Islam und Staat [1 ed.] 9783428552436, 9783428152438

Inwieweit stellen der Islam und seine verschiedenen Facetten ein Integrationshindernis dar? Diese Frage diskutieren die

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Islam und Staat [1 ed.]
 9783428552436, 9783428152438

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GERDA HASSELFELDT URSULA MÄNNLE (Hrsg.)

Islam und Staat

Duncker & Humblot · Berlin

Islam und Staat

Islam und Staat

Herausgegeben von

Gerda Hasselfeldt Ursula Männle unter Mitarbeit von Svea Burmester

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagbild: © mauritius images / John Robertson / Alamy Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Das Druckteam, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-15243-8 (Print) ISBN 978-3-428-55243-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-85243-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Von Gerda Hasselfeldt und Ursula Männle Welchen Islam gibt es in Deutschland? Wie können wir zur Entstehung eines deutschen oder europäischen Islam beitragen? Steht der Koran einer rationalen Auslegung offen gegenüber – und wie könnte eine Aufklärung im Islam aussehen? Wie gut sind die bei uns lebenden Muslime integriert? Aber auch: Welche Gefahren gehen von islamistischen Strömungen und Predigern in Deutschland aus? Wie anfällig sind bei uns lebende Muslime für solche Propaganda? Diese und weitere Fragen bewegen sehr viele Menschen in unserem Land und werden schon länger in Fachkreisen von Wissenschaftlern und Verantwortlichen aus Politik und Gesellschaft diskutiert. Neben der Präsenz vieler türkischstämmiger Menschen in Deutschland haben nicht zuletzt die deutlich gestiegenen Flüchtlingszahlen, vor allem aus islamisch geprägten Ländern, das Thema Islam mit allen seinen Facetten in die breite Öffentlichkeit gerückt. Im Rahmen ihres politischen Bildungsauftrages ist der interkulturelle Dialog ein besonderes Anliegen der Hanns-Seidel-Stiftung. Durch Diskussionen mit unserer und für unsere Zivilgesellschaft und durch Publikationen wie diesen Sammelband möchten wir zu einer differenzierten Bestandsaufnahme beitragen. Als Repräsentant ihrer Bürgerinnen und Bürger beschäftigt sich deshalb auch die CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag intensiv mit diesem Thema, das die Lebenswelt so vieler Menschen, heute und in Zukunft, zu berühren scheint. In einer Diskussionsreihe unter Leitung des Bundestagsabgeordneten Alexander Radwan tauschen sich die Abgeordneten der CSU-Landesgruppe mit Expertinnen und Experten über die verschiedensten Aspekte islamischen Lebens in Deutschland aus, um die Integrationsfähigkeit des Islam besser verstehen und fördern, aber auch die sicherheitsrelevante Dimension besser einschätzen zu können. Politisch ist seit 2016 bereits viel erreicht worden: Sowohl auf Bundes- wie auch auf Landesebene haben wir nach intensiven Debatten Integrationsgesetze beschlossen, die das Leitprinzip des Förderns und Forderns umsetzen. Zudem haben wir in der Bundespolitik eine ganze Reihe von Maßnahmen zur Bewältigung der Flüchtlingskrise mit den Schwerpunkten Fluchtursachenbekämpfung, Begrenzung der Zuwanderung und Integration der bei uns bleibenden Flüchtlinge auf den Weg gebracht. Wir haben aber auch Maßnahmen zur Bekämpfung radikaler Einflüsse wie zum Beispiel die Möglichkeit des Personalausweisentzugs, des Verbots der Terrorfinanzierung oder zur Verbesserung des Informationsaustausches zwischen unseren Behörden ergriffen.

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Gerda Hasselfeldt und Ursula Männle

Insgesamt haben wir wichtige Fortschritte erzielen können, um Menschen muslimischen Glaubens einen Platz innerhalb der deutschen Gesellschaft zu schaffen, damit sie ihre Religion innerhalb unserer Kultur und Staatsordnung leben können. Weitere Maßnahmen zur Integration der überwiegend muslimischen Flüchtlinge und zum Umgang mit dem Islam werden aber folgen und von beiden Seiten angestrebt werden müssen. Einige unserer Gesprächspartner haben im nun vorliegenden Band die im vergangenen Jahr diskutierten Themen vertieft ausgearbeitet und setzen in dieser gesammelten Form eine Agenda für die nächsten nötigen Schritte. Hierbei beanspruchen wir keinerlei Vollständigkeit dieses komplexen Anliegens, sondern möchten vielmehr den Facettenreichtum spiegeln, welchen die Integration des Islam in unsere säkulare Staats- und Gesellschaftsform mit sich bringt. Wir möchten differenzieren zwischen den verschiedenen Herausforderungen, Betroffenheiten und Verantwortlichkeiten. So zeichnet der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi in seinem einführenden Beitrag nach, wie der Islam nach Deutschland kam und sich bis heute entwickelt hat, nämlich jüngst proportional weg von einem türkischen und hin zu einem arabisch geprägten Erscheinungsbild. Trotz der Pluralität innerhalb des Islam und der offenen Frage nach repräsentativer Vertretung der Gläubigen in Deutschland wagt er einen optimistischen Ausblick auf die innerislamische Verständigung, beispielsweise durch Unterricht an deutschen Schulen. Ednan Aslan, Religionspädagoge an der Universität in Wien, diskutiert in seinem Beitrag aus theologischer Sicht das Verhältnis des Islam zu Pluralismus. Islamische Quellen ließen sich durchaus wohlwollend gegenüber Säkularismus und religiöser Vielfalt interpretieren. Die Emanzipation eines europäischen Islam, der sich finanziell und personell unabhängig von seinen muslimischen Herkunftsländern entwickelt, könne entsprechende progressive theologische Akzente auch in der deutschen Debatte setzen. Die Vielfalt des Islam und seiner regionalen Prägungen sieht auch Erdal Toprakyaran, Islamwissenschaftler und Historiker, als Chance für die Evolution eines deutschen Islam. Kulturelle Gemeinsamkeiten wie Nächstenliebe gäben Anlass zur Hoffnung, dass ein aufgeklärter Islam, gerade im europäischen Umfeld, entstehen könne und als solcher das Potenzial zu einem theologischen „Exportschlager“ habe. Als Rechtswissenschaftler widmet sich Heinrich de Wall in seinem Beitrag dem Verhältnis des Staates zur Religion, wie es die Religionsverfassung des Grundgesetzes festlegt. Dabei diskutiert er die Schranken von Religionsfreiheit und betrachtet beispielhaft die Debatte über ein Burka-Verbot. Darüber hinaus setzt er sich mit dem Selbstbestimmungsrecht von Religionsgemeinschaften auseinander, hier insbesondere mit der Frage nach ausländischer Finanzierung.

Vorwort

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Susanne Schröter beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit Salafismus und Dschihadismus in Deutschland. Während beide Phänomene deutliche Parallelen zu einer Jugendbewegung aufwiesen, würden in diesem Umfeld häufig zu hörende Thesen wie beispielsweise die vermeintliche Islamfeindlichkeit des Westens auch von vielen Mitgliedern muslimischer Organisationen geäußert, die Kooperationspartner deutscher Politik seien, kritisiert die Ethnologin. Integration könne nur gelingen, so die Journalistin Düzen Tekkal in ihrem Beitrag, wenn eine ehrliche und quellenkritische Auseinandersetzung innerhalb des und gegenüber dem Islam stattfinde. Darüber hinaus gelte es, von Seiten des Aufnahmelandes die eigenen säkularen, westlichen Werte konsequenter einzufordern, aber gleichzeitig auch eine deutlichere Wertschätzung gegenüber individueller Erfolgsgeschichten der Integration auszudrücken. Um der deutschen Debatte über den Islam eine differenziertere Ausrichtung zu verleihen, wünscht sich Aiman A. Mazyek, Vorsitzender des Zentralrats der Muslime in Deutschland, mehr proaktive Beiträge von Muslimen. Aus seiner Sicht sei der Islam in Deutschland angekommen, jedoch bestehe durchaus noch Bedarf, dieses deutlicher zu kommunizieren. Der Tag der offenen Moschee biete hierzu eine gute Möglichkeit, oder auch die Debatte um eine deutsche Leitkultur. Aus seiner Erfahrung als Integrationsbeauftragter der Bayerischen Staatsregierung mahnt Landrat Martin Neumeyer vor Pauschalisierungen. Nicht die Religion Islam mit all ihren Ausprägungen, sondern der „Islam als Ideologie“ stelle ein Integrationshindernis dar. Er beschreibt, wie eine entsprechend deutliche Differenzierung religiöser Radikalisierung entgegenwirken könne. Der Bayerische Staatsminister der Justiz, Winfried Bausback, diskutiert in seinem Beitrag aus politischer Perspektive die Grenzen individueller Religionsfreiheit. Anhand des Beispiels der Vollverschleierung im öffentlichen Raum und des Tragens religiöser Symbole bei Gericht erläutert er das Spannungsverhältnis zwischen individueller Religionsfreiheit und staatlicher Neutralität. Um dieses aufzulösen, plädiert er für eine theologisch fundierte und quellenkritische Prüfung des Koran. Dank des Beitrags von Oliver Henhapel, Leiter des Kultusamtes im österreichischen Bundeskanzleramt, erhalten wir abschließend einen Einblick, wie unsere Nachbarn den bisher diskutierten Herausforderungen begegnen, um die Rolle des Islam bei der Integration konstruktiv zu gestalten. Entsprechend erläutert Oliver Henhapel, auf welch lange Tradition das österreichische Islamgesetz zurückblickt, das jüngst 2015 novelliert wurde. In einem Fazit bilanziert Alexander Radwan, Leiter des Gesprächskreises „Islam“ der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag, dass nicht trotz, sondern gerade wegen der grundgesetzlichen Trennung von Kirche und Staat in Deutschland politischer Handlungsbedarf deutlich zugenommen habe. Besondere Bedeutung misst er im Zuge dessen der Regulierung der Auslandsfinanzierung muslimischer Gemeinden bei.

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Gerda Hasselfeldt und Ursula Männle

Wir hoffen, mit diesen Beiträgen Denk- und Gesprächsanstöße geben und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen zu können. Denn der Dialog, insbesondere der interkulturelle, ist ein wichtiger Schlüssel zu gelingender Integration und einem Miteinander der Religionen und Werteeinstellungen.

Gerda Hasselfeldt, MdB ist Bundesministerin a.D., Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag, Berlin. Prof. Ursula Männle ist Vorsitzende der Hanns-Seidel-Stiftung und Staatsministerin a.D., München.

Inhaltsverzeichnis Abdel-Hakim Ourghi Der Islam und die Muslime in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ednan Aslan Islam in einer pluralen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erdal Toprakyaran Der deutsche Islam als Objekt und Subjekt der universalen Aufklärung . . . . . . .

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Heinrich de Wall Die Religionsverfassung des Grundgesetzes – Islamisches Leben in Deutschland

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Susanne Schröter Islamismus – eine Gefahr für die innere Sicherheit in Deutschland . . . . . . . . . .

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Düzen Tekkal Integration in Deutschland – Zwischen Gretchenfrage und „German Dream“ . .

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Aiman A. Mazyek Aufklärung, Leitkultur, Integration und der muslimische Citoyen . . . . . . . . . . .

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Martin Neumeyer Ja zur Religion, nein zur Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Winfried Bausback Der politische Islam stellt unsere Religionsfreiheit auf den Prüfstand . . . . . . . .

