Deutschland des ausgehenden 19. Jahrhunderts stützend, die islamische Orthodoxie für den Kulturverfall im Orient verantwortlich. Ritter hebt dagegen einerseits die »wissenschaftliche« Leistung der orthodox-islamischen Gelehrtenschicht – religiöse Intellektuellen ohne Amt und Kirche – hervor, anderseits weist er auch auf die relative Toleranz der orthodoxen Haltung gegenüber den Wissenschaften hin.27 Goldziher28 (und einer von Ritters Lehrer Theodor Noeldeke vorgegebenen »protestantischen« Richtung) folgend, hebt Ritter hervor, dass die Wissenschaften in der Periode des klassischen Islams ihre Blütezeit hatten, auch wenn die islamische Orthodoxie sie in der säkularen, ja, heidnischen Kulturwelt verortete. Nach Ritter förderte die Orthodoxie die Wissenschaften nicht, aber sie legte ihr auch keine Hindernisse in den Weg.29 Für Ritter sind die Beispiele der großen handschriftlich verfassten Kompilationen zur islamischen Geschichte etwa eines Ibn Asakir (Tarîkh Dimâshq) oder at-Tabari (Tarîkh) Beispiele einer übergroßen Arbeitsdisziplin der Gelehrten. Er folgt zwar Weber darin, dass man im Erwerbsle-

27 Hellmut Ritter, »Hat die religiöse Orthodoxie einen Einfluss auf die Dekadenz des Islams ausgeübt?«, in: Gustave E. v. Grunebaum und Willy Hartner (Hg.): Klassizismus und Kulturverfall. Vorträge, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann, 1960. S 120-143. 28 Ignaz Goldziher, »Die Stellung der alten islamischen Orthodoxie zu den antiken Wissenschaften«, in: Abhandlungen der königlich Preußischen Akademie der Wissenschaft, Jg. 15, Nr. 8, Berlin 1916. S. 3-46. Engl.: »The Attitude of Orthodox Islam Toward the »Ancient Siences« in: Studies on Islam, übers. und hg. von Merlin L. Swartz, New York and Oxford: Oxford University Press, 1981.S. 185-215. 29 Ritter, »Hat die religiöse Orthodoxie …«, op. cit. S. 140. Ritter bezieht hier, wie es scheint, eine Gegenposition zu dem wirkungsreichen französischen Religionsphilosophen Ernest Renan, der dem Islam und der Orthodoxie »Hass der Wissenschaft« unterstellte; vgl. Renan, Der Islam und die Wissenschaft. Vortrag gehalten in der Sorbonne am 19. März 1883. Basel: Verlag M. Bernheim, 1883. S. 23: »Was in der That den Muselmann wesentlich kennzeichnet, das ist der Hass der Wissenschaft …«. 33

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ben dieser Schicht nicht von »innerweltlicher Askese« sprechen kann, konstatiert aber, dass man von einer bewunderungswürdigen »Arbeitsaskese der Gelehrten« sprechen müsse.30 Ritter hebt hervor, dass die Orthodoxie die säkularen Wissenschaften nicht behinderte, ja dass sie große Anstrengungen zur gelehrten Arbeit förderten und selbst unternahmen. Ritter beendet seinen Vortrag mit einer zeitgeschichtlichen Replik, er stellt fest, dass heute islamische Gelehrte sich fast in einem Zustand »innerer Migration« gegenüber der westlichen, »heidnischen Kulturwelt« des wissenschaftlich-technischen Zeitalters befänden. Neue Errungenschaften und »Geschmackswerte« werden vorgeschrieben, während das »religiöse Element« der Kultur wie in einem externalisierten Naturpark konserviert wird.31 Ritter spricht von einer »biologischen Dekadenz« der europäischen Kultur, von einer europäischen Selbstzerstörung der Kultur durch die Dominanz der Naturwissenschaften, ja, von der Rolle Europas als Zerstörer anderer Kulturen«32 Ich bringe vorweg diese Position Ritters aus dem Jahre 1960 nicht nur, um anzudeuten, wie sehr das innere Einfühlungsvermögen dieses ehemaligen intellektuellen Emigranten in Istanbul Argumente vorbereitet, die erst später unter islamischen Intellektuellen in den 1970er Jahren gang und gäbe wurden, sondern auch um anzuzeigen, dass Ritter mit Max Webers Theorie der Moderne gut vertraut war.

IV. Wir dürfen mit einigem Recht behaupten, dass Ritters Themen schon in den 1920er und 1930er Jahren nicht nur durch innere islamwissenschaftliche Entwicklungen und die Leistungen seiner Vorgänger in der älteren Generation wie etwa Theodor Noeldeke, Ignaz Goldziher und Louis Massignon (nicht zu vergessen ist auch der Einfluss der rein ›sprachpositivistisch‹ ausgerichteten »Leipziger Philologie« der Fleischer-Schule) vorgezeichnet waren. Von Deutschland her war der Einfluss des protestantischen Elternhauses wichtig. Der deutsche Protestantismus, angeschlagen von Nietzsches Nihilismus-Vorwurf, reagierte in der Ära nach Nietzsche auf diese Kritik mit der Suche nach positiven protestantischen Lösungen. In den protestantischen Hochburgen Heidelberg, Tübingen, Marburg, Freiburg formierte sich ein neuer weltoffen-intellektueller, bürgerlicher Konservativismus, der später vor der braunen Flut kapitulieren sollte – wenn nicht mit ihr zog. Die kulturkritischen Stimmungen des George-Kreises und die philosophischen Orientierungen, die in den intellek30 Ibid. S. 141. 31 Ibid. S. 142. 32 Ibid. S. 143. 34

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tuellen und künstlerischen Zirkeln der frühen Weimarer Zeit vorherrschten und von Namen wie Ludwig Klages, Max Scheler und Martin Heidegger geprägt waren, beherrschten auch die Geisteswissenschaften. Man kann diese deutsche Stimmung der Zeit als eine Art neo-romantische Bewegung, als ›lebens‹- und ›liebes‹-zentriert bezeichnen, als eine Kultur-Welt, die mit der Realität des europäischen Nachkriegs-Modernismus fertig zu werden, und dabei eine spezifische authentisch deutsche Position zu finden suchte. Der junge Orientalist, der zum Soldaten, der Soldat, der in der Fremde wieder neu zum Orientalisten wurde, bewegte sich lebenspraktisch wie intellektuell im konservativen Feld der kulturellen Aufbruchstimmung nach dem Ersten Weltkrieg. Gemeinschaft, Brüderlichkeit, Geistigkeit waren Termini des Neo-Romantizismus Heidelberger Prägung, die in bürgerlichen Kreisen gegen die harte institutionelle Welt der Gesellschaft definiert wurden.33 Zweifellos spielte die Stimmung im Heidelberger Kreis der Webers, zu dem auch Carl Heinrich Becker schon in den Vorkriegsjahren zählte, eine Rolle und auch der ältere Bruder begann dort seine sehr erfolgreiche Karriere als deutscher Historiker.34 In den Spannungen solcher Strömungen stehen Ritters »Studien zur Geschichte der islamischen Frömmigkeit, I., Hasan al-Basri«; sie erschienen 1933 in »Der Islam« (der von Becker 1912 gegründeten Zeitschrift, die zunächst von R. Strothmann und später dann auch von Ritter selbst herausgegeben wurde)35. Der Aufsatz besteht aus vier thematisch getrennten Abschnitten: Es handelt sich erstens um Betrachtungen, Korrekturen und Ergänzungen zu den bis dahin vorliegenden Quellen zu Person und Werk Hasan al-Basris (st. 726), vor allem aber um eine kritische

33 Wie wenig der Neo-Romantizismus nur eine deutsche Kulturbewegung gewesen ist, obwohl ja doch von Nietzsche so umwerfend beeinflusst, machen die in der angelsächsischen Literaturwelt bis heute so erfolgreichen Themen eines D.H. Lawrence sichtbar. Hier wird eine sehr transnationale Bedeutung der intellektuellen Themen des Neo-Romantizismus für das moderne Selbstverständnis deutlich, das in der überragenden Arbeit von Martin Green, The von Richthofen Sisters. The Triumphant and the Tragic Modes of Love, Albuquerque: University of New Mexico Press, 1974 angesprochen wird. Für orientalische Migrationen und ihre Bedeutung für kulturübergreifende Konstitutionen des modernen Bewusstseins sind solche Themen erst noch zu entdecken, obwohl, wie die jüngste Arbeit von Sedgwick, op.cit. 2004, zeigt, sie allenthalben unter der Oberfläche liegen. 34 Zu Webers soziologischem Einfluss auf Becker; vgl. mein Islam und westlicher Rationalismus, 1993. S. 95-97. 35 Der Aufsatz ist nicht in Liers Überblick von Ritters wissenschaftlichen Arbeiten in Istanbul aufgelistet, vgl. Lier, 1998. S. 349-355. 35

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Besprechung der in Louis Massingnons Receuil36 zusammengestellten Quellen, denen Ritter nun seine in Istanbul entdeckten weiteren Quellentexte gegenüberstellt und zugleich für diese die höhere Authentizität einklagt.37 Zweitens setzt sich Ritter mit Hasans religiösen Grundbegriffen vor allem der Frömmigkeit und des sinnvollen Lebens auseinander.38 Es folgt drittens eine Diskussion von Hasans theologischer Begründung der Prädestination und des freien Willens. Ritter arbeitet auf Basis einer von ihm neu entdeckten Handschrift39 Hasans quietistische politische Position heraus. Es folgt schließlich viertens eine Edition des arabischen Textes dieser Handschrift40. Es fällt auf, dass Ritter zunächst mit einer etwas kleinlich-umständlichen philologischen Herabsetzung von Louis Massignon wegen dessen, wie er meint, nachlässigen Umgangs mit den Quellen beginnt. Man kennt solche handwerkliche Kritik aus Hunderten von ZDMG Aufsätzen und Notizen der Zeit und kein minderer als auch Ignaz Goldziher durfte sich als Opfer solcher Angriffe verstehen.41 Doch hier werden mit der philologischen Kritik auch die eher synthetischen Fragen vorbereitet, die die Stoßrichtung des Ritter-Aufsatzes bilden. Ritter scheinen vor allem Religionsvergleichende und Religions-theoretische Aspekte des Frühislams zu interessieren. Erstaunlich dabei ist, dass er zwar ganz offensichtlich von Max Webers Protestantismusthese beeinflusst ist, dass er aber Webers

36 Louis Massignon, Receuil de textes inédits concernant l’histoire de la mystique en pays d’Islam. Paris: Geuthner. 1929. 37 Ritter, »Hasan al-Basri«, op. cit. S. 1-12. 38 »eine Anschauung über die besondere Art seiner Frömmigkeit zu gewinnen, d.h. über die Form, in der er mit den Gegebenheiten der Religion, in der er aufgewachsen war, persönliches Leben zu gestalten suchte und zu gestalten lehrte, den Sinn des menschlichen Daseins begriff und deutete und ihm Zweck, Ziel und Aufgabe bestimmte.« Ritter, »Hasan«, S. 12-53. 39 »Hasan’s Standpunkt zu einem der zu seiner Zeit lebendigsten dogmatischen Probleme, dem Problem der Willensfreiheit, zu ermitteln und zu verstehen, wobei wir uns auf ein u. M. n. sehr wichtiges Dokument stützen, die Risale Hasan’s an ´Abdalmalik« , Ritter, ibid., S. 12. Vgl. auch S. 53-66. 40 Kataba ´Abdalmalik b. Marwan ila al-Hasan al-Basri; Fa-kataba ilayhi alHasan al-Basri (RA´a.), Ritter, ibid. S. 67-83. 41 Vgl. Goldziher, Tagebuch, hg. von Alexander Schieber, Leiden 1978, passim; vgl. auch Robert Simon, Ignaz Goldziher. His Life and Scholarship as Reflected in his Works and Correspondence, Leiden: Brill/Budapest: Hungarian Academy of Sciences; z.B. S. 378, wo Goldziher sich solcher Attacken als »Fliegenfängerei« erwehrt. 36

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fragmentarische Soziologie des Islams nicht zu kennen scheint.42 Ritters Weber-Perspektive bezieht sich auf den spezifischen Fall Hasan al-Basri als ein Problem der Bedeutung des inneren religiösen Gefühls in Bezug auf eine soziale Haltung zur Welt. Sichtlich geht es ihm um die idealtypische Beschreibung eines sozialen Akteurs, dessen Denken vollständig von einer innerlichen Religiosität beherrscht ist.43 Ritter listet bei Basri jene religiös inspirierten Motive auf, die wie beim protestantischen Typ eine unmittelbare Gottesfurcht, eine unmittelbare, innere Gotteskommunikation, und damit auch eine unmittelbare Handlungsorientierung des Einzelnen voraussetzen. Hasan al-Basri ist ein Typ der individuellen Religiosität, der – im Islam wie im Protestantismus – für die moralische Verantwortlichkeit des Einzelnen gegenüber Gott einsteht. Es geht hier um einen Gesinnungshandelnden, dessen Begriff von Frömmigkeit nur auf die Furcht vor Gott gebaut ist.44 Es ist vor allem nicht die sozial bedingte »Zugehörigkeit zur islamischen Gemeinde«45, sondern vielmehr die individuelle Verantwortung, in der der Mensch allein Gott gegenübertritt, die Verantwortlichkeit in »den letzen Dingen ganz allein«.46 Hier möchte man fast unmittelbar an Webers Beschreibung der Calvinisten denken, denn Ritter spricht von einer mentalen Haltung, einer 42 Das ist durchaus verständlich, da Wirtschaft und Gesellschaft einem breiteren Publikum und besonders im Ausland noch nicht geläufig gewesen sein konnte. Die heutige Islamwissenschaft hat ihren Frieden mit Weber, wenn auch nur in Hinsicht auf seine These von der Bedeutung der Kriegerethik für den frühen Islam. Die verborgene Agenda von Webers »Protestantismus« und die missliche Übertragung der Begriffe seiner Religionssoziologie auf den Islam bleibt ein Problem. Vgl. Josef van Ess, Der Fehltritt des Gelehrten. Die ›Pest von Emmaus‹ und ihre theologischen Nachspiele, Heidelberg: Universitätsverlag Winter, 2001. S. 5; 381-392. Dabei wäre natürlich auch der Wirkungskreis von Webers Protestantismusthese im innerislamischen Diskurs der Moderne zu berücksichtigen. 43 Der Katholik Massignon trifft die ganze Richtung dieses Ansatzes in der deutschen Islamwissenschaft, wenn er von Goldziher ausgehend, Becker als den Hauptvertreter einer Schule sieht, die die »Entwicklung des islamischen Dogmas durch Verinnerlichung« zu verstehen sucht. Vgl. »L’amitié de C.H. Becker, arabisant et islamisant«, par Louis Massignon, in: Carl Heinrich Becker. Ein Gedenkbuch. Göttingen: Vandenbruck & Ruprecht, 1950. S. 114-116; S. 114. 44 Ritter, »Hasan«, S. 14. 45 Ritter, »Hasan«, S. 15. 46 »Töricht, wer durch das Gefühl der Geborgenheit in der Menge der Mitmenschen sich darüber hinwegtäuschen lässt, dass er den letzten Dingen ganz allein gegenüber stehen wird«, ibid., S. 16. 37

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»Gemütsstimmung« der »Angst« und »Trauer«, in der die »melancholische Natur« des Hasan verhaftet ist.47 Hasan erscheint als der islamische Idealtyp des richtig moralisch Handelnden. Gottesfurcht führt zu einem ethischen Zustand und zu einer inneren Ernsthaftigkeit, durch die erst die Idee der eschatologischen Klassenlosigkeit des Menschen Gestalt annehmen kann. Im Gegensatz jedoch zur gesteigerten innerweltlichen Praxis der Calvinisten, gibt Hasans Vorstellung, dass das Diesseits nur ein Handeln im Schatten des Jenseits erlaube, nur eine sehr ambivalente diesseitige Orientierung vor. Ritter kann an dieser Stelle eine gravierende Differenz zur »innerweltlichen Askese«, die ja bei Weber den Drang nach »Außerweltlichkeit« diesseitsorientiert sublimiert, ausmachen. Er weist auf Hasans Forderung nach guten Taten im »Hier« hin, doch überwiegen die Momente einer absoluten – letztendlich quietistischen – Weltverneinung in Hasans Doktrin.48 Dies drückt sich auch in Hasans Armutsgebot und Zurückweisung jeden Reichtums aus.49 Es handelt sich nicht nur um ein rein asketisches Verhältnis zum Armutsgebot. Hasan liefert eine quasi theologische Begründung für die Forderung, jegliche ökonomische Tätigkeit über den bloßen Lebensunterhalt hinaus zurückzuweisen. Diese Haltung einer auf bloßem Lebensunterhalt gegründeten Wirtschaftsethik – mit dem späteren Sufi-Begriff des tawwakul umschrieben – misst sich am Maß der Lebenszufriedenheit (rida; Zufriedenheit) und steht in offenem Gegensatz zu der rastlosen Heilsungewissheit der Calvinisten. Es ist wichtig anzumerken, wie sehr Ritter Hasans Forderung nach Ausgleich und Lebensbalance betont, die mit dem Erlösung heischenden Asketismus Calvins nichts zu tun hat. Hasan steht gegen jede Haltung des Interesse-geleiteten Handelns zur Mehrung des Reichtums und die damit verbundenen bösen Taten.50 Ritter verdeutlicht dies am Beispiel des Koranlesens. Für Hasan ist das Koranlesen eine aktiv organisierte Zeit der Frömmigkeit, eine Frömmigkeit der guten Tat.51 Ritters Interpretation der Theologie Hasan al-Basris zielt auf die Darstellung einer Figur, die auf frappante Art Webers Idealtyp des Calvinisten ähnelt, zugleich aber sich in entscheidender Weise von ihm abhebt. Die außerweltliche Religiosität Hasans, die auf kontrolliertes ethisches 47 Vgl. »melancholische Natur«, die der »heiteren Natur« gegenüber steht, ibid. S. 19. 48 Ritter, »Hasan«, S. 21-24. 49 Ritter, »Hasan«, S. 24-26. 50 »Wer am ersten nach dem Reiche der Ewigkeit trachtet, dem wird das Diesseits von selber zufallen, wer aber nach dieser Welt trachtet, wird beide verlieren«; Ritter, »Hasan«, S. 28. 51 »Eine höchst aktive, auf das jenseits gerichtete und die Zeit auskaufende Werkfrömmigkeit«; Ritter, »Hasan«, S. 29. 38

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Handeln zielt und in der Selbstversicherung einer inneren religiösen Haltung, orientiert an dem Weg aus der diesseitigen Welt heraus ins Jenseits, ruht, hat ganz gegensätzliche lebenspraktische Wirkungen als die innerweltliche Askese der Protestanten – obwohl sie in ihrer theologischen Begründung dieser in vielem sehr ähnelt. Hier wie da geht es um ein – entpriesterlichtes – persönliches Verhältnis des Menschen zu Gott. Während der Calvinist darin seine Haltung zum gezielten Handeln begründet, geht es Hasan um eine Haltung des Herzens52. Jenseits aller rituellen Formen der Selbstversicherung, erkennt Hasan nur die balancierende, religiös-ethische Selbstkontrolle, ja Selbstbeschränkung an (muhasaba).53 Dem Protestanten selbst aber ist aus dem Herzen gesprochen, wenn er erkennt, dass »innere Wahrheit« auch Hasans wichtigste Tugend ist. Es geht um die Ablehnung der im öffentlichen Posieren liegenden Lüge, ri´a`, um die offene Korrespondenz zwischen öffentlicher und privater oder verborgener Rede, von Innen und Außen, von innerer und äußerer Religion. Darin kann auch Ritter, der protestantische Pfarrerssohn, ein vergleichend anerkennendes Verhältnis zu Hasans Islam entwickeln. Er beschreibt die Einfachheit und Unmittelbarkeit von Hasans Forderung, den Menschen nach der Stimmigkeit ihres Tuns zu beurteilen, nicht nach ihren Worten. Große, berühmte Männer sind darin gleich, dass auch sie der Furcht vor der Vergänglichkeit und der Erfahrung der Nichtigkeit ihres oft gegensätzlichen Verhaltens unterliegen. Diese KohärenzForderung beinhaltet – das hebt Ritter hervor – aber auch eine Selbstbehauptung des Menschen in der Betonung der Lebenslust, und auch der religiöse Mensch ist nach Hasan gefordert, die guten Sitten in Essen und Kleidung zu wahren.54 Dieses subjektive Um-sich-Selbst-Kümmern, die Sorge um das eigene Leben, nicht das Ziel, Kontrolle über andere auszuüben, ist es, was Hasans Muslim von dem Protestanten Calvinscher Prägung unterscheidet. In diesem Zusammenhang verweist Ritter auf Hasans spätere Rolle als Leitfigur für die Futuwwa-Bruderschaften mit ihrer Betonung der brüderlichen Gesinnung (uhuwa) und ihrem Altruismus. Ritter weist auf die im Islam weit verbreiteten Überlieferungen hin, die Hasans Großzügigkeit und immer auch auf Gegenleistungen bedachtes Verhalten preisen, und zeigt, wie sehr sie den ethischen Diskurs im Islam beherrschen.55 In diesem Zusammenhang zeigt sich, dass Hasan nicht ohne Ironie den Munâfiq, den Heuchler, sich als einen, der sich im Wandel zwischen 52 »Es heil, in gutem Zustande zu erhalten, ist das Ziel der religiösen Selbstkontrolle«; Ritter, »Hasan«, S. 31. 53 Ritter, »Hasan«, S. 32-33. 54 Ritter, »Hasan«, S. 37-40. 55 Ritter, »Hasan«, S. 40-42. 39

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gelehrtem »Mann Gottes« und reichem »Mann der Welt« bewegt, vorstellte. Heuchler sind für ihn die ´ulamâ, die den weltlichen Reichen dienen, um sich ihr Geld anzueignen, wo doch in der islamischen Frühzeit die weltlichen Reichen den ´ulamâ dienten, um sich ihres Wissens zu bemächtigen.56 Für Ritter steht Hasan al-Basri auch als die Figur des Übergangs zwischen den Muslimen der ersten Stunde und der Ursprungsidee des Islams einerseits und den nachfolgenden Generationen andererseits. Noch ist Hasan durch das Ideal der ersten Gefolgsmänner des Propheten geprägt, sie stellen auch den Inbegriff seiner ›Frömmigkeit‹ dar.57 In politischer Hinsicht bezieht Hasan letztlich für die moralische Idee des Propheten Stellung. Er argumentiert, dass letztlich auch die Herrscher der persönlichen Beziehung zu Gott und den Dingen des Jenseits unterworfen sind, auch wenn im Diesseits Gesellschaft und Religion dem Herrscher unterworfen sind. Hasan ordnet alle menschlichen und sozialen Probleme dem Standpunkt der Religion unter. Er trennt diese säkulare Dimension der Religion aber eindeutig von der Sphäre der Politik. Für Ritter steht Hasan als ein quietistischer apolitischer Begriff der Religion. Es ist nicht Aufgabe des religiösen Menschen, sich gegen ungerechte Herrschaft zu erheben. Der Wandel kommt von Gott allein und steht »sub specie eternitatis«, er kommt durch göttliche Strafe oder Vergebung, nicht durch das Schwert.58 Ritter lässt sodann eine detaillierte Analyse von Hasans Theologie des Rechts und des Freien Willens folgen, die er mit der praktischen Haltung Hasans vergleicht. Es ist eindeutig die subjektive Haltung der religiösen Selbst-Kontrolle, mit der sich Hasan zwischen die verschiedenen politischen Strömungen seiner Zeit stellt. Diese Selbstbestimmtheit wird zu einer machtvollen Haltung des zivilen Verhaltens und der sozialen Regulierung: »sub specie eternitatis« steht der Einzelne und das ist eine zivile Alternative zu »Regierung« und »politischer Herrschaft«. Ritter zeigt andererseits Hasan als politischen Pragmatiker, dessen Einfluss auf die Herrscher groß war, scheinbar gerade dadurch, dass er wenig darauf hinarbeitete, die Entscheidungen des Herrschers an seine eigenen Ideen zu binden.59 Zusammenfassend stellt Ritter die folgenden Prinzipien und Ideen Hasans heraus, die von entscheidender Wirkung für die spätere Entwicklung der islamischen Theologie waren:

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Ritter, »Hasan«, S. 42-47. Ritter, »Hasan«, S. 47-49. Ritter, »Hasan«, S. 49-53. Ritter, »Hasan«, S. 56-64. 40

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Methode der Selbstkontrolle (bei Hasan ein religiös ethisches Moment, das später nur noch – wie Ritter meint – zur reinen Gefühlsmystik verkümmerte); Brüderlichkeit und selbst-aufopfernder Altruismus (erhält sich nach Ritter nicht nur im Sufismus, sondern auch in den FutuwwaOrden); Hasans Prinzip der Nichteinmischung in das politische Leben (das von Außen kommende »taghyir al-munkar« und das Abschwören des Schwertes wird von dem »´amr bil-ma´ruf wan-nahj ´ani lmunkar« der religiösen Bekehrung der Mu´tazila eingeholt); Hasans Typ der Qadariyya – i.e. Vorherbestimmung, ja, jedoch nicht ohne Entlassung aus der persönlichen Verantwortung (wird aufgelöst in eine rein theologische Kategorie der Dogmatik); Hasans Zurückweisung des rein ökonomischen Interesses und der weltlichen Zukunftsorientierung (wurde später zu einem großen Topos unter den religiösen Leuten in Bezug auf die religiösen Stiftungen).

Es ist hervorzuheben, wie sehr die al-Basri-Studie Ritters letztlich an der Weberthese orientiert ist. Der Frühislam mit Hasan als Leitfigur, die inneren religiösen Motive der Zeit repräsentierend, erscheint als eine dem Protestantismus nahe kommende Religion, wenn sie auch zu anderen, weltabgewandten, aber durchaus lobenswerten Lösungen kommt. Dagegen stellt sich die spätere dogmatische Entwicklung als Abfall von diesen Prinzipien und Ideen und deshalb als Niedergang dar. Ritter sieht in Hasan al-Basri den Idealtyp eines energischen religiösen Intellektuellen mit beispielhafter ethischer Spiritualität. Doch weigert sich Hasan, weltliche Politik und das Verfolgen ökonomischer Interessen als moralisch vertretbar oder gar erstrebenswert zu betrachten. Man könnte sich sehr wohl fragen, ob hier nicht auch Motive aufgegriffen und verstärkt werden, die Ritter selbst betreffen: ein konservativer protestantischer Islamwissenschaftler, der zwischen absoluter Hingabe an die Wissenschaft, neoromatischer Lebensphilosophie und den politischen Wirren seiner Zeit hin und her gerissen wurde. Ritters Freund und Lehrer, das erfolgreiche »Vorbild« Carl Heinrich Becker, hat sich früh aus der Wissenschaft in die Politik gewagt. Ein Weltmann, den es mit den politisch Mächtigen in der deutschen Sozialdemokratie nach dem ersten Weltkrieg schrittweise in die Bildungspolitik zog, und sowohl als anerkannter Orientalist und Islamwissenschaftler, als auch als Bildungspolitiker genoss Carl Heinrich Becker hohe Anerkennung. Dem reinen Wissenschaftler Ritter, dem in dieser Zeit gewissermaßen von der Politik der Boden unter den Füßen hinweg gezogen wurde, blieb nur Wissenschaft als Ideal. In der Zeit als 41

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Ritter den Basri-Aufsatz schrieb, machte er sich aber auch Hoffnungen auf den Lehrstuhl Beckers, der in Bonn verwaiste, während Becker durch den zunehmenden Machtzuwachs der Nazis aus dem Amt des preußischen Staatsministers für Bildung getrieben wurde.60 Aber Ritters ambivalent quietistisches Verhältnis zur Politik (das er in Basri wiederfindet), kann auch durch die Beziehung zu seinem älteren Bruder erklärt werden. Dieser war damals eine aufsteigende und später beherrschende Figur der deutschen Geschichtswissenschaft, dessen Erfolg so sehr mit der Politik des »neuen Reiches« verknüpft war, dass man ihn getrost als das protestantische Pendant zu dem Juristen und Staatswissenschaftler/Soziologen Carl Schmitt bezeichnen könnte. Gerhard Ritter hatte sein Lebenswerk dem historischen Diskurs über politische Theologie und Macht und dem Einfluss des Protestantismus bei der Begründung des modernen deutschen Staatswesens gewidmet. Er überlebte die Nazizeit und stand wieder als glanzvoller Doyen der bundesrepublikanischen Historie auf. Der emigrierte jüngere Bruder erscheint in der Basri-Studie eher als ein zwischen der Welt das frühen Islam und dem aufgeklärten Protestantismus hin und her schwankendes Schiff. Er war schon 1926 aus dem Amt vertrieben und gewissermaßen nach Istanbul zwangsversetzt worden, und widmet sich jetzt in den Wirren des politischen Umbruchs um 1933 der islamischen intellektuellen und moralischen Leitfigur Hasan al-Basri. Man könnte dies auch als eine zögerliche intellektuelle »Rückwanderung« vom Bosporus nach Deutschland betrachten: »neuer Geist«; »neues Prophetentum«, das gilt auch in der Basri-Studie als Kultur-produktiv. Doch verhaftet Ritters Studie ganz apolitisch in einer Beschwörung von Hasan al-Basris transzendenter Begründung von weltlicher Wahrheit, in einer inneren Kritik der »Männer der Welt«, sie gipfelt in dem unterliegenden Glauben an die reine Wissenschaft als die neue gesellschaftliche Moral. Man könnte fast meinen, dass Ritter – wie in Deutschland Stefan George – das »neue Reich« nicht unterstützt, ihm aber geistig nichts entgegensetzt. Mir scheint aus heutiger Sicht noch ein anderer Aspekt der Ritter’schen Basri-Studie wichtig. Auch hierin kommt »Rückwanderung« zum Ausdruck. Ritter betont die Verbindung von Religion und Selbstkontrolle, Selbstbeherrschung und zivile Haltung. Er macht Basri darin zu einem einzigartigen und überragenden Exemplar eines »zivilen«, ja, »zivilisierten« Islams. Das sind auch Grundlagen des modernen zivilen, ja auch des fundamentalistischen Islams, für die Hasan noch heute Gültigkeit hat. Hasans Forderung an den gläubigen Muslim, sich außerhalb des Feldes der politischen Öffentlichkeit zu bewegen und sich von den

60 Ritter, »Carl Heinrich Becker«, Der Islam, 1933. 42

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Menschen mit politischer und ökonomischer Macht zu unterscheiden, seine Theologie der Armut – das sind bleibende Themen im modernen Diskurs des Islams. Ritter weist damit auch auf innere Grundlagen für einen modernen Islam hin: Persönliche Verantwortung des Einzelnen, Selbstbeherrschung und Askese (auch wenn sie durch Entwicklungen nach Basri verloren gegangen sind) bleiben Grundlagen für einen modernen zivilen Individualismus. Ritter teilt mit Hasan al-Basri das Postulat der inneren und äußeren Wahrheit von Rede und Verhalten, das moderne Potenzial dieser Forderung liegt in der vergleichenden Perspektive: hier der »reine«, frühe Islam als kulturelle Erneuerung, dort die Protestantismusthese Max Webers.

V. Das Bild von der soziologisch inspirierten Wanderung Hellmut Ritters zwischen Ost und West über das Brücken schlagende Istanbul kann durch einen zweiten Aufsatz von Ritter ergänzt werden, der kurz vor seiner ersten Rückkehr nach Frankfurt 1948 erschien. Es handelt sich im den Eröffnungs-Aufsatz des ersten Hefts von »Oriens«, der Zeitschrift der in Istanbul von Ritter gegründeten »International Society for Oriental Research« über »Irrational Solidarity Groups«, Gruppen irrationaler Solidarität. Zwischen diesem Ibn Khaldûn-Aufsatz und der referierten Basri-Studie liegen 15 Jahre, davon 12 Jahre faschistischer Herrschaft mit 6 Kriegsjahren. Für Ritter war dies eine Zeit der aktiven philologischen Kleinarbeit, kaum eine mit Themen von umfassender sozialer oder philosophischer Bedeutung. Der Ibn Khaldûn -Aufsatz – wie Ritter zu erkennen gibt – war 1943 in Bebek, dem illustren Vorort am Bosporus – geschrieben und 1947 mit Zusätzen versehen worden. Während der Basri-Aufsatz über Religion handelte – deutlicher, sich mit der Frage, wie wirkt sich religiöse Doktrin auf soziales Handeln aus, beschäftigte – geht es im 1948 publizierten Aufsatz über Ibn Khaldûn um Macht, genauer um die Frage, was sind die bewegenden Kräfte, die an der Wurzel der historisch-politischen Prozesse liegen?61; eine Frage, die sich seit Weber deutsche Geschichts- und Staatswissenschaftler immer wieder stellten. Weber hatte auf diese Frage einst mit einer fundamental modernen Antwort reagiert: Kultur, mit ihren in den letzten Dingen wurzelnden Ideen und den sie tragenden Interessen!

61 Ritter, »Irrational Solidarity Groups«, S. 1: »What are the motive forces that are at the root of historico-political processes?« 43

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Hellmut Ritter beginnt seinen Aufsatz mit einer Replik auf ein 1940 erschienenes Werk seines älteren Bruders Gerhard über Machiavelli und Morus. Man kann Nietzsche kaum unterstellen, dass er seinen Begriff vom »Willen zu Macht« je überhaupt dezisiv auf politische Prozesse bezogen habe. Gerhard Ritter setzt aber genau den Willen zur politischen Macht als das Grundmotiv aller historisch-politischer Prozesse. Gerhard, der während des Zweiten Weltkriegs Geschichtsprofessor in Freiburg war und es auch nach Kriegsende blieb, bezieht sich nicht auf Nietzsche sondern auf Machiavelli und baut von ihm ausgehend seine These von der Verschlungenheit von »Willen zur Macht« und Ideologie auf. Interessant ist, dass die 1947 erschienene Nachkriegs-Auflage des 1940 erstmals publizierten Werkes mit einem politisch modifizierten Titel versehen wurde: Aus dem einst bekräftigenden »Machtstaat und Utopie« wurde nun kritisch die Parole »Dämonie der Macht«. Hellmut Ritter kritisiert an den Thesen seines Bruders, dass sie zu sehr auf die »wirklichen Machtinteressen« gesetzt sind, auf den politischen Erfolg desjenigen, der mit der stärksten Lebenskraft für seine »egoistischen Interessen«, »die Durchsetzung seines eignen Willens« kämpft, und der »seinen eignen Willen zur Macht« mit dem Kampf für sein eignes Anliegen verbinden kann.62 Doch er arrangiert sich mit seinem Bruder, sanft merkt er an, dass über die bloße Kampfkraft und »organisierte Gewalt« hinaus es zum politischen Erfolg auch einer weiteren, in Machiavellis virtú-Begriff an-

62 Ibid. S. 2; Zitat aus Gerhard Ritter, Machtstaat und Utopie, Vom Streit um die Dämonie der Macht seit Machiavell und Morus, München 1940. S. 32. Hellmut Ritter merkt kommentarlos an, dass der Nachkriegs-Neudruck des Buches mit einem neuen Titel versehen ist: Die Dämonie der Macht, Betrachtungen über Geschichte und Wesen des Machtproblems im politischen Denken der Neuzeit, Stuttgart, 1947. Aus dem Macht-ideologischen, wird ein potentiell Macht-kritisches Denken angezeigt. Oh Wunder des Wandels! Im Gegensatz zwischen Machiavelli und Ibn Khaldûn deutet sich eine Frontstellung der beiden Brüder an, die sicher viel über die ideengeschichtlichen Konfigurationen im konservativ-humanistischen Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aussagt: hier der nach innen instrumentalisierte, zur Macht treibende Neo-Romantizismus, dort der individualisierte, sublimierende Neo-Romantizismus, die Sehnsucht zum Anders-Sein oder das Anders-Bestimmtsein, das nach Außen Fliehende oder ins Exil Getriebene. Gerhard Ritter war maßgeblich dann an der Rückkehr und Berufung seines Bruders nach Frankfurt beteiligt. Vgl. Hammerstein, op. cit., S. 799. Der kleine »Brudermord«, der sich hier vollzieht, könnte durchaus als das Vorspiel für den Angriff auf einen anderen Förderer bezeichnet werden, auf Max Horkheimer an der Frankfurter Philosophischen Fakultät. S. o. Fn. 3. 44

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gelegten Komponente bedarf, und hebt »ethische Vernunft« und »öffentlichen Geist« hervor.63 Mit dieser Replik auf ein Werk des älteren Bruders beginnt also der Aufsatz des jüngeren, der als Orientalist fachlich an der Peripherie von Staatswissenschaft und Geschichte her operiert. Gewissermaßen vom Ort der Verbannung her argumentiert der jüngere Bruder. Seine Analyse setzt an Ibn Khaldûns Begriff der ´asabiyya (Solidaritätsgefühl) an. Der Begriff des muslimischen Geschichtstheoretikers Ibn Khaldûn (13321406), das Verschlungensein von religiösen Ideen und historischer Entwicklung einschließend, ist heute zu einem der sensitivsten Elemente im Diskurs über Islam und Moderne geworden ist.64 Ritter hebt die Ähnlichkeit zwischen Ibn Khaldûns Begriff der ´asabiyya und Machiavellis virtú hervor. Beide bezeichnen das Momentum der Intensität und der Situation als die »emotionale Komponente« der Machtbildung. Dabei ist für Ritter das Element des Zusammentreffens von Stammeszusammengehörigkeit (-solidarität) und religiöser Propaganda nicht das vorherrschende. ´Asabiyya steht bei Ritter für ein vielfach gelagertes Konzept, das Glaubwürdigkeit in der Gemeinschaft, Wille zur Verteidigung, Bereitschaft zur Selbstaufopferung, innere Geschlossenheit, gemeinsamen Willen zur Macht, nationale Leidenschaft, religiösen Fanatismus meint, kurz, alles umfasst was das »Solidaritätsgefühl« fördert. In diesem Sinne wandelt sich der Begriff ´asabiyya zu einer allgemeinen Dimension kollektiver Macht, ein Begriff, der sowohl religiös als auch ethisch beladen ist. Es verwundert daher nicht, wenn Ritter, wo er soziale Gruppen, im Zeichen der ´asabiyya stehend, meint, nicht sich unmittelbar auf die Blutabstammungsgruppen Ibn Khaldûns bezieht65, sondern auf die Solidarität der »finer natures«, von »two friends«, wo« the warm feeling of friendship« waltet. Die exklusive Freundschaft steht bei ihm im Mittelpunkt. Erst an zweiter Stelle kommt er auf die Familiengruppe zu spre-

63 Ritter, »Irrational Solidarity Groups«, S. 3. 64 Cf. Ernest Gellner, Muslim Society, CUP 1981; Aziz al-Azmah, Ibn Khaldûn , Cairo: American University Press, 1984; vgl. auch Shmuel N. Eisenstadt, »Concluding Remarks: Public Sphere, Civil Society, and Political Dynamics in Islamic Societies«, in: Miriam Hoexter, Shmuel N. Eisenstadt und Nehemia Levtzion, The Public Sphere in Muslim Societies, New York: State University of New York Press, 2002. S. 139- 162, insbes. S. 156ff.; Johann Arnason und Georg Stauth, »Civilization and State Formation in the Islamic Context: Re-reading Ibn Khaldûn« Thesis Eleven, 76, Febr. (2004). S. 29-47. Vgl. auch Georg Stauth, ´asabiyya, International Encyclopaedia of Sociology, Oxford: Blackwell 2006. 65 Ritter weist darauf gegen Ende seines Aufsatzes hin, Ritter, »Irrational Solidarity Groupps«, S. 19-20. 45

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chen66, insgesamt aber stehen die verschiedenen Arten unmittelbarer sozialer Gruppen im Vordergrund, die sich auch im modernen sozialen und professionellen Leben, über Muster der »irrationalen« Solidarität konstituieren – bis hinauf zu den nationalen und religiösen SolidaritätsZirkeln.67 Dieser Übersetzung des ´asabiyya -Begriffs in moderne Typen sozialer Solidarität folgend, kommt Ritter zu einer universalistischen Auslegung der wichtigsten Charakteristika »of a true irrational solidarity circle«.68 in der jedoch gerade die negativen Aspekte der Begrenzung universeller Werte in den strikten Bindungen einer sozialen Gruppe vorherrschen. Hier seien einige von Ritters Beispielen genannt: Gegenseitige Hilfe und Opferbereitschaft ohne Erwartung einer unmittelbaren Gegenleistung, wahrer Altruismus, kann aber auch, wenn er sich nur auf die Gruppe selbst bezieht, dazu führen, Ungerechtigkeit gegenüber Dritten zu ignorieren. Es entsteht eine Art Doppelmoral, die zur Unterscheidung innerer und äußerer Sphären der Anwendung von Regeln und des Rechts führt.69 Die positiven emotionalen Werte und Gefühlsintensität innerhalb der Gruppe können leicht in Fanatismus und Wertverlust in der Einschätzung von objektiven Dingen abgleiten. Innere Gruppengefühle können so auch zu Gefühlskälte, Indifferenz, Feindschaft, Hass und unbarmherzigem Verhalten gegenüber Dritten führen. Denn die Gruppe bestimmt, dass es keine externe Gültigkeit der Moral außerhalb des Solidaritätszirkels gibt, dessen Grenzen eben gerade durch die interne moralische Verbindlichkeit bestimmt sind.70 Während noch der ältere Bruder ganz im Sinne der herrschenden fa-

66 Ich bin nicht sicher, ob ich hier zu einseitig interpretiere – wie Leopoldo Waizbort anmerkt. Ritter fängt in der Tat »mit der Gesellschaft zu zweien« an, und »nimmt den Weg von kleineren zu größeren Verbindungen«, doch hier liegt zunächst Ibn Khaldûn und nicht Simmel nahe, und es hätte wohl einigen interpretatorischen Aufwand erfordert, Ibn Khaldûn s ´asabiyya so unmittelbar und an erster Stelle auf das Gefühl der feineren Naturen, zweier Freunde etc. hin auszudeuten. Ritter entscheidet sich hier instinktiv für die Rang betonende Reihung, der Geist der exklusiven Freundschaft zuerst! 67 Ritter, »Irrational Solidarity Groups«, S. 4-7. »(A)ssociations mostly of male individuals who are bound together not by obligation based on legal contract, but by the feeling of their normal duty to help to each other and to stand by each other, a feeling generally combined with a proud consciousness of strength«, S. 5. 68 Ritter, »Irrational Solidarity Groups«, S. 7. 69 Ritter, »Irrational Solidarity Groups«, S. 10. 70 Ritter, »Irrational Solidarity Groups«, S. 11-13. 46

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schistischen Politischen Theologie, das Reich des Politischen und der Politiker allein als durch Freund-Feind-Bestimmungen definiert sieht, in denen ethische Gesetze ihre autonome Gültigkeit verlieren, argumentiert Hellmut Ritter, der Orientalist, dass das soziale Feld der Macht, auch von der Verantwortung gegenüber der irrationalen Solidaritätsgruppe – Verantwortung also auch nach außen – geprägt sein müsse. Diese politische Verantwortung ergebe sich auch aus der Stellung des Politikers als Exponent und als Begünstigter durch die Gruppe.71 Die für Hellmut Ritter, den Orientalisten, tragische Freund-Feind-, Insider-Outsider-Bewertung in den irrationalen Solidaritätsgruppen hat durchaus ihren moralischen Grund, so Ritter anerkennend, doch die absolute Trennung in gut und schlecht, gerecht und ungerecht, kann ein schweres Hindernis sein, objektives Wissen zu entwickeln. Darin liegt vor allem die Kritik an den Thesen seines Bruders über Machiavelli.72 Den Solidaritätsbegriff weiter reflektierend zeigt Ritter auf, wie über ihn sich in unterschiedlichen Graden vermittelnde Stärke zugleich auch in Aggression, Rachezüge und Krieg umschlagen kann. Hier weist Ritter auf die Geschichte der Araber und des Islams hin, die Führerschaft Muhammads und ´Umars während der Eroberungszüge. Er spricht von »reiner«, nicht von »irrationaler« Solidarität. Doch zeigt er auch, wie Solidarität trotz ihrer großen legitimen sozialen Funktion oft sich auch mit weniger noblen Intentionen und Motiven vermischen kann. Einer klassischen Gegenüberstellung der Zeit folgend, sieht Ritter »Interessen« da am Werk, wo reine Gefühle im wirklichen Leben rar werden. Auf Ibn Khaldûn zurückkommend, zeigt Ritter, wie das Solidaritätsgefühl sich im praktischen Leben konstituiert: Blutabstammungsgruppen, unmittelbare soziale Interaktion, Reziprozitätsbindungen, Berufsgruppen, Nachbarschaften. In diesem Kontext ist ihm durchaus bewußt, wie sehr Abstammungsgruppen vorgestellt, ja ideologisch konstituiert sein können, und wie sehr gerade der subjektive Glaube an die gemeinsame genealogische Abstammung den Zusammenhalt der Gruppe befördern kann: Den religiösen Bruderglauben im Islam erklärt er am Beispiel von Goldzihers Unterscheidung zwischen einer Periode der Stammeskämpfe in der Omayyaden-Zeit und der überragenden Bedeutung der religiösen Ideologie in der frühen Abbasiden-Zeit und ihrer Funktion für die Integration der nicht-arabischen Völker. Irrationale Solidaritätsmuster erkennt Ritter aber auch auf der Ebene gemeinsamer Erziehung oder in der kämpferische Solidarität unter Gründergenerationen gegenüber ober-

71 Ritter, »Irrational Solidarity Groups«, S. 14-15. 72 Ritter, »Irrational Solidarity Groups«, S. 15. 47

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flächlichen Haltungen der Nachfolge-Generation, die oft von strategischen Einzelinteressen beherrscht scheinen.73 Ritters soziologisch aufgeladener Überblick über mögliche Konstitutionsformen der Irrationalität hat einen »orientalischen« Begriff zur Grundlage: dem ´asabiyya-Begriff Ibn Khaldûns, der durch die Arbeiten von Ayad74 and Rosenthal75 wieder an Aktualität gewonnen hatte. Von diesem Begriff ausgehend blickt er keineswegs auf Entwicklungen in der orientalisch islamischen Geschichte, sondern er richtet die Perspektive nach Westen. Im vergleichenden Rückgriff auf die Machiavelli-Interpretation seines älteren Bruders und das virtù-Konzept will er nun europäische Geschichte und das – es nie beim Namen nennend – faschistische Vorspiel zum Zweiten Weltkrieg ansprechen. So sehr hier Weltoffenheit und begriffliche Universalität – gerade gegenüber dem Orient – eine Rolle spielen, so sehr lassen sich die apologetischen Momente gegenüber der kriegsinitiierenden Irrationalität nicht verleugnen. Weltoffenheit verbirgt sich hinter einem uneingeschränkten begrifflichen Positivismus, der virtù/´asabiyya in zeitlose Begriffe von den eigentlich bewegenden Kräften der Geschichte, von kultureller Erneuerung, und zugleich von Instinkt-geleiteter menschlicher Nähe überträgt. Allerdings, im Gegensatz zur mono-kausalen Machperspektive eines Gerhard Ritter versucht Hellmut Ritter mit Ibn Khaldûns Geschichtstheorie im Hintergrund aufzuzeigen, dass letztlich nur Vernunft und das Regime einer übernationalen, universellen moralischen Kraft ein wirkliches Gegengewicht zu den destruktiven und negativen Wirkungen der irrationalen Solidarität möglich machen.

VI. Der erste der hier herangezogenen Aufsätze, 1933 geschrieben, greift einen frühen islamischen Theologen auf und spiegelt ihn in Termini wider, die denen von Max Webers Darstellung Calvins gleichen. Es geht um die soziale Wirkung religiöser Ideologen und Ideen. Ohne die Calvinismus-These Webers explizit zu nennen, stellt Ritter auf das Wirkungselement des absoluten Gottesbegriffs ab, den Gott, der im frühen Islam wie im Calvinismus jenseits menschlichen Begreifens und Einflusses 73 Ritter, »Irrational Solidarity Groups«, S. 26. 74 M. Kamil Ayad, Die Geschichts- und Gesellschaftslehre Ibn Halduns (Forschungen zur Geschichts- und Gesellschaftslehre, 2. Heft), Stuttgart 1930. 75 Erwin Rosenthal, Ibn Khaldûn s Gedanken über den Staat. Ein Beitrag zur Geschichte der mittelalterlichen Staatslehre (Beiheft 25 der Historischen Zeitschrift), München und Berlin 1932. 48

HELLMUT RITTER IN ISTANBUL – MIGRATION UND SPIRITUELLER ›ORIENTALISMUS‹

sich bewegt. Hasan al-Basris islamischer Begriff ist aber nicht nur Gottesangst, in der auch eine Form der moralischen Verantwortung des Einzelnen ruht, sondern ebenso ein Begriff des absoluten Willens für Gott und das Jenseits, der das Selbst als auf außerweltlicher Autonomie basierend konstituiert. Was aber kann der moderne Mensch mit dieser Jenseits-Willkür anfangen? Diese Frage stellt Ritter nicht, und er zeigt auch nicht auf, wie solche Ideen in sich weiter hätten entwickelt werden können, er zeigt nur, wie sie von der späteren Orthodoxie verfälscht und verraten wurden. Der Aufsatz von 1948 dagegen handelt über den ganz weltlichen Willen zur Macht, und aus Sicht der Nachkriegszeit behauptet er die Notwendigkeit, diesen durch religiöse Moral und Vernunft zu bändigen. In beiden Arbeiten schlingern die Argumente Ritters ambivalent zwischen kritischen und unkritischen Zugriffen auf das Zusammenspiel von Religion und Macht daher. Die Ambivalenz ergibt sich erst vollends durch Ritters Versuch, positivistisch die universelle Bedeutung konkreter Begriffskonstellationen sinnfällig, ja verbindlich zu machen: hier Grundkategorien des europäischen religiös begründeten Individualismus, dort die ›orientalische‹, säkulare Absolutsetzung unmittelbarer instinktgeleiteter Sozialität, die freilich den Zwang zu religiöser Korrektur in sich birgt. Am Start seiner neuen Karriere in Frankfurt 1948 steht das neue Europa nach dem Faschismus – und mit ihm die Frage, irrationalen Willen zur Macht durch Vernunft und Moral zu bändigen – offensichtlich im Zentrum des Interesses. Auch hier schöpft der Orientalist aus der begrifflichen Erfahrung in der Welt des Orients: Ibn Khaldûns ´asabiyya. Noch 1933, mit der fachlichen Aussicht den Bonner Lehrstuhl Ritters zu gewinnen, war es um die soziale Wirkung (Sprengkraft) religiöser Ideologie gegangen. Hier wird eine innere protestantische Besinnung identifiziert, die im Islam gewissermaßen unvollkommen bleibt, weil nur außerweltlich orientiert. Er setzt sich mit der frühislamischen Theologie Hasan al-Basris auseinander so als sollte sie uns helfen (notwendige) ideologische Absolutsetzungen zu verstehen, und zugleich kritisch anzuzeigen, wie sie weltliche Vernunft verhindern kann. 1948 nimmt er sich die Solidaritäts-Theorie eines arabischen, muslimischen Denkers vor, einerseits geht es ihm um ein wichtiges Konzept, worin die universelle soziale und so auch moderne Bedeutung irrationaler Solidaritätsgruppen zu verstehen ist. Andererseits aber scheint es, als nehme er sich Ibn Khaldûn vor, um den Faschismus erklären zu helfen. Im analytischen Habitus aber unterscheiden sich die beiden Aufsätze grundlegend: Die Interpretation von Leben und Werk des Hasan al-Basri zielt auf ein tiefes einfühlendes philologisches Verständnis der dogmatischen Entwicklung im Frühislam. Ibn Khaldûn und ´asabiyya im zweiten Aufsatz erscheinen als soziologische Begriffe der schicksalhaften Kraft

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auch moderner Irrationalität. Ja, zusammenfassend spricht er programmatisch von den rationalen Potentialen der »integration of the individual solidarities (of states) into a super-national solidarity rooted in the heart of man«.76 Dies stellt gewissermaßen eine neue universalistische Wende des Diskurses dar: Der islamwissenschaftliche Orientalist spricht von einer neuen internationalen Gemeinschaft der Gelehrten als dem korrektiven Moment der historischen Vernunft. Man kann beiden Aufsätzen eine gewisse soziologische und politische Aktualität nicht absprechen. Hasan al-Basris zivile Religion funktioniert als korrektives Element gegenüber absoluter weltlicher Herrschaft (obwohl sie ja doch den Makel des Quietismus birgt). Ibn Khaldûn erscheint als der islamische Theoretiker, der uns die Notwendigkeit zu Vernunft und Fortschritt im menschlichen Wissen im Umgang mit irrationaler Solidarität vermittelt. Im ersten Aufsatz überwiegt die Perspektive von West nach Ost: im Fingerzeig auf private Religion, die sich in Weltlichkeit und Öffentlichkeit umsetzen müsste. Im zweiten Aufsatz wendet sich die Perspektive von Ost nach West im Zusammenhang von irrationaler Solidarität und Macht. Gedeutet wird auf eine – im Osten verankerte – universelle Bedingung der Politik, die der Korrektur der Vernunft bedarf. In beiden Aufsätzen wird aus der Position der – fachlichen wie ideengeschichtlichen – Marginalität auf das Zentrum hin argumentiert, auf kulturelle Grundlagenerneuerung für welthistorische Entwicklung.

VII. Ritters subtile intellektuelle Migration zwischen ›Istanbul und Europa‹ – ich habe mich hier ganz auf das Soziologische und das heißt begrifflich Offensichtliche gestützt – zeigt 1933 einen unpolitischen »Fach-Migranten«, der mit seiner neuen Residenz im Orient auch seinen wissenschaftlichen Gesichtskreis erweitert und seine Reputation erhöht. Mit seinem ambivalenten Aufsatz, auf Rückkehr in den Wirren der Zeit gerichtet, distanziert er sich nur sehr indirekt vom nationalsozialistischen Deutschland, er bleibt im Fach: eine Studie zum Frühislam aus der man entnehmen kann, dass ein protestantischer Religionsbegriff nebst der von ihm inspirierten zivilen Religion sich – trotz aller außerweltlichen Heilslogik – einem despotischen Gouverneur, dem zur Zeit Hasans, genauer von 694-714 den Iraq regierenden Hajjâj, gleichsam widersetzen und doch mit ihm leben kann. Der indirekte sublime Sprachhabitus ruht auf einer einfachen Denkfigur, die Parole lautet: An dem, was der »orientalische«

76 Ritter, »Irrational Solidarity Groups«, S. 42. 50

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Protestantismus im Frühislam falsch gemacht hat, kann der moderne Protestantismus eine Menge lernen! Anders verhält es sich mit dem Aufsatz von 1948 (von dem man eigentlich nicht so recht weiß, warum Ritter an einer öffentlichen Darlegung interessiert ist, dass der Aufsatz bereits 1943 geschrieben und jetzt erst noch ergänzt und erweitert worden ist, aber um welche Teile, welche Thesen?). ´Asabiyya ist ein Konzept »orientalischer« Geschichts- und Gesellschaftstheorie, das Ritter auf Deutschland, Europa, den Westen, die ganze Welt hin ausdeutet. Die anthropologische Verfassung bedingt die irrationale Solidarität als Wille zur Macht. Sie bedarf aber – auch das eine aus dem Orient gewonnene Parole – der Korrektur durch Moral und Vernunft. Aus der Sicht des geläuterten Konservativen bleiben »irrational solidarity« und »virtú« in der modernen Demokratie die primären Bewegungskräfte des Politischen. Wie die Machtformation, so ist aber auch die Notwendigkeit ihrer Korrektur universell angelegt. Das ist die aus dem Orient nach Europa gewendete Sicht: Es sind solche Mischungen und kulturüberschreitende Begriffserweiterungen, die zum bestimmenden Element in Ritters Ost-West-Philosophie werden. Die intellektuelle Migration des Orientalisten zwischen Istanbul und Europa – immer auch im altphilologischen Hellenentum verstrickt – hebt Ritters »Orientalismus« auf eine höhere Ebene der Suche nach Begriffen von neuer, universellen Kultur. Hier verbindet Ritter seinen konservativen Hellenismus mit der universalistischen Gelehrtenhaltung des geläuterten Deutschen. In einem Vortrag über »Sufismus« in Oxford und Cambridge 1952 gehalten, sagt Ritter: It is the task of a science which deals with man, with his religious feelings and philosophical ideas, to listen to people far off in space and time, and to try to understand their ideas. We study these subjects in order to get out of the narrowness of our own world, in order to see how men of other countries and ages have struggled for the solution of problems and endeavoured to overcome the troubles, conflicts and affiliations which mankind has to face and will have to face in every place and at every time.77

77 Helmut Ritter: »Muslim Mystics Strife with God«, Oriens, 5 (1952). S. 115ff.; S. 15: »Es ist die Aufgabe einer Wissenschaft, die sich mit dem Menschen beschäftigt, mit seinen religiösen Gefühlen und philosophischen Ideen, Leuten zuzuhören, die in Raum und Zeit weit weg sind, und zu versuchen ihre Ideen zu verstehen. Wir studieren diese Subjekte, um aus der Enge unserer eigenen Welt herauszukommen, um zu sehen, wie Menschen anderer Länder und Zeitalter nach Problemlösungen gerungen haben, und wie sie sich vorgestellt haben, die Krisen, Konflikte und Anfechtungen zu überwinden, denen der Mensch überall und zu jeder Zeit begegnet.« (GS) 51

TRAUGOTT FUCHS ZWISCHEN EXIL UND WAHLHEIMAT AM BOSPORUS. MEDITATIONEN K L A S S I S C H E N B I L D - U N D T E X T MO T I V E N

ZU

MARTIN VIALON He came here A suitcase in each hand February 1934 Following a Jewish professor Joining an emigré circle Whose labour was welcome at the time. […] And the poems Neatly catalogued unbound Diligently hidden, but at the last unburned Flimsy sheets struck Or double struck By the heavy keys of a typewriter So poignantly of its time. […]1

K ü n s t l e r p a t h o g r ap hi e , V e r hä l t n i s v o n Heimat und Exil Die vorangestellte Hommage deutet an, dass der Name Traugott Fuchs und sein künstlerisches Werk einem kleinen Kreis von Literatur- und Kulturwissenschaftlern sowie noch lebenden Freunden und Schülern in der Türkei und Deutschland bekannt ist.2 Aber Fuchs’ Nachlass, der unter anderem annähernd 450 Gedichte, 200 Ölgemälde, mehrere tau1

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Fiona Tomkinson: Traugott Fuchs [2004], in: DG. The Dirty Goat, edited by Elzbieta Szoka and Joe W. Bratcher III, Austin (Texas): Host Publications 2005, S. 174-177, hier: S. 174f. Präsentationen von Fuchs’ malerischem Werk wurden an folgenden Orten gezeigt: Deutsche Welle, Köln: 26. 5.-15.6.2001; Deutsch-Amerikanisches Institut, Heidelberg: 2.-21.11.2001; Gesellschaft für bildende Künste/Universität Trier: 10.1.-8.2.2003 und Europäische Kulturtage Istanbul 2004/ Literarische Gesellschaft Karlsruhe: 21.4.-31.5.2004. 53

IDEEN: SKIZZEN, VERNETZUNGEN UND WEITERFÜHRUNGEN

send Zeichnungen und ebenso viele empfangene Antwortbriefe von Verwandten, Schülern und namhaften Weggefährten wie Leo Spitzer, Erich Auerbach, Hans Marchand, Liselotte und Herbert Dieckmann oder Hellmut Ritter verzeichnet, ist noch nicht katalogisiert. Ebenfalls haben sich zahlreiche Übersetzungen von Gedichten und Prosatexten der modernen Schriftsteller Faruk Nafiz Çamlibel, Nazim Hikmet, Orhan Veli, Sabahattin Eyubo÷lu und Sait Faik erhalten. Fuchs’ noch nicht publizierte Übersetzungsleistung belegt, dass er die türkische Sprache beherrschte und ein starkes Interesse für deren literaturgeschichtliche Entwicklung hegte. Ungeachtet dieser quantitativen und qualitativen Fülle ist seine Hinterlassenschaft den sogenannten minores, der vergessenen Reihe ins Exil vertriebener deutschsprachiger Künstler und Wissenschaftler, zuzuordnen. Der Zugang zu seinem Werk wird gleichwohl dadurch erschwert, indem Fuchs infolge eingebildeter Minderwertigkeit unter seiner Begabung litt,3 aber nichtsdestoweniger sein Kunstwollen als Bildungsprozess innerer Selbsterfassung über den Ausstellungs- und Veröffentlichungswert seiner Arbeiten stellte. Wie viele andere Künstler der Neuromantik, war er in den Kampf des Apollinischen und Dionysischen Kunstideals verstrickt. Friedrich Nietzsche zufolge befinden sich diese beiden bildnerischen Kräfte mit den unbildlichen im Konflikt, das heißt, dass sie »ohne Vermittlung des menschlichen Künstlers«4 als zwei sich befehdende Kunsttriebe hervorbrechen. Aus dem Bestreben, diese innere Anspannung zwischen Traum- und Rauschwelt auszugleichen, kann sich eine pathologische Symptomatik entwickeln. Und zwar als Leidensprozess im Sinne einer Gemütserkrankung oder Neurose, die Nietzsche als eine nur dem Künstler angehörige »Neurose der Gesundheit«5 bezeichnet: das Ingenium muss gewissermaßen leiden, um aus diesem Prozess heraus seine Werke zu schaffen. Auch für Hugo Ball, der ein Zeitgenosse von Fuchs und Nachfahre Nietzsches auf dem Gebiet der Künstlerpathographie war, ist die Neurose längst kein Einwand mehr gegen ein Werk und seinen Verfasser. Im Gegenteil, sie kann als ein Beweis der Echtheit und Wahrhaftigkeit eines Werkes und eines Menschen gelten und man sollte sie

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Dieser Aspekt ist mehrfach Gegenstand seiner Korrespondenz mit Leo Spitzer [1926-1960], der ihn immer wieder dazu anregte, sein künstlerisches Talent weiter auszubilden. Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie [1872], in: Ders.: Kritische Studienausgabe. Herausgeben von Giorgio Colli und Mazziono Montinari, Bd. 1, München, Berlin, New York: Deutscher Taschenbuchverlag/Walter de Gruyter 21988, S. 9-156, hier: S. 30. Ebd., S. 16. 54

TRAUGOTT FUCHS ZWISCHEN EXIL UND WAHLHEIMAT AM BOSPORUS

daher als das Symptom einer künstlerischen Veranlagung betrachten.6 Dass in der besonderen Sensitivität des Künstlers nicht seine Unvollkommenheit zu betrachten sei, sondern das erstrebenswerte Ziel selber ausmacht, wurde ebenso von Edgar Zilsel in einer wissenschaftshistorischen Analyse des Geniebegriffs dargestellt. Denn wer nicht von starken Affekten, Gefühlen und Idiosynkrasien heimgesucht wird, verfügt nicht über die innere Erfahrungswelt, aus welcher sich der Genius konstituiert, um mit dem Individuellen und Substantiellen der künstlerischen Persönlichkeit noch enger zusammenzuwachsen.7 Obschon Fuchs’ Persönlichkeit ein passioniert künstlerisches Ausdrucksbedürfnis zugrunde liegt, ist unter rezeptionsgeschichtlichem Aspekt festzustellen, dass ein nur teilweise veröffentlichtes,8 daher nur bedingt bekanntes Oeuvre vorliegt, welches bisher nicht vollständig gesichtet und ästhetisch bewertet werden konnte.9 Gerade weil Fuchs ohne Rücksicht darauf, ob es ihm oder anderen Gewinn bringt, sich selbst mit Ernst und Fleiß entwickelt hat, kann es mir nicht darum gehen, ihn als bildenden Künstler und Dichter zu kanonisieren. Stattdessen werde ich zunächst im Kontext der Biogra6

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Vgl. Hugo Ball: Der Künstler und die Zeitkrankheit [1926], in: Ders.: Ausgewählte Schriften. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Hans Burkhard Schlichting, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 11988, S. 102-149. Ball postuliert, dass die moderne Gesellschaft sich durch neurotische Strukturen auszeichnet und der gesundheitsbezogene Normbegriff ganzer Jahrhunderte fragwürdig erscheine. Dass dieses Pathologiekonzept als Instrument zur Interpretation literarischer Texte anwendbar ist, bezeugt Matthias Bormuth: Der Suizid als Passionsgeschichte. Zum Fall der Lisbeth Cresspahl in den »Jahrestagen«, in: Johnson-Jahrbuch (12) 2005, S. 175-196, indem es mit demjenigen von Karl Jaspers verbunden wird, um die psychische Desorientierung von Johnsons Romanfigur kenntlich zu machen. Vgl. Edgar Zilsel: Die Geniereligion. Ein kritischer Versuch über das moderne Persönlichkeitsideal, mit einer historischen Begründung [1918]. Herausgegeben und eingeleitet von Johann Dvorak, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 11990, S. 124-158, hier: S 136f. In der Türkei wurden zwei Auswahlkataloge zu seinem malerischen Werk veröffentlicht: Traugott Fuchs: Çorum and Anatolian Pictures, Istanbul: Bo÷azici University Printing Office 1986 und Süheyla Artemel/Nedret Kuran Burço÷lu (Hg.): Traugott Fuchs: Ein in der Türkei verbrachtes Leben, Istanbul: CECA Yayinlari 1995 (Katalog der Ausstellung, die im Deniz Müzesi Istanbul vom 18. – 30. 4. 1995 stattfand). Vgl. Anne-Marie Bonnet: Et in Arcadia ego?, in: Hermann Fuchs (Hg.): Bilder der Sehnsucht. Traugott Fuchs – ein Leben am Bosporus, Köln: A. Ohlig [o.J.: 2001], S. 16-23, die einen ersten Versuch unternahm und Fuchs’ Motivwahl als eine dem Süden zugehörige klassifizierte. 55

IDEEN: SKIZZEN, VERNETZUNGEN UND WEITERFÜHRUNGEN

phie die Freundschaft mit Hermann Hesse beleuchten, den Beginn seiner künstlerischen Arbeiten rekonstruieren sowie anhand von ausgewählten Gedichten und Umdichtungen exemplarisch darlegen, wie sich das Verhältnis von Heimat und Exil als Teil seiner Selbstentwicklung gestaltet. Mein ikonographisch und stilkritisch ausgerichteter Ansatz beabsichtigt ferner eine Annäherung an das bei Fuchs vorherrschende romantische Sehnsuchts- und Naturmotiv herzustellen. Dabei wird evident, dass sich beide Motive durch den literaturgeschichtlich geschulten Blick eines ausgebildeten Philologen ausdrücken. Die erfahrene Wahrnehmung der orientalischen Kultur- und Erscheinungswelt erlangt eine ganz eigenständige ästhetische Verwandlung, nämlich eine Transformation, die sich aus klassischen Stoffen der griechisch-römischen Antike sowie der modernen europäischen und türkischen Dichtung konstituiert. Freundschaften sind für das Leben und Überleben im Exil ein existentieller Bestandteil. Dem Medium des Briefes fällt dabei eine besondere Rolle zu, da er sich als intime und diskrete Mitteilungsform eignet, auf das Gegenüber einzugehen und in Krisensituationen zu intervenieren. Exemplarisch wird diese persönliche Funktion in einem vollständig wiedergegebenen Brief von Erich Auerbach hervorgehoben, der sich vordergründig auf die geschichtsphilosophisch interpretierte politische Situation der Zeit bezieht und die drängenden Fragen, die Fuchs’ latente Inversionsproblematik auslösen, abwehrend behandelt; ganz anders ist die Diskussion der Homosexualität später konkreter Anlass eines Briefes von Leo Spitzer, indem dieser durch praktische Vorschläge verdeutlicht, wie das Schuldgefühl durch ein aktives Bekenntnis zur homosexuellen Disposition zu überwinden sei. Auf der ästhetischen Ebene zeigt sich bei Fuchs eine aktive Verarbeitung, die in eigenen Gedichten und in der Variation eines George-Gedichtes angedeutet ist. Für das spezifische Verständnis von Fuchs’ in Istanbul entstandener Kunstwerke wird der Exil- und Heimatbegriff Jean Amérys herangezogen. In dem literarisch-philosophischen Aufsatz »Wieviel Heimat braucht der Mensch?« – einem Text, in der Essaysammlung Jenseits von Schuld und Sühne10 veröffentlicht – definiert Améry das Exil durch den 10 Jean Améry: Wieviel Heimat braucht der Mensch? in: Ders.: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten [1966], Stuttgart: Klett-Cotta 21980, S. 74-101. Améry zählt zu den Opfern des Naziterrors; nach der Verhaftung als Mitglied einer kommunistischen Widerstandsgruppe im Juli 1943 überlebte er Auschwitz und veröffentlichte seit 1955 literarisch-philosophische Essays; sein Werk erscheint gerade in einer Neuedition und erfährt durch den von Matthias Bormuth und Susan Nurmi-Schomers herausgegebenen Band Kritik aus Passion. Studien zu Jean Améry, Göttingen: Wallstein Verlag 2005 eine aktuelle Rezeption. 56

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Verlust der Muttersprache, wodurch sich eine Selbstentfremdung ergibt. Der Exilierte fühlt sich von seiner Vergangenheit abgeschnitten und erkennt nicht mehr, wer er eigentlich ist und was seine neue Identität ausmacht. Komplementär dazu bedeutet Heimat ein Gefühl der Sicherheit, welches sich in der Kindheit und Jugend aus der Dialektik von Kennen und Erkennen und Trauen und Vertrauen herausbildet: »Die Heimat ist das Kindheits- und Jugendland. Wer sie verloren hat, bleibt ein Verlorener, und habe er es auch gelernt, in der Fremde nicht mehr wie betrunken umherzutaumeln, sondern mit einiger Furchtlosigkeit den Fuß auf den Boden zu setzen.«11 Der Betroffene wird zwar in eine jeweils eigentümliche Konstellation der Kulturgeschichte hinein geboren, aber in der besonderen Exilsituation hat er sich psychologisch den inneren Prozess zu vergegenwärtigen, dass ein mentaler Heimatverlust eintreten kann, wenn sich durch die neuen Lebensbedingungen räumlich eine Entfernung von der einst vertrauten Umgebung und Vergangenheit herstellt. Der Verlust von Heimat wird bei Améry aber auch mit der intellektuell inspirierenden Erfahrung der Fremdheit aufgewogen, indem sie dem Entrückten positive Anregungen zu geben vermag: Man kann unter Umständen in einem fremden Land so ›zu Hause‹ sein, daß man am Ende die Fähigkeit besitzt, die Menschen nach ihrer Sprache, ihren Gesichtszügen, ihren Kleidern sozial und intellektuell zu situieren, daß man Alter, Funktion, wirtschaftlichen Wert seines Hauses auf den ersten Blick erkennt, daß man die neuen Mitbürger mühelos anschließt an ihre Geschichte und Folklore. Es wird aber gleichwohl auch in diesem günstigen Fall für den Exilierten, der schon als erwachsener Mensch ins neue Land kam, der Durchblick durch die Zeiten nicht spontan sein, vielmehr ein intellektueller, mit einem gewissen geistigen Müheaufwand verbundener Akt.12

Bezogen auf Traugott Fuchs, der im Alter von 28 Jahren in die Türkei kam und insgesamt 63 Jahre in Istanbul lebte, wird sich herausstellen, dass mit diesem ineinander verflochtenen Begriff von Heimat, Fremde, Erinnerung und Exil das Assoziationsfeld von Glück, Leid, Erfüllung, Einsamkeit, Unendlichkeit und Transzendenz verbunden ist, welches als Gefühls- und Stimmungslage sprühender Bilderfunken in seinen Arbei-

Der Beitrag von Stephan Steiner: Erinnern und Leben. Versuch zum Ort des Erinnerns bei Jean Améry (S. 27-40) entwickelt ein produktives Verständnis von Amérys nicht-konservativem Heimatbegriffs, indem dargelegt wird, dass sich in diesem Konzept vielmehr die »Grundbedingungen menschlichen Seins in der Welt« (S. 34) reflektieren. 11 Améry: Jenseits von Schuld und Sühne (Anm. 10), S. 84. 12 Ebd., S. 83. 57

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ten freigesetzt wird. Das anfangs notgedrungen auf sich genommene Exil verwandelt sich schrittweise in eine Wahlheimat, das heißt in einen wortund farbenprächtigen inneren Phantasie- und Bildraum, indem sich Fuchs’ Imaginationen in der klassischen Formel »ut pictura poesis: erit quae, si propius stes, te capiat magis, et quaedam, si longius abstes«13 ausdrücken. In diesem Sinne hat er in beiden Genres als künstlerische Mehrfachbegabung gewirkt, womit der Heimatverlust als Grunderfahrung des Exils zwar präsent bleibt, aber als Chiffre einen neuen Ort der künstlerischen Lebensgestaltung erfährt. Hinsichtlich der Poesieauffassung des Horaz ist hinzuzufügen, dass der Gehalt eines Gedichtes oder Gemäldes nicht bloß das Kennzeichen individueller Regungen und Erfahrungen ist, sondern dass diese erst als künstlerisch betrachtet werden können, wenn sie vermöge ihrer ästhetischen Form Anteil am gesellschaftlich Allgemeinen gewinnen.14

W e r w ar T r au g o t t F u c hs u n d w ar u m k a m e r i n d i e T ü r k e i ? Als Sohn eines protestantischen Pfarrers wurde Traugott Fuchs am 23. 11. 1906 in Lohr im Elsass geboren und verbrachte seine Kindheit bis zum Ende des Ersten Weltkrieges im lothringischen Metz. Der erste Bruch mit der Heimat erfolgt, wie Fuchs in seinem autobiographischen Text Lebenslauf bemerkt, mit der »Einwanderung« ins thüringische Schmalkalden, wo sein Vater eine Pfarrstelle an der Stadtkirche Sankt Georg übernahm: Als der Krieg vorbei war, wurde Elsass-Lothringen, unser Heimatland, franzö-

13 Quintus Horatius Flaccus: Epistula ad Pisones. De arte Poetica/Brief an die Pisonen. Über die Dichtkunst [18 v. Chr.]. Übersetzt und mit einem Nachwort herausgegeben von Eckart Schäfer, Stuttgart: Reclam Verlag 1984, S. 26: »Eine Dichtung ist wie ein Gemälde: es gibt solche, die dich, wenn du näher stehst, mehr fesseln, und solche, wenn du weiter entfernt stehst.« 14 Vgl. Theodor W. Adorno: Rede über Lyrik und Gesellschaft [1957], in: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. 11, hrsg. v. Rolf Tiedemann, Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, S. 49-68, hier: S. 55ff. Adorno skizziert, dass die vom Künstler geschaffene Wirklichkeit eine fiktive sei, die eine andere Wirklichkeit immer nur antizipieren könne; nur der versteht, wer im Kunstwerk die Einsamkeit der Stimme vernimmt, die von der individualistischen Gesellschaft vorgezeichnet ist, wie umgekehrt die allgemeine Verbindlichkeit von der Dichte des Individuellen lebt. 58

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sisch. Obwohl unsere Mutter und wir das Recht hatten zu bleiben und Franzosen zu werden, mussten wir doch unserem streng preussisch gesinnten Vater folgen, der uns zweimal getauft hatte: einmal religiös in der Kirche, und einmal patriotisch zuhause, indem er das Kind auf den Schultern im Zimmer herumtanzte und dabei die preussische Nationalhymne sang, ›ich bin ein Preusse, kennt ihr meine Farben‹, und verliessen unser liebes Metz. Unsere Rückkehr nach Deutschland war eine Einwanderung, wobei unsere Herzen den Abschied tief bedauerten und unter dem Verlust eines nie aufgewogenen Heimatgefühls litten. Der Vater weinte, als wir über die Kehler Brücke fuhren. Wir liessen uns in Schmalkalden nieder.15

Dort hatte Fuchs das Abitur 1925 abgelegt und studierte danach Germanistik und Romanistik in Berlin, Heidelberg und Marburg. Aufgrund seiner ausgezeichneten französischen Sprachkenntnisse, die er sich heimlich im Elsass aneignete, wurde er von Leo Spitzer als Assistent seit 1929 beschäftigt. Die Universität Marburg war zu dieser Zeit ein Mekka der deutschen Geisteswissenschaft und hatte Gelehrte wie Rudolf Bultmann, Ernst Robert Curtius, Martin Heidegger, Karl Löwith, Richard Krautheimer, Erich Frank, Werner Krauss, Hans Georg Gadamer und den jungen Erich Auerbach angezogen, der von Spitzer 1930 habilitiert und im gleichen Jahr dessen Nachfolger wurde. Fuchs wechselte indessen mit seinem akademischen Mentor Spitzer an die Universität Köln, wo dieser eine Berufung angenommen hatte, um das Institut für Romanische Philologie und ihm angeschlossene Petrarca-Institut aufzubauen. Im April 1933 initiierte Fuchs eine mutige Protestaktion an der Kölner Universität, die sich gegen die Entlassung seines jüdischen Lehrers aus dem Hochschuldienst durch die Nazis richtete und wird daraufhin für kurze Zeit von der SA verhaftet.16 Spitzer hatte inzwischen – vermittelt über die Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler – das Angebot erhalten, an der neu gegründeten Istanbul-Universität den Lehrstuhl für moderne europäische Literaturen zu übernehmen. Er emigrierte im Herbst 1933, und ihm folgte etwas später Traugott Fuchs, der in seinem Lebenslauf zu dieser wichtigen Lebensentscheidung folgendes bemerkt: Als ich durch einen Telephonanruf durch Professor Auerbach, den Verfasser der ›Mimesis‹ und Spitzers Nachfolger in Marburg, und auch in Istanbul, eingeladen wurde, in Istanbul wieder mit ihm zusammenzuarbeiten, nahm ich sofort ohne zu zögern an und folgte diesem Ruf mit grosser Begeisterung, fühlte ich 15 Traugott Fuchs: Lebenslauf [1986], in: Bilder der Sehnsucht (Anm. 9), S. 24-37, hier: S. 28. 16 Vgl. Frank-Rutger Hausmann: »Vom Strudel der Ereignisse verschlungen«. Deutsche Romanistik im »Dritten Reich«, Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 2000, S. 309f. 59

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gleich doch, dass dies eine wirkliche Chance der Befreiung für mich war – keine Kompromisse mit den Nazis! – und ich schwor mir, niemals zurückzukommen, solange Hitler siegreich war. […] Mit zwei einfachen Koffern kam ich im Februar 1934 in Istanbul an. Während der ersten Jahre erlebten wir hier in der modernen Türkei zusammen mit den ›big shots‹, den berühmten Professoren, wir, die ›kleinen Würstchen‹, um Hellmut Ritters humoristisches Idiom zu benutzen, damit meinte er Leute von viel geringerer Bedeutung, eine renaissancehaft freudige Wiederkehr akademischer, kultureller und gesellschaftlicher Blüte, wie sie in gewissen hochintellektuellen Kreisen in dem Deutschland der Vor-Nazizeit dagewesen war. Das Bewusstsein, in einer der schönsten Städte und in einem der interessantesten und faszinierenden Länder der Welt – Anatolien – und im Süden zu sein, erfüllte uns mit dankbarem Glück. Zuerst unterrichtete ich an der Fremdsprachenschule der Istanbul-Universität (Yabanci Diller Mektebi) Französisch. Bald danach Germanistik an der Philosophischen Fakultät der selben Universität – meine Spezialfächer waren bis 1978 Deutsche Sprachgeschichte, Romantik und Moderne Literatur, dazu von 1943 bis 1971, Deutsch und Französisch am Robert College, wo ich schließlich auch wohnte.17

Fuchs kam in die Türkei, nachdem ihn Spitzer über Auerbach informierte, dass die Möglichkeit zur Arbeitsaufnahme bestünde. Spitzer wusste zu diesem Zeitpunkt, dass seine Istanbuler Position im Jahr 1934 durch den Ruf an die Johns Hopkins University nach Baltimore 1936 vakant würde, wodurch er nicht nur seinen Assistenten vor weiterer Verfolgung rettete, sondern sich hellsichtig auch für Auerbach einsetzte. Er verlor aufgrund der Nürnberger Rassengesetze im Herbst 1935 seinen Marburger Lehrstuhl, emigrierte im September 1936 nach Istanbul, übernahm die von Spitzer vermittelten und hinterlassenen Assistenten18 und hatte gemeinsam mit ihnen die von Mustafa Kemal Atatürk angestoßenen Reformen zur Europäisierung der Philologien an der Istanbul Universität weiter vorangetrieben.19 Traugott Fuchs’ Protesthaltung basiert nicht auf einer dezidiert poli-

17 Fuchs: Lebenslauf (Anm. 9), S. 35. Gemeinsam mit Spitzer gründete Fuchs das germanistische Institut der Istanbul-Universität und hatte bis zur Berufung von Walther Kranz, der 1943 von Leipziger Universität vertrieben wurde, zehn Jahre als dessen Vorsitzender deutsche Sprach- und Literaturgeschichte gelehrt. 18 Darunter befanden sich Heinz Anstock, Eva Buck, Rosemarie Burkart, Herbert und Liselotte Dieckmann und Hans Marchand. 19 Vgl. Verf. The Scars of Exile. Paralipomena concerning the Relationship between History, Literature and Politics – demonstrated in the Examples of Erich Auerbach, Traugott Fuchs and their Circle in Istanbul, in: Yeditepe’De Felsefe 2/Yeditepe University. Philosophy Department. A refereed Year-Book, Number 2, July 2003, S. 191-246. 60

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tisch und geschichtsphilosophisch geschulten Haltung wie sie sich beispielsweise bei Walter Benjamin oder Werner Krauss während der politischen Flügelkampfe der linken Intellektuellen in der Weimarer Republik ausgebildet hatte, sondern sie erklärt sich vielmehr aus seinem ästhetischen Individualismus, der intellektuell auf die Aneignung der deutschen Klassik und ihrer ästhetischen und Menschen bildenden Erziehungs- und Freiheitsprogrammatik zurückgeführt werden kann. Dadurch könnte man ihn zwar mit der ästhetischen Konzeption des George-Kreises in Verbindung bringen,20 aber die eindeutige Zuordnung versagt sich deshalb, weil er dem charismatisch-männerbündischen Führerprinzip Georges und seines religiös-prophetisch zelebrierten Sendungsbewusstseins nicht die Gefolgschaft geleistet hatte.21 Dies heißt aber nicht, dass er dem innovativen Formcharakter von Georges Gedichten nichts abgewinnen konnte, sondern nur, dass ihn der in diesem sektenhaften Kreis praktizierte Beschwörungsmythos, der sich auf ›große Männer‹ wie Alexander, Caesar, Dante, Friedrich den Großen, Goethe, Napoleon oder Nietzsche und deren pathetisch-affirmative Darstellung bezog, abstoßend erscheinen musste, zumal sich die komparatistische Methodik und der philologisch induktive Denkansatz seines Lehrers Leo Spitzer im Vergleich zu Georges metaphysischen Überhöhungen völlig konträr verhält. Fuchs’ Emigration erfolgte daher aus Gründen intellektueller und moralischer Solidarität mit seinem jüdischen Lehrer, mit dem ihm eine ebenso intensive und lebenslange Freundschaft verband wie mit Auerbach und dessen Frau, die insbesondere in hunderten von Maries Antwortbriefen überliefert ist. Aufgrund seiner Lehrtätigkeit an der Istanbul Universität und am Robert College (seit 1973 Bosporus-Universität) hatte Fuchs mehrere Generationen von Germanisten und Literaturwissenschaftlern in Istanbul ausgebildet,22 von denen heute noch einige in der akademischen Lehre tätig sind. Von den offiziellen Vertretern der deutschen Kulturwelt in der

20 Laut Eintrag in seinem Studienbuch hatte Fuchs während der Zwanziger Jahre bei Stefan Georges Freunden Friedrich Gundolf (Heidelberg) und Ernst Bertram (Köln) einige Vorlesungen zur deutschen Literaturgeschichte gehört. 21 Vgl. Stefan Breuer: bsthetischer Fundamentalismus. Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996, 212-240. Mit diesem Kreis verbunden war auch der Kosmiker Ludwig Klages, dessen romantische Kapitalismuskritik eine gewisse Nähe zur Ideologie des Nationalsozialismus aufweist, vgl. Georg Stauth: Critical Theory and Pre-Fascist Social Thought, in: History of Ideas, Vol. 18, No. 5, 1994, S. 711-727. 22 Ich nenne Süheyla Artemel, Nedret Kuran Burco÷lu, Nilüfer Kuruyazici, ùara Sayin, Deniz ùengel und Nilüfer Tapan. 61

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Türkei kaum wahrgenommen, verstarb Fuchs am 21.6.1997 in Istanbul. Bemerkenswert für diesen ungewöhnlichen Lebensweg ist außerdem die Tatsache, dass das fertige Manuskript seiner sprachgeschichtlichen Dissertation zum Begriff »Je ne sais quoi« bei einem Wohnungsbrand in den dreißiger Jahren vernichtet wurde und dass er ohne Doktor-Diplom seit den siebziger Jahren im Range eines Professors deutsche Literatur gelehrt hatte. Genauso ungewöhnlich ist die Tatsache, dass er bis auf einen Aufsatz zur Poesie Rimbauds23, einer Rezension24 und Flaubert-Übersetzung25 keine weiteren wissenschaftlichen Arbeiten und Gedichte publizierte und ebenso keine akademische Malerausbildung durchlief, sondern das Zeichnen und Malen autodidaktisch erlernte, wozu er von seinem Onkel Daniel Krencker (1874-1941) angeregt worden war.26

23 Traugott Fuchs: La première poésie de Rimbaud, in: Romanoloji Semineri Dergisi. Travaux du Séminaire de Philologie Romane, Istanbul: Devlet Basimevi 1937, S. 84-133 (Istanbul Üniversitesi Edebiyat Fakültesi Yayinlari). 24 Traugott Fuchs [Rez.]: Gabriel de Hons: Anatole France et Jean Racine ou La Clé de l’Art Francien, P aris 1927, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, Bd. LIV, 1931, S. 352-357. 25 Gustave Flaubert: Die Legende vom heiligen Julian dem Gastfreundlichen. Deutsch von Traugott Fuchs. Mit 16 alten Holzschnitten von Herrad Fuchs, Istanbul: Tunç Matabaacilik Sanayi ve Ticaret A.S. Druckerei 1990. Herrad Fuchs (1904-1987) hatte ihre Ausbildung an der Badischen Landeskunsthochschule Karlsruhe als promovierte Meisterschülerin im Bereich Holzschnitt und Graphik bei dem bekannten Portrait- und Gewerbemaler, Buchillustrator und Kunsttheoretiker Ernst Würtenberger (1868-1934) erhalten und wurde stilistisch durch die Münchener Schule eines von Mareés, Böcklin und Lenbach beeinflusst. Im Schlossmuseum Schmalkalden fand 1991 eine Ausstellung ihrer Arbeiten statt. 26 Vgl. Fuchs, Lebenslauf (Anm. 9), S. 24. Als Archäologe und Bauhistoriker leitete Krencker die deutsche Baalbek-Expedition (1901-1904) und war an den Ausgrabungen der Kaiserthermen in Trier (1929) beteiligt; nicht verschwiegen werden darf, dass er später mit den Nazis kollaborierte. Fuchs’ erste Ölgemälde entstehen während der Verbannung in Çorum und enthalten typisch anatolische Alltagsszenen, die Bauern in ihrer volkstümlichen Kleidung bei der täglichen Arbeit darstellen. Genre-, Architekturund Landschaftsszenen sind weitere Motive, worin die Stimmung Zentralanatoliens ausgedrückt wird. Alle deutschstämmigen Emigranten wurden im August 1944, als die Türkei an der Seite der Alliierten in den Zweiten Weltkrieg eintrat, zur eigenen Sicherheit in diese abgelegene Provinz (etwa 200 Kilometer südwestlich von Samsun gelegen) evakuiert. 62

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Ein Freundschaftsbrief von Erich Auerbach im z e i th i s t o r i sc h e n K o n t e x t : » f ü r d i e W ü r d e u n d F r e i h e i t d e s M e n sc he n i n S o r g e « Die persönliche Lage der Exilanten zeichnete sich unter anderem dadurch aus, dass ihnen aufgrund eines Passus im Arbeitsvertrag untersagt wurde, sich öffentlich in der Türkei über politische Fragen und Themen zu äußern. Die entsprechende Klausel besagt, dass sie »keine politische, wirtschaftliche und Handelstätigkeit« ausüben und keine Aktivitäten entwickeln durften, die die »Propaganda für eine fremde Regierung zum Ziel hat.«27. Die noch vollständig zu edierenden Exilbriefe Auerbachs an Freya Hobohm, Rudolf Bultmann und Karl Vossler28 sowie die bereits veröffentlichten Briefe an Walter Benjamin29 und Martin Hellweg30 belegen, dass Auerbach das öffentliche Verbot geachtet und seine Meinung stattdessen in privaten Briefen über die gesellschaftlichen Entwicklungen vor Ort ausdrückte. Bislang ist über den Autor Auerbach als Briefschreiber des Exils wenig bekannt geworden und sein Brief an Fuchs fällt in die Zeit, als die Briefe an Vossler und Benjamin entstanden. Neben der Liebe und großen Zuneigung, die er für dieses südliche Land, die lebensrettende Aufnahme und Gastfreundschaft der Menschen, ihre volkstümliche Kultur und tiefe Lebensart empfindet, kritisiert er die überbordende nationalistische und chauvinistische Ausrichtung, die durch den öffentlich sichtbar zelebrierten Personenkult der übermächtigen Führerpersönlichkeit Atatürk zum Ausdruck gelangt. In seiner politischen Bewertung ist Auerbach als Briefschreiber aber nicht so scharf wie sein romanistischer Fachkollege und Tagebuchautor Victor Klemperer, der die Atatürkbewegung als »Fascismus hier im Orient«31 bezeichnete. Stattdessen

27 Dies geht aus Paragraph 11 des Arbeitsvertrags zwischen Erich Auerbach und Cemil Bilsel (Rektor der Istanbul Universität) hervor. Auerbach hatte dieses Dokument in deutscher Übersetzung als Anhang seinem Antrag zur Verlegung des Wohnsitzes nach Istanbul, dem das Reichserziehungsministerium im August 1936 zustimmte, beigelegt; vgl. Hessisches Staatsarchiv Marburg, Faszikel 310 acc, 1978/15, No. 2261. 28 Diese und andere Briefe werden vom Verf. im Rahmen einer großen Erich Auerbach-Briefausgabe ediert. 29 Vgl. Karlheinz Barck: 5 Briefe Erich Auerbachs an Walter Benjamin in Paris [1935-1937], in: Zeitschrift für Germanistik, Heft 6, 1988, S. 688-694. 30 Vgl. Erich Auerbachs Briefe an Martin Hellweg (1939-1950). Edition und historisch-philologischer Kommentar. Herausgegeben von Martin Vialon, Tübingen, Bern: A. Francke Verlag 1997. 31 Victor Klemperer: Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1925-1932. Herausgegeben von Walter Nowojski, Berlin: Aufbau 63

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zeigt sich Auerbachs grundsätzliche Haltung in der Kritik der zentralistischen Organisation des türkischen Staates und seiner auf dem Führerprinzip gegründeten Bürokratie, einer Kritik, mit der er auf strukturelle Parallelen abzielt, wie sie sich vergleichend in den europäischen Massenbewegungen der dreißiger Jahre unter jeweils unterschiedlichen politisch-ideologischen Vorzeichen und Ausgangslagen in Italien, Deutschland und der Sowjetunion gezeitigt hatten. Am 1. Januar 1937 fasste er gegenüber Benjamin seine Position exemplarisch zusammen und schrieb: Der grand chef [Atatürk, M.V.] ist ein sympathischer Autokrat, klug, großzügig und witzig, vollkommen verschieden von seinen europäischen Kollegen: indem er nämlich wirklich dieses Land selbst zum Staat gemacht hat […]. Aber er hat alles, was er getan hat, im Kampf gegen die europäischen Demokratien einerseits und gegen die alte mohammedanisch-panislamistische Sultanswirtschaft andererseits durchsetzen müssen, und das Resultat ist ein fanatischer antitraditioneller Nationalismus: Ablehnung aller bestehenden mohammedanischen Kulturüberlieferung, Anknüpfung an ein phantastisches Urtürkentum, technische Modernisierung im europäischen Verstande, um das verhasste, und bewundernswerte Europa mit den eigenen Waffen zu schlagen: daher die Vorliebe für europäisch geschulte Emigranten als Lehrer, von denen man lernen kann, ohne fremde Propaganda befürchten zu müssen. Resultat: Nationalismus im Superlativ bei gleichzeitiger Zerstörung des geschichtlichen Nationalcharakters. Dieses Bild, das in anderen Ländern, wie Deutschland und Italien und wohl auch Russland (?), noch nicht für jedermann sichtbar ist, bietet sich hier in völliger Nacktheit. […] Immer deutlicher wird mir, daß die gegenwärtige Weltlage nichts ist als eine List der Vorsehung, um uns auf einem blutigen und qualvollen Wege zur Internationale der Trivialität und zur Esperantokultur zu führen. Ich habe das schon in Deutschland und Italien, angesichts der grauenvollen Unechtheit der Blubopropaganda vermutet, aber hier erst wird es mir fast zur Gewissheit.32 Betrachtet man Atatürks Staatsprinzipien33 aus dem Blickwinkel der politischen Philosophie etwas genauer, dann wird deutlich, wie eng sie mit Verlag 1996, Bd. 2, S. 570. Klemperer hatte von August bis Oktober 1929 eine Schiffsreise durch das Mittelmeer unternommen (S. 540-606), die ihn an Bord der »Pera« von Bremen nach Istanbul führte. 32 5 Briefe Erich Auerbachs an Walter Benjamin (Anm. 29), S. 692f. 33 Zu ihnen zählen der Republikanismus als Staatsform im Gegensatz zur absolutistisch-theokratischen Sultansherrschaft, der Laizismus, der die Trennung von Religion und Staat regelt, der Etatismus, der staatliche Interventionen in die Wirtschaftsabläufe bei gleichzeitiger Beibehaltung der Pri64

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der Staatskonzeption des Niccolò Machiavelli verbunden sind. Er hatte seine Theorie in dem Haupttext Il Principi dargelegt und sie speziell aus der Beobachtung der inneren Kämpfe der Republik Florenz, den Kämpfen zwischen den italienischen Stadtstaaten und dem Papsttum zur Herstellung eines inneritalienischen Gleichgewichtes gewonnen. Aber das politische Gleichgewicht war im frühen 16. Jahrhundert durch die französische und spanische Truppenpräsenz auf den italienischen Territorien permanent außer Kraft gesetzt. Machiavelli hält insofern die Notwendigkeit des starken nationalen Einheitsstaates für notwendig, der in erster Linie die Macht der Feudalkräfte eingrenzt und das Papsttum mit seinen katholischen Priestern zerstört. Machiavelli lehrt Techniken des Machterwerbs und Machterhalts und die bedingte Anwendung von Gewalt und List,34 die sich aus der Besonderheit der Florentiner Situation ergibt. Diese Mittel sind in eine demokratische Heeresreform eingebunden, wodurch die Bildung eines kollektiven Willens der Nation geschaffen und das hegemoniale Bewusstsein für den neuen Staat verstärkt wird. In dieser Konzeption tritt nach Antonio Gramsci ein »früher Jakobinismus«35 bei Machiavelli hervor, der meines Erachtens eine Parallele zu Atatürks politischer Praxis und seinem europäisch ausgerichteten Modernisierungsmodell aufweist, denn dieser moderne Fürst hatte die Türvatwirtschaft ermöglicht und der Populismus, der die Gleichheit aller Bürger vor den Gesetzen und die Gewährleistung der sozialen Ordnung beinhaltet. Auf dieser Staatskonzeption von 1923 basierte Atatürks Absicht, dem von Montesquieu und Marx charakterisierten »orientalischen Despotismus« den Garaus zu machen und die Grundlagen für die Modernisierung der Türkei zu legen. 34 Niccolò Machiavelli: Il Principe/Der Fürst [1513]. Italienisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Philipp Rippel, Stuttgart: Philipp Reclam Jun. 1986, S. 73 (Kap. VIII). 35 Antonio Gramsci: Philosophie der Praxis [1932/35]. Herausgegeben und übersetzt von Christian Riechers mit einem Vorwort von Wolfgang Abendroth, Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 1967, S. 287. Der inhaftierte Gramsci hat seine Interpretation so angelegt, indem sich mit Machiavellis Ideen die Befreiung von der faschistischen Schmach in Italien zu vollziehen habe. Dagegen hat der konservative Historiker Carl Jacob Burckhardt, der 1923 im Auftrag des internationalen Roten Kreuzes die Rückführung der griechischen Gefangenentransporte überwachte, diese Kategorie verwendet, um Atatürks Politik als »jakobinische Diktatur« zu charakterisieren, vgl. Hugo von Hofmannsthal/Carl Jacob Burckhardt: Briefwechsel [1956]. Herausgegeben von Carl Jacob Burckhardt und Claudia MertzRychner, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuchverlag 1991, S. 120 (Brief an v. Hofmannsthal, 4. August 1923): »Heute gibt es einen türkischen Nationalstaat von einem jacobinischen Diktator beherrscht.« 65

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kei aus einem ähnlich zerrissenen Zustand als Folge des Ersten Weltkrieges gegen die äußere Bedrohung der europäischen Besatzungsmächte verteidigt und das türkische Volk im Befreiungskrieg zu einer Nation zusammengeschweißt. Mir erscheint, trotz Auerbachs berechtigter Kritik am türkischen Nationalismus, seines despotischen Unterbaus, des durch die Reformen kulturell eingeleiteten Traditionsabbruches und der problematischen Minderheitenpolitik gegenüber Kurden und Armeniern, vor allen Dingen die aufgeklärte Doktrin des Laizismus als eine revolutionäre Tat des Staatsgründers. Gerade im Kontext der gegenwärtig zunehmenden Radikalisierung und Fundamentalisierung des Islam im Nahen und Mittleren Osten sollte an dieser progressiven gesellschaftlichen Praxis unbedingt festgehalten werden. Außerdem könnte die Aufarbeitung der genannten Briefquellen für die türkische Geschichtsschreibung neue Akzente setzten,36 was die Wahrnehmung der Emigranten betrifft. Hinsichtlich der Lokalität und Auerbachs Schreibsituation ist anzumerken, dass er seinen Brief in Bebek verfasste. Der Ort liegt etwa zehn Kilometer vom byzantinischen Zentrum entfernt und entstand während der ottomanischen Herrschaft im 15. Jahrhundert; sein Name geht auf den Offizier Mustafa Çelebi zurück, der für seine Freundlichkeit und Naivität bekannt war und deshalb den Kosenamen »Bebek« (türkisch: Baby) erhielt.37 Die Kultivierung der romantisch-pittoresken Landschaft am europäischen Ufer des Bosporus erfolgte schrittweise durch die Anlage von Pavillions und Wohnpalästen, und Bebek entwickelte sich im Verlauf der Jahrhunderte immer mehr zu einem beliebten Erholungs- und Aufenthaltsort von hohen Ministern und Beamten der ottomanischen Verwaltungselite, die in dem abgelegenen Ort genügend Ausgleich und Ruhe von den Regierungsgeschäften finden konnten. Diese attraktive Lage zog auch die Exilanten an, die Bebek als bevorzugten Wohnort entdeckten, erinnerte doch seine mondäne Atmosphäre, die am Ufer des Bosporus an- und ablegenden Personendampfer und Segeljachten weniger an den tristen Alltag des Exils, sondern erzeugte vielmehr eine positive Stimmung, die sich inspirierend auf die wissenschaftliche Arbeit auswirkte. Auerbach lebte mit seiner Familie während der gesamten 36 In der Standardbiographie von Andrew Mango: Atatürk. The Biography of the Founder of Modern Turkey, Woodstock, New York: Overlook Press 2000 werden diese kritischen Aspekte, die sich aus Auerbachs Briefen an Benjamin und Hellweg ergeben, nicht erwähnt. Auch die historischen Abrisse von Erik J. Zürcher: Turkey. A modern History, London, New York: I.B. Tauris 1993 und Feroz Ahmad: Turkey. The Quest for Identity, Oxford: Oneworld publications 2003 beziehen sich nicht auf diese Quellen. 37 Vgl. Cahit Kaya: Bebek. Mekânlar ve Zamanlar, Istanbul: Akbank Kültür 1993, S. 175. 66

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Exilzeit von 1936 bis 1947 in diesem auch äußerlich europäischen Ambiente, das sich durch eine teils gründerzeitähnliche Architektur auszeichnet. Nur eine kleine Barockmoschee, die in dem am Bosporusufer gelegenen Park steht, erinnert an die Präsenz der muslimischen Gegenwart. Der Konak (türkisch: großes Wohnhaus), in dem er wohnte und der sich heute unverändert an der am Bosporus vorbei führenden Uferstrasse befindet, wurde auf einem etwa drei Meter hohen Fundament errichtet. Das etwas zurückgesetzte Haus ist als dreistöckige Anlage mit abschließendem Mezzaningeschoss im Bauhausstil errichtet und erhält durch das eingestellte Mittelrisalit und seine roten Pilaster eine Nobilitierung, durch die es sich von den umliegenden Gebäuden deutlich unterscheidet. Fuchs wohnte zu diesem Zeitpunkt etwa dreißig Gehschritte schräg gegenüber, in einem Altbau mit unmittelbarem Blick auf den Bosporus, der in dieser Form auch in Berlin an der Spree oder im Marburger Südviertel hätte errichtet werden können. Mit einer Straßenbahn, die sich an beiden Wohnhäusern vorbeischlängelte und bis zum Goldenen Horn und der nahe gelegenen Istanbul-Universität führte, war die Möglichkeit gegeben, auf relativ zügige und bequeme Weise die gemeinsame Arbeitsstätte zu erreichen und während der Fahrten miteinander ins Gespräch zu kommen. Der Brief wird nun im vollständigen Wortlaut und in diplomatisch transkribierter Form wiedergegeben, weil er eines der seltenen Dokumente darstellt, indem ein akademischer Lehrer gegenüber seinem Schüler und Freund ganz offen seine Ratlosigkeit gegenüber den politischen Entwicklungen der Zeit ausspricht. Dem Brief lag wohl ein persönlicher Gesprächsanlass zugrunde, der heute nicht mehr genau zu rekonstruieren ist, sich aber möglicherweise aus den Zeitumständen ergab, als die deutschen Exilanten mit der Zustellung eines Fragebogens konfrontiert wurden, der ihnen durch das deutsche Generalkonsulat im Mai 1938 zugestellt wurde. Dieser Fragebogen diente als ein Instrument der Überwachung und enthielt mehrere Punkte, die sich auf den Vertragsbeginn der Arbeitstätigkeit, die »arische Abstammung« oder »nichtarische Versippung« in den Familienverhältnissen sowie auf den Zeitpunkt der Entlassung aus dem Beamtenverhältnis in Deutschland bezogen.38 Dadurch, dass Fuchs den Fragebogen nicht ausfüllte, entwickelte sich offenbar ein Gespräch, das von politischen Fragen ausgehend sich wohl auf persönliche Aspekte richtete. Es ist bezeichnend, dass Auerbach weniger auf die persönlichen Momente reagierte, sondern vielmehr darauf bedacht war, seinen Brief auf die allgemeine politische Lage mit ihren 38 Fragebogen für die deutschen Türkei-Emigranten vom Mai 1938, in: Der Scurla Bericht. Die Tätigkeit deutscher Hochschullehrer in der Türkei 1933-1939. Herausgeben und eingeleitet von Klaus-Detlev Grothusen, Frankfurt a.M.: Da÷yeli Verlag 11987, S. 39. 67

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philosophischen Implikationen zu beziehen. Damit unterscheidet er sich deutlich von der offenen Art, mit der später Leo Spitzer auf die persönliche Bedrängnis, die nicht zuletzt in der Homosexualität für Fuchs lag, in seinem Schreiben reagierte. Am Ende des Briefes deutet Auerbach für sein Verhältnis unmissverständlich an, auf die persönlichen Fragen keine Antwort zu wissen. Die Tatsache, dass er dem nur wenige Gehschritte entfernt lebenden Fuchs seine Meinung in der schriftlichen Form kundtat, das heißt, eine unmittelbare Rückfrage in Hinblick auf die persönliche Sphäre erschwerte, unterstreicht seine abwehrende Haltung. Und nichtsdestotrotz bilden die politisch-philosophischen Aussagen ein wichtiges Dokument seines Denkens und seiner Haltung, die lohnen, näher eingeordnet zu werden.

Istanbul-Bebek Arslanli Konak 22. 10. [19]38 Lieber Fuchs, Ich bin Ihnen noch die versprochene Erklärung schuldig. – Können Sie sich vorstellen, dass jemand jahrelang so heftig und so ausschliesslich mit einem bestimmten Problem, einer bestimmten Schwierigkeit oder Aufgabe beschäftigt ist, so sehr mit allen Kräften von ihr in Anspruch genommen ist, dass er zu allem anderen nur mit Mühe Kraft findet? So geht es mir. Diese Aufgabe ist nicht all das Böse, was geschieht, zu begreifen und zu verdauen – das macht nicht zu viele Schwierigkeiten – als vielmehr einen Ausgangspunkt für die geschichtlichen Kräfte zu finden, die ihm entgegenzustellen wären. All die, die heut noch dem Recht und der Wahrheit dienen wollen, sind nur im Negativen einig – im Aktiven und Positiven sind sie schwach und zersplittert. Und doch muss und wird das Gemeinsame des Guten wieder Gestalt, Einheit und Konkretion gewinnen, zum sichtbaren Zeichen werden; der Druck ist so ungeheuer stark, dass neue geschichtliche Kräfte aus ihm entstehen müssen. Sie bei mir zu suchen, in der Welt aufzuspüren[,] nimmt mich vollkommen in Anspruch. Die alten Kräfte des Widerstands – Kirchen, Demokratien, Bildung, Wirtschaftsregeln – sind nur dann brauchbar und wirksam, wenn sie durch eine neue, mir noch nicht sichtbare Kraft erneuert und aktiviert werden. Vorher nicht. Aus meiner Biographie, meinem Beruf und meinen Arbeiten ist deutlich, warum mich diese Inanspruchnahme dauernd verfolgt[,] und warum jeder Augenblick meines Lebens sie verstärkt [gestr.: erneuert]. Ich weiss wohl[,] welches die allgemeinsten Regeln und Richtungen der zu erwartenden Erneuerung sein müssen. Ich weiss es gerade gut genug, um alle halben, schiefen und falschen Massregeln oder Ideen abzuweisen. Allein sie selbst konkretisiert sich nicht, noch nicht. Konsequenz: ich bin ein Lehrer, der nicht konkret weiss, was er lehren soll. Ich weiss nicht, was ich denen, die etwas Konkretes von mir erwarten (einen Rat,

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ein Thema, einen grundsätzlichen Entschluss), zu sagen habe – allenfalls im Moment Praktisches kann ich sagen, aber selbst das ist oft vom Grundsätzlichen, das fehlt, nicht zu trennen. – Ich halte diese Lage, in der ich mich befinde, nicht für eine individuelle; es gibt viele, denen es ebenso oder ähnlich geht. Nichts liegt mir ferner – Sie schienen neulich es falsch zu verstehen – als zu glauben, i c h sei verkannt, am falschen Ort, unfähig[,] die Kräfte[,] die ich habe[,] zu gebrauchen. Ich war nie verkannt, wo ich etwas zu tun oder zu sagen hatte, habe ich es auch tun und sagen können. Vielmehr könnte ich sofort wieder aktiv sein, wenn ich konkret wüsste wie [Einfügung: und zwar aus jeder Lebenslage (gestr.: Lage), in der ich mich gerade zufällig befinde] – und das ist jetzt nicht nur mir verborgen, sondern allen[,] die in ähnlicher Lage, d.h. für die Würde und Freiheit des Menschen in Sorge sind. Es gibt zwar unter ihnen viele, die mit allerhand Rezepten, abgestandenen Ideen, oder sogar mit völliger Abwendung vom Weltlauf sich trösten und beruhigen. Das kann ich nicht. Ich bin zu tief von der geschichtlichen Ordnung überzeugt, bin viel zu sehr genötigt das Geschehende anzuerkennen, als dass ich nicht aus ihm eine Korrektur erwarten müsste – und ich habe andererseits zu viel (aus meinem Leben und aus Büchern) gelernt, um mich von Scheinhoffnungen täuschen zu lassen. Ich glaube vorläufig noch nicht, dass meine spontane Aktionskraft beschädigt ist – sie funktioniert im Notfall noch. Aber sie falsch und impulsiv einzusetzen[,] ist nicht meine Rolle. Die Nazis sagen: lieber falsch handeln als garnicht. Das ist in manchen Lagen, wo ein schneller Entschluss Chancen gibt, gewiss richtig. Aber wir sind nicht in solcher Lage, wenigstens nicht grundsätzlich. Wir müssen und werden, wenn die Zeit reif ist, richtig handeln – bis dahin müssen wir warten, suchen und bereit sein. – Es ist gar kein Zweifel, dass unter all dem meine Bereitschaft für das Persönlich-Menschliche meines einzelnen Nächsten zu kurz kommt. Ich fühle das oft. Manchmal werde ich ungeduldig, wenn so was auf mich eindringt, und denke: sieh doch zu, Mensch, wie Du mit Dir fertig wirst: links, rechts, links, rechts, essen, schlafen, arbeiten, das wird schon gehen, und dann denke ich an Gott und an die unendliche Welt, und nimm Dich nicht so pathetisch. Aber ich weiss auch, dass ich damit unrecht habe, und dass es auch nicht meine eigentliche Natur ist[,] so zu fühlen. Ich war darin früher einmal ganz anders, und zuweilen kommt es auch jetzt vor, dass mich irgendein einzelnes Wesen um seiner selbst willen rührt und ergreift. Leider ist das viel zu sehr Sache des glücklichen Augenblicks und des Kontakts, den man nicht herbeizwingen kann. Ich habe eine gute Eigenschaft, nämlich einen fast unermüdlichen guten Willen. Vielleicht hilft er mir dabei, damit meine eigentlich menschlichen Beziehungen zu meinen einzelnen Nächsten fruchtbarer werden. Ihr E[rich] A[uerbach]39

39 Original. E. Br. m. U (NTF/BU). 69

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Sollte das eingangs erwähnte Gespräch wirklich im Kontext der Fragebogenaktion vom Mai 1938 stattgefunden haben, dann ist nachzutragen, dass die Emigranten tatsächlich durch die Auslandsabteilung der NSDAP überwacht wurden. Im Auftrag des Reichserziehungsministeriums in Berlin fertigte Oberregierungsrat Herbert Scurla im Mai 1939 einen Bericht über die Ergebnisse einer Dienst- und Inspektionsreise an. Aus dem Dossier geht hervor, dass die vertriebenen und reichsdeutschen Wissenschaftler, die in Ankara und Istanbul lehrten, der behördlichen Kontrolle ausgesetzt waren. Zu Auerbach, Fuchs und einer weiteren Assistentin wird Folgendes gesagt: Von besonderer Bedeutung für die deutschen kulturellen Interessen ist die Tatsache, daß die Leitung des Sprachinstituts der Universität, an dem insbesondere künftige Lehrkräfte in deutscher, englischer und französischer Sprache ausgebildet werden, in der Hand des früher als o[rdentlicher] Professor in Marburg tätigen nichtarischen Dr. Erich Auerbach liegt. Es bleibt festzustellen, ob Auerbach in den Ruhestand versetzt wurde oder aus dem Beamtenverhältnis ausgeschieden ist. Auerbach hat in Istanbul neben der Leitung des Sprachinstituts offenbar einen Lehrstuhl für Alte Sprachen inne. Die an dem Sprachinstitut tätigen Lektoren sind, soweit sie aus Deutschland berufen sind, ausnahmslos Nichtarier oder Emigranten. So arbeitet seit 1934 am Sprachinstitut die nur in Emigrantenkreisen verkehrende, 1905 geborene, ledige, Rosemarie Burkart, die zwar arisch ist, vor ihrer Berufung nach Istanbul aber als Assistentin am Romanischen Seminar der Universität Köln bei dem berüchtigten Romanisten Leo Spitzer tätig war, der mehrere Jahre lang Leiter des Sprachinstituts gewesen ist. Gleichfalls nur Umgang mit Emigranten hat der am Sprachinstitut tätige Lektor Dr. Traugott F u c h s, der die Ausfüllung des Fragebogens offenbar verweigert hat, so daß Näheres über seine Persönlichkeit nicht zu ermitteln ist.40

Erstaunlich ist, wie ungenau Scurlas Bericht hinsichtlich der mitgeteilten Angaben ausfällt. Der Verfasser ist recht unzureichend informiert, obschon davon auszugehen ist, dass über das Zusammenspiel des Reichserziehungsministeriums, der Botschaft in Ankara, dem deutschen Generalkonsulat in Istanbul, den Ortsgruppen der NSDAP sowie der Gestapo die mitgeteilten Informationen zusammengestellt wurden. Wissenschaftshistorisch hervorzuheben ist die positive Tatsache, dass sich das türkische Unterrichtsministerium bei dem permanenten Einmischungsversuch 40 Herbert Scurla: Die Tätigkeit deutscher Hochschullehrer an türkischen wissenschaftlichen Hochschulen [1939], in: Grothusen (Anm. 38), S. 67-136, hier: S. 130. Rosemarie Burkart hatte bei Leo Spitzer über Die Kunst des Maßes in Mme de Lafayettes ›Princesse de Clèves‹ in Köln 1933 promoviert. Die Korrektur zu Auerbachs und Fuchs’ Vita ergibt sich aufgrund der bereits mitgeteilten biographischen Angaben. 70

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der reichsdeutschen Regierung in die kulturpolitischen Angelegenheiten der Türkei als absolut resistent erwies. Das Ministerium hatte gegenüber konkret vorliegenden reichsdeutschen Vorschlagslisten, die Scurla den türkischen Gesprächspartnern unterbreitet hatte, immer abschlägig entschieden und betont, dass es keine Hochschullehrer akzeptieren wolle, die als Funktionsträger der NSDAP wirken. Auf der anderen Seite hatte das NS-System bei Nichtgenehmigung oder dem Entzug der Genehmigung zur Verlagerung des Wohnsitzes in die Türkei, bei Entzug des Ruhegeldes, bei Passentzug und schließlich der Ausbürgerung eine Reihe von Repressalien an der Hand, um die Exilanten gegenüber den türkischen Gesetzen zu drangsalieren: sie befanden sich zwischen zwei Gesetzessystemen eingeklemmt, denn der türkische Staat war bei Staatenlosigkeit nicht an der Einbürgerung derjenigen Wissenschaftler interessiert, deren Dienste er in Anspruch nahm. Kehrt man auf die immanente Textebene des Briefes zurück, dann erscheint mir für Auerbachs Antwort typisch zu sein, dass er seine induktive Argumentation, die ebenso paradigmatisch für seine Literaturanalysen ist, mit der eigenen Situation in Istanbul und der sich im Herbst 1938 abzeichnenden weltpolitischen Lage verbindet. Er flieht praktisch in die Zeit, um sich durch diese abstrakt-geschichtsphilosophischen Ausführungen nicht gezwungen zu sein, auf die persönlichen Fragen einzugehen, deren Beantwortung er am Ende seines Briefes auch deutlich ablehnt. Durch den Rückzug auf diese Ebene wird jedoch implizit mitgeteilt, dass im März 1938 Österreich durch den Einmarsch der Nazis annektiert wurde, welches die britische Appeasement-Politik ahnen ließ, die im September des Jahres die Einverleibung der sogenannten Sudetengebiete und im März 1939 die Zerschlagung der Tschechoslowakei nach sich zog. Zweifelsohne war sich Auerbach der kriegstreiberischen Politik Hitlers vollkommen bewusst, worauf die Formulierung hinweist, dass alle, »die heut noch dem Recht und der Wahrheit dienen wollen«, nur »im Negativen einig« sind. Diese Formulierung deutet daraufhin, dass der deutsche Faschismus die bürgerlichen und kommunistischen Kräfte des Widerstandes – Kirchen, Gewerkschaften und Linksparteien – durch Terrormaßnahmen gezielt gleichgeschaltet und den physischen Naturzustand als neuen Zustand des Staates und der Gesellschaft proklamiert und herbeigeführt hatte. Auerbach gesteht seine eigene Ratlosigkeit gegenüber diesem historischen Prozess ein, aber er sucht dennoch, oder gerade deshalb, nach einem »Ausgangspunkt für die geschichtlichen Kräfte«, die er in der Konzentration auf das einzelne Subjekt findet. Er versucht sowohl Fuchs anzusprechen wie auch sich selbst als Person in diesen Klärungsprozess mit einzubeziehen. Im Sinne Montaignes, dem er wenige Jahre zuvor

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einen seiner Essays gewidmet hatte, geht es ihm unter den schwierigen Verhältnissen des Exils und dem bevorstehen Krieg um die Bewahrung der eigenen Person, die quasi aus einem metaphysischen Blickwinkel vorgenommen wird. Die Beschreibung von Montaignes Persönlichkeit und seiner inneren Charakterstärke lässt sich auf Auerbach selbst und seinen klaren und unprätentiösen Stil übertragen; in dem Essay zu Montaigne heißt es: »er prahlt nicht mit seinem Reichtum, er sucht nichts Besonderes in der sprachlichen Vorurteilslosigkeit als höchstens den Ausdruck, der der Sache genugtut: das Resultat ist vollkommenste Nacktheit der Dinge. Und da er selbst sein Gegenstand ist, so erscheint er selbst vollkommen nackt.«41 Auerbachs lebensphilosophische Haltung, sein offenes, ruhiges, aber auch skeptisch-abwägendes und ohne Pathos erfolgte Argumentieren ist sein Lebenselement, indem er sich ohne jede sentimentalische Übertreibung den Evidenzen der Gegenwart stellt. Klar erblickt er den provisorischen Zustand der Exilsituation, den er mit seinem Freund und Assistenten Fuchs teilt; ebenso klar sieht er auch »die allgemeinsten Regeln und Richtungen der zu erwartenden Erneuerung«, das heißt, dass in seinen Zeilen auch der begriffliche Referenzrahmen der deutschen Aufklärung und Klassik vernehmbar wird, denn Auerbach fühlt sich aufgrund des chaotischen Weltzustandes »für die Würde und Freiheit des Menschen in Sorge«. Genau betrachtet erinnern beide Ausdrucksformeln nur allzu deutlich an das von Schiller in seinen ästhetischen Briefen entwickelte sittliche Erziehungsprojekt. Schillers Ansatz, so lässt sich zusammenfassen, hängt aufs engste mit Kants Tugend-, Rechts- und Staatslehre zusammen, wird doch in seinen ästhetischen Briefen postuliert, dass der physische und zur Destruktivität neigende menschliche Charakter in einen moralischen Charakter überführt werden und das einzelne Individuum gegenüber den Tendenzen der Zeit sich von seiner tiefen Entwürdigung aufrichten könne, um seine doppelte Natur in friedfertiger Weise im Sinne der Zunahme der inneren Subjektstärke zu entwickeln.42 Auerbachs geschichtsphilosophische Argumentation besteht darin, sich nicht »von Scheinhoffnungen täuschen zu lassen«, sondern intellektuelle Köpfe wie Fuchs anzusprechen und mit ihnen, »wenn die Zeit reif ist, richtig [zu] handeln«.

41 Erich Auerbach: Der Schriftsteller Montaigne [1932], in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie, Bern: A. Francke Verlag 1967, S. 184-195, hier: S. 189. 42 Vgl. Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen [1795], in: Ders.: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München: Carl Hanser Verlag 71984, S. 570-669, hier: S. 573-576 (3. Brief). 72

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Die Zeitspanne dazwischen gelte es, wie er weiter sagt, durch »warten, suchen und bereit sein« zu überbrücken. Bezieht man diese Suche auf den brieflichen Topos der Würde und Freiheit, so lässt sich der Bezug zu Schiller und Kant als gedankliche Ideenspender herstellen. Darin wird ersichtlich, dass Auerbach an die zukünftige Errichtung einer »gerechte[n] bürgerlichen Verfassung«43 gedacht haben mag, worin die Freiheit des Einzelnen als Grenze der Freiheit des anderen aufgehoben ist. Dieses Sittengesetz, das den antisozialen und rohen Naturzustand des Menschen zugunsten der Gemeinschaft beschränkt, macht die Grundlage von Kants Freiheitskonzeption aus und zielt auf die Herstellung eines »weltbürgerlichen Zustand[es] der öffentlichen Staatssicherheit«44 ab, in dem die Würde des einzelnen Individuums, für die Auerbach in Sorge ist, bewahrt bleibt. Obwohl sich Auerbach auf die politische Lage zurückzieht und einer gezielten persönlichen Intervention gegenüber Fuchs ausweicht, nimmt seine geschichtsphilosophische Argumentation ihren Ausgangspunkt beim einzelnen Subjekt; das Ziel besteht darin, durch die Bündelung der einzelnen Kräfte schließlich den neuen geschichtlichen Zustand anzustreben. Er entwickelt folglich seine pädagogische Absicht mit Beziehung auf den einzelnen Menschen und zeigt die soziale und therapeutische Funktion der Philosophie auf, deren Ursprung und historischer Sinn im Individuum liegt. Lässt man sich auf diese Lesart weiter ein, dann kulminiert die subjektive Perspektive schließlich in der Idee des Völkerrechts als Friedensphilosophie, eines Zustandes, der durch das ius cosmopoliticum45 anzustreben sei, woraus sich die Maxime ableitet, dass die einzelnen Nationen sich nicht als Feinde begegnen dürfen, sondern vielmehr durch Kommunikation, Handel und Austausch voneinander partizipieren sollen.46 Bezogen auf den Verlauf der weiteren Kriegssituation ist Auerbachs geschichtsphilosophischer Blickwinkel dahingehend zu ergänzen, dass die Exilanten in der Türkei nicht zuletzt deshalb von einer lebensbedrohlichen Situation verschont bleiben, weil die türkische Außenpolitik das einzigartige Meisterstück vollbrachte, weitgehend neutral zu bleiben. Zwar hatte Ismet Inönü (1884-1973), Atatürks Nachfolger, mit dem deutschen Reich unter star-

43 Vgl. Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht [1784], in: Ders.: Werke in sechs Bänden. Herausgegeben von Wilhelm Weischedel [1956/64], Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998, Bd. VI, S. 31-50, hier: S. 39. 44 Ebd., S. 44. 45 Immanuel Kant: Die Metaphysik der Sitten in zwey Theilen [1797], in: Werke (Anm. 43), S. 306-499, hier: S. 475 f (§ 62). 46 Ebd. 73

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kem außenpolitischen Druck im September 1942 den Chrom-Vertrag47 abgeschlossen und damit das Zugeständnis gemacht, der Forderung des für die Waffenproduktion zur Veredelung von Stahl benötigten Rohstoffmaterials nachzukommen, doch konnte er durch solche Konzessionen die türkische Neutralität auf geschickte Weise bis August 1944 hinauszögern, bis die Türkei die diplomatischen Beziehungen abbrach, um Deutschland an der Seite der Alliierten im Februar 1945 formell den Krieg zu erklären, ohne allerdings an militärischen Operationen beteiligt gewesen zu sein.48 Als Resümee ist festzuhalten, dass Auerbach zwar das menschlichpersönliche Moment gegenüber Fuchs betont, aber aus einer Art Selbstschutz dem möglichen und heiklen Thema der Homosexualität ausweicht und seinem Freund eine präzise Antwort schuldig bleibt. Diese verhaltene Reaktion Auerbachs hat ihre intellektuelle Grundlage in Montaignes skeptischer Selbstbezüglichkeit, die geschichtsphilosophisch mit Schillers und Kants Ideen zum Weltbürgertum zu verknüpfen ist.

F u c h s’ K o n ta k ta u f n ahm e m i t H e r m an n H e ss e über Marie Auerbach Parallel zu seiner Lehrtätigkeit als Germanist und Romanist ist Fuchs über den gesamten Zeitraum seines Lebens in der Türkei künstlerisch tätig gewesen. Über seine diesbezüglichen Anfänge hat er in dem autobiographischen Text Mein Besuch bei Hermann Hesse (1991)49 berichtet, worin sich auch seine Exilerfahrung und Freundschaft mit Marie und Erich Auerbach widerspiegelt. Zudem geht aus diesem Text hervor, wie

47 Vgl. Frank G. Weber: The Evasive Neutral: Germany, Britain and the Quest for a Turkish Alliance in the Second World War, Columbia: University Press of Missouri 1979, S. 150. 48 Vgl. Richard Peters: Geschichte der Türken, Stuttgart: Kohlhammer 1961, S. 149-157. Die zunächst im Jahr 1941 reibungslos verlaufene Invasion der deutschen Truppen auf dem Balkan und in der Sowjetunion führte durch den Sieg der Roten Armee in Stalingrad im Januar 1943 zeitweilig zur Absicht, weiter nach Südosten vorzudringen und den Kaukasus sowie die Ölfelder von Kirkuk, Mosul, Batum und Baku beim geplanten Durchmarsch zum Persischen Golf zu erobern. Dadurch bestand die Gefahr, dass die Türkei bei einem Angriff auf ihr Territorium in den Zweiten Weltkrieg hätte verwickelt werden können. 49 Traugott Fuchs: Mein Besuch bei Hermann Hesse. Blätter aus einem ungeschriebenen autobiographischen Tagebuch [1991], Manuskript (NTF/BU). 74

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der Kontakt zu Hesse zustande kam und auf welche Weise er die Eindrücke der im Jahr 1960 unternommenen Reise ins Tessin verarbeitet hat. Für das Verständnis des folgenden Passus ist vorauszuschicken, dass sich die wiedergegebene Gesprächssituation in Auerbachs Wohnung kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ereignet – zu einem Zeitpunkt, als Auerbach die Arbeit an seinem literaturwissenschaftlichen Hauptwerk Mimesis50 abzuschließen begann. Fuchs war gerade aus der knapp einjährigen Internierung in Çorum entlassen und kehrte mit Depressionen nach Istanbul zurück.51 Er wohnt zu diesem Zeitpunkt in Vaniköy, auf der gegenüberliegenden, hügelig-bewaldeten anatolischen Seite des Bosporus in einem alten Holzhaus und kam regelmäßig in einem Boot nach Bebek herüber, um die Auerbachs zu besuchen. Die vertrauliche Gesprächsszene beginnt mit der eindrucksvollen Charakteristik Auerbachs und fließt über in den Abschnitt, der Hermann Hesse gewidmet ist: Am Schreibtisch des Nebenzimmers […] saß aber, stets würdig ›E‹, Erich Auerbach und schrieb an seiner ›Mimesis‹. Ab und zu kam er zur Tür herein, um immer gewinnend und freundlich lächelnd, mit den für das entstehende Buch mitbegeisterten – gebildeten! – Laien, dem einen Gast oder den wenigen Gästen, und der Gattin, die da weltlich heiter und gesprächig sanft zusammensaßen, ihnen, er der geistig immer hoch beschäftigte rastlos fleißige, vom zu vollendenden Werk stets Geplagte die hohe Ehre zu schenken, irgendeinen Ausdruck, ja zur Zeit den entscheidenden Titel des Buches zu diskutieren (wobei ›Mimesis‹ mir sofort alles andere ausschließend, einleuchtete). Als ich nun mit Marie allein in der vertrauten Ecke saß, und sie, denke ich, keineswegs erfreut, in meinem Gesicht, sie nannte mich ›Fokos‹ und duzte mich, den prompt wieder einstellenden nicht jedem Auge sichtbaren, aber vor ihr nicht zu verheimlichenden, ihr allzu bekannten durch irgendeinen Kummer gehemmten, immer unleidlich den gleichen, auch durch sie, als Frau scheint es, nicht zu erlösenden Ausdruck gewahrte, sagte sie urplötzlich, ohne Einleitung und ohne Begründung, aus heiterem Himmel, um meinen zu entwölken, spontan, beinahe abrupt, sanft eruptiv: ›Schreiben Sie doch einmal Hermann Hesse!‹ Ich erkannte die Wichtigkeit dieses blitzartigen, jähen Fingerzeigs, achtete ihn, nahm ihn ernst,

50 Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern: A. Francke Verlag 1946. Die Entstehungszeit des Buches (1942-1945) ist eingangs vermerkt, womit Auerbach unmissverständlich zu verstehen gibt, dass sein Werk im Exil entstand. Ebenso hat er einen direkten Faschismusbezug eingearbeitet – beispielsweise im ersten Essay, indem die analysierte Opferungsszene des Isaak als figurale Verarbeitung des Holocaust betrachtet werden kann. 51 Auerbach hatte im harten Kampf mit den Universitätsbehörden erreicht, dass Fuchs für diese Zeit sein Lehrgehalt dorthin überweisen wurde. 75

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war aber noch lange nicht reif dazu, ihm zu folgen.[…]. Da ermannte ich mich, dank Marie, und raffte mich zu einem großen Vertrauensakt auf und schreib Hermann Hesse in stundenlanger Aufregung (aus mir herauszutreten) einen langen wahrscheinlich ziemlich verworrenen Brief […]. Dazu legte ich, damit auch etwas Geschaffenes von mir greifbar sei, eine kleine Auswahl früher Gedichte bei, die von mir genannte ›Hesse-Folge‹. Dann kam die Antwort: eine hübsch bebilderte Abschrift eines seiner wichtigsten Gedichte; das am 11. August 1962 vor dem auf dem Friedhof von Sant Abbondio vor der Kapelle aufgebahrten Sarg von Siegfried Unseld zum Abschied von Hermann Hesse gesprochene und dadurch besonders geweihte, 1944 gedichtete – ›Leb wohl, Frau Welt‹!52

Man erkennt bei Fuchs eine esoterisch und hypotaktisch anmutende Erzählstruktur, wodurch sich sein Schreibstil bestimmen lässt. Neben dem inneren Entstehungs- und Diskussionsprozess von Mimesis, dem Fuchs beiwohnte und auf dessen konzeptionelle Bedeutung für seine eigenen Arbeiten ich später eingehe, erfahren wir, dass er nach depressiven Stimmungen den Rat von Marie Auerbach erhielt, sich Hermann Hesse zuzuwenden. Marie Auerbach, die mit Hesses dritter Frau Ninon Dolbin (geb. Ausländer) bekannt war, erhoffte sich durch ihre Vermittlungsarbeit, dass der an selbstquälerischen Zweifeln leidende Fuchs eine Linderung seiner hoch gesteigerten Empfindsamkeit erfahren sollte. Sie hatte ihm Hesse wohl deshalb als Korrespondenzpartner vorgeschlagen, weil dieser selbst am Zerfall mit dem eigenen Zeitalter erkrankte, indem er unter der Verflachung des Geistes litt und den Verlust humanistischer Gesinnung beklagte sowie die Zerstörung der Natur tief empfand. Konsequenterweise hatte er sich aufgrund dieser kulturkonservativen Haltung aus der betonierten Welt der Massen in ein natürliches Abseits ins Tessin zurückgezogen. Aufgrund der ähnlich gelagerten seelischen Konstitution und Erfahrung als Außenseiter und melancholischer Dichter stellt er den ersehnten Gesprächspartner dar, der für Fuchs eine menschliche und ästhetische Orientierung anzubieten vermochte. Tatsächlich dauerte es noch etwa acht Jahre, bis Fuchs an Hesse wirklich schrieb. Insgesamt sind fünfzehn Briefe überliefert,53 die sich über den Zeitraum von 1953 bis 1962 erstrecken, woraus ersichtlich wird, dass Fuchs’ lyrische Produktion, deren erste Früchte er dem ersten Brief an Hesse beigab, etwa Mitte der vierziger Jahre eingesetzt haben dürfte. Das erwähnte Gedicht, welches neben einigen Aquarellen als freundschaftliche Gegengabe auf die von Fuchs erhaltenen Briefe und

52 Fuchs: Mein Besuch bei Hermann Hesse. 53 Alle Fuchs-Briefe werden im Hesse-Nachlass (DLA) aufbewahrt. Hesses Antwortbriefe wurden von Hermann Fuchs dem Hesse-Museum in Calw übergeben. 76

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Gedichte von Hesse einem seiner Antwortbriefe beigelegt wurde, lautet wie folgt: Leb wohl, Frau Welt Es liegt die Welt in Scherben, Einst liebten wir sie sehr, Nun hat für uns das Sterben Nicht viele Schrecken mehr. Man soll die Welt nicht schmähen, Sie ist so bunt und wild, Uralte Zauber wehen Noch immer um ihr Bild. Wir wollen dankbar scheiden Aus ihrem großen Spiel; Sie gab uns Lust und Leiden, Sie gab uns Liebe viel, Leb wohl, Frau Welt und schmücke Dich wieder jung und glatt, Wir sind von deinem Glücke Und deinem Jammer satt.54

Hesse hat in seinem im Kreuzreim gehaltenen Gedicht den Kontrast von ästhetischem Anspruch und ethischem Anliegen und Wollen klar formuliert. Das mögliche Ende der lyrischen Verzauberung der Welt wird zwar nicht direkt ausgesprochen, ist aber durch den millionenfachen Schrecken des Sterbens, welcher dem Terror durch die Nazis verschuldet war, implizit erkennbar. Fuchs ist diese widersprüchliche, aber auch melancholische Grundstimmung von Hesses Gedicht selbst aufgefallen, denn er sagt dazu Folgendes: Die Botschaft war zwar eine liebliche, mich aber auch tief beunruhigende Antwort! Mein erster Ruf in die Ferne war erhört und ich haderte! Wie? ›Die Welt‹!, nicht nur das irreführende Deutschland (1944) liegt, so wie die Ehe ging, alles ›liegt: in Scherben‹, und das ›Sterben‹ hat keine ›Schrecken‹ mehr?

54 Hermann Hesse: Leb wohl, Frau Welt [1944], in: Volker Michels (Hg.): Hermann Hesse. Sämtliche Werke, Bd. 10, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 12002, S. 372. Dieses Gedicht wurde der Hesse-Folge [etwa 1945ff.] von Fuchs nachträglich vorangestellt; dies sind 23 Gedichte, die er an Hesse sandte und aus deren Fundus ich später das Gedicht Geistliches Lied vorstelle. 77

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trotz ihrer ›Wild‹-heit – wollen wir von der immer noch zauberhaften ›dankbar scheiden‹? […]. ›Leb wohl, Frau Welt‹? – ein Lebensabschiedslied? Ein Willkommen dem Tode? ihm harmonisch gültige Erlösungskraft einräumend? Wenn ich je klagte, und mich beklagte, so war es stets ein kaum verkappter Schrei nach mehr Liebe, ein Weinen nach dem doppelten Gutenachtkuß der Mutter, und meine (ebenfalls frühe) Todessüchtigkeit: zutiefst inbrünstige Sehnsucht nach intensivem wahrerem Leben. […] Die Welt ist weit, viel ist noch unbekannt, intakt und schön, nicht alles liegt in Scherben. In dieser großen wilden Welt kannst du noch neue, dich bindende Zauber finden.55

Signifikant an seinem Kommentar ist das Bild von der entschwundenen Mutter, die Mahnung an die versunkene Kindheit und die Züge, die von Fuchs’ Zurückverlangen der Mutter getragen sind; es sind Züge des Verfallenden und Untergehenden, Züge eines sterben wollenden Menschen, der von Sehnsucht verfeinert ist. Durch die Gegenüberstellung der eigenen »frühe[n] Todessüchtigkeit« mit der im Gedicht vorherrschenden Trauer angesichts der zeitbedingten welthistorischen Situation setzt Fuchs eine Art Selbstbildnis des sterbenden Romantikers in Szene, wie wir es im Schlussteil von Hesses Erzählung Klingsors letzter Sommer56 erkennen. Damit ergibt sich über das Gedicht und den dazugehörigen Kommentar eine biographische Parallele und Spiegelung zu Hesses Selbstzerfleischungsprozess und den Selbstmorddrohungen aus der Krisenzeit der zwanziger Jahre, die er im Steppenwolf 57 bearbeitet und schließlich durch den Bildungsroman Narziß und Goldmund 58 überwunden hatte. Besonders im Steppenwolf sind es die Leiden Harry Hallers, mit denen sich Fuchs identifizieren konnte. Hesse hat sie in rückhaltloser Aufrichtigkeit bloßzulegen und zu entgiften versucht: der protestantische Wahn der Persönlichkeit, die unentrinnbare Verhaftung in einer feindlichen und unverständlichen Zeit und die leidenschaftlich befehdenden Kräfte der Geistes- und der Sinnenwelt, deren Duplizität, ähnlich wie in Nietzsches Kunsttriebkonzeption, zugunsten des unermesslichen Reichtums der Seelenwelt enthüllt werden.59 Fuchs hat Hesses Denkweise ab-

55 Fuchs: Mein Besuch bei Hermann Hesse. 56 Hermann Hesse: Klingsors letzter Sommer [1919/20], Wiesbaden: Insel Verlag 1958 (Insel-Bücherei Nr. 502). 57 Hermann Hesse: Der Steppenwolf [1927], Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1974 (Bibliothek Suhrkamp, Nr. 226). 58 Hermann Hesse: Narziß und Goldmund. Geschichte einer Freundschaft [1929/30], Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1973 (Bibliothek Suhrkamp, Nr.65). 59 Zur Interpretation von Hesses Schriften aus der Krisenzeit, vgl. die Monografie Hugo Ball: Hermann Hesse. Sein Leben und sein Werk [1927]. Mit 78

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gelesen, dass das dort veranschaulichte Moment der Modifikation als eine dem Menschen immanente Möglichkeit begriffen wird, das eigene Leben durch bewusst vollzogene ästhetische Bearbeitung und Steigerung auf ein neues Niveau zu heben.

Klassisches Bildmotiv 1: Apollon und Dionysos Die Suche nach Anlehnung, Halt und Anerkennung geht auch aus einem Brief vom 31. Dezember 1961 hervor, in dem sich Fuchs auf zwei seiner gerade entstandenen Gemälde bezieht: Ach Lieber! Ich möchte noch so viel malen! […] Und alte Bilder warten: die laue, schwüle Herbstlandschaft, die mich ganz müde macht vor lauter Rot, wo einer, ich und weltverloren auf dem festweichen Rücken eines hirschähnlichen Untiers liegt und sich mit geschlossenen Augen, träumend, an Meeren und Hügeln vorbei, lautlos in die Heimat tragen läßt. Eines von Armin Knab vertonten Mombert-Gedichts hat mich einst dazu verführt, ohne dass es doch eine Illustration des Übrigen sein sollte: ›Schlafend trägt man mich in mein Heimatland‹. […] Die Bäume und Wolken sind schon da, auch ich und der Hirsch, und der Hintergrund, aber das Schreiten des Tieres muss noch deutlicher werden, und der frühere, bittere Zug des Mundes soll verschwinden.60

Der Betrachter wird in das querformatige Ölgemälde61 durch die Figur des Hirsches im zentralen Bildvordergrund eingeführt. Auf dessen Rücken ruht der Maler in einer nackten Pose, wobei der untere Körperbereich ohne Genitalien dargestellt ist und mit den sich überkreuzenden Gliedmaßen eine halb liegende Position ergibt. Die nach hinten ausgebreiteten Arme haben sich in dem wie in einem Nimbus wirkenden Horngeflecht des Hirschgeweihes verfangen, so als würde sich die Figur festhalten wollen. Dadurch, dass Hals und Rücken des Hirsches als Basis dienen, gewinnt man ferner den Eindruck, als würde es sich um eine anakreontische Präsentation im klassischen Stil handeln, wie man sie seit der Renaissancemalerei für den Bereich der Arkadien- und Pastoraldareinem Anhang von Anni Carlsson, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 1947, S. 187-235. 60 Traugott Fuchs: Brief an Hermann Hesse vom 31. Dezember 1961, Nachlass Hesse (DLA). 61 Traugott Fuchs: »Schlafend trägt man mich in meine Heimat dann« [1961], Öl auf Leinwand: 42, 5 x 52, 5 cm (NTF/BU). Das Gemälde wurde unter diesem Titel im Jahr 1995 ausgestellt und ist im dazugehörigen, nicht paginierten Katalog (vgl. Anm. 8) auf der letzten Seite ohne Erklärung oder einführende Worte abgebildet. 79

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stellungen kennt – eine Szene, die aber durch die etwas verbogene und asymmetrische Beinstellung verfremdet erscheint. Der in grau braunen Farbtönen gemalte Hirsch mit der beladenen androgynen Figur, deren Kontur eine scharfe Plastizität vermittelt und deren Augen und Mund geschlossen sind, ist in eine leicht hügelige und schroffe Landschaft hineingestellt, die überwiegend in rot und dunkel brauen, dunkel gelben und dunkel rosa farbigen Tönen gehalten wird. Damit kündigt sich eine herbstlich-melancholische Stimmung an und die leuchtende Farbigkeit des Ganzen evoziert den Anschein, als würde alles in Flammen aufgehen können: die äußere, farbliche Intensität lässt auf eine innere, kaum aufzulösende Spannung schließen. Ein räumliches Gleichgewicht zur vorderen Doppelfigur wird durch eine sich vom linken bis zum mittleren Bildgrund erstreckende, kurz gewachsene Baumgruppe hergestellt, deren Zweige wie lodernde Flammen in den feurigen und mit düsteren Wolken verhängten Abendhimmel ragen. Auf etwas nach unten versetzter, horizontal verlaufender Ebene, wird der rechte Mittelgrund durch einen vereinzelten Baum markiert, der nach oben hin sich verjüngend zwar einige Blätter trägt, aber von dessen Stamm verdorrte, tote bste als Gestrüpp herabhängen. Dadurch wird nicht nur die rechte Bildfläche begrenzt, sondern ein Vanitasmotiv kenntlich gemacht und andeutet, dass der Tod als Erinnerung in das Bildthema sich eingeschrieben hat. Es ergibt sich somit eine Art Dreieck zwischen diesen drei Bildelementen (Figur, Baumgruppe, einzelner Baum), wodurch der Blick des Betrachters trichterförmig in die Ferne auf eine Zweierbaumgruppe gelenkt wird. Dahinter sind zwei waagerechte Ebenen eingeschoben: die in dunkel blau angedeutete Meeresoberfläche, wodurch eine Trennungslinie zwischen dem traumartigen Szenario in der glühenden Landschaft und einer am Horizont auftauchenden hohen Bergkette markiert wird, die im Hintergrund in den flammenden Himmel übergeht und dort zart verschwimmt. Damit verdeutlicht Fuchs, dass die Hauptszene im Vordergrund auf einer Art Insel oder Halbinsel sich ereignet und das dahinter liegende Meer und die hohen, schneebedeckten Gebirgsgipfel als Entfernung und Hindernisse zu überwinden wären, wenn man das »Heimatland« schlafend erreichen wollte. Vermittels dieses klar strukturierten Bildaufbaues entsteht eine innere Anspannung, die auf das gegenüber Hermann Hesse im Brief als Bildtitel »Schlafend trägt man mich […]« angesprochene Heimatthema verweist, denn diese Verszeile ist dem neuromantischen Gedichtzyklus Der Glühende62 von Alfred Mombert (1872-1942) entnommen. Wenig später

62 Alfred Mombert: Der Glühende [1896], Minden in Westf.: J.C.C. Bruns Verlag. Zweite, veränderte Auflage 1902. 80

TRAUGOTT FUCHS ZWISCHEN EXIL UND WAHLHEIMAT AM BOSPORUS

hatte der Komponist Armin Knab (1881-1951), der als Erneuerer der deutschen Liedkunst gilt, das Thema des Gedichtes vertont.63 Traugott Fuchs, der selbst ein begeisterter Pianist war und auf seinem Konzertflügel bedeutende Romanzen der deutschen Romantik zu spielen verstand und Marie Auerbach Gesangsunterricht erteilte,64 hatte sich also zuerst durch Knabs Vertonung zur bildnerischen Gestaltung des Heimatthemas inspirieren lassen. Das vollständige Gedicht, welches im freien Rhythmus gehalten ist und sich durch sechs kurze Verszeilen auszeichnet, lautet wie folgt: Schlafend trägt man mich in mein Heimatland. Ferne komm’ ich her, über Gipfel, über Schlünde, über ein dunkles Meer in mein Heimatland.65

Fuchs lässt mit der Nennung beider Künstler gegenüber Hesse damit durchblicken, dass über die Beziehung zwischen Musik und Poesie ein neues Bildkunstwerk entstanden ist. Hinsichtlich der inneren Stimmungslage, die im Gemälde durch das äußere der erhabenen Natur verkörpert wird, kommt auf ähnliche Weise zum Ausdruck, was Friedrich Nietzsche mit Bezug auf ein nicht nachgewiesenes Briefzitat von Schiller an Goethe über die Bedeutung der musikalischen Stimmung sagte, die dem Entstehungsprozess der Poesie vorausginge: Ueber den Prozeß des Dichtens hat uns Schiller durch eine ihm selbst unerklärliche, doch nicht bedenklich scheinende psychologische Betrachtung Licht gebracht; er gesteht nämlich, als den vorbereitenden Zustand vor dem Actus des 63 Armin Knab: Mombert-Lieder: für eine Singstimme und Klavier, op. 6, München: Wunderhorn Verlag 1912. Knab hatte zudem Hölderlin-, Goethe-, Eichendorff- und Georgegedichte vertont und Kinder- und Lautenlieder geschrieben. Vgl. ferner Arnim Knab: Denken und Tun. Gesammelte Aufsätze über Musik, Berlin: Merseburger Verlag 1959, worin er seinen theoretischen Ansatz zur deutschen Liedtradition entfaltet hat. 64 Dies geht aus einem Brief von Erich und Marie Auerbach an die gemeinsame Marburger Freundin Freya Hobohm hervor, die ebenso mit Fuchs befreundet war und ihn aus der gemeinsamen Marburger Studienzeit kannte, vgl. Verf. Ein Exil-Brief Erich Auerbachs aus Istanbul an Freya Hobohm in Marburg, versehen mit einer Nachschrift von Marie Auerbach (1938), in: Trajekte. Zeitschrift des Zentrums für Literaturforschung Berlin, Nr. 9, 5. Jg, 2004, S. 8-17, hier: S. 12 und S. 17. 65 Mombert: Der Glühende (Anm. 62), S. 65. 81

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Dichtens nicht etwa eine Reihe von Bildern, mit geordneter Causalität der Gedanken, vor sich und in sich gehabt zu haben, sondern vielmehr eine m u s i k a l i s c h e S t i m m u n g (›Die Empfindung ist bei mir anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand; dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Gemüthsstimmung geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee‹).66

Was Nietzsche und Schiller formulieren, bezieht sich speziell darauf, dass sich die musikalische Stimmung des Augenblicks durch die von außen einströmenden Wahrnehmungen als liedhafte Poesie konstituiert. Mit dem Begriff »Stimmung« wird zugleich die ganze Stufenleiter der Empfindungsweisen (Trübsinn, Schwermut, Heiterkeit und Frohsinn) angesprochen, womit in der Bedeutung des lateinischen Wortes temperamentum die besondere Stimmung oder Aura einer Landschaft oder Szene gemeint ist, die als musikalische Harmonie oder Disharmonie im Kunstwerk den Gemütszustand seines Verfassers in Erscheinung treten lässt.67 Überträgt man Nietzsches, Schillers und Spitzers ästhetische Erörterung zum Begriff »Stimmung« auf Fuchs’ Gemälde,68 dann ließe sich generell sagen, dass die bildlichen Kontraste als Einheit von Atmosphäre und Stimmung in dem dargestellten Mensch-Tier-Naturverhältnis zusammenklingen. Aber nicht nur dieser musikalische Stimmungsaspekt ist für das Gemälde bezeichnend, sondern mit dem Hinweis auf die Vorlage des jüdischen Dichters hat Fuchs eine politische Ebene hergestellt und daran erinnert, dass sich keine heimatlich-schützende Hand erhob, als Mombert als siebzigjähriger deutscher Dichter im Oktober 1940 aus seinem Heimatort Karlsruhe in das südfranzösische Lager Gurs deportiert wurde. Damit illustriert Fuchs am Beispiel des über den Bildinhalt reflektierten 66 Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (Anm. 4), S. 43. Das Zitat hat Nietzsche dem Brief von Schiller an Goethe vom 18. März 1796 entnommen, vgl. Schillers Werke. Nationalausgabe, Bd. 28: Briefwechsel. Schillers Briefe (1.7.1795 bis 31.10.1796). Herausgegeben von Norbert Oellers, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1969, S. 201f. 67 Vgl. Leo Spitzer: Classical and Christian Ideas of World Harmony. Prolegomena to an Interpretation of the Word »Stimmung« [1944/48]. Edited by Anna Granville Hatcher. Preface by René Wellek, Baltimore: The Johns Hopkins Press 1963, S. 6ff. 68 Die wortgeschichtliche Interpretation Spitzers war Fuchs bereits 1944/45 durch Zusendung von Sonderdrucken zum Thema »World Harmony« bekannt geworden. Von Fuchs ist im Nachlass eine wortgeschichtliche Studie zum Thema Das Wort Mensch [ca. 1960] als 80-seitiges Typoskript überliefert, in dem die philosophischen und anthropologischen Implikationen des Begriffs von der Antike (Platon) bis zur Gegenwart (Wittgenstein) herausgearbeitet worden sind. 82

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Textes eines durch die Nazis zu Tode gehetzten Künstlers seine eigene Exilgeschichte als pathetisch-allegorische Form der Darstellung und verweist auf die problematische Bedeutung, die mit dem Heimatbegriff als einem zu bewältigendem historischen und gesellschaftlichen Trauma verknüpft ist. Vielmehr noch: mit der Bezugnahme auf das Gedicht hat Fuchs einen ähnlichen Standpunkt wie Jean Améry eingenommen, indem er den vergessenen Dichter der verdrängten Vergangenheit entreißt und ihn damit rehabilitiert, aktualisiert und eine ideelle Form der Wiedergutmachung bezeugt.69 Durch diesen politischen Gegenwartsbezug mag sicherlich die brennende Frage entstanden sein, ob eine Rückkehr in die deutsche Nachkriegsheimat, die zum Zeitpunkt der Entstehung des Gemäldes und seines Briefes an Hesse durch den Jerusalemer EichmannProzess im Jahr 1961 emotional aufgerüttelt und an ihre NS-Verbrechen erinnert wurde, überhaupt vorstellbar gewesen wäre.70 Aus ikonographischer Perspektive ist ergänzend anzumerken, dass der Hirsch, auf dem sich der Maler positioniert hat, nicht fortschreitet. Die Hinter- und Vorderläufe sind in einer kontrapostartigen Haltung fixiert, so dass er sich nicht bewegt, sondern in einer stabilen und passiven Stellung verhofft. Von einem wirklich aktiven Aufbruch in die Heimat kann nicht die Rede sein. Das Tier war im antiken Griechenland dem Lichtgott Apollon und der Jagdgöttin Artemis geweiht und durch das Abwerfen 69 Aus der Perspektive des betroffenen Opfers stellt Améry in dem besagten Heimatkapitel nüchtern fest: »Die Leser von einst, die gegen seine [Momberts, M.V.] Deportierung nicht protestierten, hatten seine Verse ungeschehen gemacht«. Vgl. Améry: Jenseits von Schuld und Sühne (Anm. 10), S. 100. Zudem bezieht sich Améry auf einen im Auffanglager Gurs 1941 geschriebenen Brief, worin die Deportation von Momberts Familie geschildert wird. Der Vernichtung im Konzentrationslager entging Mombert durch Fürsprache von Hans Carossa und Hans Reinhart, durch die er im April 1941 die Ausreisegenehmigung in die Schweiz erhielt, aber kurz darauf an den Folgen der seelischen und körperlichen Strapazen in Winterthur im Februar 1942 verstarb. 70 Der Prozess fand von April bis Dezember 1961 statt und erregte weltweites Aufsehen, vgl. Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen [1962/64], München, Zürich: Piper Verlag 61987. In zionistischen Kreisen stieß Arendts Darstellung der Beteilung von Judenräten an der Deportation (S. 151-162) auf Ablehnung und katapultierte sie selbst bei Freunden wie Gershom Scholem und Hans Jonas ins politische Abseits, vgl. Hans Jonas: Erinnerungen. Nach Gesprächen mit Rachel Salamander. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Christian Wiese, Frankfurt a.M.: Insel Verlag 2003, S. 287-295. Freilich war Arendt klar, wer die Mordwerkzeuge in der Hand hielt. 83

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und Nachwachsen des Geweihes ein Sinnbild für den Kreislauf der Natur, wobei die rote Farbe des abgescheuerten Bastes der Rosenstöcke symbolisch in Beziehung zum Feuer gesetzt werden kann71 – ein Merkmal, welches in den energetischen Farbtönen des Gemäldes präsent ist. Eine weitere Bedeutungsebene ergibt sich, wenn man den Hirsch mit dem Attribut der Triebhaftigkeit des aus Kleinasien stammenden Dionysos identifiziert, der in seiner geschlechtlichen Zuchtlosigkeit Apollon, dem Gott der Musik gegenübersteht, der als die liegende Figur anwesend ist, womit sich über Knabs Vertonung von Momberts Gedicht die unmittelbare Beziehung zur Musik und Poesie ableitet. Mit dem auf diese Weise allegorisch geschickt hergestellten Aufeinandertreffen beider Götter hat Fuchs nicht nur im Sinne von Nietzsches Geburt der Tragödie die beiden Stilgegensätze in der Kunst aufeinander bezogen, sondern seinen eigenen Leidenskonflikt zwischen Triebhaftigkeit (Dionysos), Schönheit und ewiger Jugend (Apollon) sowie der Heimat- und Exilproblematik als ein Sichablösen und Wiederfinden als Genesender dieses Konflikts formuliert. Der durch die geschlossenen Augenlider verklärt nach innen gerichtete Blick der liegenden Figur korrespondiert mit der apollinischen Kunst des Schauens und ist durch Momberts Sehnsuchtgedicht insofern mit dem dionysischen Element verbunden, als dass die Figur eine physische Berührung mit dem Hirsch eingeht. Damit sind beide Stilgegensätze anwesend, denn Dionysos und Apollon repräsentieren für den Menschen zwei Zustände vom Wonnegefühl des Daseins, welches sich im Traum und Rausch ausdrückt.72 Diese beiden Zustände erscheinen über die zugeordneten Symbole und Attribute im Gemälde miteinander versöhnt. Offensichtlich ist außerdem, dass sich der Kopf des Tieres nach halbrechts in die Landschaft hereindreht, während die androgyne Apollonfigur den Betrachter anblickt, das heißt, sie schaut in meditativer Versenkung nicht in die Ferne des Bildraumes, sondern praktisch auf den Standort des Malers selbst, der sich in der anatolischen Landschaft als erweitertem Bildraum befunden haben mag.73 Durch die laszive Haltung drückt dieser Apollon zwar ein romantisches Heim- und Vergangenheitsweh aus, aber in der androgynen Selbstdarstellung ist eine Ambivalenz präsent, wenn man darunter versteht, dass dieses Motiv die multikulturelle Konsolidierung des Malers in der Türkei symbolisiert. Ange71 Vgl. Manfred Lurker (Hg.): Wörterbuch der Symbolik, Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 31985, S. 293 (Begriff »Hirsch«). 72 Vgl. Friedrich Nietzsche: Die dionysische Weltanschauung [1870], in: Kritische Studienausgabe (Anm. 4), Bd. 1, S. 551-577, hier: S. 563. 73 Fuchs hat sehr häufig im Freien nach der Natur gemalt. Ich vermute, dass das Gemälde auf einer der Prinzeninseln entstanden ist, denn die im Bild dargestellte Topographie der Landschaft weist ähnliche Züge auf. 84

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sprochen ist damit seine Zweisprachigkeit zwischen deutscher und kleinasiatisch-türkisch geprägter Kultur- und Sprachgeschichte, die mit dem Zwitterhaften der Figur korrespondiert. Darin drückt sich nicht so sehr ein Remigrationswunsch aus, sondern die Gestalt ist vielmehr für ein gleichnishaftes Traumbild vom Nicht-Zurück-Können repräsentativ: als eine apollinische Illusion, deren sehnsuchtsvolle Haltung mit den nach hinten ausgestreckten Armen gestisch unterstrichen wird. Aber letztendlich wurde das Verbleiben unter südlichem Himmel dem androgynen Apollon nicht nur sinnbildlich, sondern real zur Wahlheimat. Dieser Prozess hat sich über die konstruktive Auseinandersetzung mit der Motivund Bedeutungswelt der klassischen Antike auf dem klassischen Boden in der Türkei verdichtet. Das romantische Gemälde bezieht sich somit auf eine Lebenstatsache, die den eigenen Standpunkt des Malers als ästhetisch-rezeptiv hingebendes Verhalten zur eigenen Geschichte und Wirklichkeit widergespiegelt.

Klassisches Bildmotiv 2: Arion Im gleichen Brief an Hesse kommt Fuchs auf ein zweites Gemälde zu sprechen, indem er danach fragt, ob man über seine eigenen Bilder sprechen und sie interpretieren sollte: Soll man eigentlich seine eigenen Bilder beschreiben? Sie haben die ihren glückhaft bedichtet. Soll ich die vielleicht kitschige Wirkung der meinen vor Ihnen auch noch erbrämen? Aber wie soll ich Ihnen sonst, während die Honigkerze Ihrem Bilde still und ehrwürdig vom alten ins neue Jahr hinübergeleuchtet hat, sie, die alle meinen früheren, Ihnen gewidmeten neujahrs-nächtlichen, alle Flammen in frisches Licht sammelt und verzehrt, denn erzählen, dass auf dem Arion-Heimweg-Bild die Natur im leisen Dämmer ihrer Farben auch schon ein wenig trauert, dass der hohe, spannende, die Kräfte der Götter in Bewegung setzende Rettungsaugenblick schon vorüber, dass Arion selbst uns schon gen Hause verschwunden ist, wir bald allein sein werden mit der Nacht? – Ach, wiederum nur ein Lied, wie es Arion sang, könnte dies alles begreiflich machen.74

Die besondere Eigenart von Fuchs’ ästhetischem Empfinden und seiner Gestaltungsgabe zeigt sich in einem weiteren Bildmotiv, welches nach der gegenüber Hesse angesprochenen Vorstudie in seiner reifsten Version etwas später im Hochformat entstand und als Mischtechnik unter

74 Traugott Fuchs: Brief an Hermann Hesse vom 31. Dezember 1961, Nachlass Hesse (DLA). 85

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dem schlichten Titel »Arion« endgültig ausgeführt wurde.75 Die dekorative Wirkung des alles in allem in hellen und freundlichen Farbtönen gehaltenen Gemäldes entsteht dadurch, dass die nach einer literarischen Vorlage erzählte Geschichte sich in einem Rundbogen ereignet, der gleichsam als Bühnenbild zu betrachten ist und in dessen dadurch entstandenen innerem Bildraum die Handlung abläuft. Der Rundbogen beziehungsweise die in weiß brauen und grauen Tönen gemalte Arkade ist ein Motiv aus der klassischen Architektur und unterstreicht den würdigen Bedeutungsgehalt der Szene, da diese sich auf einen klassischen Gegenstand aus der griechischen Kunst- und Mythenwelt bezieht. In der Bildmitte, dem blauen Meer, auf dessen Wellen die weiße Gischt tanzt und somit die Bewegung und Geschwindigkeit des Wassers anzeigt, erscheint ein in Fahrt befindlicher, lächelnder Delphin, dessen hintere Schwimmflosse schwungvoll aus dem Wasser emporragt. Auf seinem Nacken sitzt in gespreizter Beinhaltung eine männliche, nackte und blond gelockte Figur, die den Betrachter in dieser Pose leicht verzückt anlächelt. In ihrer linken Hand hält sie eine Lyra und steuert mit diesem Instrument gleichsam auf den Bildvordergrund zu, der sich durch ein in Richtung Delphinmund verjüngendes Halbrund öffnet. Auf der linken Bildseite wird der Vordergrund durch ein braunes Schilfrohr markiert, welches auf der gegenüberliegenden Seite durch drei weitere Schilfrohre eine räumliche Begrenzung erhält und mittels der Wellenbewegung auseinander gewirbelten violett-gelben Seelilien eine Meeresflora in unmittelbarer Ufernähe andeutet, in der sich links zwei Schnecken und rechts eine Schildkröte tummeln. Das rechte Auge der Schildkröte ist geöffnet und der Hals richtet sich empor, so als würde sie mit dem Delphin und der auf ihm sitzenden Figur den Kontakt aufnehmen wollen. Auf der Höhe des Hauptes der auf dem Delphin sitzenden Figur ist in kreisrunder Form und knall gelben Tönen die Sonne sichtbar, die auf der links gegenüber liegenden Seite farblich einen Kontrast durch die in hell braunen Tönen angedeutete Bergkette mit fünfzackigen Gipfeln erfährt, worüber sich ein türkisfarbener Himmel über die gesamte mittlere Bildfläche erstreckt. Diese Szene wird im oberen Bildbereich durch einen halbkreisförmigen Glorienschein überwölbt, der sich aus sechzehn einzelnen, in ockergelb und gold gehaltenen Fächerstäben zusammensetzt. Aus dem Hintergrund wird er von einer nebulösen Lichthülle angestrahlt, womit der Doppelfigur aus Delphin und Arion eine besondere Würde verleihen wird. Wer war Arion und was bewegte Fuchs, sich mit dieser antiken Figur

75 Traugott Fuchs: Arion [1961/62], Mischtechnik (Öl auf Leinwand, Wachsund Buntstift): 48 x 35, 5 cm (NTF/BU). 86

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auseinanderzusetzen? Wie ist Arion mit der Heimat- und Sehnsuchtsthematik verknüpft und auf welche literarischen Quellen hat sich Fuchs bei der Motivgestaltung bezogen? Arion lebte um 600 vor Christus, stammt aus Methymna von der griechischen Insel Lesbos und war als Lyriker und Sänger am Hof des kunstfreundlich gesonnenen Tyrannen Periander (668-584) in Korinth hervorgetreten, als dieser seit etwa 625 für vierzig Jahre herrschte.76 Nach dem griechischen Historiker Herodot aus Halikarnassos (ca. 484-430 v. Chr.) galt Arion als einer der besten kitharodischen Künstler seiner Zeit77, der den Dithyrambus – das Chorlied – geschaffen hat. Auf ihn lässt sich die Vereinigung der beiden Quellen des tragischen Dramas – Dithyrambus und Satyrtanz – zurückführen, denn er übertrug ersteren in die Strophenform, welcher zuvor als kultisches Trinklied eines einzelnen Zechers gesungen und seit Arion von einem maskierten Bockschor aufgeführt wurde.78 Allerdings sind von Arion keine verlässlichen Texte überliefert,79 aber die Legende, die Herodot als erster wiedergibt, besagt, dass er eines Tages zu einer Kunsttournee nach Süditalien und Sizilien aufbrach und seine Zuhörer zu begeistern wusste. Für die Aufführung seiner Lieder wurde er vom Publikum reichlich belohnt und fasste nach erfolgreichem Verlauf seiner Auftritte den Plan, von Tarent mit einem von korinthischen Seemännern gesteuerten Schiff wieder in die Heimat zurückzukehren. Die Seeleute entpuppten sich jedoch als habgierig und bemächtigten sich seiner ersungenen Schätze. Man verlangte von ihm, dass er sich selbst töten solle und versprach im Gegenzug eine Bestattung an Land. In dieser bedrängten Lebenssituation bringt er die Bitte vor, ein letztes Mal seinen Gesang anstimmen zu dürfen. Die Seeleute willigten ein und Arion sang zu seinem Lyraspiel; als er geendigt hatte, warf er sich – entgegen des ihm zuvor aufgezwungenen Versprechens zur Selbsttötung – ins Meer und wurde von einem vorbeischwimmenden Delphin gerettet, der ihn auf dem Rü-

76 Vgl. Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen [ca. 200-250 n. Chr.]. Aus dem Griechischen übersetzt von Otto Apelt, Hamburg: Felix Meiner Verlag 21967, S. 52-56 (1. Buch, Abschnitt 94-100), hier: S. 54. 77 Vgl. Herodotus: Histories Apodexis [ca. 440 v. Chr.]. With an English Translation by A.G. Godley [1920], Cambridge: Harvard University Press 1960, Books I and II (1. Buch, Abschnitt 23-24), S. 25-29, hier: S. 27. 78 Vgl. Der kleine Pauly. Lexikon der Antike in fünf Bänden. Herausgegeben von Konrat Ziegler und Walther Sontheimer, Bd. 1, München: Deutscher Taschenbuchverlag 1979, S. 548f. (»Arion«). 79 Deshalb gilt bei Nietzsche nicht Arion, sondern Archilochos (ca. 680-640 v. Chr.) als Erfinder des Dityrambos, vgl. Nietzsche: Die Geburt der Tragödie (Anm. 4), S. 42-45. 87

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cken an die Südspitze des Peloponnes nach Tainaron brachte und dort an Land absetzte. Anschließend wanderte er nach Korinth und erzählte seine Geschichte Periander, der sie ihm nicht glaubte und ihn deshalb solange in Gewahrsam nahm, bis die Schiffer heimkehrten; sie behaupteten, dass Arion in Tarent nicht an Bord gegangen sei, sondern sich in Italien aufhalten würde. Daraufhin trat Arion vor die Schiffsbesatzung hin und klärte Periander darüber auf, was ihm angetan wurde. Abschließend berichtet Herodot, dass in Tainaron eine Weihgabe des Arion aus Erz errichtet wurde, die einen Menschen auf einem Delphin darstellt.80 Die von Herodot erzählte Künstlerlegende war Fuchs aufgrund seiner umfassenden humanistischen Bildung bekannt, aber sie weist nicht vollständig die im Gemälde sichtbaren Attribute auf und entspricht daher nicht genau dieser Textvorlage. Vielmehr ist zunächst davon auszugehen, dass er über den Umweg seines besonders stark ausgeprägten Interesses an der frühromantischen Literatur zu diesem allegorischen Motiv gefunden hat. Im Kontext der Poesie- und Kunstdiskussion um 1800 taucht die sagenumwobene Figur des Dichters und Tonkünstlers Arion erstmals wieder in August Wilhelm Schlegels Gedicht »Arion«81 auf und wird kurz darauf in den Künstlerromanen von Friedrich von Hardenbergs Heinrich von Ofterdingen82 und der späten Fassung von Ludwigs Tiecks Franz Sternbalds Wanderungen83 gewürdigt. Während Tieck in der erweiterten Fassung des ursprünglich 1798 erschienenen Romans die Rettung Arions in Form eines Gedichtes später aufnimmt84 und sich damit 80 Vgl. Herodotus: Histories Apodexis (Anm. 77), S. 29. 81 August Wilhelm Schlegel: Arion. Romanze [1798], in: Ders.: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Eduard Böcking. Erster Band, Leipzig: Weidmann’sche Buchhandlung 1846, S. 204-210 (Reprint Hildesheim, New York: Olms Verlag 1971). 82 Friedrich von Hardenberg: Heinrich von Ofterdingen. Ein nachgelassener Roman von Novalis [1800/02], in: Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Herausgegeben von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, Bd. I, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1999, S. 237-383. 83 Ludwig Tieck: Franz Sternbalds Wanderungen [1798]. Herausgegeben von Alfred Anger, Stuttgart: Philipp Reclam Jun. 1983 (Universal-Bibliothek Nr. 8715[5]). 84 Ebd., S. 435-437 (Variantenverzeichnis: Zusatz aus dem Jahr 1843). Im Verständnis romantischer Symphilosophie, das heißt als Gemeinschaftsarbeit sich wechselseitig inspirierender Autoren, die keinen bornierten Anspruch auf geistiges Eigentum erhoben hatten, ist das Arion-Gedicht zwar von Tieck als sein eigener Text ausgewiesen worden. Aber er betont in der Vorrede seiner Edition von Wackenroders Texten, dass der Text ganz aus dem Geist der Gespräche mit seinem Freund entstanden sei, vgl. Wilhelm 88

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viel stärker als A.W. Schlegel der Künstlerlegende im zeitgenössischen Diskurs von Wackenroders Kunstbetrachtungen und Sternbalds Italienreise und deren Begeisterung für die sinnenfreudige venezianische Malerei der Hochrenaissance annähert, hat Novalis gleich im ersten Teil seines Romans die Geschichte Arions am ausführlichsten erzählt. Der Held Heinrich bricht als zwanzigjähriger junger Mann aus seiner Heimatstadt Augsburg zu einer Wanderschaft auf und begegnet im Verlauf seiner Reise einigen gebildeten Kaufleuten, mit denen er ein längeres Gespräch über die Bedeutung der Kunst, Wissenschaft, Poesie und Musik führt. Vor allem interessiert Heinrich die antike Dichtkunst Griechenlands, über die er von den Kaufleuten erfährt, dass ihre ersten Vertreter zugleich als Wahrsager, Gesetzgeber und Priester gewirkt hatten.85 Exemplarisch wird anhand der Sage des Arion verdeutlicht, dass dieser die ideale Einheit von Dicht- und Tonkunst verkörpere.86 Die Überlieferung klingt aber in einer etwas anderen Version als bei Herodot aus, indem Novalis anfügt, dass Arion, nachdem er an Land gesetzt wurde, über seine verlorenen Schätze klagte und zur Erinnerung an glücklichere Stunden noch einmal zu einem Gesang ansetzt, der seinem Glücksbringer, dem Delphin gilt: Indem er so sang, kam plötzlich sein alter Freund im Meere fröhlich daher gerauscht, und ließ aus seinem Rachen die geraubten Schätze auf den Sand fallen. Die Schiffer hatten, nach des Sängers Sprunge, sich sogleich in seine Hinterlassenschaft zu theilen angefangen. Bey dieser Teilung war Streit unter ihnen entstanden, und hatte sich in einen mörderischen Kampf geendigt, der den meisten das Leben gekostet; die wenigen, die überig geblieben, hatten allein das Schiff nicht regieren können, und es war bald auf den Strand gerathen, wo es scheiterte und unterging. Sie brachten mit genauer Noth das Leben davon, und kamen mit leeren Händen und zerrissenen Kleidern an Land, und so kehrten durch die Hülfe des dankbaren Meerthiers, das die Schätze im Meer aufsuchte, dieselben in die Hände des Besitzers zurück.87 Heinrich Wackenroder: Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst [1799], in: Ders.: Dichtung, Schriften Briefe, Berlin: Union Verlag 11984, S. 251 (Vorrede Tiecks) und S. 261-271 (Eine Erzählung, aus einem italienischen Buche übersetzt; darin das eingeflochtene Arion-Gedicht auf S. 266 ff). Der Text wurde in spätere Werkausgaben mit einer kleinen Veränderung in den letzten beiden Versen aufgenommen, vgl. Ludwig Tieck: Arion [1799], in: Gotthold Ludwig Klee (Hg.): Tiecks Werke. Kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe. Erster Band, Leipzig, Wien: Bibliographisches Institut [o.J.: 1892], S. 21f. 85 Novalis: Heinrich von Ofterdingen (Anm. 82), S. 257. 86 Ebd. 87 Ebd., S. 258f. 89

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Diese Erweiterung der Legende hatte Fuchs bei der Lektüre sicher angesprochen, denn Novalis’ Allegorie erscheint in Verbindung mit Herodots Bericht als moralische Botschaft für wiedergutgemachtes Unrecht. Das geradezu märchenhafte Motiv der Errettung aus der existentiellen Bedrängnis mag ihn veranlasst haben, es auf seine Person und Geschichte der Vertreibung aus Deutschland spiegelbildlich bezogen zu haben. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung, dass mit dem Delphin als Symbol der Rettung die Erinnerung an seine beiden Mentoren Leo Spitzer und Erich Auerbach verbunden ist, die dafür sorgten, dass Fuchs der weiteren Verfolgung durch die Nazis entkommen konnte. Neben dieser biographischen Bedeutungsebene zeigt sich im Zusammenhang der romantischen Rezeption in der Figur des kunstreisenden Arion die endlose Suche als nicht endende Wanderschaft, in der sich die romantische Sehnsucht als ein Schwebezustand ausdrückt. Fuchs hat damit auf die paradoxe Situation des romantischen Künstlers angespielt, indem es sich bei seiner Sehnsucht im Grunde um eine ewige Sehnsucht handelt, die im irdischen Bereich keine Erfüllung finden kann. Aber er hat auch erkannt, dass ihr gerade aufgrund dieser Negativität deshalb eine Möglichkeit als lebensbildende und säkulare Orientierung zuerkannt werden sollte. Zu klären bleibt noch die Frage, auf welche Textvorlage sich das Bildmotiv mit seinem besonderen Attribut als Glorienkranz bezieht. Ich denke, vieles spricht dafür, dass Fuchs, neben den angeführten Quellen, Ovids Fasti88 – den Festkalender – zur endgültigen Ausgestaltung des Arionmotivs heranzog. Ovid schrieb diesen poetischen Kalender, der für jeden Tag im Jahr astrologische, kultisch-mythische und meteorologische Ereignisse festhält, in elegischen Distichen und hat ihn Kaiser Augustus dediziert. Die Entstehung des nur für die Monate Januar bis Juni fertig gestellten Kalenders ist auf die Zeitspanne zwischen 5 vor Christus und 8 nach Christus zu datieren, das heißt, dass Ovid den Text zur Zeit seiner Verbannung in der am Schwarzen Meer gelegenen römischen Kolonie Tomis, dem heutigen Konstanza in Rumänien, verfasst hat. Durch den Entstehungsort des Textes hat Ovid über die erzwungene Distanz zur eigenen römischen Heimat sich deren Traditionen im Sinne einer kulturellen Selbstbehauptung in der Fremde vergegenwärtigt.89 Bezogen auf 88 Publius Ovidius Naso: Fasti. Festlalender [5 v. Chr.]. Lateinisch-deutsch. Auf der Grundlage der Ausgabe von Wolfgang Gerlach, neu übersetzt und herausgegeben von Niklas Holzberg, Zürich: Artemis & Winkler 1995. 89 Vgl. Ernst Doblhofer: Die Sprachkunst des Verbannten am Beispiel Ovids, in: Ulrich Justus Stache/Wolfgang Maaz/Fritz Wagner (Hg.): Kontinuität und Wandel. Lateinische Poesie von Naevius bis Baudelaire. Festschrift für Franco Munari zum 65. Geburtstag, Hildesheim: Weidmann Verlag 1986, S. 110-116 und vom gleichen Verf. Ovids Exilpoesie – Mittel, Frucht und 90

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Traugott Fuchs wird dadurch nicht nur die geographische Nähe zu seinem eigenen Exilort in Istanbul evident, sondern auch die Problematik der Selbstvergewisserung als Künstler im Exil manifest. Aber nicht nur dieser Aspekt und die sich daraus ergebende Möglichkeit zur Identifikation mit einem römischen Exildichter, der auf ähnliche Weise aus seiner Heimat verstoßen wurde, legt die Annahme nahe, dass Fuchs auf diese antike Textvorlage zurückgegriffen hatte. Entscheidend ist das Eingangsdatum vom »3. Februar«90 als Kalendertag, unter dem die Geschichte Arions vermerkt ist. Gleich in der ersten Verszeile wird mit der auf seine Person und deren vermeintlichen Bekanntheitsgrad bezogenen Frage »Quod mare non novit, quae nescit Ariona tellus?«91 die Figur eingeführt. Setzt man das Subjekt vom Namen des Malers in den Fragesatz ein, so lässt sich die Geschichte Arions metaphorisch als die Geschichte von Fuchs’ Vertreibung verstehen. Wie bei Herodot und den frühromantischen Quellen, erfolgt bei Ovid der Verlauf der Story zunächst nach dem vorgegebenen Muster: »nomen Arionum Siculas impleverat urbes,/ captaque erat lyricus Ausonis ora sonis; inde domum repetens puppim conscendit Arion/atque ita quaesitas arte ferebat opes. […]«92 Nach der Bedrohung durch die Schiffsmannschaft und dem verzweifelten Sprung ins Meer, schließt sich die glückliche Errettung an, wobei Ovid die Sage jedoch mit einem neuen Schlussakkord versieht, der für das Gemälde durch die letzte Verszeile signifikant wird: »inde (fide maius), tergo delphina recurvo/se memorant oneri subposuisse novo./ille, sedens citharamque tenens, pretiumque vehendi/cantat et aequoreas carmine mulcet aquas./di pia facta vident: astris delphina recepit/Iuppiter et stellas iussit habere novem.«93 Dadurch, dass Ovid den römischen Licht- und Himmelsgott Jupiter auftreten lässt, der kraft seiner Autorität verfügt, dass der Delphin unter die Sternbilder aufzunehmen sei, erhält Arion als ge-

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Denkmal dichterischer Selbstbehauptung, in: Der altsprachliche Unterricht, 1, 1980, S. 81-97. Publius Ovidius Naso: Fasti (Anm. 88), S. 53. Ebd.: »Welches Meer würde wohl, welches Land den Arion nicht kennen.« Ebd.: »Voll von Arions Ruhm warn Siziliens Städte, begeistert/Von seiner Lyra Klang war der ausonische Strand./Dort bestieg Arion ein Schiff Richtung Heimat; er hatte/Reichtümer, die ihm die Kunst eingebracht hatte, dabei.« Ebd., S. 54: »Da – kaum glaublich ist’s! – nahm ein Delphin auf seinen gebogenen/Rücken, erzählt man, die Last, die ihm ganz unbewohnt war./Er aber hält im Sitzen die Lyra und preist durch Gesang die/Fahrt und besänftigt zugleich mit seinen Liedern das Meer./Götter sehen die fromme Tat: Es erhebt den Delphin zum/Himmel Jupiter, neun Sterne noch gibt er ihm bei« (Vers 113-118). 91

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retteter Dichter symbolisch in Form von Orion ein Sternbild. Dieses Sternbild, zu welchem die drei Gürtelsterne (Jakobsstab), die darunter angeordnete Sterngruppe des Schwertgehänges mit dem Orionnebel und desgleichen die Sterne Beteigeuze, Bellatrix und Riegel zählen, ergeben als Erscheinungsbild am Himmel eine doppelte Dreiecksstruktur, die geometrisch dem Bildaufbau von Fuchs’ Gemälde entspricht. Dieser Himmelskörper ist mitbedacht, wenn man gedanklich von den beiden Schnecken links zur Schildkröte rechts eine waagerechte Linie einzeichnet, von dort jeweils beide Enden auf Arion und den Delphin als Schnittpunkt hinführt und diesen als Ausgangspunkt benutzt, um zwei gleichschenkelige Linien nach oben einzuziehen und sie mit dem linken und rechten Rand vom Glorienschein verbindet. Der Glorienkranz verweist also auf die himmlische Dimension, die Ovid zum Schluss der Legende in seinem Distichon hervorhebt. Damit dürfte evident geworden sein, dass sich Fuchs eindeutig auf diese Textvorlage konzentriert, denn die Konstellation zwischen Arion und dem Sternbild Orion ergibt das Eingangsdatum der Ovid’schen Kalendergeschichte (3. Februar), welches sich auf Fuchs’ Ankunft in Istanbul zurück beziehen lässt: »Mit zwei einfachen Koffern kam ich im Februar 1934 in Istanbul an.«94 Das Gemälde ist nach dem Gesagten sowohl als eine Allegorie auf die Ton- und Dichtkunst wie auch als Rettung aus dem Faschismus zu verstehen und hat wesentlich zu Fuchs’ Identitätsfindung als bildender Künstler beigetragen.