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Oliver Henhapel Der religionsrechtliche Rahmen islamischer Gemeinschaften in Österreich . . . . 105 Alexander Radwan Islamisches Leben in Deutschland muss sich vom Ausland frei machen . . . . . . 117

Der Islam und die Muslime in Deutschland Von Abdel-Hakim Ourghi Es ist längst zum Normalzustand geworden, dass die Menschen in Deutschland in einer multikulturellen Gesellschaft leben. Die bis heute andauernde Einwanderung weist deutlich darauf hin, dass Deutschland nicht mehr aus einer homogenen Gesellschaft besteht, sondern aus Angehörigen verschiedener Kulturen mit unterschiedlichen Herkunftsregionen aus aller Welt. Zu dieser heterogenen Landschaft gehören auch die verschiedenen Religionen der hier lebenden Menschen, die den Alltag ihrer Anhänger prägen. Und zu diesen Religionen gehört die jüngste monotheistische Religion des Islam. Wie viele Muslime leben in Deutschland? Der Islam ist die drittgrößte Glaubensgemeinschaft in Deutschland. Im Jahre 2009 sprach man bereits von einer Zahl zwischen 3,8 und 4,3 Millionen Muslimen mit Migrationshintergrund, die hierzulande leben. Das entspricht einem Bevölkerungsanteil von rund 5 %.1 Allerdings wird die Zahl derjenigen ohne Migrationshintergrund, die aus verschiedenen Gründen zum Islam konvertiert sind, in den amtlichen Statistiken nicht berücksichtigt.2 Diese Statistiken sind aber selbstverständlich relevant, um ein genaues Bild über die Anzahl der Muslime zu gewinnen. Bereits im Jahre 1999 sprach man in diesem Zusammenhang schätzungsweise von 100.000 bis 120.000 deutschen Muslimen.3 Die Dunkelziffer liegt allerdings weitaus höher, da viele unter ihnen entweder in Moscheen ohne Registrierung konvertierten oder bereits als Kinder von Muslimen ohne Migrationshintergrund geboren sind. Ganz zu schweigen von denjenigen, die in keiner Moschee konvertieren. Daher ist anzunehmen, dass ihre Zahl heutzutage deutlich höher liegt. Durch die Flüchtlingswelle aus den Kriegsgebieten vor allem der islamischen Welt ab dem Jahre 2015 hat sich das Bild der islamischen Gemeinde in Deutschland völlig verändert. In diesem Jahr sind mehr als anderthalb Millionen Flüchtlinge über1 Vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Hrsg.): Muslimisches Leben in Deutschland, Nürnberg 2009. 2 Wohlrab-Sahr, Monika: Konversion zum Islam in Deutschland und den USA, Frankfurt a. M. 1999, S. 383 ff. 3 Dietrich, Myrian: Islamischer Religionsunterricht. Rechtliche Perspektiven, Frankfurt a. M. 2006, S. 67.

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wiegend aus Syrien, Irak und Afghanistan nach Deutschland gekommen. Der Politikwissenschaftler Bassam Tibi spricht von etwa 6,5 Millionen Muslimen, die inzwischen in Deutschland leben.4 Wegen der instabilen politischen und wirtschaftlichen Lage einiger muslimischer Länder, wie etwa Syrien und Irak, dürfte die Tendenz steigend bleiben. Es ist jedoch zu bemerken, dass es keine genauen und verlässlichen Angaben gibt, sondern allein mit Schätzungen gearbeitet wird, die bisweilen bis in den Bereich der Spekulation reichen. Deshalb können zurzeit keine vertrauenswürdigen Quellen für die Anzahl der Muslime in Deutschland angegeben werden. Fest steht jedoch, dass der türkische Islam, der bis dato die Mehrheit der Muslime in Deutschland stellte und das Bild des Islam über Jahrzehnte geprägt hat, nicht nur Konkurrenz durch den arabischen Islam bekommen hat, sondern von diesem zahlenmäßig überflügelt werden dürfte. Entwicklung des Islam in Deutschland Ein historischer Exkurs über den Beginn der Präsenz des Islam in Deutschland lässt feststellen, dass sie bis auf das Jahr 1731 zurückdatiert werden kann, als 20 türkische Gardesoldaten im Heer des Preußenkönigs Wilhelm I. dienten.5 Dietrich vertritt die Sichtweise, dass es bereits im 18. Jahrhundert muslimische Gemeinden in Potsdam und Berlin mit religiösen und gesellschaftlichen Strukturen, wie etwa Friedhöfe und Gebetsräume, gab.6 In den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts hat sich die Präsenz der Muslime durch die Anwerbeabkommen offiziell institutionalisiert. Viele Arbeiter kamen aus Tunesien, Marokko, dem damaligen Jugoslawien und besonders aus der Türkei. Ab den 70er-Jahren war ein vermehrter Nachzug der Familien aus den Heimatländern der Migranten zu beobachten. Und viele der Migranten blieben, anders als ursprünglich vielleicht erwartet, in der neuen Heimat, da ihre Kinder hier geboren und sozialisiert wurden. Besonders die zweite und dritte Generation der Migranten besucht verschiedene Bildungsinstitutionen und fühlt sich ihrem Geburtsort sehr verbunden, während die Heimatländer ihrer Eltern beziehungsweise Großeltern für sie eher einen Urlaubsort während des Sommers darstellen, mit dem sich viele unter ihnen nicht mehr identifizieren können.7 4

Tibi, Bassam: Warum ich kapituliere, in: Cicero 6/2016, S. 115 – 119, hier S. 115 ff. Lemmen, Thomas: Islamische Organisationen in Deutschland: Ansprechpartner für einen islamischen Religionsunterricht?, in: Islamischer Religionsunterricht?, hrsg. von Wolfgang Bock, Bonn 2000, S. 15. 6 Ebd., S. 66. 7 Diese Beobachtung gilt allerdings nicht für eine nicht zu unterschätzende Anzahl der türkischstämmigen Deutschen. Zwischen dem 16. 7. 2016 und dem 31. 7. 2016 gingen die Menschen in einigen deutschen Städten und im österreichischen Wien auf die Straße und demonstrierten gegen den fragwürdigen Putsch in der Türkei. Allein in Köln waren es circa 35.000 Türken, die ihre Solidarität mit dem in der Öffentlichkeit umstrittenen Präsidenten Recep Tayyip Erdog˘ an zeigten. Solch ein politisches Verhalten demonstriert die starke Identifikation der betroffenen Menschen mit dem Heimatland ihrer Eltern und Großeltern. 5

Der Islam und die Muslime in Deutschland

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Trotz der ethnischen Unterschiede zwischen den Muslimen und ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen islamischen Rechtsschulen oder Glaubensgemeinschaften fühlen sie sich als Angehörige der religiösen Glaubensgemeinschaft aller Muslime (umma), in die sie als Kind von Muslimen automatisch hineingeboren worden sind oder in die sie konvertierten. Das wird unter anderem durch den intensiven Glauben an die fünf Säulen und andere Glaubensgrundsätze des Islam verdeutlicht. Jedoch verfügt die umma über keinerlei feste Konturen, sondern kann lediglich als ideale Größe verstanden werden. Die Mehrheit der hier lebenden Muslime sind mit etwa 80 % Sunniten und somit Angehörige der weltweit größten Glaubensrichtung des Islam. Die Mehrheit unter ihnen wiederum war bis 2015 türkischer Herkunft. Sie stellen schätzungsweise zwei Drittel der Gruppe und gehören der hanafitischen Rechtsschule an. Zu den sun˙ nitischen Muslimen zählen auch Nordafrikaner, Syrer und Iraker, die sich zur ma¯likitischen beziehungsweise sˇafi’itischen Rechtsschule bekennen. Die Schiiten, die zumeist aus dem Iran, dem Irak und dem Libanon stammen, werden auf etwa 7,1 % geschätzt.8 Die Schiiten sind in der Regel Anhänger der Zwölfer-Schia.9 Neben diesen beiden Glaubensgemeinschaften sind auch die Aleviten und die Ahmadiyya präsent, die jedoch von den Sunniten und Schiiten nicht als Muslime anerkannt und deshalb zum Teil in ihren Herkunftsländern massiv verfolgt werden. Innerhalb der Glaubensrichtungen sind theologische und dogmatische Unterschiede auszumachen, die die Sunniten und Schiiten voneinander trennen. Dies bedeutet, dass ein einheitliches Islamverständnis unter den Muslimen in Deutschland überhaupt nicht vorhanden ist, nicht einmal unter den Sunniten. Erwähnenswert ist hier, dass die Muslime arabischer Herkunft jegliche Repräsentanz durch die türkischen Dachverbände ablehnen, da diese die in der Türkei übliche hanafitische Rechtsschule in Deutschland durch˙ setzen wollen. Somit kann festgestellt werden, dass auch im Westen eine islamische Identität im pluralistischen Sinn mit innerislamischen Differenzen die Landschaft des Islam prägt. Genauer gesagt: Der Islam im Singular existiert nicht, sondern nur ein Islam im Plural. Und „tatsächlich stellt der Islam eine vielgestaltige Religionsgemeinschaft dar, die nicht nur selbst verschiedene Ausprägungen aufweist, sondern auch in unterschiedlichen gesellschaftlichen und kulturellen Umgebungen existiert“.10 Der Islam in Deutschland ist auch in organisatorischer Hinsicht vielfältig: „Eine unübersehbare Fülle von Vereinen, Zusammenschlüssen von Vereinen oder Verbänden als Träger von lokalen Moscheegemeinden prägt sein äußeres Erscheinungsbild.“11 Ein konstruktiver Dialog mit dem Islam setzt die Anerkennung der Muslime 8

Dietrich: Islamischer Religionsunterricht, S. 138. Ende, Werner: Der schiitische Islam, in: Der Islam in der Gegenwart, hrsg. von Werner Ende und Udo Steinbach, München, 4. Aufl., 1996, S. 70 – 89, hier S. 70 ff. 10 Müller, Peter: Religionspädagogische Prolegomena für die Entwicklung eines Curriculums Islamischer Religionsunterricht, in: Islamischer Religionsunterricht?, hrsg. von Wolfgang Bock, Tübingen 2006, S. 213 – 230, hier S. 220 f. 11 Lemmen: Muslimische Organisationen in Deutschland, S. 151 – 172, hier S. 151. 9