Ausgewählte Gedichte: Orpheus und Narziß a l s d i c h t e r i sc he G r u n d t yp e n Auf welche Weise gestaltet sich nun Fuchs’ poetische Empfindungsweise? Lassen sich in seiner Lyrik romantische Motive und Parallelen zum Themenkreis seiner Malerei aufspüren? Oder meldet sich ein Künstler zu Wort, der in der Sprache vielmehr ein anderes Mittel entdeckt, welches ihn über die räumliche Begrenzung der Malerei in eine zeitliche Tiefendimension versetzt, wodurch die mit lebendiger Anschauung erfassten Dinge der Natur zu Laut- und Sprachbildern umgeprägt werden. Ich deu94 Fuchs: Lebenslauf (Anm. 9), S. 35. Damit hat Fuchs auf ähnliche Weise wie der italienische Künstlerbiograph Giorgio Vasari in den Lebensgeschichten der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten der Renaissance (1550) oder Goethe in Dichtung und Wahrheit (1811/16) seinen in Istanbul beginnenden neuen Lebensabschnitt unter ein günstiges Sternsymbol gestellt. In diesem Gestus drückt sich die Einmaligkeit des Individuums und dessen Bedingtheit durch Ort und Zeit aus. 92

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te hiermit an, dass sich die anfangs dargestellte Horaz’sche Definition von Malerei und Dichtung im Verlauf der modernen ästhetischen Diskussion durch Lessings Kunstkritik verändert und eine Erweiterung erfahren hat, welche Fuchs selbstverständlich bekannt war. Lessing hat in seiner Johann Heinrich Winckelmann geltenden Kunstkritik, die sich auf dessen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755) und die Geschichte der Kunst des Altertums (1763) bezieht, den materiellen Unterschied zwischen Poesie und Malerei genau bestimmt: »Es bleibt dabei: Die Zeitfolge ist das Gebiete der Dichtung, so wie der Raum das Gebiete des Malers.«95 In den nachgelassenen Materialien zur Laokoonschrift wird dieser Unterschied nochmals unmissverständlich formuliert: »Poesie und Malerei, beide sind nachahmende Künste […]. Allein sie bedienen sich ganz verschiedener Mittel zu ihrer Nachahmung; und aus der Verschiedenheit dieser Mittel müssen die besonderen Regeln für jede hergeleitet werden. Die Malerei braucht Figuren und Farben in dem Raume. Die Dichtung artikulierte Töne in der Zeit.«96 Damit ergibt sich ein Kontrast zu der von Horaz vollzogenen Ineinssetzung von Malerei und Poesie, denn beide Kunstgattungen werden hinsichtlich ihrer raum-zeitlich bedingten Formen nicht nur voneinander getrennt, sondern durch die unterschiedlichen Mittel und Materialien als jeweils signifikanter Zeichencharakter hervorgehoben. Das tonale Moment der Poesie eröffnet damit einen inneren Sprachraum, der eine Verbindung zur Musik aufweist. Obwohl die Gedichte von Fuchs hinsichtlich ihrer ästhetischen Qualität gegenüber seiner Malerei deutlich abfallen, sollen nun einige Texte vorgestellt und interpretiert werden. Zu den stilistisch besten Gedichten gehören einige Lieder, die im volksliedhaften Ton gehalten sind: Geistliches Lied Die schöne Zeit ist aus Es windet, stürmt und blitzt Es naht des Winters Graus Der mir im Nacken sitzt. Das schöne Glück entgleist Ein Weh bringt dich zu Fall

95 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei

und Poesie [1766], in: Ders.: Werke. Kunsttheoretische und kunsthistorische Schriften. Herausgegeben von Herbert G. Göpfert, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996, Bd. VI, S. 7-187, hier: S. 116. 96 Gotthold Ephraim Lessing: Aus dem Nachlaß: Laokoon [1788], in: Werke (Anm. 95), S. 553-660, hier: S. 564. 93

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Horch: wie du bist verwaist Und irrst im Weltenall ! Du den Geburt betrogen Du suchst der Liebe Flur Die Sehnsucht ist dein Bogen Die Wehmut deine Spur. Doch lass das tote Klagen Sei fröhlich wie im Mai Bis sie ins Grab dich tragen Spiel, singe zur Schalmei.97

Die vier vierversig gebauten Strophen sind in dem von Fuchs bevorzugten Kreuzreim gehalten. Es entsteht eine echte Lyrik, die der VolksliedMetrik entstammt. Die Verse sind fast durchweg in drei- und vierhebigen Jamben gehalten, wobei die ausschließlich weiblich klingenden Versendungen ab der dritten Strophe beginnen und zum zentralen Thema des Gedichts überleiten: der Sehnsucht als Bogen, zu dem die diskanten Klänge der aus dem Orient stammenden und dort als Volksinstrument verwendeten Schalmei ertönen. Die Schalmei ist ein der Flöte verwandtes Instrument und wird in der türkischen Folklore häufig in Verbindung mit der Trommel eingesetzt; letztere spielt in der islamisch-türkischen Prophetenvita des von Süleyman Celebi (1370-1422) verfassten Mevlid (1409), das von Fuchs in Vers- und Prosaform übersetzt wurde, eine zentrale Rolle, denn die Geburt Mohammeds wird dort von ihren Tönen begleitet.98 Durch die Reduktion des lyrischen Ausdrucks auf das Einfache wird die Sehnsucht nach dem Unmöglichen, der unstillbaren erotischen Sehnsucht des lyrischen Ich, das im Gedicht ein »Dich« anruft, erzeugt. Dieser Vorgang vollzieht sich dergestalt, indem das »Du« im anderen »Du« sich seiner selbst entledigt, um das eigene Ich, bedingt durch den Fall ins »Weltall«, neu zu konstituieren, ohne dass dieses neue Ich über diesen Prozess erschrickt oder ganz der »Wehmut« zu erliegen vermag. Der vergehende Herbst, der die schwermütige Stimmung der ersten Hälfte des Gedichts bestimmt und den Verlust des Glücks symbolisch meint, dieser Verlust des umherirrenden »Du« zeigt, dass das Glück der ›schönen Zeit‹, welches im Sommer sich ereignet hat, unbeständig und flüchtig geworden ist. Der Übergang zum Winter, der dem lyrischen Ich spür-

97 Traugott Fuchs: Geistliches Lied [ca. 1960], aus: Liebe (NTF, BU). 98 Vgl. Süleyman Celebi: Mevlid [1409], Istanbul: Devlet Kitaplari 1972, S. 104 (4. Buch). Fuchs’ nicht publizierte Übersetzung dieses klassischreligiösen Textes stellt eine der ganz wenigen Übertragungen ins Deutsche dar. 94

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bar im »Nacken sitzt«, zeigt die Verdüsterung der inneren Stimmungslage an. Diese Unschicklichkeit des wechselhaften äußeren Glücks bedingt den Grund des inneren Leidens, den Betrug, der das Verlangen der Sehnsucht nach Erfüllung als dem früher erfahrenen Zustand freisetzt und die Klage über die Verwaisung des lyrischen Ich stiftet. Der negative Glücksbezug, der in dem Moment reflektiert ist, wo der Bogen der nimmersatten Sehnsucht erklingt, wird aber durch das diskante Spiel der Schalmei übertönt: sie erzeugt einen Gegengesang, um den Bogen in äquilibristischer Liebesspannung zu halten. Spannt man über seine Krümmung metaphorisch mehrere Saiten, dann kann man ihn als musikalisches Instrument begreifen, welches mit der Schalmei und dem anzustimmenden Gesang ein kleines Orchester bildet, das eine heitere Melodie gegen das »tote Klagen« erklingen lässt. Damit ist dem musikalischen Spiel als Spiel mit der Sehnsucht ein freudiger Charakter beigemischt, womit der Vernehmende in eine ruhige Stimmung versetzt wird. Dieser imaginierte Bogen, aus dem sich bildlich der Klangkörper einer griechischen Kithara ergibt, erinnert an ein archetypisches Urbild, welches die Spuren der Auflehnung gegen eine auf Triebverzicht gegründete Kultur trägt. Diese Wunde der Kultur ruft das Imago des in der Malerei häufig dargestellten Musikers Orpheus wach,99 der auf ähnliche Weise wie sein Geistesverwandter Arion die instinktiven Kräfte des Eros entbindet und sie in sublimierter Form der Schönheit zuführt. Die Dimension, der diese Kräfte verhaftet sind, beziehen sich auf die Erlösung von der Lust und dem Stillstand der Zeit, eine befreite Sinnlichkeit und das Spiel als Gesang, womit die erfahrene Bedrückung der menschlichen Schmerzen und der Gegensatz zwischen Mensch und Natur durchbrochen und überwunden werden. Mit dem »Bogen der Sehnsucht« ist demzufolge Orpheus, der andere Archetyp des Dichters als Befreier und Schöpfer anwesend, der in seiner Person Kunst, Freiheit und Kultur vereint. Als Symbol einer nichtrepressiven Haltung erscheint sein Imago als Freude und als die Stimme wieder, die nicht befiehlt. Diese Stimme, die zur Schalmei singt, um die »Wehmut« zu vertreiben, singt das geistliche Lied vom Ende der Mühsal, vom Ende der Sehnsucht; sie versöhnt Eros und Thanatos und sublimiert die Trennung vom libidonösen Wunschobjekt, dem »Du« des lyrischen Ich, das ein neues, musikalisches Ich hervorbringt. Diese orpheushafte Stimme zielt auf eine Wiedervereinigung dessen ab, was getrennt wurde. Aber diese Trennung ist als kulturelle Trennung präsent, da sie in der Gegenüberstellung von Kithara und Schalmei imaginiert wird: die

99 Vgl. beispielsweise Nicolas Poussin: Orphée et Euridyce [1649/50], Öl auf Leinwand: 120 x 200 cm (Paris, Louvre). 95

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Kithara, die für den »Bogen der Sehnsucht« steht, der das griechischeuropäische Erbe der Musik und Dichtung verkörpert und die Schalmei, welche das Orientalische bezeichnet und auf die ältere Kulturstufe zurückverweist. Diese Gegenüberstellung, die Fuchs einerseits vornimmt, wird andererseits aufgehoben, indem er beide Instrumente in einem sich gegenseitig befruchtenden Konzert der Kulturen zusammenfügt. Fuchs dichtet somit den übernationalen Gedanken, dass die Geschichte der Menschheit aus einer Einheit entspringt und dass die Stufen der menschlichen Entwicklung in der Anlage des individuellen Geistes gegeben sind.100 Ich denke, dass Traugott Fuchs ein gleichnishaftes Gedicht geschaffen hat, welches mit den Bildmotiven »Schlafend trägt man mich in meine Heimat dann« und »Arion« aufs engste verknüpft ist. Das Gedicht steht damit kaum Rilkes Sonette an Orpheus101 oder Paul Valérys philosophischem Dialog Eupalinos ou L’architect102 nach, wo Amphion – ein anderer Geistesbruder des Orpheus – die Trümmer einer zerstörten antiken Stadt durch seinen Gesang und das Spiel zur Lyra wieder zusammenfügt. Dass sich Fuchs in der Stiltradition des Liedes auszudrücken verstand, belegt auch das folgende Gedicht: Nachtlied Reich verstreut sind weit die Sterne Übers dunkle Himmelszelt Heute leb ich, leb noch gerne Heute lieb ich noch die Welt. Doch wenn die Gestirne schwinden Unversehrt der Tag sich meint, 100 In dem Gedicht bemerkt man an dieser Stelle den Einfluss Erich Auerbachs, der mit Fuchs über seine Auseinandersetzung mit Giambattista Vicos Kulturphilosophie sprach. Vico war der Auffassung, dass die Menschen ihre Kultur und Geschichte selbst erschaffen und dass dieser kreative Prozess in seiner Grundstruktur überall auf der Erde derselbe sei, vgl. Verf. »Philologie als kritische Kunst.« Ein unbekanntes Typoskript von Erich Auerbach über Giambattista Vicos Philosophie, betrachtet im Kontext von Mimesis (1946) und im Hinblick auf Philologie der Weltliteratur (1952), in: Helga Schreckenberger (Hg.): Die Alchemie des Exils. Exil als schöpferischer Impuls, Wien: Edition Praesens 2005, S. 227-251. 101 Rainer Maria Rilke: Die Sonette an Orpheus [1922], in: Ders.: Werke, Bd. 1, 2, Frankfurt a.M.: Insel Verlag 21982, S. 483-529 102 Paul Valéry: Eupalinos ou L’Achitecte [1921], in: Ders.: Oeuvres II. Édition établie et annotée par Jean Hytier, Paris: Libraire Gallimard 1960, S. 79-147. 96

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Wird mich Dämm’rung aufrecht finden, Wach, verwirrt und wild verweint. Ruhig klingen meine Schritte, Mein Gesicht scheint mild verklärt – Keiner kennt in Herzens Mitte Was dem Leben Tod gewährt. In dem Wintertal der Bäume Wünsch ich blind, wo Wind hoch fährt, Wortlos ächtend Sonn und Träume, Nicht zu sein und lang verjährt. Jahre über Hügel gleiten Zeit aus Jahreszeit erscheint, Ewig weiter muss ich schreiten, Seufzend nach dem Götterfreund.103

Das Gedicht ist in einer Versordnung komponiert, die in fünf Strophen sich gliedert und mit jeweils vier Versen den von Fuchs bevorzugten Kreuzreim praktiziert, der in drei- und vierhebigen Jamben das Metrum bestimmt. Besonders auffällig ist diese Prosodie deshalb, weil der Kreuzreim gleichmäßig und symmetrisch hinsichtlich der Silbenendungen in der ersten, dritten und vierten Strophe angelegt ist, die sich dort im rhythmischen Wechsel von weich und hart vollziehen. Lediglich die Verszeilen der zweiten und fünften Strophe sind durchgängig mit harten Endungen durchzogen, die auf eine semantische Konnotation verweisen, die für das lyrische Ich bestimmend wird. Der erhobene Blick in den gestirnten Himmel, der dem lyrischen Ich zurückspiegelt, dass es Wohlgefallen am Dasein dieser Welt bekundet, dieses selbstzufriedene Wohlbefinden verfinstert sich jedoch in dem zwielichtigen Übergang, der mit dem Schwinden der Dunkelheit und dem Anbruch des Lichts verbunden ist. Der lebensbejahende Ausblick wird durch die weichen Silbenendungen verstärkt; dann aber tritt schlagartig eine radikale Veränderung ein, die mit dem Wechsel der inneren Stimmungslage korrespondiert. Das lyrische Ich fällt in einen Wahnzustand, der sprachlich mittels zweier Alliterationen im letzten Vers der zweiten Strophe erzielt wird, wo die harten Endungen diese Desorientierung drastisch betonen: »Wach, verwirrt und wild verweint.« Dieser Vers ist mittels einer adjektivischen Verknüpfung von wechselseitig sich aufladenden Gegensätzen derart gebaut, dass eine Gefühlslage erkennbar wird, die keinen Zweifel über die innere Anspannung des lyrischen Ich aufkommen lässt.

103 Traugott Fuchs: Nachtlied [ca. 1955], aus: Hesse-Folge, Gedicht Nr. 11 (NTF/BU). 97

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Nach dieser ekstatischen Verausgabung springt das lyrische Ich auf eine weichere Ebene über, auf welcher ein Gesicht »mild« und »verklärt« erscheint. Die rätselhafte Frage nach der Verknüpfung von Leben und Tod steigert sich zu einer faustischen Zerrissenheit, die dahingehend weiter getrieben wird, dass der Wunsch »Nicht zu sein« gegenüber dem Leben vorgezogen wird. Dieser Abgrund des Seins ist mit dem »Wintertal der Bäume« angedeutet, in das die »ruhigen Schritte« der Anfangszeile der dritten Strophe führen. Diese räumliche Tiefenbewegung eröffnet den Weg in eine mystische Selbstvergessenheit als Selbstentäußerung, die »wortlos« bleibt und zum Verstummen des lyrischen Ich führt. Selbst die »Träume« und die »Sonne« werden als möglicher Trost negiert. Es schleicht sich ein schmerzliches Gefühl von tödlicher Sprachlosigkeit ein, womit die Rätselfrage »was dem Leben Tod gewährt« eine philosophische Dimension in dem Sinne gewinnt, als dass alle Vorherbestimmung als dessen Negation zu betrachten ist. Die Selbstauflösung des lyrischen Ich schreitet in der letzten Strophe weiter fort, indem es über »Hügel« und »Zeit« als »Jahreszeit« wandert und in dieser endlosen Bewegung erst eine Erlösung findet, als der »Götterfreund« gefunden ist. bhnlich wie im Geistlichen Lied ist eine symbolische Dimension gegeben, die auf den anderen, negativen Kulturheros verweist: auf Narziß, der das Urbild vom Schlaf und dem Tod verkörpert, und dem das Schweigen und die Stille als Eigenschaften zuzurechnen sind. Als Widerpart des Eros verkörpert er die Sternnacht und die zwielichtige Dämmerung, das Schweigen und die Ruhe, die sich nachdem verwirrten Aufwachen ankündigt. Diese narzißtische Welterfahrung negiert die Erfahrungsform, die durch die Welt des Leistungsprinzips aufrechterhalten wird. Der »Götterfreund« Narziß steht symbolisch dafür, die Logik der Herrschaft und das Reich der Vernunft zu boykottieren. In dem Gedicht wird daher die geordnete Dingwelt verlassen, denn an deren Stelle tritt die Welt des Schlafs, die in ihrer Verbundenheit mit der Sternenwelt als Empfindungszustand dem von Sigmund Freud bezeichneten »ozeanischen Gefühl«104 ähnlich erscheint. Der »Götterfreund« Narziß 104 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur [1929/30], in: Ders.: Studienausgabe. Herausgegeben von Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey, Bd. 9, Frankfurt a.M.: S. Fischer Verlag 1974, S. 191-270. Bezogen auf die Diskussion mit Romain Rolland bemerkt Freud (S. 204), dass sich dieses unbegrenzte Gefühl, das keinem Glaubenssatz, sondern einer subjektiven Stimmung entsprechen würde, in Beziehung zur Religion setzen ließe: »Ich kann mir vorstellen, dass das ozeanische Gefühl nachträglich in Beziehungen zur Religion geraten ist. Dies Eins-Sein mit dem All, was als Gedankeninhalt ihm zugehört, spricht uns ja an wie ein erster Versuch einer religiösen Tröstung, wie ein 98

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verkörpert darum ein andersartiges Realitätsprinzip, das zur Quelle einer neuen Beziehung zwischen Subjekt und Objekt wird. Hinsichtlich dieser Dimension erhält die Poesie von Fuchs eine theologische Sendung, nämlich die, dass sie aller irdischen Daseinshaftigkeit eine höhere Bedeutung gibt, um den göttlichen Abglanz der Welt wieder näher an seinen Schöpfer heranzuführen.

Umdichtung 1: Orhan Veli und die Deutung v o n F u c h s ’ I n v e r si o n sp r o b l e m a t i k Bedingt durch die Entscheidung, die Türkei als Wahlheimat anzunehmen, hat sich Traugott Fuchs mit der modernen türkischen Poesie beschäftigt. Das ausgesprochene Interesse an der türkischen Sprache basiert zunächst auf seiner Sprachbegabung, die ihn befähigte, täglich davon Gebrauch zu machen. Sie verhalf ihm dazu, sich während ausgedehnter Reisen, die ihn bis in abgelegene Gebiete des anatolischen Hochlands geführt haben, fließend in der Alltagssprache verständigen zu können. Der amerikanische Kunsthistoriker Walter Denny, der in den späten fünfziger Jahren Fuchs in Istanbul kennen lernte und mit ihm befreundet war, hebt diesen Sprachaspekt in seinem Essay hervor: Er liebte die Sprache, nicht das Hochtürkisch der Universität, doch das Türkisch der Bauern und Kinder, der einfachen Leute an der Bushaltestelle und beim Bakkal. Zu einer Zeit, als noch kaum jemand ins anatolische Hinterland fuhr, hatte er schon das ganze Land bereist. Er hatte im Avilar und im Tal von Göreme gelebt, er hatte die Internierung in Çorum in den dunklen Tagen des Zweiten Weltkriegs durchgemacht, er war in Divri÷i gewesen, als die dorthin fahrenden Kohlenzüge den einzigen Zugang boten.105

Aus dieser engen Verwurzelung in der Kulturgeschichte des Landes geht die Kennerschaft der türkischen Literatur hervor, denn das folgende Gelegenheitsgedicht belegt, dass Fuchs sogar in türkischer Sprache gedichtet hat:

anderer Weg zur Ableugnung der Gefahr, die das Ich als von der Außenwelt drohend erkennt«. 105 Walter Denny: Der Mann im Zentrum zweier Kulturen, in: Ein in der Türkei verbrachtes Leben (Anm.8), ohne Paginierung. 99

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Freie Variation nach Orhan Veli Güzel erkekleri severim, Iúçi erkekleri severim, Güzel Iúçi erkekleri Daha çok severim.06

Der im Gedichttitel erwähnte türkische Lyriker Orhan Veli (94-950) stand der Garip-Bewegung vor.07 Dies war eine Literaturströmung, die den türkischen Vers in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vom Reimschema der höfischen Divanpoesie zu den freien Rhythmen entwickelt hatte und programmatisch den Bruch mit der feudal-aristokratischen Weltanschauung vollzog. Veli erzählt in einfach gebauten Versen von Menschen, die auf der Straße oder in den Randzonen der Gesellschaft leben. Er trägt auf diese Weise zur Versachlichung und materiellen Konkretisierung der Sprache bei. Im Sinne Erich Auerbachs entwickelt Veli seine poetische Ausdrucksweise im Stil des sermo humilis,08 wodurch er ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit schafft und nüchtern, lapidar, naiv und humoristisch den Alltag und seine Gegenstände bearbeitet. Im Fokus seiner Dichtung stehen Arbeiter und Landstreicher, Milch- und Wasserverkäufer und Obsthändler – mit einem Wort, die armen und einfachen Leute der türkischen Gesellschaft. Fuchs hat diesen Typus einer nichtideologisch ausgerichteten, nichtsdestotrotz engagierten Dichtung genauso sehr geschätzt wie die in ihr dargestellten einfachen Menschen, zu denen er sich mehr hingezogen fühlte als zu den Intellektuellen, da er in ihren Herzen mehr Humanität und soziale Gravitation verspürte. Abgesehen von der Ausnahmeerscheinung Nazim Hikmet und seiner experimentell-revolutionären Poesie,09 haben sich während dieser Literaturpe06 Traugott Fuchs: Freie Variation nach Orhan Veli [ca. 970], aus: Wer bin ich (NTF/BU): Ich liebe schöne Männer,/Ich liebe Arbeiter,/Ich liebe schöne Arbeiter,/Noch mehr liebe ich die schönen Arbeiter. 07 »Garip« heißt »fremdartig«. 08 Vgl. Erich Auerbach: Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter, Bern: A. Francke Verlag 958, S. 25-53. Der Begriff sermo humilis bezieht sich auf die Fähigkeit zur allgemeinverständlichen Darstellungsweise und wird durch Auerbachs AugustinusLektüre gewonnen. Sprachsoziologisch wird der Übergang vom Lateinischen als Gelehrtensprache in eine allen Menschen zugängliche Volkssprache charakterisiert, die in Dantes Göttlicher Komödie verwirklicht wurde. 09 Nazim Hikmet (902-963), der wohl wichtigste türkische Autor im 20. Jahrhundert, wurde bereits unter Atatürks Regierungsperiode aufgrund seiner sozialistischen Grundüberzeugung mehrfach verhaftet und ver100

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riode die Clercs wenig darum bemüht, ob und wie im Sinne Auerbachs und Antonio Gramscis die Achse zwischen Intellektuellen und Volk über die Entwicklung einer gemeinsamen Sprache zustande kommen kann.0 Zwar gibt es keine belegbare Korrespondenz zwischen Veli und Fuchs, aber ich vermute, dass Fuchs persönlich mit ihm in Verbindung stand und das Sprachproblem diskutierte. Veli, der genauso wie Hikmet schon zu Lebzeiten als nonkonformistische Ikone unter den türkischen Autoren bekannt war, wurde nach seinem frühen Tod auf dem Friedhof in Rumeli Hisar bestattet. Die Begräbnisstätte liegt unterhalb der Bosporus-Universität, wo Fuchs lange Zeit lehrte und lebte. Fuchs sagt in seinem epigrammatischen Gedicht nicht, warum er Arbeiter liebt; nur der Titel gibt einen Hinweis darauf, dass es sich um eine Variation handelt, die sich auf Velis Gedicht Quantitatif bezieht, welches erstmals im März 940 in der Literaturzeitschrift Varlik veröffentlicht wurde: Quantitatif Güzel kadinlari severim, Iúçi kadinlari da severim; Güzel Iúçi kadinlari Daha da çok severim.

Man kann in Fuchs’ Veli-Variation durchaus eine politische Dimension erkennen, ohne dass gleich rote Fahnen über diesem Distichon gehisst werden müssen. Wer einmal Arbeiter in der Türkei über längere Zeit bei ihrer Tätigkeit genau beobachtet hat, wie sie im Sommer, bei nicht selten 40 Grad Celsius und extrem hoher Luftfeuchtigkeit in einem Trupp von fünf Leuten in weniger als vier Monaten und bei mehr als zwölfstündiger Arbeitszeit und sieben Arbeitstagen pro Woche ein zehnstöckiges Hochbrachte insgesamt 5 Jahre in türkischen Gefängnissen. Nach seiner Entlassung im Jahr 948, für die sich u.a. Jean Paul Sartre einsetzte, lebte Hikmet für 2 Jahre im sowjetischen Exil, wo er in Moskau verstarb. 0 Vgl. Antonio Gramsci: Die ›Sprachenfrage‹ und die intellektuellen Klassen Italiens [930], in: Ders.: Marxismus und Kultur. Ideologie, Alltag, Literatur. Herausgegeben und aus dem Italienischen übertragen von Sabine Kebir, Hamburg: VSA-Verlag 2987, S. 273-277. Gramsci entwickelt auf ähnliche Weise wie Auerbach eine Jargon-Kritik, die sich, ausgehend von Dantes Volkssprache, kritisch auf die Sprache der Intellektuellen bezieht.  Orhan Veli: Quantitatif [943], in: Ders.: Bütin ùiirleri, Istanbul: Yapa Kredi Yayinlari 200, S. 24 (Ich liebe schöne Frauen,/Ich liebe auch die Arbeiterinnen;/Die schönen Arbeiterinnen/Liebe ich noch mehr). 101

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haus hochziehen, der kann ihnen nur Respekt für diese enorme Kraftund Konzentrationsanstrengung zollen. Das gleiche gilt für andere Gruppen von körperlich Arbeitenden wie junge Zigeunerinnen, die allein, oder mit ihren noch minderjährigen Kindern während der späten Abendstunden oder nachts durch die Wohnviertel ziehen und Müllcontainer nach Papier- und Plastikresten durchsuchen, um diese auf einem riesigen Holzkarren zu befördern, den sie voll beladen über Stunden, bei Wind und Wetter, Hitze und Kälte hinter sich her ziehen und zu einem Sammelpunkt bringen.112 Veli und Fuchs zeigen nicht direkt, wie die grundlegenden Gesetze der kapitalistischen Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft aussehen, aber wer in der Türkei über einen längeren Zeitraum gelebt hat, dem ist klar, was sie beide meinen: beide Künstler erkennen, dass die kapitalistische Produktion das Elend produziert und dass es nicht der Zweck des Kapitalismus ist, die Arbeiter auszuhungern, denn ohne sie kann sich dieses Wirtschaftssystem nicht entwickeln. Ihren Klassenstandpunkt brauchen sie deshalb nicht explizit zu formulieren, weil die Einfachheit des sprachlichen Ausdrucks beider Distichen auf ihre Sympathie mit diesen arbeitenden Menschen verweist, die weder als Heroen der Arbeit noch als tragisch Leidende dargestellt werden. Im Unterschied zu Fuchs hat Orhan Veli in dem autobiographischen Gedicht Ben Orhan Veli jedoch seinen Klassenstandpunkt ganz klar als anti-aristokratisch bestimmt: »Ne baúimda bulut gezdiririm,/Ne sirtimda mühr-ü nübüvvet./Ne Ingiliz kirali kadar/Mütevaziyim,/Ne de Bay Celâl Bayar’in/Ahir uúa÷i gibi aristokrat.«113 Velis politische Abgrenzung und Distanznahme bezieht sich auf den türkischen Politiker Celâl Bayar (1883-1986), der in dem kleinen Dorf Umurbey bei Bursa als Sohn eines Priesters und Lehrers geboren wurde. Seine Karriere begann während des türkischen Befreiungskampfes und gipfelte zunächst

112 Diese harten Lebensbedingungen sind auch Erich Auerbach bei seinen Beobachtungen in der Türkei aufgefallen. An Benjamin schreibt er: »Im übrigen aber wird das Land konsequent und vollständig beherrscht vom Atatürk und seinen anatolischen Türken, einem naiven, mißtrauischen, ehrlichen, etwas unbeholfenen und bäurischen, dabei sehr emotiven Menschenschlag; weil härter und unverbindlicher, unliebenswürdiger, unbiegsamer als europäische Südländer sonst, aber doch wohl gut zu leiden und mit viel Lebenskräften, gewohnt an Sklaverei und harte, aber langsame Arbeit«. Vgl. 5 Briefe Erich Auerbachs an Walter Benjamin in Paris (Anm. 29), S. 692 (Brief vom 3. Januar 1937). 113 Orhan Veli: Ben Orhan Veli (Ich, Orhan Veli) [1940], in: Bütün ùiirleri (111), S. 216 f, hier: S. 216 (Weder bin ich so bescheiden/Wie der englische König,/Noch bin ich so aristokratisch/Wie der ehemalige Stallknecht Celâl Bayar). 102

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darin, dass ihm unter Atatürk das Amt des Premierministers übertragen wurde, welches er von 1937 bis 1939 innehatte, aber aufgrund politischer Differenzen mit Atatürks Nachfolger Ismet Inönü (1884-1973) niederlegte. Bayar gründete 1946 die erste türkische Oppositionspartei Demokrat Parti (Demokratische Partei), wurde nach dem Wahlsieg dieser Partei 1950 im Kontext der sogenannten »weißen Revolution« zum türkischen Staatspräsidenten gewählt und leitete in der Ära des Adnan Menderes (1899-1961) eine liberale Reform im Bereich der Wirtschaft (umfassende Privatisierung) und Religionsfreiheit (Aufruf zum Gebet in arabischer Sprache) ein. Die Reform war ideologisch mit einem strengen Antikommunismus und der Einschränkung der Meinungsfreiheit verbunden und wurde außenpolitisch durch den Beitritt zur Nato 1952 besiegelt. Während des kemalistisch-linksgerichteten Militärputsches vom Mai 1960, der aufgrund einer Wirtschaftskrise (hohe Staatsverschuldung) und starker sozialer Spannungen erfolgte, wurden Menderes und Bayar gestürzt und in einem Gerichtsverfahren wegen des Vorwurfs der Korruption und Amtsanmaßung zum Tode verurteilt. Während Menderes im September 1961 auf der Marmarameerinsel Imrali erhängt wird, wurde Bayar aufgrund seines hohen Alters begnadigt. Was Veli am Werdegang Bayars, stellvertretend für viele politische Akteure aus der Gefolgschaft Atatürks um 1940 kritisiert, bezieht sich auf einen spezifischen Charaktertypus, welcher Verrat an der eigenen Herkunftsklasse begeht, der zugunsten von Machtausübung in Arroganz gegenüber dem Volk umschlägt. Dieses Phänomen hat sich später, in der Ära von Turgut Özal und Tansu Çiller verstärkt, weil immer mehr opportunistische Akteure vom Brecht’schen Typus des Arturo Ui auf die politisch-öffentliche Bühne treten konnten. Viele dieser schnellen Aufsteiger sind zumeist durch illegal und gewaltsam herbeigeführten Geld- und Latifundienerwerb an die Macht gekommen, indem sie diejenigen ungebildeten Volksklassen expropriierten, deren teils eigener Abkunft sie selbst ihren plötzlichen Aufstieg verdankten. Verglichen mit diesen nivellierenden Vorgängen innerhalb der türkischen Politszenerie der achtziger und neunziger Jahre, war Bayar ein Staatsmann, dem Veli vielleicht nur dessen Pseudointellektuellentum missfallen hatte. Kehrt man zu der förmlichen Umdrehung von Velis Distichon zurück, dann verweist sie allerdings auf einen anderen Aspekt, den ich als geschlechtsspezifischen Blickwinkel bezeichnen möchte: »Işçi erkekleri severim/Güzel işçi erkekleri daha çok severim« (ich liebe Arbeiter/noch mehr liebe ich schöne Arbeiter). Damit erblickt Traugott Fuchs zugleich eine gattungsbezogene Schönheit, die mittels der Variation des Originals eine homoerotische Dimension in seiner Dichtung erkennen lässt, eine Dimension, die sich bereits mit den »Götterfreund[en]« Orpheus und Narziß angedeutet hat. Die klassische Literaturtradition setzt Orpheus mit

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der Einführung der Homosexualität in Verbindung; in Ovids Metamorphosen wird er von den thrazischen Frauen in Stücke zerrissen, nachdem er ihnen den Beischlaf verweigert hatte.114 Orpheus verwirft den heterosexuellen Eros nicht um eines asketischen Ideals, sondern um eines volleren Eros willen: er protestiert gegen die Ordnung der zeugenden Sexualität und verwandelt die krude Realität durch seine Sprache, die Gesang ist, in Spiel. Spiegelbildlich ließe sich die orphische Protest- und Verweigerungshaltung auf die ästhetische Ebene von Fuchs’ Distichon insofern übertragen, als dass dort die entfremdete Arbeit nicht direkt erscheint, sondern in Schönheit transformiert wird – in die schöne und natürliche Gestalt der Arbeiter, von der er sich sinnlich affiziert fühlt. Mitbedenken möchte ich daher, dass Fuchs’ Literatur- und Kunstproduktion an vielen anderen Stellen seines Werkes mit homosexuellen Komponenten durchmischt ist.115 Homosexualität ist jedoch keine Krankheit,116 denn sie wird seit der Antike als körperlicher oder pädagogischer Eros praktiziert und sollte daher überall rechtlich mit der Heterosexualität gleichgestellt sein. Aber für Fuchs stellte sie ein existentielles Problem dar. Wie sehr er mit der Bewältigung seiner fühlenden Homosexualität beschäftigt war, geht aus der Korrespondenz mit seinem Lehrer und Mentor Leo Spitzer hervor. Der äußere Anlass der am 9. Februar 1956 wiedererfolgten Kontaktaufnahme ist durch den Umstand motiviert, dass Fuchs eine schriftliche Bestätigung über seine Tätigkeit als wissenschaftlicher Assistent in Köln benötigt, um diese im Rahmen der Wiedergutmachung den Behörden als Beweis seines Opferstatus als politisch Verfolgter im Nationalsozialismus vorzulegen: Lieber Herr Professor! Das Beste ist sicher das Aufrichtige: Vorerst des Sünders Bekenntnis: Ich habe Ihnen viele Jahre nicht geschrieben, an keiner allgemeinen Feier zu Ihren Ehren

114 Publius Ovidus Naso: Metamorphosen. Epos in 15 Büchern [1 v. Chr.-10 n. Chr.]. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Hermann Breitenbach, Zürich: Artemis Verlag 1958, S. 668 (X. Buch, Vers 78-85). 115 Besonders das zeichnerische Werk umfasst dutzende von Blättern, wo homoerotische oder männliche Akte dargestellt sind. 116 Vgl. Michel Foucault: Die Sorge um sich. Sexualität und Wahrheit 3 [1984]. Übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Taschenbuch Verlag 11989, S. 241-296. Foucault demonstriert mit Verweis auf Boswells Untersuchung Christianity, Social Tolerance, and Homosexuality (1980) die kulturgeschichtliche Entwicklung der Homosexualität und belegt anhand von Plutarchs und Lukians Texten, dass sie in der Antike nicht verboten war. 104

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teilgehabt, kein Fest Ihrer Person mit würdigen Grüssen oder trauten Gaben betreut, die Dankbarkeit, die ich Ihnen für eine reiche und verwöhnende Güte meiner Studienjahre und für die Rettung vor dem Nazitum hierher schulde, nicht tätig fortgeführt, ja, es schien sogar zur Zeit[,] da ich die meine Weltunerfahrenheit übersteigende[,] wenn auch rein und heilig gemeinte so doch sich höchst bedenklich auswirkende, naive Rolle eines ›Leviten‹ spielte, als habe sich die grosszügig ernährte sanfte Schlange plötzlich tückisch gegen den mütterlich ernährenden Busen gewendet und gegen den Geist des sie mitbergenden Nests gefrevelt, und schwer war es gewesen, die menschliche wohltönende Harmonie in den kostbaren samtenen Räumen in ihrem Glanz wiederherzustellen […].117

Die Argumentation springt in der anschließenden Briefpassage, die ich auslasse, auf eine Spitzer mit seiner Vergangenheit konfrontierende Erinnerungsebene über, die sich auf die Liebesaffäre mit seiner ehemaligen Assistentin Rosemarie Burkart bezieht und deren Auflösung durch den Übergang nach Baltimore besiegelt wurde. Fuchs kommt danach auf eine fragwürdige Therapieerfahrung in Paris zu sprechen und verbindet ihre vergebliche Wirkung mit dem Bericht über seine im Oktober 1955 erfolgte Gemäldeausstellung, die ihm künstlerisch viel Anerkennung einbrachte. Ferner betont er, dass sie im unmittelbaren Kontext von Pogromen und Morden stattfand, die von türkischen Nationalisten im September 1955 gegenüber der griechischen Minderheit in Istanbul organisiert und verübt worden waren: Einen ihrer amerikanischen Briefe, in dem Sie mich vor dem meine apathische Neigung noch verstärkenden stagnierenden Istanbul oder des Orients warnten, nahm ich noch vor einigen Jahren mit nach Paris, als ich mich aufmachte, da denn kein Mensch die Parzival-Frage ›was wirret dir‹, wirklich an mich stellte, nun für Geld und unsäglich fremd und peinlich an mich stellen zu lassen, immer hoffend, doch eines Tages befreit zu werden und mit irgendeiner Gedanken- oder Wortblüte in der Hand den früheren Freund wieder zu besuchen, bescheiden so doch fröhlich Versöhnung zu feiern mit einem zu Recht rechtenden Schicksal und Herzen. […] Traurig ist unser Leben, und wir wissen nicht, wo die durchgreifende Sonne hernehmen, so kurz wirken die Behelfe, wir sind eine zersplitterte Generation […]. Der innerlich und äußerlich Ungesichertste bin ich. Ich selbst habe es von vor dem entscheidenden Moment immer wieder abgebrochenen spontanen Aufschwüngen zu schweigen, letztes Jahr zu einer zweiwöchigen Ausstellung meiner während der anatolischen Internierung und

117 Traugott Fuchs an Leo Spitzer: 2. Februar 1956 (NTF/BU). Bei diesem Brief handelt es sich um einen Entwurf, der nach dem Eintreffen von Spitzers Antwort vom 26. Februar 1956 dem Absenderkuvert beigefügt wurde. 105

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letzten Sommer in Kapadokien gemalten Aquarelle und Ölbilder in der recht modernen und hübschen Galerie der Stadt gebracht, die, auf der diskutierten Grenze zwischen Amateur- und wirklicher Kunst – bei den verschiedenen Menschen einen gewissen Erfolg hatte, gute Zeitungskritiken und eine Erwähnung im Radio bekam. Als ich in Athen bei meiner Schwester von den grausamen Septemberereignissen hörte, und ich hatte all meine ausgewählten Bilder zum Rahmen in einem exponierten griechischen Geschäft in der Perastrasse, schwor ich, falls ich diesmal von einer fast sicheren neuen Katastrophe verschont bleiben sollte – alles vorige hatte ja mit dem ›je ne sais quoi‹ das Feuer gefressen (das ich immer als religiöse Strafe für Trägheit, Unheldenhaftigkeit empfunden hatte), sie wirklich auszustellen: das erste Mal in meinem Leben. Und es gelang! Hübsch gekleidete Menschen, nette und auch kritische Leute waren bei der Eröffnung anwesend. Blumen lagen auf dem Tisch, vierzehn Tage war ich glücklich, und zu sehen, dass auch einfache Menschen, Schüler, Frauen, Leute aus dem Volk Gefallen daran fanden, war schön […].118

Aus beiden Briefausschnitten lassen sich die zentralen Problembereiche der inneren Existenzproblematik von Fuchs herausschälen. Da ist zunächst die auf sich selbst angewandte Frage aus Wolframs Parzival (1200), der seine Mutter verließ, um Ritter zu werden. Parzival hat gleichwohl die Tragweite seines Handelns nicht sofort erkannt, weil er die Mitleidsfrage »was wirret Dir«, die sich auf die Wunde des Königs Anfortas hätte beziehen müssen, nicht während des ersten Zusammentreffens am Gralshof gegenüber diesem stellt, sondern sie viel später positioniert.119 Die Ironie Wolframs besteht darin, dass durch diese Verzögerung sowohl Parzival wie auch das Gralsreich des Anfortas vor dem drohenden Untergang errettet und das intuitiv überlegene Handeln der Figur kenntlich gemacht wird. Selbstkritisch gesteht Fuchs, dass aus dem reinen Nachdenken über die Mitleidsfrage noch kein aktives Handeln resultiert, um sich von den unfertigen und trägen Anteilen der eigenen Person zu lösen. Auf diesem literarischen Hintergrund parallelisiert er die Zielrichtung der Mitleidsfrage mit der Gesprächssituation in der Psychoanalyse, die ihn letztlich nicht zur erhofften Befreiung vom seelischen Leiden an seiner homosexuellen Veranlagung geführt hat. Ferner ist das starke Gefühl präsent, einer durch den Faschismus bedingten »zersplitter118 Traugott Fuchs an Leo Spitzer: 9. Februar 1956 (NTF/BU). Fuchs erste Kunstausstellung fand in der Sehir Galerisi in Beyoglu vom 15. bis 29. Oktober 1955 statt. 119 Vgl. Wolfram von Eschenbach: Parzival [1200]. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Spiewok (Mittelhochdeutch/Neuhochdeutsch), Stuttgart: Reclam Verlag 1981, Bd. 2, S. 618 (Buch 16), Vers 795, Zeile 29 (»oeheim, waz wirret dir«/»Oheim, was fehlt dir?«). 106

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ten Generation« anzugehören. Dadurch kristallisiert sich insgesamt ein pessimistisches Lebensgefühl heraus, welches lediglich nur für kurze Momente die selbstzufriedene Erfahrung von Erfolg im Kontext der beschriebenen Rezeption seiner ersten Kunstausstellung zulässt. Wie hat Leo Spitzer auf diese Existenzproblematik reagiert? Seine Antwort vom 26. Februar 1956 ist hinsichtlich der zivilisationskritisch fundierten Diagnose der Inversion äußerst aufschlussreich, da sie für Fuchs offenbar nicht folgenlos geblieben ist. Damit Spitzers Argumentationsgang durch die angesprochenen Inhaltsebenen nachvollziehbar ist, gebe ich ein längeres Zitat aus der Handschrift des Briefes wieder: Mein lieber Fuchs, Ihr Brief hat mich sehr bewegt, wie Sie nichts anderes von mir erwarten, will ich Ihnen genau sagen, was ich sagen möchte […]. Sie fühlen sich verpflichtet, um mit mir wiederanzuknüpfen, vorerst einen Rechenschaftsbericht zu geben, ein Sündenregister vor mir zu entfalten. Die Wahrheit ist, daß wir nie auseinander gewesen sind und nichts zwischen uns bereinigt werden muß. Ich bewahre Ihnen dieselben Gefühle, wie einst und natürlich möchte ich Ihnen helfen. Also: Sie haben keine Sünden mir zu beichten, weil Sie in nichts gesündigt haben – auch wenn Sie das Sündengefühl nicht loswerden. Aber bitte, wollen wir da ganz klar sehen: Sie sind mit einem etwas abschweifenden Trieb geboren – was können Sie dafür? […] Noch dazu ist in Ihrem Fall die Lage die, daß Ihre Veranlagung, nur zufällig sozusagen, mit der restlichen Zivilisation, in der Sie geboren sind, in Widerspruch gerät, daß Sie, wie Sie wissen, in Griechenland als normal angesehen würden (Sokrates!). Nun ja, werden Sie sagen, aber ich bin dadurch eben ein Zerrissener, der darauf geworfen wurde, über sich nachzudenken und daher schwächlich geworden ist. Nun ja, unsere Zivilisation ist dran schuld – sagen wir es klar heraus – daß Sie narzißtisch geworden sind. […] Und tatsächlich ist Ihr Narzißmus das, was Sie an der beglückenden Individualität hindert. […] Das einzige, was Ihnen zu tun bleibt, ist einfach alles Nachdenken über die Gründe Ihrer Isoliertheitgefühls aufzugeben. […] Wenn Sie darüber absolut sich im Klaren sind, werden Sie sich das Nachdenken verbieten. […] Natürlich, die alte Gewohnheit von 50 Jahren kann man nicht über Nacht abschwören, aber wenn Sie sich ganz klar darüber sind, daß sie von Übel ist, werden Sie es einfacher haben. Sehen Sie, ich sehe ja gerade in dem Ton, in dem Sie mir schreiben, den größten intellektuellen Fehler. […]. Solange Sie intellektuell schwanken, werden sie nicht geheilt werden. Vielleicht haben die Psychoanalytiker das nicht genug betont, oder vielleicht haben Sie ihnen nicht genug beigestimmt und geglaubt, es sei für sie leicht, gleichsam berufsweise Sie freizusprechen. Nun, von mir werden Sie nicht annehmen, daß ich berufsmäßig ein Freisprecher bin. In Ihrem Brief berichten Sie gottlob von 14 Tagen, in denen Sie glücklich waren: anläßlich der Bilderausstellung. Das gibt mir meinen ganzen Gedankengang ein: in diesen 14 Tagen waren Sie einfach praktisch

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verhindert, über sich nachzudenken. Nehmen Sie doch bitte aus einer solchen Erfahrung alle mögliche Belehrung: Ihr Ziel muß sein, ebenso ›gedankenlos‹ wie damals weiter zu leben, ohne einen solchen sensationellen Anlaß. Einfach praktische Dinge tun, die der Tag verlangt, möglichst viele. In den 14 Tagen haben Sie Ihre Pflicht aus dem Leben voll erfüllt – in den vielen Jahren ist die Natur gegen Sie schuldig gewesen. Sie haben genug Talent, um das Leben auszufüllen, und wahrscheinlich würden Sie auch mehr äußeren Erfolg haben, wenn Sie das Gedankenspinnen aufgegeben hätten und ganz offen dem Leben gegenüber wären. Sie haben zu lange auf Befreiung durch ein Wunder gewartet. Aber die Befreiung ist da, in Ihnen ist sie latent. […] Und natürlich, die Befreiung muß geübt werden: sozusagen trainiert: heute 1/8 weniger Reflexion über mich, morgen 1/7 weniger, übermorgen 1/6, usf. Lächeln Sie nicht über das Mechanische in mir! Wenn ich etwas weiß, so ist es, daß Sie die absolute intellektuelle Klarheit über sich haben müssen, dann wird die Psychotechnik von selbst kommen […].120

Aus der unmittelbaren Gegenwart des akademischen Betriebs ist mir kein Beispiel bekannt, wo ein Professor an seinen Schüler solch einen Brief schreibt, um ihn auf ganz nüchterne Weise auf sein persönliches Problem anzusprechen. Dass ein akademischer Lehrer sich den sensibilisierten Blick für die innere Not seines Schülers nach vielen Jahren der Kommunikationsunterbrechung bewahrt hat, sollten wir uns deshalb als erstrebenswerte Handlungsmaxime eines eingreifenden pädagogischen Eros zu Herzen nehmen. Das Phänomen besteht darin, dass Spitzer zum Problem der Homosexualität klar Stellung bezieht, weil er bemerkt, dass die durch die Pariser Lacan-Schule in den fünfziger Jahren stark revidierte und verfremdete Wiener Psychoanalyse als Therapieform versagt hat und Fuchs deshalb nicht weiterhelfen konnte.121 Hingegen besteht die zentrale Einsicht Spitzers darin, dass das Leiden an der Homosexualität zugleich die Wurzel von Fuchs’ Kreativität ausmacht. Spitzer wird an die konstitutionell-sexuelle Anlage des Kindes gedacht haben, die nach Freud vielgestaltig und bunt ist, weshalb er sie als »polymorph-pervers«122 definiert. 120 Leo Spitzer an Traugott Fuchs: 26. Februar 1956 (NTF/BU). 121 Dass Leo Spitzer methodisch Freud’sche Kategorien bei der Interpretation literarischer Texte berücksichtigt hatte, wird von Erich Auerbach in der Besprechung einer Aufsatzsammlung hervorgehoben, vgl. Erich Auerbach [Rez.]: Leo Spitzer: Romanische Stil- und Literaturstudien, Marburg: Elwert 1931 [1932], in: Gesammelte Aufsätze (Anm. 41), S. 342344, hier: S. 343. Die Originalhandschrift dieser Besprechung wird im NTF/BU aufgewahrt und war ein Geschenk Auerbachs, das er Fuchs bei seinem Abschied aus Istanbul 1947 als Erinnerungsgabe überreichte. 122 Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie [1905], in: Studienausgabe (Anm. 104), Bd. 5, S. 37-145, hier: S. 97 und S. 137. Ein 108

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Aus dieser Disposition geht nach der Latenzzeit aufgrund von Verdrängungsleistungen das normale Verhalten der Sexualfunktion hervor. Gleichfalls zeigt Freud, dass alle Formen der Sexualität (Inversion, Heterosexualität, Bisexualität) als eine im Menschen lebendige und wuchernde Anlage bestehen, die ihn mit dem Tierreich verbindet. Mit seinem Verweis auf die griechische Kultur der Knabenliebe,123 der als Argumentationsstrang bei Spitzer wiederkehrt, wird Homosexualität als eine Form der Sexualität verstanden, die sowohl nach der körperlichen wie auch seelischen Annäherung und Vereinigung der Geschlechtscharaktere strebt. Das heißt, dass das Sexualobjekt sich eigentlich nicht auf das gleiche Geschlecht bezieht, sondern auf den Teil, der nach einer weiblichen Eigenschaft verlangt, die sich allerdings körperlich an das männliche Geschlecht anlehnt und in ihm fixiert erscheint. Spitzers auf Freuds Trieb- und Zivilisationskritik basierende Einsicht in den psychischen Apparat besteht ferner darin, dass dessen Funktion so verstanden wird, indem der Narzißmus überwunden werden kann und die das Individuum in der Entfaltung hemmenden Elemente von ihm selbst steuer- und kontrollierbar sind. In derselben Weise wie schon anhand des zitierten Briefes von Fuchs an Hesse gezeigt wurde, geht aus dem an Spitzer adressierten Brief das Motiv einer starken Mutterbindung hervor. Dem psychoanalytisch geschulten Spitzer ist dieser Aspekt nicht verborgen geblieben, denn er wird bei seiner therapeutischen Nichtfreisprechung Freuds psychoanalytische Instrumentarien reflektiert haben, denn dieser begründet, dass Homosexualität nicht erblichen Ursprungs ist, wie ihre eigenen Wortführer irrtümlich behaupteten. Vielmehr wird das in den Abhandlungen zur Sexualtheorie entwickelte Modell der Inversion weitergedacht. Wenig später diagnostiziert sie Freud als Befund, der sich aus der erotischen und zärtlichen Bindung an die Mutter ableitet – einer kindlichen Bindung, die sich durch die Absenz und das Zurücktreten des Vaters verstärkt. Freud hat diese psychischen Vorgänge anhand der Figur des Leonardo da Vinci und einer Kindheitserinnerung aufgedeckt, die sich ihrerseits auf die Manifestation einer frühkindlichen Geierphantasie bezieht. Von Leonardo wurde sie schriftlich fixiert und Freud hatte dieses Dokument im Zusammenhang archäologischer und kunsthistorischer Vergleiche als Symbol einer frühen Mutterbindung interpretiert. Entscheidend ist aber nun, dass Freud zur weiteren btiologie zum psychischen Vorgang der Inversion – sie wird von Spitzer als die Bedingung für das Umschlagen in den Narzißmus betrachtet – noch folgendes hinzufügt: bekanntes Beispiel, indem sich das homosexuelle Moment künstlerisch ausdrückt, wurde von Thomas Mann in der Novelle Der Tod in Venedig (1912) geschaffen. 123 Ebd., S. 55f. 109

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Die Liebe zur Mutter kann die weitere bewußte Entwicklung nicht mitmachen, sie verfällt der Verdrängung. Der Knabe verdrängt die Liebe zur Mutter, indem er sich selbst an deren Stelle setzt, sich mit der Mutter identifizierend seine eigene Person zum Vorbild nimmt, in dessen bhnlichkeit er seine neuen Liebesobjekte auswählt. Er ist homosexuell geworden; eigentlich ist er in den Autoerotismus zurückgeglitten, da die Knaben, die der Heranwachsende jetzt liebt, doch nur Ersatzpersonen und Erneuerungen seiner eigenen Kindheit sind, die er so liebt, wie die Mutter ihn als Kind geliebt hat. Wir sagen, er findet seine Liebesobjekte auf dem Weg des Narzißmus, da die griechische Sage einen Jüngling Narzisuss nennt, dem nichts so wohl gefiel wie das eigene Spiegelbild und der in die schöne Blume dieses Namens verwandelt wurde.124

Im Bewusstsein dieser Kenntnisse gelang es Spitzer, die miteinander verzahnten Probleme von Homosexualität, Narzißmus und dem daraus entstehenden Schuldkomplex durch seine praktische Hilfestellung aufzulösen, die ihre Wirkung bei Fuchs nicht verfehlte. Kommen wir noch einmal auf Fuchs’ Variation von Orhan Velis Gedicht zu sprechen, dann wird der durch Spitzers Freud-Brille gesehene historische Hinweis auf die griechische Kultur und Sokrates noch fassbarer. Im Resultat dürfte Fuchs erkannt haben, dass er aufgrund seiner homosexuellen Veranlagung ein potentielles Opfer der Nazis hätte werden können. Deren umfassende Rasseideologie betrachtete die Homosexualität als Form einer heriditär bedingten Abnormität, weshalb homosexuell disponierte Menschen in den Konzentrationslagern vergast worden waren. Ferner verdeutlicht Spitzer, dass er im Sinne von Freuds Kulturtheorie den Selbstverwirklichungsprozess des Individuums als universales Interesse der Gattung und eine von Leidenschaft und sexuellen Antrieben angespornte Tätigkeit betrachtet. Die menschliche Tätigkeit zur Produktion und Reproduktion beruht jedoch auf sexuellem Triebverzicht, das heißt auf einer Libidoverschiebung, der Freud in Form der menschlichen Arbeit in ihrem ursprünglichen Sinn ein bildende und formierende Funktion beigemessen hat.125 Ursprünglich war sie jedoch Ausdruck der Freiheit und ist erst in ihrer historischen Form als Sklaven- und Lohnarbeit in Unfreiheit umgeschlagen.126 Der Aneig-

124 Sigmund Freud: Eine Kindheitserinnerung an Leonardo da Vinci [1910], in: Studienausgabe (Anm. 104), Bd. 10, S. 87-159, hier: S. 125. Dieses Verständnis von Inversion wird noch einmal in dem Aufsatz Über einige neurotische Mechanismen bei Eifersucht, Paranoia und Homosexualität [1921/22], Bd. 7, S. 217-228, hier: S. 226-228 aufgegriffen. 125 Vgl. Freud: Das Unbehagen in der Kultur, in: Studienausgabe (Anm. 104), S. 191-270, hier: S. 211. 126 Vgl. Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion [1927], in: Studienausgabe (Anm. 104), Bd. 9, S. 133-189, hier: S. 144. Hier wird der Gedanke 110

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nungs- und Formationsprozess der Welt verläuft mithin auf sinnlichpassionierte Weise und verweist damit auf den zweckfreien Begriff der Schönheit als Gattungs- und Freiheitsbegriff zurück.127 Spitzer sagt aber auch, dass ein Zuviel an ästhetischer Konzentration die notwendigen Forderungen des Alltags ausblenden würde, weshalb er Fuchs empfiehlt, sich so intensiv als möglich auch auf diesen praktischen Lebensbereich einzulassen. Dies schließt ebenso die Nichtverleugnung seiner homosexuellen Anlage ein. Weil Fuchs diesbezügliche Erfahrungen in der türkischen Gesellschaft gemacht hat, reflektiert die Variation von Velis Gedicht auf ästhetisch subversive Weise genau diesen Aspekt. Im Unterschied zur Weimarer Republik, wo Homosexualität durch den Paragraphen 175 des Bürgerlichen Gesetzbuches sozial geächtet war und durch die strafrechtliche Verfolgung die Homosexuellen gesellschaftlich isolierte,128 wurde sie ihm als offen praktizierte Form der Zuneigung in der toleranten Öffentlichkeit dieses südlichen Landes nicht als Tabubruch vorgeworfen und war für ihn mit keiner Diskriminierung bei der Ausübung seiner pädagogischen Lehrtätigkeit an der Universität verbunden. Die in Deutschland als gesellschaftliche Normschranke geltende Homosexualität braucht deshalb in seinem Veli-Epigramm nicht direkt angesprochen oder verklärt zu werden, da die Homosexualität in der türkischen Rechtssprechung nicht als Straftatbestand unterdrückt wurde. Einen poetischen Niederschlag fand Spitzers Brief als therapeutische Intervention in dem etwa 1960 entstandenen Gedicht Leichte Stefan George-Variation:

ausgeführt, dass die gesamte Kulturentwicklung auf Arbeitszwang basiert. 127 Der Schönheitsbegriff wird in Freuds Unbehagen der Kultur als Lustund Ordnungsfaktor (S. 211 und 223) aufgefasst. Philosophiehistorisch ist dieser Aspekt durch Schiller zu einer politischen Bedeutung vorgeprägt worden mit dem Ziel, die geschundene Würde des Menschen wiederherzustellen, vgl. Über die ästhetische Erziehung des Menschen (Anm. 42), S. 581-588 (6. Brief). Die Sublimationstheorie Freuds ist auch in Schillers Arbeitsbegriff (Fragmentarisierung des Subjekts, Arbeitsteilung und zunehmende Spezialisierung der menschlichen Tätigkeit) angelegt. 128 Der Orientalist Hellmut Ritter, der mit Fuchs befreundet war, wurde 1926 von der Hamburger Universität aufgrund homosexueller Neigungen entlassen (vgl. zu Ritters intellektueller Biographie und seiner literaturwissenschaftlichen Methodik den Beitrag von Georg Stauth in diesem Band). Die Freundschaft zwischen beiden Wissenschaftlern ist durch mehrere Gedichte belegt, die Fuchs Ritter dedizierte und in denen er seine Zuneigung offen ausspricht. 111

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Das Licht Wir sind in trauer wenn • uns minder günstig Du dich zu andern • mehr beglückten drehst Wenn unser geist • nach alter Quellenfreundschaft brünstig • An abenden in deinem abglanz wes’t. Wir wären töricht • wollten wir dich hassen Wenn oft dein strahl verderbendrohend sticht Wir wären kinder • wollten wir dich fassen – Wo schicksal waltet ändert man’s ja nicht.129

Die Lichtmetapher, die von Stefan George (1868-1933) in seinem Gedicht angesprochen wird, bezieht sich implizit auf die Arielszene in Goethes Faust,130 wo das Licht als Sonnensymbol und Sinnbild des Unendlichen erscheint. Das menschliche Auge ist aber nicht gemacht, um die Sonne unmittelbar zu schauen. Von deren Licht wird es geblendet und kann deshalb das Spiel der Farben nur als Abglanz der Dinge und deren Widerschein erkennen.131 Die Faust-Szene verdeutlicht, dass nur in der Abkehr von der Lichtquelle das Landschaftsbild wahrgenommen werden kann, welche sich aus einem Wassersturz ergebenden Spektrum des Regenbogens ergibt. Dem Regenbogen kommt zugleich eine allgemeinerotische Bedeutung zu, denn der biblische Gott setzte ihn nach der Sintflut als Zeichen seiner Verbundenheit mit den Menschen an das Firmament.132 George modifiziert nun Goethes Perspektive dahingehend, dass er ihr eine weitere metaphysische Dimension gibt, die in sublimierter Form auf den homoerotischen Erlösungsprozess hindeutet. Aber gegenüber dieser sublimierten Entsinnlichung der Homoerotik lässt Fuchs dem 129 Traugott Fuchs: Leichte Stefan George-Variation. Das Licht [1960], aus: Gelegenheitsgedichte (NTF/BU). Die Variation bezieht sich auf Stefan George: Das Licht, in: Ders.: Das neue Reich. Gesamtausgabe der Werke. Endgültige Fassung, Berlin: Georg Bondi 1928, Bd. 9, S. 136. Die Veränderungen ergeben sich an zwei Stellen; in Zeile drei der ersten Strophe heißt es bei George: »Wenn unser geist • nach anbetungen brünstig«; in Zeile vier der zweiten Strophe: »Da du für alle leuchtest • süsses Licht!« 130 Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Zweiter Teil [1829], in: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz, München: Deutscher Taschenbuchverlag 1982, Bd. 3., S. 146-364, hier: S. 146-149 (1. Akt. Anmutige Gegend). 131 Ebd., S. 149, Zeile 4727: »Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.« 132 Vgl. 1 Mose 9, 12-16. 112

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gnostischen Licht eine konkrete Bedeutung zukommen, die nicht mit einem Erlösungsprozess, sondern der Inkarnation des Eros verbunden ist. Durch die Veränderung der dritten Verszeile, die sich durch die eingeschobene Variation »nach alter Quellenfreundschaft« ergibt, manifestiert sich der innere Drang zur Suche einer homoerotischen Bindung, die weder die eigene Disposition noch die Bereitschaft zur Gestaltung solch eines Verhältnisses verleugnet. Diese semantische Veränderung korrespondiert mit der letzten Verszeile: »Wo schicksal waltet ändert man’s ja nicht«. Sie verweist auf das Wechselverhältnis von Charakter und Schicksal, aus dem sich der neue Habitus als verinnerlichte Lebensform konstituiert. Mit dieser Variation der letzten Verszeile beachtet Fuchs die ästhetische Form des Originals, denn der Versrhythmus wird dadurch nicht verändert.

U m d i c ht u ng 2 : F a r uk N a f i z Ç a m l i be l a l s F re u n d s c h a f t s a l l e g o r i e a u f L e o S pi t z e r Zu einer ästhetisch vollendeten Umdichtung zählt das Gedicht Winterliche Gärten, welches sich an das von Faruk Nafiz Çamlibel (1898-1973) im Jahr 1936 veröffentlichte Gedicht Kiş Bahçeleri133 anlehnt. Durch die sprachliche Neuschöpfung in Form der Ode repräsentiert das Gedicht ein ganz eigenständiges Kunstwerk der Neuromantik: Winterliche Gärten Das Lied des Meeres schwieg, der Wind verfiel in Schlaf, Der Strand, unendlich weh, hat sich in Schmerz gehüllt, Fern trauert Kanlica, die Bucht liegt in Gedanken, Und unter den Platanen träumt Altes: Emirgan.

133 Faruk Nafiz Çamlibel: Kiş Bahceleri [1936], in: Ders.: Han Duvarlari [1969], Istanbul: Atlas Kitabevi 1985, S. 129 f: Kiş Bahceleri Dinmiş denizin Arkisi, rüzgâr uyumakta,/Rihtim boyu sonuz bir üzüntüyele karalti…/Körfez düşünür, Kanlica mahzundur uzakta,/Mevsim gibi sislenmiş Emirgân, Çinaralti./– Can verdi kişin sunduğu taslarla zehirden,/Her gonca kizil bir gül açarken yolumuzda./Üstündeki son dallar ağarmiş diye birden,/Pas tuttu bu akşam sularin rengi havuzda./– Yerlerde gezen hâtiralar var korulukta:/Yapraklar, atilmiş nice mektiplara eştir./Mehtâba çalan sapsari benzyle, ufukta,/Binlerce dalin verdiği tek meyve güneştir!/– Içlenme, tabîattaki yekpâre kederden,/Yas tutma, dağilmiş diye kuşlarla çiçekler:/Onlar dönecektir yine gittiklere yerden,/Onlara giden günlerimiz dönmeyecekler! 113

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Die Rosen unsres Wegs, die Rosen rot sind tot. Vom Gift entseelt, gereicht aus winterlicher Schale: Rost hat die Farb des Teichs allmählig ganz getrübt, Kahl hängt und tristlos grau des Baums Gezweig herab. Erinnrung huscht herein ins winterlich Gehölz, Und jedes dürre Blatt – ein fortgeworfener Brief. Einzig die Sonne dort mondgelb im Dämmerschein Gezeitigt steht als Furcht von tausend leeren Zweigen. Du traure nicht die grosse Trauer der Natur, Wie weh der Blumen und der Vögel Abschied sei – Sie kehren ja zurück vom Schosse der Natur … Doch deine vogelflugs entschwundenen Tage nie.134

Çamlibel zählt zu den vergessenen türkischen Autoren von Rang, die Fuchs mittels der ausgegrabenen Textvorlage für seine Neudichtung wiederentdeckt hat. Er studierte Medizin, veröffentlichte bereits während des Ersten Weltkrieges einige Liebesgedichte, war als Journalist tätig und hatte in den zwanziger und dreißiger Jahren als Literaturlehrer an verschiedenen Mädchen- und Jungenschulen in Ankara und Istanbul unterrichtet. Çamlibel engagierte sich seit 1946 politisch als IstanbulAbgeordneter in der rechtskonservativen, von Celâl Bayar gegründeten demokratischen Partei und wurde nach dem Militärputsch unter General Cemal Gürsel (1895-1966) vom Mai 1960 für einige Monate auf die unbewohnte Prinzeninsel Yassiada verbannt.135 Nach der zwangsbedingten Aufgabe seiner politischen Karriere hatte Çamlibel den Schmerz der gedanklichen Unterdrückung niedergeschrieben und so zu seinen späten Themen und Motiven über aus der Gesellschaft ausgestoßene Menschen gefunden. Fuchs empfand ein stark ausgeprägtes Interesse für Çamlibels frühe romantische Liebes- und Heimatdichtung, weil sie, im Unterscheid zu den sprachlich-revolutionären ready mades des Avantgardisten Orhan Veli, im Kreuzreim und der Ghasel gehalten ist, das heißt lyrische Formen berücksichtigt, auf die er in seinen ausgereiften Gedichten jeweils selbst zurückgegriffen hat. Fuchs’ Neudichtung von Çamlibels in vier Strophen sich gliederndes Gedicht hat diese formale Einteilung beibehalten. Aber aufgrund der Übersetzung aus der agglutinierenden Sprache des Türkischen in die flektierende des Deutschen hat er notgedrungen nicht den Kreuzreim

134 Traugott Fuchs: Winterliche Gärten. Aus dem Türkischen von F.N. Camlibel: Kiú Bahçeleri [1966], aus: Wer bin ich (NTF/BU). 135 Ich entnehme diese Hinweise der biographischen Einleitung von Nihad Sami Banarli: Faruk Nafiz Çamlibel ve Han Duvarlari, in: Han Duvarlari (Anm. 133), S. 5-12. 114

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fortführen können, der zwischen weichen und harten und harten und weichen Endungen der einzelnen Verszeilen hin- und herwechselt und der Gedichtvorlage einen gleichmäßigen Klangrhythmus verschafft. Dagegen ist Fuchs’ Fassung in freien Rhythmen gehalten, wodurch sich das Gedicht auf die Natur, ihren angezeigten jahreszeitlichen Wechsel und das Verhalten des lyrischen Ich zu diesem Wechsel beschränkt. Als rhythmisches Muster dient die in der romantischen Dichtung eines Friedrich Hölderlin oftmals verwendete alkäische Strophenform,136 die in Fuchs’ Nachdichtung als wellenartige Bewegung ein gezügeltes Pathos ergibt. In der ersten und zweiten Strophe wird ein winterliches Landschaftsbild modelliert, das einerseits von der erstarrten und trostlosen Natur und andererseits durch die aufeinander bezogenen Orte »Kanlica« und »Emirgan« geprägt ist. Der erste Vers der dritten Strophe »Erinnrung huscht herein ins winterlich Gehölz« verklammert syntaktisch die letzten zwei Strophen mit den beiden ersten, indem der Vers zu der winterlichen Isolierung des »Du traure nicht die große Trauer der Natur« überleitet. Damit wird die Verbundenheit des lyrischen Ich als Getrenntheit von verblühenden Spätherbstblumen und weiter gen Süden ziehenden Vögeln erfahren. In dieser Zeitlichkeit des Gedichtaugenblicks ist das Gefühl von »Abschied« spürbar, welches das Bild vom menschlichen Leben entwirft, indem der Erneuerungs- und Verwandlungsprozess der Natur dem natürlichen Alterungsprozess des Menschen gegenübersteht: die Teilnahme des lyrischen Ich am Leben der Natur, sein Einbezogensein, scheint unmöglich geworden zu sein. Zumindest bis zu dem Zeitpunkt, bis die Naturwesen aus ihren Überwinterungsquartieren wieder zurückgekehrt sind und der pflanzliche Regenerations- und Metamorphoseprozess nach dem jahreszeitlichen Zyklus in das nächste Stadium übergehen kann. Der Schauplatz von Çamlibels romantischer Dichtung ist ein realer, denn er bezieht sich auf drei Bezirke in Istanbul, denen eine semantischhistorische Bedeutung beizumessen ist, da sie mit Fuchs’ alltäglicher Lebenserfahrung korrespondiert: Kanlica, Emirgan und Çinaralti. Hervorzuheben ist, dass Fuchs den zuletzt erwähnten Ort jedoch nicht berücksichtigt, denn er hat ihn mit der Bezeichnung »Altes« übersetzt. Der bei Çamlibel verwendete Name »Çinaralti« leitet sich einerseits aus dem türkischen Substantiv »Çinar« ab, welches im Deutschen dem botanischen Ausdruck für Platane entspricht und andererseits aus dem Suffix 136 Vgl. beispielsweise Friedrich Hölderlin: Diotima [1800], in: Ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Herausgegeben von Günter Mieth, Bd. 1, Berlin, Weimar: Aufbau Verlag 11970, S. 392f. Aus Fuchs’ Vorlesungsaufzeichnungen geht hervor, dass Hölderlin ein von ihm bevorzugter Dichter war, den er in seinen germanistischen Lehrveranstaltungen häufig interpretierte. 115

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»alti«, womit die Präposition »unter« gemeint ist und sich die Ortbezeichnung »unter (den) Platanen« ergibt. Damit sind die Platanen vom Teegarten in Emirgan angesprochen, wo Çamlibels winterliches Heimatgedicht entstanden ist. Dieser Ort bezeichnet eine der schönsten Parklandschaften Istanbuls, die im 19. Jahrhundert unter der Herrschaft des Sultan Abdülhamid II. (1842-1918) entstanden ist und befindet sich auf der europäischen Seite des Bosporus an einer Bergkette, die sich zwischen den Ortschaften Baltalimani und Sariyer dahinschlängelt. In diesen Park wurde von dem armenischen Architekten Sarkis Balyan (18351899) der zentrale Holzpavillon Sari Köúk (gelber Pavillon) integriert, auf dessen Terrasse Çamlibel unter den Platanen gesessen haben mag, als er sein Gedicht niederschrieb. Denn von dort eröffnet sich der Blick über den Schwanenteich, der in Fuchs Umdichtung die »rostige Farbe« des Winters angenommen hat, weiter zum ›in Schmerz gehüllten Strand‹ des abwärts gelegenen Bosporus, um auf die direkt gegenüber liegende Seite zu schweifen, wo am anatolischen Ufer das kleine Dorf Kanlica mit seinen alten Holzpalästen und gemütlichen Cafes und Teehäusern sichtbar wird. Von diesem bezaubernden Ambiente fühlen sich gestern wie heute die Istanbuler als Ausflugsort angezogen. Der Name Çinaralti hat aber auch eine zweite Bedeutung, denn alteingesessene Istanbuler sprechen damit einen besonders ruhigen und ehrwürdigen Platz an, der sich direkt hinter der Beyazit-Moschee befindet.137 Wie der zweite Name »Çinaralti« nun besagt, ist dieser Platz im Zentrum Istanbuls tatsächlich durch hohe, hunderte Jahre alte Platanen gesäumt und lädt zum Verweilen ein: vornehmlich im Sommer, wenn es heiß ist und man durch das Schatten spendende Dach der Bäume bei einem Glas Tee die neuesten Nachrichten aus der Zeitung erfährt oder sich mit den dort weilenden Studenten unterhält, die während einer Seminarpause aus der wenige Gehschritte entfernt gelegenen Istanbul-Universität zur Entspannung herüberkommen. Diese doppelte Bedeutung von Çinaralti veranlasst uns, dem Grund der Übersetzung mit der Bezeichnung »Altes« näher nachzugehen, um zu verdeutlichen, dass sich durch die Neudichtung ein Anthropomorphismus eingeschrieben hat. Wir werden gleich sehen, dass dieses Stilmittel mit der Erstveröffentlichung des Textes im Jahr 1936 in Verbindung steht. Zunächst ist davon auszugehen, dass Fuchs der konkret wahrnehmbaren Blickachse von Emirgan über den Bosporusgraben nach Kanlica im Sinne von Çamlibels Gedicht gefolgt ist. Aber die Blickachse und der Sinn der Umdichtung verändern sich, wenn man sie zugleich mit dem 137 Meiner Kollegin Nedret Kuran Burço÷lu danke ich dafür, dass sie mich auf die zweifache Bedeutung der Ortsbezeichnung von Çinaralti hingewiesen hat. 116

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imaginativen Blick nach dem anderen »Çinaralti« verknüpft. Dies bedeutet, dass die Blickrichtung in der Umdichtung quer über den Bosporus in Richtung Goldenes Horn nach Beyazit verläuft und in den Bereich des Zentrums vom alten Byzanz gelenkt wird, das seinen Namen nach Beyazit I. (1354-1403) erhielt, der von 1389 bis 1402 als Sultan des ottomanischen Reiches herrschte.138 Traugott Fuchs war die in Çamlibels Gedicht genannte Topographie bestens bekannt: wir haben bereits erfahren, dass er während der vierziger Jahre auf der anatolischen Seite des Bosporus in Vaniköy lebte, das nur wenige Kilometer abwärts von Kanlica gelegen ist und von dort zu Besuchen bei den Auerbachs nach Bebek herüberschiffte; wir sahen auch, dass er seit 1943 an der Bosporus-Universität unterrichtete, die sich ebenfalls nur wenige Kilometer stromabwärts von der im englischen Stil angelegten Parkanlage von Emirgan befindet, die der Öffentlichkeit zu dieser Zeit zugänglich gemacht wurde und seitdem wegen der im Frühling erlebbaren Tulpenblüte eine Attraktion für Naturfreunde bietet. Nicht zuletzt hatte sich Fuchs in Çinaralti berufsbedingt häufig aufgehalten, da sich die Lokalität dicht bei der Istanbul-Universität befindet, wo er mit Leo Spitzer die Fen Edebiyat Fakültesi (Fakultät für fremdsprachliche Literaturen) aufbaute. Warum aber hat Fuchs in seiner Nachdichtung explizit darauf verzichtet, dieses Çinaralti zu erwähnen und was hat ihn bewogen, eine Neudichtung zu kreieren? Bei der Neudichtung von Çamlibels Winterlichen Gärten haben wir es mit einer Schreibtechnik zu tun, die ihrer ästhetischen Form nach als literarisches Palimpsest bezeichnet werden kann, denn deutlich wird, wie eine ältere Handschrift in den später verfassten Text als dessen Fortschreibung hineinreicht. Genau dreißig Jahre nach der Erstveröffentlichung des Textes (1936) und sechs Jahre nach dem Tod von Fuchs’ Lehrer und Freund Leo Spitzer (1960) wird die Istanbuler Winter- und Heimatstimmung Çamlibels zum Ausgangspunkt einer Neuschöpfung genommen, in der ein doppelter »Abschied« als »Erinnrung« mitgedacht ist. Das Abschiedsgefühl manifestiert sich dergestalt schmerzlich, indem die daraus entspringende Enttäuschung mit einem »fortgeworfne[n] Brief« verglichen wird. Sinnbildlich hat Fuchs auf den Fortgang von Leo Spitzer angespielt, der im Jahr 1936, als das Gedicht Çamlibels veröffentlicht wurde, einen Ruf an die Johns Hopkins University annahm. Mit der Auslassung von Çinaralti als die bei Çamlibel bezeichnete Lokalität eines Teegartens im Park von Emirgan und dessen Ersetzung durch das Attribut »Altes« ist folglich das traurige Gefühl präsent, welches sich über

138 Vgl. John Freely: Istanbul. The imperial City [1996], London: Penguin Books 1998, S. 166ff. 117

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die vertrauliche Verbundenheit und einstige gemeinsame Lehrtätigkeit an der Istanbul-Universität herleitet. Dieses Abschiedsgefühl wird durch die scheidende Natur des Winters zwar nicht überlagert, aber doch verstärkt. Die Umdichtung kann demzufolge als eine Freundschaftsallegorie betrachtet werden, wenn man den Teegarten unter den Platanen von Beyazit als metaphorischen Bezugspunkt von Fuchs’ Emotionalität betrachtet. Darin wird die Trennung und das Lebwohl von dem geliebten Menschen Leo Spitzer reflektiert, der über die faktische Abwesenheit zugleich anwesend ist: in absentia praesens sum. Dadurch, dass der winterliche Teegarten in Emirgan den gleichen Namen trägt wie der Teegarten in Beyazit, verwandeln sich damit beide Çinaraltilari in einen gemeinsamen Gedächtnisort der türkischen Literatur und des deutschen Exils, in denen sich zugleich die Identifikation mit Fuchs’ Wahlheimat Istanbul vollzieht. Als Übersetzer war Fuchs damit auch bemüht, den literarischen Austausch zwischen den Nationen zu befördern. Durch die Wechselwirkung von Empfangen und Geben hat er die Aufgabe und den Goethischen Sinn der Weltliteratur verwirklicht, indem seine Übersetzung und Umdichtung als Spiegelung der Nationalliteratur eines anderen Landes zur Wirkung gelangt und dem Austausch, der Vermittlung und kulturellen Duldung der Völker auf der Grundlage einer allgemeingesellschaftlichen Vernunft dient. Seine Übersetzungsleistung steht damit im Zusammenhang der aufgeklärten Idee der Zivilisation, Ausgleichung, Versöhnung und eines geistigen Handelsverkehr zwischen den Völkern: die deutsche Literatur wird durch Elemente der türkischen Literatur erfrischt und beide Nationalliteraturen können sich zu gegenseitiger intellektueller Tätigkeit und Durchdringung weiter anspornen. Dieser enorme schöpferische Impuls,139 den Fuchs nicht zuletzt seinem Lebensort Istanbul verdankt, wird in seiner Dichtung und Malerei als Selbstfindungsprozess zum Künstler erfahrbar.

F r ö sc h e i n d e r V e d u t e I s t a n b u l s Abschließend komme ich auf einen Kurzprosatext zu sprechen, welcher aus einer Aphorismussammlung stammt. Der Text belegt, wie vielfältig 139 Ich benutze diesen Begriff in dem Sinne, wie er von Schreckenberger in die aktuelle Exilforschung eingeführt wird. Trotz der Härten (Sprachumstellung, ökonomische Probleme, soziale Isolierung) habe das kreative Moment der künstlerischen und wissenschaftlichen Produktivität eine tragende Rolle bei der intellektuellen Verarbeitung des Exils gespielt, vgl. Helga Schreckenberger: Einleitung, in: Die Alchemie des Exils (Anm. 101), S. 7-10. hier: S. 7f. 118

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die literarische Produktion von Fuchs war und verdeutlicht, dass er sich stilistisch in dieser Textgattung ebenso mitzuteilen vermochte: Die Frösche im Goldenen Horn. Gang nach Eyüp: 24. April 1965 Die Frösche im Goldenen Horn beklagten sich bitter, sie würden immer weniger, denn immer, wenn sie sich ein bisschen vermehrt hatten, kämen die gierigen grauen Reiher von der heiligen Gräbermoschee herübergeflogen und frässen die meisten von ihnen auf, es lohne sich nicht mehr, sie wollten hier weg, irgendwohin, wo sie sich wieder freudig, vor einem freien Horizont ins Unermessliche fortpflanzen könnten: fort aus der dauernden Umzingelung dieser mörderischen und viel zu kleinen Eiländer, frei zu sein! Von frischem beginnen! »Ihr seid gut, ihr Frösche!«, antwortete dumpf das angepflockte, unten schon mit faulem Wasser angefüllte, halbmorsche Boot, »und ich? Gibt’s denn überhaupt so etwas wie freudig frei von frischem ins Unermessliche? Oh!« – Es konnte vor Weh nicht weiter, schluckte nur tief und tapfer, um nicht gleich weinend ganz in Stücke zu verfallen, aber froh und siegesgewiss rückten die Wasser glucksend noch rasch um einige zweckmässige Zentimeter in die bereits weichenden Planken, höher und höher, hinauf. Bald wird das so schwer Erfüllte endlich absinken, absacken, abdanken unausweichlich, was nun die wieder ihrerseits geprüften Frösche wenig wird trösten können.140

Durch den Titel der Parabel sind wie in den Winterlichen Gärten zwei historische Orte miteinander verbunden, die beide mehrfach Eingang in die Weltliteratur gefunden haben. Das Goldene Horn bezeichnet eine über etwa sieben Kilometer sich erstreckende, fjordhafte Einbuchtung, die auf der europäischen Seite Istanbuls liegt, kurz bevor der Bosporus sich in das Marmarameer ergießt. Der Fjord, der aus einem Süßwasserzufluss im oberen Bereich gespeist wird, trennt im südlichen Teil das alte Konstantinopel mit der auf einem Hügel im vierten Jahrhundert erbauten Hagia Sophia, der kuppelgewölbten Krönungskirche der oströmischen Kaiser, von dem nördlich gegenüber liegenden Pera ab, das im 11. Jahrhundert entstand. Den Venezianern, die beträchtlichen Einfluss auf die kulturelle Entwicklung von Konstantinopel ausübten, wurde im Kampf um das Monopol als führende Handelsnation im Mittelmeer durch die »Goldene Bulle« von 1082, 1130 und 1198 ein Bündel von Privilegien zugestanden, die mit der Schenkung des am Goldenen Horn gelegenen Viertels verbunden war. Als Teil einer von Genuesern angelegten Befestigungsmauer, die mit den Venezianern um die Vormachtstellung am Goldenen Horn stritten, wurde im 14. Jahrhundert der Galataturm errich140 Traugott Fuchs: Die Frösche im Goldenen Horn. Gang nach Eyüp: 24. April 1965, aus: Wahnsweisen: Sprüch-Allerwelts-Zettelchen-Weisheit (NTF/BU). 119

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tet. Die heutige Bezeichnung Galataviertel erinnert an die Kämpfe im Mittelalter, die sich zwischen beiden Stadtstaaten über die militärische Hoheit entlang der Peleponnes, Kykladen und türkischen Levante bis zum Propontis und den auf Zypern errichteten Kolonien entzündete. Schließlich konnte sich Venedig aufgrund erfolgreicher Kriegsführung und geschickter Diplomatie durchsetzen, denn der Stadtstaat hatte durch eine kluge Bündnispolitik der Dogen mit der orthodoxen Kirche und dem Sultanat des ottomanisches Reiches seinen Einfluss festigen und zur Weltmacht im Mittelalter und der Renaissance ausbauen können.141 Durch den vierten Kreuzzug, der von 1202 bis 1204 unter Beteiligung französischer Ritter und der Republik Venedig stattfand und von dem französischen Chronisten Geoffroi de Villehardoin (1160-1212) mit der Niederschrift seiner Kreuzzugschronik dokumentiert wurde,142 ist die Belagerung, Brandschatzung, Zerstörung und totale Ausplünderung der Stadt und ihrer Kunstschätze in die Weltliteratur eingegangen. Zur Folge hatte diese gegen Axius IV. und seinen Nachfolger Axius V. geführte Politik der Habgier und Zerstörungswut lateinischer Christen, dass nach der ökonomischen Bereicherung Venedigs die Entzweiung zwischen der katholischen und orthodoxen Kirche stattfand und dass das einstige Byzantinische Bollwerk, das Europa vor der Expansion der Muslime schützte, seine Widerstandskraft verloren hatte. Es war dann nur noch eine Frage der Zeit, bis Konstantinopel durch Mehmed II. (1432-1481) schließlich im Jahr 1453 eingenommen werden konnte.143 In diesem historischen Kontext kommt dem von Fuchs erwähnten Ort Eyüp eine wichtige Bedeutung zu. Bei der ottomanischen Eroberung der Stadt wurden in diesem Dorf, das im nordwestlichen Bereich des Goldenen Horns liegt, die sterblichen Überreste des Abu Eyüp al Ansari

141 Vgl. Alvise Zorki: Venedig. Die Geschichte der Löwenrepublik [1985]. Deutsch von Sylvia Höfer, Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuchverlag 1987, S. 74-115. 142 Vgl. Gottfried von Villehardoin: Die Eroberung von Konstantinopel durch die Kreuzfahrer im Jahr 1204. [1207]. Nach der Ausgabe von P. Paris übersetzt und herausgegeben von Franz Getz, Leipzig: Voigtländer [o.J.: um 1900]. Erich Auerbachs Schüler Martin Hellweg hat die sozialen Determinanten des Kreuzzugs untersucht, indem er die aus französischen Kreditverpflichtungen entstehende Abhängigkeit des venezianischen Söldnerheeres aufzeigt. Er führt den Nachweis, dass der Niedergang des ritterlichen Tugendbegriffs durch die verpflichtende Indienstnahme ökonomischer Interessen verbunden war, vgl. Martin Hellweg: Die ritterliche Welt in der französischen Geschichtsschreibung des vierten Kreuzzuges, in: Romanische Forschungen, Bd. 52, 1938, S. 1-40. 143 Vgl. Zorki: Venedig (Anm. 141), S. 115-129. 120

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gefunden, der ein Bannerträger des Propheten Mohammed war. Bei der ersten arabischen Belagerung von Konstantinopel zwischen 674 und 678 kam er ums Leben und soll dort begraben worden sein. Für türkische Muslime ist Eyüp, nach Mekka und Jerusalem, der wichtigste religiöse Wahlfahrtsort, denn in einer Türbe, die zur Eyüp Sultan Cami gehört, wurden die Überreste des Abu Eyüp nach der Eroberung Konstantinopels neu beigesetzt.144 Von Eyüp und seiner Lage am Goldenen Horn war der französische Schriftsteller Pierre Loti (i.e. Julien Viaud, 1850-1923), der über seine Teilnahme als Marineoffizier an den Unabhängigkeitskämpfen im Balkangebiet 1876 nach Istanbul kam und sich in die Haremsdame Aziyadé verliebte,145 dermaßen angetan, dass er diesen Pilgerort als Stätte der Kontemplation in seinen Tagebuchnotizen aus dem Jahr 1890 verewigt hat: Eyoub, le saint faubourg, est toujours le lieu rare du suprême recueillement, de la suprême prière. A l’entrée de l’avenue exquise qui longe les saints tombeaux, je mets pied à terre sur des dalles verdies par les siècles; l’avenue, devant moi, s’enfonce en profondeur, toute blanche à travers l’espèce de bois sacré plein de sépultures, blanche de ce même blanc verdâtre que prennent à l’ombre les marbres très vieux; elle s’en va finir là bas à l’impénétrable mosquée, dont on aperçoit confusément de dôme, sous un bouquet de platanes et de cyprès immenses. Elle est bordée, de droite et de gauche, par de kiosques, en marbre blanc ajouré, remplis de catafalques et de morts, ou par des murs percés d’arceaux en ogives à travers lesquels on aperçoit les cimetières: étranges tombes aux dorures fanées, apparaissant dans la nuit verte de dessous bois, mêlées à des fouillis d’herbes, de rosiers sauvages, de ronces.146

Durch diese historische Szenerie müsste Traugott Fuchs während seines Ganges nach Eyüp eigentlich hindurch gegangen sein, aber er hat sie mit keinem Wort in seiner Parabel erwähnt. Doch den nicht beschriebenen Weg wird er in Beyazit, von der Universität aus, begonnen und in die Stadtteile Fatih und Fener hinunter ans Ufer vom Goldenen Horn fortgesetzt haben. Er geht folglich nicht direkt nach Eyüp, um sich die »heilige Gräbermoschee« aus allernächster Nähe anzuschauen oder sich des wunderbaren Ausblicks von der Anhöhe eines nach Loti benannten Cafes zu erfreuen, der über das gesamte Goldene Horn zum Galataturm, Topkapi Sarayi (die Residenz der Sultane) und weiter bis zu den Prinzeninseln

144 Vgl. Freely: Istanbul (Anm. 138), S. 186f. 145 Literarisch ist diese Liebesgeschichte in dem gleichnamigen Briefroman Pierre Loti: Aziyadé [1879], Istanbul: MAS Matbaacilik A.S. 32004 verarbeitet worden. 146 Pierre Loti: Constantinople en 1890, Istanbul: MAS Matbaacilik A.S. 3 2005, S. 28f. 121

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reicht. Vielmehr ist sein Blick auf den ganz profanen Gegenstand der Amphibienwelt gerichtet. Durch diese irdische Perspektive ist die gesamte sakrale Umgebung und ihre geschichtliche Bedeutung ausgeblendet. Genauso wenig ist Fuchs vom rein literarischen bsthetizismus Lotis affiziert, der die soziale und politische Realität der zweiten TanzimatEpoche der siebziger Jahre des 19. Jahrhundert in seinen auf Istanbul bezogenen Tagebucheintragungen völlig vernachlässigt. Stattdessen sind es die belebten Naturformen der Frösche und Graureiher und die unbelebte eines sinkenden Boots, die seine Aufmerksamkeit erwecken. Der nobilitierte Herrschaftsrahmen der Stadtvedute wird damit antithetisch unterlaufen, denn Fuchs’ schlichte und einfache Sprache, die seinen gleichsam säkularen Blickwinkel fokussiert, stellt sich in den Dienst einer kalkulierten Ironie, der jedoch ernste Züge innewohnen. Den Fröschen, die sich am äußersten Rand vom Goldenen Horn in der Nähe von zwei kleinen Inseln im Süßwasser des Fjords tummeln, droht durch die von der EyüpMoschee herüber fliegenden »gierigen Graureiher« der Garaus. Deshalb sehnen sie sich weg zu einem anderen, undefinierten Ort namens »irgendwohin«, um dort ohne Bedrohung eine neue, gleichsam herrschaftsfreie Lebensgemeinschaft aufzubauen, wodurch der Parabel das Moment des Utopischen innewohnt und ihrem erweiterten Bildraum die Last der Geschichte abhanden geht. Aber nicht nur die Frösche sind vom Aussterben bedroht, sondern auch das »halbmorsche Boot«, das mit seinen letzten, ihm verbliebenen Atemzügen, eine Wehklage auf die Frösche anstimmt und daraufhin selbst vom Zeitlichen ereilt wird. Sinnbildlich zeigt sich darin die Verknüpfung vom persönlichen Werden und Untergehen, das heißt, dass sich in der individuellen Ontogenese der Untergang der urbanen Phylogenese widerspiegelt. Übrig bleiben die sichtlich dezimierten Frösche und der sie betrachtende Erzähler, womit Traugott Fuchs ein Weltgefühl von Wandel und Vergänglichkeit walten lässt, welches auf das historische Ensemble der Polis im Verlauf der Jahrhunderte beziehbar ist. Somit ergibt sich der philosophische Sinn der Parabel: der schaffenden Natur, natura naturans, wird die geschaffene Natur, natura naturata, zur Seite gestellt. Das Wechselverhältnis von produktiver Naturgeschichte als Ausdifferenzierungsprozess der Artenvielfalt und Formen wird kontrastiv mit der vom Menschen erschaffenen zweiten Natur verglichen. Diese zweite Natur ist in dem erweiterten Bildraum der antiken, byzantinischen und ottomanischen Ruinen der Stadtvedute als historischer Bewusstseins- und Formationsprozess präsent und kann in ihren übereinander gelagerten Zeitschichten vom impliziten Leser assoziiert werden.147

147 Zum Begriff der »Zeitschichten« als geologische Metapher in der histori122

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Eine ontologische und kunsttheoretische Bedeutungsebene mischt sich in die Parabel ferner ein, wenn man sie als Palimpsest zu lesen versteht und ihren Schauplatz nochmals mit der Geschichte Venedigs verknüpft, die zu weiten Teilen mit der Geschichte von Byzanz verschwistert ist. Die am Lido gelegene Stadt ist ihrerseits durch Goethes Eintragungen im Journal seiner italienischen Reise in die Weltliteratur eingegangen. Als Goethe im Oktober 1786 in Venedig ankam, hatte er an einer Feierlichkeit des Dogen teilgenommen, die sich auf den Sieg der Venezianer gegen die Türken in der Schlacht von Lepanto vom 7. Oktober 1571 bezog. Am 7. Oktober 1786 wird dieses Ereignis seinem Tagebuch anvertraut: »Mir nordischem Flüchtling hat diese Zeremonie viele Freude bereitet.«148 Zwei Tage später, am 9. Oktober, verbringt Goethe einige Stunden am Lido, wo er sich ausgiebig mit botanischen und zoologischen Studien beschäftigt, über die er folgendes berichtet: Ich wende mich mit meiner Erzählung nochmals an das Meer, dort habe ich heute die Wirtschaft der Seeschnecken, Partellen und Taschenkrebse gesehen und mich herzlich darüber gefreut. Was ist doch ein Lebendiges für ein köstliches, herrliches Ding! Wie abgemessen zu seinem Zustande, wie wahr, wie seiend!149

Wie sind die beiden Zitate im Kontext des bisher Gesagten zu verstehen? Bedingt durch die Trennung der Orte und Jahrhunderte begegnen sich mit der Betrachtung der Fröschen im Goldenen Horn und der Taschenkrebsen am Lido zwei ›nordische Flüchtlinge‹ wieder, die beide das Meer, dessen Getier und seine Pflanzenwelt zum Gegenstand ihrer Anschauung gemacht haben. Aber der eine von beiden konnte weiterreisen und sich wie die Graureiher der Abu Eyüp-Moschee metaphorisch in die Lüfte emporheben, um seinem Traumziel Rom unaufhaltsam entgegenzustreben; der andere Flüchtling verblieb wie die Frösche im Goldenen Horn an seinem Zufluchtsort Istanbul – dem ehemaligen Ost-Rom – das ihm zu einer dauerhaften Wahlheimat wurde. Neben diesem Parallelzusammenhang von bildender Reiseerfahrung und Exil ergeben sich erkenntniskritische Korrespondenzen, die mit der Kunstanschauung beider Künstler verbunden sind. Meine Kollegin Süheyla Artemel, die seit 1968 mit Traugott Fuchs an der Bosporus Universchen Forschung, vgl. Reinhart Koselleck: Zeitschichten [1994], in: Ders.: Zeitschichten. Studien zur Historik. Mit einem Beitrag von HansGeorg Gadamer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag 2000, S. 19-26. 148 Johann Wolfgang von Goethe: Italienische Reise [1817], in: Hamburger Ausgabe (Anm. 67), Bd. 11, S. 83. 149 Ebd., S. 93. 123

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sität zusammenarbeitete und mit ihm befreundet war, hat sehr eindrucksvoll gezeigt, welche Kunstanschauung Fuchs’ Arbeitsmethode zugrunde liegt: Einer der Züge, die die Schule der von Spitzer und Fuchs praktizierten Stilistik auszeichnet, ist die Verbindung von wissenschaftlicher Analyse mit einem gefühlsmäßigen und intuitiven Eingehen auf ein Werk. Wie Spitzer und Hesse, mit denen er gleichsam tief verbunden war, sieht Fuchs Gefühl und Gedanke als integrale Teile eines organischen Ganzen. Das Gleiche gilt dann – nicht nur für Literatur und Kunst – auch für das Leben selbst. Diese drei Denker glauben alle, daß die Komplexitäten des Lebens und die grundlegenden Probleme der Menschheit gelöst werden können, indem eine harmonische Integration von Gedanke und Gefühl, von Vernunft und pietas geschaffen wird. Dieses EinsSein kann durch Liebe und künstlerische Kreativität verwirklicht werden. Die Sehnsucht, die Konflikte, welche die Menschheit heimsuchen, hinter sich zu lassen und der globalen Zwietracht ein Ende zu machen, das Erreichen der concordia discors, ist eines der grundlegendsten Themen in den Werken von Fuchs. […] Er hatte einen Blick für das, was der Dichter und Maler William Blake ›die winzigen Besonderheiten des Lebens‹ nannte. Kein Ding – und mochte es noch so bedeutungslos sein – entging seiner Beobachtung und seinem liebevollen Blick. Die Linse seiner Kamera, seine Gemälde und seine Worte werfen, wie in einem verwandelnden Spiegel, all die Bilder einer Welt zu uns zurück, deren Tiefe und Reichtum wir nicht zu erfassen vermögen, es sei denn, da ist des Künstlers Auge, uns zu leiten.150

Verbindet man Artemels signifikante Charakteristik mit Goethes auf der aristotelischen Entelechie basierenden Naturphilosophie, dann wird ferner evident, dass Fuchs den Vorrang des Individuellen vor dem Allgemeinen kenntlich macht und damit die induktive Methode als Denk- und Verstehensansatz bevorzugt. Und das Individuelle, das den Zweck des Lebens in sich selbst trägt, wird, wie Artemel völlig zu recht sagt, nicht vom Allgemeinen getrennt, denn es ist in die mächtigen Prozesse der Natur- und Weltgeschichte eingebunden, deren Sedimente neben- und übereinander laufen und in die Fuchs an solchen Stellen hineinsticht, die scheinbar nur die Oberfläche berühren. Wie bei Goethes Taschenkrebsen vom Lido, ist mit den Fröschen im Goldenen Horn die Einsicht entscheidend, dass in der organischen Form das Leben liegt und dass diese Form nicht etwas von außen Übergestülptes bedeutet, sondern das sichtbar gewordene Lebendige selbst. Damit lässt sich das Verständnis von Goethes und Fuchs’ Wahrheitsgedanke klar gewinnen. Die Wahrheit, von der bei 150 Süheyla Artemel: Mein Kollege Traugott Fuchs. Aus dem Englischen übersetzt von Hermann Fuchs, in: Bilder der Sehnsucht (Anm. 9), S. 814, hier: S. 11ff. 124

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Goethes Taschenkrebsen direkt die Rede ist und die bei Fuchs durch eine dezimierte Froschpopulation als ontologisches Phänomen gedacht ist, wird von beiden intuitiv als Anschauung erfasst. Aber sie ist nicht wie ein logisches Axiom zu verstehen, das in einer idealen, völlig unanschaulichen Sphäre seine Geltung hat, sondern als ein Zusammenhang bedingender Faktoren, die das organische Gefüge der Natur mit Intensität erlebt und als Notwendigkeit begreift. Bezogen auf das steinerne Ensemble Istanbuls lässt sich sagen, dass der Formbildungsprozess der Natur in die Kunstform der Architektur eingebettet erscheint. Traugott Fuchs hat in der patchworkartigen Vedute die in sie eingelagerten Epochen der Architektur als Form eines Palimpsest betrachtet, welches der zeitlichen Schichtung der Vergangenheit und des Wandel allen Lebens entspricht. Dieser Wandel läuft darauf hinaus, dass das werdende und vergehende Leben im Sinne Goethes mit einem »erborgten Dasein«151 zu vergleichen sei.

S yn t he s e u n d A u s b l i c k Erinnern wir uns noch einmal, dass Traugott Fuchs in dem autobiographischen Text über seine Reise zu Hermann Hesse beschreibt, den Entstehungsprozess von Mimesis aus allernächster Nähe beobachtet und miterlebt zu haben. Meines Erachtens hat er für das Verfahren seiner eigenen Kunstproduktion einen zentralen Gedanken Auerbachs reflektiert und sich zu eigen gemacht, der speziell mit der raum-zeitlichen Darstellung des erzählerischen Geschehens bei Virginia Woolf, James Joyce und Marcel Proust verknüpft ist: Der gewaltige Roman von James Joyce, ein enzyklopädisches Werk, Spiegel Dublins, Irlands, Spiegel auch Europas und seiner Jahrtausende, hat als Rahmen den äußerlich unbedeutenden Tagesablauf eines Gymnasiallehrers und eines Annoncenakquisiteurs; er umfaßt weniger als vierundzwanzig Stunden aus ihrem Leben, ähnlich wie der Leuchtturmroman Virginia Woolfs, der Teile von zwei zeitlich weitauseinanderliegenden Tagen schildert – vergleichbar aber auch, wie man nicht umhin kann, hier festzustellen, der Komödie Dantes. Proust gibt Tage und Stunden aus verschiedenen Epochen, allein die äußeren Schicksalswendungen, die die Romanpersonen inzwischen betroffen haben, werden nur gelegentlich, oder retrospektiv, oder auch vorwegnehmend erwähnt,

151 Goethe: Italienische Reise (Anm. 148), S. 53. Der Begriff wird anhand von Andrea Palladios Architekturtheorie und seiner Gebäude in Vicenza entwickelt. Goethe vergleicht die Kreativität des Architekten mit einem Dichter, »der aus Wahrheit und Lüge ein Drittes bildet, dessen erborgtes Dasein uns bezaubert.« 125

IDEEN: SKIZZEN, VERNETZUNGEN UND WEITERFÜHRUNGEN

ohne daß das Ziel der Erzählung in ihnen läge; oft müssen sie vom Leser ergänzt werden […]. Man kann dies Vorgehen moderner Schriftsteller mit dem einiger moderner Philologen vergleichen.152

Was Auerbach als kompositorisches Strukturprinzip der modernen Erzählform analysiert, ist mit der durch die Romantik in Europa aufgekommene fragmentarische Erzählweise verbunden, die vom Leser, wie er hervorhebt, ein mental und psychisch aktives Eingreifen als Weiterdenken in den Erzählzusammenhang und Leseprozess erfordert. Diese Art des subversiven Lesens, welches den erweiterten Umgang mit Texten und ihrem jeweils inhärenten Wissen voraussetzt, liegt auch Fuchs’ konzeptioneller Vorstellung von Kunst und Literatur als Charakteristikum zugrunde. Zu dieser speziellen Technik als Stilmerkmal seiner Mal- und Schreibweise zählt das explizite und implizite Zitat, womit der ästhetische und historische Kontext, wie beispielsweise bei dem Gemälde »Schlafend trägt man mich in meine Heimat dann«, erschließbar wird. Ebenso zählt dazu die Technik der Auslassung oder Überblendung wie im Ariongemälde, wo philologische Kenntnis und Phantasie gefragt ist, um den immanenten Sinn zu entschlüsseln; schließlich noch das Palimpsest, wodurch bestimmte figurale und nicht-figurale Konstellationen hergestellt oder bewusst negiert werden (Narziß, Orpheus, die Frösche in der Vedute Istanbuls) sowie die Übersetzung als Um- und Neudichtung (Veli, Çamlibel), die das eigene Sprachgefühl durch die Syntax einer fremdsprachigen Literatur bereichert. In dieser konzeptionellen Vorstellung von Kunst, die nicht epigonal, sondern concept art ist, das heißt Kunst, die auf dem ästhetischen Ansatz einer formbildenden Reflexion beruht, lassen sich die Grundmotive von Heimat, Sehnsucht, Naturwahrnehmung, Leid, Tod und Errettung aufweisen. Traugott Fuchs hat damit als Künstler eine innovative Methode des assoziativen Verbindens von fragmentarischen Text- und Bildsequenzen entwickelt, die im Sinne von Auerbachs Charakteristik moderner Erzählformen der Philologe und Interpret zu erkennen und nachzuvollziehen habe, um den Sinngehalt eines Kunstwerks aufzuzeigen. Durch dieses Verfahren wird eine Semantik miterzeugt, die den historischen Ort der Kunst und ihre Funktion verändert. Das Herstellen von Kunst bleibt bei Traugott Fuchs nämlich der verwandelnden Mimesis und einer kritischen Transzendenz verpflichtet, die zugleich seinen originellen Stil ausmacht. Dieser Stil hat sich im vorderen Orient entwickelt und ist über die Distanz zu seiner Heimat nicht mit der Verwerfung der ererbten ästhetischen Form und Geschichte der Kunst verbunden, sondern im Gegenteil: mit deren neu geschaffener Errettung, die in seinem Gesamtwerk als Integration der zentralanatolischen 152 Auerbach: Mimesis (Anm. 50), S. 487f. 126

TRAUGOTT FUCHS ZWISCHEN EXIL UND WAHLHEIMAT AM BOSPORUS

Kulturwelt deutlich sichtbar wird. In diesem transhistorischen Sinn kann man Traugott Fuchs als experimentellen und interkulturellen Kulturvermittler und Brückenbildner zwischen Orient und Okzident bezeichnen, obschon er vom Empfinden solch einer Mission selbst nicht überzeugt gewesen zu sein schien, da er sich aufgrund seines besonderen Status als Exilant und Wahlbeheimateter in der Türkei nicht zu den offiziell gesandten Vertretern deutscher Kulturinstitutionen hat zurechnen können. Aber genau jenseits eines fest umrissenen deutschen Kulturauftrags hat er aus seiner Nische heraus sehr viel autonomer und unkonventioneller agieren können und beträchtlich Einfluss auf die intellektuelle Entwicklung seiner Schüler und sogar die türkische Kunstszene in Istanbul ausgeübt.153 Betonen möchte ich zum Schluss, dass hinter Fuchs’ reichhaltiger Produktivität eine mutige Person stand, die durch ihren Widerstand gegen den Nationalsozialismus der Existenzgrundlage beraubt und von einer unter normalen Umständen sicheren akademischen Karriere im deutschen Universitätssystem ausgeschlossen wurde. Dietrich Schlegel hat auf diesen Hintergrund angespielt, als er aus Anlass der von Anne Fuchs in Köln organisierten Ausstellung im Vorwort zum Katalog deutlich hervorhebt, dass Fuchs von deutschen Behörden im Zusammenhang mit seinem Wiedergutmachungsantrag nicht besonders fürsorglich behandelt wurde: Diese Ausstellung ist ein Akt später, leider posthumer Anerkennung und sogar Wiedergutmachung, denn er, der in der Türkei für die deutsche Kultur und Gelehrsamkeit so viel getan hatte, musste nach dem Ende seiner Lehrtätigkeit mit seiner geringen türkischen Pension in äußerst bescheidenen Verhältnissen sein Leben fristen, denn aus Deutschland erhielt er keinerlei Rente oder sonstige Zuschüsse. Als nach seinen langen vergeblichen Bemühungen von Seiten der deutschen Regierung endlich eine Alimentation zugesagt wurde, war er zu stolz, sie anzunehmen.154

Dem ist noch folgendes hinzuzufügen: Traugott Fuchs hat durch die Ausbildung mehrerer Generationen von türkischen Germanisten, Komparatisten und Kulturschaffenden enorm viel dazu beigetragen, dass sich 153 Vgl. Özer Kabaş: Traugott Fuchs und seine Gemälde, in: Ein in der Türkei verbrachtes Leben (Anm. 8), ohne Paginierung. Kabaş, der Leiter der Abteilung Malerei an der Mimar Sinan Universität war, berichtet in diesem Essay, dass er selbst durch Fuchs seine Ausbildung zum Maler erhalten habe, da dieser während der fünfziger Jahre Zeichenunterricht an dieser Universität erteilte. 154 Dietrich Schlegel: Geleitwort, in: Bilder der Sehnsucht (Anm. 9), S. 7. 127

IDEEN: SKIZZEN, VERNETZUNGEN UND WEITERFÜHRUNGEN

Dank seiner weit vorausblickenden pädagogischen Bemühung ein humanistisch-aufgeklärter und demokratischer Geist in seinem Wirkungskreis entwickeln und reproduzieren konnte; deshalb darf nicht vergessen werden, dass er als intellektueller Katalysator freiheitlicher Ideen gewirkt hat – lange bevor man politisch über einen EU-Beitritt der Türkei nachgedacht hat. In diesem politischen Kontext sollten deutsche und türkische Kulturinstitutionen und Einzelpersonen aus dem wissenschaftlich-universitären Bereich die nun recht günstige Chance nutzen und gemeinsam an einem Strang ziehen, damit das künstlerische und wissenschaftliche Werk von Traugott Fuchs gemäß seinem eigenen Wunsch in Istanbul einen adäquaten Aufbewahrungs- und Ausstellungsort findet. Solch ein Ort für Traugott Fuchs könnte zwei wesentliche Funktionen auf pragmatische Weise miteinander verknüpfen: zum einen würde sein Werk katalogisiert und damit vor dem drohenden Zerfall seiner Materialität gerettet und als Ort der Erinnerung an das Exil im Gastgeberland präsent bleiben; zum anderen ergäbe sich die Möglichkeit, diesen Gedächtnisort als Grundstock zu einem lebendigen Sammlungs-, Forschungs- und Kongresszentrum deutsch-türkischer Kulturbeziehungen auszubauen, der dadurch eine Austausch- und Vermittlerrolle von unausgesprochenen Ideen und Gedanken repräsentieren würde, die sehr vielen Menschen zu Gute kämen. Dabei sollte man sich durchaus von Traugott Fuchs’ Aphorismus als dringlich zu Gebot stehende Erkenntnis- und Handlungsmaxime leiten lassen: Wissen was los ist, Wissen was gross ist, Lernen was eng und klein, Erkennen was fremd ist und fern und niemals mein – Aber immer denken und nennen und zwar gern: Was wir im Herzen bekennen Als menschlich redlich und rein.155

Nicht zuletzt belegt Traugott Fuchs auch durch diese Maxime, dass er ein hohes Geistergespräch mit den beiden nicht genannten Hauptvertretern der Weimarer Klassik (Goethe und Schiller) fortsetzt. Als Erzieher sieht er den Sinn dieser damit verbundenen Kunst- und Lebensanschauung darin, dass man zwischen ihren Gegenständen und ihrer Geschichte als Vermittler tätig zu sein hat. Seine anthropologische Grundhaltung ließ 155 Traugott Fuchs: Wissen was los ist [ca. 1970], aus: Wahnweisen: SprüchAllerwelts-Zettelchen (NTF/BU). 128

TRAUGOTT FUCHS ZWISCHEN EXIL UND WAHLHEIMAT AM BOSPORUS

ihn auf dem klassischen Boden Istanbuls einen wichtigen Beitrag zur Neupflanzung des ausgehöhlten Bildungsideals leisten. Die Synthese aus Wissen, Erkennen und Lernen verfolgt das Ziel, sich selbständig Kenntnisse über die Vergangenheit zum Zweck des Lebens zu erwerben. Auf diese Weise steht Traugott Fuchs’ pädagogischer Ansatz gegen die eigene Zeit. Aber er hat niemals die Hoffung aufgegeben, dass sich aus dem geschwächten und deformierten Bewusstsein der einzelnen Persönlichkeit durch die Kunst ein neues ethisches Denken und Handeln im Dienst der Zukunft als Wirkungsmöglichkeit entwickeln möge.

Danksagung Dem Deutschen Literaturarchiv Marbach (DLA) und Hessischen Staatsarchiv Marburg sowie Hermann Fuchs (Heidelberg) danke ich dafür, die verwendeten Text- und Bildquellen zitieren zu dürfen. Mein Dank gilt ebenso Süheyla Artemel (Leiterin der Abteilung für englische Sprache und Literatur an der Yeditepe University, Istanbul), Bedrettin Dalan (Präsident der ISTEK Foundation, Istanbul) und Ahmet Serpil (Rektor der Yeditepe University), die in vereinten Kräften dafür sorgten, dass der Nachlass von Traugott Fuchs zwischen Oktober 1998 und Mai 2005 an dieser Universität einen sicheren Aufbewahrungsort finden konnte. Gegenwärtig wird Fuchs’ Hinterlassenschaft an der Bosporus University Istanbul (NTF/BU) beherbergt, wo die Aufarbeitung der Quellen geplant ist. Zu Dank verpflichtet bin ich gleichfalls Mediha Göbenli (Yeditepe University), die mir bei der Übersetzung von türkischen Zitaten hilfreich zur Seite stand und Matthias Bormuth (Universität Tübingen) für seine Anregungen, die sich während unserer Gespräche in Istanbul entwickelten. Schließlich sei auch dem Philosophen Jan Müller (PhilippsUniversität Marburg) gedankt, der mich mit Forschungsliteratur aus der dortigen Universitätsbibliothek versorgte.

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S A I D – O R I E N T AL I S M U S – E X I L : D I E A M B I V A L E N Z D E S E X I L -D A SE I N S Z W I S C H E N B R U C H U N D R E -F U N D A M E N T A L I S I E R U N G DES EIGENEN SIGRID NÖKEL Der Name Edward Said steht – jedenfalls außerhalb seiner fachlichen Heimat, der Literaturwissenschaft – für die Konstruktion des Orientalismus durch die (intendierte) Dekonstruktion der Orientalistik. In dem 1978 und damit kurz vor der iranischen Revolution erschienenen Buch »Orientalismus« präsentiert er, unter anderem inspiriert von Freud und Foucault, eine Fülle von Beispielen, die nachhaltig darauf hin gewirkt haben, den Orient als das Andere Europas zu produzieren. »Orientalismus« versteht sich als die Darstellung der Genese einer zunehmend strategisch gewordenen Missrepräsentation. In ihrem Kern birgt sie die letztlich nicht geographisch gebundene Idee des Orients und des Orientalen als das Andere, die sich mehr der Realität des Westens als des Ostens verdankt. Hier entladen sich – noch bevor die auf Modernisierung der ›orientalische Gesellschaft‹ und der Orientalen bzw. ›Mohammedaner‹ zielende Zivilisationsidee stärker an Boden gewinnt – verdrängte Wunschvorstellungen und mehr spirituell denn sozialtechnologisch orientierten Ideale der Europäer. Kulturpilger verschiedener Art holten (und holen) sich im Orient, auf der Suche nach den Spuren einer kosmologischen Weisheit der alten Zivilisationen ›ihre‹ Bilder, die in den verschiedenen Formen, von Reisebeschreibungen und Dichtungen über Malerei und philosophische Betrachtungen, als reale oder phantastische Imaginationen, ausgesprochen oder latent, zu einer andauernden Präsenz des Orients im kulturellen Gewebe Europas führten. ›Der Orient‹ bezeichnet somit eine wirkungsmächtige Inspiration und Fiktion, die, an Realität wie an Phantasie anknüpfend, ein Ventil europäischer, nicht selten von Romantik und Sentimentalität getragener, Kulturkritik in den verschiedenen Facetten bildet (vgl. z.B. Hastings 1992; Bermann 1996; Polaschegg 2005). Said hat die äußerst komplexe Frage von der europäischen kulturellen Produktion des Orients aufgeworfen, eines Orients-in-Beziehung. 131

IDEEN: SKIZZEN, VERNETZUNGEN UND WEITERFÜHRUNGEN

Seine Betonung liegt auf dem intendierten Charakter der Missrepräsentation und verbindet sich mit der Forderung, sie durch die Verschiebung von Macht und Wissen zu revidieren. Diese Position, die einen Eckpfeiler der postkolonialen Kritik bildet, ist aber nur eine. Eine andere ist, in Anlehnung an eine Formulierung Hölderlins, die »des freien Gebrauchs des Eigenen«. Hier ist die Aneignung im Eigen-Sinn verhaftet. Das Spiel mit dem Eigenen aber braucht keine Konstruktion der Differenz und Alterisierung, um zur kulturellen Selbstdefinition zu kommen. Es begnügt sich damit ganz selbstbezogen Bruchstücke zu entlehnen, um den eigenen Utopien Ausdruck zu verleihen. Ähnlich wie die Maskerade fügt es eine Dimension hinzu – für den, der sich maskiert – , aber es bleibt folgenlos; es stellt keine wirklich interaktive wechselseitige Beziehung her. Was folgt daraus, wenn es eine ›protestantisch-fundamentalistische Fiktion‹ wäre, einem Spiel des Gebrauchs des Eigenen eine systematische Intention der Eroberung und Inbesitznahme zu unterstellen? Wenn das als Andere Angenommene außerhalb des Wahrnehmungsbereiches, auch seiner unbewussten Dimension liegt, weil es keine Funktion besitzt außer einer zufälligen Referenz? Wenn folglich eine Beziehung, die aus der Alteritätskonstruktion heraus als reziprok definiert ist, substantiell gar nicht als solche existiert, sondern wenn die Beziehung von A zu B eine ebenso eigenständige ist wie die von B zu A, weil beide eine eigene Objektbeziehung haben? Dann können sie zwar punktuell aufeinander bezogen agieren, aber sie bilden nicht notwendigerweise eine auf Wechselseitigkeit und Symmetrie bedachte Interaktionseinheit, sondern besitzen jeweils eine eigene Sinnlogik. Derrida deutet auf ein solches Modell einer, nennen wir es divergenten Interaktion im Bezug auf die aristotelische Unterscheidung des Liebenden und des nicht auf ihn reagierenden Geliebten (vgl. Derrida 2002: 25ff.). Nun geht es mir hier nicht um die Auseinandersetzung mit Derridas Überlegungen, sondern um die Andeutung eines möglichen Ansatzpunktes, von dem aus man das doch recht simple Reziprozitätsmodell, mit dem gewöhnlich in den Sozialwissenschaften operiert wird befragen kann. Aber wenn es so ist, dass einer Beziehung irrigerweise ein Reziprozitätsmodell von Bindung und Rückbindung zugrunde gelegt wird, dann stellt sich die Frage, ob als Konsequenz nicht eine artifizielle essentialisierte Beziehung konstruiert wird, die zwei koexistierende Subjekte einseitig als reziprok miteinander verbundene Partner innerhalb eines angenommenen Schemas konstituiert. Die Kritik an Saids Denkfigur ist bekannt, ebenso ihre bis heute anhaltende ungebrochene Verwendung, die sich unbekümmert aller empirischen Mängel1 fortsetzt. Der 2003 verstorbene Said hat diese Kritik nicht

1

Vgl. z.B. Fähndrich (1988); Kopf (2000); (Richardson 2000). 132

SAID – ORIENTALISMUS – EXIL

widerlegt. Bei ihm wie bei seinen Adepten stand und steht vor allem der Kreuzungspunkt zwischen wissenschaftlicher Produktion und politischer Wirkung, der sich in »Orientalismus« entfaltet, im Vordergrund. Dennoch hat Said in seinen späteren Publikationen an ihr weitergearbeitet und sie, ohne sie aufzuheben, modifiziert. Ein bedeutender Schritt ist die später entstandene Figur des Exils. Hierbei kommt dem Romanisten Erich Auerbach, der während des Zweiten Weltkrieges in Istanbul Zuflucht gesucht hatte, eine in der soziologischen Auseinandersetzung2 mit Edward Saids Positionen übersehene Schlüsselposition bei der Entwicklung dieser Figur zu. Vom methodischen Ansatz her ist Erich Auerbach ein maßgeblicher geistiger Mentor Saids in Hinsicht auf die Hervorhebung der Beziehung von Werk und Autor, von Stil und Realität. In biographischer Hinsicht gibt es zahlreiche Parallelen zwischen dem deutsch-jüdischen Auerbach und dem 1935 geborenen, ebenfalls expatriierten palästinensisch-protestantischen Said. Trotz der offensichtlichen Verehrung Auerbachs ist eine eigentümliche Stilisierung Auerbachs durch Said nicht zu übersehen. Diese kulminiert in dem von Said bezeichneten Paradox des Morgenlandes als Entstehungsort eines der bedeutendsten Abhandlungen über die Literaturgeschichte des Abendlandes »which is truly one of the great books on the shelf«, wie Blanchard (1997) urteilt, die Auerbach mit »Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur« vorgelegt hat. Der ›Fall Auerbach‹ spielt eine exemplarische Rolle in Saids Konstruktion der Figur des kulturkritischen Exilanten, der durch die Situation der Entwurzelung und durch die Konfrontation mit der anderen Kultur, kurz, durch die kulturelle Distanz zur vertieften kulturellen Reflexion befähigt wird. Der vorliegende Aufsatz setzt sich mit verschiedenen Aspekten von Saids Konstruktion des Exils und des Exilanten als Modell kultureller Produktion auseinander.

2

In deren Blickfeld liegen vor allem »Orientalismus« (1978) und »Imperialism and Culture« (1993) und damit die theoretischen Anleihen Saids bei Foucault und Gramsci (z.B. Castro Varela/Dhawan 2005: 29ff.). Wenig Beachtung finden hingegen die Einflüsse Auerbachs sowie die, nicht zuletzt auch über Auerbach vermittelt, Dantes und Vicos. Von ihnen übernimmt Said den Gedanken eines multikulturellen, säkularen Humanismus, der zunehmend die Konzeption des »Orientalismus« überlagert, aber nie mit ihm konvergiert. Zum Vorwurf der mangelnden Konvergenz s. z.B. Clifford 1988:263ff., Ahmad 1992:164ff.). 133

IDEEN: SKIZZEN, VERNETZUNGEN UND WEITERFÜHRUNGEN

E r i c h A u e r b ac h i n I st a n b u l Die quer in Saids Gesamtwerk verstreuten häufigen Referenzen auf den Romanisten Auerbach lassen keinen Zweifel an der zentralen Bedeutung, die Said ihm einräumt – als Wissenschaftler, der die Einheit von Autor und Werk und damit die Perspektivität betont, und als Person oder treffender als Autor. Dennoch tritt die Person Auerbachs auffällig wenig in Erscheinung; es macht den Anschein als halte Said sie bewusst im Hintergrund, als sei er, abgesehen von Auerbachs theoretischen Einflüssen, die sich deutlich in seinem Werk niederschlagen, vor allem am ikonographischen Wert interessiert und an der Idee des Exils, die ihm der ›Fall Auerbach‹ zuspielt. Wer war die Person Erich Auerbach? Diese nicht unerhebliche Frage, die sich mit der Frage nach dem Gebrauch des Eigenen verbindet, lässt sich über Said nicht erschließen. Es wird auch nicht deutlich, inwieweit er Kenntnis besaß über den in den nach und nach veröffentlichten Briefwechsel Auerbachs mit verschiedenen Kollegen, der eine Hauptquelle für die Erschließung der Person Auerbach bildet. Von Auerbach selbst liegen kaum autobiographische Angaben über sein Leben vor. Sehr subtil in »Mimesis« vorhanden, erschließt sich ein Teil seines ›Innenlebens‹ dem erfahrenen Literaturwissenschaftler (vgl. z.B. Damrosch 1995). Geboren wurde Auerbach 1892 in Berlin. Nach dem Besuch des Französischen Gymnasiums studierte er, wie »vor 1914 üblich […] (f)ür einen jungen Mann aus guten Verhältnissen, besonders wenn er keine speziellen Passionen hatte« (Gumbrecht 2002: 166), Jura und erwarb nach Studienaufenthalten in Berlin und Freiburg 1913 in Heidelberg den Doktortitel. Nach dem Ersten Weltkrieg, den er als Soldat erlebt hatte, absolvierte er ein Romanistik-Studium, das er 1921 mit dem Doktorgrad an der Universität Greifswald abschloss. Zwischen 1923 und 1929 arbeitete er als Bibliothekar an der Preußischen Staatsbibliothek in Berlin, übersetzte Vicos »Scienzia Nuova« ins Deutsche und veröffentlichte sein erstes einschlägiges Werk, »Dante als Dichter der irdischen Welt«, das zu seiner Berufung als Professor der Romanistik in Marburg führte. Ende 1935 verlor er wegen seiner jüdischen Abstammung von einem Tag auf den anderen den Lehrstuhl. 1936 nahm er, gedrängt von Freunden, wie bereits zuvor andere Kollegen aus Marburg und dem deutschsprachigen Raum eine Stelle an der Romanistischen Fakultät der Istanbul Universität an. Im Namen der türkischen Regierung erfolgte zu dieser Zeit eine gezielte Rekrutierung deutschsprachiger Wissenschaftler mit dem Ziel, die Fakultäten umzustrukturieren (vgl. z.B. Stern 2003). Auerbach blieb elf Jahre, bis 1947, in Istanbul. Dort schrieb er, neben verschiedenen kleineren Werken, auch sein Hauptwerk »Mimesis«, das 1946 in Bern veröffentlicht wurde. 1947 übersiedelte er, den es schon länger von Istanbul

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SAID – ORIENTALISMUS – EXIL

wegzog und der bereits zuvor seinen Sohn zum Studium nach Amerika geschickt hatte, in die USA, wo er sich nach einigen Anlaufschwierigkeiten und insbesondere nach der Übersetzung von »Mimesis« im Jahre 1951 allmählich etablieren konnte. 1956, ein Jahr vor seinem Tode, wurde er zum Professor für Romanische Sprachen an der Yale University ernannt. Verschiedene Stellenangebote im Nachkriegsdeutschland hatte er ausgeschlagen. Soweit die dürre Sprache der Fakten, die ein jüdisches Emigrantenschicksal umschreibt und die Brüche im Leben Auerbachs erahnen lässt: der preußische Jude, wie Gumbrecht, aber auch Said ihn charakterisiert, der von den Nazis vertrieben im Istanbuler Exil eines der bedeutendsten, den Bogen von Homer bis Virginia Woolf spannenden Werke über die Entwicklung der abendländischen Literatur verfasst hat, der schließlich das türkische gegen das amerikanische Exil eintauschte. Es ist eine Biographie der Entwurzelung, auch im geistigen Sinne, da mit dem NaziRegime auch die Idee des Humanismus wie insgesamt die spätbürgerliche humanistische Kultur zerstört wurde, aber nicht nur da, sondern wie Auerbach bereits in den 50er Jahren »aus meinen Erfahrungen in der Türkei« schließt, »vollzieht sich auch in den Ländern anderer Altkulturen Entsprechendes« (Auerbach 1992: 89): Der Nationalismus und die nationalstaatliche Orientierung als Prämisse der – enger werdenden – kulturellen Ordnung haben den Siegeszug über die Welt, d.h. über die Vielfalt der Kulturen, als kulturelles, auf Standardisierung zielendes System angetreten. Die Biographie Auerbachs birgt zahlreiche Bruchstellen: Der Jurist wird zum Experten für mittelalterliche Romanistik, der Professor für Literaturwissenschaftler zum expatriierten Juden, der intime Kenner europäischer Literatur und Kultur zum Zaungast in einer orientalischen Metropole und einer orientalischen Kultur, die sich im Umbruch befindet und die den Hintergrund für die Auseinandersetzung mit der vergangenen europäischen Kultur bildet. Wie hat sich Auerbach mit diesen Brüchen und Widersprüchen, mit seinem Leben zwischen Orient und Okzident, das Said als eine wesentliche Entstehungsbedingung für »Mimesis« hervorhebt, arrangiert? Von Auerbach selber existieren keine umfassenden Beschreibungen über seine Zeit in Istanbul. Aus verschiedenen Quellen lässt sich erschließen, dass er zu der privilegierteren Gruppe der Immigranten gehörte; immerhin war er durch Arbeitsverträge, die sich jeweils auf fünf Jahre erstreckten, relativ abgesichert. Die Bezahlung war nicht gerade üppig, aber ausreichend zum Leben. Wie allen Immigranten waren ihm politische Äußerungen verboten3; die Überwachung des türki3

So verpflichtet Punkt 11 des Arbeitsvertrages »keine politische, wirtschaftliche und Handlungstätigkeit auszuüben, die die Propaganda für eine fremde Regierung zum Ziel hat« (zit.n. Vialon 1997: 81, Anmerkung 4). Dass 135

IDEEN: SKIZZEN, VERNETZUNGEN UND WEITERFÜHRUNGEN

schen Staates, später auch der in Istanbul lebenden Angehörigen der Nazi-Regierung war allgegenwärtig. Seine Arbeitszufriedenheit war, zumindest zeitweilig, nicht besonders groß. So beklagt er sich in einem Brief an Martin Hellweg, einem Freund aus der Marburger Zeit: »Sie dürfen sich nicht vorstellen, dass hier eine Reform so leicht durchzuführen wäre; das Übergangsstadium hat hier vorläufig nichts erzeugt als ein Vakuum«, welches »verantwortungslose, dilettantische und fortwährend wieder abgebrochene Experimente« und Strukturen hervorrufe, die es verhinderten, dass »die Studenten doch wenigstens eine (Fremdsprache, S.N.) können«. Und: »Niemand hat irgend ein unabhängiges Urteil über wissenschaftliche Frage, niemand liegt überhaupt irgendetwas daran«. Enttäuscht von seiner Wirkungslosigkeit bei der Reformierung des Fremdsprachenunterrichts trat er schließlich als Direktor des Spracheninstituts zurück. Abschließend teilt er Hellweg im gleichen Brief mit: »Aber das Leben selbst, wenn man zynisch genug ist die Dinge ruhig laufen zu lassen, ist sehr behaglich« (Vialon 1997: 78ff.). Diese letzte Bemerkung deutet auf das, was Gumbrecht als Auerbachs, bereits vor dem Istanbuler Exil bewusst kultivierte Grundhaltung der Gelassenheit ortet: ein Pathos der Distanz und der Exzentrik, geboren aus einer Passion für die Tragik des alltäglichen Lebens. Mit dieser Haltung, folgt man Gumbrecht, positionierte er sich sowohl gegenüber dem ihm charakterlich entgegengesetzten extrovertierten Leo Spitzer, dem damaligen Star der Marburger Romanisten, aus dessen Schatten er herauszutreten versuchte, und dessen Nachfolger er zunächst in Marburg wurde, nachdem dieser eine Professur ihn Istanbul annahm und später wiederum in Istanbul nach Spitzers Übersiedlung in die USA. Dieselbe Haltung legte er auch gegenüber den politischen Ereignissen in Deutschland an den Tag, denen er, aus Gumbrechts Blickwinkel, mehr oder weniger kurzsichtig gegenüberstand. Er zeichnet ihn als einen korrekten, geradezu unterwürfigen gesetzestreuen Staatsbürger mit einem nahezu unerschütterlichen Glauben an den Rechtsstaat, sogar noch nach dem Entzug der Staatsbürgerschaft im Jahre 1935. Er porträtiert ihn, ausgehend von einigen wenigen Fakten und Briefen, als einen Menschen, der, »anAuerbach diesen Punkt ernst nimmt, zeigt sich daran, dass er auf die briefliche Nachfrage des freundschaftlich mit ihm verbundenen Martin Hellweg nach »der türkischen Erziehungsfrage«, wahrscheinlich im Zusammenhang mit Unterrichtsreformen, antwortet, er möge sich an den türkischen Unterrichtsminister oder einen bestimmten Pädagogen wenden, denn: »Ich selbst möchte nichts über solche Gegenstände schreiben; ich verstehe nicht viel davon, lüge auch nicht gerne ohne dringende Not, und was ich für die Wahrheit halte, könnte ich nicht öffentlich äußern« (Brief an M. Hellweg, geschrieben im Mai 1947, in: Vialon 1997: 77ff.) 136

SAID – ORIENTALISMUS – EXIL

gezogen« vom »Leben eines Beamten […] als existentielles (wenn nicht auch als ästhetisches) Prinzip« (Gumbrecht 2002: 168) nach der Dissertation bewusst die Beamtenlaufbahn als Bibliothekar suchte, als einen auf Sicherheit bedachten Beamten mit dem Habitus eines »Geheimrates« (ebd.: 163). In der Tat scheint Auerbach verglichen mit dem »Komödianten« Leo Spitzer ein zurückhaltender und unprätentiöser, dabei ironischer Mensch gewesen zu sein. Andererseits deutet ebendiese Ironie auf einen doppelten Boden hin, auf einen politischen Quietismus, der sich sehr wohl mit einer wachen politischen Wahrnehmung verband, die aber im Prinzip der Gelassenheit inaktiviert blieb. Gumbrecht stützt seine Einschätzung von Auerbach als politisch eher desinteressierten bzw. politisch inaktiven Menschen (Gumbrecht unterscheidet hier nicht) auf Briefe Auerbachs, in denen er alltägliche Eindrücke mitteilt, aber kein Wort über die sich zuspitzende politische Lage während der 30er Jahren verliert. In der Tat macht er sich im Briefwechsel mit Hellweg kurz nach Kriegsende Sorgen um die Lage einzelner Personen, von denen er eine Reihe mit Care-Paketen bedenkt, spart aber mit Beschreibungen über seine Lebensumstände in Istanbul und erst recht über die politischen Rahmenbedingungen. Wie hat er sein Leben in Istanbul wahrgenommen? Wie hat er, den die Not und der Zufall sozusagen an den Rand seines kulturellen abendländischen Universums trieben, wo er dennoch in seinen Arbeiten im intensivsten Kontakt mit der untergegangenen abendländischen Kultur war, die orientalische Kultur wahrgenommen? Wie seinerzeit viele europäische Migranten, darunter auch ehemalige Kollegen aus Marburg, lebte er im idyllisch gelegenen, europäisch anmutenden Istanbuler Stadtteil Bebek (vgl. Vialon in diesem Band). Seine Arbeitsbedingungen waren durchaus nicht so legendär unzulänglich wie von ihm selbst im Nachwort von »Mimesis« angedeutet und von Said gern angeführt (siehe unten) – immerhin stand ihm ein Arbeitszimmer mit Blick auf das alte Byzanz und das neue, osmanisch geprägte Istanbul mit seinen prächtigen Monumenten einerseits und sowie auf die griechische Inselwelt andererseits als malerische Kulisse bei der Auseinandersetzung mit der europäischen Literatur- und Geistesgeschichte in der gut bestückten Bibliothek des im von genuesischen Händlern geprägten Stadtteils Galata gelegenen Dominikanerklosters San Pietro zur Verfügung (Vialon 2005: 241ff., Lawton 2003). Von einer Verbannung ins Morgenland im Istanbul der 30er und 40er Jahre und einem völligen biographischen Bruch zu sprechen, erscheint fast theatralisch; Auerbach hat, ohne völlig abgeschieden zu sein vom Wissenschaftsbetrieb und dem europäischen Geistesleben, sein Leben als Wissenschaftler weitergeführt. Ist es zu einer Annäherung an die (wie immer man sie auch definieren mag) orientalische Kultur gekommen? Es scheint, legt

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IDEEN: SKIZZEN, VERNETZUNGEN UND WEITERFÜHRUNGEN

man den folgenden Ausschnitt aus einem Brief an Karl Krauss zugrunde, der versuchte, ihn 1946 zur Annahme einer Professur an der damals in der sowjetisch besetzen Zone gelegenen Humboldt-Universität zu bewegen, bewusst nicht dazu gekommen zu sein: Ich genieße hier die größte Freiheit des ne pas conclure. Ich konnte mich hier wie nirgends sonst von jeder Bindung freihalten; gerade meine Haltung als nirgends Hingehöriger, grundsätzlich und unassimilierter Fremder ist das, was man von mir wünscht und erwartet, aber, wo Sie mich hinhaben wollen, erwartet man eine ›Grundbereitschaft‹ (zit.n. Gumbrecht 2002: 170).

Deutlich hervor sticht aus dieser Absage, die einen politischen Disput sorgsam vermeidet, die Kultivierung der Distanz. Gumbrecht mutmaßt, dass die Erfahrung bürokratischer Brutalität im Kontext seiner Ausbürgerung (ihn) vielleicht veranlasst (hat), sich über sein distanziertes und manchmal melancholisches Verhältnis zur westlichen Kultur, als Kultur im Spätstadium, bewusst zu werden. Gewiss hat ihn das Exil erleben lassen, wie Exzentrizität jede Form der Individualität stärken konnte, mit der er den täglichen Leiden zu widerstehen suchte« (Gumbrecht 2002: 170).

Die Parallelen zu Saids Biographie sind unübersehbar. Seine Autobiographie mit dem bezeichnenden Titel »Am falschen Ort« (2000) ist eine Widerspiegelung ebendieses Motiv des Widerstandes gegen das tägliche Leiden beziehungsweise die verschiedenen Formen täglichen Leidens, die allesamt, einschließlich der Formen, die sie in familiären Konflikten annehmen, zurückführbar sind auf das bereits vorgeburtlich angelegte Schicksal der Entwurzelung, das Palästinenser wie er und assimilierte Juden wie Auerbach teilen. Wie bei Auerbach bestimmt sich sein Leben durch eine betonte Affirmation des Selbst, durch die Schöpfung der eigenen, kulturell fragmentierten Identität aus dem Selbst, das sich wesentlich geformt hat aus der Passion für die westliche humanistische, bereits von Massenkultur und nationalistischer Arroganz bedrängten Kultur. Wie dem Philologen Auerbach gilt seine Aufmerksamkeit dem Partikularen und den historischen Bedingungen seiner Gestalt und Wandlung (vgl. Said 2004: 96ff.). Auerbach verkörpert für ihn das Idealbild eines Gelehrten: orientiert an Wissen und Komparativität, nicht an politischer und ideologischer Verwertbarkeit, ausgezeichnet durch breite Bildung und autodidaktisches Vorgehen jenseits enger disziplinärer Grenzen. Wie Auerbach ist er ein Verfechter der Konvergenz von Biographie und Werk, wobei er dieses Prinzip in seinen eigenen Schriften wie in den Analysen literarischer Werke ausgedehnt hat (vgl. z.B. Said 1997). Er würdigt ihn als 138

SAID – ORIENTALISMUS – EXIL

a man with a mission, a European (and Eurocentric) mission it is true, but something he deeply believed in for its emphasis on the unity of human history, the possibility it granted of understanding inimical and perhaps even hostile Others despite the bellicosity of modern culture and nationalisms, and the optimism with which one could enter into the inner life of a distant author or historical epoch even with a healthy awareness of one’s limitations of perspective and insufficiency of knowledge (Said 2004: 96).

Said konzediert, dass Auerbach die Ära des Aufblühens der nichteuropäischen modernen Literatur nicht mehr erleben konnte (ebd.: 95); gleichzeitig ist, in gewisser Weise vorgreifend, »Mimesis« für ihn eindeutig das Werk eines Exilanten, durchzogen von den kulturellen und individuellen Spannungen kultureller Zugehörigkeit, die sich aus dieser Lage ergeben, die aber gleichzeitig umschlagen in eine perspektivische Öffnung.4 Auerbach selbst deutet lediglich in einem, von Said wiederholt zitierten, knappen Hinweis im Nachwort auf die Entstehungsbedingungen an, indem er darauf hinweist, »dass die Untersuchung während des Krieges in Istanbul geschrieben wurde«, ohne eine »für europäische Studien gut ausgestattete Bibliothek« und unter Verzicht »auf fast alle Zeitschriften, auf die meisten neueren Studien, ja zuweilen selbst auf eine zuverlässige kritische Ausgabe meiner Texte«, ohne Verbindung zur »neueren Forschung«. Er fügt aber auch hinzu, dass es »übrigens sehr möglich« sei, »dass das Buch sein Zustandekommen eben dem Fehlen einer großen Fachbibliothek verdankt«, denn »hätte ich versuchen können, mich über alles zu informieren, was über so viele Gegenstände gearbeitet worden ist, so wäre ich vielleicht nicht mehr zum Schreiben gekommen« (Auerbach 1946: 518). Für Said ist es gerade diese Distanz – im räumlichen und kulturellen Sinne, im Abseits des wissenschaftlichen Betriebs –, die dem Werk seine spezifische, in der Leserschaft durchaus nicht unumstrittene Gestalt5 gegeben hat. In zwanzig Kapiteln, in denen jeweils ein literarisches Werk 4

5

Hier liegt die Interpretation nahe, dass es nicht so sehr um die Linie eines Gegensatzes zwischen Abend- und Morgenland geht, die Said zunächst beschwört, sondern um die Absage an die Idee einer differenz- und pluralitätsblinden Moderne. Hier sei auch auf Blanchard verwiesen, der die erneute Rezeption Auerbach u.a. auf die kaum mehr präsente philologische Ausrichtung und auf die Fokussierung der mittelalterlichen Literatur- und Sozialwelt zurückführt, die die europäische Kultur als eine der Entwicklung und Pluralität zeigt, so dass »Mimesis can serve today as a tool for understanding late developing countries« (1997: 5). Eine Kritik bezieht sich auf die Auswahl der Quellen und die Legitimität ihrer Repräsentanz als europäische Literaturgeschichte (vgl. Damrosch 1995; Blanchard 1997). 139

IDEEN: SKIZZEN, VERNETZUNGEN UND WEITERFÜHRUNGEN

im Vordergrund steht, entfaltet Auerbach die europäische literarische Stilgeschichte von Homer bis Virginia Woolf. Ganz grob gesagt, zeigt er eine, auch für Nichtliteraturwissenschaftler interessante Entwicklung vom Erhabenen zum Alltäglichen, eine Ausdifferenzierung der Perspektiven und Stile in Verbindung mit sich wandelnden Leserschaften und Beziehungen zwischen Autor und Leser entsprechend der sozialgeschichtlichen Kontexte.6 Als bedeutender Wendepunkt erscheint dabei die frühchristliche Literatur, die den formalen antiken Stil aufbricht und die apokalyptischen alttestamentarischen Visionen ablöst durch die Vorstellung der Inkarnation. In diesem Zusammenhang eingebettet findet über die Auseinandersetzung mit Paulus, dem Juden, der zu einer wichtigen Gründergestalt des Christentums wird, eine Auseinandersetzung Auerbachs mit seiner jüdischen Identität statt, indem er Judentum, Christentum und Islam als im Prinzip gemeinsame, sich ausdifferenzierende Religionen betrachtet, die in einem Verhältnis von Konkurrenz und wechselseitiger Abhängigkeit stehen und somit eine tragische Einheit bilden ohne je wirklich autonom zu werden. Das kann durchaus als eine eindeutige politische Stellungnahme verstanden werden, die sich sowohl gegen den Anti-Semitismus wie auch gegen den das Jüdische orientalisierenden Zionismus seiner Zeit richtet.7 Man kann die perspektivische Fluchtlinie erkennen, die Auerbach, den Zögling des europäischen Humanismus im türkischen Exil, für Said bedeutsam gemacht haben dürften: die Distanz gegenüber einen auf Homogenisierung und kulturellen Zentralismus zielenden Nationalismus, der die Existenz anderer kultureller oder interkultureller Welten ausschließt. Für Said, den Enkel zweier Pfarrer, der, abgesehen von seiner Ablehnung des Religiös-Ideologischen, sich in Abstinenz gegenüber Fragen des Religiösen geübt hat, ist es vor allem die persönliche Form der Auseinandersetzung mit der subjektiven Fragmentierung der Identität, die es möglich macht, eine Versöhnung herzustellen. Auerbachs Exil in Istanbul erscheint als die notwendige Distanz, die zur fruchtbare Reflexion mit dem eigenen Selbst und der eigenen Kultur anregt und letztlich wohl auch zu ihrer vertieften Aneignung. Andererseits deutet er es als Schrecken erregend: Istanbul könne für den deutschen Romanisten und Spezialisten in der Literatur des Mittelalters und der Renaissance kein beliebiger marginaler Ort gewesen sein, sondern er müsse es gesehen haben als »eine tief berührende und verschärfte Form der Verbannung aus Europa« in den Bereich des feindlichen, durch »den schrecklichen Türken« verkörperten Orient und in den Bereich des Islams, jenem gefürchtetste(n) 6 7

Für eine detaillierte Auseinandersetzung s. z.B. Damrosch (1995), Neuschäfer (1989) und Said (2004b). Vgl. dazu Berman (1996:260ff.). 140

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und aggressivste(n) Repräsentanten« des Orients und »der Geißel des Christentums und Verkörperung der bedrohlichen morgenländischen Apostasie« (Said 1997: 13-14). Hier kann man, im Hinblick auf Auerbachs, freilich gegen Ende seines langen Aufenthaltes in Istanbul geäußerte Ansicht, dass man hier, potentiell jedenfalls, »äußerst behaglich« leben könne8 die Frage stellen, ob Said nicht eine am »Orientalismus« geschulte Dramatisierung vornimmt, die im Widerspruch steht zu Auerbachs geübtem Pathos der Distanz und seiner Haltung der Gelassenheit wie auch zu der Tatsache seiner Residenz in einem modernen, vom Nationalismus und Atatürks Reformen geprägten Istanbul unter anderen europäischen Exilanten.9 Möglicherweise lässt er hier die gleiche Ambivalenz zwischen Essentialisierung und De-Essentialisierung walten, die sein gesamtes Werk durchzieht und die aus einer einseitiger Rezeption des Differenz-Begriffes Derridas und der mangelnden Trennschärfe zwischen den Begriffen des zu exkludierenden Fremden und des zu inkludierendem Anderen resultieren (vgl. Gimelli Martin 1990; Polaschegg 2005: 39ff.). Dadurch gelangt er zum Einen zu einem grobschnittigen und unauflösbaren Essentialisierungsgedanken; zum Anderen aber besteht sozu8

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Aber auch im zweiten Jahr seines Aufenthaltes in Istanbul klingt es ähnlich, wenn er seiner ehemaligen Mitarbeiterin Freya Hobohm mitteilt: »Wäre diese Aussicht (des drohenden Krieges; S.N.) nicht eine ständige Furcht, so könnte man unsere Lage hier als recht angenehm bezeichnen. Seine Frau, teilt er ihr mit, habe »es menschlich nett«. Diese selber fügt hinzu, sie habe ihre »Stummheit« überwunden und »angefangen […] mit großer Freude wieder zu singen – was ich seit vielen Jahren nie getan habe« (in: Vialon 2004: 11). Leo Spitzer, Auerbachs Amtsvorgänger in Istanbul, jedenfalls stützt, wie aus einem Brief an einen deutschen Kollegen hervorgeht, nicht Saids Vorstellung. Dort heißt es: »Der Abschied von Istanbul war ein sehr melancholisches Ereignis. Spürte ich, dass damit ich von eigentlich fast allem Abschied nahm, was mir ansonsten Familie und Wissenschaft wert ist: deutsches Leben, Europa, alte Kultur, […], viele junge Mitarbeiter, verständnisvolle Studenten – und sogar die Türken selbst, die mich doch wie einen deutschen, verdienten Professor wegfeierten (ein Abschiedsvortrag meinerseits, ein Rektoratsabend, eine Tanzabend) […]« (zitiert nach Gumbrecht 2002:113). Traugott Fuchs, ein ehemaliger Assistent Spitzers, der Anfang 1934 nach Istanbul übersiedelte, verweist rückblickend auf das Erlebnis »eine(r) renaissancehafte(n) freudige(n) Wiederkehr akademischer, kultureller und gesellschaftlicher Blüte, wie sie in gewissen hochintellektuellen Kreisen in dem Deutschland der Vor-Nazizeit dagewesen war. Das Bewußtsein in einer der schönsten Städte und in einem der interessantesten und faszinierenden Länder der Welt – Anatolien – und im Süden zu sein, erfüllte uns mit dankbarem Glück« (in: Vialon 2004: 16/17). 141

IDEEN: SKIZZEN, VERNETZUNGEN UND WEITERFÜHRUNGEN

sagen ein Schlupfloch, das ihm nach Bedarf erlaubt, den Gedanken der Inklusion bzw. der Exklusion in den Vordergrund zu stellen. Einerseits deutet Said Wirkungen an, die sich aus dem Erbe des ideologischen Orientalismus ergeben. Andererseits aber sieht er in Auerbach den ›Orientalen‹, der versucht, die Spaltungen, die der Orientalismus verursacht durch eine humanistische Position zu überwinden. In diesem Sinne hebt der spätere Said, vielleicht auch als Reaktion auf die neueren religiösen Fundamentalismen, Auerbachs Auseinandersetzung mit dem frühen Christentum und insbesondere mit Paulus hervor, die in die Betonung der Einheit der drei abrahamitischen Religionen münden, die aus philologischen und historischen Gründen nicht als Gegner, sondern als verschiedene Perspektiven zueinander positioniert seien. Er interpretiert diese Auseinandersetzung als einen aus der persönlichen Erfahrung und Zerrissenheit, aus der »paradoxen Situation des preußischjüdischer Gelehrter im türkisch-muslimischen, nicht-europäischen Exil« (Said 2004: 98) resultierenden Versuch der Aussöhnung, die aber stets überschattet bleibe durch eine ahistorische Antinomie, die sich aus der Differenz ergebe. Für Said zeigt sich in der simultanen Annahme der Operation von »dynamischen Transformationen« und »historischen Sedimentationen« die Praxis einer »späten, aber authentischen humanistischen Mission, die zugleich tragisch und hoffnungsvoll« ist (ebd.). Es ist diese Antinomie von Transformation und Sedimentation, die man als eine Grundsubstanz in Saids Arbeiten sehen kann und die das Verbindungsglied zwischen seinen verschiedenen thematischen Abhandlungen bildet. Dabei löst er diese Spannungen nicht auf; er führt sie und die ihnen innewohnende unauflösliche Ambivalenz aus Leidensdruck und kultureller Produktivität vor. Deutlich wird das in seiner späteren Auseinandersetzung mit Freud und dessen ihm selbst rätselhaft ambivalenten Einstellung zum Jüdischen, die Said als verdrängten, zwar schlummernden, aber aller aufklärerischen Rationalität zum Trotz lebendigen, und im Verlaufe des Lebens sogar noch seine Vitalität steigernden Bestandteil der Identität interpretiert (Said 2004c: 45ff.), die er auch bei Auerbach zugrundelegt.10

10 Eben weil Said hier, wie so oft, keine deutliche Position bezieht und es auf einen offenen Interpretationshorizont anlegt, könnte man hier auch den Vorwurf der Ahistorizität anbringen. Betrachtet man sein Gesamtwerk, so scheint es angebrachter, von einer Synchronizität von Historischem und Ahistorischem auszugehen. 142

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S ai d s s ä k u l a r e r H u m a n i s m u s Erst in seinen späteren Arbeiten baut Said die Idee eines säkularen Humanismus und einer humanistischen Kritik aus, vermutlich in Reaktion auf sein wachsendes Unbehagen an der Absenz des handelnden Subjekts in Foucaults totalitärem System der hegemonialen Diskurse und Institutionen (1997: 288ff.) und auf die dem Erscheinen von »Orientalismus« folgenden Fundamentalismen, die dem vielfach geäußerten Vorwurf des Essentialismus und ›Okzidentalismus‹ – al-Azm (1981) hat den Begriff des »orientalism in reverse« geprägt – eine sichtbare Gestalt verliehen haben. Mit der Idee des säkularen Humanismus entwirft Said ein Parallelkonzept zu dem des »Orientalismus«. Beide Konzepte sind nicht konvergent, sondern stehen unvermittelt und widersprüchlich nebeneinander. Je nach Kontext lässt Said mal das eine, mal das andere hervortreten. Als verbindende Grundidee, die Said nicht deutlich ausformuliert, kann man die unauflösbare Antinomie von Transformation und Sedimentation sehen, die durch eine humanistische Position zwar auch nicht überwunden wird, ihr jedoch Legitimität und Schutz vor hegemonialen Übergriffen verleiht. Man kann in der Idee des säkularen Humanismus eine Antwort sehen auf das in »Orientalismus« aufgeworfene und dort vielfach durchgearbeitete problematische Gewebe der Typisierung und Alterisierung. Dieses beginnt, vereinfacht gesagt, mit der antiken Zweiteilung der Welt in Griechen und Barbaren (und somit da, wo auch Auerbach beginnt), zeigt einen neuen Faden in der, oft romantisch gefärbten, bürgerlichen Gesellschaftskritik und verdichtet sich, vor allem in der Verbindung mit dem Nationalismus, zu einem Epistem, das schließlich einmündet in eine bis in die Gegenwart wirkungsmächtige politisch-hegemoniale Strategie der Unterwerfung. Entstanden ist durch die einseitige Deutung des Anderen als den schweigenden, den ohnmächtigen Anderen eine Endlosschleife (Gimelli Martin 1990). In »Orientalismus« wie auch in »Culture and Imperialism« (Said 1993) gibt es keine Antwort darauf, wie diese Endlosschleife durchbrochen, wie die starre Frontstellung, die Said aufgebaut hat, wieder geschliffen werden kann. Dort geht es Said in erster Linie darum, nachzuzeichnen, wie sie sich, ob intendiert oder nicht, etablieren konnte. Erst in seinen späteren Werken ist eine Verschiebung ersichtlich vom totalisierenden »Orientalismus« hin zu einer humanistischen Position als einen archimedischen Punkt, mit dem sich die Hoffnung verbindet eine Struktur der versöhnlichen Interdependenz aufzubauen. Auch wenn man Spuren eines humanistischen Ansatzes bereits in »Orientalismus« zu sehen vermag (vgl. Apter 2004: 44), so ist er durch die Bindung an die Gedankenwelt der Aufklärung ambivalent. Erst im Heraustreten

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IDEEN: SKIZZEN, VERNETZUNGEN UND WEITERFÜHRUNGEN

aus der in »Orientalismus« erzeugten Enge und in der Distanz zu Foucaults subjektblindem totalitärem Spiel von Macht und Wissen entwickelt er nach und nach durch die Verlagerung auf Vicos vor-aufklärerischem Humanismus und Auerbachs, ebenfalls durch Vico sowie durch Goethe beeinflussten Vorstellung einer »Weltliteratur« das Konzept eines säkularen Humanismus als Alternative zur Persistenz systematischer und hegemonialer Missrepräsentation. Der Goethe’sche Entwurf der Weltliteratur, bei dem analog zum Westöstlichen Diwan »alle Literaturen der Welt als ein symphonische(s) Ganze(s), das man theoretisch als das Bemühen begreifen könnte, der Individualität jedes einzelnen Werkes gerecht zu werden, ohne das Ganze aus dem Auge zu verlieren« (Said 2003) gedacht werden, inspiriert Said zu einer disziplinären Transgression durch die Ausdehnung der Philologie auf den kulturwissenschaftlichen und kulturpolitischen Bereich. Er setzt an Auerbachs »Prinzip der Einfühlung«, einem »philologischen Verstehen«11 an, welches beinhaltet, »sich emphatisch und subjektiv auf den Stoff einzulassen und diesen aus der Perspektive seiner Zeit und seines Verfasser zu begreifen«, und welches »unvereinbar mit Fremdheit gegenüber und Feindschaft gegen eine andere Zeit und eine andere Kultur« ist, so dass »der Literaturwissenschaftler (stattdessen, S.N.) bewusst in seinem Kopf Platz (schafft) für das ›fremde‹ Andere« und dass »dieses kreative Platzschaffen für Werke, die ihm andernfalls fremd und entlegen blieben« zur »wichtigste(n) Dimension literaturkritischen Arbeitens« wird. Er formuliert dieses Programm um in eine »Kultur der Einfühlung« als Alternative zum Szenario des »clash of civilizations« (Said 2003). Bereits in »Beginnings« (1975) setzt er sich, in der für ihn typischen zirkulären Form, vor allem mit der methodischen Seite und den theoretischen Implikationen auseinander, die Vicos Denken von gegenwärtigen literaturwissenschaftliche und philosophischen Denkmodellen unterscheiden, die entweder einem auf Descartes zurückgehenden geometrischem Denken folgen oder, den mit Namen wie Foucault, Derrida, Lacan und Anderen verbundenen, postmodernen Ansätzen, die sich auf Dezentrierung und die Verdrängung des Subjekts zuspitzen. Die ›Alternative Vico‹ bietet, um es kurz aufzusummieren, für Said folgende attraktive Optionen: Die Welt ist eine säkulare oder irdische Welt, geformt durch menschliche Vorstellungen und menschliches Handeln, durch einen stets sprungbereiten und kreativen Willen zum Handeln. Ideen und Vorstel11 Im Hintergrund steht Dilthey, bei dem »(d)as Verstehen und Deuten […] die Methode (ist), welche alle Geisteswissenschaften erfüllt. Alle Funktionen vereinigen sich in ihm. Es enthält alle geisteswissenschaftlichen Wahrheiten in sich. An jedem Punkt öffnet das Verstehen eine Welt« (Dilthey 1983: 285). 144

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lungen wirken transformativ, jedoch nicht auf der Basis eines rationalen Planes und nicht entlang bestimmbarer Sequenzen, aber auch nicht spontan-isoliert und sprunghaft, sondern organisiert in ihrem Rückbezug auf soziale Umgebung und die soziale Ordnung. Vorstellungen wie Wirkungen sind – durch die Rückbindung an bestehende Ordnungsformen und vorstellungen, vor allem auch im Hinblick auf die Gesellschaft – somit nicht unilinear, sondern divers und entfalten sich in verschiedene Ausdrucksformen. Sie bilden, weil nicht seriell verlaufend, über Zeit und Raum gestreute Variationen. Ein Schlüsselbegriff ist »beginning-astransgression« (Said 1975: 353). Said identifiziert »beginning«, ein Begriff, der im Gegensatz zum theologischen, zentralistisch dominierendem »origin« steht, mit Auerbachs »Ansatzpunkt«, von dem eine intendierte, aus Erfahrungen sich speisende Verschiebung von Bedeutung und Ordnung ihren Lauf nimmt (ebd.: 68ff.). Es entwickeln sich somit neue Linien, neue Gewebemuster, neue Stile, neue Wahrnehmungsmuster. Diese Prozesse werden befördert durch Autoren, durch Intellektuelle, Subjekte, die sich dadurch auszeichnen, dass sie – wie Vico, wie Auerbach, wie Said, der sich in dieser Linie sieht – Autodidakten sind, die Wissen zum Pathos (»knowledge as pathos«, ebd.: 368) erhoben haben, die sich jenseits des kanonischen Wissens der »konstanten Erfahrung des SelbstLernens (»constant experience of self-teaching«; ebd.: 369) verschrieben haben. Später verlängert Said diesen Punkt zur Figur des »humanistischen kritischen Intellektuellen«, der belesen und couragiert genug ist, nicht nur als Fachexperte, der kleinräumiges Fachwissen verwaltet und weitergibt oder als Sozialtechnologe zu dienen, sondern der bereit und fähig ist kritische Ansatzpunkte wahrzunehmen und zu entfalten und zwar im Rahmen des Zusammenspiels von »Beginn und Wiederholung« (»beginning and repetition«), von »Beginn und Wiederbeginn« (»beginning and beginning-again«). Damit verbindet sich kein Konzept des Genealogisch-Linearen wie es in »Orientalismus« angelegt ist, sondern eines, das gekennzeichnet ist durch »Parallelen, Angrenzung und Komplementarität (»paralleleties, adjacency, complementarity«; Said 1997: 357). Das Eingreifen in die Geschichte aber setzt das humanistisch gebildete, interdisziplinär denkende und historisch versierte Subjekt voraus, zu dessen zentralen Charakteristika die säkulare, d.h. an der weltlichen Verfasstheit orientierten Kritik an Objektivität und Autorität, das Durchschauen der Spiele von Macht und Wahrheit, der Konstruktionsbedingungen von Wahrheiten und universalen Werten zählen (Said 1997: 89ff.). Später, in »Humanism and Democratic Criticism« (2004) erfolgt eine Aktualisierung der Idee des säkularen Humanismus, die hier dezidiert von der Formation eines traditionellen, europazentrierten und als morali-

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IDEEN: SKIZZEN, VERNETZUNGEN UND WEITERFÜHRUNGEN

sierend geziehenen Humanismus abgegrenzt und als ethischer Rahmen für die Politik multikultureller Gesellschaften formuliert wird (2004: 15ff., 20ff.). Ein moderner Humanismus bedeutet bei Said die »Praxis einer teilhabenden Bürgerschaft« (»practice of participatory citizenship«, ebd.: 22)12 in der Kritik gegenüber Politik und Staat im Generellen sowie im Speziellen gegenüber den Bildungsinstitutionen, insbesondere den Hochschulen als die maßgeblichen Produktions- und Reproduktionsstätten von Wissen. Die Hauptaufgabe sieht er in der »Revision gegenwärtiger und vergangener Missinterpretationen« wie Missrepräsentationen und der Weiterentwicklung der Kulturwissenschaften (humanities) und des Humanismus selbst, denn beides bedarf, um gut zu funktionieren der Reflexion, Veränderung und Revitalisierung« (ebd.: 32). Kern des modernen Humanismus sei dabei der Dialog mit anderen Zivilisationen (ebd.: 28) und eine Erweiterung der Perspektiven. Im Humanismus sieht Said eine Praxis des Widerstandes mit dem Ziel der »Überwindung der verarmenden Dichotomie« (ebd.: 76) und der Standardisierung, die sowohl die Geisteswissenschaften wie die Politik – insbesondere in der amerikanischen Variante – ergriffen habe. Humanismus à la Said hat durch seinen Bezug auf die jeweiligen regionalen politischen Bedingungen verschiedene Formen (ebd.: 79). Eine davon ist die der »technique of trouble« (ebd.: 77); eine andere, verkörpert im Modell des islamischen idjtihad, ist die auf Philologie13 beruhende kontinuierliche Re-Interpretation eines Textes oder einer realen Situation. Da sie stets auch die vergangenen Deutungen mitführt, erzeugt sie einen kontrollierten Raum durch die Bindung an als universal definierte Konventionen und Semantiken, die den individuellen Willen binden und ihm Verantwortlichkeit abverlangen (ebd.: 69ff.). Hegte Said nicht ein grundlegendes Misstrauen gegen diesen Begriff und die Wertneutralität, die er beansprucht, so könnte man einen Hauptanspruch, den er mit einem säkularen, einem weltlichen, d.h. an der Welt orientierten Humanismus verbindet, seine Objektivität, die alle Perspektiven, alle Lebenslagen einschließt, nennen. Der Sinn eines notwendigerweise dynamischen und dialogbereiten säkularen Humanismus liegt in seiner Möglichkeit, der multikulturellen Welt einen ethischen Rahmen der Auseinandersetzung zu geben, der nicht einem hegemonialen Ordnungsrahmen von Macht und Wissen unterliegt, sondern einer »Kultur 12 Said bezieht sich hier nicht auf den Begriff der Zivilgesellschaft. Er scheint, wie auch Biddick (2000) in anderen Zusammenhängen aufgefallen ist, prinzipiell weitgehend darauf zu verzichten, dezidiert an bestehende Debatten anzuknüpfen. 13 In der Philologie sieht Said offensichtlich eine Chance, dem Orientalismus zu entkommen. 146

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der Einfühlung« (2003), in der, basierend auf Dilthey und Auerbach »Verstehen«, das Einbeziehen verschiedener Perspektiven und ihrer Gewordenheit, residiert. Für Said, den Literaturwissenschaftler und humanistisch gebildeten Intellektuellen verbindet sich säkularer Humanismus in erster Linie mit einer dialogorientierten Politik der nicht-instrumentalisierten Repräsentation, der wechselseitigen Anerkennung und der Koexistenz. Auch ein moderner Humanismus, ein Welt-Humanismus sozusagen, braucht dabei ein Aufklärungs- und Bildungsprogramm, um eine Ethik der Multikulturalität zu entwerfen und in einen universalen Rahmen zu bannen. Auch wenn es durchaus möglich erscheint, Saids Vorstellungen, die von einem soziologischen Standpunkt aus letztlich immer auf der Achse De-Orientalisierung – Perspektivität ruhen, auf das Minoritätenproblem zu beziehen (vgl. Mufti 1998), wie Said auch gelegentlich darauf anspielt, so wird doch offensichtlich, dass es ihm, abgesehen vielleicht vom Falle des Palästina-Konflikts, nicht um Bevölkerungspolitik als solche geht, auch wenn er konstatiert, dass die Frage der Missrepräsentation im Zeitalter der Massenmigration und Minoritätenbildung zunehmende Brisanz erhält. Zu sehr ist er konzentriert auf die Figur des kritischen intellektuellen Subjekts als Weltdeuter, der Wille zum Wissen, Erfahrung der Entfremdung, die umgeschlagen wird in ein Pathos der Distanz und der Gelassenheit, die oft, aber nicht notwendigerweise (wie sein BeethovenBeispiel zeigt, s. Said 2004a) die Zugehörigkeit zu einer Minderheit einschließt, und eine kritische Haltung zu main-stream-Positionen vereint und zum Autor, der zum Vermittler einer subjektiven Perspektive wird durch subjektive Sprache und Bilder, die das Unsagbare, nicht allgemein Vermittelbare erfahrbar machen und erst durch ihn eine Repräsentation erhalten.

Das Exil Sozusagen eine zentrale Produktivkraft bildet für Said das Exil in seiner räumlichen und kulturellen Exzentrizität. Unabhängig von den Umständen, die zu ihm führen, ist das Exil für ihn ein Symbol des Triumphes, oder kann es jedenfalls sein, wenn das Subjekt sich die Situation des Exil aneignet. Dabei ist ein Aspekt wie Interkulturalität – Kulturvergleich, kulturelle Hybridität, oder wie immer man sich interkulturelle Praktiken vorstellen mag –, die sich aus der kulturellen Koexistenz ergibt, von sekundärere Bedeutung. Fraglos gibt es verschiedene Lebensweisen im Exil, die von den besonderen äußeren Umständen abhängig sind: Leben in der Anpassung und Einbettung, in der sozialen Randlage, in der Insta-

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IDEEN: SKIZZEN, VERNETZUNGEN UND WEITERFÜHRUNGEN

bilität. Bedeutsam für den Wissenschaftler Said ist aber weniger »das Exil, das eine reale Situation ist«, sondern das Exil »metaphorisch« verstanden (Said 1997: 56): Damit meine ich, dass sich meine Diagnose des Intellektuellen im Exil zwar von der sozialen und politischen Geschichte der Vertreibung und Migration herleitet, aber nicht auf sie begrenzt ist. Sogar Intellektuelle, die zeit ihres Lebens Mitglieder ihrer Gesellschaft bleiben, können in Insider und Outsider unterteilt werden: einerseits jene, die der Gesellschaft, so wie sie ist, ohne Vorbehalt angehören, die sich in ihr entwickeln und Dissonanzen oder Widerspruch eher aus dem Weg gehen, also jene, die man Jasager nennen könnte; und andererseits die Neinsager, diejenigen, die mit ihrer Gesellschaft im Zwist liegen und daher Außenseiter und Exilierte sind, wo es um Privilegien, Macht und Gratifikationen geht. […] Für den Intellektuellen heißt Exil in dieser metaphysischen Bedeutung Unbeständigkeit, Bewegung, nie zur Ruhe kommen und andere aus ihrer Ruhe aufstören. Es gibt kein Zurück zu einem früheren und vielleicht stabileren Zustand der Behaustheit; auch wird man niemals endgültig ankommen, eins sein mit der neuen Heimat oder der neuen Lage (ebd.: 56/57).

Der Ort, wo das Exil ›stattfindet‹, ist somit letztlich von geringer Relevanz, auch wenn das Exil oder das Bild vom Exil in einem anderem Kulturkreis eine besondere Dramatik hat, die bei Said aber nicht im Austausch, nicht in der Konvergenz und schon gar nicht in der Konversion liegt, sondern im imaginativen Rückbezug, in der Bewältigung des Verlustes, die sich stets mit der Distanz verbindet. Auerbach ist dafür ein schlagendes Beispiel. Er bildet die Grundfigur des Exilanten, die Said später erweitert und zu einem Modell ausbaut. In einem seiner letzten Aufsätze präsentiert er verschiedene Typen von Exilanten wie den durch Krankheit und Alter geplagten Beethoven mit seinem, durch »Kompromisslosigkeit und einer Art zorniger Grenzüberschreitung« (Said 2004c: 36) geprägten, verstörendem Spätwerk, den an der modernen Massenkultur leidenden Adorno, den dem aristokratischen Italien nachtrauerndem Schriftsteller Lampedusa sowie den in Alexandria lebenden griechischen Dichter Kavafis, in dessen Werken das zeitgenössische Ägypten kaum Platz findet, wohl aber das hellenistische. Der Schwerpunkt liegt dabei nicht auf dem Verlust, auf der Trauer, sondern im Finden eines SinnAnschlusses von Gegenwart und Zukunft an die Reste der Vergangenheit, die stets in einer kulturkritischen Distanz zu den Formen und Ideologien der Gegenwart steht. Das ist in erster Linie ein subjektives Unternehmen. Es wäre zu einfach, Said als einen konservativen Kulturkritiker abzutun. Es geht ihm nicht nur um die Rekonstruktion einer glorifizierten (wie auch immer fiktiven) Vergangenheit, wohl aber um die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft in ihren Bezügen zu den Formen und den 148

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Wissen-Macht-Konstellationen, aus denen heraus sie sich entfaltet haben. Das ist sein Versuch, der Hybris einer auf Ab-Brüche, Ignoranz und ›Orientalisierung‹ vergangener oder als vergangen deklarierter Lebensformen zielenden Modernisierungstheorien eine Form der multikulturellen Existenz entgegenzustellen. Es ist ebenso sein Versuch, der weitgehenden Foucault’schen Entmachtung des Subjekts gegenüberzutreten. Was eigentlich zählt ist das »geistigeExil« (1997: 59) oder, wie es im Original heißt, »the metaphysical exile« (1994:55), von Said gelegentlich auch »spiritual exile« genannt, also ein also ein spirituales, Körper, Geist und Seele einschließendes Exil14 als stimulierende Situation, die den Stil von Deuten und Denken prägt, in der die Krise und der Verlust zu einer intellektuellen produktiven Unruhe führt. Durch die Absenz von Heimat bzw. des Gefühle von Heimat und Stabilität, stellt Said unter Verweis auf Swifts oder Beethovens produktiv gewendeten Zorn, auf Adornos düsteres Misstrauen und elitäre Haltung fest (vgl. auch 1997a/Wort; 2004a), »tendiert der Intellektuelle als Exilierter dazu, sich mit der Idee des Unglücks anzufreunden, so dass Unzufriedenheit, eine Art mürrischer Missmut nicht nur ein Denkstil, sondern eine neue, wenngleich vorübergehende Heimat werden kann« (1997a: 57). Das Exil gebiert, aus der Mischung von Negation und Lebenswille, eine neue kritisch-distanzierte Haltung zur Welt und zu sich bzw. es erfolgt eine Vertiefung dieser Haltung, die bereits in vorangegangenen, weniger radikalen Exilsituationen zur Praxis geworden ist. Es ist eine geistig-seelische Angelegenheit in der Konfiguration eines »Neubeginns« durch die Herausforderung zur kulturellen Selbstreflexion. Das Exil, der »Neubeginn«, bedeutet immer Verlust, Verlust von Heimat. Aber es ist, ganz im Sinne Freud’schen Konstruktion von Verlust und Identität (z.B. durch den Verlust der Mutter), ein Verlust im produktiven Sinne, indem ein vertieftes subjektives Eindringen in die Parameter der eigenen kulturellen Identität und von kultureller Identität erfolgt (Said 1997: 270ff.). Hier liegen auch »die Freuden des Exils, jene Veränderungen der Lebensführung und ungewohnten Blickwinkel, die es mitunter bieten kann und die der Berufung des Intellektuellen neue Kraft geben, ohne, es ist wohl wahr, jenes letzte Gefühl bitterer Einsamkeit wirklich zu beseitigen« (ebd.: 62). Es ist »die Freude, die es bereitet, überrascht zu werden, niemals etwas für gesichert anzunehmen, zu lernen, unter instabilen Bedingungen zu handeln, was die meisten verwirren oder erschrecken würde« (ebd.: 63). Sie kommt der Berufung des Intellektuellen entgegen, denn:

14 Ich beziehe mich hier auf den Aufsatz »Intellektuelles Exil: Vertriebene und Grenzgänger« (Said 1997: 59), im Orig. »Intellectual Exile: Expatriates and Marginals (1994: 55). 149

IDEEN: SKIZZEN, VERNETZUNGEN UND WEITERFÜHRUNGEN

Ein intellektuelles Leben dreht sich im Kern um Wissen und Freiheit. Diese erlangen nicht als bloße Abstraktionen Bedeutung […], sondern als tatsächlich gelebte Erfahrung. […]. Da der Exilant die Dinge sowohl unter dem Gesichtspunkt sieht, was er hinter sich gelassen hat, als auch unter dem, was vor ihm liegt, bewegt er sich in einer doppelten Perspektive. Er sieht die Dinge niemals isoliert. Jede Szene oder Situation im Ankunftsland erinnert unweigerlich an ihre Entsprechung im Herkunftsland. Intellektuell bedeutet dies, dass eine Vorstellung oder Erfahrung stets von einer anderen kontrapunktisch aufgehoben wird und infolgedessen beide in einem irgendwie neuen und unvorhersehbaren Licht erscheinen (ebd.: 63/64).

Das Exil im Sinne Saids ist somit weit mehr als eine Ereignis; es erscheint, im Gegensatz zu Pilgerfahrt oder Kolonisation, und weniger diffus als die Migration – als eine »Lebensform« (ebd.: 62) an den Rändern, in der Transgression, im Vergleich, in der »doppelten Perspektive«. Hierin sieht Said, über die Idee von kultureller Hybridisierung als bloßes Mischungsverhältnis hinausgehend, die Chance des Intellektuellen, über die unmittelbare Erfahrung statt nur über Abstraktion und über die Überwindung seiner Grenzen, durch enges Fachwissens, durch einseitige kulturelle Erfahrungen, zu »universelleren« Positionen zu kommen. Überdies, so führt er, anknüpfend an Vico an, dass » der Standpunkt des Exilanten dem Intellektuellen« die Chance biete,« die Dinge nicht einfach so zu sehen, wie sie geworden sind, sondern so, wie sie dazu geworden sind … [und] Situationen als kontingent, nicht als unvermeidlich anzusehen«, sondern »als Ergebnis einer Reihe geschichtlicher Entscheidungen von Männern und Frauen«, als »von Menschen geschaffene Tatsachen«, die nicht »unabänderlich, dauerhaft, unumkehrbar« sind (ebd.: 64). Said beschreibt das Exil als eine Ressource der Neuordnung vom gesellschaftlichen Rand her und zwar sowohl auf der subjektiven wie auf der kollektiven Ebene und zwar durch die subjektive Ebene hin zur kollektiven. Der Stimulator ist der subjektive Zwang, zu einer auf Distanz und Reflexion beruhenden Affirmation seiner Identität und seiner Lebensumstände zu kommen, die widersprüchlichen und ›kontrapunktisch‹ sich aufhebenden Erfahrungen und Vorstellungen sinnvoll zusammenzufügen, sie aber nicht bloß als gegeben hinzunehmen, sondern sie in der Interaktion mit – vergangenen und gegenwärtigen – Anderen in real wirksame Lebensformen zu überführen. Said ist kein Sozialwissenschaftler, auch wenn er – hier taucht am Horizont Auerbachs Vermächtnis auf – soziale Zusammenhänge im Kontext von Macht und Wissen aus der Perspektive literaturtheoretischer Überlegungen, die den Autors als Interpret von Wirklichkeit würdigen, betrachtet; er beschäftigt sich nicht mit den Inhalten von Lebensformen oder von Kulturen; es kann ihm, der Lehre aus »Orientalismus« folgend, nicht daran gelegen sein, hier in De150

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finitionen oder Programme einzutauchen. Wenn er konkreter wird, dann im Hinblick auf Politiken der Ausschließung bzw. der Politiken der Geistes-, insbesondere der Literaturwissenschaften, die »die Verbreitung des Wissens dominieren« (1997: 36) und nach wie vor, trotzdem »der größte Teil der Welt heute außereuropäisch ist« ein konservatives Beharren auf eurozentrischen Standards zeigen und Repräsentationsprozesse proliferieren, die »das Bekannte auf Kosten dessen, was man kennenlernen könnte« verstärken (ebd.), statt sich für eine »Weltliteratur« oder eine Menschheit zu interessieren. Der Exilant in seiner Distanziertheit ist der Gegenpol zum mainstream-Denken. Er bildet das Gegengift zu einer Standardisierung und damit einer zwangsläufigen Verengung des Denkens, das sich, ebenso zwangsläufig im politischen Handeln und in Institutionen niederschlägt. Sozialer Wandel beginnt an den Rändern, im subjektiven Zwang zur Umordnung, in der intellektuellen Fähigkeit, kritische Blicke auf die bestehende Ordnung zu werfen, nicht im Zentrum mit seinen starren Ordnungsvorstellungen im Rahmen von Macht und Wissen. Der kritische intellektuelle Exilant, den Said vor Augen hat ist der von Ideologien unabhängige Unruhestifter, der die Erschütterungen, Fragmentierungen und Unsicherheiten seiner Identität in ihrer gesellschaftlichen Prozesshaftigkeit und in ihren säkularen, d.h. von Menschen geformten Bedingungen sieht. Es ist die Anknüpfung an die subjektiven Erfahrungen, allerdings nicht in ihrer Rohform, sondern in der Sprache des Kritikers, die Said in den geisteswissenschaftlichen Horizont einholt (Abu El-Haj 2005). Mit der Figur des intellektuellen Exilanten wird Saids Abkehr von Foucaults Strukturalismus, der »Orientalismus« geprägt hat, sichtbar. Der Andere ist nicht mehr das sprach- und wehrlose Objekt des Begehrens, sondern entwickelt als Subjekt sein eigenes Begehren.