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als Teil der religiösen und sozialen Identität Deutschlands voraus. Aus der Sicht des deutschen Staatskirchenrechts ist diese Diversität des Islam jedoch problematisch. Die Islamische Religion kennt keine einheitliche Glaubensgemeinschaft, die als Ansprechpartner in Form einer Körperschaft des öffentlichen Rechts bei der Gestaltung des islamischen Religionsunterrichts fungieren kann. Aufgrund der oben erwähnten Statistiken scheint es nicht mehr berechtigt, Fragen zu stellen wie: „Gehört der Islam zu Deutschland?“ Bereits zu Beginn der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts formulierte der Politologe Claus Leggewie provokativ: „Ob Europa multireligiös wird, ist gar keine Frage mehr, sondern nur noch wie“.12 Diese Frage ist angesichts der vielen muslimischen Bürgerinnen und Bürger dieses Landes längst beantwortet und hebt zudem den komplexen historischen Entwicklungsprozess auf, indem sie eine vermeintliche Homogenität des Islam konstruiert. Eher ist zu fragen, welcher Islam zu Deutschland gehört. Eine weitere Frage lässt sich in diesem Kontext außerdem nicht vermeiden: Sind die Muslime ein integraler Bestandteil der multikulturellen Landschaft in Deutschland? Denkt man an durchaus existierende Parallelgesellschaften13, die mit dem Rechtsstaat konkurrieren, oder an die Furcht vor einer Islamisierung Europas durch salafistische Bestrebungen, ist es selbstverständlich, dass solche Fragen gestellt werden müssen. Aber ist es richtig, konservativen Orient gegen okzidentale Moderne in Front zu bringen und im Zusammenhang mit dem Islam in Deutschland von einer „offenen Gesellschaft und ihren Feinden“14 zu sprechen? Die Angst vor dem Terror und der derzeitige Diskurs über Islamismus, geschürt von Polemikern, negiert die Tatsache, dass die Salafisten auch in Deutschland nur eine sehr geringe Zahl und bei Weitem nicht die Mehrheit der Muslime darstellen. Auch die Meinung von Ludwig Hagemann, die Begegnung von Christentum und Islam sei eine „Geschichte gescheiterter Beziehungen“, ist eher historisierend und rückwärtsgewandt.15 Denn er bezieht sich in erster Linie auf die Geschichte der islamischen Expansion nach dem Tod des Propheten ab dem Jahre 632, die Kreuzzüge und die koloniale Zeit. Die Einführung des Islamunterrichts in das schulische System lässt zuerst Abschied nehmen von der Auffassung, dass der Islam bzw. die Muslime eine vorübergehende Erscheinung sind. Die in den letzten Jahren in einigen Bundesländern initiierte Implementierung eines bekenntnisorientierten islamischen Religionsunter-

12 Leggewie, Claus: Alhambra – Der Islam im Westen, Reinbek 1993, S. 175; siehe auch Korioth, Stefan: Islamischer Religionsunterricht und Art. 7 Abs. 3 GG, in: Islamischer Religionsunterricht?, hrsg. von Wolfgang Bock, S. 33 – 53, hier S. 33 f. 13 Müller, Herbert L.: Islamische „Gegenwelten“ – Versuch einer kritischen Annäherung, in: Islamischer Religionsunterricht?, hrsg. von Wolfgang Bock, S. 173 – 195, hier S. 74 f. 14 Popper, Karl R.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Tübingen, 8. Aufl., 2003, S. 75 ff. 15 Hagemann, Ludwig: Christentum contra Islam. Eine Geschichte gescheiterter Beziehungen, Darmstadt 1999, S. 12 ff. u. S. 19 ff.; siehe auch Müller: Religionspädagogische Prolegomena, S. 213 – 230, hier S. 218 f.

Der Islam und die Muslime in Deutschland

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richts als ordentliches Schulfach hat bestätigt, dass der Islam und die Muslime ein unwiderruflicher Bestandteil der religiösen Landschaft Deutschlands sind. Es bleiben jedoch die Fragen, welcher Islam zu Deutschland bzw. zum Westen, und welcher islamische Religionsunterricht (IRU) zum Schulsystem in Deutschland passt. Der Islam lässt sich mit Werten wie Demokratie, Menschenrechten und Pluralismus durchaus vereinbaren als ein humanistischer Islam, dessen Wurzeln in den muslimischen Quellen zu finden und die mit dem historischen Diskurs des Islam verwoben sind. Gewiss gehört der Islam nicht nur zu Deutschland, sondern zum gesamten Abendland, wenn man die seit 1.300 Jahren bestehenden engen Kontakte zwischen dem Abend- und Morgenland in Betracht zieht. Diese Begegnungen waren trotz zahlreicher Kriege auch stets von einem Kulturaustausch geprägt.16 Eine erfolgreiche Etablierung eines humanistisch-modernen Islamunterrichts in den deutschen Schulen kann diese Fragen in der Zukunft beantworten. Gewiss wird solch ein Religionsunterricht als Schulfach das Antlitz des Islam im westlichen Kontext ebenso verändern wie die hiesige religiöse Landschaft. Denn es geht nicht nur um die bewusste Etablierung einer europäischen islamischen Identität, sondern auch um neue Konzeptionen für die friedliche Koexistenz der monotheistischen Religionen. Im Jahr 2008 verwies der Soziologe Rauf Ceylan auf den „Bedarf einer islamischen Religionspädagogik mit besonderer Berücksichtigung des türkischen Islam“.17 Wie die schon vorher erwähnten Schätzungen nahelegen, gewinnt der arabische Islam gegenwärtig durch den Flüchtlingsstrom an Stärke. Somit geht Ceylans Fokussierung auf den türkischen Islam mittlerweile an der Realität des pluralen Islam in Deutschland vorbei. Die desolate Lage der Vertretungsfrage der Muslime Gäbe es eine einheitliche Glaubensgemeinschaft als Körperschaft18 des öffentlichen Rechts in Deutschland, würde sie bestimmt rasch als eine religiöse Vertretung von Seiten des Staates anerkannt. Dies würde selbstverständlich die Implementierung eines bekenntnisorientierten islamischen Religionsunterrichts als ordentliches Schulfach in öffentlichen Schulen beschleunigen. Jedoch ist die gemeinsame Vertretung der hier im Lande lebenden Muslime nicht mehr als ein frommer Wunsch. Die plurale Vielfalt des Islam scheint möglicherweise ein Hindernis für eine erfolgreiche Umsetzung des islamischen Religionsunterrichts. Deshalb tut sich der Staat schwer, 16 Ourghi, Abdel-Hakim: Der Islamische Religionsunterricht im interreligiösen Kontext. Das Ich im Anderen, in: IRP Impulse 2/2012, S. 24 – 27, hier S. 24 f. 17 Ceylan, Rauf: Islamische Religionspädagogik in Moscheen und Schulen. Ein sozialwissenschaftlicher Vergleich der Ausgangslage, Lehre und Ziele unter besonderer Berücksichtigung der Auswirkungen auf die Integrationsprozesse der muslimischen Kinder und Jugendlichen in Deutschland, Hamburg 2008, S. 41. 18 Rohe, Mathias: Der Islam in Deutschland. Eine Bestandaufnahme, München 2016, S. 128 – 150.

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nach geltender Rechtslage eine anerkannte Religionsgemeinschaft als Partner bei der Konzeption und der Verwirklichung des bekenntnisorientierten Islamunterrichts zu finden. Die heterogenen Gebilde der Muslime in Deutschland führen geradezu zur Zersplitterung der muslimischen Dachverbände, die deswegen ein Handicap für den Entwicklungsprozess des islamischen Religionsunterrichts sind, ganz zu schweigen von einigen theologischen Unterschieden, die die desolate Lage der Vertretungsfrage der Muslime verschärfen. Einen einzigen Ansprechpartner durch die Vereinigung der muslimischen Dachverbände wird es vermutlich nie geben, weil ihre politischen und religiösen Interessen unterschiedlich sind19 und nicht einmal unter den Sunniten übereinstimmen. Man kann tatsächlich feststellen, dass nicht die Begründung des IRU das zentrale Problem ist, sondern vor allem die desolate Lage der Vertretungsfrage der Muslime in Deutschland, die einen neutralen Betrachter zur Beobachtung führt, dass die muslimischen Dachverbände nicht die geeigneten Ansprechpartner des Staates und der beiden Kirchen sind. Selbstverständlich muss sich jeder islamische Dachverband durch Worte und Taten eindeutig zum Grundgesetz bekennen. Die humanistischen Werte wie Freiheit, Toleranz, Demokratie und Meinungsvielfalt gehören zu den absoluten Normen der westlichen Kultur und müssen auch von den muslimischen Dachverbänden anerkannt werden. Jedoch vertreten die hier agierenden Dachverbände die politischen und religiösen Interessen ihrer Herkunftsländer, daher bleibt ihre Loyalitätsfrage zu dem deutschen Staat noch zu beantworten. Man kann sogar mit dem Gedanken spielen, dass die hiesigen Dachverbände, die zum Teil auch einen konservativen Islam vertreten, keine Garantie für die Etablierung eines modernen und humanistischen Islam in den westlichen Kontext sind. Darüber hinaus gibt es auch im Westen keinen Islam in der Singularform mit kirchlichen Strukturen, sondern einen Islam im Plural mit verschiedenen Glaubensgemeinschaften. Allein unter den Sunniten gibt es vier Rechtschulen,20 und somit ist bis heute ein einheitliches Denken oder eine Organisation in kirchenähnlichen Strukturen dem Islam fremd. Dies bedeutet, dass der Islam als solcher wie auch bestimmte Glaubensrichtungen innerhalb des Islam keine Religionsgemeinschaften im staatskirchenrechtlichen Sinne darstellen; es ist vielmehr stets auf konkrete Gruppierungen von Gläubigen abzustellen. Interessanterweise gehört die Mehrheit der hier lebenden Muslime keiner muslimischen Vereinigung bzw. keinem der Dachverbände an.

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Vgl. Rohe, Mathias: Spezifische Rechtsprobleme des islamischen Religionsunterrichts in Deutschland, in: Islamischer Religionsunterricht: Hintergründe, Probleme, Perspektiven, hrsg. von Thomas Bauer, Lamya Kaddor und Katja Strobel, Münster 2004, S. 79 – 85, hier S. 80. 20 Krawietz, Birgit: Hierarchie der Rechtsquellen im tradierten sunnitischen Islam, Berlin 2002, S. 63 ff.

Der Islam und die Muslime in Deutschland

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Der empirischen Studie mit dem Titel „Muslimisches Leben in Deutschland“ ist es gelungen, Klarheit in die desolate Lage der Vertretungsfrage zu bringen. Weniger als 25 % der befragten Muslime fühlen sich von den Dachverbänden vertreten. Diese Statistik lässt insbesondere die türkischen Dachverbände nicht als geeignete Gesprächspartner des Staates erscheinen. Trotzdem beanspruchen sie die Vertretung aller türkischen oder sogar aller Muslime in Deutschland. Dabei sehen sich die hier lebenden 500.000 Aleviten, die zu 95 % gleichfalls aus der Türkei stammen, als eine eigene Glaubensgemeinschaft. Sie haben daher einen eigenen Dachverband gegründet. Dazu kommt, dass Muslime arabischer Herkunft jegliche Repräsentanz durch die türkischen Dachverbände ablehnen, da diese die in der Türkei übliche hanafitische Rechtsschule in Deutschland durchsetzen wollen. Vor der Flüchtlings˙ welle im Jahre 2015 lebten circa 4,3 Millionen Muslime in Deutschland, darunter 2,56 Millionen Türken. Die Mitglieder der Dachverbände haben zum einen ihre Abstammung aus der Türkei und zum anderen ihre hanafitisch sunnitische Prägung ge˙ mein. Zieht man die Zerstrittenheit der unzähligen türkisch-sunnitischen Dachverbände über die Vertretungsfrage in Betracht, so kann keiner von ihnen in Anspruch nehmen, die türkische Gemeinde an sich zu vertreten, geschweige denn die Gesamtheit der Muslime. Die muslimisch-sunnitischen Dachverbände vertreten maximal 15 % der Muslime in Deutschland21 und somit sind sie für nichtorganisierte Muslime nicht repräsentativ. Eine große Zahl der Muslime in Deutschland, die sich in der Mehrheit befinden, betrachtet ihre Religion als eine Privatsache. Das vorherrschende Islamverständnis unter den Muslimen weist deutlich darauf hin, dass die Religion eher eine individuelle Beziehung zwischen dem Einzelnen und Gott ist. „Sie sind deshalb im soziologischen Sinne unsichtbar und beteiligen sich auch nicht an der Debatte um einen islamischen Religionsunterricht. Fragt man sie privat über ihre Meinung dazu, hört man häufig die Auffassung, ein solcher Unterricht solle möglichst neutrale und seriöse Informationen über den Islam enthalten, er solle modern und wissenschaftlich sein. Viele Beteiligte trauen dem deutschen Staat einen solchen Unterricht eher zu als islamischen Dachverbänden, die sie tendenziell des Lobbyismus und der politischethnischen Instrumentalisierung verdächtigen.“22 Dies bedeutet, dass die muslimischen Dachverbände bei der Erstellung der Lehrpläne nicht neutral sein können und damit nicht die Interessen der hiesigen Muslime vertreten, sondern die politischen und religiösen Belange ihrer Herkunftsländer.23 Wären diese Dachverbände 21

Spenlen, Klaus: Auf dem Weg zu islamischem Religionsunterricht – Chancen, Grenzen sowie Lösungsversuche der Länder, in: Auf dem Weg zum Islamischen Religionsunterricht, hrsg. von Michael Kiefer, Eckart Gottwald und Bülent Ucar, Berlin 2008, S. 21 – 32, hier S. 26. 22 Bochinger, Christoph: Islamunterricht in Deutschland aus religionswissenschaftlicher Sicht, in: Islamischer Religionsunterricht, hrsg. von Thomas Bauer, Lamya Kaddor und Katja Strobel, S. 21 – 31, hier S. 23 f. 23 Tariq Ramadan betont einen dringenden Bedarf an Reform für die im Westen existierenden muslimischen Gemeinden und plädiert für ihre politische und finanzielle Unabhängigkeit gegenüber den Regierungen ihrer Herkunftsländer. Siehe Ramadan, Tariq: Muslim

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für die Erstellung der Curricula zuständig, dann könnte man sogar sagen, dass der islamische Religionsunterricht nicht als eine Befähigung der Schülerinnen und der Schüler beim Reflektieren ihrer Religion in ihrer historischen Entwicklung und in ihrer aktuellen Auslegung zu verstehen wäre, sondern vor allem als Instrument zur Verwirklichung der Erziehungsziele ausländischer Staaten wie der Türkei und Saudi-Arabiens. Das Dilemma fehlender Glaubensgemeinschaft und somit fehlender Ansprechpartner des Staates zeigt deutlich, dass die Muslime wegen der Vielfalt ihrer Religion nicht in kirchenähnliche Institutionen gezwungen werden können. Im Lauf seiner Geschichte kannte besonders der sunnitische Islam keine einheitliche Instanz, die im Namen der verschiedenen Rechtsschulen bzw. Glaubensgemeinschaften hätte sprechen können. Ein loser Zusammenschluss aller in Deutschland lebenden Muslime lässt gewiss die vielfältige Meinungsverschiedenheit garantieren und verhindert den Einfluss ausländischer Regierungen durch die Dachverbände bei der Gestaltung des islamischen Religionsunterrichts. Fragwürdig bleibt daher, ob die türkisch geprägten Dachverbände tatsächlich die richtigen Ansprechpartner des Staates sind. Bestimmt wollen sie von Art. 7 Abs. 3 GG profitieren, der die rechtliche Argumentation für den schulischen Religionsunterricht auf der Grundlage des Verhältnisses von Staat und Kirche regelt. Jedoch sind die Verbände weit entfernt von der modernen Erschließung eines humanistischen Islam. Die historisch-kritische Vermittlung der islamischen Glaubensinhalte auf Basis der wissenschaftlichen und auch theologischen Redlichkeit bleibt ihnen fremd. Sie lehnen zum Beispiel jegliche wissenschaftliche Begegnung mit der Islamwissenschaft oder den historisch-kritischen Verstehenszugang zu den kanonischen Quellen ab. Darüber hinaus sind die muslimischen Vereinigungen nicht in der Lage, Schritt zu halten mit einem pluralistischen Staat, der den einzelnen religiösen wie auch anderweitigen weltanschaulichen Gruppen ihre Freiheit zur Gestaltung und ungehinderten Ausübung ihrer Glaubensüberzeugungen gewährleistet. Würden die Dachverbände als Ansprechpartner des Staates anerkannt werden, dann würden von ihnen die religiösen Lehrinhalte für den IRU festgelegt. Dies würde bedeuten, dass mehrere und unterschiedliche Auffassungen von Dachverbänden entstehen könnten. Würde der Staat die Zusammenarbeit nur mit einem Dachverband suchen, etwa der sehr umstrittenen Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e.V (DITIB), die sich an den Vorgaben des Ministeriums für Religiöse Angelegenheiten der Türkei in Ankara (Diyanet I˙s¸leri Bas¸kanlıg˘ ı, abgekürzt: Diyanet) orientiert,24 würden sich andere Dachverbände benachteiligt fühlen. Es scheint daher nicht verständlich, wenn sich eine Landesregierung auf einen islamischen Dachverband als Kooperationspartner bei der Erstellung der Lehrpläne und der Gesein in Europa. Untersuchung der islamischen Quellen im europäischen Kontext, Marburg 2001, S. 286 ff. 24 Ourghi, Abdel-Hakim: Der Islamunterricht ist eine sunnitische Veranstaltung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 9. 10. 2014.

Der Islam und die Muslime in Deutschland

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staltung des islamischen Unterrichts beschränkt. Das fordert islamische Staaten gerade dazu auf, sich in die deutsche Schulpolitik einzumischen und sogar indirekt mitzubestimmen. Es scheint auch ein Fehler zu sein, wenn die muslimischen Dachverbände mit den kirchlichen Vertretern der Katholiken und Protestanten gleichgestellt werden. Denn die Wortführer der muslimischen Verbände sind noch meilenweit davon entfernt, einen aufgeklärten, humanistischen Islam zu etablieren, der ihnen eine den Kirchen vergleichbare Rolle in der deutschen Gesellschaft ermöglichen würde. Für die islamischen Religionsgemeinschaften in Deutschland muss möglicherweise ein anderes Verfahren gefunden werden. Die Lösung für die Etablierung eines dialogfähigen Islam wäre seitens des Staates die Gründung „eines bundesweiten Islamischen Rats“ aus renommierten muslimischen Persönlichkeiten, in dem sowohl Sunniten als auch Schiiten und andere muslimische Gruppen vertreten sind. Diese könnten der Ansprechpartner der beiden Kirchen und des politischen Establishments sein. Dadurch könnte der politische Einfluss der konservativen Dachverbände und der Geldgeber im Ausland eingedämmt werden. Ob das Grundgesetz das erlaubt, bleibt gemäß der jetzigen politischen Situation zu beantworten. Denn solch eine Vorgehensweise würde von muslimischen Staaten und Verbänden als ein staatlicher Eingriff in die Religionsangelegenheiten bzw. die Einmischung in die Lehrinhalte und somit als gesetzwidrig angesehen. Möglicherweise benötigt der Staat keinen Ansprechpartner bei der Durchführung des islamischen Religionsunterrichts. Diese Lösung könnte nicht nur den islamischen Religionsunterricht, sondern auch das religiöse Leben der hiesigen Muslime vor dem Einfluss der konservativen Dachverbände und ihrer Herkunftsländer befreien und könnte sogar die Umsetzung eines modernen und humanistischen Islam im Westen möglich machen. Islamischer Religionsunterricht Inzwischen verstärkt sich die große Resonanz seitens der Eltern, die ihre Kinder gerne für den IRU anmelden wollen. Sogar Eltern mit schiitischen Wurzeln zeigen großes Interesse an einem solchen Religionsunterricht, der eigentlich sunnitisch geprägt ist. Inzwischen bestehen Klassen in Schulen aus sunnitischen und schiitischen Schülerinnen und Schülern. Für die hier geborenen Kinder scheinen politische Unterschiede zwischen Schiiten und Sunniten aus dem 7. Jahrhundert zweitrangig zu sein. Sie definieren sich meist nicht als Sunniten oder Schiiten, sondern schlicht als Muslime. Der IRU macht es inzwischen möglich, dass sie sich nicht sklavisch den politischen Regeln einer muslimischen Konfession unterwerfen müssen. Daher kann die religiöse Bildung im westlichen Schulsystem den Weg zum innerislamischen Frieden ebnen. „Jetzt haben wir endlich eine Religion in der Schule“, damit meint der zehnjährige Schüler Ahmed, dass er endlich in seiner Grundschule heimisch geworden ist. Zum ersten Mal fühlen sich muslimische Lernende in der Schule ernst genommen und be-

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trachten ihren schulischen Alltag als Bildungsort für ihre Religion. Sie fühlen sich wertgeschätzt und wie alle anderen Schülerinnen und Schüler anderer Religionen gleichbehandelt. Inzwischen wagen viele unter ihnen Vergleiche zwischen dem IRU in der Schule und dem Koranunterricht in der Moschee anzustellen und berichten dabei über ihre positiven und negativen Erfahrungen. Sie entdecken die Religionslehrer und -lehrerinnen nicht als Verkünder der absoluten Wahrheit, sondern als Begleiter bei ihrer neugierigen Entdeckungsreise durch ihre Religion. Sie finden kompetente Ansprechpartner, die sie in schwierigen Situationen bei ihrem Individualisierungsprozess auf der Grundlage der religionspädagogischen und didaktischen Vermittlungslehre motivieren und unterstützen. Wie alle Arten der Bildung dient auch die religiöse Bildung im westlichen Kontext der freien und bewussten Entfaltung des Individuums als Subjekt in seiner Gemeinde. Letztendlich ist der Glaube auf Erden nicht vertretbar, denn es gibt keine vermittelnde Instanz zwischen Gott und dem Menschen als einzelne Person. Mit dieser religionspädagogischen Evidenz beginnt die Selbstentfaltung in Freiheit, die die eigene Religion auf der Basis der Reflexion unterstützt und befördert. Daher ist der IRU ein Begleiter der Schülerinnen und Schüler während ihrer schulischen Bildung hin zur individuellen Selbstwerdung, und zwar in einem westlichen Kontext, der alle Religionen und alle areligiösen Menschen mit einbezieht.

Dr. Abdel-Hakim Ourghi ist Islamwissenschaftler. Seit 2011 leitet er den Fachbereich Islamische Theologie und Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule Freiburg.

Islam in einer pluralen Gesellschaft Von Ednan Aslan Das Leben in einer pluralen Gesellschaft stellt für die Muslime in Europa eine wachsende Herausforderung dar. Verfolgt man die Debatten um die Muslime, wird man dann auch Zeuge einer sehr lebhaften Auseinandersetzung rund um die Frage, wie der Islam in der heutigen, globalisierten Welt zu verstehen sei. Wenn nun am Ende dieser Debatten Klarheit darüber bestehen soll, wie die Muslime die Welt aus einem modernen Verständnis heraus zu deuten haben, dann bleibt ihnen nicht erspart, ihre eigene Stellung und die anderen Religionen und Kulturen aus ganz neuen Perspektiven zu betrachten. Dieser Beitrag versucht, die Grundlagen eines islamischen Lebens unter den Verhältnissen einer säkularen Gesellschaft darzulegen, die imstande wäre, für die Muslime eine Identität mit Europa bzw. dessen Werten zu verleihen und sie befähigt, aus anderen Perspektiven die Stellung der Religion neu zu deuten. Einführung Neuesten statistischen Angaben zufolge nimmt im Zuge wachsender Globalisierung, Migration und Flucht die religiöse Vielfalt in Europa zu – ein Umstand, der Religion nach längerer Zeit wieder zu einem in der Öffentlichkeit häufig diskutierten Thema werden ließ. Wer heute über Pluralität spricht, kommt um das Thema Religion nicht herum. Wie viel Religion eine Gesellschaft braucht bzw. zulassen sollte, ist einer der zentralen Gegenstände laufender Debatten. Darüber hinaus scheinen religiöse Fragen gegenwärtig besonders dazu geeignet zu sein, das Wesen gesellschaftlicher Pluralität zu diskutieren. Die Muslime selbst haben in ihrer Geschichte verschiedene Konzepte entwickelt, wie das Zusammenleben mit Vertretern anderer Religionen zu gestalten sei bzw. welche Stellung anderen Religionen in einem muslimisch geprägten Land zukommen solle. In einer Vielzahl theologischer Werke wurden Rechte und Pflichten von Juden und Christen bis ins Detail thematisiert. In all diesen Werken geht es freilich nur darum, wie die religiösen Minderheiten behandelt werden sollen, Überlegungen bezüglich deren Partizipation an der Macht finden sich darin nicht.1 Außer in Teilen 1 Vgl. Karaman, Hayrettin: Demokrasi çog˘ ulculuk laiklik ve I˙slam, in: Yeni S¸afak 2014, http://www.yenisafak.com.tr/yazarlar/HayrettinKaraman/demokrasi-cogulculuk-laiklik-ve-is lam/53629, Stand: 3. 4. 2014.