Schlussbemerkung Der intellektuelle Emigrant Auerbach in Istanbul am Vorabend der großen Migrationsbewegungen ist für diese Wende ein wesentlicher Anknüpfungspunkt. Es ist allerdings auch ein schwieriger Anknüpfungspunkt mit einer verhaltenen Präsenz und man fragt sich, wo ist hierbei eigentlich der bei Said nach wie vor präsente Orient, was ist seine Funktion, hat er überhaupt eine, wenn er gleichsam hinter dem äußersten Punkt einer Ellipsenbahn liegt, an der die kulturelle Reflexion sich wieder, ohne Berührung mit diesem Punkt, auf sich selbst zu bewegt? Wenn Said ›den Fall‹ Auerbach als modellhaft deklariert, und wenn man ihn tatsächlich als einen Schlüssel für Saids Exilmodell sehen kann, dann hat

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IDEEN: SKIZZEN, VERNETZUNGEN UND WEITERFÜHRUNGEN

sich der anfänglich noch geographische, wenn auch nicht klar abgegrenzte und diskursive Orient des jüngeren Said endgültig zu einem metaphorischen Orient des älteren gewandelt, der nurmehr einen »Ansatzpunkt« bildet für die Idee eines viel weiter reichenden inneren Orients. Dieser innere Orient entsteht im Subjekt immer dann, wenn die Politiken von Macht und Wissen Identitätsbrüche evozieren, wenn sich für den Einzelnen Vergangenheit und Gegenwart nicht mehr nahtlos aneinanderfügen, wenn seine aus seinen spezifischen Erfahrungen gewonnene Identität marginalisiert zu werden droht. In der zunehmend interkulturellen Welt, die auch eine zunehmend sozialtechnologische Welt mit verschärften Spielen von Inklusion und Exklusion ist, ist der Orient nicht mehr räumlich abgrenzbar, sondern hat sich in ansteigendem Maße ins Zentrum und ins handelnde Subjekt verschoben.15 Der Orient ist somit überall. Die sich ständig aus Krisen neu erzeugende hybride Identität ohne sicheren Anker in kollektiven Zugehörigkeiten oder Traditionen findet sich im Zentrum von Kämpfen um die Entfaltung von Lebensformen, die Artikulation von Wissen, um Anerkennung und Gleichberechtigung. Mit der Verschiebung ins Innere entledigt sich Said des Ballastes des Kollektivismus und des Bildes vom schweigenden und passiven Orient bzw. Orientalen, das er in »Orientalismus« evoziert hat. Distanziertheit und Wissen sind die Ressourcen des ›modernen Orientalen‹ für die Ausformung eines säkularen gestaltungsbewussten Humanismus, dessen Aufgabe, analog zur Idee der Weltliteratur, darin besteht, Raum zu schaffen für alle schöpferischen Impulse. Saids Werk im Längsschnitt betrachtet zeigt eine Verschiebung des Schwerpunktes von der Figur des fremden exterritorialisierten Orientalen zu der des grenzgängerischen Exilanten, vom schweigenden instrumentalisierten fernen Anderen zum marginalisierten Anderen in der Auseinandersetzung um Inklusion. Dieser Andere ist näher gerückt; er ist am oder im Zentrum, er redet mit. Er ist überall, in jedem Feld präsent als der engagierte, produktive Außenseiter. Seine Ressource ist nicht die Chimäre der anderen Kultur, die zu finden sich die früheren Orientalisten (im weiteren Sinne) anschicken konnten, sondern es sind der Identitätsbruch und die Wiederherstellung von Identität, die zur Neuordnung führen und zur reflektierten Distanz gegenüber des Kulturbegriffes und seiner Verwendung. Der Begriff des Anderen hat sich somit, parallel zu den soziogeographischen und sozio-politischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte verschoben; der Andere hat sich verändert. Dabei besteht nach wie vor die magische Kraft des Anderen, des Geheimnisvollen, allerdings weniger im (homogenisierten) Raum denn in der Zeit, in den beun-

15 Hierfür liefert Saids Biographie ein vorzügliches Beispiel. 152

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ruhigenden Geistern der Vergangenheit, die, wie bei Saids Freud in den Identitätsprozess hineindrängen und keinen Schlusspunkt zulassen.

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T EIL II S CHICKSALE : R EGIME

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H ANDELNDE

HEIMAT IN

E X I L . L E B E N S A L L T AG A M B O S P O R U S DEN BRIEFEN VON TRAUGOTT FUCHS AN R O S E M A R I E H E Y D T -B U R K A R T IM

YASEMIN ÖZBEK Das Türkeibild in Deutschland ist im wesentlichen geprägt von den Arbeitsmigranten, die in den 60er Jahren nach Deutschland kamen. Zudem gilt Deutschland als Aufnahmeland für jene, denen aufgrund politischer oder religiöser Verfolgung in der Türkei Asyl gewährt wird. Dabei erfolgt die Diskussion über die Folgen der Migration aus der Türkei nach Deutschland meist im Kontext sozialer Probleme.1 Nicht selten liefern diese Probleme die Argumentationsinstrumentarien für Einwände gegen einen EU Beitritt der Türkei. Wenig Beachtung findet die Tatsache, dass vor mehr als sechzig Jahren eine entgegengesetzte Migrationsbewegung stattfand, die einen intensiven kulturellen und wissenschaftlichen Austausch zwischen der Türkei und Deutschland ermöglichte: In den Jahren 1933-1945 bot die Türkei den Verfolgten des Naziregimes, namhaften Wissenschaftlern, Künstlern wie auch zahlreichen »namenlosen« Deutschen, Zuflucht und Arbeit. Im Folgenden soll auf die Umstände der Emigration, den Lebensund Arbeitsalltag in der Türkei näher eingegangen werden. Dabei steht jedoch nicht die Situation prominenter Wissenschaftler, sondern die des Traugott Fuchs’ im Vordergrund. Fuchs zählt zu jenen, die im Schatten berühmter Emigranten-Persönlichkeiten, den »big shots«, wie er sie bezeichnete, im Exil am Bosporus lebte und arbeitete. Er war seinem Professor, dem Romanisten Leo Spitzer, in die Emigration nach Istanbul gefolgt. Während für die Mehrheit der Verfolgten des Naziregimes die Türkei eine Zwischenstation darstellte, blieb Fuchs bis zu seinem Tod 1997 in seiner Wahlheimat Istanbul. Er lehrte an der Fremdsprachenschule der Istanbul Universität, am Robert College, der späteren Bosporus Universität, und widmete sich der Malerei und der Dichtung. 1

Hier sei insbesondere auf die Fülle an Publikationen über »Integrationsschwierigkeiten« der Migranten oder über die zunehmende Hinwendung zu islamistischen oder nationalistischen Gruppen bei der 2. und 3. Generation türkischstämmiger Migranten hingewiesen. 159

SCHICKSALE: REGIME UND HANDELNDE

Fuchs wirkte als intellektueller Multiplikator, als Wissens- und Kulturvermittler zwischen der Türkei und Deutschland, indem er sein Wissen und seine Erfahrungen in die Wahlheimat mitbrachte, dort wiederum, durch das »Unbekannte« schöpferisch angeregt und beeinflusst, »Neues« an seine türkischen Studenten aber auch nach Deutschland übermittelte. Er stand in regem Austausch mit bedeutenden Philologen, Literaten, darunter Hermann Hesse, und ehemaligen Kolleginnen in Deutschland, Europa und den USA. Seine Kollegin Prof. Dr. Süheyla Artemel schreibt über Fuchs: […] Es ist, als ob Traugott Fuchs, dem es doch in jeder Phase seines Lebens gelang, dem Lehren Vorrang einzuräumen, in seinen künstlerischen Unternehmungen – in der Dichtkunst, die sein besonderes Tätigkeitsfeld war, und in der Musik und der Malerei- darauf abzielte, ein Bindeglied zu etablieren, eine kulturelle Synthese zwischen dem Deutschland seiner Geburt und der Türkei, in der er sein Heim gewählt […].2

Historischer Hintergrund, Motive für d i e E m i g r a ti o n Nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30.Januar 1933 begannen die Nationalsozialisten zur Festigung ihres politischen Systems unmittelbar Einfluss auf staatliche Einrichtungen zu nehmen. Eine erste Handhabe dazu bot das »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich« vom 24.März 1933, mit der die gesetzgebende Gewalt an die Exekutive, namentlich an die nationalsozialistische Regierung, übertragen wurde. Mit entsprechenden Kompetenzen ausgestattet, formulierten die neuen Machthaber nun Verordnungen und Gesetze, um den Staat nach ihren Vorstellungen umzuformen. Zunächst galt es, alle dem nationalsozialistischem System missliebigen Personen aus einflussreichen Positionen im Staatsapparat und in der Gesellschaft zu verdrängen. Das am 7. April 1933 verabschiedete »Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« diente der Entlassung nichtarischer und oppositioneller Beamten3. Betroffen waren neben Personen in öffentlichen Verwaltungen, auch Richter, Ärzte in Gesundheitsämtern, städtischen oder 2

3

Prof. Dr. Süheyla Artemel: Mein Kollege Traugott Fuchs. In: Hermann Fuchs (Hg.): Bilder der Sehnsucht. Traugott Fuchs – ein Leben am Bosporus, Köln: A.Ohlig, 2001. S. 12-13. Frontkämpfer des Ersten Weltkrieges sowie die Söhne oder Väter von im Weltkrieg Gefallenen wurden zunächst von dieser Regelung ausgenommen. 160

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staatlichen Krankenhäusern, Künstler in staatlichen oder städtischen Theatern, Orchestern etc, Lehrer sowie Wissenschaftler und Lehrpersonal an Hochschulen. Dass die Hitler-Regierung zur Umerziehung des Volkes im nationalsozialistischen Sinne besonders auf die Kultur- und Bildungspolitik einwirken wollte, versteht sich von selber: So konstatierte der nationalsozialistische Studentenführer Gerd Rühle: »Die neue Zeit erfordert einen neuen Hochschullehrer, der mehr ist als stiller Forscher, der als Führer und Erzieher mit dem ganzen Einsatz seiner Persönlichkeit deutsche Menschen formen kann.«4 Von den im Jahre 1933 auf 7.300 geschätzten Hochschuldozenten verloren fast 800 ihr Amt, darunter 85 % Juden.5 Ohne Existenzgrundlage und bedroht von den Nazis, entschlossen sich die ersten zur Emigration. Die Verkündung der Nürnberger Rassengesetze im September 1935 leitete die zweite Phase der Flucht aus Deutschland ein. Hatte zuvor die Hitler-Regierung mit Berufsverboten und Boykotten Juden und Oppositionelle politisch ausgegrenzt, so folgte mit den neuen Gesetzen die biologische Ausgrenzung von »Nichtariern«: Die Nürnberger Gesetze unterschieden zwischen Reichsbürgern und Staatsangehörigen6; definierten »Juden«, »Mischlinge« wie auch »Arier« und untersagten die Ehe zwischen Deutschen und Nichtdeutschen.7 Systematisch wurde den Juden aber auch Gegnern des Nazi-Regimes ihre Bürgerrechte und Lebensgrundlage entzogen. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges im Deutschen Reich waren 1.448 Vorschriften gegen die Ausgrenzung der Juden aus dem öffentlichen Leben ergangen.8 Die Reichspogromnacht am 9. November 1938 stellte schließlich den Höhepunkt der Diffamierungskampagnen und Verfolgung gegen Juden dar. Sukzessive setzte eine Massenflucht aus Deutschland und dem zuvor annektierten Österreich ein, die bis zur kriegsbedingten Auswanderungs-

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Zit. nach Hans Maier, »Nationalsozialistische Hochschulpolitik«, in: Die deutsche Universität im Dritten Reich. Eine Vorlesungsreihe der Universität München, München 1966, S. 71-102, S. 38. Frank-Rutger Hausmann, »Die Nationalsozialistische Hochschulpolitik«, in: Deutsche und österreichische Romanisten als Verfolgte des Nationalsozialismus, hg. von Hans Helmut Christmann und Frank Rutger Hausmann mit Manfred Briegel. Tübingen: Stauffenburg-Verlag, 1989. Als Reichsbürger galten Staatsangehörige deutschen oder »artverwandten Blutes«, sie waren die alleinigen Träger der vollen Bürgerrechte. Siehe dazu: Waller, K.: Die Rassenlehre des Nationalsozialismus in Wissenschaft und Propaganda. Darmstadt, 1961; De Lange, Nicolas: Weltatlas der Alten Kulturen, Jüdische Welt, München: Vierte Auflage 1991. Walk, Joseph (Hg.): Das Sonderrecht der Juden im NS- Staat. Karlsruhe, 1981. 161

SCHICKSALE: REGIME UND HANDELNDE

sperre im Oktober 1941 andauerte. Danach begann die vollständige Entrechtung der Juden, auf die ihre Deportation und Ermordung in den Konzentrationslagern folgte. Für die Mehrheit der emigrierten Gelehrten und Künstler stand nicht die Gefährdung aufgrund ihrer jüdischen Herkunft im Vordergrund. Vielmehr widersprachen ihr von Aufklärung und Moderne geprägtes politisches oder künstlerisches Engagement und ihre Ideen den nationalsozialistischen Idealen. So waren sie in doppelter Weise gefährdet und ihrer kreativen Entfaltungsmöglichkeiten beraubt. In seiner Veröffentlichung über die Emigration von Wissenschaftlern und Akademikern schreibt Norman Bentwich: Die Gesetze und andere Unterdrückungsmaßnahmen des Dritten Reiches hätten zur bedeutendsten »Verlagerung der geistigen Welt seit der Auswanderung der griechischen Gelehrten aus Konstantinopel geführt«.9 Schätzungen zufolge haben nach dem Jahr 1933 500 Schriftsteller und fast 4.000 Wissenschaftler und Hochschullehrer Deutschland verlassen.10 Während sich 1933 noch 75 % der Ausgewanderten in Europa aufhielten, so suchten sie ab 1934 Zuflucht in Übersee, vornehmlich der USA:11 Großbritannien, Palästina, Schweiz, die Niederlande, Frankreich, Argentinien und Brasilien zählen zu den Zielländern der Emigration, wobei einige zumeist europäische Länder, so beispielsweise Italien und auch die Türkei nur eine Zwischenstation darstellten.

D i e j u n g e T ü r k i sc he Re p u b l i k a l s Z u f l u c h t so r t f ü r d e u t sc he Wi s se n s c h a f tl e r Am 29. Oktober 1923 proklamierte die Nationalversammlung in Ankara die Gründung der Türkischen Republik. Mustafa Kemal Atatürk, Staatsgründer und erster Präsident der jungen Republik beauftragte Ismet Inönü mit der Regierungsbildung. Gemeinsam mit ihren Weggefährten aus dem Befreiungskampf etablierten Atatürk und Inönü die CHP, die Republikanische Volkspartei, welche als erste und bis 1945 einzige Partei im Land zugelassen war. In seiner Position gefestigt, leitete Atatürk nun 9

Norman Bentwich: »The Rescue and Achievement of Refugee Scholars. The Story of Displaced Scholars and Scientists 1933-1952. The Hague 1953, S. 10. 10 Siehe auch: Möller, Horst: Exodus der Kultur. Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler in der Emigration nach 1933. München 1984. 11 Siehe auch: Röder, Werner: Die Emigration aus dem Nationalsozialistischen Deutschland, in: Deutsche im Ausland – Fremde in Deutschland: Migration in Geschichte und Gegenwart, hg. von Klaus J. Bade. München: Beck, 1992, S. 345-354. 162

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die Modernisierung des in seinen politischen und kulturellen Fundamenten zerstörten Osmanischen Reiches, nunmehr der Türkei, ein. Durch umfassende Reformen in Wirtschaft, Politik, Gesellschaft, Rechtswesen und Kultur sollte die Türkei auf die Stufe der sogenannten »muassır medeniyetler«12, der modernen Zivilisationen angehoben werden. Die erste Reformmaßnahme richtete sich gegen die Institution des Kalifats. Im März 1924 beschloss die Nationalversammlung die Abschaffung dieser Einrichtung, der letzte Kalif wurde des Landes verwiesen. Damit symbolisierten die neuen Machthaber den Bruch mit der osmanischen Tradition des Landes und die Distanz zum islamischen Staatenverband. Fortan war die neue Regierung um die Abschaffung aller Einrichtungen, Träger und Symbole der alten Rechts- und Werteordnung bemüht: Das Amt des obersten Mufti wurde aufgelöst, islamistische Bruderschaften und Konvente geschlossen, die Benutzung von osmanischen Ehrentiteln, die Verschleierung von Frauen, die traditionelle Kopfbedeckung der Männer und die Polygamie verboten. Religiös geschlossene Ehen galten fortan als rechtlich unwirksam. Die Einführung der lateinischen Schrift und eines bürgerlichen Gesetzbuches unterwarf alle Bevölkerungsschichten einem umfassenden Lernprozess. Mit administrativen Mitteln versuchten die Politiker der jungen Republik die Verwestlichungsbestrebungen voranzutreiben und die weitgehend durch islamische Tradition geprägte Gesellschaft »von oben« zu reformieren.13 Die Bildungsreform nahm einen besonderen Stellenwert im kemalistischen Modernisierungsprojekt ein14: Auf diese Weise zielte die Regierung auf die Aufklärung und Umerziehung der Bevölkerung. Das 1924 verabschiedete Gesetz zur Vereinheitlichung des Bildungssystems ordnete die Schließung der »Medresen«, der Schulen für religiöse Bildung, und deren Ersetzung durch Schulen, die eine weltliche Erziehung fördern, an. Alle Institutionen der Bildung, darunter auch die einzige Hochschule des Landes, die Dar ül Fünun (Haus der Wissenschaften) in Istanbul, wurden der Aufsicht des Ministeriums für nationale Erziehung unterstellt. Ende der 20er Jahre entschied die Regierung, dass die Istanbuler Dar ül Fünun in keinem guten Zustand war und mit der Entwicklung und dem 12 Vergl. dazu: Atatürk Araútırma Merkezi (Hg.): Atatürkçü Düúünce El Kitabı. Ankara, 1995. 13 Akkaya, Özbek, Sen: Länderbericht Türkei. Darmstadt: Primus Verlag, 1998, S. 6-9. 14 Dies verdeutlicht sich in der Gründung der Dorfinstitute zur Ausbildung der Lehrer und der Volkshäuser in den ländlichen Regionen, aber auch im persönlichen Einsatz Kemal Atatürks bei der Inspektion der Alphabetisierungsmaßnahmen. 163

SCHICKSALE: REGIME UND HANDELNDE

Fortschritt im Staat nicht hatte Schritt halten können. So sei von der Dar ül Fünun kein Impuls für die durchgeführten Reformen ausgegangen. Vielmehr habe der Lehrkörper die tiefgreifenden Erneuerung als »stiller Beobachter« zur Kenntnis genommen.15 Auf diese Weise reiften Pläne für die Modernisierung des Hochschulwesens nach europäischem Vorbild. Die neue Hochschule sollte ein Zentrum des wissenschaftlichen Fortschritts und der Verwestlichung darstellen. 1932 beauftragte der Bildungsminister Reúid Galip den von der Genfer Universität vorgeschlagenen Pädagogikprofessor Albert Malche als Berater bei der Durchführung der Hochschulreform. Die Nationalversammlung stimmte am 5. Mai 1933 einem Gesetz zu, dass die Schließung der alten Dar ül Fünun und die Gründung einer neuen Hochschule vorsah. Indessen hatten im März 1933 die in Deutschland entlassenen oder vom Dienst suspendierten Gelehrte in Zürich eine »Beratungsstelle für deutsche Wissenschaftler«, die spätere »Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland« etabliert. Leiter dieser Organisation war der aus Frankfurt stammende Pathologe Phillip Schwarz, der nach einem Hinweis auf die geplante Universitätsreform in der Türkei, Kontakt mit Malche aufnahm.16 Die Zeitgleichheit der Modernisierung des türkischen Bildungswesens mit der Entlassung zahlreicher deutscher und österreichischer Hochschullehrer 1933 wurde zu einer Chance sowohl für die Türkei als auch für die Emigranten. Am 6. Juli 1933 führte Phillip Schwarz, die ersten Verhandlungen mit Malche und dem türkischen Erziehungsminister über die Anstellung emigrierter Wissenschaftler an der Istanbuler Universität. Es konnte eine vollständige Liste mit Namen für die neu zu besetzenden Lehrstühle der Istanbuler Universität, zusammengestellt werden. Auf diese Weise wurden zunächst 30 Mitglieder der Notgemeinschaft Deutscher Wissenschaftler in die Türkei vermittelt17. Weitere sollten bald darauf – auch an die neugegründete Ankara Universität – folgen. Die am 1. August 1933 eröffnete Istanbul Universität ist für die vorliegende Publikation von besonderer Bedeutung, da sie im Gegensatz zu Ankara, geisteswissenschaftlich ausgerichtet war. In den Jahren 1933-1939 kamen 139 deutsche und österreichische Wissenschaftler in der Istanbuler Uni15 Siehe hierzu: Bilsel, C.: østanbul Üniversitesi Tarihi. Istanbul, 1943; Demiroglu, C.: Istanbul Üniversitesi 1453-1993, 540. Yıl. Istanbul 1993; Widman, Horst: Atatürk Üniversite Reformu. Istanbul, 1981, S. 31-111. 16 Widman, 1981. 17 Vgl.: Grothusen, Klaus Detlev (Hg.): Die deutsche wissenschaftliche Emigration in die Türkei 1933-1945. Unter besonderer Berücksichtigung Hamburgs, in: Universität Hamburg, 1933 in Gesellschaft und Wissenschaft. T.2: Wissenschaft Hamburg 1984, S. 189-206. 164

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versität unter18. Die Emigration der Wissenschaftler und ihrer Familien veranlasste die Istanbuler Bevölkerung gar zu dem Gerücht über die »Eröffnung einer deutschen Universität«19.

L e b e n sb e d i n g u n g e n i m t ü r k i s c h e n E x i l . Eine Zweiklassengesellschaft Die Emigration reproduzierte keineswegs die sozialen Verhältnisse, in denen die Exilanten vor der Machtergreifung der Nazis in ihrer Heimat gelebt hatten. Der Zeitpunkt ihrer Auswanderung determinierte die Zielländer, die Mitnahme von Eigentum und die Begleitung durch die Familie. Schließlich bestimmten Beruf, Bildungsstand und die sozialen Kontakte die Lebensbedingungen im Exil. Die Existenz und der rechtliche Status jener Wissenschaftler, die 1933 und in den unmittelbar darauf folgenden Jahren durch die Notgemeinschaft an die Istanbuler und Ankara Universität vermittelt wurden, galt vorerst als gesichert.20 Sie erhielten von der türkischen Regierung in der Regel einen fünfjährigen Arbeitsvertrag und ein Gehalt von 1.000 Reichsmark. Zugleich wurden ihnen die Umzugs- und Reisekosten in die Türkei erstattet. Auch die Einstellung ausländischer Mitarbeiter war den Professoren erlaubt, so dass für emigrierte Wissenschaftlerinnen, Lektorinnen und Assistentinnen ebenfalls Möglichkeiten für die Mitarbeit an den »Emigranten-Universitäten« bestanden. Die türkische Regierung wiederum forderte von den Professoren u.a. die Vorbereitung des einheimischen, wissenschaftlichen Nachwuchses auf Leitungsfunktionen, die Erstellung von Gutachten für die Regierung und die Teilnahme an Aufklärungsaktionen für die türkische Bevölkerung, etwa durch öffentliche Vorträge und Vortragsreisen in die Provinz. Die Exil Wissenschaftler wurden angehalten, möglichst schnell die türkische Sprache zu erlernen, um Fachbücher in ihren jeweiligen Disziplinen zu verfassen. Ihnen zur Seite gestellte türkische Assistentinnen und Übersetzer fungierten als Sprachvermittler bei den Vorträgen, Vorlesungen und beim Verfassen wissenschaftlicher Publikationen. 18 Für 1939 wird die Zahl der in amtlichen und halbamtlichen Stellen in der Türkei tätigen Deutschen mit 2.000 beziffert; vgl.: Krecker, Lothar: Deutschland und die Türkei im Zweiten Weltkrieg. Frankfurt a.M. 1964. 19 Sakaoglu, Necdet: østanbul Üniversitesi, in: Dünden Bugüne østanbul Ansiklopedisi. Tarih Vakfı Yurt Yayınları, Istanbul, 1994, S. 247-249. 20 Siehe auch: Schwartz, Phillip: Kader Birli÷i (Schicksalsgemeinschaft). Belge Yayınları, Istanbul 2003: Neumark Fritz: Zuflucht am Bosporus, 1. Auflage, Frankfurt a.M., Knecht Verlag, 1980. 165

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Die Emigranten Professoren mit Anstellungsverträgen waren privilegiert: Sie verdienten das zwei- bis vierfache ihrer einheimischen Kollegen, genossen als Wissenschaftler und Berater der Regierung gesellschaftliches Ansehen21. Da sie in Begleitung ihrer Familien – einige brachten sogar ihr Dienstmädchen mit oder ließen es nachkommen – und mit ihrem Eigentum in die Türkei eingereist waren, veränderte sich das häusliche Umfeld und ihre materiellen Lebensbedingungen dort kaum. Vorteilhaft für ihre sozialen Interaktionen im Aufnahmeland erwies sich auch, dass insbesondere in Istanbul bereits eine »Deutsche Community22« existierte, auf dessen Infrastruktur man zurückgreifen konnte. Zudem hatte sich in der Istanbuler Universität durch die gleichzeitige Anstellung von deutschen Exilprofessoren aus sämtlichen Fachrichtungen eine »interdisziplinäre wissenschaftliche Gemeinschaft« entwickelt. Die Emigranten-Professoren mit ihren Familien verkehrten zumeist untereinander, nahmen gemeinsam an Veranstaltungen und Ausflügen teil und halfen sich bei der Bewältigung der Anforderungen in der neuen Umgebung. Eine weitere Gruppe von Emigranten stellten Flüchtlinge aus dem Deutschen Reich und Österreich dar, die ohne die »Sicherheit« eines Arbeitsvertrages in die Türkei gekommen waren. Zu ihnen zählten Frauen und Männer aus unterschiedlichen Schichten und Berufsgruppen : Künstler, Handwerker, Ärzte23 etc. Ihnen boten sich eingeschränkte Möglichkeiten, nicht zuletzt auch deshalb, da sich die türkische Gesellschaft in einem Umwandlungsprozess befand. Für die Einreise in das Land war ein Visum erforderlich; ein Aufenthalt, der länger als 15 Tage

21 Anfeindungen und Kritik aus der türkischen Öffentlichkeit blieben nicht aus, da einige einheimische Professoren ihre Stellung an der »Dar ül Fünun« zugunsten der Exil Wissenschaftler räumen mussten. Auch die hohen Gehälter boten »Anlaß zu Neid« wie Fritz Neumark in seiner Veröffentlichung »Zuflucht am Bosporus« bestätigt. Auch der Jurist Ernst Hirsch thematisiert die negativen Reaktionen aus der »Aufnahmegesellschaft«. (Siehe: Hirsch, Ernst E.: Aus des Kaisers Zeiten durch die Weimarer Republik in das Land Atatürks, München 1982). 22 Diesen Begriff wählt Anne Dietrich zur Bezeichnung der Gruppe der Deutschen und Deutschstämmigen in Istanbul. Siehe: Dietrich, Anne: Deutschsein in Istanbul: Nationalisierung und Orientierung in der deutschsprachigen Community von 1843 bis 1956, Opladen Leske und Budrich, 1998. 23 Auch die mitreisenden Ehefrauen der mit einem Arbeitsvertrag ausgestatteten Professoren zählen zu dieser Gruppe. Denn ihr Aufenthaltsstatus war von dem ihrer Ehemänner abhängig. Die Berufstätigkeit blieb ihnen untersagt, obgleich einige selbst über hohe berufliche Qualifikationen verfügten. In der Regel versorgten, berieten und unterstützten sie ihre Ehemänner. 166

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dauern sollte, bedurfte der Legitimierung durch eine Aufenthaltsgenehmigung. Dennoch gab es zahlreiche Wege und Strategien24 für Emigranten die Grenze zu passieren oder auch in der Türkei zu verbleiben. Schwieriger gestaltete sich die Existenzsicherung: Um die (aus den sozialen Bedingungen des Osmanischen Reiches hervorgegangene) Dominanz von nichtmuslimischen Ethnien in bestimmten Berufsgruppen zu beenden, hatte die Türkische Republik in den 20er Jahren Ausländern die Betätigung in bestimmten Berufsgruppen untersagt. Somit waren insbesondere die Aussichten für die Ausübung des erlernten Berufes gering: »Männer verdingten sich als Verkäufer, Privatlehrer oder auch Dekorateur, Frauen vorzugsweise als Erzieherinnen oder Lehrerinnen«.25 Bei der Beschreibung der Aussichten im Exilland Türkei weisen Zeitzeugen unmittelbar auf die Unterschiede zwischen den beiden genannten Emigrantengruppen hin: es habe »die reichen Professoren« und die »Armen ohne Vertrag« »gegeben«.26 Obgleich die 1938/39 ausgelaufenen (fünfjährigen)Arbeitsverträge der Universitätsprofessoren verlängert wurden, erschwerten sich nach dem Beginn des Zweiten Weltkrieges die Lebensbedingungen in der Türkei wie auch der Zuzug in das Land. Die Furcht vor deutscher Spionage, der Druck Deutschlands auf die türkische Regierung27 und die Ausweitung des Krieges trugen u.a. zur Reglementierungen der Einreisebestimmungen und des Ausländerrechts bei: Im Januar 1939 wurde Staatenlosen28 die Einreise und der Aufenthalt in der Türkei untersagt. 1940 erfolgte die Entlassung der in den türkischen Ministerien tätigen ausländischen Berater, ein Jahr darauf die Ausweisung aller deutschen Kindermäd-

24 Einige reisten illegal ein und legalisierten später ihren Aufenthaltstatus. Flüchtlingsorganisationen gewährten ebenfalls Unterstützung oder vermittelten notwendige Kontakte, die zu einem Verbleib in der Türkei beitragen konnten. Anne Dietrich zeigt in ihrer Veröffentlichung »Deutschsein in Istanbul« Heirat als eine Strategie für den Verbleib in der Türkei. 25 Anne Dietrich, 1998. S. 278. 26 Gespräch mit Robert Anhegger im März 1999 und mit W.R. im August 2002 (Auf Wunsch des letzteren Interviewpartners wird sein Name nicht genannt). 27 Das »Emigrantenproblem« wurde von Angehörigen der NSDAP Regierung als Belastung für die bilateralen Beziehungen angesehen. Siehe: Scurla, Herbert: Der Scurla Bericht. Migration deutscher Professoren in die Türkei im Dritten Reich, hg. von Klaus Detlev Grothusen, Frankfurt a.M.: Dagyeli, 1987 (Schriftenreihe des Zentrums für Türkeistudien). 28 Zahlreiche Emigranten galten durch neue Regelungen, die seit 1933 der deutschen Regierung die Ausbürgerung deutscher Staatsbürger möglich machte, als Staatenlos. 167

SCHICKSALE: REGIME UND HANDELNDE

chen und Gouvernanten, da man ihnen politische Unzuverlässigkeit unterstellt hatte.29 Staatenlose, deren Arbeitsverträge nicht mehr verlängert wurden, waren ebenfalls aufgefordert, das Land zu verlassen. Dennoch war einzelnen namhaften Wissenschaftlern und Künstlern die Emigration in die Türkei durch Vermittlung und Fürsprache noch immer möglich.30 Nach Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Deutschland im August 1944 stellte die türkische Regierung allen Inhabern deutscher Pässe ein Ultimatum. Sofern sie nicht im türkischen Staatsdienst standen, mussten sie die Türkei verlassen oder der Internierung in den drei anatolischen Provinzen Kırsehir, Corum und Yozgat zustimmen. Dies betraf nicht nur die NS Flüchtlinge, sondern insbesondere die Mitglieder der deutschen Kolonie in Istanbul und Ankara. 626 deutsche Staatsangehörige31, die nicht zurückkehren wollten, wurden durch die Polizei aufgefordet, sich für die Internierung zu melden. Sie verloren durch ihre Rückkehrweigerung die deutsche Staatsbürgerschaft. Da sie nicht arbeiten durften, erhielten die Internierten finanzielle Unterstützung durch die türkische Regierung, internationale Hilfsorganisationen wie auch aus privaten Sammlungen. Im Dezember 1945 endete die Internierung. Für die wissenschaftlichen Emigranten in der Türkei begann mit dem Ende des Krieges und der Naziherrschaft eine neue Phase: Die Mehrheit verließ sukzessive das Land, sie kehrten nach Deutschland zurück, folgten Berufungen in andere Länder, vor allem in die USA. Nur wenige blieben.32

D e r K r e i s u m S p i tz e r u n d A u e r b a c h Die 1933 neugegründete Istanbuler Universität sollte im Unterschied zur Hochschule in Ankara geisteswissenschaftlich ausgerichtet sein. Der vom türkischen Bildungsministerium beauftragte Malche hatte außerdem die Einrichtung einer an die Universität Istanbul angegliederten Fremdsprachenschule (»Yabancı Diller Mektebi«) vorgesehen33. Der Aufbau 29 Anne Dietrich, 1998, S. 356-357. 30 So kamen Walter Kranz, Professor für Klassische Philologie, der Architekt Clemens Holzmeister u.a.; siehe: Haymatloz. Exil in der Türkei 1933-1945, Ausstellungskatalog, hg. vom Verein Aktives Museum, Berlin, 2000. 31 Ebd. S. 44. 32 Von den im Rahmen der Ausstellung »Haymatloz« Erfassten blieben nur 28 Emigranten in der Türkei. 33 Der Fremdsprachenunterricht sollte fortan obligatorisch werden, um dem türkischen, wissenschaftlichen Nachwuchs die Partizipation am internationalen Wissenschaftsdiskurs zu ermöglichen. 168

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dieser Fakultät für neuere Philologien war im wesentlichen das Werk des Romanisten Leo Spitzer, der nach dem Berufsverbot der Nationalsozialisten 1933 als einer der ersten einen Ruf nach Istanbul erhalten hatte. Obwohl Spitzer drei Jahre später, 1936 in die USA weiteremigrierte, um dort eine Professur an der John Hopkins Universität anzunehmen, wirkte sich sein Einfluss an der Sprachenschule nachhaltig aus. Der bei ihm 1929 habilitierte und seit 1930 in Marburg lehrende Erich Auerbach wurde sein Nachfolger in Istanbul. Auerbach war nach der Suspendierung durch die Nazis 1935 durch die Vermittlung seines Mentors und Kollegen Spitzer in die Bosporusmetropole emigriert. Bis 1947 wirkte Erich Auerbach in der Türkei und verfasste dort sein Hauptwerk »Mimesis – dargestellte Wirklichkeit«.34 Sowohl Spitzer als auch Auerbach machten von ihrem mit dem türkischen Erziehungsministerium vertraglich vereinbarten Recht zur Einstellung ausländischer Mitarbeiter Gebrauch und beschäftigten ihnen ins Exil gefolgte Assistentinnen oder andere emigrierte junge Wissenschaftler. Spitzer vermittelte Heinz Anstock, Eva Buck, Rosemarie Burkart, Herbert Dieckmann, Lieselotte Dieckmann, Hans Marchand und Traugott Fuchs an die Istanbuler Universität. Durch Auerbach bekamen Robert Anhegger, Ernst Engelbert, Kurt Laqueur, Andreas Tietze und Karl Weiner35 eine Anstellung an der Fremdsprachenschule. Auf diese Weise war es dort den exilierten Professoren möglich, in einem begrenzten Ausmaß auf ihre vertrauten Arbeitszusammenhänge, Wirkungskreise und sozialen Kontakte zurückzugreifen. Die Assistenten hatten kaum Aussichten auf ein berufliches Fortkommen oder gar eine wissenschaftliche Karriere in der Türkei. Ihre Fördermöglichkeiten im Aufnahmeland waren begrenzt. Hinzu kam, dass in Emigrantenkreisen die jeweiligen gesellschaftlichen Klassen untereinander verkehrten. Publikationen über deutsche Emigranten in Istanbul informieren über »Wissenschaftszirkel« und Zusammenkünfte namhafter Exil-Wissenschaftler zu Vorträgen und »interdisziplinären Kolloquien, zu denen die Assistenten nicht eingeladen wurden.36 Aufgrund der vorherrschenden Distanz zwischen ihnen, war die »Protektion« oder »Unterstützung« eines namenlosen Assitenten durch eine prominente Emigrantenpersönlichkeit eher die Ausnahme als die Regel. 34 Auerbach, Erich: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Bern, Francke Verlag, 1946. 35 Widman, Horst: Exil und Bildungshilfe. Die deutschsprachige akademische Emigration in die Türkei nach 1933. Mit einer Bio-Bibliographie der emigrierten Hochschullehrer. Bern und Frankfurt a.M., 1973. 36 Anne Dietrich, 1998, S. 316-317; Fritz Neumark, 1981, S. 180; Horst Widman, 1973; Haymatloz, 2000, S. 162ff. 169

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Aus Publikationen über die Emigration in Istanbul und aus den von mir geführten Gesprächen37 mit Zeitzeugen geht hervor, dass Spitzer und sein Nachfolger Auerbach die oben beschriebene »Klassentrennung« nicht einhielten. Im Gegenteil, der Lektoren- und Studentenkreis um Leo Spitzer und später um Erich Auerbach kam zu Seminaren im Privathaus ihres Professors zusammen. Die Assistenten wurden nicht nur zu wissenschaftlichen Diskussionen und privaten Treffen geladen, sondern nahmen auch an gemeinsamen Unternehmungen teil. Ihre Abhängigkeit von sozialen Kontakten – sie waren ohne Familie nach Istanbul gekommen – und die Arbeit an der Sprachenschule erwies sich für den Lektorenkreis um Spitzer und Auerbach als Vorteil. Sie fanden unmittelbar Kontakt zu jungen türkischen Studierenden, mit denen sie das Interesse für Fremdsprachen, insbesondere für romanische Sprachen, teilten. Gegenseitige Sympathie und Neugier auf »Kultur« und das Land des jeweils »Anderen« mögen einen Beitrag zu Intensivierung dieser Kontakte beigetragen haben, die sich in der Vielzahl der gemeinsam unternommenen Aktivitäten ausdrückt38. Geisteswissenschaftlern bot Istanbul mit seiner Geschichte, der Vielfalt an Sprachen und Kulturen wie auch seiner Natur zahlreiche Impulse. Dennoch verließen gerade die »prominenten« Geisteswissenschaftler im Vergleich zu ihren anderen Kollegen die Türkei, sofern sich ihnen eine Möglichkeit dazu bot. Von den oben genannten Lektorenkreis um Spitzer und Auerbach blieben nur Traugott Fuchs und Robert Anhegger in Istanbul.

T r au g o tt Fu c h s 39 ( 1 9 0 6 - 1 9 9 7 ) – M o ti v e f ü r s e i n e E m i g r a ti o n In seinem Lebenslauf schreibt Fuchs 1986 über seine Motive, seinem Mentor Leo Spitzer in die Emigration nach Istanbul zu folgen: In Marburg wurde ich sozusagen entdeckt und anerkannt, und zwar zum ersten Mal überraschender Weise in dem Seminar von Leo Spitzer, dem Professor für romanische Sprachen und Literaturen. Dies bestimmte den weiteren Lauf meines Lebens. Denn jetzt gehörte ich zu Spitzers engerem Kreis und folgte ihm nach Köln. Hier war ich einer seiner Assistenten bis zur Machtübernahme der 37 Gespräch mit Robert Anhegger im März 1999 und mit Prof. Dr. Süheyla Artemel am 29.09.2003. 38 Siehe auch: Anne Dietrich, 1998; Haymatloz, 2000. 39 Auf den Lebenslauf von Traugott Fuchs geht Dr. Martin Vialon in seinem Artikel in diesem Band ein. 170

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Nazis, als er, der Jude war, gehen musste. […] Ich wurde wie ein Sohn in der Familie behandelt und fühlte mich beschämt und gesegnet zugleich durch ihre unglaubliche Güte und Grosszügigkeit. Unvergesslich die geradezu wundervollen Ferien in ihrer zauberhaften Villa […] am Wörther See in Österreich. Da hatte ich nun wirklich Zeit genug, in Ruhe meine Überzeugungen zu festigen, meine Weltanschauung erneut zu prüfen und meinen Geist von jeglichem möglichen Vorurteil gegen die Juden zu säubern – zuhause, in der Schule und in der Stadt waren sie weidlich propagiert worden. –Ich sah nun und wusste: kein arischer Professor – ich fragte mich, was ist das denn eigentlich, arisch? – kein arischer Professor in meiner Nähe war je so glänzend, geistreich, pädagogisch begabt, verständnisvoll, und als Lehrer so ermutigend und als Mensch so grosszügig, charmant, taktvoll, fein, gutgelaunt, und menschlich im wahren Sinne des Wortes wie er. Ich war nun gefeit gegen jegliche politische und ideologische Verführung, und deren gab es eine Masse, die auch bedeutende materielle Vorteile verhiessen! Nun aber war für mich die Zeit gekommen, Solidarität zu beweisen und etwas für ihn zu tun. Ich lud unsere Studenten schriftlich ein- die Briefe wurden nachts geschrieben, da es dringlich war!- einen eindrucksvollen, wenn auch kurzen sokratischen, von den ihm am nächsten stehenden Freunden verfassten Text, eine Art Manifest zugunsten unseres Professors zu unterschreiben, in dem wir ihn zurückverlangten […]. Fast alle Studenten liebten ihren Lehrer sehr. Er war sehr beliebt. […] die positiven Antworten trafen rasch ein und die Liste war fast vollständig, welch Freude! Aber plötzlich tauchte die SA in Uniform auf- meine schwachen Studenten vom Sommerkurs! – und verlangten die Liste mit den Unterschriften. […] Als ich durch einen Telefonanruf durch Professor Erich Auerbach, den Verfasser der »Mimesis« und Spitzers Nachfolger in Marburg, und später auch in Istanbul, eingeladen wurde, in Istanbul wieder mit ihm zusammenzuarbeiten, nahm ich sofort ohne zu zögern an und folgte diesem Ruf mit grosser Begeisterung, fühlte ich doch gleich, dass dies eine wirkliche Chance der Befreiung für mich war – keine Kompromisse mit den Nazis! – und ich schwor mir, niemals zurückzukommen , solange Hitler siegreich war […].40

Diese genannten Passage verfasste Fuchs mehr als 50 Jahre nach seiner ersten Begegnung mit Spitzer, zu einem Zeitpunkt also, indem er auch die negativen Folgen seiner Solidarität und Loyalität zu seinem Professor erfahren hatte: Existenzschwierigkeiten und Internierung. Dennoch spricht aus dem Text Bewunderung und Dankbarkeit des einstigen Studenten für seinen Mentor, der ihm den Weg in eine neue Welt geebnet hat. Fuchs’ Schilderungen über die Anerkennung seiner Leistungen durch Spitzer »dem Professor für romanische Sprachen und Literatur«, finden darin ihren Höhepunkt, dass Fuchs sich entschließt, dem Wissen-

40 Traugott Fuchs: Kurzer Lebenslauf (1986), Typoskript, 11 Seiten (Nachlass Traugott Fuchs, Yeditepe-University Istanbul). 171

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schaftler zunächst von Marburg nach Köln zu folgen: »Zum ersten Mal überraschenderweise« in einem Seminar von Spitzer habe sein Interesse für die Philologie Anerkennung und Förderung erfahren, indem er als Assistent zum »engeren Kreis« Spitzers einbezogen wird. Auf diese Weise findet Fuchs nun die Gelegenheit zu einem intensiveren Austausch mit dem von ihm intellektuell hochgeschätzten Wissenschaftler, den er als »glänzend«, »geistreich«, »pädagogisch begabt« und »ermutigend« beschreibt. Nicht nur in Veranstaltungen im Rahmen der Universität, sondern auch in Hauptseminaren, durchgeführt im Haus des Professors, kommen Studierende zusammen. Dieser für die damalige Zeit ungewöhnliche und zwanglose Umgang des Wissenschaftlers mit seinen Studierenden wie auch Assistenten und das wissenschaftliche Engagement jenseits der Universität beeindruckt Fuchs. Er habe sich »wie einen Sohn behandelt« gefühlt, »beschämt« und »gesegnet« durch die »unglaubliche Güte und Großzügigkeit« konstatiert er rückblickend. Traugott Fuchs setzt später, als Lehrender an der Bosporus Universität, diese Lehrmethode Spitzers fort: Die Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Süheyla Artemel, Studentin und später Kollegin Fuchs’, berichtet in einem Interview von Seminaren im privaten Rahmen und von einer »einzigartigen pädagogischen Beziehung«41, die Fuchs zu seinen türkischen Studenten aufzubauen fähig war. Durch die Entlassung Spitzers 1933 erleidet auch die wissenschaftliche Karriere Traugott Fuchs einen Bruch. Die Diskrepanz zwischen dem von den Nationalsozialisten propagierten »Judenbild« und seine eigene Wahrnehmung des »jüdischen« Professors veranlassen ihn zur Hinterfragung der Begriffe »arisch« und »jüdisch«. Er entlarvt die nationalsozialistische Propaganda gegen Juden als »Vorurteile«, von denen er seinen »Geist« während der gemeinsamen Ferien mit der Familie Spitzer am Wörther See »säubert«. Er will nun seine Dankbarkeit zeigen, indem er Solidarität bekundet für seinen Professor, der ihn »wie einen Sohn behandelt« und ihm eine »neue Welt« eröffnet hat. Obgleich ihm die Übereinstimmung mit den Nationalsozialisten offensichtlich materielle Vorteil verheißt, zieht er es vor, sich für Spitzer einzusetzen. Wie sehr ihm Effektivitätsdenken fremd, gar verabscheuenswürdig erscheint, wird erkennbar, wenn er in seinem Lebenslauf von »hervorragenden Philologen« spricht, die sich ihre »Karriere durch aktive Kompromisse mit dem Nazitum für immer befleckt«42 haben. Fuchs handelt weniger aus einer ideologischen Haltung, die einer politischen Sozialisation entspringt, als er im April 1933 eine Protestak41 Interview mit Prof. Dr. Süheyla Artemel vom 29.09.2003. 42 Fuchs, Traugott Fuchs: Lebenslauf (1986), in: Bilder der Sehnsucht, 2001, S. 24-37, hier S. 33. 172

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tion für Spitzer organisiert. Seine Aktion entstammt einem sich selbst auferlegten Pflichtgefühl und seines ethischen Verständnisses infolge seiner Erziehung und Ausbildung in humanistischer Tradition. Er hält auch nach der Denunzierung durch »schwache Studenten« an seinem Standpunkt fest und nimmt damit die Konsequenzen für seine Haltung in Kauf: Traugott Fuchs wird von der SA festgenommen und verliert seine Assistentenstelle in Köln. Fuchs ist ein Individualist, der nach geistiger Freiheit und Kreativität strebt, die ihm die neuen Machthaber Deutschlands entsagen. In seinem Lebenslauf kritisiert er die Durchdringung der Geisteswissenschaften durch die nationalsozialistische Ideologie, bemängelt die Weigerung der Romanistik-Studenten Latein zu lernen oder Wörter französischer Gedichte nachzuschlagen. Den politischen Einfluss auf die Studenten bezeichnet er als »Verblödung« und beklagt das Sinken des »Intelligenzniveaus« der »neuen germano-fanatischen »akademischen« Jugend bis unter den Nullpunkt.43« Aufgewachsen im Traditionszusammenhang der Romantik und Aufklärung, vermag er sich mit den Idealen der NSDAP kaum zu identifizieren. Die Flucht ins unbekannte Exil betrachtet er als Chance der Befreiung. Mit der Emigration in die Türkei 1934 vollzieht Traugott Fuchs schließlich die innere Distanz zum Nazi-Deutschland auch äußerlich. Als 1939 Herbert Scurla von der Auslandsabteilung des nationalsozialistischen Erziehungsministeriums in die Türkei gesandt wird, um die Lage der Hochschulen in Ankara und Istanbul zu inspizieren und Einfluss auf die Berufungspolitik zu nehmen, schreibt er im Anschluss an die Dienstreise in seinem Bericht über die Lektoren an der Sprachenschule, darunter auch über Traugott Fuchs: […] Die an dem Sprachinstitut tätigen Lektoren sind, soweit sie aus Deutschland berufen sind, ausnahmslos Nichtarier oder Emigranten. So arbeitet seit 1934 am Sprachinstitut die nur in Emigrantenkreisen verkehrende, 1905 geborene, ledige, Rosemarie Burkhart, die zwar arisch ist, vor ihrer Berufung nach Istanbul aber als Assistentin am Romanischen Seminar der Universität Köln bei dem berüchtigten Leo Spitzer tätig war, der mehrere Jahre lang Leiter des Sprachinstituts in Istanbul gewesen ist. Gleichfalls nur Umgang mit Emigranten hat der am Sprachinstitut tätige Lektor Dr. Traugott Fuchs, der die Ausfüllung des Fragebogens offenbar verweigert hat, so dass Näheres über seine Persönlichkeit nicht zu ermitteln ist.44

43 Ebd. 44 Scurla, Herbert: Der Scurla Bericht. Migration deutscher Professoren in die Türkei im Dritten Reich, hg. von. Klaus Detlev Grothusen, Frankfurt a.M.: Dagyeli, 1987 (Schriftenreihe des Zentrums für Türkeistudien), S 130. 173

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Zum Verständnis des Zitats aus dem Scurla Bericht ist wichtig zu wissen, dass 1938 die Botschaft in Ankara und das Generalkonsulat in Istanbul einen Fragebogen45 an die Türkei-Emigranten ausgeteilt hatten, die u.a. später Scurla dazu dienten, Rückschlüsse über die politische Gesinnung, Einstellung zu Deutschland und ethnische Herkunft der Exilierten zu ziehen. Wie aus dem Bericht Scurlas hervorgeht, weigert sich Traugott Fuchs – im Gegensatz zu den meisten Lektoren – den Fragebogen auszufüllen. Indem er sich der mit antijüdischen Tendenzen behafteten nationalsozialistischen »Statistik« entzieht, dokumentiert er – wie zuvor bei der Protestaktion gegen die Entlassung Spitzers – dass er zu keinen »Kompromissen« mit den Nazis bereit ist. Konsequent handelt Fuchs gemäss seiner eigenen ethischen Grundsätze und setzt sich damit sogar der Gefahr der Ausbürgerung, damals einem wirksamen Druckmittel der Hitler-Regierung gegen Emigranten, aus.

I st a n b u l – » e i n T o r d e r Z u k u n f t « Die innere Distanz zum nationalsozialistischen Deutschland und die empfundene Befreiung über die Emigration drückt Traugott Fuchs in seinem Lebenslauf aus. Zugleich präsentiert er ein anschauliches Bild über seine Lebenssituation im Exil: […] Hier jedoch war ein Tor der Zukunft, daheim ein Tor zum Tode, das war sicher. Mit zwei einfachen Koffern kam ich im Februar 1934 in Istanbul an. Während der ersten Jahre erlebten wir hier in der modernen Türkei zusammen mit den »big shots«, den berühmten Professoren, wir »die kleinen Würstchen«, um Hellmut Ritters humoristisches Idiom zu benutzen, damit meinte er Leute von viel geringerer Bedeutung, eine renaissancehaft freudige Wiederkehr akademischer, kultureller und gesellschaftlicher Blüte, wie sie in gewissen hochintellektuellen Kreisen in dem Deutschland der Vor-Nazizeit dagewesen war. Das Bewusstsein, in einer der schönsten Städte und einem der interessantesten und faszinierenden Länder der Welt – Anatolien – und im Süden zu sein erfüllte uns mit dankbarem Glück. […]46

Im Zuge der von Kemal Atatürk eingeleiteten Kultur- und Bildungsreform herrscht in der Türkei eine Atmosphäre der Offenheit für kulturelle und wissenschaftliche Einflüsse aus dem Westen vor. Kreativität und

45 Die Emigranten wurden u.a. befragt, ob sie oder ihre Ehepartnerın arisch oder nichtarisch sei, ob sie arisch versippt seien etc. (ebd. S. 39). 46 Fuchs, Traugott: Kurzer Lebenslauf, in: Bilder der Sehnsucht, 2001, S. 35. 174

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Entwicklung werden gefördert, was Fuchs als »renaissancehafte Wiederkehr […]« bezeichnet. Dabei impliziert er auch, dass die Gruppe der wissenschaftlichen Emigranten in der Türkei Bedingungen vorfinden (oder herstellen), unter denen sie frei von ideologischen Einflüssen, forschen, lehren und sich austauschen können. Das Land bietet dem damals 28jährigen Fuchs in erster Linie kreative Reize. Die Natur, die Landschaft des »Süden« und Anatolien, das antike Kleinasien, als Heimat der griechisch-orientalischen Kultur sind stets wiederkehrende Motive in seinen Bildern und Gedichten. Als 1944 die Türkei Deutschland formal den Krieg erklärt und Fuchs vor die Wahl gestellt wird, entweder nach Deutschland zurückzukehren oder sich in die Internierung im zentralanatolischen Çorum zu begeben, zieht er die Internierung vor und schreibt dazu in seinem Lebenslauf: […] noch vor der Internierung wurde mir und einigen eingewanderten jungen Deutschen nahegelegt, nach Deutschland zurückzukehren und uns der Armee anzuschliessen. […] als der Tag kam, wo es galt, den Zug zu nehmen, weigerte ich mich ganz entschieden, für Hitler zu kämpfen, diesen Verbrecher, den ich aus ganzer Seele hasste und dessentwegen ich hatte auswandern müssen. […] In diesem Falle war die Internierung schon eine gute und weise Lösung […] .47

Abgesehen von der Internierung in Çorum im Jahre 1944 sowie Besuchsund Genesungsaufenthalten in Europa und den USA später stellt Istanbul den Lebensmittelpunkt Traugott Fuchs’ dar. Während nach Spitzer und Auerbach auch der Rest seiner Kolleginnen am Spracheninstitut die Türkei verlassen, bleibt Traugott Fuchs in Istanbul. So schreibt er 1948 in einem nicht abgeschickten Brief an Maria Auerbach, Ehefrau seines Professors: »[…] Amerika ist nichts für mich, treffender: ich nichts für Amerika, ich weiss nicht, aber, auf meine alten Tage noch der Sekurität nachjagen, die es auch im sichersten Port niemals für mich gibt […]«.48 Mit diesen Zeilen drückt Traugott Fuchs erneut aus, wie fremd ihm Effektivitätsdenken ist und dass er »Sicherheit« nicht materiell definiert. Warum gibt es selbst am »sichersten Port« für ihn keine »Sekurität«? Was veranlasste ihn zum Verbleib in der Türkei? Wo sah er seine Heimat? Was verband Fuchs mit der Türkei? Welchen Einflüssen war er in der Aufbauphase der modernen Türkei ausgesetzt? Wir wirkten sich diese Einflüsse den Identitätsbildungsprozess bei Fuchs’ aus? Antworten auf diese Fragen bietet der Nachlass Traugott Fuchs: 200 Ölgemälde, ca. 5.000 Handzeichnungen, Aquarelle und Pastelle, akribisch gesammelte 47 Ebd. S. 36. 48 Zitiert aus: Haymatloz, 2000, S. 171. Der Brief befindet sich im Privatarchiv Hermann Fuchs’. 175

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Berichte aus türkischen Tageszeitungen, die von ihm kommentiert und zusammengefasst wurden, Vorlesungsmanuskripte zur deutschen Literaturgeschichte. Zugleich gestatten mehrere tausend Briefe von Freunden, Bekannten, Schülern und seiner Familie Rückschlüsse über die Gedanken- und Gefühlswelt Traugott Fuchs.

R o s e m ar i e B u r k ar t – S c hi c k sal sg e f äh r t i n Im Folgenden soll eine Auswahl von unveröffentlichten Briefen49 Fuchs an seine Kollegin und Freundin Rosemarie Heyd-Burkart dazu dienen, einen Eindruck von der Situation Fuchs in der Emigration am Bosporus zu vermitteln. Die Besonderheit der präsentierten Dokumente liegt darin, dass sie, trotz einiger unleserlicher Stellen, persönliche Gefühle offenbaren. Burkart und Fuchs waren durch eine Reihe von Gemeinsamkeiten miteinander verbunden: Das Interesse für (romanische) Sprachen, die Nähe zu Leo Spitzer, die Weigerung im nationalsozialistischen Sinne wissenschaftlich zu arbeiten, die Exilerfahrung, die Lehrtätigkeit an der Sprachenschule der Istanbuler Universität und die Eindrücke Istanbuls. Rosemarie Heyd-Burkart war seit 1931 als Assistentin Leo Spitzers an der Kölner Universität tätig. Nach dessen Entlassung emigriert sie gemeinsam mit der Familie Spitzer nach Istanbul. Als Mitarbeiterin ihres Mentors, hilft sie ihm bei der Einrichtung des romanischen Seminars an dem Sprachinstitut, unterrichtet dort in Deutsch, Französisch und Spanisch und bietet Seminare in spanischer Literatur und Altfranzösisch an der Universität an. Zugleich übersetzt sie für deutsche Professoren mit mangelnden Französischkenntnissen. In den vorliegenden Quellen wird Burkart als kommunikative und aktive Frau beschrieben, die in Istanbul über einen internationalen Freundeskreis verfügt.50 Im Gegensatz zu Traugott Fuchs betätigt sich die junge Emigrantin politisch und tritt 1939 – durch die Vermittlung von Freunden im Exil – in die verbotene Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) ein. In gemeinsamen Zusammenkünften, Diskussionsabenden und Kontakten zu türkischen Kommunisten setzt sie sich im Rahmen des Is49 Bei den Briefen handelt es sich um Fotokopien einer Auswahl der Briefe Traugott Fuchs an Dr. Rosemarie Burkart aus den Jahren 1958-1997 aus dem Privatarchiv Dr. Martin Vialons. Die Briefe stellte Rosemarie Burkart Dr. Martin Vialon zur Verfügung. 50 Siehe: Anne Dietrich, 1998; Haymatloz, 2000; Verfolgte Romanisten- Biobibliographische Dokumentation, in: Deutsche und österreichische Romanisten als Verfolgte des Nazionalsozialismus, 1989. 176

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tanbuler KPÖ Kreises für den Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime ein. In der Emigration lernt Burkhart schließlich ihren Ehemann, den Journalisten Kurt Heyd, kennen. Als dessen Vertrag in Istanbul ausläuft, kehrt sie gemeinsam mit ihm 1942 nach Deutschland zurück. Ihre Rückkehr begründet Heyd-Burkhart mit der Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den dortigen politischen Verhältnissen. Eine Möglichkeit für die Fortsetzung ihrer wissenschaftlichen Karriere findet Rosemarie Burkart nicht mehr. Aufgrund ihrer türkischen Sprachkenntnisse betätigt sie sich zunächst bei der Zusammenstellung eines Nachrichten- und Musikprogramms für die Türkei in der Rundfunkabteilung des Auswärtigen Amtes. Von 1946 bis 1993 unterrichtet sie freiberuflich an der Volkshochschule und TH Darmstadt, hält Vorträge und übernimmt Dolmetschertätigkeiten. Gleichsam wie Traugott Fuchs hatte auch Rosemarie Heyd-Burkart keine Integrationsschwierigkeiten in der Türkei und nutzte die Möglichkeiten zur Entdeckung von Neuem, die ihr das Land bot. In einem Interview 1999 erklärt sie: »Man hat sich zwar mit wenig Geld durchgewurschtelt, hat türkisch gegessen usw. Aber man hat sich angepasst und ist gern dagewesen. Für mich ist Istanbul eine zweite Heimat, immer noch«.51 Diese positive und offene Haltung für das Aufnahmeland, für dessen Geschichte und Kultur teilte auch Fuchs. So finden sich in der Auswahl der von 1958 bis in die 90er Jahre datierten Briefe von Fuchs an Heyd, ausführliche Schilderungen jener Dinge, von denen der Verfasser der Briefe überzeugt ist, dass sie der Empfängerin bekannt sind: Landschaft und Natur, gemeinsame Bekannte, vertraute Begebenheiten, Alltag und Lebenssituation. Sie vervollständigen die Interpretationen der Rezeption der kreativen Arbeit Traugott Fuchs. Die Briefe vermitteln nicht nur einen Eindruck von der spezifischen Lebenssituation des Traugott Fuchs, sondern dienen zudem als Zeitzeugnisse: In ihnen spiegelt sich die Entwicklung der modernen Türkei und die Wahrnehmung dieser durch Fuchs wider.

D i e n e u e H e i ma t Der Neuanfang für Traugott Fuchs in der Türkei gestaltet sich einfach, da sich das Land in einem Prozess des Umbruchs und Wertewandels befindet, indem der junge Wissenschaftler eine Chance erhält: Er unterrichtet Französisch an der Fremdsprachenschule der Istanbuler Universität, spä-

51 Zitiert aus: Haymatloz, 2000. S. 68. 177

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ter Germanistik an der Philosophischen Fakultät derselben Universität, dazu Deutsch und Französisch an dem Robert College, aus dem 1971 die Bosporus Universität hervorgeht. Seine Arbeit und sein Arbeitsumfeld in Istanbul gestatten ihm, das mit der Emigration verbundene Gefühl des Verlustes der Heimat der sprachlichen und kulturellen Wurzeln zu kompensieren: […] Ich hatte da volle Verpflegung und genoss vom Fenster aus eine fabelhafte Aussicht auf das Küçük-Su Tal, lebte geborgen in der guten, brüderlichen Nähe einer wunderbaren Zeder und sozusagen persönlich geschützt durch Atatürk, dessen Büste direkt unter meinem von üppigen Glyzinien umgebenen Fenster stand. Das war gewiss eine der glücklichsten Zeiten meines Lebens! Und ich war verliebt in die strenge und die Seele läuternde Schönheit Anatoliens, das damals noch nicht durch den Tourismus entstellt war, es schloss zwar einige Nachteile mit ein, bot aber viel wichtigere Vorteile: in Anatolien selbst in primitiver Form zu reisen, war immer ein persönliches Abenteuer und Erlebnis, und ich war immer überwältigt von der grosszügigsten Gastfreundschaft der Leute, wohin ich auch kam. […]52

Mit »da« bezeichnet Fuchs seine Räumlichkeiten, die er am Bosporus gelegenen Robert College53 bewohnt. Symbolhaft drückt er seine Lebenssituation in der Türkei aus: Atatürk hat mit den Modernisierungsmaßnahmen des türkischen Bildungssystems ihm, dem Suchenden, eine neue Heimat gegeben. Die Reize der neuen Heimat sieht der Emigrant insbesondere in der noch unberührten Natur und der Ursprünglichkeit sowie Natürlichkeit seiner Menschen. Die »Vorteile« Anatoliens dienen Fuchs als kreative Impulse, die er nach 1940 in der Poesie und Malerei verarbeitet. Sie helfen ihm, die (schmerzliche) Erfahrung der Emigration und das Gefühl des »Fremdseins« aufzuheben. Auch in den Briefen Traugott Fuchs an Rosemarie Heyd dominiert die Schilderung der Natur Istanbuls. So schreibt er am 7. April 1958: […] Der Frühling auf den Hügeln ist weiterhin entzückend, die Stadt selbst modernisiert, hässlich abgebrochen und mit riesenbreiten Strassen und Plätzen versehen, alles – unproduktiv – auf den Präsentierteller billigster touristischer – Fotographierkunst – gelegt, verstaubt, nackt in seelenloser Leere […]. Asphalt bald zu beiden Seiten des Bosporus. Selig, die noch ein Eulenleben in einem alten puritanischem Steingemäuer, mönchisch, aber vom kühlen Saft der Bäume umgeben, und auf den warmen Hügeln vom Thymiangeruch umfächelt, ins Blaue blicken dürfen. Aber bald ist auch das aus. 52 Fuchs, Traugott: Kurzer Lebenslauf, in: Bilder der Sehnsucht. 2001, S. 36. 53 In seinen Briefen benutzt Fuchs die Kürzel R.C. zur Bezeichnung des Robert College. 178

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Fuchs schätzt die von der Zivilisation unberührte Natur, wie sie sich ihm am in seinem Wohnort am Bosporus bietet und die er bereits von der voranschreitenden Verstädterung als bedroht sieht. Im Zuge der Modernisierungsmaßnahmen in der Türkei hatte Atatürk 1936 den französischen Architekten und Stadtplaner Henri Prost beauftragt, Pläne für eine neue Infrastruktur in Istanbul anzufertigen. Auf diese Weise sollte die Bosporusmetropole den Anforderungen moderner Stadtentwicklung gerecht werden. Der von Fuchs beschriebene »Asphalt zu beiden Seiten des Bosporus« bezieht sich auf den, Ende der 40er Jahre einsetzenden Bau der Uferstraßen, welche die ehemaligen, an der Meerenge gelegenen und vorrangig von den Angehörigen der griechischen, armenischen und jüdischen Minderheiten bewohnten Fischerdörfer mit der Stadt verbanden. In allen vorliegenden Briefen an Heyd widmet sich Fuchs der Beschreibung der Natur und dem gesamten äußerlich wahrnehmbaren Erscheinungsbild des Südens. Sein Interesse gilt der Vielfalt der Vegetation und der Ursprünglichkeit der Landschaft, wobei er jedes noch so kleine Detail nicht ausmisst: […] Von hier wäre von mir aus: Die ewige Schönheit der Landschaft, des Wassers und der Himmel, die intensive Blüte der Judasbäume, der süsse Duft der Glyzinien, der heriosche Kampf der Inseln gegen geräuschvoll rücksichtslose Überstädterung, bei schamloser Enthüllung der häßlich modernen Stadt zu erzählen. Der Flieder blüht auch bereits […] Im Hinblick auf das Grünende und Blühende und all das, was im Lichte das Gute zustande bringt, grüsse ich – Weltfreund – Sie vom Herzen. […]54

Fuchs tritt in seinen Briefen hinter seiner stimmungsvollen Darstellung der Landschaft und Vegetation zurück. Als über sich selbst erwähnenswert erachtet er weniger die alltäglichen, persönlichen Erlebnisse, sondern seine Wahrnehmung der Stadt am Bosporus als eine kostbare, phantastische Welt, die es festzuhalten gilt.

Deutschland, eine fortwährende Wunde Die traditionelle Definition von Heimat als das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem geographischen Ort, einem historischen Erbe und seinen Menschen findet sich bei Traugott Fuchs nicht. In einem Brief an seine Eltern im Jahre 1939 reflektiert er seine mangelnde Verbundenheit mit Deutschland: 54 Brief vom 1. Mai 1958. 179

SCHICKSALE: REGIME UND HANDELNDE

[…] ich habe keine andere Wurzel als meine Sehnsucht nach Liebe und Wahrheit […]. Es mag wohl eine Charakterschwäche von mir […] und indem Bewusstsein meines Unglücks begründet sein, dass ich mich wenig nach irgendwo Deutschland sehne, obwohl es hier nicht ideal ist. […]55

Fuchs gelingt es, sich umgeben von einem internationalen Freundeskreis, mit seiner Kunst und seiner Lehrtätigkeit einen Platz in der Emigration zu schaffen, in dem er sich »heimisch« fühlt. Seine Schwierigkeiten in der Türkei sind existentieller Natur, wie auch in den folgenden Passagen aus den Briefen Traugott Fuchs an Rosemarie Heyd deutlich wird: »Robert College 8. März 58 (Dies kann nur Fuchs sein) Also: Wie geht’s: Nasılsınız? Es ist schwer, den Eingang und Wiederanschluß zu finden nach so langen, jeden einzelnen mit so verschiedenen Schicksalen bebürdenden Jahren. Es würde vielleicht, trotz der in unserem Alter dauerhaft gewordenen Erinnerung, in den die die beiden Rosen mehr oder weniger traumhaft – je früher desto traumhafter mit all dem nur von Proust tangierbaren –virtuell tangierbaren – Düften, Farben, Schleiern, Tonfällen, Minen, Moden und Unwiederholbarkeiten wiederkehren –auch wohl immer noch nicht, auch trotz vereinzelter legendär oder wahrhaftig verklärend hertröpfelnden Nachrichten nicht geschehen sein, wenn ich aufrichtig sein soll, wenn ich will, müsste. Wiederholt gab ich allen Sie verehrenden Schülern von Ihnen , nun bereits bestellte Familienväter, Ihre Adresse, die sie beinah noch leidenschaftlich verlangten: ich hoffe, dass man Ihnen auch nett geschrieben hat, sonst war es nur eine »numera«56 und mehr Wort als Tat. –Aber nun falle ich mit meinem »Muss« Ihnen ins Haus, wie das Leben uns ins Haus fällt, nur viel harmloser, und verspreche, am Schluss wieder lieb, höflich und nett zu sein, wie sich’s gebührt. Lieber so, als dass nach langen Palavra mit einem interessanten Anliegen herausrücken! Das hiesige Konsulat bemüht sich, in Anbetracht meiner Lebensinsekurität (summarisch gesprochen) um eine Art »Wiedergutmachung« für mich. Bis jetzt ist nichts dabei herausgekommen, da ich ja nicht staatlich angestellter Assistent in Köln war, sondern nur ein aus einer Spitzer frei zur Verfügung stehenden Kasse Bezahlter, und auch keine entsprechenden Diplome vorweisen kann. (Ja, die »Diplome«!) Trotz der allernettesten und wärmsten Bescheinigungen von Spitzer, mit dem ich schändlicherweise […] auch bei der Gelegenheit wieder

55 Zitiert nach: Haymatloz, 2000, S. 170. Der Originalbrief befindet sich im Privatarchiv Hermann Fuchs’. 56 Anmerkung der Autorin: »numera« bedeutet in der türkischen Sprache »Täuschung«. Der Ausdruck wird verwendet, wenn jemand etwas vorgibt, dass nicht dem eigentlich Gefühlten entspricht. 180

HEIMAT IM EXIL

Kontakt fand, es war aber eher eine profunde Scham, ihm keine Frucht getragen zu haben als Undankbarkeit, : »keine beweiskräftigen Unterlagen«. Nun probiert der Konsul für mich etwas anderes. Dafür wird aber von Deutschland – zur Entscheidung – neben einer eidestattlichen Erklärung von mir Zeugenschaft anderer für die von mir schon einmal geschilderten Vorgänge am Roman. Seminar verlangt. Elena konnte nur bezeugen, dass ich von der SA abgeführt wurde, hat es aber nicht selber gesehen, und dass ich kurz darauf von der Liste der Arbeitskräfte am romanischen Seminar einfach gestrichen wurde: Sie aber könnten doch bezeugen, (Wissen Sie noch Einzelheiten?) dass ich mit meinem Namen die Einladungen, den Text unterschrieben, gebürgt habe. Sie waren doch morgens bei der Verhaftung im Seminar dabei, nicht? Und könnten doch, es wäre sehr nett von Ihnen, etwas Kräftiges bezeugen! Ich freue mich noch jetzt darüber. Als noch immer etwas Hölderlinische (!) Natur trauere ich weniger um das Leid des Lebens als um ….afts an prägnanter Gelegenheit, rein in den Reigen der Tat für das Ideal eingetreten. Spitzer […] nannte mich ja damals einen Orgiastiker der Reinheit und noch unlängst – vor einigen Jahren – durfte ich an einer […] genialen Hölderlingedichtinterpretation hier unter (!) Rektoren, Assistenten und Dozenten vor Prof. Fricke – jetzt ja auch Wirtschaftshochschule Mannheim, Sie werden es wissen! – gehalten, […] ,da ich kürzen sollte, und […].infolgedessen vorgeschlagene Publikation unterblieb. Würden Sie das, wessen Zeuge Sie waren, mir in ein bisschen offizieller Weise, mit Stempel oder so, so wie’s Elena auch gemacht hat, bescheinigen können? Es geht von hier nach einer Eideszeremonie an den Regierungspräsidenten zu Köln .[…] -Im Voraus herzlichen Dank für den auf jedenfall nun wiederstattfindenden Wiederanschluss! Da es ein Jammer ist, dass man nicht alleine sich wie geträumt dennoch (!) noch hochgearbeitet (!) hat, aber dann kamen ja die diversen herzzerbrechenden (!) Unfälle, […]. Der Tod ihres Kindlein hat mir sehr leid getan. Wie schön, gut und tapfer von Ihnen, Ihre Kräfte nun anderen Kindern zuzuwenden! Haben Sie ein oder zwei Adoptivkinder? (»Kint« konnte früher Singular und Plural sein) –Wie man so hört, sind Sie dauernd irgendwie tätig, Radio, Reden, schreiben Sie auch? Und eine Freude ist es zu hören, Sie hätten noch immer Ihren Charme behalten! Noch immer schwärmen hiesige Schüler und Schülerinnen von Ihnen! Wie es auch dann rein-Menschlich.en in Ihnen aussieht, wissen wir nicht genau. Die letzte Zeit Ihres Hierseins hat uns sehr verwirrt. – Vor […] dem Tod bleibt nur das rein Menschliche. – Ich selbst bin noch an der Fakultät (deutsche Sprachgeschichte, ein bisschen moderne Literatur) und Deutschlehrer am Robert College, wo ich auch ein einem etwas dunklen aber komfortablen (für meine Begriffe .) Raum, als »Outsider« eine Ausnahme, mit Büchern, Bildern und einem Rappelklavier lebe z.T. verköstigt, schlicht gewärmt und bewaschen, mit einer Spur täglicher Sekurität angetan. Was jetzt verhindert, dass ich – fast kann ich sagen bis gestern – seit August […] und vor 2 Wochen am Bauch operiert wurde, ich weiter die mir vorbestimmten Anfälle erleide.[…]. […]Die Natur ist nach wie vor herrlich. […] Schon blühen die Obstbäume […].

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SCHICKSALE: REGIME UND HANDELNDE

Wie auch aus dem Brief hervorgeht, lebt und arbeitet Traugott Fuchs unter bescheidenen Umständen. Da er keinerlei Rente oder finanzielle Zuschüsse aus Deutschland erhält und seine Einnahmen mit seinem Gehalt aus seiner Lehrtätigkeit begrenzt sind, bemüht sich das deutsche Konsulat in Istanbul, um eine Art Alimentation für den durch das NaziRegime geschädigten Emigranten. Für Fuchs eine »Wiedergutmachung«. Die Beweise für die Motive seines Exils fordert Fuchs von seiner Freundin Heyd, mit der er offensichtlich nach einiger Zeit erneut in den Briefkontakt tritt (»Wiederanschluß«). Während er an die Vorgänge erinnert, die zur seiner Entlassung führen, bekräftigt er nochmals die »Richtigkeit« seiner Tat, für das er das »Leid des Lebens« in Kauf nimmt. Fuchs »Leid« gründete u.a. auf dem Verlust seiner Dissertation, die bei einem Wohnungsbrand Ende der 30er Jahre verbrannt war. Obgleich er an der Istanbuler Universität ohne Doktortitel zum Rang eines »Assistant Professors« erhoben wurde, empfand er den fehlenden akademischen Abschluss stets als seinen Mangel (»profunde Scham, ihm keine Frucht getragen zu haben als Undankbarkeit.«). Implizit übt Fuchs Kritik an der Bürokratie in Deutschland (»Ja, die »Diplome« […] »keine beweiskräftigen Unterlagen«). In dem mit 4. April 1958 datierten Brief erinnert Fuchs nochmals an das Dokument, in dem Heyd Zeugnis über die Ereignisse, die zu seiner Emigration führten, ablegen soll. Verunsicherung über die ausbleibende Reaktion seiner Freundin veranlassen zu der Annahme, dass er einen Fehler begangen haben mag, ohne dass ein erkennbarer Grund dafür besteht. Liebe Rosi, Da ich gar keine Nachricht von Ihnen erhalten, schliesse ich daraus: entweder, dass Sie verzogen sind, oder: dass ich Sie verletzt habe – in Fehlleistungen bin ich ja von altersher, wie Sie wissen, gross – es täte mir aber leid und ich bitte Sie dann tausendmal um Entschuldigung! Oder: Sie haben aus irgendeinem Grund überhaupt etwas gegen die ganze Sache einzuwenden: Das täte mir auch leid, denn wir haben damals als Kameraden gehandelt und zwar in einem Gefühl, dessen Wut wohl kaum zu schmälern ist und nie zu bereuen. Im letzten Falle bitte ich nur um Ihre Benachrichtigung, dass Sie mir Ihre Zeugenschaft verweigern, Im vorletzten um etwas mehr – zum Wiederwarmwerden – ein menschlich sehr Wichtiges, meine ich – im ersten – um Ihr Wort frei und klar, damit ich weiss, woran ich bin – ich habe neulich von Ihrer Fatma geträumt. Die Hügel stehen im einem traumhaften Papatya57 und Ihre Zigeunerinnen rufen wie ehedem […].