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der Sufi-Literatur2 sind die Sonderstellung der religiösen Minderheiten und ihre aus theologischer Sicht dem institutionalisierten Islam gegenüber minderwertigen Wertevorstellungen nicht Gegenstand der Auseinandersetzung.3 Nun sind die von muslimischen Wissenschaftlern entwickelten Vorstellungen von Pluralität in den globalen Verhältnissen längst nicht mehr dazu angetan, aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden, geht es heute doch nicht mehr darum zu begründen, warum die Religionen einander dulden sollten, sondern vielmehr darum, wie die Pluralitätsfähigkeit der Religionen ausgestaltet werden kann, sodass ein friedliches Zusammenleben ohne Absolutheitsanspruch einer bestimmten Religion oder Weltanschauung und ohne Identitätsverlust gewährleistet ist. So, wie die christlichen Religionen im Verlauf der Geschichte gezwungen waren, ihre eigene Theologiegeschichte zu hinterfragen, sind auch die Muslime aufgerufen, ihre Stellung anderen Religionen gegenüber zu reflektieren und daran zu arbeiten, sie im Sinne des Koran und der Tradition des Propheten neu zu definieren. Würden sie im Zuge dieses Prozesses jedoch darauf setzen, allein aus der eigenen Geschichte schöpfen zu können, um daraus abgeschlossene Konzepte abzuleiten, müsste dies unweigerlich zu Enttäuschung oder Isolation führen – die Fragen, die sich an den Islam der Gegenwart stellen, sind aus seiner Geschichte heraus unbekannt. „Wir sehen unseren Glauben nicht als etwas, das sich fortlaufend verändert. Wir suchen ständig nach festen Konzepten wie dem Konzept von Medina und jenem von Mekka. Aber beide sind allzu simpel: vor der Hidschra und nach der Hidschra. Im mekkanischen Konzept waren wir die Opfer; im Konzept von Medina haben wir gewonnen und waren die Herrschenden. Beide sind aber für eine offene und pluralistische Gesellschaft nicht geeignet, denn hier geht es immer um Geben und Nehmen.“4

Ein Blick auf die aktuellen Forschungen in den islamischen Ländern zeigt, dass leider sehr wenige muslimische Wissenschaftler sich mit der Frage der Pluralitätsfähigkeit des Islam auseinandersetzen. Die Wissenschaftler sind immer noch damit beschäftigt, die Stellung der religiösen Minderheiten und auch die Privilegien des Islam anderen Religionen gegenüber vor dem Hintergrund des institutionalisierten Islam zu beurteilen. So aber entstehen weitere Widersprüche und Konflikte, weil nämlich dieser Zugang nicht die Gleichwertigkeit der Religionen, sondern die Abwertung anderer Religionen voraussetzt. Aus dieser Haltung können keine pluralitätsfähigen theologischen Konzepte entstehen.5 Mehr noch als in den islamisch geprägten Ländern stellt sich die Aufgabe, die islamische Theologie weiterzudenken, für die in Europa lebenden Muslime, die stän2 Vgl. al-Qushayrı¯, Ima¯m Jama¯l al-Isla¯m Abu¯’l-Qa¯sim: Lata¯’if al-Isha¯ra¯t, o. J., http://www. ˙ altafsir.com/Books/lataif.pdf, Stand: 23. 4. 2016. 3 Aydın, Mahmut: Dinsel çog˘ ulculuk ve Mutalklık iddaları, Ankara 2005, S. 92. 4 Esack, Farid: „Deutsche Muslime sind nur Mitreisende“, http://de.qantara.de/inhalt/inter view-mit-dem-islamischen-theologen-farid-esack-deutsche-muslime-sind-nur-mitreisende (2014), Stand: 10. 4. 2015. 5 Karaman: Demokrasi çog˘ ulculuk laiklik ve ˙Islam.

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dig mit religiöser und kultureller Vielfalt konfrontiert sind und deren Zukunft als Gläubige entscheidend vom Gelingen einer solchen Transformation abhängt. In diesem Prozess dürfen sich die Muslime nicht von den Leistungen anderer Religionen abhängig machen, sondern müssen sich in einem aktiven Dialog mit anderen Religionen bemühen, die Widersprüche zwischen Islam und pluralistischer Gesellschaft aus ihrer eigenen Denktradition heraus zu klären und so auch Impulse in Richtung der islamischen Länder zu senden – sozusagen als Beweis dafür, dass eine pluralistische Gesellschaft mit einem koranischen Konzept begründbar ist. Unter den besonderen europäischen Verhältnissen kommt den Muslimen und deren Organisationen eine besondere Aufgabe zu, nämlich den in Europa heranwachsenden Muslimen beizubringen, ihre Haltung zu gesellschaftlicher Vielfalt und ihr Verständnis über die Stellung der Religion in einer säkularen Gesellschaft kritisch zu hinterfragen. Dabei könnten neben dem Bekenntnis zur innerislamischen Pluralität auch die Verfolgung pluralistischer Ansätze in der islamischen Erziehung und Strategien zur Bekämpfung von Extremismus und Fundamentalismus entscheidend zur Beheimatung des Islam in Europa beitragen. Um diese Ziele zu erreichen, sollten zunächst die Hindernisse erläutert werden, die die Integration der Muslime in die pluralistischen Verhältnisse in Europa erschweren. Ein neuer Zugang zum Westen Immer noch ist in den islamischen Ländern bzw. auch bei den in Europa lebenden Muslimen eine gewisse Ablehnung gegen den Westen und den damit verbundenen Werten vorhanden. Unmoral und Ungerechtigkeit wird dem Westen als Ursache dieses Übels vorgeworfen. Prägende Argumente berufen sich auf die Stellung der Religionen im Westen bzw. säkulare Gesellschaftsformen. Aus dem Säkularismusverständnis Europas wird eine Religionsfeindlichkeit abgeleitet, wo der Westen regelrecht einen Krieg gegen den Islam führt.

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In den klassisch muslimischen Sprachen Arabisch, Türkisch und Persisch finden wir keine adäquate Erklärung für diese Begriffe. Eine erste Übersetzung des Begriffs des Säkularismus als „ alma¯nı¯yahf“ (Verweltlichung) findet sich in dem arabischen Lexikon „Mu¯h¯ıt al Mu¯h¯ıt“, das der libanesische Christ Butrus al Bustani (1819 – ˙˙ ˙˙ 1883) im Jahre 1870 verfasst hat. In einigen anderen Lexika wird dieser Begriff mit „Ilmaniyya“ (Verwissenschaftlichung) übersetzt. Diese Übersetzung ist bis heute die gebräuchlichste in den arabischsprachigen Ländern. Im Persischen wird dieser Begriff mit „Bihuda, la Madhab“ (Orientierungslosigkeit) oder als „Gayri Dini“ (Religionsfeindlichkeit) übersetzt. Die Türken haben sich für den Begriff des „Laizismus“ entschieden, der eher ein politischer Begriff ist und aus dem Wortschatz der französischen Revolution stammt.

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Hierunter wird die institutionelle Trennung von Staat und Kirche verstanden. Die Republik Türkei hat sich am französischen Modell orientiert und diesen Begriff unübersetzt übernommen. Gemäß dem charismatischen Gelehrten Al Qaradawi fordert der Islam mit seinen materiellen und moralischen, individuellen und sozialen Ansprüchen den Säkularismus heraus. Der Kampf zwischen Islam und Säkularismus sei somit unausweichlich. Gemäß dem Islam sei das Leben eine Ganzheit und demzufolge eine Trennung zwischen Staat und Religion nicht möglich.6 Chomeini vertritt eine ähnliche Meinung: „Eine Sammlung von Gesetzen genügt nicht, um die Gesellschaft zu verbessern. Man braucht eine Exekutive, um die Gesetze zum Wohle der Menschen in die Tat umzusetzen. Daher hat Gott, der Allmächtige, nicht nur Gesetze, d. h. das islamische Gesetzeswerk offenbart, sondern auch einen Staat, eine Exekutive und ein Verwaltungssystem geschaffen.“7 Die Stimme muslimischer Intellektueller wie Nasr Hamid Abu Zayd, der das Verständnis der muslimischen Mehrheit vom Säkularismus als unsachlich und unwissenschaftlich zurückweist, findet leider unter den autoritären Regimen und klassischen Gelehrten kein Gehör. Abu Zaid führt die Säkularismuskritik unter den muslimischen Theologen auf zwei Wurzeln zurück: „Erstens, Säkularismus nimmt den Kritikern ihre einzige religiös begründete Legitimation, zweitens, eine heilige Autorität mit absolutem Wahrheitsanspruch wird in Frage gestellt.“8

Ähnlich Yasar Nuri Öztürk, Dekan der theologischen Fakultät von Istanbul, er sieht im Säkularismus die Chance, die Stellung der Religion in der Gesellschaft zu stabilisieren. Durch den Säkularismus würden die religiösen Autoritäten zu ihren ursprünglichen Aufgaben zurückkehren.9 Dass der Säkularismus als eine Waffe des Westens den Muslimen gegenüber dargestellt wird, stärkt diese Haltung vor allem unter den jungen Menschen antiwestlicher Ressentiments, weil man nämlich dadurch den Westen und seine Werte zu verachten beginnt. Nachfolgend wird exemplarisch die Aussage des Betreibers mehrerer Kindergärten in Wien angeführt, welche die Problematik verdeutlicht, dass die Grundlage der erzieherischen Vorstellungen darin besteht, sich gegenüber dem Westen zu behaupten und die Kinder auf den Niedergang des Westens einzustimmen: „Millionen und Abermillionen fliehen aus ihrer Heimat oder wandern in den ,goldenen Westen‘ aus. Die meisten von uns sind nach Europa gekommen, um Geld zu verdienen, ihre Familien zu ernähren, den Eltern den Hajj zu bezahlen usw. […]. Das ist im Prinzip nichts Schlechtes. Viele haben hier wieder zu ihrer Religion zurückgefunden, trotzdem sind die meisten Muslime in Europa wieder hauptsächlich mit Geldverdienen beschäftigt. Mit 6 Kardavi, Yusuf: Tarihi Hesaplasma, Islam ve Laiklik, übersetzt aus dem Arabischen, Istanbul 1994. 7 Chomeini, Ru¯halla¯h Mu¯sawı¯: Der islamische Staat, Berlin 1983, S. 31. ˙ 8 Abu¯-Zaid, Nasr Ha¯mid: Naqd Al-Kita¯b Ad-Dı¯ni, Ankara 2002, S. 231. ˙ ˙ 9 Öztürk, Yasar Nuri: Kur‘an verilerine göre Laiklik, Istanbul 2003, S. 10.