57 Anmerkung der Autorin: Margeriten 182

HEIMAT IM EXIL

Alles Gute Ihr Fuchs

Drei Tage später erfolgt ein weiterer Brief an Heyd, aus dem Erleichterung über die wahren Gründe der verspäteten Antwort klingt: 7. April 1958 Meinen aufrichtigen Gruß tiefer Erleichterung sollten Sie, Beneidenswerte auf den klaren Skihöhen […], Könnte ich zwar, an Kummer gewöhnt, eine Entfremdung (!) von früherer Kameradschaft fatalistisch, und durch diese Erlebnisse systematisch abgestumpft (!), blindlings verschmerzen, so tut es mir immer wahrhaft weh, wenn eine menschliche Beziehung durch irgendeinen Grund […] wirklich getötet wird. (Das riesige Friedensbedürfnis der kreatürlichen Seele.) Begrüsse schon voll Freuden Ihren »sympathischen« Gruss, der mir eine stumme Misere mehr erspart, wünsche, dass Sie erfrischt rückkehren, und unter anderen Tageslasten auch die reinigende Erinnnerung an alte Vorgänge – möglichst unmühselig leisten mögen und mir in Gemütsruh, was Sie wissen bezeugen (!). Ich brauche es zwar, aber, subjektiv gesprochen, ist mir die Möglichkeit weiterer Harmonie in Grüssen und Gedenken – bei der Gelegenheit ! – beinah noch wichtiger – Es würde mich sehr freuen, auch etwas über Sie, Ihr(e) Kind(er), Ihren Mann zu hören. […] Aber – es geht auf Mitternacht – 1000 Dank und einen herzlichen Gruss Fuchs

Überschwänglich reagiert Fuchs als er schließlich die Bestätigung von seiner Freundin erhält: R.C. 1.Mai 1958 Was lange währt, wird endlich gut: ja noch viel schöner als erahnt: Sie haben mir ja ein herrliches Dokument geschickt, wofür ich Ihnen beim Gesang der Nachtigall, die vom Abend bis zum Morgen unermüdlich eindringlich singt, herzlich danke! Sollen all diese guten, treuen freundschaftlichen Bestätigungen als da sind Leli, Elena (58) und Sie ja zu einem praktischem, positiven Ende führen, erzähle ich es gewiss sonst schwimmt es eher stumm, in schöner vergänglicher Freude den tiefen inhaltsreichen Strom des Unerreichten, Versagten und Versehenen mit hinab. (Nicht das Dokument, das sicher in irgendeine Schublade wohlbemerkt ein Mumiendasein führen wird, nachdem es in meinem 58 Ehemalige Assistentinnen Spitzers, die ebenfalls nach Istanbul vermittelt wurde. 183

SCHICKSALE: REGIME UND HANDELNDE

Herzen einmal Freude, Hoffnung und Dank ausgelöst hat.[…] Ich hoffe, dass die Bescheinigung nur die ca. 10 DM gekostet haben, die ich Ihnen, dankbar für Ihren Zeit- und Erinnerungsaufwand, von Deutschland her zustellen möchte, und nicht etwa 500 […]. Nun kann meine hiesige eidesstattliche Erklärung losgehen, aber der Konsul hat gewechselt und es wird eine schwierige Sache werden. […] Wie geht es Ihnen? Hätte gern auch mal was von Ihrem persönlichen Leben gehört, es soll Sie aber nicht mühen. Da ich aber ein (mütterlicher) Kindsmann bin und seit Çorum alle kleinen, besonders Damen und Kinder aus dem »Volk« male als die schnippischen armenischen […] und Gören meine – innigen – Freunde sind, hätte ich wenigstens gern gewusst, ob Sie Ihre Mütterlichkeit und Güte zu 1 oder 2 Adoptivkindern getrieben hat, und ob Ihre Erfahrungen Sie sehr beglückt haben. […] meine Karität hat es außer einmaligen Hilfen Dienern gegenüber, nur zu mehrmaligen Errettung eines lieben […] Hündchens gebracht, um dessen Leben und Anerkennung ich seit 2 Jahren auf dem Kampus kämpfe, und der durch einen »Veterinär« aus der Stadt gegen Tollwut geimpft werden wird. […] grüsse ich – Weltfreund? – Sie vom Herzen und Danke! Fuchs

Am 3. Mai 1958 schreibt Traugott Fuchs: Liebe Rosi! Das war nun so seelenlos von mir: Einfach das Dokument aus dem länglichen Kuvert herausgenommen und weiter gar nicht in die Tiefe bis auf den Grund geguckt! Gewundert hab ich mich allerdings über das so gut gemachte, aber persönlich so Wortlose (!?) […] Was sehe, […] ich nun heute bei Lampenlicht drein?! Sie müssen mir nun verzeihen […] wie ausführlich und schön haben Sie erzählt! Ich kann mir nun ein Bild machen. […] Besonders haben mich die Kindernachrichten gefreut: Den ganzen Abend, jetzt, vor Entwicklung (?!) Ihres Briefes, hab ich Leuten von meinen, Çorumer Kindererlebnissen erzählt, […]Dann […] eine kleine Türkin sang aber phantastisch! […] Habe darauf noch »zu hause« in meinem College-Zimmer, aufg… weiter wühlen müssen – eigentlich fühle ich mich bloss im Rauch der Kunst, naiver Liebe oder in der Natur wohl; […] toller […] Vollmond, riesenfroh erhob er sich über dem dunklen Kandilli voller Geblätter, violetter Judasbaumfarbe, ins Unmögliche verlacht vom starken Duft der lila Glyzinien, nachmittags lag ich im strengen Grund regendurchfrischter Kräuter und Gräser versteckt an der Mauer, versuchte von Geschichten zu träumen, mir den schönen Augenblick, […] sorglos stumm wenn auch alleine so doch lüßtlich inmitten lachender Papatya zu ruhen so recht – dies und mehr nicht! Aber dies! Kurze […] klar zu machen-schlief aber traumlos […] .aus der Tiefe erfrischt. – was viel schöner war. Ihnen dann zum Dank einen besonders »schönen« Brief schreiben wollte. Aber was kann Sie von mir interessieren? Die Einsicht, dass die Sehnsuchten zu einem üppigen 184

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dabei kühlen und klaren Frühlingsabend […] ins Unbestimmte gehen, und dann nicht sich an all die Personen knüpfen, die als Gegenstände eigener Glut einen enttäuscht haben – in einem Bereich, dass keinem Namen und keinen Begriff hat, dass ausser in Extasen das Leben mir eher qualvoll erscheint – ist wenig geeignet, Achtung oder Zustimmung zu erwecken, und doch ist es ein kostbares Geständnis – des ewig Unentschlossenen – wir träumen von dem rätselhaften Tal der Expansion, das hinter der allzeit sehr sicht- und fühlbaren Fesseln des Geschicks ruhte […] Jetzt soll viel Musik steigen , Gesang und Geigen. […] Spring Vocations […] man kommt so schnell nicht wieder rein, aber zum Musizieren allein oder gemeinsam sind die Wochenenden ganz geeignet. Nächstens soll an einem Nachmittag bei Frau Schwarz […] aufgetreten werden. – Abstrakte Malkunst bewundere ich ,aber, was gemeint ist, es spricht aber nicht zu meinem süchtigen, unreifen Herzen, und macht sich, es sei denn Poesie dabei, wie bei Paul Klee, nur harmloser. Ich möchte den süssen schauerlichen Erdengesang, den die heidnischen Musen zum Entsetzen der christlichen Heiligen am Eu…von G. Kellers letzter Legende im Himmel anstimmen, nicht missen, oder(das ….mütig …inige) , Abschiednehmende … Niewieder , da (griechischen …) Einmal begeisterte mich fast jeder in Athener Museen so, dass (ich jed…) Erzählung pries: Dann aber verlor ich die nie wieder aufleuchtenden Worte, das gesamte Notizbüchlein in der Hitze auf dem Akropolis. Nur selten ist mir gegeben, geboren zu sein. – auch höre ich von Freunden hier von Fällen der Adoption. Einmal wird es schwierig sein. Die Eröffnung. Es scheint, dass viele es sich sehr zu Herzen nehmen. Viel gleichbleibend intensive Liebe Zartheit und ein hoher Sinn ist da nötig: Ich wünsche Ihren Eltern ein Gutes Überleben der Klippen. Glaube zu fühlen, dass Sie mit der Verschiedenheit Ihrer Kinder glücklich sind und sich an ihrem Leben freuen. Kinder verhindern das Gefühl, nicht geboren zu sein! – Das Dokument, das meine volle Zustimmung fand, und Sympathie wegen der Zugeständnisse, .anden nicht mehr glauben zu wissen – kein Kitsch – ist (G…) vorgelegt, hier für nützlich befunden aber ein Lot von Formalitäten noch vonnöten. Höchstes Ziel des Konsuls, ein kleines Sümmchen (für ein grosses Gefühl) als »Entschädigung« für irgendwas rauszuschlagen. Wäre doch mein Herz in Sicherheit, so würde ich dies alles mit viel Humor behandeln, so hat’s einen säuerlichen Beigeschmack von Sicherheits (.?) Ersatz – Kennen Sie unseren jetzt auch an der Wirtschaftsschule in Mannheim anmtierenden Prof. Fricke (Germanisten!!) (59Wie hübsch, dass Sie Hilde-

59 Prof. Gerhard Fricke übernahm 1950 den Lehrstuhl für Germanistik. Zuvor musste er 1945 im Rahmen der Entnazifizierungsmaßnahmen seine Lehrtätigkeit in Deutschland einstellen. In einem Sprachkammerverfahren wurde er 1948 als »Mitläufer« eingestuft. Siehe dazu: Schnabel, Gudrun. Gerhard Fricke- Karriere eines Literaturwissenschaftlers nach 1945, in: Petra Boden; Rainer Rosenberg (Hg.), Deutsche Literaturwissenschaft. Fallstudien zu Institutionen, Diskursen, Personen. Berlin: Akademie-Verlag, 1997 (Literaturforschung herausgegeben für das Zentrum für Literaturforschung von Eberhard Lemmert). S. 61-75. Traugott Fuchs war über die Einstellung 185

SCHICKSALE: REGIME UND HANDELNDE

rose alle Halbjahr mal sehn, so schlank wie einst? – ein beständiger Schimmer auf dieser rollenden Erde! Aber so […] sensibel fröstelnd steht sie gewiss nicht mehr in einen schleierhaften Schal gehüllt.[…] Ihr 1000 Grüssse […]. Ich war letztes Jahr im September auf der Rückreise auch in Frankfurt, bin aber auf jeden Hal…missmutig zum Roten Kreuz oder zum Arzt ge.scht, weil mir auf der Hinreise in Venedig irgendein […] Insekt auf den Buckel gebissen hatte und ich einen hässlichen Karbunkel, nach ….Operation eine … von … überall mit mir herumschleifte und ich wenig Lust hatte, Leute zu sehen. Über 6 Monate ich daran, alles versagte, bis mich ein junger türkischer Schönheitsoperator-spezialist, innerhalb kurzer Zeit heilte. – So habe ich im Frankfurt einen älteren, etwas missmutigen Arzt kennengelernt, der sich für türkische Briefmarken interessiert. So, Rosi, nun schicke ich Ihnen zum Gruss und Nachdank den Duft des Bosporus mit seinem schönen Drum und Dran, die Nachtigall fährt natürlich vorläufig noch fort und der Mond ist, kahl und klein , irgendwie in die Höhe gestiegen, uns allen […] .die Dinge wünschend, die uns an den Orientalen überlegen sind – manches: Die Gier und den Fetisch der Materie, die Hast zum Vergnügen, nicht zu festlicher, antwortgebender Freude, fand ich grässlich in Worten und die … chen, wahrheits- und gewissensstrenge Haltung meiner überreizten und überspannten Schwester aus Ost war mir beihnah lieber – meine Athener Schwester und ich, wir luden sie zu uns in den Süden ein (Juli, August), und den Spruch: emin olun60, dass ich sie bei der nächsten Deutschlandfahrt in Ihrer Familie besuchen werde, nicht erinnert, aber in alter, echter Art Ihr Fuchs

Auch in den 80er Jahren besteht der Briefwechsel zwischen Traugott Fuchs und Rosemarie Burkhard. Jedoch dominieren Schilderungen über Altersgebrechen, Verlust und »Rückblick« auf das »Vergängliche« die Korrespondenz Fuchs´. Immer wieder reflektiert er seine Situation als »Verbliebener Emigrant«. 14.7. 81 Liebe Rosi! Gestern noch auf dem Vortrag von Prof. Neumark61 im Deutsch-türkischen Frickes in Istanbul »verbittert«, zumal Fricke über die akademischen Titel verfügte und somit die von Fuchs durchgeführte Bemühungen beim Aufbau der germanistischen Abteilung später für sich beanspruchen konnte. Dennoch habe Fuchs nie explizit dazu Stellung bezogen, wie mir Dr. Hermann Fuchs, ein Neffe des Emigranten, in einem Gespräch am 15.05.2006 mitteilte. 60 Anmerkung: türkisch für »seien Sie versichert«. 61 Der Nationalökonom Fritz Neumark emigrierte nach seiner Entlassung in Deutschland 1933 im Auftrag der türkischen Regierung in die Türkei und lehrte bis 1952 an der Istanbul Universität. 1980 erschien sein autobiogra186

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Kulturzentrum in »Odakule« in der Istiklal Caddesi – als auch ich ihn, im Anhang vieler alter Freunde begrüsste, bestellte er mir Ihren Gruss, für den ich Ihnen sehr danke und erzählte mir, dass Sie vor 2 Wochen Ihren Mann verloren haben: Das tut mir sehr leid, und ich Ihnen mein herzliches Beileid ausdrücken. ! Basınız sagolsun! Sagen. Was mag er wohl gehabt haben? Herz? Dies konnte ich nicht mehr erfragen, die stürmische Welle … enger Bekannten trug ihn fort, und ich sowieso bewegt aus mancherlei Gründen: sich beiderseits so zu verhalten als zu sehen und … mich zu weinen (??) Frau N. erkannte mich nicht, er staunte über meine Briefe – wo waren die strahlenden blauen Augen – jetzt nervös brennend – hin? – …. die hohlen Wangen – ja, auch ich hab meine (Alters-) Sorgen konnte ich nur stottern, ein anderer hielt mich für Marchand62, ein dritter hatte meinen Namen vergessen – das kommt bei grossen Kanonen ja nun nicht vor – . R.H. 22. Dezember 82 Liebe Rosi, Eine kurze Frage: Sie leben doch noch? Eva Buck verstarb am 16. Oktober, ein Opfer des bösen Tiers […] Bleibe ich als letzter Mohikaner aus dem Spitzerkreis, noch hier lebend und […] letztes Semester doch wohl arbeitend […] wenn Sie mir nicht – bitte bald – schreiben, dass Sie leben. Dieckmanns hoffentlich auch noch in Amerika- wo ich- übrigens, im letzten August, von sagenhaft grosszügigen Freunden eingeladen – 20 Tage lang war und wo ich viel Interessantes vor allem herrliche Museen gesehen habe, auch Clemens Auerbach [63] in Long Island sah, mit dem ich aber keinen so richtig warmen Kontakt bekam, trotz eine Menge schöner Photos aus der Spitzerzeit […]. R.H. 17.1.91 Liebe Rosi, Alles Gute zum Neuen Jahr! Ihr seit 83 lehrend nicht mehr arbeitender aber noch lebender türkischer orta

phisches Buch: »Zuflucht am Bosporus«. Bei dem von Fuchs angegebenen Vortrag des ehemaligen NS-Flüchtlings handelt es sich auf die Vorstellung seines Buches im deutsch-türkischem Kulturzentrum in der Istanbuler Neustadt, aus der das Goethe-Institut Istanbul hervorgegangen ist. 62 Der Romanist Hans Marchand war 1934 mit seinem Professor Leo Spitzer nach Istanbul emigriert und lehrte bis 1953 an der Istanbul Universtität. 63 Sohn Erich Auerbachs. 187

SCHICKSALE: REGIME UND HANDELNDE

úekerli kahvetrinkender64 hier letzter Mohikaner jener schicksalhaften Emigrationszeit. Ihr Fuchs Das Bild zur Erinnerung (Anmerkung: auf der Karte Universitätsplatz in Istanbul)

In der Korrespondenz zur Heyd offenbart sich die Feingeistigkeit und Empfindsamkeit Fuchs. Auffällig ist die hypotaktische Erzählstruktur in seinen Ausführungen. Je nach Stimmungslage überschwänglich, und von seinen Emotionen geleitet, reiht der Epistolograph Fuchs Gedanken aneinander, oft bleiben die Sätze fragmentarisch. Melancholie und Sehnsucht dominieren die Briefe. Selbst das alltägliche Leben schildert er als ein Kunstwerk. Zweifelsohne ist Traugott Fuchs ein Romantiker: Er flieht in seinen Briefen in eine phantastische Welt und sucht die Ursprünglichkeit und Authentizität, die er in nur in der Natur und Kunst zu finden meint (»eigentlich fühle ich mich nur in der Natur und im Dunst der Kunst wohl«). Damit verbunden ist auch seine Hinwendung zu seinem Selbst, die Kultivierung seiner Innerlichkeit und seine Ablehnung gesellschaftlicher Konventionen. Fuchs zelebriert geradezu seine mangelnde Bereitschaft zu Zugeständnissen und sein »Festhalten« an dem, was er für »Richtig« hält (… ich kürzen sollte und Publikation deshalb unterblieb«; »Orgiastiker der Reinheit«). In den Ausführungen Fuchs ensteht ein Türkei-Bild jenseits von Raum und Zeit. Die Empfängerin erfährt nichts über die Ende der 50er wie auch der 70er Jahre sich vorrangig in Istanbul und Ankara ereignenden politischen Spannungen oder gesellschaftlichen Prozesse: Die Studentenunruhen infolge der wachsenden sozioökonomischen Situation und der Druck der damals konservativen Regierungspartei auf Oppositionelle, bleiben von Fuchs, unerwähnt. Dies, obwohl er als Universitätslektor die Geschehnisse unmittelbar verfolgt haben muss. Es scheint als lebe er in seinem »Refugium« am Bosporus, jenseits der »Realitäten« des Aufnahmelandes. Dennoch sagen seine Briefe über Land und Leute aus: Er schreibt von den einfachen Menschen, von »Zigeunerinnen« und einer unterhalb seines Fensters singenden »kleinen Türkin«. Dabei schildert nicht das »Fremde« und »Eigenartige«, sondern betont das Interessante, Schöne und Ursprüngliche an den Menschen. Das von der Modernisierung »verdorbene« lehnt er ab (»schnippischen armenischen […] Gören«). Fuchs’ ehemalige Schülerin und Kollegin, Süheyla Artemel weist in einem Interview auf seine Liebe für die Menschen seines Aufnahmelan64 Mittelgesüßter türkischer Mokka. 188

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des hin. Sie selbst sei oft überrascht über den türkischen Freundeskreis Fuchs’ gewesen: […] als Fuchs in unserer unmittelbaren Nachbarschaft wohnte, beobachtete ich einmal, wie er Besuch von einem Tischler bekam. […] Der brachte einen Stuhl mit. Ich eilte schnell herbei, weil ich verhindern wollte, dass der Tischler den Stuhl zu einem überzogenen Preis an Fuchs verkaufte. Der Handwerker schaute mich nur an und sagte, dass dies ein Geschenk für Fuchs sei. […] er hat uns alle beschämt. Ich begegnete dem Mann später als Fuchs wegen einer Erkrankung für längere Zeit ins Krankenhaus mußte. […] er besuchte ihn häufig. […]65

Mit diesen Aussagen impliziert Artemel zugleich, dass sie als Angehörige des türkischen Bildungsbürgertums, Menschen aus ihrer eigenen Gesellschaft geprägt von Vorurteilen und distanzierter behandelte als Traugott Fuchs. Die Besonderheit Fuchs’liegt in seiner Offenheit für die Einflüsse und Gegebenheiten seines Aufnahmelandes bei seiner gleichzeitigen Verwurzelung in der europäischen Kultur. Er erlernte rasch die türkische Sprache: Dies ermöglichte ihm nicht nur die Kommunikation mit der Bevölkerung, sondern gestattete ihm ein tieferes Eindringen in die Kultur. Darauf aufbauend, zeigt Fuchs Interesse an der Literatur seines Aufnahmelandes und versuchte die Wirkungszusammenhänge geisteswissenschaftlich zu verstehen. Dass diese Offenheit für die Türkei eine Ausnahme war und ist, verdeutlicht ein Interview mit einem deutschstämmigen Istanbuler, dessen Vorfahren 1848 im damaligen Osmanischen Reich einwanderten:66 […] die Deutschen, auch die Professoren hatten mit den Türken wenig zu tun. […] man war unter sich […] die Türken sind halt auch anders , man kann sic nicht richtig anpassen […] und man will ja auch gar nicht türkisch werden […]; meine Schwester hat jetzt eine türkische Schwiegertochter, trotzdem die haben es jetzt schwerer, den Kindern deutsch beizubringen (…); früher war so eine Heirat gar nicht gut angesehen […].67

Gerade die Emigranten beschränken ihre Kontakte zu den Angehörigen 65 Interview mit Prof. Dr. Süheyla Artemel vom 29.09.2003. 66 In den Jahren um und nach 1843 wanderten zahlreiche arbeitslose Kaufleute, Handwerker und Abenteuerlustige aus den deutschsprachigen Gebieten auf der Suche nach einer Beschäftigungsmöglichkeit in die damalige Handelsmetropole Konstantinopel ein. Noch immer lebt eine Gruppe der Nachfahren der als »Bosporusgermanen« bezeichneten Einwanderer in z.T. vierter oder fünfter Generation in Istanbul; (siehe dazu: Anne Dietrich, 1998.) 67 Interview mit W.R. im August 2002. 189

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des Gastlandes auf das Berufliche, da sie ihren Aufenthalt als »vorübergehend« betrachten. Denn trotz des elitären Status´ der Wissenschaftler und ihrer überwiegend positiven Berichte aus dem Exil, waren die Arbeitsverträge befristet. Die höhere Integrationsbereitschaft Fuchs’ ergibt sich aus seiner spezifischen Lebenssituation und seinem Wesen: Als junger Mann zur Emigration »gezwungen«, hatte Fuchs seinen Platz in der deutschen Gesellschaft noch nicht gefunden. Auch hatte er keine Vorstellung über die Gestaltung seiner Zukunft entwickelt. In der Türkei findet er ein Wirkungsfeld vor: die Literaturwissenschaft und die Kunst. Das Land inspirierte ihn, so daß er für vieles eine Begabung entwickelte, jedoch darunter litt, nichts vollständig zu beherrschen, wie auch die Briefe an Heyd aufzeigen, in denen er das Gefühl der Minderwertigkeit andeutet. Er präsentiert sich als »ewig Suchender« und »Sehnsüchtiger«, der im »Süden« sein Lebenszentrum gefunden hat und seine »Uneindeutigkeit« wahren kann. Traugott Fuchs’ Verhältnis zu Deutschland bleibt zwiespältig. Er beklagt implizit das Schnellebige und die Bürokratie dort. Mit Verbitterung kommentiert er die fürsorgliche Behandlung seiner »Wiedergutmachung« in einem Brief an Heyd. Für ihn ist Deutschland eine Kulturnation, die durch den Faschismus für immer beschädigt wurde. Er selbst entwickelt unweigerlich ein neues Verständnis von Kultur, in der er – isoliert von der jüngeren Forschung in seinem Herkunftsland – das Eigene aus seinem europäisch-deutschen Bildungshorizont im Exil verwandelt und weiterentwickelt. Die Korrespondenz mit Freunden dienen ihm als »Informationsquellen«, Impulse und Austauschmedium. Den Empfängern seiner Briefe vermittelt Fuchs ebenfalls Eindrücke und Anregungen aus seinem Umfeld. So wirkt Traugott Fuchs bis zu seinem Tod 1997 als Brückenbilder zwischen der Türkei und Deutschland.

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A N T A G O N I S T I S C H E W EL T A N S C H A U U N G E N I N D E R TÜRKISCHEN MODERNE: DIE BETEILIGUNG VON EMIGRANTEN UND NATIONALSOZIALISTEN AN D E R G R U N DL E G UN G D E R N A T I O N A L P H I L O L O G I E N * IN ISTANBUL KADER KONUK Als Figuren des Exils haben die Romanisten Leo Spitzer und Erich Auerbach in den letzten Jahren im nordamerikanischen wie auch deutschen Sprachraum erneute Geltung errungen. Während der Literaturwissenschaftler Auerbach in Edward Saids Werken durchgängig den Inbegriff des humanistisch verankerten intellektuellen Emigranten darstellt, fügt Emily Apter dem Namensverzeichnis der Emigranten, deren Einfluss auf die Komparatistik in den USA ausschlaggebend war, auch den Linguisten Leo Spitzer hinzu. Was Said und Apter verbindet, ist das Interesse an einer Literaturwissenschaft, die ethisch und politisch verankert ist. Was Auerbach und Spitzer verbindet, ist zunächst der Verlauf ihres Exils über die Türkei in die Vereinigten Staaten. Harry Levin sieht im Istanbuler Exil nichts anderes als eine ›Turkish detour‹ – einen Umweg also, den die Wissenschaftler auf dem Weg von Deutschland in die Vereinigten Staaten einschlagen mussten.1 Betrachtet man jedoch Spitzers dreijährige und Auerbachs elfjährige Lehre an der Istanbul Üniversitesi und ihre ausschlaggebende Rolle bei der massiven Umstrukturierung und Modernisierung der türkischen Universitäten, wird ersichtlich, dass es sich bei Istanbul um sehr viel mehr als nur einen Umweg in die Vereinigten Staaten handelt. Istanbul ist als Ort des Exils nicht etwa minder bedeutend als die Vereinigten Staaten. Vielmehr ist Istanbul der Ort, der beide Romanisten dazu inspirierte, eine Methodik für *

1

Ich möchte mich an dieser Stelle bei Vanessa Agnew und Aye Tekin für die anregenden Diskussionen, sowie beim Deutschen Literaturarchiv Marbach für die Bereitstellung von unentbehrlichem Material bedanken. Harry Levin, »Two Romanisten in America: Spitzer and Auerbach«, in: The Intellectual Migration: Europe and America, 1930-1960, hg. von Donald Fleming und Bernard Bailyn (Cambridge: Belknap, 1969), 129. 191

SCHICKSALE: REGIME UND HANDELNDE

allgemeine beziehungsweise vergleichende Literatur- und Sprachwissenschaft auszuarbeiten. Istanbul ist der Ort, an dem Auerbach nicht nur das einschlägige Werk Mimesis: Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur verfasste, sondern auch ›Philologie und Weltliteratur‹ – den Aufsatz, den Edward Said ins Englische übersetzte und der den Ton für eine komparatistisch angelegte Philologie in der Nachkriegszeit angab. Als Ort des Exils der 1930er und 40er Jahre galt auch der Türkei in den letzten Jahren vielseitiges Interesse. In den 1990er Jahren folgten und begleiteten diverse Publikationen zu diesem Thema Ausstellungen im Orient-Institut Istanbul, im Goethe Institut Istanbul, an der Istanbul Teknik Üniversitesi und an der Berliner Akademie der Künste. Ausgeblendet jedoch von der wiederbelebten Erörterung der Figuren und der Orte des Exils ist die Präsenz von Nationalsozialisten in Istanbul und insbesondere an türkischen Universitäten. Aufgabe dieses Beitrages ist es, den Ort des türkischen Exils in einer Weise zu diskutieren, bei dem die Vielschichtigkeit und die Konfrontation der Interessen von mindestens drei Gruppen sichtbar wird, der türkischen Hochschulreformer, deutschen Emigranten und Repräsentanten des nationalsozialistischen Regimes in Istanbul.

D e u t sc he E i n f l ü s se au f d i e Un i v e r si t ät s r e f o r m 1932 erhielt der Schweizer Pädagogikprofessor Albert Malche von der türkischen Regierung den Auftrag, bei der Reformierung der türkischen Hochschulen nach westeuropäischem Vorbild mitzuwirken. Die nur wenige Jahre zuvor gegründete türkische Republik versuchte mit der Verwestlichung des Bildungssystems die Modernisierung des Landes voranzutreiben. Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938), Begründer und Präsident der türkischen Republik in den Jahren 1923-38, erklärte die Modernisierung und Säkularisierung der Republik zu seinem Hauptziel, wobei er auf die Reformierung der Sprache, Schrift und des Bildungssystems besonderen Wert legte. Diese Beschlüsse bildeten die Grundlage für die Anwerbung von zahlreichen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus Europa und bilden damit die bisher erfolgreichste Leistung in der Zusammenarbeit der deutschen und türkischen Wissenschaft. Die Reformierung des türkischen Wissenschaftsbetriebs und die damit einhergehende Transformation der bedeutendsten osmanischen Bildungsinstitution ›Darül-fünun‹ zu ›Istanbul Üniversitesi‹ im August 1933 fiel zeitlich mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland zusammen. Der Ausschluss jüdisch-deutscher Akademiker an deutschen Universitäten

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durch das ›Gesetz zur Herstellung des Berufsbeamtentums‹ vom 7. April 1933 zwang unzählige zur Emigration. Dieser zeitliche Zusammenfall öffnete die Türen für eine bemerkenswerte und einflussreiche Emigration von deutschen Intellektuellen, die türkische Universitäten auf Dauer prägte. Albert Malche bot sich eine einmalige Gelegenheit: Schätzungsweise 200 deutsche und deutsch-jüdische Akademiker wurden mittels der Notgemeinschaft Deutscher Wissenschaftler im Ausland, die von der Schweiz aus operierte, an türkische Universitäten weiter vermittelt. Philipp Schwartz führte im Auftrag dieser Organisation mit dem türkischen Bildungsminister Reúid Galip im Juli 1933 äußerst erfolgreiche und vielversprechende Verhandlungen über die Anstellung deutscher Wissenschaftler an türkischen Universitäten.2 Beide Parteien schienen bei diesem historischen Moment darum bemüht, der Aufnahme von deutschen Akademikern und Akademikerinnen, der eher einem historischen Zufall als einer geplanten politischen Handlung entspringt, einen besonderen Sinn zu geben. Die Weitervermittlung von Lehrpersonal an türkische Universitäten wurde als Gabe und Gegengabe dargestellt, wobei auf diesem Wege vergangenen wie auch gegenwärtigen Missständen in Europa und der Türkei Abhilfe geleistet, korrigiert und ausgeglichen werden sollten. Die von der Notgemeinschaft in Gang gesetzte Emigration nahm unverhoffte Ausmaße an: Bis zum Jahre 1945 wurde insgesamt ca. 800 Experten und Expertinnen mit ihren Familienangehörigen Exil in der Türkei gewährt – darunter befanden sich Ernst Reuter, Fritz Neumark, Carl Ebert, Paul Hindemith, Alexander Rüstow, George Tabori und Eduard Zuckmayer.3 Als staatlich geleitete Umsetzungsorgane für die Modernisierungsreformen der türkischen Republik ist die Rolle der Universitäten bei dem Aufbau der türkischen Nation nicht zu unterschätzen. Annemarie Schwarzenbach berichtete im Dezember 1933 aus Istanbul für die Neue Zürcher Zeitung, dass Albert Malche zentral für die Durchsetzung der Reorganisation der Istanbul Üniversitesi sei. Sie wies auf die schwierige Aufgabe Malches hin, eine Universität zu schaffen, die selbständiges, wissenschaftliches Arbeiten fördert und als »Zentrum des geistigen Lebens der Nation« eine »geistige Elite innerhalb der jungen türkischen 2

3

Horst Widmann, Exil und Bildungshilfe: Die deutschsprachige akademische Emigration in die Türkei nach 1933 (Bern; Frankfurt a.M.: Herbert Lang; Peter Lang, 1973), 56. Die Türkei spielte auch eine zentrale Rolle bei der Rettung von Tausenden von europäischen Juden vor dem Holocaust. Stanford J. Shaw, Turkey and the Holocaust: Turkey’s Role in Rescuing Turkish and European Jewry from Nazi Persecution, 1933-1945 (Hampshire und London: Macmillan Press Ltd., 1993). 193

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Generation« ausbilden könne.4 Malches Erfolg bei der Vermittlung von anfänglich dreißig deutschen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern drängte den bisherigen Einfluss der französischen Wissenschaft auf die Türkei zurück. Dort hielt man jedoch an der Unabhängigkeit der Wissenschaft von nationalen Einflüssen fest: »Die Universität dient nicht der deutschen oder der französischen Wissenschaft, sondern der Wissenschaft schlechthin« zitierte Schwarzenbach das türkische Bildungsministerium. Auch sie selbst sah in der Modernisierung des Hochschulsystems keine Gefahr des Nationalismus und betonte, dass die wissenschaftliche Sphäre nicht in den Dienst des Nationalismus gestellt werde.5 Selbst wenn dies der Rhetorik des Bildungsministeriums vis-à-vis des anwachsenden deutschen Einflusses auf die Wissenschaft entspricht, stand doch die Reform selbst ganz im Dienste des türkischen Nationalismus. Die Verpflichtung der Studierenden aller Fakultäten der Istanbul Üniversitesi zur Erlernung mindestens einer westeuropäischen Sprache stand im Zeichen der westlichen Orientierung der türkischen Nation und diente der Ausbildung einer intellektuellen Elite. Somit fiel den Emigranten Leo Spitzer und Erich Auerbach bei der Modernisierung der Universitäten eine zentrale Aufgabe zu. Als Leiter der Fakultät für westliche Sprachen und Literaturen an der Istanbul Üniversitesi legten sie die Grundlagen für westeuropäische Nationalphilologien und richteten die Lehrstühle für Romanistik, Anglistik und Germanistik ein. Zwar ist die hohe Zahl deutscher Wissenschaftler an der Istanbul Üniversitesi 1933 ohnegleichen in der Geschichte des osmanischen und türkischen Hochschulwesens, aber die Präsenz deutscher Akademiker an sich war kein Novum. Das Deutsche Reich konkurrierte mit Frankreich und Österreich-Ungarn um den bildungspolitischen Einfluss im Osmanischen Reich.6 Schon vor dem Niedergang des Osmanischen Reiches lehr-

4 5 6

Annemarie Schwarzenbach, »Die Reorganisation der Universität von Stambul«, Neue Zürcher Zeitung, 03. Dezember 1933. Ebd. Siehe zu einem faszinierenden Artikel zu der Frage deutscher und österreichischer bildungs- und kulturpolitischer Aktivitäten im Osmanischen Reich den Aufsatz von Fritz Klein. Darin stellt Klein die These auf, dass die deutsche und österreichische Bildungsexpansion im Osmanischen Reich imperialistische Motive und Ziele hatte. Fritz Klein, »Der Einfluss Deutschlands und Österreich-Ungarns auf das türkische Bildungswesen in den Jahren des Ersten Weltkrieges«, in: Wegenetz europäischen Geistes: Wissenschaftszentren und geistige Wechselbeziehungen zwischen Mittel- und Südosteuropa vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg, hg. von Richard Georg Plaschka und Karlheinz Mack (Wien: Verlag für Geschichte und Politik, 1983). 194

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te beispielsweise der Germanist Hans Julius Werner Richter an der ältesten, größten und bedeutendsten Universität des Landes. Der Orientalist Ernst Jäckh, kulturpolitischer Vertrauensmann des Auswärtigen Amtes, schrieb 1911, dass unter anderem Lehranstalten »die wichtigsten Kanäle Deutschlands [seien], durch welche philanthropische Unternehmungen auch kommerziellen Einfluss gewinnen« könnten.7 Nach dem Ersten Weltkrieg waren deutsche Akademiker und Bildungspolitiker vor allem an der Gründung und Reform der Hochschule für Landwirtschaft und Veterinärmedizin (Yüksek Ziraat Üniversitesi) in Ankara beteiligt und weiteten ihre Beziehungen später im Namen der nationalsozialistischen Bildungs- und Auslandspolitik aus. Bisherige Publikationen zum Thema der akademischen Emigration in die Türkei gehen nicht auf bereits bestehende Kooperationen zwischen deutschen und türkischen Bildungsinstitutionen vor 1933 ein. Diese liefen parallel zu Malches Auftrag, einen Reformvorschlag auszuarbeiten, und wurden keineswegs durch Hitlers Machtübernahme unterbrochen. Dieser Beitrag setzt sich mit der Hochschul- und Wissenschaftspolitik zur Zeit der Reformierungsbestrebungen an der Istanbul Üniversitesi auseinander, bei denen sich nicht nur jüdische und politisch motivierte Emigranten, sondern – zwar in zahlenmäßig geringerem Maße – auch nationalsozialistisch gesinnte Akademiker beteiligten. Für diese Betrachtung empfiehlt es sich, die nationalsozialistische Wissenschafts- und Kulturpolitik in bezug auf die Türkei zu untersuchen, die über das Interesse an den Hochschulen hinausging und das Exil der Emigranten beeinträchtigte. Zu diesem Zweck gehe ich hier auf die Präsenz von Gegnern und Verfechtern des NS-Regimes in Istanbul und insbesondere auf den Einfluss der NS-Germanistik auf die Gründung des Lehrstuhls für türkische Germanistik ein. Bisher unbeachtet blieb die Frage, welchen Erfolg die nationalsozialistische Wissenschafts- und Kulturpolitik in der Türkei verbuchen konnte und wie sich die Zusammenarbeit von nationalsozialistischen Akademikern mit denen zur Emigration gezwungenen Akademikern an der Istanbul Üniversitesi gestaltete. Einen Hinweis auf die heikle Lage, in der sich die Emigrantinnen und Emigranten befanden, verspricht ein Blick in die Geschichte der deutschen Einwanderung in die Türkei und in die deutschen Organisationsstrukturen in Istanbul, die bereits 1933 durch die Verbreitung des Nationalsozialismus radikal umstrukturiert wurden.

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Ernst Jäckh, Der aufsteigende Halbmond: Auf dem Weg zum deutschtürkischen Bündnis, (Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1915), 72. 195

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Deutsche Kolonie Istanbul Als Albert Malche 1932 in seinem Vorschlag zu der Reformierung türkischer Universitäten die Bedeutung der Ausbildung in westlichen Sprachen hervorhob, konnte er nicht voraussehen, dass die Verbreitung der deutschen Sprache über den deutschsprachigen Raum hinaus schon bald eines der Ziele nationalsozialistischer Bildungspolitik im Ausland darstellen würde. Schon zwei Tage nach Hitlers Machtübernahme, am 1. Februar 1933, druckte die Istanbuler Tageszeitung Türkische Post: Tageszeitung für den Nahen Osten einen Leitartikel mit dem Titel ›Deutsch als Weltsprache‹. Der Artikel machte Propaganda für den wirtschaftlichen Nutzen des Erlernens der deutschen Sprache im russischen, türkischen, arabischen und spanischen Sprachraum: »Das würde unseren Interessen in jenen Ländern vorwärts helfen, würde die Bevölkerung dort veranlassen, auch ihrerseits den Deutschen mehr und mehr den Vorrang zu geben«, schrieb der Autor.8 Die Tageszeitung richtete sich an Leser der ›deutschen Kolonie‹ – so die damalige Selbstbezeichnung der deutschsprachigen Bevölkerung in der Türkei. Die Präsenz von Deutschen in der Türkei geht auf die Geschichte enger ökonomischer, politischer und militärischer Beziehungen zwischen dem Osmanischen Reich und dem Kaiserreich zurück. Bereits im Jahre 1850 wurde die Größe der deutschsprachigen Gemeinschaft, von denen zu Beginn die meisten österreichischer Abstammung waren, auf 1000 Personen geschätzt.9 Deutschsprachige kulturelle und religiöse Gruppierungen entwickelten sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts in Istanbul. So wurde 1843 die Evangelische Gemeinde Istanbul, 1847 der Verein Teutonia, 1856 der Deutsche Frauenverein Constantinopel, 1857 die Evangelische Gemeindeschule, 1861 die Evangelische Kirche, 1868 die Deutsche Schule Istanbul, 1877 das Deutsche Krankenhaus, 1888 die Filiale der Deutschen Bank in Istanbul, 1906 die Deutsche Orientbank, 1929 das Archäologische Institut Istanbul und 1929 die Zweigstelle der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft in Istanbul gegründet. Mit der militärischen Kooperation zwischen Deutschland und dem Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg und der nachfolgenden Niederlage, die die Auflösung des Osmanischen Reiches, den Unabhängigkeitskrieg und die spätere Gründung der Republik Türkei herbeiführte, 8 9

C. Busolt, »Deutsch als Weltsprache«, Türkische Post: Tageszeitung für den Nahen Osten, 1. Februar 1933. Anne Dietrich, Deutschsein in Istanbul: Nationalisierung und Orientierung in der deutschsprachigen Community von 1843 bis 1956 (Opladen: Leske und Budrich, 1998), 78. Zitat entnommen aus Fliegende Blätter, VII. Serie Nr. 5, 1850, 74ff. 196

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schwankte die Größe der deutschsprachigen Gemeinschaft erheblich. 1926 jedoch, nach dem wiederholten Aufleben deutsch-türkischer Beziehungen, lebten ca. 1500 Deutsche in Istanbul.10 Der Nationalsozialismus machte sich nach der Machtübernahme relativ schnell unter den sogenannten Auslandsdeutschen in Istanbul breit11; die vom Goebbels-Ministerium herausgegebene Illustrierte Signal zirkulierte in Istanbul und die deutsche Jugend gliederte sich auch hier in Jungvolk, HJ, BDM und Jungmädelbund.12 Die Tageszeitung Türkische Post wurde innerhalb kürzester Zeit zum Presseorgan der Istanbuler NSDAP. So wurde bereits in den ersten Wochen nach der Machtübernahme die Rolle von Auslandsdeutschen in Bezug auf die Verbreitung nationalsozialistischer Überzeugung und die Bedeutung von ›Heimat‹ im Ausland diskutiert.13 Auszüge aus Hitlers ›Mein Kampf‹ und Berichte zum Thema ›Rassenhygiene‹ fanden ebenfalls unverzüglich Raum in die Türkische Post. Die Istanbuler Tageszeitung dokumentierte ausführlich die schnell heranwachsende Anhängerschaft der nationalsozialistischen Ortsgruppe.14 Im Jahre 1935 berichtete der deutsche Generalkonsul Toepke aus Istanbul, dass 225 der insgesamt ca. 950 Reichsdeutschen Mitglieder der NSDAPOrtsgruppe waren.15 10 Ebd., 177-8. Im Jahre 1938 wurden 2151 Deutsche und 1057 Österreicher bzw. Österreicherinnen gezählt. 11 Die in Istanbul lebenden Deutschen bezeichneten sich auch als ›Auslandsdeutsche‹; teils waren sie im ›Bund der Auslandsdeutschen‹ aktiv. Ebd., 178. 12 Ebd., 193. Siehe zu den Presseorganen auch Johannes Glasneck, Methoden der deutsch-faschistischen Propagandatätigkeit in der Türkei vor und während des Zweiten Weltkriegs (Halle: 1966). 13 F.F.S.D., »Die Heimat«, Türkische Post: Tageszeitung für den Nahen Osten, 18. April 1933. »Auslandsdeutschtum und deutsche Erneuerung«, Türkische Post: Tageszeitung für den Nahen Osten, 3. April 1933. »Reichsregierung und Auslandsdeutschtum«, Türkische Post: Tageszeitung für den Nahen Osten, 18. März 1933. 14 So zum Beispiel in den Berichten über die Flaggenfeier beim deutschen Generalkonsulat und Hitlers Geburtstagsfeier in dem Vereinssaal ›Alemannia‹. »Die Hitler-Geburtstagsfeier in Stambul«, Türkische Post: Tageszeitung für den Nahen Osten, 22. April 1933, »Flaggenfeier«, Türkische Post: Tageszeitung für den Nahen Osten, 17. März 1933. 15 Brief von Toepke an das Auswärtige Amt Berlin, Istanbul, den 27. Juni 1935. AA Bonn, Deutsche Kolonie Istanbul, Kult 3, Ankara 699. Zitiert in Dietrich, Deutschsein in Istanbul, 171. 40 der Mitglieder waren österreichische und tschechische Staatsangehörige. Anne Dietrich geht davon aus, dass deutsche Emigranten und Emigrantinnen hierbei nicht mitgezählt wurden. Aus Ankara wurde zur gleichen Zeit berichtet, dass sich die Zahl der 197

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Zwischen den jüdischen und politischen Emigranten einerseits und den Auslandsdeutschen, die den Nationalsozialismus unterstützten, gab es erwartungsgemäß Konflikte. Die Lage für die Emigrierten wurde auch dadurch erschwert, dass sie wegen Passangelegenheiten, Rentenbezügen oder sonstigen bürokratischen Sachverhalten auf die Kooperation des Konsulats und der Botschaft angewiesen waren. Das Leben linientreuer Auslandsdeutscher in Istanbul bewegte sich meist in Kreisen des Deutschen Generalkonsulats, des Teutonia-Vereins, der Deutschen Schule, der Buchhandlung Kalis und der deutschen Journalisten, in Kreisen also, aus denen deutsche Juden und Jüdinnen schon bald nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten auch in Istanbul ausgegrenzt wurden. Die Netzwerke gesellschaftlicher Beziehungen überschnitten sich mit denen jüdischer und politischer Emigranten nur im archäologischen Museum, dem deutschen Krankenhaus und der deutschen evangelischen Kirche.16 Zwischen deutschen und türkischen Juden gab es offenbar weniger Kontakt.17 Die Emigranten und Emigrantinnen verkehrten außerdem in der Buchhandlung Caron und gründeten einen intellektuellen Zirkel mit dem Namen ›Privatakademie‹.18 Manche Überschneidungen der Zirkel und der unvermeidliche Kontakt der Emigranten und Emigrantinnen mit dem deutschen Generalkonsulat und der Botschaft führte zu Konflikten: Als beispielsweise im August 1933 die Emigrantenorganisation ›Notgemeinschaft deutscher Exilwissenschaftler‹ in den Botschaftsgarten in Tarabya (Istanbul) eingeladen wurde, bestand der Leiter der Organisation Philipp Schwartz und der NSDAP-Mitglieder unter ca. 250 Reichsdeutschen und 100 Volksdeutschen auf 50 beläuft. 16 Shaw, Turkey and the Holocaust: Turkey’s Role in Rescuing Turkish and European Jewry from Nazi Persecution, 1933-1945, 13. Siehe auch Widmann, Exil und Bildungshilfe, 76. 17 Der Chirurg Rudolf Nissen berichtet davon, dass es aufgrund wirtschaftlicher Faktoren wenig Berührungspunkte zwischen den jüdisch-deutschen Emigranten und der jüdisch-türkischen Bevölkerung gab. Rudolf Nissen, Helle Blätter – Dunkle Blätter: Erinnerungen eines Chirurgen (Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1969), 203. 18 Zu der Privatakademie unter Leitung des Kulturhistorikers Alexander Rüstow gehörten u.a. Spitzer, der Jurist Schwarz, die Nationalökonomen Neumark, Kessler und Isaac, der Archäologe Bittel, die Botaniker Heilbronn und Brauner, der Zoologe Kosswig, die Astronomen Freundlich und Rosenberg sowie die Chemiker Arndt und Breusch. Die Privatakademie organisierte interdisziplinäre Kolloquien zu Fachvorträgen der Mitglieder, in: Fritz Neumark, Zuflucht am Bosporus: Deutsche Gelehrte, Politiker und Künstler in der Emigration 1933-1953 (Frankfurt a.M.: Verlag Josef Knecht, 1980), 180. 198

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Chirurg Rudolf Nissen darauf, das Hissen der Hakenkreuzfahnen zu unterlassen. Das Treffen sollte die Emigranten dazu bewegen, die Interessen der deutschen Auslandsvertretung wahrzunehmen. Erstaunlicherweise wurden die Bedingungen der Emigranten akzeptiert und der erste offizielle Kontakt zwischen den deutschen Wissenschaftlern, die ein besonderes Interesse für die türkische Öffentlichkeit bildeten, und der deutschen Regierungsvertretung geknüpft.19 Die Botschafter von Rosenberg und von Keller, die im Sommer ihre Residenz in Tarabya aufnahmen, waren Rudolf Nissen zufolge keine Nationalsozialisten und interessierten sich für eine Kontaktaufnahme mit den Emigranten. Diese Treffen wurden allerdings auch vom Auswärtigen Amt in Berlin veranlasst, dessen Kulturabteilung in den ersten Jahren »die Fiktion aufrechtzuerhalten [suchte], dass die Berufung der Professoren in deutschem Interesse sei«.20

S p i tz e r u n d A u e r b ac h an d e r p hi l o l o g i s c h e n F a k u l tä t d e r I st a n b u l Ün i v e r si t e si Die Öffentlichkeitswirksamkeit der Universitätsreformen lag den Hochschulpolitikern am Herzen: Man griff zu Maßnahmen wie beispielsweise ›Universitätswochen‹ in türkischen Provinzen oder eine Reihe öffentlicher Universitätsvorträge in Istanbul. In dieser 1934 initiierten Vortragsreihe wurden Emigranten dazu angehalten, ihre Forschungsarbeiten vorzustellen, die mitunter bahnbrechende Thesen in die türkische Öffentlichkeit einführten; so sprach von Aster über die ›Willensfreiheit‹, Peters über die ›Idee der europäischen Universität im Verlauf der Geschichte‹, Kessler über ›Politik und Moral‹, Rüstow über ›Die Verpflichtung durch unsere Revolution, die Sitten der Vergangenheit und die Zukunft des Arbeiters‹, Auerbach über ›Montesquieu und die Gedankenfreiheit‹, Heilbronn über den ›Ursprung und Sinn des Geschlechtslebens‹ und Schwartz über ›Sigmund Freud und die Psychoanalyse‹.21 Die Philologen Auerbach und Spitzer wirkten federführend beim Aufbau der Fakultät für westliche Sprachen und Literaturen, der Romanistik, Anglistik, Germanistik und der diesbezüglichen Kanonbildung an der Istanbul Üniversitesi mit. Diese Um- und Neubildungen erzielten 19 Rudolf Nissen erklärt sich diesen Sachverhalt durch die »charakteristische Unsicherheit der Reichsbehörden in den Anfangszeiten des Naziregimes.« Nissen, Helle Blätter – Dunkle Blätter: Erinnerungen eines Chirurgen. Siehe auch Widmann, Exil und Bildungshilfe, 58 und 76. 20 Nissen, Helle Blätter – Dunkle Blätter: Erinnerungen eines Chirurgen, 226. 21 Ebd., Widmann, Exil und Bildungshilfe, 194-5. 199

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auch eine höhere Wirksamkeit durch ihren maßgeblichen Einfluss auf die nächste Generation türkischer Philologinnen und Philologen sowie auf den Aufbau weiterer Fakultäten im Lande. In den drei Jahren (1933-36), in denen Leo Spitzer an den Reformen der Istanbul Üniversitesi mitwirkte, bevor er ein Angebot der Johns Hopkins Universität annahm und weiter in die USA emigrierte, legte er den Grundstein für die Nationalphilologien in Istanbul. Im Rückblick äußerte Spitzer zu seiner Rolle in Istanbul: »In Istanbul I could play Caesar, but I was Caesar to a village« – eine Aussage, die überspitzt die weitreichende Verantwortung in Worte fasst, die den Emigranten bei der Modernisierungsreform zukam.22 1934 entstand unter seiner Leitung die Germanistik als Teildisziplin der Romanistik, welche ihrerseits der Fakultät für westliche Sprachen und Literaturen angegliedert war. Dieser abwegige Umstand der Anbindung der Germanistik an die Romanistik ist nur unter Berücksichtigung der pragmatischen Verhältnisse zu verstehen: Leo Spitzer wurde in Istanbul nicht auf einen romanistischen Lehrstuhl berufen, sondern damit beauftragt, die Grundlagen für eine bisher beispiellose westeuropäische Philologie aufzubauen. Das Erlernen einer Fremdsprache an der Fakultät war für alle Studierenden der Istanbuler Universität obligatorisch. Einen Germanisten gab es zur Zeit von Spitzers Anstellung nicht am Institut, doch ermöglichte er es, weiteren emigrationswilligen aus Deutschland eine Stelle als Lektor oder Lektorin für deutsch und andere Fremdsprachen an der Fakultät zu verschaffen.23 Als komparatistisch orientierten Romanisten und Linguisten gab der Lehrstuhl Spitzer die Möglichkeit, über die konventionellen Grenzen seines Faches hinauszugehen – eine Leidenschaft, die seine Arbeit forthin grundlegend prägte. Für Leo Spitzer stellte sich die türkische Sprache zunächst als ein unüberbrückbares Hindernis im Alltag und in der Lehre dar – seine Vorlesungen wurden aus dem Französischen ins Türkische übersetzt. 1937, nach einigen Jahren im türkischen Exil, veröffentlichte Spitzer in der für die Modernisierungsreformen der türkischen Republik wegweisenden Varlýk Dergisi einen Aufsatz zum Erlernen der türkischen Sprache, in dem er ihr einen gleichberechtigten Stellenwert neben europäischen Sprachen gab. Spitzers Leidenschaft für die Analyse sprachlicher Beson22 »Leo Spitzer«, The Johns Hopkins Magazine, April (1952), 27. 23 Horst Widmann listet unter den durch Spitzer vermittelten wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die folgenden auf: Heinz Anstock, Eva Buck, Rosemarie Burkart, Herbert Dieckmann, Lieselotte Dieckmann, Traugott Fuchs, Hans Marchand. Zu den von Auerbach vermittelten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gehören: Robert Anhegger (Islamwissenschaft), Ernst Engelberg, Kurt Laqueur, Andreas Tietze (Turkologie) und Karl Weiner. Widmann, Exil und Bildungshilfe, 290f. 200

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derheiten und ihrer Bedeutung im geistes- und nationalwissenschaftlichen Kontext ist auch in dieser Studie ersichtlich, in der er sich an die Analyse spezifischer Konzepte im Türkischen wagte. Wie Emily Apter in ihrem Beitrag »Global Translatio« zeigt, spiegelt sich Spitzers Methode und seine gleichberechtigte Behandlung des Türkischen auch in den Arbeiten seiner Studenten und Studentinnen wieder, die sich aus heutiger Perspektive als Resultat einer nicht auf Romanistik beschränkten, sondern komparatistisch angelegten Ausbildung deuten lassen.24 Erich Auerbach, der 1936 auf Spitzers Lehrstuhl für westeuropäische Philologie berufen wurde, zeigte in den elf Jahren seines Exils in Istanbul zwar nicht dasselbe Interesse wie Spitzer am Türkischen, doch setzte auch er den komparatistischen Geist Spitzers fort – wenn auch im eurozentrisch und jüdisch-christlich beschränkten Rahmen. Sein intellektuelles Engagement, wie sein in Istanbul während der Kriegsjahre verfasstes Hauptwerk Mimesis zeigt, geht ebenfalls über die Grenzen nationalsprachlicher Literaturwissenschaft hinaus.25 Erich Auerbach führte nach dem Weggang Spitzers bis nach Kriegsende das Modernisierungsprojekt an der Fakultät für westliche Sprachen und Literaturen weiter. Als Leiter der Fakultät bot sich Spitzer wie auch Auerbach die Möglichkeit, als Literaturwissenschaftler über nationalphilologische Grenzen hinauszugehen und Literatur- und Sprachwissenschaft aus komparatistischer Perspektive zu gestalten. Somit erfüllte ihre Arbeit einen doppelten Zweck: die Etablierung von Nationalphilologien und das gleichzeitige Aufbrechen nationalphilologischer Grenzen durch einen komparatistischen Ansatz. Unter Spitzers und Auerbachs prominentesten Istanbuler Studentin-

24 Siehe zu einer Diskussion der Bedeutung Spitzers: Emily Apter, »Global Translatio: The »Invention« of Comparative Literature, Istanbul 1933«, Critical Inquiry 29, Nr. 2 (2003). 25 Erich Auerbach veröffentlichte während seines Exils in Istanbul auch weitere Schriften in türkischer Sprache: Erich Auerbach, Roman filolojisine giri, übersetzt von Süheyla Bayrav, Istanbul Üniversitesi Edebiyat Fakültesi Yayýnlarý: 236, Roman Filolojisi ùubesi: 4 (Istanbul: Ibrahim Horoz Basýmevi, 1944). Weitere Veröffentlichungen in türkischer Sprache: Erich Auerbach, Dante hakkýnda yeni araútýrmalar, Bd. 5, Istanbul Üniversitesi Edebiyat Fakültesi Yayýnlarý (Istanbul: Istanbul Üniversitesi, 1944). Erich Auerbach, »Voltaire ve burjuva zihniyeti«, Garp filolojileri dergisi 1 (1947). Siehe zu weiteren Veröffentlichungshinweisen Erich Auerbach, Gesammelte Aufsätze zur Romanischen Philologie, hg. von Friedrich Schalk und Gustav Konrad (Bern und München: A. Francke Verlag, 1967), 367f. Auerbach initiierte kurz vor seinem Weggang auch die Reihe Garp Filolojileri Dergisi, die nicht weiter Bestand hatte. 201

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nen und Studenten befand sich Süheyla Bayrav.26 Von Spitzers Methode beeinflusst, schrieb sie ihre Dissertation zur französischen Literatur und promovierte bei Spitzers Nachfolge Auerbach. In späteren Jahren veröffentlichte sie sprachwissenschaftlich und komparatistisch angelegte Studien sowie Werke zu Semiotik und Strukturalismus, die Studierenden verschiedenster Disziplinen als Orientierung diente. Bis 1980 leitete sie die Romanistik an der Istanbul Üniversitesi.27 Die zwei bedeutendsten Germanistinnen, die unter anderem bei Auerbach studierten, waren Safinaz Duruman und Sara Sayýn, auf die ich im folgenden noch zu sprechen kommen werde.

N a ti o n al s o z i al i s t i sc h e E i n f l u ss n ahm e a u f t ü r k i sc he Un i v e r si tä t e n Das Wirken der akademischen Emigrantinnen und Emigranten an wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen in Ankara und Istanbul blieb nicht unbeobachtet: Die Auslandsabteilung des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Bildung bemühte sich seit 1934 um türkisch-deutsche Beziehungen und entsandte zu diesem Zweck Oberregierungsrat Herbert Scurla im Jahre 1937 sowie 1939 in die Türkei.28 In dem Bericht, den Scurla nach seinem Türkei-Aufenthalt im Mai 1939 über »Die Tätigkeit deutscher Hochschullehrer an türkischen wissenschaftlichen Hochschulen« ablieferte, betonte er die Notwendigkeit, »die Stellung der Emigranten an der Universität zu schwächen.«29 Scurla stützte die Forderung mit der Beobachtung, dass freiwerdende Lehrstühle an der Istanbul Üniversitesi in erster Linie mit emigrierten Wissenschaftlern besetzt würden, die einen »außerordentlichen Einfluss« auf das türkische Wissenschaftsleben ausübten. Angeregt wurde die Untersuchung durch das Interesse, einen Überblick über den Einsatz deutscher Wissenschaftler – Emigranten und Nicht-Emigranten – zu schaffen und eine 26 Süyeyla Bayrav übertrug auch die von Auerbach in Istanbul verfasste Einführung in die Romanistik ins Türkische. Auerbach, Roman Filolojisine Giri. 27 Osman Senemo÷lu, »1933 üniversite reformunda batý dilleri ve Prof. Dr. Süheyla Bayrav«, Alman Dili ve Edebiyati Dergisi XI (1998), 59-64. 28 Bisher wurde nur der Bericht aus dem Jahre 1939 in den Akten der deutschen Botschaft aufgefunden und veröffentlicht. Die Akte der Botschaft Ankara, Kult X-3 befindet sich im politischen Archiv des Auswärtigen Amtes. 29 Klaus Detlev Grothusen, Hg., Der Scurla-Bericht: Migration deutscher Professoren in die Türkei im Dritten Reich (Frankfurt: Da÷yeli, 1987), 117. 202

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Grundlage für eine deutsche kulturpolitische Tätigkeit in der Türkei ausfindig zu machen. Auf dieser Grundlage erhoffte man sich, die nationalsozialistische Kultur- und Wissenschaftspolitik im Ausland zu stärken. Scurlas Meinung nach bot die Istanbul Üniversitesi hierfür keinen fruchtbaren Boden, dafür aber zwei Forschungseinrichtungen in Ankara: Die Landwirtschaftlich-veterinärmedizinische Hochschule (Yüksek Ziraat Üniversitesi) und das Musterkrankenhaus (Ankara Numune Hastanesi). Dies lag insbesondere daran, dass die 1930 unter der Leitung deutscher Professoren gegründete junge Universität schon vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten eng an einen Austausch mit aus Deutschland entsendeten Hochschullehrern gebunden war. Die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik war – so lässt Scurlas detaillierter 110seitiger Bericht erkennen – sehr darauf bedacht, die Kontrolle über die Universität durch aus Deutschland entsendete parteinahe Wissenschaftler zu wahren und suchte nach Möglichkeiten, die Einstellung von deutschen Emigranten zu verhindern. Ein bedeutender Konfliktstoff zwischen der Universität Ankara, dem türkischen Landwirtschaftsministerium und dem deutschen Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Bildung zeigt sich auch in der Frage der Ausbildung der Studierenden in deutscher Sprache. Scurla maß der Frage der Sprachausbildung eine zentrale Bedeutung zu, da er hiervon den Lehrerfolg deutscher Wissenschaftler an der Landwirtschaftlichveterinärmedizinischen Universität Ankara abhängig machte.30 Bei seinem früheren Aufenthalt in der Türkei waren Scurlas Bemühungen zur Entsendung deutscher Wissenschaftler möglicherweise erfolgreicher als im Mai 1939, kurz nach dem Abschluss des türkisch-britischen Abkommens vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Aus Scurlas Bericht an das Ministerium ist ersichtlich, dass er bei diesem Türkeibesuch von türkischen Ministern und Generaldirektoren mit äußerster Reservierung und Vorsicht empfangen wurde. Daraus lässt sich erklären, warum er vor allem in Istanbul auf Versuche inoffizieller Einflussnahme und Ausbürgerungsdrohungen zurückgriff, um seinem Ziel näher zu kommen. Scurlas besonderes Interesse am Sprachinstitut der Istanbul Üniversitesi begründete sich in der Tatsache, dass dort künftige Lehrkräfte in deutscher, englischer und französischer Sprache ausgebildet wurden und die Leitung des Instituts Erich Auerbach anvertraut war. Die Universität 30 Die Sprachlektoren am Institut waren Georg Lapper, Hubert Neumann, später Robert Ulshöfer und Matschenz. Horst Widmann zufolge war die Universität nicht nur von einem parteipolitischen, d.h. nationalsozialistisch gesinnten Gesichtspunkt beeinflusst, da auch Emigranten an der Universität tätig waren. Widmann, Exil und Bildungshilfe, 41 und 213f. Der ScurlaBericht gibt jedoch ein anderes Bild von der Situation in Ankara ab. 203

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bezeichnete er schlichtweg als »verjudet«, wobei er auch die Tatsache bedauerte, dass im Gegensatz zu den Verhältnissen in Ankara das Berufungsverfahren der Istanbuler Universität durch die zahlreichen Emigranten gesteuert wurde.31 Hierfür machte er in erster Linie die späte Reaktion des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Bildung auf den Bedarf an wissenschaftlichen Lehrkräften in der Türkei verantwortlich.32 Scurla wies in seinem Bericht darauf hin, dass alle aus Deutschland berufenen Lektoren am Sprachinstitut ausnahmslos ›Nichtarier‹ oder Emigranten waren und ging auf die akademische Laufbahn und ideologische Einstellung der einzelnen Lehrkräfte ein: Rosemarie Burkart, ehemalige Assistentin Leo Spitzers am Romanischen Institut in Köln; Traugott Fuchs, der sich geweigert hatte, einen vom Deutschen Generalkonsulat unter den deutschen Emigranten verteilten Fragebogen auszufüllen; Heinz Anstock, dem er kommunistische Aktivitäten anlastete; Hans Marchand, dessen Ehe mit einer ›Arierin‹ er hervorhub; Helmut Ritter, der gleichzeitig die Zweigstelle der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft leitete und über dessen Persönlichkeit sich Scurla kein klares Bild verschaffen konnte. Der Einfluss der Emigranten auf die Fakultät für westeuropäische Sprachen stimmte Scurla »besonders bedenklich, umsomehr als an der Universität kein Lehrstuhl für Germanistik besteht und auch die Romanistik in der Hand von Nichtariern ist.«33 Scurlas Empfehlung an das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Bildung lief auf die »rücksichtslose Ausbürgerung […] nichtarischer Wissenschaftler« hinaus.34 Selbst im Falle ›arischer‹ Wissenschaftler sei zu überprüfen, ob nicht bei Annahme eines Rufes nach Istanbul mit Ausbürgerung gedroht werden solle, da diese als eine »starke Schädigung deutscher Interessen betrachtet werden« könne.35 Scurlas Mission war nicht so erfolgreich, wie es den Interessen des Ministeriums entsprach. Der umfangreiche Bericht ist jedoch Beweis für das ausgeprägte Netzwerk und Einflussvermögen nationalsozialistischer Wissenschaftler und anderer parteinaher Deutscher in der Türkei, welches vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges von türkischer Seite her eingedämmt, jedoch nicht völlig unterbunden wurde. Franz von Papen, der deutsche Botschafter in Ankara, empfing noch 1944 eine Verfügung von Hitler, den Emigranten in der Türkei die deutsche Staatsbürgerschaft und die Pässe zu entziehen. Seinen Memoiren nach widersetzte sich Papen je31 32 33 34 35

Grothusen, Der Scurla-Bericht, 125. Ebd., 100 und 106. Ebd., 131. Ebd., 117. Ebd., 117. 204

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doch diesem Befehl, indem er sich auf die legale Auswanderung der Emigranten mit der Genehmigung der Reichsregierung berief und ihre Loyalität gegenüber Deutschland behauptete.36 Papen war seinerzeit darum bemüht, die ohnehin fragilen türkisch-deutschen Beziehungen vor Interventionen wie dieser zu schützen. Stanford Shaw zufolge war es die türkische Regierung, die die Emigranten vor einer Auslieferung an Deutschland bewahrte.37

L e h r s t u hl f ü r G e r m a n i s ti k 1943 erfuhr die Fakultät für westliche Sprachen und Literaturen an der Istanbul Üniversitesi eine radikale Veränderung: Die Germanistik spaltete sich unter der Leitung des neu berufenen Germanisten Hennig Brinkmann (1901-2000) von der Romanistik ab und wurde damit zu einer eigenständigen Disziplin. An dieser Gründung beteiligte sich auch Heinz Anstock, der Leo Spitzer ins Exil gefolgt war. Brinkmanns Forschungsund Lehrschwerpunkte umfassten die gesamte Entwicklung der deutschen Sprache sowie die deutsche und lateinische Literatur des Mittelalters. In Istanbul wird ihm heute außer in seiner Funktion als Gründer des Lehrstuhls für Germanistik keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt – wohl aus dem Grunde, dass er nur ein Semester lang an der Universität lehrte. Die Einstellung Hennig Brinkmanns müsste jedoch in der Auslandsabteilung des deutschen Reichsministeriums für Wissenschaft als vielversprechender Erfolg verbucht worden sein, da Brinkmann bereits 1933 Mitglied der SA und seit 1937 Mitglied der NSDAP war. Er verbreitete in seinen philologischen Studien die nationalsozialistische Weltanschauung: So hatte er bereits 1934 in einem Aufsatz zur deutschen Dichtung der Gegenwart enthusiastisch verkündet, dass mit »dem nationalsozialistischen Durchbruch von 1933 […] ein volksfremdes Schrifttum [versank], das den Blick auf die ewigen Kräfte der Deutschen verdeckte« und eine Dichtung ins Licht rückte, »die seit Jahren bereit

36 Franz von Papen, Der Wahrheit eine Gasse (Wien: Paul List Verlag München, 1952), 593. 37 »The German government officially revoked the citizenship of all the Jewish refugees in Turkey and demanded that they be returned to Germany for punishment, along with all Jewish Turks. The Turkish government consistently resisted all such demands, however, despite the many threats that accompanied these demands during the course of the war«. Shaw, Turkey and the Holocaust: Turkey’s Role in Rescuing Turkish and European Jewry from Nazi Persecution, 1933-1945, 13. 205

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stand, am inneren Aufbau des deutschen Lebens gestaltend mitzuwirken«.38 Unmittelbar drängt sich die Frage auf, wie es überhaupt zu Brinkmanns Berufung nach Istanbul und seiner Beurlaubung von Lehrverpflichtungen an der Universität Frankfurt a.M. kommen konnte. Das Berufungsverfahren in Istanbul lag schließlich in den Händen der fortschrittlich orientierten Universitätsleitung, auf welche die emigrierten Akademiker und Akademikerinnen einen starken Einfluss ausübten. Hatte die Universität bei der Modernisierungspolitik unüberlegt gehandelt? Promovierende an türkischen Universitäten wurden in den 1930er Jahren nach Deutschland geschickt, um die Universitätsreform zu beschleunigen. Dies war eine Praxis, die bereits in der letzten Phase des Osmanischen Reiches ihren Anfang gefunden hatte.39 Trotz der neutralen bis distanzierten Haltung der türkischen Auslandspolitik gegenüber dem Dritten Reich wurde offensichtlich die ideologische Einflussnahme von NSWissenschaftlern auf türkische Promovierende nicht problematisiert. Die in Deutschland ausgebildeten jungen Wissenschaftler besetzten nach ihrer Rückkehr leitende Stellen an türkischen Universitäten und initiierten nach 1942 in der Istanbuler Germanistik Berufungsentscheidungen, bei denen sie die »fachliche Qualifikation« der deutschen Akademiker und nicht die »politische Vergangenheit in den Vordergrund stellten«.40 Hennig Brinkmanns Anstellung erfolgte aufgrund solcher Beziehungen zu einem türkischen Promovenden seines Fachs.41 Was war also der Effekt einer solchen Berufungsentscheidung? In ihrer Darstellung der türkischen Germanistik seit ihren Anfängen erkennt die damalige Studentin und spätere Leiterin der Germanistik Sara Sayýn, dass das Fach unter Brinkmann zwar der Ideologisierung als eine nationale Wissenschaft unterworfen war, jedoch der von Auerbach und Spit-

38 Hennig Brinkmann, »Deutsche Dichtung der Gegenwart«, Das deutsche Wort: Die literarische Welt 10. Jahrgang, Nr. 16, 3. Zu detaillierten biographischen Angaben siehe Christoph König, Hg., Internationales Germanistenlexikon 1800-1950 (Berlin und New York: Walter de Gruyter, 2003). 39 Siehe zu der Entsendung von osmanischen Studenten nach Österreich und Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts Klein, »Der Einfluss Deutschlands und Österreich-Ungarns auf das türkische Bildungswesen in den Jahren des Ersten Weltkrieges«. 40 Sara Sayýn, »Germanistik an der ›Universität Istanbul‹«, in Germanistentreffen: Tagungsbeiträge Deutschland – Türkei (Bonn: DAAD, 1995), 31. 41 Horst Widmann zufolge wurde der Grundstein zu einer germanistischen Abteilung »1942 mit aktiver Unterstützung zweier deutschfreundlicher türkischer Professoren«, die er nicht benennt, gelegt. Widmann, Exil und Bildungshilfe, 109. 206

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zer begründete humane und europäische Geist unversehrt blieb: »Im Studienjahr 1943/44 haben nämlich die jungen Lehrkräfte und die Studenten die Romantikvorlesungen, die der Professor hielt, und die immer in dem Lob des deutschen Volkes gipfelten, skeptisch und nachdenklich über sich ergehen lassen«.42 Offenkundig war Sayýn – als sie nationalsozialistisches Gedankengut ›über sich ergehen ließ‹ – nicht darüber informiert, dass sich hinter Brinkmanns Berufung nach Istanbul mehr als die Einladung einer seiner ehemaligen Studenten verbarg. Denn die Beurlaubung in Frankfurt erfolgte mit dem Auftrag, den Deutschunterricht an den Lyzeen in Istanbul zu inspizieren und die von Auerbach und Spitzer gegründete Fakultät für westliche Sprachen und Literaturen zu reformieren.43 Seine Mission fand mit dem Abbruch deutsch-türkischer Beziehungen und seiner Rückkehr an die Universität Frankfurt ein frühes Ende. Die Präsenz nationalsozialistischen Gedankengutes in der türkischen Lehre jedoch nicht.

I st a n b u l e r G e r m a n i s ti k n ac h 1 9 4 5 Nach Ende des Zweiten Weltkriegs blieben nur wenige der emigrierten Akademiker in der Türkei. Die meisten kehrten entweder nach Deutschland zurück oder suchten sich eine Anstellung in einem anderen Land. Einige der verbliebenen Akademiker wie Erich Auerbach warteten mit Ungeduld auf die Möglichkeit, in die USA oder andere Länder auswandern zu können. Rückblickend auf sein Wirken in Istanbul betonte er, dass die Emigranten einiges erreicht hatten, »aber längst nicht so viel als möglich gewesen wäre«. Verantwortlich hierfür machte er die unsichere und oft dilettantische Politik der Verwaltung. Auerbach hatte die bedeutendste Modernisierungsphase in der türkischen Hochschulgeschichte mit gestaltet und zog aus seinen Erfahrungen die Schlussfolgerung, dass es schwer sei, ein nicht europäisches Land in kurzer Zeit zu europäisieren, da die Gefahr der praktischen und moralischen Anarchie sehr groß sei.44

42 Sayýn, »Germanistik an der ›Universität Istanbul‹«, 30. 43 König, Hg., Internationales Germanistenlexikon 1800-1950. 44 Zitiert aus einem Brief an Martin Hellweg, datiert am 16. Mai 1947. Martin Vialon, Hg., Erich Auerbachs Briefe an Martin Hellweg (1939-1950) (Tübingen: A. Francke Verlag, 1997), 70. Auch Liselotte Dieckmann, die als Akademikerin Aufnahme an der Istanbul Üniversitesi fand und Fremdsprachen lehrte, berichtete von dem problematischen Versuch, das Land in kürzester Zeit zu modernisieren. Siehe zu einem Bericht über ihr türkisches Exil: Liselotte Dieckmann, »Akademische Emigranten in der Türkei«, in 207

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Desillusioniert berichtete er aus der Türkei, dass das Übergangsstadium vorläufig nichts als ein Vakuum erzeugt habe, da verantwortungslose, dilettantische und fortwährend abgebrochene Experimente den Prozess erschwerten. Enttäuscht zog sich Auerbach, der sich als Direktor der Fakultät ›auf dem Papier‹ bezeichnete, nach mehreren Jahren von seiner Stellung zurück.45 Nach elf Jahren wissenschaftlicher Lehre an der Istanbul Üniversitesi gab Erich Auerbach schließlich seinen Lehrstuhl für Romanistik auf und nahm 1947 ein Angebot an der Pennsylvania State College an. Nach der Abberufung Hennig Brinkmanns aus Istanbul leitete der Philologe und Philosoph Walther Kranz zwischen 1944 und 1950 die germanistische Abteilung in Istanbul. Um Kranz, der aus politischen Gründen emigrierte, hatte man sich in Istanbul für die Besetzung des Lehrstuhls für Germanistik schon länger bemüht. Zu seinen Lehrinhalten gehörte außer der Literatur und Philosophie der griechischen Antike Nietzsche, Goethe und Schiller.46 Wie Erich Auerbach und vielen anderen Emigranten auch blieb Walther Kranz nach 1945 die Zusammenarbeit mit NS-Wissenschaftlern nicht erspart. Die Entnazifizierungsphase trieb in den späten 1940er und 50er Jahren eine neue Welle von Akademikern an türkische Universitäten, an denen noch einige Emigranten wie Traugott Fuchs, die nicht nach Deutschland zurückgekehrt waren, befanden. Fuchs traf in der Nachkriegszeit in Istanbul auf Heinz Heimsoeth, den ehemaligen Dekan der Universität Köln, der 1933 Fuchs’ Protestaktion gegen Leo Spitzers Entlassung missbilligt hatte und nun aber aufgrund der Entnazifizierung der Bundesrepublik ins Ausland auswich. Ab 1950 lehrte Heinz Heimsoeth als Kant-Spezialist in der philosophischen Abteilung der Istanbul Üniversitesi.47 Wie bereits dargelegt, gab es an der Istanbuler Universität bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs ein Netzwerk von NS-Wissenschaftlern, die engere Beziehungen zu türkischen Promovierenden hatten. Somit sahen sich politische sowie jüdische Emigranten und Emigrantinnen dazu gezwungen, nicht nur innerhalb derselben Bildungsinstitution, sondern auch in demselben Fachbereich mehr oder minder mit NS-WissenVerbannung: Aufzeichnungen deutscher Schriftsteller im Exil, hg. von Egon Schwarz und Matthias Wegner (Hamburg: Christian Wegner, 1964). 45 Brief an Martin Hellweg, datiert am 22.Juni 1946. Vialon, Hg., Erich Auerbachs Briefe an Martin Hellweg (1939-1950), S. 70. 46 Walther Kranz übernahm neben der germanistischen gleichzeitig die altphilologische Abteilung. Siehe zu Kranz’ Arbeit in Istanbul: Arslan Kaynarda÷, »Üniversitemizde ders veren Alman felsefe profesörleri«, in Türk felsefe araútýrmalarýnda ve üniversite ö÷retiminde Alman filozoflarý (Istanbul: Türkiye Felsefe Kurumu, 1986), 22f. 47 Ebd. 208

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schaftlern zu kooperieren. Die erleichterte Berufung von NS-Akademikern in die Türkei brachte Emigrantinnen und Emigranten in eine problematische Lage. Zu dieser prekären Dynamik in der Lehre und Forschung gibt es bisweilen keine kritische Stellungnahme.48 Ein weiteres Beispiel für den anhaltenden Kontakt zwischen NSGermanisten, die in der Türkei beschäftigt waren, stammt aus der Zeit der Berufung des Germanisten Gerhard Fricke (1901-1980) an die Universität Istanbul. Aufgrund der Tatsache, dass das nationalsozialistische Netzwerk auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch intakt war und weiter gepflegt wurde, brachen auch Hennig Brinkmanns Kontakte zu der von ihm gegründeten Germanistik in Istanbul nicht ab: Brinkmann konnte 1950 noch die philologische Hochschulzeitschrift Istanbuls als Veröffentlichungsorgan für einen Aufsatz nutzen.49 Dies war insbesondere bedeutend, da Brinkmann in den Nachkriegsjahren seine Karriere nicht unproblematisch fortführen konnte. 1946 verlor er wegen »Bedenken politischer Art« sein Lehramt an der Universität Frankfurt. Obwohl es ihm gelang, der Denazifizierungskammer ein Entlastungszeugnis vorzubringen, erhielt er erst 1957 eine Berufung als ao. Professor.50 An den Lehrstuhl für Germanistik in Istanbul wurde 1950 der Germanist Gerhard Fricke berufen, der aufgrund seiner belasteten Geschichte während der Entnazifizierungsphase in der Bundesrepublik eine Anstellung im Ausland suchte. Wie Brinkmann auch, gelang dies aufgrund der Beziehung zu einem früheren türkischen Studenten.51 Bei diesem handelte es sich um den späteren Professor der Germanistik Burhanettin Batýman, der 1928 von der türkischen Regierung mit einem staatlichen Stipendium zur Ausbildung nach Deutschland geschickt wurde. Batýman studierte ab 1930 an der Universität Kiel und bekam ein ungewöhnliches

48 Auch in Kaynarda÷s Schrift zu den Anfängen der philosophischen Lehre und Forschung wird keine kritische Unterscheidung zwischen Emigranten und den von der Denazifizierung betroffenen Wissenschaftler getroffen. 49 Hennig Brinkmann, »Zwischen Prometheus und Luzifer. Über den Sinn der faustischen Existenz.«, Istanbul Üniversitesi Yayýnlarý, Nr. 458 (1950). Der Aufsatz erschien später in Hennig Brinkmann, Studien zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur: Literatur, Bd. 2 (Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann, 1965), 129-187. 50 König, Hg., Internationales Germanistenlexikon 1800-1950. 51 Sayýn, »Germanistik an der ›Universität Istanbul‹«. Siehe zu einer kritischen Erörterung von Gerhard Frickes wissenschaftlicher Arbeit Gudrun Schnabel, »Gerhard Fricke: Karriereverlauf eines Literaturwissenschaftlers nach 1945«, in Deutsche Literaturwissenschaft 1945-1965: Fallstudien in Institutionen, Diskursen, Personen, hg. von Petra Boden und Rainer Rosenberg (Berlin: Akademie Verlag, 1997). 209

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Dissertationsthema gestellt: Die Türken in der deutschen Literatur bis zum Barock und die Sultansgestalten in den Türkendramen Lohensteins.52 Da Batýmans ursprünglicher Betreuer Liepe beurlaubt wurde, legte er die Prüfung im Jahre 1935 bei Gerhard Fricke ab, der nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten nach Kiel berufen wurde.53 Nach seiner Rückkehr aus Deutschland wurde Batýman an der Universität Istanbul angestellt und lehrte zunächst unter der Leitung von Walther Kranz als Dozent Germanistik. Das Beispiel der Anstellung des führenden NS-Germanisten Fricke in Istanbul lässt starke Zweifel an der anti-nationalsozialistischen Haltung der türkischen Hochschulpolitik aufkommen. Es ist meiner Ansicht nach nicht auszuschließen, dass die Istanbul Üniversitesi, die zahlreichen Verfolgten die Fortführung ihrer akademischen Laufbahn im Exil ermöglicht hatte, in der Berufung Frickes auf den germanistischen Lehrstuhl keinen ideologischen Bruch sah. Hinter dieser Berufung stand jedoch nicht nur Burhanettin Batýman und die Istanbul Üniversitesi, sondern auch das Auswärtige Amt Bonn, welches ihm in der Zeit der Entnazifizierungsphase diese Möglichkeit angeboten hatte. Derweil sich die Istanbuler Universität bis heute noch mit den prominenten Begründern der fremdsprachlichen Philologie Auerbach und Spitzer rühmt und die Rolle der türkischen Universität als Rettungsarm für die jeweiligen Wissenschaftler als musterhaft herausstellt, wird die Tatsache, dass einer der führenden NS-Germanisten in den Jahren 1950 bis 1957 zum Leiter des Fachbereichs Germanistik wurde, weder problematisiert, noch öffentlich thematisiert. In Istanbul erinnert man sich an Fricke als einen von Kleist, Hölderlin und dem jungen Goethe ergriffenen Professor, der ›wie ein Prediger von der Kanzel‹ auf die Studierenden hinabsah. Im Gegensatz zu den Emotionen, die er bei diesen Autoren

52 Burhaneddin Kâmil nannte sich später Burhanettin Batýman. Siehe zu den Entstehungsbedingungen der Dissertation das Nachwort des Autors: Burhaneddin Kâmil, Die Türken in der deutschen Literatur bis zum Barock und die Sultansgestalten in den Türkendramen Lohensteins (Kiel: Universitäts-Bibliothek, 1935). 53 Die Dissertation ist insoweit außergewöhnlich, als dass sie höchstwahrscheinlich nicht nur die erste von einem türkischen Promovierenden geschriebene germanistische Dissertation, sondern auch die Bearbeitung eines durchaus kritischen Themas darstellt, welches dem deutschsprachigen orientalistischen Diskurs im 17. Jahrhundert auf den Spuren ist. Batýman macht in seiner Schlussfolgerung deutlich, dass das Bild und die Realität der ›Türken‹ weit auseinander klaffen. Die Dissertation bemüht sich um eine Korrigierung und Widerlegung der Bilder in der deutschsprachigen Literatur. 210

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zur Schau stellte, verhielt er sich einem Zeitzeugen zufolge bei einem ›fremden‹ Text wie Ibsen sachlich.54 Sara Sayýn sieht bei der Glorifizierung ausgewählter deutscher Autoren durch Fricke kein unmittelbares Problem. Sie sieht sogar einen positiven Aspekt darin, dass die Studierenden der Germanistik an der Universität Istanbul mit antagonistischen Weltanschauungen und Literaturkritik konfrontiert wurden, etwas, was sie mit einem nicht unfruchtbaren »Wechselbad auf symbolischer Ebene« vergleicht.55 Sayýn geht in ihrem Beitrag zur Geschichte der türkischen Germanistik nicht darauf ein, was Fricke in seinen Istanbuler Jahren erspart blieb, aber nach seiner Rückkehr aus Istanbul und seiner Berufung an die Universität zu Köln erwartete: Fricke wurde letztendlich mit seiner nationalsozialistischen Vergangenheit konfrontiert und entzog sich 1965 nach öffentlicher Stellungnahme zu seiner Rolle in NSDeutschland dem akademischen Leben.

54 G. Fricke in Istanbul. Ungedrucktes Typoskript einer Dissertation, zitiert in Gabriele Stilla, »Gerhard Fricke: Literaturwissenschaft als Anweisung zur Unterordnung«, in Deutsche Klassiker im Nationalsozialismus. SchillerKleist-Hölderlin, hg. von Claudia Albert (Stuttgart und Weimar: Metzler, 1994), 24: »Wenn er über Kleist sprach, liefen ihm die Tränen herunter, bei Hölderlin auch, beim jungen Goethe auch, und in der Vorlesung ist es sehr oft vorgekommen, daß seine Augen ganz tränenblind waren. […] Nie hätte er bei einem fremden Text geweint. Wenn er über Ibsen sprach, war er sehr genau und sachlich. […] Alle seine Veranstaltungen […] über Barock, Faust, Romantik, Schiller: Fricke stand auf der Kanzel, sah auf uns herab und predigte, selber ergriffen von dem Pathos seiner Sprache, seiner Schau. Selten habe ich einen so beeindruckenden Vortrag gehört wie bei Fricke. […] [Von ihm habe ich gelernt] ergriffen zu sein von seinem Text, als ginge es um Leben und Tod.« Siehe auch Frickes Rede zum 4. Jahrestag der Begründung des Dritten Reiches, in dem er die neuen Aufgaben der Wissenschaft unter der nationalsozialistischen Gesinnung darstellt: Gerhard Fricke, Die Entdeckung des Volkes in der deutschen Geistesgeschichte vom Sturm und Drang bis zur Romantik (Hamburg: Hanseatische Verlagsanstalt, 1937). 55 Sayin, »Germanistik an der ›Universität Istanbul‹«, 31: »Für Assistenten und Studenten, die nun nach kurzen Abständen mit dem deutschen Idealismus und auch dessen äußerster Kritik konfrontiert wurden, die, kaum dem Fahrwasser der Unbedingtheit hingegeben, an die harte Realität gemahnt wurden, für die meisten Zuhörer war dieses Wechselbad auf symbolischer Ebene nicht unfruchtbar. Was ihnen mit methodologisch anderen Ansätzen und oft aus entgegengesetzten Perspektiven angeboten wurde und sie zur inneren Auseinandersetzung auch mit anderen Weltanschauungen und Ideologien zwang, hat sicherlich später zur Lebensbewältigung viel beigetragen.« 211

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Heute erinnert nicht nur eine 1986 am Eingang der Istanbul Üniversitesi angelegte Gedenktafel an den Beitrag deutscher Emigranten und Emigrantinnen zu der Reformierung der Hochschule. Die Rolle der Exilwissenschaft bei der Hochschulreform wurde auch bei der 75Jahr-Feier der Istanbul Üniversitesi zum Thema zahlreicher Schriften. Nilüfer Kuruyazýcý, die derzeitige Leiterin der Germanistik an der Universität Istanbul, zeigte zu diesem Anlass nur ein Interesse an der Exilerfahrung jüdisch-deutscher und deutscher Akademiker und Akademikerinnen an der Universität Istanbul.56 Der Einfluss der NS-Germanisten und die dadurch entstandenen Konflikte zwischen emigrierten und vom Reichsministerium entsendeten Lehrbeauftragten wurde dabei vollkommen außen vor gelassen. Eine Aufarbeitung der Geschichte der Germanistik in Istanbul, die sich kritisch mit den hier nur kurz umrissenen, bildungs- und kulturpolitischen Faktoren auseinandersetzt, ist bisher nicht erfolgt. Das Ausblenden oder aber Verharmlosen nationalsozialistischer Einflüsse scheint symptomatisch für das Erfassen türkischer Hochschulgeschichte zu sein. Dass der westeuropäischen Philologie noch heute eine identitätsstiftende Funktion bei der Geschichte der intellektuellen türkischen Elite zukommt, spielt dabei sicherlich eine bedeutende Rolle.57

O r te d es E x i l s In seinen Ausführungen zu Auerbach zeichnet Edward Said ein Bild von Istanbul als Ort der Isolation und Entfremdung von Europa.58 Ein kulturhistorisch verankerter Blick auf das Istanbul der 1930er und 1940er Jahre gibt jedoch ein weitaus komplexeres Bild von Auerbachs Exil wieder. Spitzer und Auerbach waren alles andere als isoliert – nicht nur, weil viele der Emigranten nahe beieinander wohnten. In Istanbul befanden sie sich in bester Gesellschaft: Mit Hunderten von weiteren Emigranten und Emigrantinnen aus Deutschland standen sie im Zentrum der türkischen Öffentlichkeit und erneuerten die türkische Universitätslandschaft. Gemeinsam versuchten sie – manche mit mehr, andere mit weniger Opti56 Nilüfer Kuruyazýcý, »Farklý bir sürgün: 1933 Türkiye üniversite reformu ve Alman bilim adamlarý«, Alman Dili ve Edebiyatý Dergisi XI (1998). 57 Die Amerikanisierung türkischer Universitäten setzte nach dem Zweiten Weltkrieg ein und ersetzte den deutschen Einfluss der 1930er Jahre. Vor allem seit den 1990er Jahren spielt das amerikanische Hochschulsystem eine zentrale Rolle bei der erneuten Reorganisation und Privatisierung der Universitätslandschaft. 58 Edward W. Said, The World, the Text, and the Critic (London: Vintage, 1983), 6. 212

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mismus und Durchsetzungskraft – ihre Vision einer modernen Wissenschaft umzusetzen, die in Deutschland keine Zukunft mehr hatte. Istanbul ist zum Verständnis der Orte des Exils besonders vielversprechend, weil es denjenigen, die von der Vertreibung der Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in den 1930er Jahren profitierten, ebenfalls einen Platz an der Universität einräumte. Diese Studie zeigt, dass das türkische Bildungsministerium und die Istanbul Üniversitesi bei ihren Berufungsentscheidungen während der Modernisierungsphase opportunistisch und inkonsistent handelten. Konkurrierende bildungs- und kulturpolitische Interessen der Reformer, Emigranten, entsendeten Nationalsozialisten und nicht zuletzt der ›deutschen Kolonie‹ machten Istanbul in den 1930 und 40er Jahren zu einem nicht unkomplizierten Ort des Exils. Die kulturhistorische Verankerung von Wissenschaftsgeschichte ist unabdingbar, um die Bedingungen für die Entstehung und Veränderung von Wissen und Wissenschaftsformen zu ergründen. In diesem Sinne stellt diese Studie Spitzers und Auerbachs Exil in Istanbul durch die Einbindung institutioneller und bildungspolitischer Fragestellungen in ein neues Licht. Für Spitzer und Auerbach war Istanbul nicht ein Umweg von Deutschland in die USA, sondern ein Ort, der ihnen durch den Auftrag zur Modernisierung der Philologie bestimmte Verpflichtungen und Anregungen für Lehre und Forschung vorgab. Auerbach nutzte Istanbul als Wendepunkt für seine eigene Arbeit. Nicht Exil an sich, sondern die Rolle als Vermittler der westeuropäischen Moderne setzte die Bedingungen für die Entfaltung von Auerbachs komparatistischer Methodik in Mimesis und seinen Ausführungen zu der Nivellierung von nationalen Unterschieden in ›Philologie und Weltliteratur‹. Umgekehrt bildeten Spitzer und Auerbach durch ihre Einführung deutscher Wissenschaftsformen den Wendepunkt für die türkische Geisteswissenschaft und beeinflussten die junge intellektuelle Elite in Istanbul. Wie dieser Beitrag zeigt, ist jedoch die Modernisierung der geisteswissenschaftlichen Fakultät Istanbul undenkbar ohne die bildungspolitischen Beziehungen zum nationalsozialistischen Deutschland. Diese Beziehungen hatten – wenn auch in veränderter Form – auch nach dem Zweiten Weltkrieg weiter Bestand und sind bis heute nicht aufgearbeitet worden. Dies heißt jedoch nicht, dass die disziplinäre Identität der heutigen türkischen Germanistik nur aus den Anfängen der Emigration und dem Einfluss der nationalsozialistischen Germanistik zu verstehen ist. Nach einem erneuten Generationswechsel und den binnenpolitischen Veränderungen der letzten zwei Jahrzehnte hat sich die türkische Universitätslandschaft durch nordamerikanische Einwirkungen weiter verändert. Im besonderen Falle der türkischen Germanistik stellt die türkische

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Emigration nach Deutschland seit den 1960er Jahren neue Herausforderungen an eine national begründete Germanistik und regt zu einer interdisziplinären und komparatistischen Form der Literaturwissenschaft an.

L i t e r at u r Anstock, Heinz. »Über die Arbeit der Deutschen Schule Istanbul«. In: Die Deutsche Schule Im Ausland: Beiträge zur Auswärtigen Kulturpolitik, hg. von Christian W. Schneider, 54-63. Heidelberg: Quelle und Meyer, 1969. Apter, Emily. »Global Translatio: The »Invention« of Comparative Literature, Istanbul 1933«. Critical Inquiry 29, Nr. 2 (2003): 253-81. Auerbach, Erich. Dante hakkýnda yeni araútýrmalar, Bd. 5, Istanbul Üniversitesi Edebiyat Fakültesi Yayýnlarý. Istanbul: Istanbul Üniversitesi, 1944. ———. Gesammelte Aufsätze zur Romanischen Philologie, hg. von Friedrich Schalk und Gustav Konrad. Bern und München: A. Francke Verlag, 1967. ———. Roman filolojisine giri. Übersetzt von Süheyla Bayrav, Istanbul Üniversitesi Edebiyat Fakültesi Yayýnlarý: 236, Roman Filolojisi ùubesi: 4. Istanbul: Ibrahim Horoz Basýmevi, 1944. ———. »Voltaire ve burjuva zihniyeti«. Garp filolojileri dergisi 1 (1947): 123-34. »Auslandsdeutschtum und deutsche Erneuerung«. Türkische Post: Tageszeitung für den Nahen Osten, 3. April 1933, 1-2. Brinkmann, Hennig. »Deutsche Dichtung der Gegenwart«. Das deutsche Wort: Die literarische Welt 10. Jahrgang, Nr. 16: 3. ———. Studien zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur: Literatur. Bd. 2. Düsseldorf: Pädagogischer Verlag Schwann, 1965. ———. »Zwischen Prometheus und Luzifer. Über den Sinn der faustischen Existenz«. Istanbul Üniversitesi Yayýnlarý, Nr. 458 (1950). Busolt, C. »Deutsch als Weltsprache«. Türkische Post: Tageszeitung für den Nahen Osten, 1. Februar 1933, 1-2. »Die Hitler-Geburtstagsfeier in Stambul«. Türkische Post: Tageszeitung für den Nahen Osten, 22. April 1933, 4. Dieckmann, Liselotte. »Akademische Emigranten in der Türkei«. In: Verbannung: Aufzeichnungen Deutscher Schriftsteller im Exil, hg. von Egon Schwarz und Matthias Wegner, 122-26. Hamburg: Christian Wegner, 1964.

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ANTAGONISTISCHE WELTANSCHAUUNGEN IN DER TÜRKISCHEN MODERNE

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I M W I N D S C H A T T E N D E R B A G D A D -B A H N – D E U T S C H - T Ü R K I S C H E K U L T U R E L L E B E Z I E H U N G EN LUDMILA HANISCH Heutige Diskussionen in Deutschland über Ereignisse, die die deutschtürkischen Beziehungen betreffen, vermitteln bisweilen den Eindruck, als seien die beiden Partner einander gänzlich unbekannt und als hätten sie keinerlei gemeinsame historische Erfahrung. Diese Beobachtung ließ sich bereits bei der Ankunft der Arbeitsmigranten in den sechziger Jahren machen. Bei den lebhaften Debatten über den türkischen Beitritt zur Europäischen Union entsteht erneut der Eindruck als rede man in Deutschland über ein fernes Land, das man allenfalls vom Hörensagen kenne. Bei eingehender Betrachtung der Geschichte kann dieses Bild nicht aufrechterhalten werden. Von den Ländern und Regionen außerhalb Europas untersuchten deutsche Forscher während der letzten 150 Jahre keine Region so eingehend wie das Osmanische Reich und die Türkei. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts hatte bereits der Islamwissenschaftler Carl Heinrich Becker festgestellt, dass die Zeiten, in denen man in Deutschland achselzuckend bemerken konnte »hinten, fern in der Türkei, wo die Völker aufeinanderschlugen«1 nunmehr endgültig vorbei seien. Allerdings erregte die Hohe Pforte, wie die osmanische Regierung genannt wurde, mehr das Interesse der Diplomaten und Geographen denn dasjenige der Philologen. Die Kontinente Asien und Afrika waren dank der kolonialen Expansion Europas so nahe gerückt, dass sich der Blick darauf erheblich von der Sichtweise der Bürger zu Goethes Zeiten unterschied. Die verbesserten Reisemöglichkeiten taten ein Übriges, um die Beziehungen zu intensivieren. Vereinzelte Kontakte deutscher Fürstentümer zum Osmanischen Reich hatte es bereits vor der Unterzeichnung der Vereinbarung Preußens mit dem türkischen Sultan im Jahre 1761 gegeben. Im Unterschied zum österreichischen Kaiserreich, das zahlreiche muslimische Untertanen hatte, waren direkte deutsche Kontakte mit Muslimen zahlenmäßig gering. Verglichen mit anderen Überseekontak1

Becker, Carl Heinrich: »Der vordere Orient und Afrika«, in: Deutschland unter Wilhelm dem II., Band III, Die Wissenschaften, Berlin 1914, S. 1183. 217

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ten nahmen hingegen diejenigen mit der Türkei im Deutschen Reich eine herausragende Stelle ein. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts reisten auch Frauen aus den deutschen Ländern gerne an den Bosporus und von dort aus in das Heilige Land. Frauen unternahmen Reisen zu der Wiege der Christenheit, ohne gegen Konventionen oder familiäre Erwartungen zu verstoßen. Gegen ein solches Unternehmen konnte die Umgebung lediglich ›unfromme‹ Einwände erheben.2 Aus heutiger Sicht mag es seltsam anmuten, dass einige Reisende Fahrten nach Istanbul und weiter östlich ausgerechnet als Befreiung von den sozialen und moralischen Zwängen ihrer Herkunftsumgebung ansahen. Tatsächlich unterlagen die Europäerinnen ebenso wenig wie ihre männlichen Landsleute weder der Gerichtsbarkeit noch den Normvorstellungen der Osmanen. Helene Böhlau, die Tochter eines Verlegers lebte mit ihrem Ehemann Friedrich Arnd, alias Omar ar-Raschid in Istanbul. Arnd, der zuvor bereits geheiratet hatte, konvertierte zum Islam und blieb im Ausland, um einer Strafverfolgung wegen Bigamie zu entgehen.3 Die Ausgrabungen in Troja durch Heinrich Schliemann können als Auftakt deutscher archäologischer Aktivitäten außerhalb der klassischen Ausgrabungsfelder in Italien und Griechenland angesehen werden. Staatliche Unterstützung erfuhren diese Tätigkeiten erst zu Ende des 19. Jahrhunderts. Der Assyriologe Friedrich Delitzsch mahnte Regierung und Öffentlichkeit nicht zu warten, bis andere Nationen ihre Museen mit Denkmälern und kostbaren Kunstwerken gefüllt hätten und dann enttäuscht festzustellen, dass die Welt bereits verteilt sei. Nach seiner Vorstellung diente die Sammlung von Kunstwerken der Intention einer Nation, ihr Prestige als Kulturstaat zu untermauern.4 Mit einem wachsamen Auge auf England und Frankreich erachteten der Kaiser und einige Vertreter der Regierung sowohl die Dokumentation als auch die Sammlung der antiken Kunstwerke und Inschriften als Aufgabe, die der kulturellen Bedeutung des Reichs wohl anstände. Dank der kaiserlichen Förderung hatte die Ausgrabungstätigkeit auf osmanischem Territorium um die Wende zum 20. Jahrhundert einen größeren Umfang als philologische oder auch 2 3

4

Pfeiffer, Ida: Reise einer Wienerin in das Heilige Land, Wien 1856; Jehle, Hiltgund: Ida Pfeiffer – Weltreisende im 19. Jahrhundert, Münster 1989. Flemming, Barbara: »Romantische Auswanderer im Reich Abdülhamids«, in: Türkische Miszellen – Festschrift- Robert-Anhegger-Arma÷ani-Mélanges, Istanbul 1988. Wölffling, Siegfried: Untersuchungen zur Geschichte und Organisation der deutschen archäologischen Forschung im Vorderen Orient von 1871 bis 1945, Habilitationsschrift, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg 1968. 218

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historische Forschung. In den Augen der Verantwortlichen konnte das Reich seine Interessen in der Region durch anschauliche archäologische Erfolge und die Zurschaustellung von Artefakten stützen.