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dem Ziel, sich noch mehr leisten zu können, damit wir endlich unseren Minderwertigkeitskomplex gegenüber den westlichen Menschen ablegen können, indem wir ihnen nacheifern. Wir haben nichts aus unserer Geschichte gelernt. Europa, wie wir es kennen, wird in einigen Jahren aufhören zu existieren, inschaa Allah, denn der Kinderschnitt liegt bei 1,38 pro Familie. Aber die Bevölkerung in der EU nimmt nicht ab. Ganz im Gegenteil: Sie nimmt ständig zu. Durch islamische Einwanderung und speziell durch eine höhere Geburtenrate der muslimischen Familien!“10

Seine Vorbehalte gegenüber dem Staat und den staatlichen Einrichtungen verpflichtet diese antiwestlichen Akteure, ihren Kampf für die Erweiterung der islamischen Umgebung zu intensivieren bzw. zu professionalisieren: „Wir sind uns alle einig, dass unsere Kinder von klein auf in islamischer Umgebung und mit islamischer Erziehung aufwachsen sollen. Dafür hat das ,Integrative Bildungs- und Informationszentrum‘ mit einer Reihe von Kindergärten in Wien (Iqra, Yasin, Furqan, Baraka) bereits eine gute Grundlage gelegt: Mehr als 1.000 Kinder im Alter von 2 – 6 wurden in diesen Einrichtungen betreut, erzogen, auf die Schule vorbereitet, al hamdulillah. Leider besuchen viele Kinder anschließend aus Mangel an islamischen Alternativen öffentliche Schulen ohne islamische Umgebung und Erziehung. Besonders groß und gefährlich ist die Lücke für 10 – 15-jährige Kinder, da in Wien keine anspruchsvolle islamische Haupt- oder Mittelschule zur Verfügung steht. Unser Ziel ist es, die muslimischen Kinder auch nach dem Kindergarten und ganz speziell im pubertären Alter zu betreuen und sie mit Allahs Hilfe auf ihr weiteres Leben vorzubereiten.“11

Im weiteren Verlauf solcher Positionen werden zudem eine gesellschaftsfeindliche Haltung sowie das Streben nach Isolation deutlich sichtbar. Pluralität – eine wichtige Grundlage einer multikulturellen Gesellschaft – wird in dieser radikalen Form der Lehre als unislamisch abgelehnt, diejenigen, die an Pluralität und Trinität, Inkarnation usw. glauben, werden als Bewohner der Hölle verunglimpft: „[…] islamologisch steht Kufr für Nicht-Islam, als Bezeichnung für den Verstoß gegen die Prinzipien von Tauhid [Einheit Gottes, Anm. d. Verf.], für jede Religion / Weltanschauung, die man nicht unter der Definition ,Islam‘ einordnen kann, für das komplett bzw. partiell bewusste Leugnen bzw. Negieren eines Iman-Inhaltes [islamische Glaubensgrundlage, Anm. d. Verf.] und / oder eines eindeutigen Gebotes des islamischen Din [Religion, Anm. d. Verf.] und für jede Art von Polytheismus bzw. polytheistischen Vorstellungen, wie z .B. Inkarnation, Anthropomorphismus, Dualität, Trinität, Pluralität, Teilbarkeit. Kufr ist somit ein Sammelbegriff für jede nicht islamkonforme Lebensweise. […] Nur die Atheisten, die Polytheisten und die Munafiq [Heuchler, Anm. d. Verf.] unter den Kaafir sind für ewig Bewohner der Hölle.“12

Nach dieser Lehre seien überall auf der Welt islamfeindliche Kräfte am Werk, hinter denen eine Verschwörung des Westens und der Zionisten gegen den Islam stehe. 10

Dzˇ emat Bosna, http://www.ikre.at, Stand: 5. 7. 2010. Dieser Inhalt wurde aus dem Netz genommen. 11 Aus dem Flyer der Muhammad-Asad-Schule, Wien 2012. 12 Vgl. die Definition von Kaafir (Kufr), in Zaidan, Amir M. A.: At-tafsiir. Der QuraanText und seine Transkription und Übersetzung, Wien 2009, S. 1099.

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Daraus ergibt sich ein Weltbild, in dem die Muslime immer die Opfer, der Westen und die Zionisten ausnahmslos Täter sind.13 Auch die Werte in Europa werden in vielen Publikationen der Organisationen wie Milli Görüs und Muslimbruderschaft, die in Europa über gute Organisationstrukturen verfügen, abgelehnt und die westliche Lebensweise als minderwertige Weltanschauung dargestellt.14 Der Verachtung für europäische Werte und die westliche Lebensweise wird auch in vielen anderen Publikationen solcher in Europa gut organisierten Verbände immer wieder Ausdruck verliehen: „Niemand bekämpft den IS, wenn das so wäre, gäbe es den IS nicht mehr. Die verblöden die Welt. Unter dem Vorwand des IS bekämpft der Westen nur den Islam.“15

Anders, als von islamophoben Kräften dargestellt, sind die antiwestlichen Positionen des politischen Islam nicht unbedingt das Produkt einer bestimmten Erfahrung dieser Organisationen, sondern werden vielmehr ideologisch begründet: „Die Selbstmordrate in Europa und Amerika hat ungeahnte Höhen erreicht; genauso steht es mit den Scheidungen. Völkermord und Abtreibung kosten Millionen das Leben. Alkohol und Drogen zerstören unzählige Leben. Ein furchtbarer Kampf um Märkte und wirtschaftlichen Wohlstand tobt zwischen verschiedenen Klassen und Völkern. Eifersucht, Bosheit und Feindschaft bringen den Menschen gegen seinen Nachbarn auf. Der Wettlauf um Besitz hat das Leben für so viele Menschen bitter werden lassen. Die riesigen und glitzernden Großstädte unserer Zeit, die aus der Entfernung so prächtig anmuten, beherbergen Millionen von Menschen, die im Elend leben. Nennt ihr das Erfolg? Ist es das, was ihr so neidisch anstrebt?“16

Ähnlich argumentiert auch eine Führungspersönlichkeit der Muslimbruderschaft seine antiwestliche Position: „Wenn der Mensch, wie in Europa, seinen Glaubensknoten verliert, dann entsteht Orientierungslosigkeit, Perversität. Der europäische Gedanke wollte sich von der Unterdrückung der Kirche befreien, aber er hat sich von den festen Säulen der Religion entfernt.17

Diese Position wurde aus unterschiedlichsten Anlässen immer wieder zum Ausdruck gebracht, wie hier am Beispiel von Erbakan: 13

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Aus dem Buch Mawdu¯dı¯, Sayyid Abu-l-A la¯: Als Muslim leben, ins Deutsche übertragen von Kerim Edipoglu und Safiya Balioglu, Karlsruhe 2001, https://archive.org/stream/Maududi AlsMuslimLeben/Maududi%20-%20Als%20Muslim%20Leben_djvu.txt, Stand: 23. 2. 2017. 14 Vgl. „S¸eytana Uyma, Aldanma, Kutlama.“, http://m.milligazete.com.tr/haber/Uyma_sey tana/347127, Stand: 25. 10. 2015 und Timeturk: „Milli Gazete, ,S¸eytana Uyma, Aldanma, Kutlama‘ Dedi.“, http://www.timeturk.com/tr/2014/12/31/milli-gazete-seytana-uyma-aldanmakutlama-dedi.html, Stand: 23. 2. 2017. 15 Yilmaz, Ahmet auf seiner Facebookseite, https://www.facebook.com/profile.php?id= 100003857042077&fref=nf, Stand: 23. 2. 2017. 16 Mawdu¯dı¯: Als Muslim leben. 17 Kutub, Seyyid: I˙slâm Düs¸üncesi (Islamisches Denken), aus dem Arabischen von C¸. Hamid S¸ükrü, Istanbul 1991, S. 87 – 90.

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„Das Gehirn des Monsters, das die Welt ausbeutet, ist der Zionismus, sein Herz sind die Kreuzritter Europas, seine rechte Hand ist Amerika, seine linke Hand ist Russland.“18

Diese Tatsache, die das zeitgenössische Denken entscheidend in den islamischen Ländern prägt, verhindert eine sachliche Analyse, um die Hintergründe der dramatischen Lage der Muslime zu verstehen, geschweige denn Alternativen für die Zukunft zu entwickeln. Wenn die Muslime, ohne es zu verallgemeinern, auch seit Generationen in Europa leben, betrachten sie die Werte Europas immer noch als eine Gefahr für die Zukunft ihrer Kinder und versuchen mit allen möglichen Maßnahmen, eine bestimmte Isolation ihres religiösen und kulturellen Lebens mit eben diesem Religionsverständnis zu legitimieren. Wenn auch all diese Probleme nicht auf eine bestimmte Theologie reduziert werden können, wäre eine dynamisch-islamische Theologie doch in der Lage, einen anderen Beitrag zu leisten, dass nämlich der Islam in den säkular-pluralen Verhältnissen Europas doch seinen Platz hat. Dieses Umdenken würde nicht nur die Zukunft des Islam in Europa sichern, sondern auch einen wichtigen Beitrag für das Gelingen einer pluralen Gesellschaft leisten. Begründung des islamischen Pluralismus als innermuslimische Aufgabe Wenn sich die Muslime in Europa beheimaten möchten, dann brauchen sie eine theologische Begründung, die das Leben in dieser Heimat nicht als Not, sondern als Chance für die Muslime versteht, dementsprechend die hier heranwachsenden Menschen zu erziehen. Daraus entsteht eine unausweichliche Aufgabe, die Stellung der Religion im Alltag in einer pluralen Gesellschaft neu zu überdenken. Was ist der Kern der Religiosität im Islam? Seit der ersten Offenbarung im Jahre 611 versuchen die Muslime, die Lehren des Islam zu verstehen bzw. an ihre Kinder weiterzugeben. Die wichtigsten zwei Antworten, die es dabei zu finden gilt, sind, was der Koran meint, wenn er allgemein von der Religion spricht und was mit dem Begriff „dı¯n“ gemeint ist. Der Begriff dı¯n darf für Religion nicht allein vom institutionalisierten und von Prophet Muhammad verkündeten Islam in Anspruch genommen werden; vielmehr legt der Koran „Für euch euer Moralgesetz, und für mich meines!“ (Koran 109/6) nahe, dass der Koran auch die Lebensweise und Moraleinstellungen der unterschiedlichen Glaubensrichtungen als dı¯n bezeichnet. Demnach werden in der Lehre des

18 https ://www.facebook.com/photo.php ?fbid=1137825359576756&set=pcb. 10152812449776437&type=1&theater, Stand: 30. 11. 2015.

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Koran alle Religionen, die sich auf Gott berufen, im Hinblick auf ihren Wesenskern als dı¯n bezeichnet. Der Kern des Islam vermeidet die Hervorhebung einzelner Religionen und verweist stattdessen auf die persönliche Handlung und Verantwortung des Individuums – nicht aber die Stammes- bzw. Gruppenzugehörigkeit eines Menschen ist ausschlaggebend für seine Qualität als Mensch; entscheidend sind seine individuellen Werke, unabhängig von seiner religiösen Zugehörigkeit. Allein den Islam mit seinen institutionalisierten Strukturen als dı¯n zu verstehen, entspräche nicht seinem Wesen. In diesem Kern ist mit der wahren Religion nicht unbedingt der Islam als eine institutionalisierte Religion gemeint, sondern alle Religionen. Kritisiert werden hier jene Menschen, die nicht von einer institutionalisierten Religion abweichen, sondern, wie in Ayah 2/112 geschildert, von den guten Werken und Wohltaten, die von den Menschen erwartet werden. Was der Koran als dı¯n bezeichnet, entspricht einem Bewusstseinszustand, der der Naturveranlagung der Menschen entspricht. Diese Naturveranlagung ist die gesamte Menschheitsgeschichte hindurch unverändert geblieben. Auch Muslim zu sein beschreibt in erster Linie keine institutionalisierte Zugehörigkeit, sondern die Handlungsweise eines Menschen zum Wohle der Menschen. Im Koran wird die pauschalisierende Bezugnahme auf den Menschen ohne individuelle Eigenschaften ausdrücklich vermieden, eben, weil der Islam die Menschen von der Festlegung auf eine Gruppen- bzw. Sippenzugehörigkeit befreien wollte. Okuyan und Öztürk kritisieren die Reduzierung des Muslimseins auf die Durchführung bestimmter religiöser Rituale und sprechen sich dagegen aus, die Begriffe „Islam“ oder „Muslim“ nur im Zusammenhang mit den Angehörigen der durch Muhammad verkündeten Religion zu verwenden: „Eine Ayah aus dem Koran wie ,Vor Gott ist der Islam die einzige Religion‘ oder ,Gott hat für euch als Religion den Islam bestimmt‘ wurde nur auf den institutionalisierten Islam bezogen; Menschen außerhalb dieser Institution wurden als ,Kafir‘ bezeichnet. Aus dieser allgemein ausschließenden Position heraus wurden die Inhalte des Korans, die die Andersgläubigen loben, unterschiedlich interpretiert oder auf die Juden und Christen aus der Zeit des Propheten reduziert und eine solche Ayah als abrogiert erklärt.“19

Im Lichte dieser Grundsätze ist die Begründung der Pluralität aus dem Islam heraus nicht nur möglich, sondern notwendig. Dass in der Theologiegeschichte des Islam die Andersgläubigen als Angehörige einer minderwertigen Religion mit Sondergesetzen behandelt wurden, ist als Abweichung von der koranischen Tradition zu betrachten. Um diese diskriminierende und polarisierende Theologie begründen zu können, haben nicht wenige Theologen einen Teil des Koran als abrogiert aus dem Leben der Muslime herausgenommen, um die 19 Okuyan, Mehmet / Öztürk, Mustafa: Kur’an verilerine göre „Öteki’nin Konumu“, in: Islam ve Öteki, hrsg. von Cafer Yaran, Istanbul 2001, S. 174 – 175.

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Welt in Gut und Böse einteilen zu können. Damit haben sie eigentlich einen zivilisatorischen Rückschritt eingeleitet, ganz entgegen der revolutionären Befreiung des Menschen aus der Haftung der Gruppe, Sippe, Rasse oder Nation. Wenn es den Muslimen gelingt, die Pluralität zu begründen, dann können sie daran gehen, ihre Religion unter pluralistischen Verhältnissen neu zu reflektieren und gegebenenfalls zu adaptieren. Dabei kann durchaus aus der eigenen Tradition geschöpft werden, hat der Islam in seiner Geschichte doch immer wieder seine Pluralitätsfähigkeit unter Beweis gestellt. Eine der meines Erachtens zentralen Aufgaben, die sich der islamischen Theologie dabei stellt, ist die Trennung von Religion und Scharia und damit die Besinnung auf den spirituellen Kern der Religion. Denn was im muslimischen Alltag selbstverständlich ist, wird durch eine Theologie, die vor allem von jungen Menschen bedingungslose Unterwerfung unter die Scharia-Normen einfordert und ihnen damit die Verachtung der pluralistischen Gesellschaft nahelegt, in Frage gestellt und führt dazu, dass jegliches Empfinden von Freude und Freiheit geradewegs in einen Gewissenskonflikt mit dem Glauben führt. Dies ruft bei vielen jungen Menschen nicht nur psychologische Störungen hervor, sondern ebnet auch – wie in jüngster Zeit vielfach bewiesen – den Weg in die Gewalt. Neben der Begründung der Pluralität stehen den in Europa lebenden Muslimen noch weitere Aufgaben zu, die für ihr Beheimatung in Europa von entscheidender Bedeutung sind. Neue unabhängige, nicht vom Ausland gesteuerte Strukturen Die aus meiner Sicht wichtigste Voraussetzung für eine Prägung des islamischen Lebens in Europa ist die Schaffung adäquater religiöser Strukturen. Diese würden die Institutionalisierung der islamischen Glaubenslehre an den europäischen Universitäten ebenso beinhalten wie die Beheimatung von islamischen Organisationen, da nur so deren Instrumentalisierung als Agenten ausländischer Interessen bzw. Missbrauch für politische und wirtschaftliche Zwecke beizukommen ist. Die Gefahren, die damit einhergehen, dass diese Organisationen Befehlsempfänger ausländischer Regierungen sind, haben gerade die letzten Entwicklungen in der Türkei deutlich gemacht: Import von politischen Spannungen, Verbreitung antiwestlicher Ressentiments, religiöser Fanatismus etc. Zur Erreichung dieses Zieles bedarf es entsprechender Rechtsgrundlagen – Vorbild könnte etwa das Islamgesetz in Österreich sein –, vor allem aber der Überzeugung der Muslime, dass die Zukunft ihres Glaubensbekenntnisses in Europa davon abhängt, ob es gelingt, es strukturell in die jeweilige Gesellschaft einzubinden.

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Politische Bildung Die Schule ist der Ort, an dem muslimische Kinder erstmals mit der pluralistischen Gesellschaft und ihren Werten in Berührung kommen; politische Bildung muss daher mehr sein als ein abstraktes Lehrfach – Stichwort „Förderung der europäischen Identität durch Citizenship Education“. Leider sind die meisten Schulen, die von muslimischen Kindern besucht werden, aufgrund des hohen Anteils an Lernenden mit Migrationshintergrund mit dieser Aufgabe völlig überfordert; sie tragen eher die Züge von Verwahranstalten als von Bildungsstätten, in denen die Kinder Demokratie erleben und erfahren können und aufgefordert sind, sich mit Pluralität auseinanderzusetzen und sich eine eigene Meinung zu bilden. Es ist dies ein Prozess, bei dem psychologische, kognitive und ideologische Faktoren eine wichtige Rolle spielen und an dessen Ende die Einsicht stehen sollte, dass Pluralismus nicht eine äußerliche Gegebenheit, sondern Teil meiner Persönlichkeit ist; dass er mir unentwegt eigene Entscheidungen abverlangt, die ich auch begründen können muss. Der islamische Religionsunterricht, wiewohl kein Ersatz für die Erziehung zum Wertepluralismus, könnte, wenn er durch qualifizierte, pluralitätsfähige Lehrkräfte erteilt wird, entscheidend mithelfen, die europäische Identität der Kinder mit theologischen Argumenten zu stärken, sodass die Praktizierung ihrer Religion sie nicht unweigerlich in einen das Gewissen belastenden Gegensatz zu ihrem Alltag stürzt, sondern sie sich dabei als Teil eines vielfältigen Ganzen, dem gewisse Werte gemeinsam sind, begreifen. Politische Aufgaben Einen wesentlichen Beitrag zur Integration des Islam könnten zuletzt die europäischen Staaten leisten – dadurch nämlich, dass sie die Wahrnehmung der Belange ihrer muslimischen Bevölkerung nicht den islamischen Ländern überlassen, sondern explizit als eigene Aufgabe betrachten. Die Zurückhaltung der Politik den muslimischen Organisationen gegenüber begünstigt, ja provoziert geradezu die Einmischung des Auslands in die inneren Angelegenheiten der jeweiligen Länder. Die Politik braucht Mut und Kritikfähigkeit im Umgang mit Muslimen – ihnen gegenüber einen „Kuschelkurs“ zu verfolgen wäre ebenso unproduktiv wie eine generalisierende Behandlung als Sündenböcke. Vielmehr gilt es, sie im Sinne der Tradition der Aufklärung politisch zu fördern und zu fordern. Conclusio Die Muslime in Europa stehen vor Fragen, die sie aus ihrer eigenen religiösen, kulturellen Geschichte nicht kennen. Ihnen bleibt jedoch nichts anderes übrig, als sich diesen Herausforderungen zu stellen und Antworten zu suchen, um ihre Zukunft in Europa gestalten zu können.

Islam in einer pluralen Gesellschaft

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Sich dieser Herausforderungen zu stellen, gestaltet sich gegenwärtig schwierig, weil nämlich der überwiegende Teil muslimischer Organisationen, die das Gesicht des Islam in Europa prägen, ausschließlich aus dem Ausland gesteuert werden und an der Integration der Muslime eigentlich nicht interessiert sind. Ausländische Interessen profitierten aus den Kolonien in der Isolation viel mehr als ein Islam in der Mitte der Gesellschaft. Trotz dieser prekären Lage setzt die Bestimmung der Religiosität in einer pluralen Gesellschaft voraus, dass man sich mit diesen Werten, die die Grundlage für eine plurale Gesellschaft bilden, auseinandersetzt und diese gemeinsam getragen werden, wenn das Zusammenleben zum Vorteil aller gelingen sollte. In diesem Prozess ist es erforderlich, dass die Muslime die Pluralität aus ihrer eigener Tradition und Theologie heraus nicht nur begründen, sondern auch erleben. Das bedeutet auch, die Stellung der Religion unter den neuen Verhältnissen einer säkularen Gesellschaft neu zu definieren, um die Widersprüche zwischen Alltag und Religiosität klären zu können. Die Politik hat jedoch nicht nur die Aufgabe, die Integration der Muslime zu problematisieren, sondern aus dieser muslimischen Präsenz in Europa politische Aufgaben zu machen, um die politische Identität der Muslime mit der Gesellschaft zu stärken bzw. um ausländisch religiöse Kolonien in Europa auflösen zu können.

Prof. Ednan Aslan ist Professor für islamische Religionspädagogik an der Universität Wien.