I. Neben Theologen, deren Interesse sich auf das Heilige Land konzentrierte, waren es zunächst Geographen und Militärs, die in den Dienst des Sultans traten. Heinrich Kiepert (1808-1899), Autor eines berühmten historischen Kartenwerks5, erstellte in seinem Auftrag Landkarten des Osmanischen Reiches. Die deutschen Offiziere Hermann von der Goltz und Carl Imhoff, die als Militärberater in der osmanischen Armee dienten, trugen zur Verbreitung deutscher Waffen im Reich des Sultans bei. Das Ergebnis des französisch-preußischen Krieges von 1870 hob das Prestige der preußischen Armee beträchtlich an. Es sieht so aus, als ob einerseits das Interesse an deutschen Militärexperten von Seiten des Auslands zunahm, und andererseits das Deutsche Reich nach der Unterzeichnung des Friedensvertrags mit Frankreich daran interessiert war, seine Offiziere in ausländische Dienste zu schicken. Entsendungen erfolgten nicht nur in die Türkei sondern auch nach Russland und China und wurden häufig durch einen Kabinettsbeschluss unterstützt. In jedem Fall haben diese Kontakte zur Kenntnis und Wertschätzung der technischen Errungenschaften Deutschlands im Orient beigetragen. Dieser Hintergrund erleichterte die Konzessionsvergabe für den Bau der Bagdad-Bahn an eine deutsche Kapitalgesellschaft. Gilt der SuezKanals als Paradigma für britischen Kapitalexport und als trojanisches Pferd, um Einfluss in Ägypten zu erlangen, so trifft dies im Fall der Bagdadbahn für deutsches Kapital zu.6 Lediglich die darauf folgenden historischen Entwicklungen, insbesondere die Niederlage im Ersten Weltkrieg, verhinderten die weitergehende Nutznießung dieses viel versprechenden Projekts durch Deutschland. Nach den Verlautbarungen engagierter Eisenbahnbauer, wurde die Türkei durch dieses ›Kulturwerk‹ nach Europa hineingezogen. Auf dem Gelände des osmanischen Reichs existierten bereits Bahnlinien, die französische beziehungsweise britische Konzessionäre gebaut hatten, jedoch reichten sie nicht weit in den asiatischen Teil. 5 6

Kiepert, Heinrich: Atlas antiquus – zehn Karten zur alten Geschichte, Berlin 1859. Manzenreiter, Johann: Die Bagdadbahn als Beispiel für die Entstehung des Finanzimperialismus in Europa (1872 -1903), Bochum 1982. 219

SCHICKSALE: REGIME UND HANDELNDE

Die Anatolische Eisenbahngesellschaft, die 1889 mit deutschem Kapital gegründet wurde, stand unter der Leitung von Georg von Siemens. Sie erhielt zunächst die Aufgabe, Konstantinopel mit Ankara und Konya zu verbinden. Kurz bevor das Konsortium, das aus der Deutschen Bank und österreichischen Banken bestand, die Konzession zur Erweiterung der Linie nach Bagdad und zum Persischen Golf erlangte, reiste Kaiser Wilhelm, der II. zu einem Besuch Sultan Abdülhamids nach Konstantinopel. Durch diesen Besuch sollte die Bedeutung des Projekts sowohl bei den türkischen Partnern als auch bei den beteiligten deutschen Geschäftspartnern unterstrichen werden. Die Liste der beteiligten deutschen Betriebe liest sich wie ein ›Who is who‹ der deutschen Industrie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Die Baufirma Philip Holtzmann partizipierte ebenso wie Krupp, Borsig, Krauss & Mafei. Mit anderen Worten: Die deutsche Industrie lieferte mehr oder weniger ausschließlich das Material und die Ausstattung für die neue Linie. Die Einzelheiten der finanziellen Vereinbarungen und Arrangements durch die Gründung von Aktiengesellschaft bilden ein interessantes Studienobjekt für Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftshistoriker. Sie demonstrieren, auf welche Weise das eingesetzte Finanzkapital durch Einkünfte aus traditionellen Ökonomien garantiert werden konnte. Beispielsweise diente auch die Hammelsteuer einzelner Provinzen dazu, die Rendite abzusichern.7 In jedem Fall lässt sich festhalten, dass es bei Ende des Ersten Weltkriegs ungeachtet aller technischen und finanziellen Schwierigkeiten möglich war, bis nach Nisibin, südlich von Diyarbekir zu reisen. Die kriegsbedingten Erfordernisse hatten gar die Anstrengungen für den Bau beschleunigt. Der Friedensvertrag von Sèvres machte dem deutschen Einfluss auf die Bahn ein Ende, zudem lag nach 1923 ein Teil der Linie nicht mehr auf dem Territorium der türkischen Republik. Die Bauarbeiten wurden fortgesetzt, aber die Fortschritte erfolgten langsamer als zuvor. Eine durchgehende Linie von Haidarpasha bis Basra konnte erst 1940 eröffnet werden. Die Strecke von Bagdad nach Basra stellten die Engländer fertig.

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Details der finanziellen Vereinbarungen hat Beúirli, Mehmet: Die europäische Finanzkontrolle im Osmanischen Reich in der Zeit von 1908 bis 1914, Berlin 1999 dargestellt. Siehe außerdem: Pohl, Manfred: Die Bagdadbahn – Bau und Finanzierung eines großen Unternehmens, Mainz 1989. 220

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II. Der Präsenz einer Reihe von Ingenieuren und Technikern in der Türkei und die Lieferung technischer Ausstattungen führte nicht zu einer nennenswerten Steigerung des Interesses an ›türkischen‹ Themen im deutschen Bildungswesen. Sogar während der letzten zwei Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg, die man mit Fug und Recht als ›Blütezeit‹ für die deutsche Beschäftigung mit dem Orient bezeichnen könnte, spielte die osmanische Geschichte und die türkische Sprache in den Universitäten eine untergeordnete Rolle. Von der türkischen Sprache erwarteten die Gelehrten weder für das Bibelstudium noch für die Erforschung der Sprachentwicklung bedeutende Impulse, weshalb die Beschäftigung mit diesem Idiom in den Universitäten von den individuellen Interessen der Ordinarien oder lokalen Besonderheiten abhing. Zur Jahrhundertwende gab es eine umfassende Gelegenheit, das Türkische zu erlernen nur am Berliner Seminar für Orientalische Sprachen, das sich auf den Erwerb der Sprachfertigkeiten konzentrierte. Allerdings entstanden im Umkreis der Universitäten und Museen verschiedene private Vereine, die sich mit dem Orient beschäftigten. Sie boten bisweilen Sprachkurse für Kaufleute und Reisende an. Das bedeutete nicht, dass zeitgenössische Entwicklungen im Reich des Sultans unter den Politikern, Politikwissenschaftlern und Journalisten nicht eingehend beobachtet und diskutiert wurden. Die Zahl der Artikel, die sich mit dem Panislamismus und der jungtürkischen Bewegung beschäftigen, dokumentieren das Interesse. Die Jungtürken, die in dem Ruf standen, sowohl französische als auch englische Einflussnahme derjenigen Deutschlands vorzuziehen, wurden mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht. Dem Selbstverständnis von Orientalisten, die hier in den Focus der Betrachtungen rücken, entsprach ein Besuch in den Istanbuler Bibliotheken sehr viel eher als die Lektüre der türkischen Presse oder die Gespräche vor Ort. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ähnelte ein Besuch in den nur wenig erschlossenen Istanbuler Handschriftensammlungen für die Philologen einem Besuch der Stadt Mekka für die Muslime. Die berufliche Laufbahn von Karl Süssheim kann als Illustration für den Mangel an Interesse an der zeitgenössischen Türkei in den Kreisen der Orientalisten dienen, abgesehen davon, dass seine Schwierigkeiten, als Islamwissenschaftler in München eine venia legendi zu erhalten, ein Licht auf die Bedeutung lokaler Traditionen einzelner Universitäten werfen.8 Er schildert in seinem Tagebuch detailliert, wie er die Spannung

8

Flemming, Barbara & Schmidt, Jan: The Diary of Karl Süssheim (18781947) – Orientalist between Munich and Istanbul, Stuttgart 2002. 221

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zwischen einer wachsenden Rolle des Osmanischen Reichs in der politischen Strategie Europas und einem Desinteresse an türkischer Geschichte im Kreis der Orientspezialisten der Münchner Universität erlebte. Das zweite Beispiel eines Fachgelehrten, das uns einen näheren Einblick ermöglicht, ist der Türkeiaufenthalt des Assyriologen Fritz Rudolf Kraus, der seine Erlebnisse während der Emigration in Briefen an seinen Bruder schilderte.9 Sie wirkten in verschiedenen Perioden, aber gemeinsam ist ihnen, dass ihre Erfahrungen den turkologischen Unterricht in Deutschland nicht maßgeblich beeinflussten. Süssheim reiste in das Osmanische Reich nachdem er 1902 in Geschichte mit einer Arbeit über preußische Annexionsbestrebungen in Franken promoviert war und blieb dort bis 1906. Während seines Aufenthalts lernte er das Arabische, Türkische und Persische. Im Unterschied zu vielen seiner Kollegen war er in der Lage sich in diesen Sprachen zu unterhalten. Die osmanischen Behörden verweigerten die Erlaubnis für seine Publikation einer persischen Chronik über die Seldschuken von Ibn an-NizƗm, die er in Istanbul aus einer Handschrift kopiert hatte.10 Um einen Verleger zu finden, musste er nach Kairo gehen. Während seines Aufenthalts in der ägyptischen Hauptstadt traf er einige Intellektuelle die sich gegen das Regime des Sultans Abdülhamid des II gestellt hatten, zu ihnen gehörte Abdullah Çevdet. Im Anschluss an seine Rückkehr nach Bayern reiste Süssheim im Interesse seiner Forschungen in verschiedene europäische Hauptstädte. Sein Ziel, sich an der Universität München für Islamkunde und orientalische Sprachen zu habilitieren, ließ sich nur nach Überwindung verschiedener Widerstände durchsetzen. Die Professoren für Orientalistik standen auf dem Standpunkt, dass moderne Geschichte der islamischen Länder, Arabisch, Persisch und Türkisch für den akademischen Unterricht nicht gebraucht würden. 1911 veröffentliche er eine anonyme arabische Chronik der SeldschukenDynastie als Habilitationsschrift.11 Die Bayrische Akademie der Wissen9

Der Nachlass von Fritz Rudolf Kraus (1910-1991) wird in der Universitätsbibliothek Leiden, Abteilung Bibliotheca Publica Latina unter der Signatur BPL 3273 aufbewahrt. Für die Beschreibung des gesamten Bestandes habe ich Jan Schmidt/Universitätsbibliothek Leiden zu danken. Er stellte mir die relevanten Seiten aus seinem Katalog zur Verfügung. Siehe auch: Schmidt, Jan: »Manuscripts Documenting Relations Between the Ottoman Empire and the West in the Leiden University Library: Treaties, Passports and Letters«, in: Oriente Moderno, Vol.12 (83) No.3, 2003, S. 705-714. 10 Süssheim, Karl (Hg.): Muhammad an-NizƗm al-ÝusainƯ, al-'UrƗda fƯ 'lDhikƗyat as-Sal÷njqƯya, Kairo 1908. 11 Süssheim, Karl (Hg.): AkhbƗr ad-daulat as-Sal÷njqƯya, Habilitationsschrift, München 1911. 222

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schaften sandte ihn nach Konstantinopel um in den Archiven des Topkapi Palastes zu forschen. Obwohl er die Unterstützung von Halil Edhem Bey erhielt, scheiterte seine Mission. Die Mitglieder der Istanbuler Gesellschaft für osmanische Geschichte formulierten Vorbehalte und konnte sich damit durchsetzen. Sein Tagebuch verzeichnet detailliert, mit wem er im Winter 1911/1912 diskutierte; unter anderem sprach er einmal mit Mustafa Kemal. Zurück in München unterrichtete er Türkisch und Persisch für eine kleine Studentenzahl und gegen geringes Entgelt. Das Interesse an türkischer Geschichte oder Zeitgeschichte hatte in Deutschland seine Blütezeit noch nicht erreicht. In München mag die Nähe zu Wien dazu beigetragen haben, dass der Alte Orient und die orientalische Kunst als Schwerpunkt erhalten blieben.

III. Erst nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs erblühte die Beschäftigung mit dem zeitgenössischen osmanischen Reich. Jedoch fand Süssheim selbst nach Kriegsbeginn für seine Forschungsinteressen kein Gehör. Dem Auftrag, in die Türkei zu gehen, um die politischen Stimmungen dort zu eruieren konnte er ausweichen. Er arbeitete statt dessen im militärischen Auftrag bei der Postzensur und suchte aus Briefen von Kriegsgefangenen Material heraus, das Kritisches gegen Deutschland oder die deutsch-türkische Allianz enthielt. Zudem gehörte es zu seinen Aufgaben Informationen zu sammeln, die für die politische Aufklärung von Bedeutung waren. Seiner Tätigkeit als Zensor war es zu verdanken, dass er ebenso wie sein Kollege Oskar Rescher nicht an die Türkeifront als Dolmetscher gesandt wurde. Rescher, der ebenfalls eine lebendige Anschauung von dem Land hatte, arbeitete als Zensor in dem so genannten ›Halbmondlager‹ südlich von Berlin. Dieses Lager bot einer Reihe von Philologen Forschungsmöglichkeiten, die sie bis dato nicht hatten. Einige zeichneten mit Hilfe von Phonographen die verschiedenen Dialekte auf, die die Gefangenen sprachen und veröffentlichten das Material.12 Die Zahl der Studenten, die Türkisch lernen wollten, und damit diejenige der Hörer Süssheims stieg sprunghaft an. Wegen des steigenden Interesses am türkischen Sprachunterricht stellte beinahe jede deutsche 12 Rother, Rainer (Hg.): Der Weltkrieg 94-98 – Ereignis und Erinnerung, Ausstellungskatalog, Berlin 2004, S. 175; Rescher, Oskar: »Algerisch-tunesische Briefe in Faksimile und Transkription mit Anmerkungen«, in: Mitteilungen des Seminars für Orientalische Sprachen, Bd. 20/1917, Bd. 21/1918, Bd. 22/1919. 223

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Universität einen Türkisch-Lektor ein. Einige dieser Lehrkräfte reisten aus der Türkei ein, andere weilten bereits als Medizin- oder Jurastudenten in Deutschland. Für verschiedene Gesellschaften und Organisationen hielt Süssheim Vorträge über die moderne Türkei und die türkische Geschichte. Durch den Kriegseintritt des Osmanischen Reichs an der Seite der Mittelmächte wurden die politischen Kontakte zwischen beiden Ländern intensiver. Im Zusammenhang mit der Ausrufung des öihƗd, richteten die osmanische und deutsche Regierung Komitees ein, die die Muslime der britischen und französischen Kolonien zur Revolte gegen Ihre Unterdrücker auffordern sollten. Die Resonanz bei den nichttürkischen Untertanen des Osmanischen Reichs war jedoch gering.13 Lebhaft war hingegen die Debatte unter den europäischen Orientalisten im Gefolge dieser Aufrufe. Einen Hauptstreitpunkt bildete die Frage, ob Deutschland die islamische Religion für seine Kriegsziele funktionalisieren dürfe. Die Diskussion zog sich etwas über zwei Jahre hin und verebbte auf Grund der geringen praktischen Wirksamkeit. Als Resümee dieser Debatte vertrat Theodor Nöldeke die Auffassung, dass es das Wichtigste für Deutschland sei, das Osmanische Reich als mächtigen Staat zu erhalten.14 Für Orientalisten bildete die Kriegsteilnahme die erste Gelegenheit sich eine längere Zeit in der Region aufzuhalten, deren Sprache sie studiert hatten. Zuvor waren es lediglich Übersetzer bei den Konsulaten oder auch Missionare, die diese Gelegenheit hatten. An den Kriegshandlungen nahmen Hellmut Ritter, Franz Babinger, Paul Brönnle, Arthur Schaade und Franz Taeschner in Palästina und Syrien teil – größtenteils im türkischen Heer. Diese Armee-Abteilung, ›Yilderim‹ (der Blitz) genannt, versuchte unter Erich von Falkenhayn vergeblich, den Irak der britischen Armee wieder zu entreißen.15 Die Kriegsanstrengungen und politischen Manöver wurden von Aktivitäten der Mittelmächte auf kulturellem Gebiet begleitet. In Istanbul erfolgte die Gründung des DƗrülfünün als moderne türkische Universität. 13 Heine, Peter: »C. Snouck Hurgronje versus C.H.Becker. Ein Beitrag zur Geschichte der angewandten Orientalistik«, in: Die Welt des Islams, Bd. 23/24, 1984, S. 378-387. 14 Brief Theodor Nöldekes an Carl Heinrich Becker vom 3.10.1915, Nachlaß Becker, Rep. 92, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, BerlinDahlem. 15 Afflerbach , Holger: »Blitz gegen Bagdad – Der deutsch-türkische Feldzugsplan scheiterte an Nachschubschwierigkeiten«, in: Die Zeit vom 2. Januar 1991, S. 23/24; ders., Falkenhayn, Beiträge zur Militärgeschichte, Bd. 42, München 1994. 224

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Allerdings existierte es nur drei Jahre. Von den Kennern orientalischer Sprachen hatten Friedrich Giese, Johannes Mordtmann und Gotthelf Bergsträsser dort eine Professur inne. Giese konnte auf seine Erfahrung als Schullehrer in der Türkei zurückgreifen, während Mordtmann nach dem Studium der orientalischen Sprachen viele Jahre Konsul in Smyrna und Saloniki war. Die Einschätzung der Wirkung dieser Bildungseinrichtung sowie diejenige der Gewerbeschule in Bursa, die ebenfalls mit deutscher Unterstützung errichtet wurde, aus türkischer Sicht bleibt vorläufig ein Desideratum. In den Augen der deutschen Verantwortlichen gehörten sie offensichtlich nicht zu den prestigereichen Projekten, da die Spurensuche danach mühselig ist.16 Eine weitere Initiative war die Aufnahme von 272 türkischen Schülern in deutschen Schulen und von 300 jungen Lehrlingen in deutschen Handwerksbetrieben. Die Deutsch-Türkische Vereinigung organisierte deren Aufenthalt. Folgt man den Berichten der Vorgesetzten verlief diese Initiative erfolgreich und zur beiderseitigen Zufriedenheit.17

IV. Nach dem Ende des Krieges kamen sowohl die staatlich geförderten kulturellen Aktivitäten zum Erliegen als auch ein Großteil der privaten Initiativen. Die türkischen Lektoren wurden nach Kriegsende von den jeweiligen Kultusministerien entlassen. Den ›Boom‹ des Interesses an türkischen Angelegenheiten im Blickfeld stellte Carl Brockelmann nach den Kampfhandlungen fest, dass sich nunmehr die bloßen Glücksritter wieder vom Orient abgewandt hätten.18 Dank des Orientaufenthalts im Kriegsdienst gab es in Deutschland zahlreiche Spezialisten mit einschlägigen Kenntnissen in türkischen Dingen. Dieser nie zuvor erreichten Kompetenz stand ein Mangel an Wirkungsmöglichkeiten entgegen. Wegen des ›unglücklichen Kriegsausgangs‹ verlor der Orient für das Auswärtige Amt an Bedeutung; allein dreißig Konsulate im Orient wurden geschlossen. Die einzigen nennenswerten Chancen sich auf turkolo16 Kreiser, Klaus: »Deutsche Professoren am Istanbuler Dârülfünün (19151918)«, in: Vorträge des 23. Deutschen Orientalistentags, Würzburg 1985. 17 Zur Deutsch-Türkischen Vereinigung siehe auch: Kloosterhuis, Jürgen: Friedliche Imperialisten – Deutsche Auslandsvereine und auswärtige Kulturpolitik 906-98, 2 Bde., Frankfurt 1994. 18 Brockelmann, Carl: »Rede auf dem 1. Deutschen Orientalistentag im September 1921«, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, Bd. 76, S. 17. 225

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gischem Gebiet zu spezialisieren, gab es neben dem Berliner Seminar in Kiel, wo Theodor Menzel wirkte, und in Breslau, wo Oskar Rescher und Friedrich Giese lehrten.19 Aus politischen Gründen mussten archäologische Ausgrabungen ebenfalls eingestellt werden. Selbst nach der Eröffnung des Deutschen Archäologischen Instituts in Istanbul erlangten die Grabungstätigkeit nicht mehr die gleiche Bedeutung wie vor 1914. Wegen der Inflation und der ökonomischen Krise in den zwanziger Jahren reduzierte sich die finanzielle Unterstützung für diese Aktivitäten. Lediglich vereinzelte Spezialisten waren in der Lage im Ausland zu arbeiten, manchmal betätigten sie sich gleichzeitig als Journalisten, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund im Jahr 1926 verbesserte die Forschungsmöglichkeiten in der nun kleiner gewordenen Türkei. 1927 wurde Hellmut Ritter nach Istanbul gesandt, um dort eine Zweigstelle der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft zu errichten. Seine wichtigste Aufgabe war es, die Istanbuler Handschriften europäischen Forschern zugänglich zu machen. Oskar Rescher ließ sich in Breslau beurlauben und siedelte sich privatim in Istanbul an. Er konvertierte zum Islam und verdiente seinen Lebensunterhalt durch verschiedene kleinere Tätigkeiten, verlor dem Anschein nach allmählich jedoch die Kontakte zu seinen deutschen Kollegen.

V. Der Beginn des ›Dritten Reichs‹ brachte eine nicht erwartete Intensivierung der deutsch-türkischen Kulturbeziehungen. Zu den Gesetzen, die dazu dienten das türkische öffentliche Leben zu säkularisieren, gehörte die Reform der Universitäten, die 1932 von Kemal Atatürk beschlossen wurde. 1933 unterzeichneten der Schweizer Professor Philipp Schwartz und der türkische Minister für Erziehung und Wissenschaft einen Vertrag über die Anstellung deutscher Gelehrter in den neuen Universitäten von Istanbul und Ankara. Kurz nachdem der Nationalsozialismus an die Macht kam, erlaubte dieser Vertrag, mehreren entlassenen deutschen Wissenschaftlern eine Stelle in der Türkei zu bekommen. Gleichzeitig mit der »Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft im Ausland« wie diese Vermittlungsstelle hieß, strebte der nationalsozia19 In Frankfurt a.M. existierte weiterhin das 1917 durch Philipp Rühl privat gegründete Orient-Institut. Es wurde erst 1970 als turkologische Abteilung der Universität angegliedert. Abt. 504, Nr. 6598, 6599, 6600, Hessisches Staatsarchiv Wiesbaden. 226

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listische Staat an, sich offiziell an der Erneuerung der türkischen Universitäten zu beteiligen und den Einfluss des ›neuen Deutschlands‹ zu demonstrieren. So wurden 1933 allein einundzwanzig Professoren der Landwirtschaft an die Universität Ankara geschickt, um den französischen und englischen Einfluss im Erziehungsbereich zurückzudrängen. Hinzu kamen Entsendungen philologischer Professoren. Annemarie von der Gabain lehrte beispielsweise zwei Jahre lang Turkologie in Ankara. Der Germanist Hennig Brinkmann lehrte im staatlichen Auftrag. Da er öffentlich seine Sympathien mit dem Turanismus bekundet hatte, konnte er 1944 nach einem Heimaturlaub nicht mehr in die Türkei zurückgehen.20 Es liegt auf der Hand, dass diese Missionen durch die deutschen Behörden genauestens überwacht wurden. Die Lehrenden mussten einen detaillierten Bericht über ihre Diskussionen und Beobachtungen abliefern. Herbert Scurla, ein Mitarbeiter des Reichserziehungsministeriums unternahm 1939 eine Studienreise und berichtete über die Arbeit und die politischen Einstellungen der deutschen Professoren in Istanbul und Ankara. Er empfahl, der türkischen Regierung nahe zu legen, den Einfluss der ›Emigrantenclique‹ zurückzudrängen. Allerdings scheint die Macht der deutschen Regierung innerhalb des türkischen Unterrichtsministeriums nicht groß gewesen zu sein. In einem Brief an seinen Kollegen Rudolf Tschudi kommentierte Paul Wittek die Anstellung der in Deutschland entlassenen Gelehrten: Das große Ereignis hier ist die Universität, die aus der Asche des DƗrülfünün entstand, es wurden 36 Professoren eingestellt, die meisten von ihnen Emigranten. […] Es ist eine Erleichterung zu sehen, dass wenigstens einige der ungerecht entlassenen Personen in Sicherheit sind.21 Mehrheitlich wurden Mediziner, Agrarfachleute, Techniker, Architekten, Wirtschaftswissenschaftler und Juristen eingestellt. Dem speziellen Interesse von Kemal Atatürk an der Interpretation der türkischen Geschichte war es zu verdanken, dass auch Spezialisten für philologische und historische Studien gefragt waren. Aus diesem Grunde erhielten die Assyrologen Benno Landsberger und Hans G. Gü-

20 Hennig Brinkmann, Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde, Bestand des Reichserziehungsministerium, R 4901 (alt R21) – 10.033. Politisches Archiv des Auswärtigen Amts: R 643394 c – Der Germanist Brinkmann in Istanbul; R 64382 c – Der Germanist Brinkmann in Zagreb. 21 Brief Paul Witteks an Rudolf Tschudi vom 30.11.1933, Nachlass Tschudi/Universitätsbibliothek Basel. Paul Wittek, selbst ein Spezialist für osmanischen Geschichte, folgte einem Angebot aus Belgien und ging später nach England. 227

SCHICKSALE: REGIME UND HANDELNDE

terbock eine Stelle als Professor. Allerdings lebte nicht jeder Emigrant in gesicherten und komfortablen Verhältnissen. Dem Assyriologen Fritz Rudolf Kraus, der 1937 in die Türkei emigrierte, verdanken wir Einblicke in den Exilalltag von Personen mit wenig gesicherten Aufenthalts- und Lebensbedingungen. Dank der Vermittlung seines Lehrers Benno Landsberger, wurde Kraus zum Konservator in der vorderasiatischen Abteilung des archäologischen Museums in Istanbul ernannt, wo er zusammen mit seinen Assistenten die riesige Sammlung von Tontafeln katalogisierte. Die Briefe von Kraus an seinen Bruder in Spremberg/Deutschland geben ein lebendiges Zeugnis vom Alltagsleben in Istanbul während der dreißiger und vierziger Jahre ab. Kraus nannte sich selbst einen Kleinbürger mit dem Lebensstandards eines Proletariers. Die Berichte zeigen, dass die Emigranten in der Regel häufig ungeachtet der politischen Probleme und unabhängig von der Frage der sprachlichen Kompetenz mehr Kontakte mit Landsleuten als mit Türken pflegten. Wissenschaftler, die von der deutschen Regierung gesandt worden waren, trafen auf entlassene und emigrierte Kollegen. Kraus beschwerte sich in einem Brief an Benno Landsberger, der in Ankara lebte, dass es schwer sei zu entscheiden, ob man sich als Anhänger von Hitler oder als sein Feind ausgeben sollte, um eine Anstellung zu bekommen.22 Nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Deutschland, wurden die deutschen Staatsangehörigen nach Anatolien deportiert. In dieser Situation war es wiederum unwichtig, ob man Nazi-Anhänger war oder nicht. Die Stimmung innerhalb der Deutschen in der Türkei muss so kompliziert gewesen sein, wie sie für die gleiche Zeit in Marokko in dem Film ›Casablanca‹ gezeigt wurde. Es ist beinahe überflüssig zu erwähnen, dass die Abwehr ihre Vertreter in der Türkei hatte, wie es auch bei Spionagediensten anderer Länder der Fall war.23 Im Jahre 1941/42 standen einige arabische Emigranten auf der Gehaltsliste der deutschen Botschaft in Ankara. Buchstäblich im letzten Moment, das heißt im Jahr 1941 emigrierte Karl Süssheim. Er hatte seit 1912 die Türkei nicht wieder besucht. Trotz seiner Vertrautheit mit dem Land zögerte er auch noch Bayern zu verlassen, nachdem er in Dachau inhaftiert worden war. Erst dank massiver Unterstützung durch türkische Freunde emigrierte er mit seiner Familie 22 Brief von Kraus an Landsberger vom 29.9.1941, NL Kraus, BPL 3273, Universitätsbibliothek Leiden. 23 Siehe dazu beispielsweise: Seydi, Süleyman: »The Intelligence War in Turkey During the Second World War: A Nazi Spy on Britisch Premises in Istanbul«, in: Middle Eastern Studies, Vol. 40, 2004, S. 75-85. 228

IM WINDSCHATTEN DER BAGDAD-BAHN

in die Türkei, wo er als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter an der Universität Istanbul tätig war.24 Hellmut Ritters Aufenthalt in Istanbul war der längste im Vergleich zu anderen Orientalisten. Er konnte dank der Bemühungen Paul Kahles und einiger ausländischer Kollegen sein Gehalt über das Jahr 1933 hinaus erhalten. Während des Zweiten Weltkriegs bemühten sich die Turkologen Franz Taeschner und Gotthard Jäschke durch historische Rückblicke, dem Land am Bosporus die Zugehörigkeit zu Europa zuzuschreiben. Nach dem Krieg bestand an dieser Diskussion zunächst kein Interesse mehr. Verglichen mit der kurzen Periode des DƗrülfünün während des Ersten Weltkriegs, kann man davon ausgehen, dass die exilierten Gelehrten das türkische akademische Leben nachhaltiger beeinflusst haben, als ihre Kollegen zu Beginn des 20. Jahrhunderts.25 Hingegen blieb ihr Einfluss auf das deutsche akademische Leben nach dem Zweiten Weltkrieg unbedeutend. Während Emigranten aus anderen Berufen ihre ›türkischen‹ Erfahrungen nach dem Zweiten Weltkrieg in das deutsche öffentliche Leben einbrachten, fanden die Erlebnisse der Orientalisten keinen nennenswerten Niederschlag im akademischen Lehrangebot in Deutschland. Die Assyriologen Güterbock und Landsberger arbeiteten nach ihrer Entlassung von der türkischen Universität am Oriental Institute in Chicago. Fritz Rudolf Kraus ging zunächst als Professor nach Wien und im Anschluss daran nach Leiden. Karl Süssheim und Oskar Rescher starben in der Türkei. Von den Orientalisten kehrte nur Hellmut Ritter nach Deutschland zurück, da er auf einen Lehrstuhl in der Universität Frankfurt berufen wurde. Dort arbeitete später auch sein Istanbuler Schüler Fuat Sezgin, aber ein Schwerpunkt turkologischer Forschung bildete sich in Frankfurt nicht heraus.26

24 Süssheim starb kurz nach dem Krieg in der Türkei. 25 K. Kreiser, »Deutsche Professoren im Dârülfünün«, 1985. 26 Fuat Sezgin, der zeitweise ein Student von Hellmut Ritter in Istanbul war, lehrte ab 1961 in Marburg und Frankfurt; siehe auch FN 19. 229

T EIL III T EXTE : D IE

FLIESSENDEN O RIENTS

B ILDER

DES

D E U T S C H E O R I EN T A L E N : IDENTIFIKATIONSMUSTER IN DER DEUTSCHEN LITERATUR IN IHREM HISTORISCHEN KONTEXT NINA BERMAN I. Im Verlauf der kritischen Diskussion von Edward Saids Orientalismus (1978) hat die Tatsache, dass das schriftliche Korpus, welches europäische Kulturen über den Orient erstellten, eine große Anzahl differenzierter und dem Nahen Osten gegenüber positiv eingestellter Publikationen beinhaltet, kontroverse Analysen hervorgerufen. Lisa Lowe, beispielsweise, zeigte anhand verschiedener Quellen, dass der Diskurs über den Orient weit heterogener ist als dies in Saids Analyse behauptet wird. Ihre Untersuchung konzentrierte sich insbesondere auf Strömungen, die mit dem dominanten Diskurs aus jeweils unterschiedlichen Gründen nicht vereinbar sind.1 Andere Kritiker, wie beispielsweise Ali Behdad, entgegneten widerum, dass Heterogenität die Machtstrukturen nicht in Frage stellte, sondern im Gegenteil gerade verfestigte.2 Die jüngsten Ereignisse im Iraq scheinen eine Bestätigung von Behdads These zu sein, da die Besetzung Iraqs durch amerikanische und andere Truppen unter dem Vorzeichen der Brüderlichkeit inszeniert wurde: weder die irakischen Kultur noch die islamische Religion wurden verteufelt, es gab im Gegenteil Bemühungen, die Gleichwertigkeit der Kulturen und Religionen zu betonen, der Kampf galt offiziell dem Diktator Saddam Hussein und seinem Regime. Die genauere Untersuchung der Gründe, die die militärische Koalition zum Handeln bewegte, zeigen jedoch, dass es noch andere Motive für die Befreiungsaktion gibt, nämlich ökonomische und machtpolitische, die der Vorherrschaft westliche Mächte 1 2

Vgl. Lisa Lowe: Critical Terrains: French and British Orientalisms, Ithaca, London, 1991, S. 5. »It is precisely in the context of these discontinuous practices that one can account for the shifting and transformational nature of orientalist discourse that ensures its cultural hegemony«. Ali Behdad: Belated Travelers: Orientalism in the Age of Colonial Dissolution, Durham, London, 1994, S. 17. 233

TEXTE: DIE FLIESSENDEN BILDER DES ORIENTS

in der Region und den Zugang zu den Ölfeldern garantieren sollen. Insofern scheint dieses Beispiel besonders geeignet, den auf Hegemonie ausgerichteten und auf überlegener Positionierung basierenden Aspekt des Orientalismusdiskurses zu beweisen.3 Diese Behauptung, dass jegliche Äußerung zum Orient die Macht des Westens über den Orient sichere, ist weitverbreitet. Unlängst hat beispielsweise Timothy Brennan die angeblich seit Jahrtausenden andauernde negative Sicht der Araber angeprangert: »It seems rather clear, though, that an epochal hostility towards the Arab world could extend from Aeschylus to Conor Cruise O’Brien without that position being historically ›undifferentiated.‹«4 Dieses Zitat weist auf den größten Schwachpunkt der Orientalismusdiskussion hin, nämlich das Fehlen historischen Wissens in den kritischen Auseinandersetzungen, insbesondere in Bezug auf die longue durée des Verhältnisses zwischen Europa und dem Nahen Osten. Denn im Entwurf einer langfristigen Genealogie (wie beispielsweise bei Brennan) ist nicht berücksichtigt, dass der Westen über lange Zeit nicht in der dominanten Position gegenüber der nahöstlichen Welt war, und dass daher den Beziehungen jeweils spezifische Rahmenbedingungen zugrunde lagen. Zusätzlich war, wie schon angesprochen und wie im folgenden deutlich werden wird, die westliche Haltung nicht immer von Feindschaft geprägt. Diese das Machtverhältnis zwischen Europa und dem Nahen Osten betreffenden Aspekte deuten darauf hin, dass die Relation von Diskurs und materieller Realität – hier im Sinne von sozialer Aktion im wirtschaftlichen, politischen und militärischen Bereich – komplexer ist als es in der Diskussion von Saids Model des Orientalismus allgemein angenommen wird.5 Die nachfolgenden Erläuterungen explizieren diese Frage zum Verhältnis von Diskurs und materieller Wirklichkeit anhand einer Diskussion von literarischen Texten, die einzelne Stationen in der Geschichte des deutschen Verhältnisses zum Nahen Osten verdeutlichen. Die Auseinandersetzung mit Saids Thesen innerhalb der Germanistik ist bislang nur vereinzelt unter Bezug auf den konkreten historischen Kontext verlaufen; selbst die jüngste und in vieler Hinsicht die Diskussion bereichernde Studie von Todd Kontje stellt die Analyse der diskursiven

3 4 5

Vgl. Edward W. Said: Orientalism, New York, 1979, S. 7. Vgl. Timothy Brennan: »The Illusion of a Future: Orientalism as Traveling Theory«, in: Critical Inquiry 26.3 (2000), S. 558-83, hier S. 580. Das Verhältnis von Diskurs zu »Realität« und »Erfahrung« hat schon James Clifford in die Orientalismusdiskussion eingebracht. Vgl. »On Orientalism«, in: James Clifford, The Predicament of Culture, Cambridge, Massachusetts, London, 1988, S. 258-59. 234

DEUTSCHE ORIENTALEN

Strukturen in den Vordergrund, ohne jedoch die spezifischen historischen Rahmenbedingungen zu berücksichtigen.6 Die folgende Diskussion ist bemüht, diese Verbindung zwischen Diskurs und materieller Wirklichkeit herzustellen. Anhand von ausgewählten Beispielen der deutschen Literatur seit dem Mittelalter werde ich zeigen, dass es eine Tradition gibt, in der eine Sympathie mit dem Orient erkennbar ist, die nicht nur zur Idealisierung, sondern zur Identifikation und Solidarisierung mit dem Orient führt. (Der Terminus Orient bezeichnet hier den Nahen Osten.) Diese Identifizierung vollzieht sich in allen Fällen durch die Konstruktion von Familienbanden, wodurch der Gegensatz von Orient und Okzident aufgehoben oder zumindest hinterfragt wird. Im Gegensatz zu anderen Beispielen einer exotistischen und daher paternalistischen Begeisterung für das Andere geht es bei den hier vorgestellten Texten um den Versuch, sich selbst im Anderen zu begreifen und das Andere zu respektieren. Diese Tradition steht eindeutig in einem Spannungsverhältnis zu den überwiegend dominanten und stark negativ besetzten Haltungen gegenüber dem Nahen Osten. Hiermit kann ausgehend festgehalten werden, dass in der deutschen Kulturgeschichte zu verschiedenen Zeitpunkten einander entgegengesetzte Diskurse koexistierten (Lowes Heterogenität), die allerdings nicht immer der Beherrschung des Orients dienten, wie Behdad behauptet. In bestimmten Fällen verdeutlicht das Spannungsverhältnis zwischen den einzelnen Diskursen Momente, in denen Machtkämpfe innnerhalb der deutschen Gesellschaft die nicht-dominante Haltung gegenüber dem Nahen Osten zum Zuge kommen oder zumindest als oppositionelle Vision bestehen liessen. Diese Positionen reflektieren in allen hier untersuchten Fällen eine direkte Verbindung zu dem sich ständig wandelnden Machtverhältnis zwischen Europa und dem Nahen Osten. In den hier vorgestellten Beispielen ist somit der Bezug des kulturellen Materials zum historischen Kontext erkennbar; die hier exemplarisch zu besprechenden Autoren, nämlich Wolfram von Eschenbach, Gotthold Ephraim Lessing und Else Lasker-Schüler, entwickeln ihre Positionen in der Auseinandersetzung mit den politischen Ereignissen ihrer Zeit. Die fiktiven Figuren, die diese Schriftsteller entwarfen, vermitteln ein hohes Maß an Selbstreflexivität und kritischer Beschäftigung mit den politischen Themen der Zeit, in denen religiöse und kulturelle Konflikte, wie 6

Vgl. Todd Kontje: German Orientalisms, Ann Arbor, 2004. Auch Russell A. Bermans Untersuchung Enlightenment Or Empire: Colonial Discourse In German Culture (Lincoln, 1998), ebenfalls ein Versuch, die ideologischen Komponenten deutscher Darstellungen anderer Kulturen zu identifizieren, bedenkt die historischen Rahmenbedingungen der analysierten Texte nur sporadisch. 235

TEXTE: DIE FLIESSENDEN BILDER DES ORIENTS

beispielsweise die Kreuzzüge und die Auseinandersetzungen mit dem Osmanischen Reich, direkt angesprochen werden. Die deutsche literarische Tradition, die hier beschrieben wird, ist – im Vergleich zu anderen europäischen Nationalliteraturen – besonders ausgeprägt, wenn nicht gar einmalig. Innerhalb der deutschen Literatur unterscheidet sich diese Strömung von anderen Haltungen, insbesondere von der exotistischen und von der offen polemischen, den Orient eindeutig ablehnenden Haltung. Die Diskussion dieser Traditionen in ihrem historischen Kontext wird zeigen, dass Edward Saids Urteil über das deutsche Orientbild keineswegs aufrechterhalten werden kann. Said behauptet in Orientalism: There was nothing in Germany to correspond to the Anglo-French presence in India, the Levant, North Africa. Moreover, the German Orient was almost exclusively a scholarly, or at least a classical, Orient: it was made the subject of lyrics, fantasies, and even novels, but it was never actual the way Egypt and Syria were actual for Chateaubriand, Lane, Lamartine, Burton, Disraeli, or Nerval.7 Die hier vorgestellten Beispiele veranschaulichen gerade den Realitätscharakter, den der Orient für deutschsprachige Gesellschaften im Laufe der Jahrhunderte gehabt hat. Zusätzlich wird sichtbar, dass nicht nur der Diskurs heterogen war, sondern auch das Handeln politischer Mächte.

II. Die im Mittelalter verfaßten Texte, die sich auf oft unterschiedliche Weise mit dem Orient befassen, können allgemein in drei Gruppen unterteilt werden. Dabei handelt es sich zunächst um Texte, die die religiöse Auseinandersetzung mit dem Nahen Osten in den Vordergrund stellen. Schon vor dem Beginn der Kreuzzüge wurden Texte entworfen, die den Kampf zwischen Christen und »Ungläubigen« thematisierten. Nach dem offiziellen Aufruf zu den Kreuzzügen im Jahre 1095 vermehrte sich die Anzahl der Predigten, Aufrufe, Hymnen, aber auch Epen und Poeme, die den Kampf gegen die Muslime propagierten, wobei der religiöse Kampf oftmals gleichzeitig auf die Juden ausgeweitet wurde. Die zweite Gruppe beinhaltet Texte, bei denen das Thema der Kreuzfahrt als Liebes- und Abenteuergeschichte reproduziert wird, wie beispielsweise in den Spielmannsepen. Chroniken nehmen ebenfalls das Material der Auseinandersetzung mit dem Nahen Osten auf, verarbeiten

7

Vgl. E. Said, Orientalism, S. 19. 236

DEUTSCHE ORIENTALEN

es jedoch im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Welt- als Heilsgeschichte, wobei in einzelnen Fällen der Versuch unternommen wird, die Geschichte der politischen Herrscher jener der religösen Herrscher gleichzustellen, wenn nicht überzuordnen. Die letzte Gruppe, die hier erwähnt werden soll, konstituiert sich aus Texten, die das Unternehmen Kreuzzug kritisch betrachten.8 Hierzu gehören in erster Linie Epen und Poeme. Die wohl bekanntesten Beispiele für die deutsche Kreuzzugskritik sind die Epen Parzival (1200/10) und Willehalm (1210/15) von Wolfram von Eschenbach, bei denen die Konzeption der nicht-christlichen Hauptfiguren (insbesondere von Belakane und Feirefiz im Parzival, Tybalt und anderen zentralen Figuren im Willehalm) erheblich mit der offiziellen Kreuzzugspropaganda der christlichen Kirche kollidiert. Im Parzival ist die Beziehung zu den Kreuzzügen in der Abenteuerfahrt von Parzivals Vater Gahmuret angesprochen. Diese Reise ist nicht Teil der von Wolfram benutzten französischen Hauptquelle (Chrétien de Troyes) und eine der wichtigsten Zusätze des deutschen Autors. In Zazamanc verliebt sich Gahmuret in die schwarze Königin Belakane, dient ihr und zeugt mit ihr ein Kind. Er verläßt die Königin bevor er von der Schwangerschaft weiß. Im Text wird als Begründung angegeben, dass Gahmuret bei ihr geblieben wäre, wenn sie Christin geworden wäre. Dies teilt Gahmuret allerdings in seinem Abschiedsbrief mit, wodurch er die Reaktion seiner Geliebten, die sich sofort zur Taufe bereit erklärt, nicht mehr erleben kann, da er schon von dannen gesegelt ist.9 Zusätzlich widerspricht dieses scheinheilige Abfahrtsmanöver einer anderen Textstelle, wonach die Tränen der Königin mit einer Taufe gleichgesetzt werden.10 Im Text wird deutlich, dass Gahmuret einen Grund braucht, um weiterzuziehen, die Geschichte muß ja vorangehen. Jahre später begibt sich der Sprößling dieser Beziehung auf die Suche nach seinem Vater. Feirefiz ist schwarz-weiß gesprenkelt und spielt eine entscheidende Rolle im Epos. Er begegnet seinem Halbbruder Parzival im Zweikampf und entpuppt sich als der bessere Ritter, sowohl im 8

Eine weitere Textgruppe umfaßt Reisebeschreibungen und anderes schriftliches Material (wie beispielsweise Reiseführer), die die Realität der Reise in den Orient verarbeiten, wenngleich teilweise fiktionale Elemente mit verarbeitet wurden. Da die meisten dieser Texte erst im Spätmittelalter entstanden und ich mich hier in erster Linie auf rein literarische Texte beziehe, bespreche ich diese Textgruppe an dieser Stelle nicht. 9 Vgl. Wolfram von Eschenbach: Parzival, Stuttgart, 1981, Band 1, S. 97101. 10 »ir kiusche was ein reiner touf,/und ouch der regen der si begôz«. Vgl. ebd., S. 52. 237

TEXTE: DIE FLIESSENDEN BILDER DES ORIENTS

taktischen Kampf als auch auf der ethischen Ebene. Nachdem die Brüder einander erkannt haben, setzen sie gemeinsam die Suche nach dem Gral fort, der auch bald darauf gefunden wird. Allerdings kann Feirefiz den Gral, nachdem er den Rittern vorgeführt wird, als »Heide« zunächst nicht sehen. Er stimmt der vorgeschlagenen Konversion zu, die jedoch letztlich nicht aus religiösen Gründen geschieht. In der Diskussion über die Konversion vergessen die Beteiligten den Gral, es geht zunehmend darum, dass Feirefiz in Parzivals Tante Repanse verliebt ist und sie heiraten möchte. Die letzten zwischen den Brüdern gewechselten Sätze unmittelbar vor der Taufe erwähnen dann den Gral überhaupt nicht mehr. In der Übersetzung heißt es: »›Willst du meine Tante zur Frau, dann mußt du ihretwegen all deinen Göttern absagen, den Teufel bekämpfen und treu die Gebote des allerhöchsten Gottes erfüllen‹. – ›Alles, was mir hilft, die Jungfrau zu erringen wird treu und genau von mir getan!‹ versprach der Heide«.11 Diese Konversion zum Christentum ist offensichtlich mit ironischer Distanz konzipiert; Feirefiz als vorbildlichster Ritter hat eigentlich die Taufe nicht nötig. Durch die Verquickung mit der Aussicht auf weitere Familienbande wird der Taufakt sozusagen Teil der Verfestigung von sozialen Beziehungen. Formale Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft ist zweitrangig im Hinblick auf die Bedeutung von Familienbeziehungen und Normen ethischen Handelns. Diese Haltung steht erneut im Vordergrund in Wolframs Epos Willehalm, das die Kreuzzüge direkt anspricht. Die historische Quelle war ein anonymes chanson de geste, nämlich die Bataille d’Aliscans, das einen Konflikt zwischen Christen und Muslimen zum Thema hat, der sich im 8. Jahrhundert im südlichen Frankreich abspielt, dass heißt, zur Zeit der historischen Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Christen. Wie im Parzival verändert Wolfram die Vorlage entscheidend: das Epos ruft nicht zum Kampf gegen die feindlichen Muslime auf, sondern lamentiert den Tod vorbildlicher Menschen auf beiden Seiten. Die zentrale Figur ist Gyburc, eine arabische Prinzessin, deren ursprünglicher Name Arabel war. Sie hatte sich in einen französischen Ritter names Willehalm verliebt, ihre Familie verlassen und war zum Christentum übergetreten. Der Krieg, angeführt von ihrer muslimischen Familie, doch von der gesamten nicht-christlichen Welt unterstützt, zielt darauf ab, Gyburc wieder zurückzubringen. Wie bei den Spielmannsepen wird hier also das Motiv des trojanischen Krieges umgekehrt: die entführte Frau stammt nicht aus Europa, sondern aus dem Nahen Osten, wobei der Krieg dann ebenfalls zum Ziel hat, die entführte Frau wieder in den ursprünglichen Kulturkreis zurückzubringen.

11 Vgl. Wolfram von Eschenbach: Parzival, Stuttgart, 1981, Band 2, S. 655. 238

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Wolframs Text beinhaltet jedoch nicht nur einen Lobgesang auf die Helden beiden Parteien; er läßt Gyburc die zentrale Botschaft seines Epos in einer eindringlichen Rede formulieren. Zwar bekennt sich Gyburc zum christlichen Glauben, doch appeliert sie an die christliche Armee in ihrer sogenannten ›Toleranzrede‹, in der sie betont, dass alle Menschen, da vor der Geburt ungetauft, ursprünglich heidnisch und somit einander gleichgestellt sind (»wir wârn doch alle heidnisch ê«).12 Sie bezieht sich auf wichtige Figuren aus dem Alten Testament, die natürlich auch nicht getauft waren, und kann somit deutlich machen, dass Christen unweigerlich nicht-christliche Personen verehren, wobei dieser Aspekt ihrer Rede auch gezielt den Antijudaismus des Mittelalters anspricht. Wolframs Aufruf, den Krieg aus Respekt vor den Anderen zu beenden, war, wie auch die an Häresie grenzende Taufe des Feirefiz, dem offiziellen Standpunkt der Kirche diametral entgegengesetzt. Wolfram stand mit seiner Kritik an der Ideologie der Kreuzzüge nicht allein; besonders seit dem frühen 13. Jahrhundert mehrten sich die kritischen Stimmen in Epik und Gedichten, beispielsweise in der Lyrik von Reinmar dem Alten. Auch die familiären Bande, die Wolfram entwirft, sind nicht ungewöhnlich in mittelalterlichen Epen; die Spielmannsepen, wie beispielsweise König Rother (nach 1152), Salman und Morolf (1190) und Orendel (nach 1190), präsentieren eine Reihe von interkulturellen und interkonfessionellen Beziehungen, wobei die jeweiligen orientalischen Partner ausnahmslos zum Christentum übertreten; in keinem Falle begegnen wir einer Konversion zum Islam. Wolframs Epen jedoch postulieren stärker als jedes andere zeitgenössische Beispiel die Gleichwertigkeit der Menschen aus verschiedenen Kulturbereichen. Internationales Rittertum (d.h. ein von den Angehörigen verschiedener Kulturen befolgter Ehrenkodex) und Familienbande erweisen sich im Vergleich zur Religion als wichtigere Identifikationsmuster. Bikulturelle Figuren wie Feirefiz und Gyburc symbolisieren dabei die Symbiose zwischen Europa und dem Orient, wie sie der deutsche Dichter Wolfram entworfen hat. Es ist durchaus möglich, dass hier ein persönlicher Kontakt eine große Rolle spielte, denn Wolframs Wissen über die arabische Kultur ist beachtlich.13 Wolframs Texte sind allerdings nicht in einem luftleeren Raum entstanden, und wichtiger als die persönlichen Kontakte und Vorstellungen Wolframs ist der machtpolitische Kontext, insbesondere die zunehmende Desillusionierung mit den Kreuzzügen. Die weltlichen Texte, die im 12 Vgl. Wolfram von Eschenbach: Willehalm, Berlin, 1968, S. 169. 13 Paul Kunitzsch hat mehrere Artikel zu diesem Thema geschrieben. Vgl.: »Die Arabica im Parzival Wolfram von Eschenbachs«, in: Werner Schröder (Hg.), Wolfram Studien II, Berlin 1974, S. 9-35. 239

TEXTE: DIE FLIESSENDEN BILDER DES ORIENTS

Auftrag verschiedener Adeliger geschrieben wurden, reflektieren die divergierenden Kreuzzugsmotivationen der Gönner, wie beispielsweise das Interesse verarmter Adeliger an materiellem Gewinn, das Interesse aber auch an Abenteuer, und, in der späteren Phase, die Unlust deutscher Herrscher, an diesem gesamteuropäischen Unternehmen teilzunehmen. Dabei waren deutsche Könige, Adlige und deren Armeen, die zu einem großen Teil aus zusammengelaufenen Haufen bestanden, zunächst wichtige Teilnehmer an den Kreuzzügen gewesen, auch wenn der Hauptimpetus von Frankreich ausgegangen war. Schon beim 2. Kreuzzug (1147-49) spielte Deutschland eine ambivalente Rolle; es sollte ursprünglich nicht einbezogen werden, doch Bernhard von Clairvaux kam dann nicht umhin, die schon fanatisierten Deutschen zu engagieren. König Konrad III. selbst war hingegen zunächst ablehnend, die sächsischen Fürsten waren eher an einem Kreuzzug gegen die Slawen interessiert (den sie dann auch durchführten), und als der König dann schließlich eine Armee anführte endete das Ganze in Chaos. Ebenso unheilvoll verlief das nächste Kapitel deutscher Kreuzzugspraxis: Der charismatische Kaiser Friedrich I. Barbarossa führte im 3. Kreuzzug (1189-1192) eine der größten Kreuzzugsarmeen an (angeblich bis zu 100 000 Mann). Doch der vielversprechende Anfang fand ein abruptes Ende, als Barbarossa 1190 in Anatolien ertrank; der deutsche Kreuzzug brach daraufhin zusammen. Dieses für die Deutschen traumatische Ereignis, in Kombination mit anderen Niederlagen der Kreuzfahrer, innereuropäischen Machtkämpfen und einem starken Interesse an der Kolonisierung des Ostens Europas führte dazu, dass sich die deutschen weltlichen Herrscher in zunehmendem Masse von den Kreuzzügen abwandten. Der Widerstand wurde besonders deutlich unter Kaiser Friedrich II. Er legte zwar 1215 das Kreuzzugsgelübde ab, die tatsächliche Teilnahme verzögerte sich jedoch aus verschiedenen machtpolitischen Gründen immer wieder, jedoch auch aufgrund von Friedrich II. ablehender Haltung gegenüber diesen Kriegen. Am Hofe Friedrich II. in Sizilien waren arabische Gelehrte enge Vertraute des Kaisers, dem die Kreuzzugsgelüste der Kirche und anderer Nordeuropäer fremd waren. 1225 heiratete Friedrich II. Isabella von Brienne, die Tochter des Königs von Jerusalem, wodurch eine dynastische Verbindung hergestellt war. 1227 brach der Kaiser auf, um sich einem Kreuzzugsheer anzuschließen, erkrankte jedoch und kehrte zurück, woraufhin er von Papst Gregor IX. gebannt wurde. Den Bann ignorierend führte Friedrich II. dann 1228 den 5. Kreuzzug an, doch gewann er den Krieg zum Erstaunen des Papstes und dessen fanatischen Mitstreiter mit politischen Mitteln: mit dem arabischen Sultan al-Kamil verhandelte er eine friedliche Übergabe Jerusalems. Die Berichte arabischer Historiker über den Einzug Friedrich II. in Jerusalem zeugen von

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der interkulturellen Verständigung, die hier stattfand: der Sultan befahl den Muezzinen, aus Rücksicht auf den christlichen Herrscher während der Nacht nicht zum Gebet zu rufen, woraufhin sich dieser am nächsten Morgen beschwerte, warum denn der Gebetsaufruf ausgeblieben war.14 Es könnte somit argumentiert werden, dass Wolfram die politischen Handlungen Friedrich II. literarisch vorweggenommen hat. In Bezug auf das Verhältnis von Diskurs und materieller Realität läßt sich folgendes konstatieren: der Diskurs war heterogen und reflektierte die machtpolitischen Spannungen, insbesondere zwischen Kirche und weltlichen Herrschern. Während die breite Masse der Bevölkerung für die insbesondere von der Kirche ausgehenende Propaganda sehr empfänglich war, mehrte sich der Widerstand von Seiten der Adligen (die letztlich die Gönner der Schriftsteller waren), wobei auch hier allerdings nicht von einer geschlossenen Front gesprochen werden kann. Letztlich ist es die herausragende Persönlichkeit Friedrich II., der sich dem herrschenden Diskurs widersetzte und eine andere Politik verfolgte. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass die Prinzipien politischen und militärischen Handelns von nicht vorherbestimmbaren Faktoren abhängig sind. Damit wird allerdings auch sichtbar, dass die Funktion der Diskurse begrenzt ist, d.h. trotz der dominanten Stellung des anti-muslimischen Diskurses, der von der Kirche und auch von weltlichen Herrschern propagiert wurde, konnte sich unter Kaiser Friedrich II. eine andere Haltung durchsetzen, eine Haltung, nämlich die Position einer kleineren, doch zumindest vorübergehend machtpolitisch entscheidenden Fraktion meist weltlicher Herrscher.

III. Das zweite Beispiel, das ich hier erwähnen will, ist Lessings Schauspiel Nathan der Weise (1779). Dieser ganz auf den Gedanken der Toleranz gegenüber den nicht-christlichen monotheistischen Religionen ausgerichtete dramatische Text verdeutlich diese Position konkret durch die am Ende der Handlung aufgedeckten Familienbande: der Bruder des muslimischen Sultan Saladins hatte eine Christin geheiratet, Recha und der Tempelherr entpuppen sich als Kinder dieser Verbindung. Sie müssen aufgrund dieser Enthüllung binnen weniger Minuten ihre romantischen Gefühle füreinander in Geschwisterliebe umwandeln – einer der am schwierigsten, da wenig glaubwürdigen Momente des Stückes, der den Schauspielern einiges abverlangt. Der Jude Nathan, der Recha aufgezo-

14 Vgl. Amin Maalouf: The Crusades through Arab Eyes, übersetzt von Jon Rothschild, New York, 1984, S. 229. 241

TEXTE: DIE FLIESSENDEN BILDER DES ORIENTS

gen hatte (gleichsam anstelle der eigenen Kinder, die mitsamt der Mutter einem Pogrom zum Opfer gefallen waren), wird auch weiterhin als Vater akzeptiert: »Aber macht denn nur das Blut/Den Vater? nur das Blut?«, fragt Recha, und definiert damit Familienbande als über die Blutsverwandschaft hinausgehende Institution (V, 7). Saladins Antwort – »Ja wohl: das Blut, das Blut allein/Macht lange noch den Vater nicht!« – besteht zusätzlich darauf, dass der Vatertitel »erworben« werden müsse, wodurch dem richtigen Verhalten eindeutig Vorrang vor den auf Blutsbanden basierenden Ansprüchen gewährleistet wird (ebd.). Die verwaisten christlich-muslimischen Kinder gewinnen mit dem jüdischen Nathan einen Vater, mit den Muslimen Saladin und Sittah einen Onkel und eine Tante. Durchgängig sind es die christlichen Figuren, die dem humanistischen Geist des Schauspiels unverständlich gegenüberstehen: der fanatische Patriarch, der Nathans Adoptivvaterschaft mit dem Tode bestrafen will, und Rechas Gesellschafterin Daja betonen die Abgrenzung vom Judentum. Einzig der Klosterbruder stellt die gewaltsame Haltung des Christentums in Frage. Doch in Lessings Vision gewinnen Vernunft und tolerante Humanität: die Schlußszene vereint die nun alle drei Religionen miteinander verbindende Familie. Der Vorhang fällt »unter stummer Wiederholung allerseitiger Umarmungen« (V, 8). Wie verhält sich Lessings Haltung im Vergleich zum dominanten Diskurs der Zeit? Wie Silvia Horsch erläutert, hat »Lessing […] so gut wie alles gelesen, was damals an Literatur über den Islam greifbar war«.15 Horsch erwähnt, dass dabei viele der von Gelehrten verfaßten Texte von religiösen Verurteilen geprägt waren. George Sales Übersetzung des Koran (1734), beispielsweise, war eine sachliche Einleitung vorangestellt, die auf Quellenstudien beruhte. Dennoch benutzte er, wie viele andere Orientalisten und Theologen das Quellenmaterial, um den Islam »besser widerlegen zu können«.16 Aufklärerische Absichten gingen in den wenigsten Fällen mit Toleranz gegenüber den nicht-christlichen Religionen einher. Die Haltung Lessings steht in dieser Hinsicht dem zeitgenössischen dominanten Diskurs, insbesondere der theologischen, aber auch sonstig generell akademischen Auseinandersetzung mit dem Islam, diametral gegenüber. Zunächst durch sporadische Äußerungen, doch zunehmend in klar konzipierten Schriften und dann dramatischen Texten entwarf Lessing seine Position der Toleranz. Schon 1749 hatte Lessing mit seinem 15 Silvia Horsch: »Lessing, der Islam und die Toleranz«, Vortrag im Deutschsprachigen Muslimkreis am 29.08.2003. Vgl. http://www.al-sakina.de/ inhalt/artikel/lessing_islam/lessing_islam.html, gesehen am 28. November 2004. 16 Vgl. ebd. 242

DEUTSCHE ORIENTALEN

Stück Die Juden die Frage der Religionsfreiheit aufgenommen und sich danach in einzelnen Schriften intensiv mit dem Islam und dem Judentum auseinandergesetzt. Lessings Beschäftigung mit dem Judentum wurde dabei auch durch seine Freundschaft mit Moses Mendelssohn gefördert. Lessings Interesse am Islam beginnt zur selben Zeit. Seine »Rettung des Hieronymus Cardanus« (1752/53) ist eine der vier »Rettungen« die er in der Absicht schrieb, unabhängige Denker wie Johannes Cochlaeus und eben Girolamo Cardano gegen die ihnen widerfahrene Verleumdung zu verteidigen. Lessings Schrift zu Cardano, der in der Mitte des 16. Jahrhunderts die drei monotheistischen Religionen miteinander verglichen hatte und einer unzulänglichen Darstellung des Christentums angeklagt worden war, beinhaltet eine fiktive Verteidigung des Islam durch einen Muslim.17 Lessings Religionstoleranz ist zwar Ausdruck des Humanismus und Universalismus der Aufklärungszeit, doch selbst wenn das neue Konzept der Religionstoleranz heute mit dieser Epoche verbunden wird, dürfen wir nicht vergessen, dass doch sehr unterschiedliche Konzeptionen von Humanismus und Universalismus entwickelt wurden. Die zentralen Forderungen der französischen Revolution und die aufkommende Vorstellung vom mit Rechten versehenen Bürger brachte gleichzeitig eine Vielfalt von neuen Ausgrenzungen mit sich: Frauen, nicht-Europäer, nichtChristen und andere soziale, ethnische und religiöse Gruppen waren in den neuen rechtlichen Kategorien nicht eingeschlossen. Immanuel Wallerstein betont besonders die Beziehung von Menschenrechten und Imperialismus: From the beginning, the human rights of ›civilized‹ nations were predicated on the assumption that they were indeed ›civilized.‹ The discourse of imperialism was the other side of the coin […]. It followed that any ›rights of people‹ were reserved to a few specific peoples and were by no means the rights of all the other peoples.18

Lessings tolerante Positionen gehen weiter als der dominante Diskurs seiner Zeit; seine Haltungen verbanden ihn in dieser Hinsicht mit anderen Denkern, die in ständigem Konflikt mit der Gesellschaft lebten. Wir 17 Vgl. Helmut Göbel (Hg.): Lessings »Nathan«: Der Autor, der Text, seine Umwelt, seine Folgen, Berlin, 2002, S. 25-26. 18 Vgl. Immanuel Wallerstein: »The Insurmountable Contradictions of Liberalism: Human Rights and the Rights of Peoples in the Geoculture of the Modern World-System«, in: V.Y. Mudimbe (Hg.), Nations, Identities, Cultures, Sonderheft, The South Atlantic Quartrly 94/4 (1995), S. 1161-78, hier S. 1169. 243

TEXTE: DIE FLIESSENDEN BILDER DES ORIENTS

vermögen die Leistung dieser Intellektuellen im Nachhinein anzuerkennen, dürfen jedoch nicht vergessen, dass das dominante Denken keineswegs an Figuren wie Lessing und Mendelssohn orientiert war – und ihre Positionen letztlich bis heute Utopie bleiben. Allerdings kann Lessings Vision von einer gerechteren Welt, insbesondere seine anerkennende Haltung gegenüber dem Islam, auch von einem anderen Blickwinkel her betrachtet werden, und zwar in Bezug auf politische und wirtschaftlichen Ereignisse der Zeit. Die abklingende Bedrohung durch das Osmanische Reich stellt wohl den entscheidensten Faktor für die sich hier neu entwickelnden Positionen dar. Die zweite Belagerung von Wien (1683) signalisiert den Beginn des langsamen, doch kontinuierlichen Machtverlustes des osmanischen Reiches. 1798 wurde eine Gesandtschaft preußischer Militärs in die Türkei befohlen, um dort eine Reform des Militärwesens zu entwickeln Diese erste Instanz deutsch-türkischer Koorperation im Militärbereich setzte sich verstärkt im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts fort und hält letztlich bis in die heutige Zeit an.19 Während in Frankreich, das seit der Mitte des 16. Jahrhunderts mit dem Osmanischen Reich alliert war, das Interesse an türkischen Waren schon seit langem den Handel bestimmte, begann der Handel mit dem Osmanischen Reich nun auch in Preußen und Österreich stark zuzunehmen. Parallel zum Machtverlust des Osmanischen Reiches verstärkte sich somit der Einfluss deutscher Herrscher und Händler: Diese abnehmende Bedrohung durch die Osmanen und wachsende Kooperation ermöglichte das Entstehen von neuen kulturellen Haltungen in Bezug auf die Türken, aber auch den Islam. Lessings positive Konzeption der Muslime mag in diesem Kontext der politischen und wirtschaftlichen Öffnung gegenüber dem Osmanischen Reich gesehen werden. Seiner Vorstellung von Orient und Islam näherten sich auch andere Schriftsteller und Künstler: Goethes im selben Jahr wie Lessings Nathan erschienes Schauspiel Iphigenie auf Tauris fordert ebenso die Gleichwertigkeit der Menschen, Kulturen und Religionen; allerdings erziehen hier die Griechen als Repräsentanten Europas den heidnischen Herrscher zur Humanität, wobei bei Lessing die Vertreter der christlichen Religion zur Humanität erzogen werden müssen. Varianten der neuen Konzeption vom Türken stilisierten den einstigen Feind als komische Figur. Während Pasha Selim in Mozarts Entführung aus dem Serail (1782) eine ähnliche Entwicklung wie König Thoas in Goethes Iphigenie durchläuft und sich als Humanist entpuppt, trägt die Figur des Osmin negative Züge, die zwar oftmals das Komische über-

19 Vgl. Jehuda L. Wallach: Anatomie einer Militärhilfe: Die preußischdeutschen Militärmissionen in der Türkei 1835-1919, Düsseldorf, 1976. 244

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wiegen lassen, insgesamt jedoch die frühere Konzeption des Orientalen reflektiert, wie er etwa in den Dramen Lohensteins erscheint.20 Erst im Verlauf des frühen neunzehnten Jahrhunderts, und parallel zur imperialistischen Invasion europäischer Mächte in Gebiete des Nahen Ostens und Nordafrikas, nehmen die stereotypen Bilder vom kulturell und religiös dekadenten Orient auch in der deutschsprachigen Literatur und Kultur allgemein wieder zu. Die idealistische Öffnung gegenüber der muslimisch-orientalischen Welt findet somit in einem relativ begrenzten Zeitraum, nämlich knapp zwanzig Jahren, statt. Dieser Zeitraum ist geprägt von der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung (1776), der französischen Revolution (1789) und dem Frieden von Jassy (1792), der die russische Vorherrschaft im Bereich des Schwarzen Meeres bestätigte und ein Markstein des osmanischen Machtverlustes darstellt. Er endet nicht abrupt, aber doch als Konsequenz auf die französische Invasion in Ägypten (1798). Nur wenige Zeugnisse der deutschen Sprache entwickeln nach 1800 und bis auf lange Zeit tolerante und auf Gleichwertigkeit beruhende Vorstellungen vom religiös und kultuell Anderen. Paternalismus und Zivilisationismus, der Glaube an die Überlegenheit der deutschen christlichen modernen Kultur bestimmen die Parameter der Auseinandersetzung. In Bezug auf die Frage nach dem Verhältnis von Diskurs und materieller Realität kann somit festgehalten werden, dass Lessings Schauspiel in erster Linie einer radikale Position der Aufklärung vertritt, die in ihrer Formulierung der Gleichwertigkeit der drei monotheistischen Religionen weiter ging als die vorherrschende Diskussion.21 Zusätzlich reflektiert Lessing in mancher Hinsicht das neue Verhältnis zum Osmanischen Reich, reflektiert einen kurzlebigen Moment des Equilibriums zwischen europäischen und osmanischen Kultur- und Machtbereichen und stand insofern mit neuen Bestrebungen der politischen und wirtschaftlichen Mächte in Einklang. Die Kirche, das doch überwiegend von religiösen und ethnozentrischen Ansichten geprägte Universitätssystem und die unter dem Einfluss der Kirche stehende ungebildete Bevölkerung nahm selbst an dieser kurzen Phase der humanistischen Öffnung nur begrenzt teil.

20 Vgl. W. Daniel Wilson: Humanität und Kreuzzugsideologie um 1780: Die ›Türkenoper‹ im 18. Jahrhundert und das Rettungsmotiv in Wielands »Oberon«, Lessings »Nathan« und Goethes »Iphigenie«, New York, 1984. 21 Zur kontroversen Wirkungsgeschichte des Nathan, vgl. H. Göbel, Nathan, S. 247-68. 245

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IV. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts sahen sich Juden in Deutschland trotz formaler Gleichstellung seit 1871 (und vorher schon in einigen Territorialstaaten) mit der wachsenden antisemitischen Bewegungen konfrontiert. Jüdische Intellektuelle und Künstler suchten ihre Position in Deutschland zu definieren und entwickelten eine Reihe von unterschiedlichen, ja teilweise einander diametral entgegengesetzen Haltungen. Vom politischen Zionismus und der Revitalisierung jüdischer Traditionen bis hin zu verschiedenen Versionen der Assimilierung – wie Konversion oder der Trennung von religiöser und nationaler jüdischer Identität – experimentierten Juden in Deutschland mit neuen Wegen, ihr Leben in der deutsch-christlichen Mehrheitsgesellschaft selbst zu gestalten und zu behaupten. Else Lasker-Schülers Werk und ihre inszenierten öffentlichen Auftritte gehören in dieses Umfeld der deutsch-jüdischen Identitätssuche zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Schon in ihren frühesten Publikationen bezieht sie sich auf biblische Geschichte und jüdische Kultur. Nach 1907 dringen diese Verweise auf einen nicht genau definierten Orient in den Vordergrund ihres dichterischen und auch graphischen Schaffens. Insbesondere die Figur der Tino von Bagdad und wenig später auch des Prinzen von Theben personifizieren eine neue Konzeption des Orients. Die nicht leicht zugänglichen Prosatexte Die Nächte Tino von Bagdads (1907), Der Prinz von Theben (1914) und Der Malik (1913-17) weisen dabei Merkmale auf, die den Versuch der Selbstbestimmung der jüdischen Minderheit in Deutschland verdeutlichen. An anderer Stelle habe ich diese Gedanken ausführlich verfolgt und will hier nur einen kurzen Überblick geben.22 Folgende Bereiche sind mit Juden identifiziert, allerdings auf eine Art und Weise, die jüdische Identität fest in einem multikulturellen orientalischen Bereich verankert: 1. Die Texte sind in einer orientalischen Lebenswelt angesiedelt, die historische und fiktionale Elemente vereint und auf jüdische, christliche als auch muslimische Kulturen und Religionen verweist und mitunter Elemente griechischer, indischer oder türkischer Umkreise einbezieht. Moscheen und Tempel, Paläste und Wüstenwelt sind bevölkert von Beduinen, Königen, Viehhütern, Fakiren, Derwischen. Sagenhafte Reichtümer wie Smaragde, Rubine und andere Edelsteine,

22 Vgl. Nina Berman: »Else Lasker-Schüler: Die Nächte Tino von Bagdads, Der Prinz von Theben«, in: Orientalismus, Kolonialismus und Moderne: Zum Bild des Orients in der deutschsprachigen Kultur um 1900, Stuttgart, 1997, S. 260-345. 246

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Perlen, Elfenbein, Ketten aus Krokodilzähnen und andere Topoi aus der orientalisierenden Erzähltradition werden erwähnt. Die verschiedenen Erzähler der Prosatexte begegnen Figuren, die mit Scheik, Pascha, Sultan, Kalif, Abigail, Somali, Ossman und Naemi bezeichnet werden, somit primär dem jüdischen und muslimischen Bereich entstammen. Im Verlauf der Erzählungen wandeln sich Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Figuren zu einem Konflikt zwischen Muslimen und Juden auf der einen und Christen auf der anderen Seite. Else Lasker-Schüler bedient sich in Tino, Prinz und Malik, aber auch anderen Texten, kurzer Phrasen, die einer fiktiven Sprache entstammen, die sie »Ursprache«, »mystisches Asiatisch«, »alt-nazarenischhebräisch« und »Syrisch« nennt. Wie schon in Bezug auf die Lebenswelt und die zentralen Figuren in den Prosatexten beobachtet werden konnte sind hier die Unterschiede zwischen jüdischer und muslimischer Kultur verwischt. Lasker-Schüler entwirft in Prinz und besonders in Malik die »wilden Juden« oder »Wildjuden«, benutzt diesen Begriff auch, um sich selbst zu bezeichnen. Diese im orientalischen Bereich angesiedelten Figuren strahlen eine aggressive Haltung aus, die besonders in den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen »Ariern« oder »Christenhunden« und orientalischen Gruppen zum Vorschein kommt. Die hier skizzierten Elemente von selbstbewußten Juden, die einer jüdisch-muslimischen Welt entstammen, kommen auch in visuellen Darstellungen und den Auftritten der Künstlerin zum Vorschein. Zeichnungen wie »Selbstbildnis als Prinz Jussuf« (1913) oder »Die beiden Spielgefährten Jussuf und Mêmêd Laurencis« (1915) betonen wiederum die Aggressivität, die im Entwurf der wilden Juden enthalten ist.

Lasker-Schülers schriftliche, visuelle und performative Kreationen artikulieren zentrale Elemente der Diskussion um die Selbstdefinition der jüdischen Minderheit in Deutschland. Hier sei zunächst die Frage nach der Alterität betrachtet. In Lasker-Schülers Version wird Differenz betont. Wenn sie auch spielerisch an die Frage herangeht, insistiert sie mit ihrer zentralen Botschaft auf der Bejahung von Differenz. Gleichzeitig jedoch stellt die performative Inszenierung einer jüdisch-orientalischen Identität jegliche Essentialismen in Frage. Aggressivität und Selbstbehauptung spielen allerdings eine zentrale Rolle: es ist nicht von den nicht-Juden abhängig, wie Juden sich definieren. Das den Christen Unverständliche am Judentum – beispielsweise in der fiktiven Sprache ausgedrückt – bleibt unvermittelt stehen.

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Lasker-Schüler steht hier in enger Verbindung zu Gedanken, die Martin Buber in verschiedenen Reden zwischen 1909 und 1912 entwickelte. Buber entwarf die Vorstellung vom Juden, der sich auf seine orientalischen Wurzeln besinnen sollte, um eine selbstbewußte Position der Differenz in der modernen Welt einzunehmen. Bei Buber werden Juden, aufgrund ihres orientalischen Wesens und ihrer langen Vertrautheit mit Europa, als Vermittler zwischen Orient und Okzident gesehen. Seine essentialistischen Thesen muten im Nachhinein naiv an; im historischen Kontext jedoch stießen Bubers Gedanken auf großen Wiederhall, wenngleich die Idee vom Juden als Orientalen den 1. Weltkrieg nicht überleben sollte.23 Im realpolitischen Bereich ermöglichte Bubers kultureller Zionismus den Dialog mit den arabischen Muslimen in Palästina; in dieser Hinsicht war seine den Orient bejahende Haltung dem politischen Zionismus Theodor Herzls diametral entgegengesetzt.24 Herzls Konzeption sah Juden als moderne Europäer, die Fortschritt und Zivilisation in einen unterentwickelten Bereich der orientalischen Welt bringen würden, ganz im Sinne der kolonialistischen Projekte, die in den vorhergehenden Jahrhunderten von Europäern in verschiedene Winkel der Welt getragen worden waren. Herzls Vision sollte die Unterstützung europäischer Mächte gewinnen und somit zum Zuge kommen. Es sei allerdings angemerkt, dass Kaiser Wilhelm II., den Herzl für sein Vorhaben zunächst begeistern konnte, letztlich seine Unterstützung zurückzog. Wilhelm II. fand Herzl Vorschläge aus dem Grunde anziehend, da sie ihm die Möglichkeit zu bieten schienen, die von ihm nicht geliebten deutschen Juden emigrieren zu sehen. Er änderte seine Haltung jedoch, sobald er den Vorschlag dem osmanischen Sultan Abdulhamid unterbreitete; dieser wehrte ab, da er die Importation eines europäischen Problems in das Gebiet des osmanischen Reiches befürchtete.25 Dem Kaiser war an guten Beziehungen mit dem türkischen Sultan gelegen, er unterstützte Herzl nicht. Wie bekannt gelang es Herzl und seinen Nachfolgern jedoch, andere europäische Mächte für ihre Vision des politischen Zionismus zu gewinnen. Im Verlaufe des 20. Jahrhundert haben sich auch deutsche Regierungen auf unterschiedliche Weise für ein Israel im Sinne Herzls eingesetzt. Herzls 23 Die Anthologie Vom Judentum. Ein Sammelbuch (Verein jüdischer Hochschüler Bar Kochba , Hg., Leipzig, 1913) beinhaltet mehrere Beiträge, die sich auf Bubers Konzept des Juden als Orientalen beziehen. 24 Vgl. Paul Mendes-Flohr (Hg.): Martin Buber. Ein Land und zwei Völker. Zur jüdisch-arabischen Frage, Frankfurt, 1983. 25 Vgl. John C. G. Röhl, »Herzl and Kaiser Wilhelm II: A German Protectorate in Palestine?«, in: Ritchie Robertson, Edward Timms (Hg.), Theodor Herzl and the Origins of Zionism, Edinburgh, 1997, S. 34-37. 248

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Vision stand im Einklang mit den Interessen der bestimmenden Mächte; christliche Ansprüche auf Palästina waren hierbei ebenso entscheidend wie machtpolitische und wirtschaftliche Interessen. Lasker-Schüler und Buber dagegen artikulierten ein Verhältnis zum Orient, das ähnlich in der Konzeption war, wie das von Wolfram oder Lessing formulierte. Das Bestehen auf der Gleichwertigkeit verschiedener Religionen und Kulturen, insbesondere der Respekt vor dem Anderen, war hier zentral formuliert. Der Jude als Orientale wehrt sich gegen Konversion und Assimilierung und besteht auf Gleichheit im Sinne der Anerkennung der Unterschiede. Im historischen Kontext stand diese Haltung nicht im Einklang mit den imperialistischen Bestrebungen Europas; die Auswanderung der Juden als Europäer erschien als die bessere Lösung. Während eine deutsch-osmanische Kooperation zwar bestand und der Sultan vielleicht ein Ohr für die romantischen Visionen Bubers gehabt hätte, fehlte ein Staatsmann wie Friedrich II, der auf der Kooperation mit der einheimischen muslimischen Bevölkerung bestanden hätte. Die Diskussion um das Konzept vom Juden als Orientalen steht somit als Beispiel für einen Diskurs, der nicht im Einklang mit den machtpolitischen und wirtschaftlichen Strömungen der Zeit stand.

V. Die drei hier besprochenen literarischen Beispiele entwerfen jeweils eine idealisierte Vorstellung vom Orient. Die Verbindung zwischen Deutschland und dem Orient wird allerdings nicht nur durch das Bestehen auf ideellen Werten hergestellt, sondern besonders durch die Konstruktion von Verwandschaft und Blutsbanden. Diese konkreten sozialen und physischen Aspekte der Verbindung ermöglichen die Anerkennung der Gleichwertigkeit der Kulturen und Religionen. Während somit in diesen ausgewählten Beispielen Ähnlichkeiten auf der Diskursebene bestehen, ist in jedem einzelnen Fall das Verhältnis zur materiellen Wirklichkeit ein anderes. Wolfram von Eschenbachs Texte korrespondieren mit den Vorstellungen einer politischen Gruppierung, die in Opposition zur religiösen Macht und auch anderen politischen Kräften stand, sich jedoch für kurze Zeit historisch auswirken konnte. Lessings Stück formuliert – in radikalisierter Form – geistesgeschichtliche Positionen seiner Zeit, die auch im Zusammenhang mit politischen und ökonomischen Entwicklungen gesehen werden können, letztlich jedoch Tendenzen einer kurzlebigen Epoche reflektieren. Else LaskerSchüler hingegen artikuliert die Ansichten und Bedürfnisse einer Minderheit in Deutschland, doch auch innerhalb des Judentums, die sich

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nicht auswirken konnten; weder der dominante gesellschaftliche Diskurs zu den von Else Lasker-Schüler aufgebrachten Fragen noch wirtschaftliche oder machtpolitische Entwicklungen nehmen die Vorstellung vom Juden als Orientalen auf. Dieser Vergleich zeigt, dass das Verhältnis von Diskurs und materiellem und sozialem Handeln im jeweils einzelnen Fall unterschiedlichen Formen annimmt. Inwieweit sich ein bestimmter Diskurs auf dieses Handeln auswirkt hängt von einer Fülle von Faktoren ab; Edward Saids Überlegungen zur Funktion des Orientalismusdiskurses müssen somit unbedingt historisiert werden. Damit soll der literarische Diskurs nicht in die Rolle des bloßen Abbildens gedrängt werden; literarische Zeugnisse partizipieren am Meinungsbildungsprozeß, beeinflussen ihn und strukturieren ihn. Ein Denken in komplexen Zusammenhängen ist jedoch notwendig, um das Spiel zwischen den verschiedenen Kräften begreifen zu können. Die von der Mehrheit einer Gesellschaft – aus welchen Gründen auch immer – vertretenen Meinungen wirken sich nicht notwendigerweise auf politische, soziale und ökonomische Prozesse aus, das bleibt selbst in demokratischen Gesellschaften ein Faktum. Ob dies positiv oder negativ zu beurteilen ist, hängt wiederum von der speziellen Situation ab.

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SUSANNA WIE

ÜBERALL.

E I N I N D O - EU R O P Ä I S C H E R

MYTHOS

Ü B E R Z WE I

GÖTTER UND EINE KEUSCHE FRAU ZU E I N E R B I B L I S C H EN G E S C H I C H T E , E I N E R A R A B I S C H ISLAMISCHEN ERZÄHLUNG UND EINER NOVELLE IM D E C A M E R O N E WU R D E LÜSTERNE

FABRIZIO A. PENNACCHIETTI Die Dioskuren, die himmlischen Zwillinge Castor und Pollux, sind der klassisch-antiken und überhaupt der indo-europäischen Mythologie lieb und teuer. Seit undenklichen Zeiten galten die »Zwillingsritter« bei indoeuropäischen Völkern als untergeordnete Gottheiten, die den Menschen besonders nahe stehen und ihnen je nach den Erfordernissen des Augenblicks ihre Gunst erweisen: mit Nahrung, Heilung, Schutz vor Gefahr und mit glücklichen Ehen. In einer Episode der vedischen Version ihres Mythos fühlen sich die himmlischen Zwillinge überdies zu einer schönen verheirateten Frau hingezogen.1 Diese mythische Begebenheit muss außerordentlich populär gewesen sein; wahrscheinlich wird darauf in Flachreliefs auf antiken archäologischen Funden wie der Goldvase von Hasanlu im iranischen Aserbeidschan (12.-11. Jahrhundert v.Chr.) und einer Bronzearbeit aus Luristan (8.-7. Jahrhundert v.Chr.) angespielt. Die erste schriftliche Darstellung dieser Episode indes findet sich im indischen Heldenepos Mahabharata (iii, 123). Der mythische König Çaryata verheiratete seine Tochter Sukanya mit einem altersschwachen, aber sehr weisen Asketen namens Cyavana. Eines Tages erblickten die Himmlischen Zwillinge, als sie auf die Erde hinab kamen, Sukanya nackt beim Baden im Wald; sie waren hingerissen und baten um ihre Zustimmung zum Geschlechtverkehr mit einem von ihnen. Als Sukanya sich weigerte, sprangen sie ins Wasser und zogen den alten Cyavana mit sich hinein. Und als sie dann zu dritt aus dem Wasser wieder auftauchten, jung, schön und von iden1

Vgl. Fabrizio A. Pennacchietti: Susanna nel deserto. Riflessi di un racconto biblico nella cultura arabo-islamica, Turin: Silvio Zamorani, 1998. 251

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tischem Aussehen, schlugen sie Sukanya vor, sie möge sich einen von ihnen als Partner auserwählen. Instinktiv erwählte sich Sukanya ihren Gatten, der den Himmlischen Zwillingen als Belohnung für seine wiedergewonnene Jugend das Geheimnis verriet, wie sie bei den höheren Gottheiten Aufnahme finden könnten. Die Zwillinge waren es zufrieden und stiegen wieder in den Himmel hinauf.

Die indische Erzählung kreist, wie wahrscheinlich auch ihr mythischer Archetyp, um das Motiv der versuchten Verführung einer keuschen Braut. Gleichwohl wird kein ethisches Urteil über die von Leidenschaft und sexuellem Verlangen übermannten himmlischen Wesen gesprochen. Die Episode geht sogar zu ihrem Vorteil aus, indem die beiden, obschon in ihren irdischen Erwartungen enttäuscht, erlangen, was ihnen am teuersten ist: die himmlische Aufnahme in die Reihen der Götter, denen Opfergaben dargebracht werden. Auf iranischer Seite ist zwar kein schriftliches Zeugnis dieser Episode erhalten, aber in der volkstümlichen Tradition wurde wohl eine identische Romanze mit den Erzengeln Haurvatat und Ameretat in Verbindung gebracht. Dies sind die avestischen Namen von zweien der »Unsterblichen Heiligen« (Amesha Spenta), die Dumézil mit den »Erzengeln« der Zoroastrier identifiziert. Als Schutzheilige des Wassers bzw. der Pflanzen hatten Haurvatat und Ameretat nach der Avesta die Funktion, den menschlichen Wesen Gesundheit zu bringen und sie vom Tod zu befreien. Sie sind insofern direkte Abkömmlinge der Dioskuren, als auch sie Wohltäter der Menschheit sind. In der iranischen Welt indes veränderte sich Grundlegendes, wie wir aus der im Koran (2:102) zitierten islamischen Legende von Harut und Marut entnehmen können. Die religiöse Reformation Zarathustras im 6. Jahrhundert v.Chr. führte, wie wir wissen, zu drastischen Veränderungen in der antiken indo-iranischen Götterwelt. Einige Götter mutierten zu einer Art Erzengeln, und der ganze Rest wurde zu Teufeln degradiert. Weil neue moralische Grundsätze galten, konnte offenbar selbst übernatürlichen Wesen keine sexuelle Schwäche gestattet werden, ebenso auch kein Verstoß gegen die Institution Ehe. Also wurden Haurvatat und Ameretat zu Teufeln verwandelt und streng bestraft. Wahrscheinlich in Mesopotamien, das seit der Zeit der Achämeniden unter dem Einfluss der persischen Kultur stand, ging eine populäre Überarbeitung des Mythos von Sukanya und den Dioskuren in die Folklore der Araber und Juden über. In Arabien war die Erzählung ihrem Wesen nach immer noch ein Lob der Heiligkeit und Unverletzlichkeit der Ehe, doch bei den Juden ergaben sich zwei unterschiedliche Traditionsstränge. Zum einen ging die Episode in die apokalyptische Literatur ein, als Teil des Dramas vom 252

SUSANNA ÜBERALL

Höllensturz der Engel – eine der Säulen der Spekulation über die Herkunft des Bösen. Zum anderen wurde die Legende mit den Themen der »liebreizenden verleumdeten Frau« und des »weisen jungen Mannes« angereichert und so lange angepasst, bis sie die Konnotationen der biblischen Geschichte von »Susanna und den Ältesten« angenommen hatte (Anhang zum Buch Daniel, Kapitel 13). In der jüdischen apokalyptischen Literatur kam es hinsichtlich der Sünde der rebellierenden Engel zu einem Perspektivenwechsel. Ihre Verdammung beruhte weniger auf der Vernachlässigung ihrer speziellen Aufgaben als »Wächter«, zu denen auch der Schutz der ehelichen Verbindungen zwischen den ihnen anvertrauten Männern und Frauen gehörte, als vielmehr auf der Auslösung eines ontologischen Chaos durch Vermischung zweier unvereinbarer Daseinsebenen – der spirituellen Welt übernatürlicher Kreaturen und der körperlichen Welt der Sterblichen.

Die islamische Legende von Harut und Marut Es folgt eine kurze Zusammenfassung der islamischen Legende der gefallenen Engel Harut und Marut. Diese beiden exotischen Namen sind neupersische und arabische Transformationen der avestischen Namen Haurvatat und Ameretat. Harut und Marut waren zwei Engel, die sich frei zwischen Himmel und Erde hin und her bewegten. Eines Tages wurden sie von einer jungen verheirateten Frau, die Streit mit ihrem Mann hatte, um Hilfe gebeten. Die beiden Engel entbrannten in Leidenschaft zu ihr und versuchten, sie ihrem Gatten zu stehlen. Um sie zu verwirren, bot ihnen die junge Frau Wein an und schlug dann unter dem Vorwand, sich ihnen hingeben zu wollen, vor, sie sollten ihr das geheime Wort verraten, das ihnen den Aufstieg in den Himmel ermögliche. In ihrer Trunkenheit stimmten die Engel zu, und die junge Frau war nun umgehend in der Lage, gen Himmel aufzusteigen, wo Gott sie in den Planeten Venus verwandelte. Die Engel wurden zur Strafe zu Teufeln degradiert und kopfüber in einem Brunnen in Babylon aufgehängt, wo sie den Menschen die okkulten Künste beibrachten.

Es ist davon auszugehen, dass diese Legende schon in vorislamischer Zeit in Umlauf war, denn der Koran erwähnt die gefallenen Engel Harut und Marut ausdrücklich, wenn es dort heißt, von ihnen hätten die Menschen die »Zauberei« gelernt und die Mittel, »womit man zwischen einem Mann und seiner Gattin ein Zerwürfnis hervorruft« (Koran 2:102).

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D i e j ü d i sc he L e g e n d e v o n S he m ha z a y u n d ´ A z a’ e l In der jüdischen Tradition kommt der islamischen Legende von Harut und Marut am nächsten der Midrasch von Shemhazay und ´Aza’el – eine exegetische Erzählung, die allem Anschein nach als ätiologische Legende für zwei äußerst heterogene Dinge fungiert: für einen der Sterne in den Plejaden und, sprachlich, für Interjektionen, die Erschöpfung und Schmerz zum Ausdruck bringen. Dieser Midrasch, spätestens im 11. Jahrhundert entstanden, ist die kondensierte Version eines Teilinhalts des Buches der Riesen, eines jüdischen Werkes, das sich nicht sicher datieren lässt, das jedoch aus der Zeit zwischen dem dritten und ersten Jahrhundert v.Chr. stammt. Kurz gefasst lautet der Inhalt der Geschichte: Shemhazay und ´Aza’el waren zwei Engel, die vom Herrn die Erlaubnis erbeten hatten, unter den Menschen zu leben. Als sie auf die Erde kamen, fühlten sie sich zu den Töchtern der Menschen hingezogen. Besonders Shemhazay verliebte sich unsterblich in ein Mädchen namens Estera und versuchte, sie zu verführen. Um Zeit zu gewinnen, versprach Estera, er solle sie besitzen, wenn er den unaussprechlichen Namen nenne, der es ihm gestatte, in den Himmel aufzusteigen. Sobald Shemhazay diesen Namen ausgesprochen hatte, wiederholte ihn Estera und konnte sich so augenblicklich von den Nachstellungen des Engels befreien. Der Herr belohnte ihre Tugend und Initiative dadurch, dass er sie in eine der Plejaden verwandelte. Shemhazay und ´Aza’el hatten Kinder von anderen Frauen. Eines Nachts hatten die beiden Söhne Shemhazays, Heyya und Aheyya, einen seltsamen Traum, um dessen Deutung sie ihren Vater baten. Auf der Grundlage einer Prophezeiung des Patriarchen Enoch eröffnete ihnen Shemhazay, sie würden beide in der Flut umkommen. Zum Ausgleich würden ihre Namen in Zukunft jedes Mal ausgesprochen werden, wenn jemand beim Heben einer schweren Last ins Stöhnen verfiele. Shemhazay bereute seine Sünde und wurde von da an kopfüber zwischen Himmel und Erde aufgehängt, während ´Aza’el unerschrocken weiterhin Männer und Frauen verführte.

Die männlichen Gestalten dieser Geschichte sind bestens bekannt: Shemhazay und ´Aza’el sind die wichtigsten Exponenten der Engelkategorie der »Wächter«, Engel des Herrn, die nach dem Buch der Jubiläen, einem apokalyptischen jüdischen Werk aus dem 2. Jahrhundert v.Chr., zu den Menschen herab kamen, um sie zu unterrichten und für Gerechtigkeit auf Erden zu sorgen. Zugleich sind sie – nach einer apokalyptischen Tradition, die sich in dem Zyklus findet, der nach dem altjüdischen Patriarchen Enoch benannt ist, nämlich im Buch der Wächter (4.-3. Jahrhundert v.Chr.), in den Bilderreden (Ende des 1. Jahrhunderts v.Chr.) und in den

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Qumran-Fragmenten in aramäischer Sprache aus dem Buch der Riesen – auch die beiden Anführer einer rebellischen Engelschar, deren Vereinigung mit den Töchtern der Menschen der Ursprung des Riesengeschlechtes war. Die beiden Riesen Heyya und Aheyya sind ebenfalls weithin bekannt: Auch sie werden in den Qumran-Fragmenten erwähnt sowie in den griechischen, mittelpersischen und sogdischen Fragmenten des manichäischen Buches der Riesen. Der Name der Heldin indes, Estera, ist vollkommen neu, und weil er iranischen Ursprungs zu sein scheint, erhebt sich eine faszinierende Frage. Estera ist tatsächlich die Transkription eines Namens, der auf Persisch sowohl »Himmelskörper« als auch »der Planet Venus« (setareh) heißt. Diese Zweitbedeutung scheint die Heldin des Midraschs von Shemhazay und ´Aza’el mit der Heldin einer parallelen islamischen Legende zu verbinden, die offenkundig iranischen Ursprungs ist. In den verschiedenen Versionen dieser antiken Legende wird die Heldin nicht in das Sternbild der Plejaden aufgenommen, sondern zum Planeten Venus verwandelt, dessen Namen sie dann auch trägt – in den Formen Zuharah (arabisch »Glanz«), Bidokht (persisch »kinderlose Frau«) und Nahid (arabisch-persisch »Frau mit schwellenden Brüsten«).

D i e b i b l i sc he G e s c hi c h t e v o n » S u s an n a u n d d e n Ä l te s t e n « Die Erzählung von »Susanna und den Ältesten« spielt im Alten Testament nur eine marginale Rolle. Sie gehört zu den vier apokryphen Abschnitten, die dem Buch Daniel hinzugefügt wurden, in diesem Fall als Kapitel 13; die anderen drei sind das Gebet des Asarja (Daniel 3: 24-50), der Lobgesang der drei jungen Männer im Feuerofen (Daniel 3: 51-90) sowie die Geschichten von Daniel und den Priestern des Bel (Daniel 14:1-22) und Daniel und dem Drachen (Daniel 14: 23-42). Weil der Text der Susanna-Erzählung in später erstellten strafrechtlichen Verfahrensregeln nicht erwähnt ist, wurde Susanna, als der Kanon der hebräischen Bibel fixiert wurde, nicht in die Liste der verbindlichen Texte aufgenommen. Anschließend wurde das in einer semitischen Sprache, wahrscheinlich in Aramäisch, abgefasste Original nicht weiter abgeschrieben und ging verloren. Dagegen ist die Geschichte von Susanna integraler Bestandteil der alten griechischen Version des Alten Testaments, der Septuaginta, und aller Bibelfassungen, die von dieser abgeleitet sind, sei es direkt, sei es durch Theodotions griechische Revision. Jedenfalls geriet die Episode in der hebräischen Kultur niemals in Vergessenheit. In der jüdischen Folklore aller Zeiten ist sie fest verwurzelt. 255

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In der römisch-katholischen Kirche gilt Susanna seit dem Konzil zu Trient (1546) als ein deuterokanonischer Text; die byzantinischen Kirchen halten ihn für einen kirchlichen Text außerhalb des Kanons, während die protestantischen Kirchen ihn als apokryphe Legende klassifizieren. Gegenwärtig ist festzustellen, dass der gebildeten Öffentlichkeit in der jüdischen oder protestantischen Kultur die Geschichte von Susanna fast unbekannt ist. Und doch hat gerade diese Erzählung viele bedeutende Maler wie Pinturicchio, Tintoretto, Veronese, Tiepolo, Rubens und Rembrandt inspiriert, dazu auch Komponisten vom Schlage eines Händel oder Hindemith. Zwar ist die Geschichte im Grunde gut bekannt, trotzdem dürfte eine kurze Inhaltsangabe nützlich sein. Susanna, die Tochter Hilkijas, eine fromme und außergewöhnlich schöne Frau, Mutter von vier Kindern, war die Ehefrau eines reichen Mannes namens Jojakim, der mit anderen Hebräern nach Babylon verschleppt worden war. Jojakim hatte ein großes Haus, das von einem großen Park umgeben war, zu dem jeden Morgen zwei Richter und »Älteste des Volkes« Zutritt erhielten, um Recht zu sprechen. Sie verliebten sich in Susanna, und als sie entdeckten, dass sie beide derselben Leidenschaft verfallen waren, verschworen sie sich, um Susanna zu vergewaltigen. Sie schlichen sich ungesehen in den Park und passten Susanna ab, als sie allein war und auf ihre Mägde wartete, die ihr für das bevorstehende Bad Parfüme und Öle holen sollten. Die beiden stürzten auf sie zu und drohten, sie würden, sollte sie nicht willig sein, öffentlich verkünden, sie hätten sie mit einem unbekannten jungen Mann in flagranti beim Ehebruch ertappt. Als Susanna sich widersetzte, verleumdeten die Ältesten sie vor dem Volk und sorgten dafür, dass sie zum Tod durch Steinigung verurteilt wurde. An dieser Stelle inspirierte der Engel des Herrn den Propheten Daniel, der damals noch ein Jüngling war. Dieser trat hervor und behauptete, die Angeklagte sei ohne angemessene Zeugenbefragung verurteilt worden; man möge ihm gestatten, beide Amtsträger getrennt als Zeugen zu befragen. Mit Zustimmung der Volksversammlung fragte Daniel die beiden Ältesten dann einzeln, unter welchem Baum Susanna bei ihrem vermeintlichen Ehebruch mit dem jungen Mann gelegen habe und in welchem Teil des Parks dies geschehen sei. Der eine antwortete: »Unter einer Zeder«, der andere: »Unter einer Eiche«. Aufgrund dieser Diskrepanz in ihren Aussagen erklärte Daniel sie für schuldig und prophezeite, sie würden vom Engel des Herrn bestraft werden. Die Volksversammlung sprach Susanna frei und verurteilte die beiden falschen Zeugen zum Tode. Laut Septuaginta wurden sie gefesselt, vor die Stadt gebracht und in eine Schlucht geworfen, wo der Engel des Herrn sie mit einem

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Blitz erschlug. Bei Theodotion heißt es nur, die Todesstrafe sei nach dem Gesetz des Moses vollstreckt worden.

D i e ä t hi o p i s c he V e r si o n d e r G e sc hi c h t e von Susanna Die in Äthiopien heimischen Juden, die so genannten Falaschim, hatten eine eigene spezielle Variante der Erzählung von Susanna, die in klassischem Äthiopisch verfasst war und den Titel Gädlä Sosenna trug, »Die Taten Susannas«. Er handelt sich dabei anscheinend um eine späte Überarbeitung des entsprechenden Septuaginta-Textes, aber diese Fassung enthält auch einige Details, die auf ein älteres Vorbild zurückgehen könnten. Ein König hatte eine Tochter namens Susanna (Sosenna/Susenna) und verheiratete sie mit einem anderen König. Die bald darauf verwitwete Susanna erhielt Heiratsanträge von zahlreichen Herrschern nah und fern. Sie lehnte diese ab, weil sie sich ausschließlich dem Dienst am Herren, ihrem Schöpfer, widmen wollte. Daraufhin wagten sich drei religiöse Älteste vor, die jeder für sich sicher waren, dass sie sie heiraten könnten. Als Susanna sie zurückwies, weil sie »unrein« seien und »gegen das Gesetz des Herrn« verstießen, machten die drei Alten gemeinsame Sache und beschuldigten sie fälschlich, sie habe sich sexuell aufreizend verhalten. Vor lauter Wut befahl Susannas Vater, sie in einen tiefen Brunnen zu werfen. Susanna erflehte eine Intervention des Erzengels Michael und machte sich dreimal das Zeichen des Herrn auf ihr Gesicht. Michael kam sofort, in Gestalt eines Mannes, der den König überredete, jeden der drei Alten getrennt zu befragen. Einer sagte, er habe Susanna bei unzüchtigem Treiben unter einem Feigenbaum gesehen, der zweite behauptete, es sei im königlichen Palast gewesen, und der dritte nannte als Tatort die Frauengemächer. Auf die Frage, zu welcher Tageszeit Susanna diese Sünde begangen habe, konnten sie keine Antwort geben. Susanna wurde freigesprochen und 77 Könige wählten sie zu ihrer Oberherrin.

Beim Vergleich mit dem griechischen Text der Septuaginta und mit Thedotions Revision weist der Text der Falaschim wesentliche Unterschiede auf. Die Szenerie ist die in volkstümlichen Erzählungen übliche: ein König, ein Palast und eine Anzahl königlicher Freier. Der Name der Heldin lautet immer noch Susanna, aber sie hat sich zu einer kürzlich verwitweten jungen Königin gewandelt, die entschlossen ist, der Krone zu entsagen, um sich dem Gebet zu widmen. Auch hat sich die Zahl der Verleumder Susannas vergrößert: nicht zwei, sondern drei – fast so, als wollte man das Gewicht der falschen Zeugenaussagen noch vergrößern.

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Zu den Einzelheiten, die auf eine ältere Vorlage als die SeptuagintaVersion hindeuten könnten, gehört die Figur, die zugunsten Susannas interveniert: der Erzengel Michael, der in Gestalt eines Mannes die Rolle Daniels übernimmt. Auch die Septuaginta-Version räumt dem »Engel des Herrn« noch eine wichtige Rolle ein; denn er ist es, der Daniel inspiriert, der ihm den kritischen Verstand verleiht und ihn auffordert, Susanna zu verteidigen. In den beiden Reden Daniels an die falschen Zeugen wird er jeweils zitiert, und er ist es, der am Ende die beiden Übeltäter mit einem Blitz zu Asche werden lässt. Erst in Theodotions Überarbeitung der Geschichte (im 2. Jahrhundert n.Chr.) wird der »Engel des Herrn« fast ganz eliminiert. Das spricht für die Annahme, dass in der archetypischen Fassung der Erzählung die Figur des jungen Propheten Daniel noch nicht vorgesehen war, und dass dessen Einführung zu einer fortschreitenden Marginalisierung des Erzengels führte, ad maiorem Danielis gloriam. Wenn man die Hypothese akzeptiert, dass Susannas Freier ursprünglich Engel waren (siehe Shemhazay und ´Aza’el), lässt sich auch leichter verstehen, warum der Erzengel Michael intervenierte, der traditionell als der stolzeste Widersacher der rebellischen Engel gilt, stets auf der Hut und auf die Wiederherstellung von Ordnung und Gerechtigkeit bedacht. In der äthiopisch-jüdischen Variante der Erzählung von Susanna erscheint erstmals das Motiv der jungen Frau, die sich dem Dienst an Gott verschreibt – ein Motiv, das zum Vorläufer weiterer interessanter Entwicklungen werden sollte.

D i e sam ar i t an i sc he » S u s an n a« Die samaritanische Variante der Erzählung von Susanna ist in nicht weniger als drei Versionen erhalten. Kurz gefasst lautet eine kollationierte Fassung dieser drei Versionen wie folgt: Der Hohepriester Amram hatte eine schöne, fromme und lernbegierige Tochter, die die Thora eigenhändig abgeschrieben hatte. (Ihr Name ist nicht überliefert.) Eines Tages bat sie ihren Vater um die Erlaubnis, dem Herrn ein ganzes Jahr als Gottgeweihte (Nasiräerin) auf dem heiligen Berg Gerizim zu dienen. Ihr Vater willigte ein und ließ ihr etwas unterhalb des Gipfels eine Unterkunft errichten, nicht weit entfernt von der Stelle, an der seit 25 Jahren zwei Nasiräer in der Isolation lebten. Als diese beiden sie im Mondlicht auf der Terrasse oberhalb ihrer Hütte sahen, wie sie Psalmen rezitierte und die Thora las, verliebten sie sich unsterblich in sie, denn ihr Gesicht leuchtete heller als der Mond. So beschlossen sie, sich ihr mit einem Trick zu nähern, und bedrängten sie. Zunächst leistete das Mädchen Widerstand, doch dann machte sie gute Miene zum bösen Spiel und bat die beiden, ihr Zeit zu geben, damit sie sich parfümieren und ihre 258

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besten Kleider anlegen könne; sie sagte, dann könnten die beiden über sie verfügen. Sie machte ihnen sogar weis, dass ihre eigene Lust noch größer sei als die der beiden Männer. Wieder in ihrer Behausung, verbarrikadierte sie sich dort und richtete ein langes, von Herzen kommendes Gebet an den Herrn. Gott intervenierte und ließ die beiden Einsiedler vorübergehend erblinden, sodass sie die Tür zur Hütte der Nasiräerin nicht finden konnten. Darüber auf das Äußerste erbost, stiegen sie hinab nach Sichem, wo die Bevölkerung sie willkommen hieß; man war erstaunt und aufgeregt, hatte man die beiden doch seit 25 Jahren nicht mehr erblickt. Vor dem Hohenpriester und der ganzen Gemeinde verkündeten die Männer in der Synagoge, sie hätten das Mädchen bei der Unzucht mit einem fremden Mann beobachtet. Während sich die Samariter auf freiem Feld versammelten, um das Mädchen auf dem Scheiterhaufen sterben zu sehen, nähert sich dessen Vater weinend dem Schauplatz; er kam mit seinem Stadtausrufer durch die Weinberge. Dort sahen die beiden eine Gruppe von Engeln, die in Gestalt samaritanischer Kinder eine Gerichtsverhandlung nachspielten. Der Junge, der die Rolle des Hohenpriesters spielte, war gerade damit beschäftigt, die beiden anderen Jungen in den Rollen der Nasiräer nacheinander zu befragen. Diesen Wink griff der Hohepriester Amram auf und beeilte sich, die beiden echten Nasiräer ebenso zu befragen. Dabei stellte sich heraus, dass ihre Zeugenaussagen nicht übereinstimmten. Als die Schuld der beiden falschen Zeugen erwiesen war, wurden sie zum Tod verurteilt. Nach einer der drei Versionen wurden sie zunächst gesteinigt und dann ins Feuer geworfen; nach einer anderen wurden sie nur gesteinigt, während sie in der dritten Fassung in Übereinstimmung mit den Rechtsvorschriften auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden. Anschließend wurde Amrams Tochter in der Stadt mit großen Feierlichkeiten willkommen geheißen.

Die Geschichte von Susanna in d e r a r a b i sc h- i sl am i s c h e n K u l tu r Der einzige Text in der arabisch-islamischen Literatur, der, soweit wir wissen, die bekannte biblische Geschichte unter dem Namen Susannas erzählt, ist Bestandteil eines Werkes mit dem Titel Tazyin al-aswaq fi ahbar al-'ushshaq, verfasst vom syrischen Autor Dawud al-Antaki (16. Jahrhundert), der sich speziell auf das Buch Daniel bezieht, aber den dortigen Text teilweise ändert und Eigenes hinzufügt. Eine kondensierte Form der biblischen Geschichte, kaum eine Seite lang, findet sich auch in einigen Ausgaben von Tausendundeine Nacht, die ägyptischen Ursprungs sind. An den Namen der Heldin allerdings erinnerte man sich nicht mehr. Zwei alte Wächter des Tempelgartens stellten einer tugendhaften israelitischen Frau, die die Gewohnheit hatte, in den Garten zu gehen, um dort ihre rituellen 259

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Waschungen zu vollziehen, eine Falle. Als die Avancen der beiden zurückgewiesen wurden, beschuldigten diese die Frau, Ehebruch mit einem jungen Mann begangen zu haben, der angeblich hatte fliehen können. Die Frau wurde zum Tod durch Steinigung verurteilt, doch noch während sie zur Hinrichtung geführt wurde, erhob sich der Prophet Daniel, damals erst zwölf Jahre alt, zu ihrer Verteidigung. Er bekam die Erlaubnis, das Gerichtsverfahren nochmals aufzurollen und befragte die beiden Zeugen getrennt voneinander. Der eine verlegte den Schauplatz der Missetat in die östliche Ecke des Gartens, wo ein Birnbaum wuchs, der andere in die westliche Ecke mit einem Apfelbaum. Die Verleumder wurden durch einen Blitzschlag getötet.

In diesem Stadium wurde aus der biblischen Geschichte, massiv überarbeitet, eine volkstümliche Erzählung. Jedenfalls scheint der arabische Text in Tausendundeine Nacht nicht vom griechischen Text der SusannaErzählung abhängig zu sein, sondern von der angenommenen hebräischen oder aramäischen Originalfassung, deren Text verloren gegangen sein muss. In einem der ältesten Erzählwerke der arabisch-islamischen Literatur findet sich eine Episode, die ohne den geringsten Zweifel die profanste und gröbste der Vergleichsversionen der biblischen Susanna-Erzählung darstellt. Es handelt sich um die Wahb bin Munabbih (654/5-728/732 n.Chr.) zugeschriebene Geschichte Davids (Hadith Dawud). Erstmals auf die Weisheit seines Sohnes Salomo aufmerksam wurde König David bei folgender Gelegenheit. Eine sehr attraktive unverheiratete Frau wandte sich zur Lösung eines Rechtsstreits an einen Richter; dieser sagte, er sei bereit, sich mit der Angelegenheit zu befassen, wenn sie dafür bereit sei, ihn zu heiraten. Als sie dieses Ansinnen ablehnte, versuchte der Richter, sie zu vergewaltigen. Desillusioniert wandte sich die junge Frau anschließend an den Anführer der Leibgarde, den Inspektor der Märkte und den Großkämmerer des Königs. Doch alle drei verhielten sich nicht anders als der Richter. Die Frau verlor das Vertrauen in die Gerechtigkeit der Menschen und gab den Versuch auf, ihr Recht zu bekommen. Als die vier Würdenträger eines Tages am Hofe zusammentrafen, kam ihr Gespräch auf ihre Begegnungen mit dieser Frau; aus Angst, von ihr bloßgestellt zu werden, beschlossen die vier, sich ihrer mit einer verleumderischen Anklage zu entledigen: Die Frau habe fleischliche Beziehungen mit ihrem Hund. Der entsetzte David zögerte nicht, das Todesurteil zu verkünden. Als der junge Salomon von der Angelegenheit erfuhr, ritt er mit seinen Gefährten aus, um eine gerichtliche Anhörung nachzuspielen; er teilte seinen Freunden die Rollen der vier Männer zu und übernahm selbst die Rolle des Richters. Er trennte die vier Zeugen und fragte jeden einzeln, welche Farbe der Hund denn gehabt habe. Der erste sagte, er sei schwarz, der zweite, er sei rötlich, der dritte, er sei weiß, der vierte, er sei grau gewesen. Salomon ritt mit seinen Gefährten zurück zum Palast und berichtete seinem Vater über die Er-

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gebnisse der Befragung. Der König lernte seine Lektion und bestellte die vier Würdenträger ein, die die Frau beschuldigt hatten. Bei ihrer getrennten Befragung erhielt dann auch der König dieselben widersprüchlichen Antworten, die sein Sohn vorweggenommen hatte. So wurden die vier Verleumder anstelle der unschuldigen Frau gesteinigt.

In den ersten Jahren des Islam muss demnach eine Geschichte in Umlauf gewesen sein, die entfernt von der Susanna-Erzählung inspiriert war, in der sich ja das Motiv der drei Jungen findet, die zum Spaß ein Gerichtsverfahren nachspielen. Einer von ihnen war dazu bestimmt, ein vorislamischer Prophet zu werden, und das ist in der Tat die Rolle, die die Muslime Salomo zubilligen. Eine weitere unerwartete Umarbeitung der biblischen Geschichte von Susanna findet sich in einem alten Erzählwerk mit dem Titel Hadith algumgumah ma’a l-malik, Die Geschichte vom Schädel und dem König, das sich jetzt in der Forschungs- und Landesbibliothek Gotha befindet. Es handelt sich um eine bemerkenswerte Erzählung mit allen Zutaten einer Geschichte aus Tausendundeine Nacht: volkstümlicher Stil, fabelhafte Beschreibungen, Theatercoups, Einschub von kommentierenden Versen. Susanna (Sawsanah), die verwaiste Enkelin eines mächtigen Königs der Israeliten, bat ihren Großvater eines Tages, er möge ihr eine Zelle in der Wüste errichten, wo sie Gott dienen könne, bis sie ganz zu Ihm gehen könne. Dann legte sie eine wollene Tunika an, zog in ihre Zelle und rezitierte die Psalmen. Die Stimme des Mädchens war so außerordentlich lieblich, dass die Vögel, betört von den Melodien, kamen und sich auf ihrem Haupt niederließen. Nicht weit entfernt lag eine Einsiedlerzelle, in der zwei Diener Gottes ein Leben von großer Reinheit führten; einer von ihnen hieß Hiram, der andere Huraym. Eines Tages kamen sie beide aus ihrer Zelle und gingen dorthin, wo das Mädchen lebte. Sie rezitierte einige Psalmen für die beiden, und diese kehrten verwundert in ihre Zelle zurück. Doch in ihren Herzen brach eine große Leidenschaft für das Mädchen aus, und sie verliebten sich in sie. Sie begaben sich zu Susannas Zelle und grüßten sie. Als sie zu ihnen herauskam und ihnen zu essen brachte, sprangen sie sie an und hielten sie fest. Doch sie tat so, als wollte sie sich ihren Wünschen gerne fügen, und bat um die Erlaubnis, eben noch in ihre Zelle zu gehen, um alles vorzubereiten und dort einen Augenblick allein zu sein. Die beiden willigten ein, doch Susanna versperrte die Tür ihrer Zelle, kletterte hinaus auf das Flachdach und verfluchte die beiden Männer von dort oben. Die Männer wurden wütend und gingen in die Stadt, um dem König zu erzählen, dass seine Enkelin Unzucht treibe; sie hätten sich beeilt, um sie anzuzeigen, damit er sie zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilen könne. Der schockierte König schenkte ihnen Glauben und befahl seinen Männern, auf einem großen Platz einen Stapel aus Reisigbündeln aufzuschichten. Dann ging er be261

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trübten Herzens fort, um in den Wäldern und Obstgärten ein wenig Entspannung zu suchen. Dort sah er sechs Jungen, die ihre Reisigbündel auf den Boden warfen, etwas aßen und dann eine Gerichtsverhandlung nachspielten. Einer von ihnen spielte den Richter, eine weiterer die Rolle Hirams, ein weiterer die Rolle Hurayms. Der Jüngling, der den Richter spielte, rief den ersten der beiden auf, vor ihm zu erscheinen, und fragte, während der andere in der Ferne wartete, ob er Susanna bei der Unzucht zugesehen habe. Die Frage wurde bejaht. Darauf fragte der »Richter« weiter, wer mit ihr Unzucht getrieben habe, und erhielt zur Antwort, es sei ein junger Mann mit schwarzem Bart gewesen, dunkelhäutig, groß und gut aussehend. Der »Richter« forderte den Zeugen auf, wieder zurückzutreten, und ließ den zweiten Zeugen vortreten. Auch diesen fragte er, ob er Susanna bei der Unzucht zugesehen habe. Er nickte zustimmend. So wurde auch er aufgefordert, den Mann zu beschreiben, der mit Susanna Unzucht getrieben habe. Er antwortete, es habe sich um einen Jungen mit glatter Haut, ohne Bart und Flaum auf den Wangen gehandelt, hellhäutig, klein und gut aussehend. Dann demonstrierte der junge Mann seinen Gefährten, wie sich ihre Aussagen widersprochen hätten, und kam zu dem Schluss, die Zeugenaussagen Hirams und Hurayms würden sich genauso widersprechen. Als der König ihre Worte hörte, freute er sich sehr und lud den jungen Mann, der den Richter gespielt hatte, ein, mitzukommen und die beiden Gottesdiener genauso zu verhören, wie er es gerade getan habe. Der Jüngling willigte ein und ging mit dem König in die Stadt zurück. Am nächsten Morgen ließ der König den jungen Mann die Robe eines Anwalts anlegen und lud ihn ein, auf einem feinen Sitz Platz zu nehmen. Als sich die führenden Vertreter des Landes versammelt hatten, ordnete der Jüngling an, Hiram und Huraym hereinzuführen, und die ganze Verhandlung verlief genau so, wie sie sich am Tag zuvor im Obstgarten abgespielt hatte. Also erklärte der Jüngling die beiden Gottesdiener für schuldig, und die Menge bat den König, sie hinzurichten. Der König befahl seinen Männern, Hiram und Huraym zu steinigen und sie in die Grube zu werfen, die bereits für Susanna ausgehoben war. Dann wandte sich der König an den jungen Mann und fragte ihn, wer sein Vater sei. Die Antwort lautete, es sei Zacharias. Der König schenkte ihm prächtige Gewänder und gab ihm ein liebliches Mädchen zur Braut. Unmittelbar danach machte sich der König zu der Zelle auf, in der Susanna lebte, ging hinauf zu ihr und erzählte ihr die Geschichte von Hiram und Huraym. Der Kommentar des Mädchens lautete: »Vergeblich müht sich der Mensch, wenn er mit Gott nicht zufrieden ist«. Der König verabschiedete sich wieder von ihr und ging in die Stadt zurück, während das Mädchen weiter dem Allerhöchsten diente, bis ihr letztes Stündlein gekommen war.

Die Episode aus der Geschichte vom Schädel und dem König über die junge Einsiedlerin, die verleumdet und deren Name dann reingewaschen wird, ist nicht, wie man auf den ersten Blick vermuten würde, eine Umarbeitung der biblischen Geschichte von Susanna, sondern, so seltsam 262

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das auch anmuten mag, eine ziemlich genaue Reproduktion der samaritanischen Variante dieser Erzählung. Es ist allerdings höchst verwunderlich, dass ein arabisch-muslimischer Erzähler sich von der samaritanischen Literatur inspirieren ließ, einer der marginalsten und unzugänglichsten Literaturen des Nahen Ostens. Wie und wo der Autor der Geschichte vom Schädel und dem König diese samaritanische Variante kennen lernte, bleibt somit eine äußerst interessante Frage. Die Geschichte vom Schädel und dem König könnte ein weiterer Beleg für den von fachlichen Autoritäten angenommenen Einfluss sein, den die samaritanische Kultur in den beiden ersten Jahrhunderten auf den Islam ausübte. Man geht tatsächlich davon aus, dass der Islam wichtige Bestandteile seiner endgültigen Identität aus dem Samaritertum entnahm, um sich so klar wie möglich vom Judentum und vom Christentum abzugrenzen. Die Begegnung mit dem ideologischen und rituellen Erbe der Samariter müsste darum in die Zeit der Umayyaden fallen (661-750 n.Chr.), auf jeden Fall in die Zeit, bevor die Aussprüche des Propheten (Hadith), das islamische Recht und die Koran-Exegese schriftlich fixiert wurden. Dieser Kodifizierungsprozess begann erst um das Jahr 143 nach der Hidjra (also 760/761 n.Chr.).

Eine Parallele in der italienischen Literatur d e s M i tt e l al t e r s Der Traditionsstrang, an dessen Anfang die samaritanische »Susanna« und die Susanna der Geschichte vom Schädel und dem König stehen – beides gottgeweihte Jungfrauen in isolierten Zellen, die gleichwohl den Nachstellungen zweier lüsterner, skrupelloser alter Männer nicht entgehen können –, ist anscheinend nicht auf die Gegenden östlich und südlich des Mittelmeers beschränkt geblieben. Auch starb diese Version der Geschichte nicht aus, sondern sie kam möglicherweise über das Meer und lebt nun im Westen in einer der Novellen von Boccaccios Decamerone fort. Es handelt sich um die 10. Novelle des 3. Tages, die ungerührt obszönste Erzählung, die Giovanni Boccaccio (1313-1375) jemals schrieb. Die Heldin ist eine vierzehnjährige muslimische Jungfrau mit dem exotischen Namen Alibek, die darauf brennt, dem Gott der Christen in der thebaischen Wüste zu dienen. Die Überschrift lautet: »Alibek wird Einsiedlerin. Der Klausner Rustico lehrt sie, den Teufel in die Hölle zu schicken. Als sie zurückkehrt, wird sie die Frau des Neerbal.«2

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Vgl. Giovanni Boccaccio: The Decameron. 21 Novelle, Hg. u. Übers. Mark Musa/Peter E. Bondanella, New York: W.W. Norton & Company, 1977, 263

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Tatsächlich bietet diese Novelle aus dem Decamerone die genaueste Entsprechung zur arabisch-islamischen Episode von Susanna. Erstens ist der Hintergrund der Susanna-Episode am Anfang der Geschichte vom Schädel und dem König identisch mit dem in Boccaccios Novelle: ein fremdes Land, in dem hier und da für die Diener Gottes Einsiedlerzellen und Klöster verstreut sind – ein Terrain wie die Wüsten Ägyptens in den Lebensbeschreibungen der Kirchenväter. Sodann sind die pubertierenden Heldinnen – die eine ist Enkelin eines Königs, die andere Tochter eines steinreichen Mannes »aus der Stadt Capsa in der Berberei« – beide von einem starken Verlangen geprägt, Gott in der Einsamkeit zu dienen. Bei ihrer Suche nach spiritueller Vervollkommnung treffen beide mit Einsiedlern zusammen: Susanna gegen ihren Willen, Alibek im Verlauf ihres Unterrichts in der christlichen Lehre. Mehrere Klausner haben Alibek – aus Angst, ihrer Schönheit auf Dauer nicht widerstehen zu können – bereits weitergeschickt, als sie bei Rustico landet, einem heiligen Einsiedler, der jünger als die anderen, zudem unbekümmert und dreist ist. Von diesem Punkt an nehmen beide Novellen allerdings einen deutlich anderen narrativen Verlauf. Susanna überwindet ihre anfängliche Fassungslosigkeit und reagiert geistesgegenwärtig; sie entzieht sich ihren Versuchern mit einer unerwarteten List, als sie ihnen suggeriert, sie sei nur noch darauf aus, ihnen zu Willen zu sein. Alibek dagegen unterwirft sich Rustico mit passiver, provozierender Naivität. Hier liegt die Annahme nicht allzu fern, Boccaccio könnte irgendwo ein Echo der Susanna-Sektion in der Geschichte vom Schädel und dem König gehört haben, vielleicht als er in Neapel von 1328 bis 1340 seine menschlich und intellektuell prägenden Jahre verbrachte. Unter Robert von Anjou (1309-1343) war Neapel eine glänzende Metropole und ein führendes Handelszentrum, wo Menschen, Güter und Ideen aus dem gesamten Mittelmeerraum zusammentrafen, insbesondere aus Nordafrika. So mag auch diese arabische Erzählung irgendwie übers Meer gekommen sein. So gesehen könnte Boccaccio, als er aus der schlauen Keuschheit der Heldin einer als warnendes Beispiel gedachten arabiS. 69-73. Zur Klärung der Teufelsmetaphorik genügt ein kurzer DialogAuszug vom Anfang der Novelle. Alibek fragt Rustico: »Was ist das, Rustico, was Ihr da vorne habt und ich nicht?« »Ach, meine Tochter«, sprach Rustico, »das ist eben der Teufel, von dem ich dir gesagt habe, und wie du siehst, beunruhigt er mich so sehr, dass ich es fast nicht aushalten kann.« »Nun, gottlob«, sprach Alibek. »Mir geht es besser als dir, denn ich habe keinen solchen Teufel wie du.« »Das ist wahr«, sprach Rustico. »Dafür hast du aber etwas, das ich nicht habe, und das ist ebenso schlimm.« »Was wäre denn das?«, fragte Alibek. »Du hast die Hölle«, sprach Rustico, »und ich glaube, Gott hat dich zum Heile meiner Seele zu mir gesandt.« 264

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schen Erzählung die unwissend-naive Herausforderung Alibeks machte, eine seiner spöttischen Parodien von Motiven aus der mönchischen Tradition und der Bußkultur seiner Zeit geliefert haben.

Z u s a m m e n f a s su n g Fünf Stadien eines Entwicklungsprozesses lassen sich in der Abfolge von Veränderungen erkennen, die die wechselvolle Geschichte von mindestens zwei einflussreichen Persönlichkeiten männlichen Geschlechts durchlaufen hat, die sich einer attraktiven, aber keuschen jungen Frau bemächtigen wollen (die hier aus Gründen der Vereinfachung durchgängig Susanna genannt werden soll). Dabei wurde diese Erzählung zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Teilen der mediterranen Welt zum Bestandteil der jüdischen, christlichen und muslimischen Kultur. Das erste Stadium (A), zeitlich am weitesten entfernt, ist nur mit einer einzigen Episode im entfernten indo-europäischen Mythos der Dioskuren vertreten – einer Episode, die sich in der Sanskrit-Literatur, in der Erzählung von Sukanya und den Himmlischen Zwillingen, widerspiegelt (Mahabharata iii, 123). Das zweite Stadium (B) besteht aus einer volkstümlichen iranischen Erzählung, aus der sich einerseits die islamische Legende von Harut und Marut (B1) herleitet, andererseits die jüdische Legende von Shemhazay und ´Aza’el (B2). In A und B fehlen noch die Motive der »liebreizenden verleumdeten Frau« und des »weisen Jünglings« (David, Salomo, Johannes der Täufer [im Islam: Yahya]). Beteiligt sind nur drei Charaktere: eine junge verheiratete Frau und zwei übernatürliche Wesen. In B2 ist die Zahl der handelnden Hauptpersonen sogar noch geringer; es geht um einen Engel, der die Frau beobachtet, und um die beobachtete Jungfrau. Anders als im Stadium A wird die Leidenschaft der übernatürlichen Wesen für eine sterbliche Frau in Phase B streng bestraft. Das dritte Stadium (C) vertritt der Archetyp, von dem einerseits die biblische Geschichte aus dem Buch Daniel (C1) abgeleitet ist, andererseits die Urfassung der äthiopisch-jüdischen Variante der Falaschim, die wir nur aus einem Manuskript aus dem 15. Jahrhundert kennen (C2). Typisch für diese Phase ist die Ersetzung der beiden Engel durch zwei oder mehr menschliche Autoritätspersonen: zwei in der biblischen Geschichte, drei in der äthiopisch-jüdischen Erzählung. Zugleich wird das Motiv der »liebreizenden verleumdeten Frau« eingeführt, woraus wiederum der Auftritt einer positiven Engelsfigur folgt, fast so, als müsse die Ersetzung der Wächterengel durch menschliche Wesen auf diese Weise kompen-

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siert werden. Daher der »Engel des Herrn« in der biblischen Geschichte, der in der Erzählung der Falaschim mit dem Erzengel Michael identifiziert wird. Während in dieser Variante Michael in Menschengestalt persönlich eingreift, delegiert er dieses Eingreifen in der Septuaginta-Version an den jungen Daniel und bleibt selbst hinter den Kulissen. Erst am Ende greift er direkt ein, indem er die beiden Übertäter vernichtet. In Theodotions griechischer Version wird der Engel eliminiert; er ist zur unbequemen Figur geworden. Dadurch wird Daniel aus der Rolle des Vollstreckers von Engelsbefehlen befreit und zum wahren Protagonisten der Erzählung erhoben. Die arabische Version in Tazyin al-aswaq (16. Jahrhundert) ist mit der mittelalterlichen Übermittlung der griechischen Septuaginta-Quelle verbunden; die in Tausendundeine Nacht zitierte Episode scheint dagegen auf den semitischen (hebräischen oder aramäischen) Ursprung der biblischen Susanna-Geschichte zurückzugehen. Sowohl die biblische (C1) als auch die äthiopisch-jüdische Erzählung (C2) gehören in mancher Hinsicht noch dem Genre der heiligen Geschichte an: erstere dank der Gestalt Daniels, letztere aufgrund der Rolle, die der Erzengel Michael spielt. In völligem Gegensatz dazu sind die Weiterentwicklungen der Susanna-Geschichte entweder fromme Legenden oder didaktische Novellen. Im vierten Stadium (D) hat sich die junge Ehefrau in eine junge Frau verwandelt, die keinerlei Heiratsabsichten hat. Die samaritanische »Susanna« (D1) und die »Susanna« der Geschichte Davids (D2) haben eine gemeinsame derartige Quelle. Diese Phase der Entwicklung steht der äthiopisch-jüdischen Erzählung näher als der biblischen Version. Nunmehr verweist nichts mehr auf die Figur Daniels, des vom »Engel des Herrn« eingesetzten »weisen Jünglings«. An Daniels Stelle tritt jetzt eine kleine Gruppe von Engeln, die in Gestalt von Knaben ein Gerichtsverfahren nachspielen und dem Hohenpriester auf diese Weise zeigen, wie er die Verleumder seiner Tochter befragen und bestrafen kann. In der entsprechenden Episode der Geschichte Davids übernehmen der junge Salomo und seine Spielgefährten diese Rolle. Einen weiteren Entwicklungsschritt unserer Erzählung erkennt man im Fall Susannas in der Geschichte vom Schädel und dem König (D3). Diese scheint direkt von der samaritanischen Variante der Susanna-Erzählung (D1) abzuhängen, aber sie enthält auch das Thema des jungen Propheten (man vergleiche den jungen Salomo in der Geschichte Davids, D2), der im Rollenspiel mit Kameraden einer Gerichtsverhandlung vorsitzt. Der Verfasser der Geschichte vom Schädel und dem König schreibt Johannes dem Täufer, also Yahya, dem Sohn des Zacharias (vgl. Koran 3:38-42), die Rolle des tatsächlichen Richters über die falschen Zeugen zu – eine Rolle, die in der biblischen Geschichte Daniel zukam.

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Ich halte es für bemerkenswert, dass unsere Erzählung in allen Phasen, mit Ausnahme der Geschichte Davids, vom Neunten Gebot (»Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib«) inspiriert ist. In der samaritanischen Variante und in der Version, die Bestandteil der Geschichte vom Schädel und dem König ist, wird dieses Verbot sogar auf jene ausgedehnt, die eine Gott geweihte Jungfrau begehren. Das letzte Stadium (E) stellt Giovanni Boccaccios lustige Parodie im Decamerone (10. Novelle des 3. Tages) dar. Alibek, das naive Mädchen, wird am Ende dadurch gerettet, dass Rustico physisch erschöpft ist und Neerbal – ein mittelloser junger Mann, der bemerkt hat, dass Alibek inzwischen zur reichen Erbin geworden ist – das Mädchen gegen ihren Willen nach Capsa zurückbringt und heiratet. Interessanterweise ist der Einsiedler Rustico in seiner Funktion für die Handlungsstruktur der letzte Erbe der Dioskuren aus dem indoeuropäischen Mythos, zu deren göttlichem Aufgabenbereich auch die Sorge für glückliche Ehen gehörte; er betätigt sich ebenfalls als Ehestifter – für Alibeks (hoffentlich glückliche) Ehe mit Neerbal. Die Abfolge der verschiedenen Entwicklungsstadien in unserer Erzählung, wie sie im vorliegenden Beitrag rekonstruiert wurde, einer Entwicklung, die als Einzelepisode im indo-europäischen Mythus von den »Zwillingsrittern« begann, lässt sich wie folgt schematisch darstellen: A – ›Indo-europäischer‹ Mythos Mahabharata, Erzählung von Sukanya B – Iranische Volkslegende (B1) Islamische Version

(B2) Jüdische Version

C – Heilige Geschichte (C1) Susanna im Buch Daniel

(C2) äthiopisch-jüdische Version der Susanna-Erzählung

D – Weltliche Erzählung (D1) Samaritanische (D2) Susanna in der (D3) Susanna in der »Susanna« Geschichte Geschichte vom Davids Schädel und dem König (E) – Parodie: Die Geschichte von Alibek und dem Klausner Rustico im Decamerone

Übersetzung: Henning Thies 267

A NHANG

ABBILDUNGEN Abbildung 1: Traugott Fuchs mit Katze, Robert College (Bosporus University), ca. 1955

Abbildung 2: Traugott Fuchs mit Buch, Robert College (Bosporus University, 17.7.1952

(Traugott Fuchs-Nachlass, Bosporus University, Istanbul)

Abbildung 3: Erich Auerbach im Sommeranzug, Istanbul, ca. 1944

(Archiv Martin Vialon, Istanbul) 271

ANHANG

Abbildung 4: Faksimile des Briefes an Traugott Fuchs vom 22.10.1938 (Vorderseite)

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ANHANG

Abbildung 5: Traugott Fuchs, »Schlafend trägt man mich in meine Heimat dann« (1961)

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BIO-BIBLIOGRAPHISCHE ANGABEN ZU ERICH AUERBACH, TRAUGOTT FUCHS UND L E O S P I T Z E R 1 (M A R T I N V I A L O N ) U N D H E L L M U T R I T T E R (G E O R G S T A U T H ) E r i c h A u e r ba c h Vita Geboren: 9. November 1892 in Berlin. Gestorben: 13. Oktober 1957 in Wallingford, Conn. (USA). Konfession: Mosaisch. Vater: Hermann Auerbach, Preußischer Kommerzienrat. Mutter: Rosa Block. Heirat: Marie Mankiewitz, 1923. Kinder: Clemens (1923-2002). Enkelkinder: Claude, Bluffton, North Carolina (USA). Nachlass: Verstreut. Teilnachlass: Deutsches Literaturarchiv Marbach (seit Oktober 2005). Abitur: Französisches Gymnasium Berlin, 1910. Studium der Jurisprudenz in Berlin,

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Bei den bio-bibliographischen Angaben, die sich auf Erich Auerbach und Leo Spitzer beziehen, wurde lediglich eine Auswahl der wichtigsten primären Texte berücksichtigt. Die Forschungsliteratur wird ebenso selektiv wiedergegeben, wobei jedoch die zusammengestellten Daten, die sich auf Auerbachs gedruckte Briefe und Traugott Fuchs’ Werk und Rezeptionsgeschichte beziehen, Anspruch auf Vollständigkeit anstreben. Nicht zuletzt belegt diese Auswahlbibliographie, dass ein verstärktes Forschungsinteresse an Auerbachs Werk seit Beginn der neunziger Jahre einsetzt. Obwohl nicht alle erschienenen Titel aufgeführt sind, macht der Vergleich zu Spitzer deutlich, dass dessen Werk – abgesehen von der gerade veröffentlichten Edition seiner Briefe an den Sprachwissenschaftler Hugo Schuchardt – weniger Beachtung findet. Ein Grund dieser Zurückhaltung mag vielleicht darin liegen, dass Spitzer kein systematisches Hauptwerk verfasst hatte. Dagegen ist erstaunlich, dass das Werk von Fuchs – hier insbesondere der bildnerische Bereich – sich einer gesteigerten Rezeption erfreut, die wohl nicht zuletzt durch seine Ausnahmestellung als deutscher Intellektueller und Künstler am Bosporus bedingt ist. Eine große Hilfe zur Erstellung dieser Bio-Bibliographie stellen die verzeichneten Vorarbeiten von Hans Helmut Christmann (1989) und Frank-Rutger Hausmann (2000) dar. 275

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Freiburg i. Br., München und Heidelberg von 1910 bis 1913. Promotion 1913 (s. Schriften). Kriegsdienst von 1914 bis 1918, schwer verwundet. Studium der Romanischen Philologie, lateinischen Philologie und Philosophie in Berlin und Greifswald von 1918 bis 1921. Promotion bei Eduard Lommatzsch 1921 (s. Schriften). Staatsexamen: 1922, danach Ausbildung zum Bibliotheksdienst. Bibliotheksdienst an der Preußischen Staatsbibliothek Berlin von 1924 bis 1929. Habilitation bei Leo Spitzer 1929 (s. Schriften). Lehrtätigkeit: 1930 bis 1935 Professor für Romanische Philologie an der Universität Marburg, Zwangsemeritierung im Oktober 1935. Emigration in die Türkei und Exil in Istanbul von September 1936 bis August 1947. Professor für Europäische Philologie an der Istanbul Universität und Leiter der Fremdsprachenschule der Universität. 1947: Emigration in die USA. 1948: Visiting Professor, Pennslyvania State College. 1949: Member of the Institute for Advanced Study, Princeton. 1950: Professor für mittelalterliche Literatur, Department of French, Yale University, New Haven, Conn. 1956: Sterling Professor of Romance Philology, Yale University.

Schriften Die Teilnahme in den Vorarbeiten zu einem neuen Strafgesetzbuch, Berlin 1913 (zugleich Heidelberg, Jur. Diss.); Zur Technik der Frührenaissancenovelle in Italien und Frankreich, Heidelberg 1921 (zugleich Greifswald, Phil. Diss.); Giambattista Vico: Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Nach der Ausgabe von 1744 übersetzt und eingeleitet von Erich Auerbach, München 1924; Dante als Dichter der irdischen Welt, Berlin 1929 (zugleich Marburg, Habil.); Das französische Publikum des 17. Jahrhundert, München 1933; Romantik und Realismus, in: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung 9 (1933), S. 143-153; Giambattista Vico und die Idee der Philologie, in: Homenatge a Antoni Rubio i Lluch, Barcelona 1936, S. 293-304. Über die ernste Nachahmung des Alltäglichen, in: Erich Auerbach/Sabahattin Eyüboğlu (Comité de Rédaction): Romanologji Semineri Dergisi. Travaux du Séminaire de Philologie Romane 1, Istanbul 1937, S. 262-293; Figura, in: Archivum Romanicum, 22 (1939), S. 436-489 S. 55-92); Passio als Leidenschaft, in: Publications of the Modern Language Association of America, LVI (1941), pp. 1179-1196; Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern 1946; Der Triumph des Bösen. Versuch über Pascals politische Theorie, in: Felsefe Archivi I (1946), S. 51-75. Epilegomena zu Mimesis, in: Romanische Forschungen, 65 (1953), S. 1-18; Vier Untersuchungen zur Geschichte der franzö-

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BIO-BIBLIOGRAPHISCHE ANGABEN

sischen Bildung, Bern 1951; Philologie der Weltliteratur, in: Walter Henzen/Walter Muschg/Emil Staiger (Hg.): Weltliteratur. Festschrift für Fritz Strich, Bern 1952, S. 39-50; Sermo humilis I, in: Romanische Forschungen, 64 (1952), S. 304-364; Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter, Bern 1958; Gesammelte Aufsätze zur Romanischen Philologie, Bern 1967.

Briefe Ottavio Besomi (Ed.): Il Carteggio Croce-Auerbach (1923-1948). In: Estratto dall’ Archivo Storico Ticenese, 69 (1977), S. 3-40; Karlheinz Barck: 5 Briefe Erich Auerbachs an Walter Benjamin in Paris (19351937). In: Zeitschrift für Germanistik, 6 (1988), S. 688-694; Martin Vialon (Hg.): Erich Auerbachs Briefe an Martin Hellweg (1939-1950). Edition und historisch-philologischer Kommentar, Tübingen 1997; Karlheinz Barck/Martin Treml: Mimesis in Palästina. Zwei Briefe von Erich Auerbach an Martin Buber (1956/57). In: Trajekte, 2 (2001), S. 5-7; Werner Krauss: Briefe 1922-1976, hrsg. von Peter Jehle, unter Mitarbeit von Elisabeth Fillmann und Peter-Volker Springborn, Frankfurt 2002 (darin der Briefwechsel zwischen Auerbach und Krauss); Dieter Wuttke (Hg.): Erwin Panofsky. Korrespondenz. Eine kommentierte Auswahl in 5 Bänden, Wiesbaden 2001 ff (darin Auerbachs Briefe an Panofsky); Martin Vialon: Ein Exil-Brief Auerbach aus Istanbul an Freya Hobohm in Marburg, versehen mit einer Nachschrift von Marie Auerbach (1938), in: Trajekte, 9 (2004), S. 8-17; Martin Treml: Aus einem zerstreuten Archiv: Erich Auerbach an Fritz Saxl, Siena und Marburg im Jahre 1935, in: Trajekte, 10 (2005), S. 23 f; Guido Lucchini: Una mancata miscellenea in onore Leo Spitzer (1937). Due lettre inedite di Erich Auerbach a Giulio Bertoni, in: Strumenti Critica, 1 (2006), p. 99-116; Martin Elsky/Robert Stein/Martin Vialon: Scholarship in Times of Extremes: Letters of Erich Auerbach (1935-1946) on the Fiftieth Anniversary of his Death. In: Publications of the Modern Language Association of America (im Druck, 2007); Martin Vialon (Hg.): Erich Auerbachs Briefe von 1922 bis 1957 (DFG-Projekt am Zentrum für Literaturforschung Berlin, in Bearbeitung).

Forschungsliteratur Michael Nerlich: Romanistik und Anti-Kommunismus, in: Das Argument, 72 (1972), S. 276-313; Luiz Costa Lima: Historie und metahistori277

ANHANG

sche Kategorien bei Erich Auerbach, in: Beiträge zur romanischen Philologie, 23 (1987), S. 201-217; Hans- Jörg Neuschäfer: Sermo humilis. Oder: Was wir mit Erich Auerbach verloren haben, in: Hans Helmut Christmann/Frank-Rutger Hausmann/Manfred Briegel (Hg.): Deutsche und österreichische Romanisten als Verfolgte des Nationalsozialismus, Tübingen 1989, S. 85-94; Ulrich Schulz-Buschhaus: Auerbachs Methode, in: Richard Baum/Klaus Böckle/Franz Josef Hausmann/Franz Lebsanft (Hg.): Lingua et Traditio. Geschichte der Sprachwissenschaft und neueren Philologien. Festschrift für Hans Helmut Christmann, Tübingen 1994, S. 593-607; Karlheinz Barck: Figura e Imagem Dialética (A Concepção de História de Erich Auerbach na Perspectiva de Walter Benjamin. Tradução de Johannes Kretschmer), in: Jayme Salomão (Ed.): Erich Auerbach, 1892-1957, Rio de Janeiro 1994, p. 185-195. Martin Vialon: Erich Auerbach: Zu Leben und Werk des Marburger Romanisten in der Zeit des Faschismus, in: Lendemains. Vergleichende Frankreichforschung, 75/76 (1994), S. 135-155; Hans-Ulrich Gumbrecht: »Pathos of the Earthly Progress«: Erich Auerbach’s Everdays, in: Seth Lerer (Ed.): Literary History and the challenge of philology, Stanford 1996, pp. 1335; Gottfried Gabriel: Fact, Fiction and Fictionalism: Erich Auerbach’s »Mimesis« in Perspective, in: Bernhard F. Scholz (Hg.): Studien zur literarischen Repäsentation/Studies on Literary Representation, Tübingen 1998, S. 33-44; Walter Busch: Geschichte und Zeitlichkeit in »Mimesis«. Probleme der Vico-Rezeption Erich Auerbachs, in: Walter Busch/Gerhard Pickerodt (Hg.): Wahrnehmen. Lesen. Deuten. Erich Auerbachs Lektüre der Moderne, Frankfurt a.M. 1998, S. 63-84; Martin Elsky: Church History and the Cultural Geography of Erich Auerbach: Europe and its Eastern Other, in: Peter C. Herman (Ed.): Opening the Borders: Inclusivitiy in Early Modern Studies, Delaware 1999, pp. 324-349; Frank R. Ankersmit: Why Realism? Auerbach on the Representation of Reality, in: poetics today, 20 (1999), S. 53-76; Peter Jehle: Erich Auerbach – ein europäischer Philologe, in: Frank Fürberth/Peter Krügel/Ernst Metzner/Olaf Müller (Hg.): Zur Geschichte und Problematik der Nationalphilologien in Europa. 150 Jahre Erste Germanistenversammlung in Frankfurt a.M. (1846-1996). Tübingen 1999, S. 985-997; Ulrich SchulzBuschhaus: Erich Auerbach und die Literaturwissenschaft der neunziger Jahre, in: Sprachkunst. Beiträge für Literaturwissenschaft, XXX (1999), 97-119; Martin Vialon: Über Bilder, Mimesis, ein Gespräch über den Roman und den Film – Erich Auerbach und Siegfried Kracauer. In: Michael Ewert/Martin Vialon (Hg.): Konvergenzen. Studien zur deutschen und europäischen Literatur. Festschrift für E. Theodor Voss, Würzburg 2000, S. 157-167; Martin Elsky: Introduction to, and translation of Erich Auerbach’s »Passio as Passion« (Passion als Leidenschaft, 1941), in: Cri-

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BIO-BIBLIOGRAPHISCHE ANGABEN

ticism. A quarterly for Literature and the Arts, 43 (2001), pp. 285-308; Diane Meur: Das französische 17. Jahrhundert als Paradigma bei Erich Auerbach und Werner Krauss, in: Hermann Hofer/Thilo Karger/Christa Riehn (Hg.): Werner Krauss: Literatur. Geschichte. Schreiben, Tübingen 2003, S, 129-141; Martin Vialon: »Philologie als kritische Kunst«: Ein unbekanntes Vico-Typoskript von Erich Auerbach über Giambattista Vicos Philosophie (1948) im Kontext von »Mimesis« (1946) und im Hinblick auf »Philologie der Weltliteratur« (1952). In: Helga Schreckenberger (Hg.): Die Alchemie des Exils. Exil als schöpferischer Impuls, Wien 2005, S. 227-251; Matthias Bormuth: Mimesis und der christliche Gentleman. Erich Auerbach schreibt an Karl Löwith, Warmbronn 2006 (darin faksimilierte Wiedergabe der Briefe an Löwith: 4. Juli 1948 und 26. Mai 1953); Karlheinz Barck/Martin Treml (Hg.): Erich Auerbach. Geschichte und Aktualität eines europäischen Philologen, Berlin 2006.

T r a ug o t t F uc h s Vita Geboren: 23. November 1906 in Lohr (Elsass). Gestorben: 21. Juni 1997 in Istanbul. Konfession: Protestantisch. Vater: Karl Fuchs, protestantischer Pfarrer. Mutter: Marie Adelheid Krencker. Nachlass: Bosporus Universität (Department of History), Istanbul. Abitur an der Oberrealschule Schmalkalden, 1925. Studium der Romanischen Philologie, Germanistik und Philosophie in Berlin, Heidelberg, Marburg und Köln von 1926 bis 1933 bei Gustav Roethe, Eduard Spranger, Max Friedländer, Friedrich Gundolf, Ernst Bertram und Leo Spitzer. Promotion bei Spitzer über den sprach- und literaturgeschichtlichen Begriff »Je ne sais quoi« vom 18. bis 20. Jahrhundert aufgenommen, aber bei einem Wohnungsbrand in Istanbul wurde das fertige Manuskript im Jahr 1943 zerstört. Lehrtätigkeit als wissenschaftlicher Assistent von Leo Spitzer in Köln von 1930-1933. Organisator einer Petition und Protestveranstaltung gegen Spitzers Zwangsemeritierung durch die Nazis im April 1933. Verlust der Assistentenstelle und Lektorat für deutsche Sprache und Literatur in Caen (Normandie) von Sommer 1933 bis Frühjahr 1934. Emigration in die Türkei im Februar 1934. Lehrtätigkeit zunächst an der Sprachenschule der Universität Istanbul, später auch in der neu gegründeten Abteilung für deutsche Sprache und Literatur als kommissarischer Lehrstuhlinhaber für Germanistik bis 1942. Ab August 1944 dreizehnmonatige Internierung in der zentralanatolischen Provinz Çorum; zuvor Wehrdienstverweigerung gegenüber den deutschen Auslandbehörden in Istan279

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bul, als Reservist in die Wehrmacht eingezogen zu werden (alle Reichsdeutschen wurden infolge des Kriegseintrittes der Türkei im August 1944 interniert, somit auch Traugott Fuchs). Wiederaufnahme des Lektorats an der Istanbul Universität von 1946 bis 1978. Lehrtätigkeit am Robert College (ab 1971 Bosporus University) für deutsche und französische Sprache und Literatur von 1943 bis 1983, im Rang eines Assistant Professors von 1961 bis 1971, danach als Senior Lecturer. Neben der akademischen Lehrtätigkeit, Arbeit als Maler, Dichter und Übersetzer türkischer Poesie und Prosa. Umfangreicher Nachlass (s.o.: darin mehrere tausend Briefe von Freunden, Schülern, Bekannten und Familienmitgliedern; mehrere tausend Zeichnungen, mehrere hundert Ölgemälde, Gedichte und Photographien zur Stadtgeschichte Istanbuls von 1934 bis 1997). Verweigerung der Annahme einer Wiedergutmachung durch den deutschen Staat nach unzähligen Versuchen, diese zu erreichen. Ehrungen: Verleihung der Ehrendoktorwürde der Bosporus Universität im Jahr 1995.

Schriften Gabriel des Hons: Anatole France et Jean Racine ou La Clé de l’Art Francien, Paris 1927 (Rez.), in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, LIV. (1931), S. 352-357; La première poesie de Rimbaud, in: Erich Auerbach/Sahabattin Eyüboğlu (Comité de rédaction): Romanoloji Seminari Dergisi. Travaux du Séminaire de Philologie Romane 1, Istanbul 1937, S. 84-133; Çorum and Anatolian Pictures (Ausstellungskatalog), Istanbul-Bebek 1986 (Cultural Heritage Museum Publications I) ; A short story of my life, in: Ebd., S. 7-14 ; Gustave Flaubert: Die Legende vom Heiligen Julian dem Gastfreundlichen. Deutsch von Traugott Fuchs. Mit 16 alten Holzschnitten von Herrad Fuchs, Istanbul 1990; Lebenslauf Traugott Fuchs (teilediert von Anne Fuchs), in: Hermann Fuchs (Hg.): Bilder der Sehnsucht. Traugott Fuchs – ein Leben am Bosporus (Ausstellungskatalog), Köln 2001, S. 24-37.

Forschungsliteratur Fritz Neumark: Zuflucht am Bosporus, Frankfurt a.M. 1980, S. 92; Ergün Togrol: Foreword, in: Çorum and Anatolian Pictures, Istanbul-Bebek 1986, S. 5; Frank-Rutger Hausmann: »Aus dem Reich der seelischen Hungersnot«. Briefe und Dokumente zur Fachgeschichte der Romanistik im Dritten Reich, Würzburg 1993, S. 31 ff; Süheyla Artemel: Unendliche Schätze in einem kleinen Raum (übersetzt von Nedret Kuran Borçoğlu), 280

BIO-BIBLIOGRAPHISCHE ANGABEN

in: Süheyla Artemel/Nedret Kuran Burçoğlu (Hg.): Traugott Fuchs. »Ein in der Türkei verbrachtes Leben« (Ausstellungskatalog, ohne Paginierung, darin: Walter B. Denny: Der Mann im Zentrum zweier Kulturen; Nedret Kuran Burçuğlu: Mein Lehrer Traugott Fuchs; Özer Kabaş: Traugott Fuchs und seine Gemälde; Şara Sayın: Traugott Fuchs als Lehrer und Kollege), Istanbul 1995; Süheyla Artemel/Natasa Masanovic: Turkiye’de Bit Alman Egitimci, in: Cumhuriyet, 22 Temmuz 1997, S. 2; Kira Kosnick: Traugott Fuchs: A bridge of friendship beween two cultures, in: Turkish Daily News (Special), July 12, 1997; Wolfgang Koydl: Letzte Ruhe nur für Muslime, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 146, 28/29 Juni 1997, S. 14; Dietrich Schlegel: Traugott Fuchs (Nachruf), in: Deutschtürkische Gesellschaft Bonn. Mitteilungen, 118-120 (1997), S. 39-41; Gudrun Schubert: Der Ritter-Gedenkstein in Tarabya, Zeichen einer innigen Verbundenheit, in: Angelika Neuwirth/Armin Bassarak (Hg.): Hellmut Ritter und die DMG in Istanbul. Orient-Institut der deutschmorgenländischen Gesellschaft (Pera-Blätter 15), S. 55-57; Wgl.: Am Bosporus. Zum Tod des Germanisten Traugott Fuchs, in: FAZ, Nr. 151, 3.7.1997, Murat Ural: Türkiye’de sürgünde gecmis bir yasam: Traugott Fuchs – O Burayi Cok Sevmisti, in: Cumhuriyet Dergisi Parasiz Pazar Eki, Sayi 550, 13 Temmuz 1997, S. 1, 12-14; S. 33; Şârâ Sayın: Germanistik an der Universität Istanbul, in: Dies.: Grenzüberschreitungen und Übergänge, Istanbul 2000, S. 105-114; Frank-Rutger Hausmann: »Vom Strudel der Ereignisse verschlungen«. Deutsche Romanistik im »Dritten Reich«, Frankfurt a.M. 2000, S. 237 ff, 305 ff, 309 f; Susanne Hillebrecht: Vertürken? Die deutschen Emigranten zwischen heimisch werden und fremd bleiben, in: Verein aktives Museum (Hg.): Haymatloz – Exil in der Türkei, Berlin 2000 (Ausstellungskatalog), S. 162-171 (hier S. 170 f); Heide Seele: Gemaltes Tagebuch. Bilder von Traugott Fuchs im Deutsch-amerikanischen Institut, in: Rhein-Neckar Zeitung, 10./ 11.11.2001; Süheyla Artemel: Mein Kollege Traugott Fuchs (aus dem Englischen übersetzt von Hermann Fuchs), in: Hermann Fuchs (Hg.): Bilder der Sehnsucht, Köln 2001, S. 8-14 (darin: Dietrich Schlegel: Geleitwort. »Im Zentrum zweier Kulturen«, S. 7; Anne-Marie Bonnet: Et in Arcadia ego?, S. 16-23); Eva Marie Reuther: Alltag des Einsamen. Werke von Traugott Fuchs im Palais Walderdorff, in: Trierischer Volksfreund, 22 (2003), S. 5; Martin Vialon: The Scars of Exile: Paralipomena concerning the Relationship between History, Literature and Politics – demonstrated in the Examples of Erich Auerbach, Traugott Fuchs and their Circle in Istanbul. In: Yeditepe’ de Felsefe. Yeditepe University. Philosophy Department. A Refereed Yearbook, 2 (2003), pp. 191-246; Nilüfer Kuruyazici: Die deutsche akademische Emigration von 1933 und ihre Rolle bei der Neugründung der Universität Istanbul sowie bei der

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Gründung der Germanistik, in: Manfred Durzak/Nilüfer Kuruyazici (Hg.): Interkulturelle Begegnungen. Festschrift für Şara Sayın, Würzbürg 2004, S. 253-266; Lothar Runold: Hier war ein Tor der Zukunft, in: Badische Neue Nachrichten, 7. Mai 2004; Mediha Göbenli: Istanbul Universitesi’nde Nazi Edebiyat Tarihçisi: Gerhard Fricke, in: Folklor/ Edebiyar, 43 (2005), S. 219-229.

Leo Spitzer Vita Geboren am 7. Februar 1887 in Wien. Gestorben am 16. September 1960 in Forte dei Marmi (Italien). Konfession: Mosaisch. Vater Wilhelm Spitzer, Privatier. Mutter: Adele Wolf. Heirat: Emma Kandziora, 1919. Kinder: Wolfgang. Nachlass: Verstreut (bisher nicht auffindbar). Abitur and der Volks- und Mittelschule Wien, 1906. Studium der romanischen Philologie von 1906 bis 1910 an der Universität Wien. Promotion bei Wilhelm Mayer-Lübcke 1910 (s. Schriften). Danach akademisches Jahr und Studium von 1910 bis 1911 in Paris (Sorbonne, École des Hautes Études, Collège de France, École des Langues Orientales). Anschließend bis 1912 Studium der vergleichenden Sprachwissenschaft in Leipzig. Habilitation 1913 für romanische Sprachen und Literaturen, Privatdozent in Wien. Kriegsdienst 1915 bis 1916, Tätigkeit in der Zentralabteilung des Zentralnachweisebüros in Wien als Leiter einer italienischen Zensurgruppe. Umhabilitierung an die Universität Bonn 1918 und dort von 1919-1921 Privatdozent, außerordentlicher seit Professor 1921. Berufung an die Universität Marburg 1925 (dort Habilitation von Erich Auerbach). Berufung an die Universität Köln 1930 und Suspendierung im April 1933. Emigration in die Türkei. Von Herbst 1933 bis Sommer 1936 Professor für Europäische Philologien und Leitung der Fremdsprachenschule der Universität Istanbul. Von 1936 bis 1956 Professor of Romance and Comparative Philology, Johns Hopkins University, Baltimore (USA). Ablehnung eines Rufes an die Universität Köln 1946. Im Sommer 1958 Gastprofessur an der Universität Heidelberg. Ehrungen: Premio Feltrinelli per la cirtica (1955).

Schriften Die Wortbildung als stilistisches Mittel, exemplifiziert an Rabelais, Halle 1910 (zugleich Wien, phil. Diss.); Fremdwörterhatz und Fremdvölker282

BIO-BIBLIOGRAPHISCHE ANGABEN

haß. Eine Streitschrift gegen die Sprachreinigung, Wien 1918; AntiChamberlain. Betrachtungen eines Linguisten über Houston Stewart Chamberlains »Kriegsaufsätze« und die Sprachbewertung im allgemeinen, Leipzig 1918; Studien zu Henri Barbusse, Bonn 1920; Die Umschreibungen des Begriffes »Hunger« im Italienischen, Halle 1920; Italienische Kriegsgefangenenbriefe. Materialien zu einer Charakteristik der volkstümlichen italienischen Korrespondenz, Bonn 1921; Zur Geschichte des Romanischen Lehrstuhls, in: Die Philipps-Universität zu Marburg 1527-1927. Herausgegeben von H. Hermelink und S. A. Kaehler, Marburg 1927, S. 726-734; Stilstudien (2 Bände), München 1928; Romanische Stil- und Literaturstudien, Marburg 1931; Bemerkungen zu Dantes »Vita Nuova«, in: Erich Auerbach/Sabahattin Eyüboğglu (Comité de Rédaction): Romanoloji Semineri Dergisi. Travaux du Séminaire de Philologie Romane 1, Istanbul 1937, S. 162-208; Das Eigene und das Fremde. Über Nationalismus und Philologie, in: Die Wandlung 1 (1945/46), S. 576-594; Essays in Historical Semantics, New York 1948; Linguistics and Literary History. Essays in Stilistics, Princeton 1948; Amerikanische Werbung – Verstanden als populäre Kunst (1949), in: Eine Methode Literatur zu interpretieren, München 1966, S. 79-99; Zu einer Landschaft Eichendorffs (1958), in: Texterklärungen. Aufsätze zur europäischen Literatur, München 1990, S. 187-197; Romanische Literaturstudien 19361956, Tübingen 1959; Classical and Christian Ideas of World Harmony, Baltimore 1963.

Briefe Leo Spitzers Brief an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Köln (1946), herausgegeben und eingeleitet von Willi Jung, in: Hans Helmut Christmann/Frank-Rutger Hausmann/Manfred Briegel (Hg.): Deutsche und österreichische Romanisten als Verfolgte des Nationalsozialismus, Tübingen 1989, S. 79-84; Bernhard Hurch (Hg.): Leo Spitzers Briefe an Hugo Schuchardt, Berlin 2006.

Forschungsliteratur Yakov Malkiel: Necrology, in: Romance Philology, 14 (1960/61), S. 362-364; Fritz Schalk: In Memoriam Leo Spitzer, in: Romanische Forschungen, 73 (1961), S. 132-135; Harry Levin: Two Romanisten in America: Leo Spitzer and Auerbach, in: Donald Fleming/Bernard Bailyn (Ed.): The intellectual Migration, Cambridge 1969, pp. 463-484; Fritz 283

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Schalk: Leo Spitzer, in: Ingeborg Schnack (Hg.): Marburger Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Marburg 1977, S. 523-535; Heidi Aschenberg: Idealistische Philologie und Textanalyse. Zur Stilistik Leo Spitzers, Tübingen 1984; Hans-Jörg Neuschäfer: Über das Konzept des Stils bei Leo Spitzer, in: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Stil. Geschichte und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt a.M. 1986, S. 281-288; Hans Ulrich Gumbrecht: »Erlebnis ist Methode«. Leo Spitzers Stil, in: Ders.: Vom Leben und Sterben der großen Romanisten. Carl Vossler, Ernst Robert Curtius, Leo Spitzer, Erich Auerbach, Werner Krauss, München 2002, S. 72-151; Emily Apter: Global translatio: The ›Invention‹ of Comparative Literature, Istanbul, 1933, in: Critical Inquiry, 29, 2 (2003), pp. 253-281.

H e l l m ut R i t t e r 2 Ritter wurde am 27. Februar 1892 in Lichtenau (Hessen) geboren. Er studierte von 1910 bis 1914 in Halle (Saale) bei Paul Kahle und Carl Brockelmann und Straßburg bei Theodor Nöldeke, danach Assistent bei C.H. Becker in Hamburg, hier hatte er offenbar schon Kontakt zu Aby Warburg. Im Ersten Weltkrieg Verbindungsoffizier zur Türkischen Armee und Dolmetscher im Irak und Palästina. Von 1919 bis 1926 Professur an der Universität Hamburg, Mitherausgeber der Zeitschrift »Der Islam«, Mitarbeit an der Bibliothek Warburg. 1926 Entlassung in Hamburg. Übersiedlung nach Istanbul, Stipendiat der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft. 1928 übernimmt Ritter die Leitung der von Becker und Kahle begründeten Istanbuler Zweigstelle der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft. 1933 übernimmt er die Herausgabe der »Istanbuler Mitteilungen« des 1929 dort gegründeten Deutschen Archäologischen Instituts. 1935 wird er Lektor, 1937 Professor für Arabisch und Persisch am Orientalischen Institut der Universität Istanbul. 1949 erhält er einen Ruf nach Frankfurt, wo er bis 1956 Professor für Orientalistik und Direktor des Orientalischen Instituts der Frankfurter Universität ist. Danach kehrt er nach Istanbul zurück und nimmt – trotz der Emeritierung in Frankfurt – dort wieder eine Lehrtätigkeit auf. Ritter kehrt 1969 endgültig nach Deutschland zurück, er stirbt am 19. Mai 1971 in seinem Haus in Oberursel.

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Durch die Übersetzungen von »Meer der Seele« ins Englische und Italienische gewinnt Ritter auch über das Fach hinaus zunehmend an Bedeutung. Diese kurze Übersicht folgt im wesentlichen den Daten, die Thomas Lier in den zitierten Arbeiten (1997; 1998) zusammengestellt hat. 284

BIO-BIBLIOGRAPHISCHE ANGABEN

Ausgewälte Literaturhinweise a) Werke Über die Bildersprache Nizamis. Berlin und Leipzig: Walter de Gruyter, 1927. Beiheft zu »Der Islam«; Das Meer der Seele. Mensch, Welt und Gott in den Geschichten des Farriduddin Attar. München 1955. (Engl Übersetzung: The Oceaan of the Soul: man, the World and God in the Stories of Farid al-Din Attar. Translated by John O’Kane. Handbook of Oriental Studies Series. Leiden and Boston: Brill, 2003. . Ital. Übersetzung: Il mare dell’anima. Uomo, mondo e Dio in Feriduddin ´Attar. Ariele 2004); »Picatrix«. Das Ziel des Weisen von Pseudo-Magriti. Übers. von Hellmut Ritter und Martin Plessner. London: The Warburg Institute, University of London, 1962; »Ismailiten und Mystik im 12. und 13. Jahrhundert« (hrsg. aus dem Nachlass von G. Schubert und B. Radtke) Persica, 16, 2000, S. 9-29; Die dogmatischen Lehren der Anhänger des Islam von Abu-l-Hasan Ali Ibn Ismail Al-Ash´ari (Bibliotheka Islamica 01) Berlin: Schwartz Verlag, 2005.

b) Nachrufe und Würdigungen (soweit nicht im Aufsatz von Georg Stauth vermerkt) Meier, Fritz: »Hellmut Ritter«, Der Islam, 48 (2), 1972, S. 193-205; Schubert, Gudrun: »Der Ritter-Gedenkstein in Tarabya, Zeichen einer innigen Verbundenheit«, in: Hellmut Ritter und die DMG in Istanbul. Deutsche Morgenländische Gesellschaft, Zweigstelle Istanbul. 1997, S. 55-61. (Engl Original: »A Ritter Memorial in Istanbul. In: Manuscripts of the Middle East. Vol. 4., 1989, S. 138-143.); Haarmann, Ulrich: »Die Islamische Moderne bei den deutschen Orientalisten«, Zeitschrift für Kulturaustausch 24(2), 1974; Lier, Thomas: »Hellmut Ritter und die Zweigstelle der DMG in Istanbul 1928-1949«, in: Hellmut Ritter und die DMG in Istanbul. Deutsche Morgenländische Gesellschaft, Zweigstelle Istanbul. 1997, S. 17-54; van Ess, Josef: »From Wellhausen to Becker. The Emergence of Kulturgeschichte in Islamic Studies« in: Malcom H. Kerr (ed.): Islamic Studies. A Tradition and Its Problems. Sevens Giorgio Levi Della Vida Biennnial Conference. Malibu 1980. S. 27-51.

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DIE AUTOREN Nina Berman ist Associate Professor of Comparative Studies and German Studies an der Ohio State University. Sie ist die Autorin von Impossible Missions? German Economic, Military, and Humanitarian Efforts in Africa (Lincoln, NE: University of Nebraska Press, 2004) und Orientalismus, Kolonialismus und Moderne: Zum Bild des Orients in der deutschsprachigen Kultur um 1900 (Stuttgart: Metzler, 1997). Sie arbeitet zur Zeit an einer Studie mit dem Titel Germany and the Middle East: A Cultural History, 900-2000. Faruk Birtek, geboren in Istanbul ist Dekan der Fakultät für Soziologie der Bosporus (Bogazici) Universität in Istanbul. Er studierte Wirtschaftswissenschaften in Cambridge und Soziologie in Berkeley (Ph.D. 1978). Er lehrte an der Yale University, war Gastprofessor in Bielefeld, Michigan und Berkeley und bis vor kurzem Fellow am Collegium Budapest. Seine jüngste Veröffentlichung ist, zusammen mit Thalia Dragonas, Citizenship and the Nation State in Greece and Turkey (Routledge 2005). Seine Hauptforschungsinteressen sind soziologische Theorie, politische Theorie und vergleichende historische Soziologie. Ludmila Hanisch, Diplom-Soziologin und promovierte Islamwissenschaftlerin war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Islamwissenschaft und Religionswissenschaft der Freien Universität Berlin und an der Martin-Luther-Universität in Halle. Sie ist Lehrbeauftragte für Frauenforschung und Geschichte der Orientforschung. Zu ihren Veröffentlichungen zählen u.a. Ausgegrenzte Kompetenz – Porträts vertriebener Orientalisten und Orientalistinnen 1933-1945, Eine Hommage anlässlich des XXVIII. Deutschen Orientalistentags Bamberg 26.-30. März 2001 (Katalog zur Ausstellung); Die Nachfolger der Exegeten – Deutschsprachige Erforschung des Vorderen Orients in der ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts, Wiesbaden 2003; Der Orient in akademischer Optik – Beiträge zur Genese einer Wissenschaftsdisziplin, Panel im Rahmen des 29. Deutschen Orientalistentags 2004 in Halle, in: Orientwissenschaftliche Hefte, 20/2006 (Hg.).

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ANHANG

Kader Konuk ist Assistant Professor im German Department und Mitarbeiterin im Program in Comparative Literature an der University of Michigan. Sie lehrte im English Department der Yeditepe Üniversitesi in Istanbul, war Postdoktorandin am Graduiertenkolleg ›Reiseliteratur und Kulturanthropologie‹ der Universität Paderborn, Humboldt-Stipendiatin an der Monash University in Australien und Postdoktorandin am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Sie ist Autorin verschiedener Publikationen über die Konstruktion von Geschlecht in der Reiseliteratur von osmanischen und europäischen Frauen sowie der mit dem DAAD-Preis ausgezeichneten Monographie Identitäten im Prozeß. Literatur von Autorinnen aus und in der Türkei in deutscher, englischer und türkischer Sprache (2001) und Mitherausgeberin des Sammelbandes AufBrüche (1999). Yasemin Özbek, geboren 1967 in Helmstedt/Niedersachsen, studierte Turkologie und Zentralasienkunde, Publizistik und Kommunikationswissenschaft in Göttingen und Istanbul, 1996-1999 Mitarbeiterin des EU Projektes »Muslim Voices in the European Union«, Lehrtätigkeit an der Universität Essen, Erstellung des »Länderkundeberichtes Türkei« am Essener Zentrum für Türkeistudien. Seit 1999 ist sie Privatdozentin für interkulturelle Kommunikation, arbeitet derzeit an dem Forschungsprojekt »Transkulturelle Migration aus Deutschland in die Türkei« und unterrichtet Zivilisationsgeschichte an der Yeditepe Universität in Istanbul. Sigrid Nökel, Soziologin, Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe ›Islam und Moderne‹ am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI-NRW) ist die Autorin von Die Töchter der Gastarbeiter und der Islam (Bielefeld: transcript 2002) und Herausgeberin (zusammen mit Levent Tezcan) von Islam and the New Europe (Bielefeld: transcript 2005) sowie (zusammen mit Georg Stauth) des »Asian Journal of Social Science 33/3 – Special Focus: Islam between Holism and Secularism (Leiden: Brill 2005). Fabrizio Angelo Pennacchietti (1938), ehemaliger Generalsekretär des Irakisch-Italienischen Instituts für Archäologie in Bagdad (1969-1974) ist seit 1979 Professor für Semitische Philologie an der Universität Turin, seit 1990 Fellow am Institute for Advanced Studies of the Hebrew University of Jerusalem (1990) und seit 1998 Fellow der Akademie der Wissenschaften in Turin. Zu seinen Hauptforschungsinteressen zählen Griechische und Semitische Epigraphie, Semitische Linguistik, Neu-Aramäische Dialektologie, historische Topographie und vergleichende Literaturwissenschaft des Nahen Ostens.

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DIE AUTOREN

Georg Stauth lehrt Soziologie an der Universität Bielefeld. Er ist Leiter der Forschungsgruppe ›Heilige Orte in Ägypten und Äthiopien‹ an der Universität Mainz. Von 2003-2005 leitete er die international besetzte Forschungsgruppe ›Islam und Moderne‹ am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI-NRW). Die jüngste seiner zahleichen Veröffentlichungen über diverse Aspekte des Islams und Modernitätstheorien ist Ägyptische heilige Orte I. Konstruktionen, Inszenierungen und Landschaften der Heiligen im Nildelta: ´Abdallah b. Salam (Bielefeld: transcript 2005). Er ist Herausgeber des Yearbook of the Sociology of Islam (mit Armando Salvatore). Martin Vialon, Dr. phil., geb. 1960, ist Assistant Professor an der Yeditepe University Istanbul und lehrt im Dept. of English Language and Literaturesowie im Dept. of Philosophy die Fachgebiete Neuere deutsche Literatur und Philosophie mit dem Schwerpunkt18. bis 20. Jahrhundert. Wichtige Publikationen: »Erich Auerbachs Briefe an Martin Hellweg (1939-1950).Edition und historisch-philologischer Kommentar(1997)« und »Konvergenzen. Studien zur deutschen und europäischen Literatur. Festschrift für E. TheodorVoss, herausgegeben in Zusammenarbeit mit Micheal Ewert (2000)«; Aufsätze u.a. über Theodor W. Adorno,Jean Améry, Erich Auerbach, Walter Benjamin, Freya Hobohm, Siegfried Kracauer, Werner Krauss, Max Kommerell, Giambattista Vico.

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Kultur- und Medientheorie

Ramón Reichert Im Kino der Humanwissenschaften Studien zur Medialisierung wissenschaftlichen Wissens Juli 2007, 220 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-647-2

Marcus Krause, Nicolas Pethes (Hg.) Mr. Münsterberg und Dr. Hyde Zur Filmgeschichte des Menschenexperiments Mai 2007, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-640-3

Christoph Lischka, Andrea Sick (eds.) Machines as Agency Artistic Perspectives Mai 2007, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-646-5

Lars Koch (Hg.) Modernisierung als Amerikanisierung? Entwicklungslinien der westdeutschen Kultur 1945-1960 April 2007, ca. 350 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-615-1

Hans Dieter Hellige (Hg.) Mensch-Computer-Interface Zur Geschichte und Zukunft der Computerbedienung April 2007, 360 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-564-2

Nic Leonhardt Piktoral-Dramaturgie Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869-1899) April 2007, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-596-3

Marc Ries, Hildegard Fraueneder, Karin Mairitsch (Hg.) dating.21 Liebesorganisation und Verabredungskulturen April 2007, ca. 248 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-611-3

Meike Kröncke, Kerstin Mey, Yvonne Spielmann (Hg.) Kultureller Umbau Räume, Identitäten und Re/Präsentationen März 2007, ca. 176 Seiten, kart., ca. 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-556-7

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Kultur- und Medientheorie Michael Charlton, Tilmann Sutter Lese-Kommunikation Mediensozialisation in Gesprächen über mehrdeutige Texte

Andreas Böhn, Christine Mielke (Hg.) Die zerstörte Stadt Mediale Repräsentationen urbaner Räume von Troja bis SimCity

März 2007, 178 Seiten, kart., ca. 17,80 €, ISBN: 978-3-89942-601-4

Februar 2007, 392 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-614-4

Florian Werner Rapocalypse Der Anfang des Rap und das Ende der Welt

Björn Bollhöfer Geographien des Fernsehens Der Kölner Tatort als mediale Verortung kultureller Praktiken

Februar 2007, 282 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-608-3

Februar 2007, 258 Seiten, kart., zahlr. Abb., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-621-2

vidc (Wiener Institut für Entwicklungsfragen und Zusammenarbeit) / kulturen in bewegung (Hg.) Blickwechsel Lateinamerika in der zeitgenössischen Kunst

Karin Knop Comedy in Serie Medienwissenschaftliche Perspektiven auf ein TV-Format

Februar 2007, 198 Seiten, kart., 20,80 €, ISBN: 978-3-89942-660-1

Januar 2007, 364 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN: 978-3-89942-527-7

Georg Stauth, Faruk Birtek (Hg.) ›Istanbul‹ Geistige Wanderungen aus der ›Welt in Scherben‹ Februar 2007, 290 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN: 978-3-89942-474-4

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de