Der deutsche Islam als Objekt und Subjekt der universalen Aufklärung Von Erdal Toprakyaran In diesem Artikel wird dargestellt, dass der deutsche Islam mehr leisten kann, als nur passiv die universale Aufklärung zu rezipieren. Denn es gab auch in der islamischen Welt stets Vertreter einer rationalen und ästhetischen Religiosität. Auf diese Tradition aufbauend, trägt die Akademisierung des Islam in Deutschland dazu bei, dass ein kritischer, freiheitlicher, säkularer und idealistischer Islam kultiviert wird, der in die ganze Welt ausstrahlen kann. * Oft heißt es im deutschen Islam-Diskurs, dass der Islam eine Aufklärung brauche und damit ein Objekt der universalen Aufklärung zu sein habe. In diesem Artikel soll dargestellt werden, dass der deutsche Islam mehr leisten kann, als nur passiv die universale Aufklärung zu rezipieren.1 Was aber verstehe ich unter dem Begriff „deutscher Islam“, und ist es sinnvoll, einen solchen Begriff in den Diskurs einzuführen? Wenn man sich die Diskurse anderer, mehrheitlich muslimischer Staaten und Regionen anschaut, wird einem schnell deutlich, dass es sowohl sinnvoll als auch legitim ist, eine solche Zuschreibung zu verwenden. So wird in der Türkei gerne vom türkischen oder osmanischen Islam gesprochen, oft in Zusammenhang mit der sogenannten „türkisch-islamischen Synthese (Türk-I˙slam Sentezi)“.2 Dort wird mittlerweile sogar zwischen einem türkisch-nationalen und einem neoliberalen Islamismus (Milli I˙slamcılık bzw. neoliberal ˙Islamcılık) differenziert.3 In ähnlicher Weise wird auch oftmals von einem bosnischen Islam, einem indo-pakistanischen Islam, einem persischen Islam oder einem indonesischen Islam gesprochen. Wieso sollte es also nicht sinnvoll sein, von einem deutschen Islam zu sprechen? Jedoch muss dieser Begriff in einem dezidiert kulturellen und keinesfalls völkisch-nationalistischen 1 Die Inspiration zum Titel des vorliegenden Artikels verdanke ich Reinhard Schulze, der in einem Artikel den Islam als Objekt und Subjekt der Wissenschaft bezeichnet – siehe Schulze, Reinhard: Der Islam als Objekt und Subjekt der Wissenschaft, in: Frankfurter Zeitschrift für Islamisch-Theologische Studien 2/2015, S. 99 – 125. 2 Zur Problematik der türkisch-islamischen Synthese siehe Zeller-Mohrlok, Dagmar: Die türkisch-islamische Synthese: eine Strategie zur Kanalisierung innenpolitischer und wirtschaftlicher Konflikte der Türkei in den 80er Jahren, Bonn 1992. 3 Siehe Yıldırım, Ercan: Neoliberal I˙slamcılık 1980 – 2015. I˙slamcıların Dünya Sistemine Entegrasyonu, Istanbul 2016.

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Sinne verwendet werden, wenn er keine destruktive Wendung nehmen soll. Als Vorbilder für den deutschen Islam kommen also nicht die nationalsozialistischen „deutschen Christen“ in Frage, sondern der „deutsche Katholizismus“ oder das „deutsche Judentum“. Auch muss klar sein, dass es sich bei solchen kategorisierenden Bezeichnungen stets um unscharfe diskursive Arbeitsbegriffe handelt. Um sprachfähig zu bleiben, haben wir keine andere Möglichkeit als die Verwendung von nicht scharf abgrenzbaren und eindeutigen Begriffen. Auch Wissenschaftler sind in ihrer Wahrnehmung und Sprache zwangsläufig selektiv, reduktionistisch und verallgemeinernd.4 Zugleich ist nichts in der Welt wirklich monolithisch; nicht einmal Steine, Berge und Kontinente sind es, da auch sie stätigem Wandel und unaufhaltsamer Bewegung ausgesetzt sind. Und wenn Dinge und Phänomene dynamisch, variabel und perspektivisch sind, müssen es Begriffe wie Orient / Okzident, Morgenland / Abendland, Osten / Westen, islamisch / christlich, türkisch / deutsch auch sein. Deutscher Islam als Islam auf deutschem Boden? Der deutsche Islam ist zunächst einmal der Islam auf deutschem Boden, der gleichfalls dynamisch, variabel und vieldeutig ist. So gibt es traditionell-konservative Muslime5, wie wir sie in den meisten Moscheevereinen vorfinden, extremistisch-gewaltbereite Muslime, wie die der Sauerlandgruppe, und Muslime, die als modern, säkular, progressiv oder aufgeklärt bezeichnet werden. Während die Muslime der ersten beiden Gruppen zumeist als passive Objekte der universalen Aufklärung gesehen werden, können letztere als aktive Subjekte wahrgenommen werden. Doch muss an dieser Stelle betont werden, dass auch der Begriff „Aufklärung“ kein monolithisches Phänomen darstellt und keine eindeutige Repräsentation kennt und deshalb in gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskursen unscharf und variabel verwendet wird. So unterscheidet sich etwa Rousseau stark von Voltaire, der wiederum von Locke und der wiederum von Lessing oder Kant. Manche Aufklärer waren katholisch, manche protestantisch, manche jüdisch; manche waren Theisten, manche Deisten, manche Materialisten oder auch Atheisten. So heißt es beim Berner Islamwissenschaftler Reinhard Schulze, „dass Aufklärung nicht aus der Idee eines oder einiger weniger Denker geboren wurde, sondern dass sich unter der Überschrift Aufklärung vielfältige auch sich diametral widersprechende sozialgeschichtliche, kulturelle und ideengeschichtliche Traditionen und Möglichkeiten verbergen, die nur zusammen und sich stets gegenseitig kritisierend ein Ensemble bilden, das gerne

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Allerdings unterscheidet sich die Sprache der Wissenschaft, die bei aller Relativität stets intersubjektiv stringent und plausibel zu bleiben hat, deutlich von der postfaktischen Sprechweise der Populisten, die erst gar keinen großen Wert auf rationale Plausibilität legen und statt dessen auf emotionale Mobilisierung setzen. 5 In diesem Text wird der Einfachheit wegen nur die männliche Form verwendet. Die weibliche Form ist selbstverständlich immer mit eingeschlossen.

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,emanzipatorische Bewegung‘ genannt wird“.6 Auch haben uns Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, die Begründer der Frankfurter Schule, mit der Dialektik der Aufklärung bekannt gemacht, wonach es stets eine Dialektik zwischen Aufklärung und Mythos gibt.7 Auf die Entmythologisierung durch die Aufklärung folgt stets eine Remythologisierung. Entsprechend müsste man davon ausgehen, dass auf die Entzauberung der Welt, wie sie von Max Weber postuliert wurde, zwangsläufig eine erneute Verzauberung folgt. Nur durch die kritische Theorie bzw. Reflexion bleibe der dynamisch-dialektische und progressive Prozess erhalten. Speziell Adorno hat sich auch intensiv mit der deutschen Romantik beschäftigt, etwa mit Friedrich Schlegel und Novalis, bei denen wir eine ähnliche Theorie vorfinden, nämlich jene der „progressiven Universalpoesie“. Dabei handelt es sich um das Ideal der immerfort wachsenden ganzheitlichen Welt- und Gotteserkenntnis durch den Einsatz der kritischen Vernunft, aber auch des Gefühls und sogar des Traums. In Anlehnung daran schreibt der Münsteraner Theologe Ahmad Milad Karimi, dass auch der Koran progressive Universalpoesie sei.8 Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen und sagen, dass der Islam als Ganzes progressive Universalpoesie sein will. Nur deshalb haben sich deutsche Dichter und Denker wie die genannten Schlegel und Novalis, aber auch Leibniz, Lessing, Herder und Goethe, um nur einige wenige Namen zu nennen, intensiv mit islamischer Philosophie, Literatur, Theologie und Mystik auseinandergesetzt.9 So heißt es in einem Schreiben von Schlegel an Novalis wie selbstverständlich, dass es das Ziel seiner literarischen Projekte sei, „eine neue Bibel zu schreiben, und auf Muhameds und Luthers Fußstapfen zu wandeln“.10 In ihren Studien zur islamischen Geistesgeschichte stießen sie auch auf faszinierende Modelle von progressiver Welt- und Gotteserkenntnis und fühlten keine Scheu, sich mit den Ideen und Bildern ihrer östlichen Seelenverwandten zu identifizieren. Im Werk des Sufi-Mystikers Maulana Rumi (gest. 1273) dürften sie etwa auf den dialektischen Gegensatz zwischen der Verschleierung und Entschleierung von Wahrheit gestoßen sein.11 Nach Rumi muss der progressive Mensch 70.000 Schleier zerreißen, um die absolute Wahrheit, die mit Gott identisch ist, zu schauen; und jedes Mal, wenn ein Schleier zerrissen ist, stelle er bei kritischer Betrachtung fest, dass er von der ab-

6 Schulze, Reinhard: Was ist die Islamische Aufklärung?, in: Die Welt des Islams 3/1996, S. 283. 7 Siehe Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1969. 8 Siehe Karimi, Ahmad Milad: Die Blumen des Koran oder: Gottes Poesie. Ein Lesebuch, Freiburg 2015, S. 13. 9 Siehe etwa Mommsen, Katharina: Goethe und der Islam, Frankfurt a. M. 2001 und Almond, Ian: History of Islam in German Thought. From Leibniz to Nietzsche, Abingdon 2010. 10 Loheide, Bernward: Fichte und Novalis. Transzendentalphilosophisches Denken im romantisierenden Diskurs, Amsterdam 2000, S. 298. 11 Zu Rumi siehe Chittick, William C.: The Sufi Path of Love. The Spiritual Teachings of Rumi, New York 1983.

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soluten Wahrheit durch einen weiteren Schleier getrennt werde.12 So wie einige Jahrhunderte später bei den Romantikern braucht der Mensch für diesen Prozess der dialektisch-progressiven Welt- und Gotteserkenntnis nicht nur die kritische Vernunft (arabisch aql), sondern auch die Liebe (arabisch ischq / türkisch as¸k), also die sinnlich-ästhetische Gefühlsdimension. Wie der Falter vom Licht angezogen wird, so werde der Mensch von der Wahrheit angezogen und dabei gleichermaßen getrieben von der Liebe und der kritischen Vernunft.13 Nun wieder zurück von der Dialektik der Aufklärung zur Aufklärung selbst. Ich spreche von der „universalen Aufklärung“, da ich es unzutreffend finde, die Aufklärung als ein zeitlich begrenztes und rein westliches Phänomen zu betrachten. In Analogie zur progressiven Universalpoesie rede ich lieber von der universalen Aufklärung, denn die Wurzeln der Aufklärung reichen auch in die Antike und ins Mittelalter, wobei ich hier aus Gründen der Relevanz nur über letztere Epoche reflektieren möchte. So wäre die Geschichte der Renaissance, des Humanismus und der westlichen Aufklärung ohne Zweifel anders verlaufen, wenn es nicht zuvor einen Ibn Sina (Avicenna, gest. 1037), Ibn Tufail (Abubacer, gest. 1185) oder einen Ibn Ruschd (Averroes, gest. 1198) gegeben hätte.14 Hinzu kommt, dass es in verschiedenen Regionen der islamischen Welt, wie auch in China oder in Indien, Strukturanalogien zur westlichen Aufklärung gab. So geht aus der umfangreichen Monographie „Lost Enlightenment“ des US-amerikanischen Historikers S. Frederick Starr hervor, dass es im zentralasiatischen Raum zwischen Ost-Iran und West-China vom 8. bis zum 13. Jahrhundert eine heute vergessene islamische Aufklärung gab, die erst durch die Mongolenstürme ihr tragisches Ende fand.15 Einige Jahrhunderte später gab es im Osmanischen Reich die sogenannte Tulpenzeit (ca. 1703 – 1730), die Zeit der Tanzimat-Reformen (ca. 1839 – 1876) und die Zeit der Jungosmanen und Jungtürken (ab ca. 1865), die allesamt als Phasen rationalistischer und ästhetischer Reformen gesehen werden.16 Viele Osmanen des 19. und 20. Jahrhunderts bezeichneten sich als aufgeklärte Personen (türkisch münevver) und strebten nach Erneuerung und Reformen (türkisch tenvir / tenevvür, tecdid, ihya bzw. ıslah). Auch unter ihnen befan12

Siehe Rumi, Maulana Dschelaladdin: Von Allem und vom Einen, übersetzt und eingeleitet von Annemarie Schimmel, München 2008, S. 361. 13 Die Bezeichnung „kritische Vernunft“ ist natürlich streng genommen eine Tautologie, da es keine unkritische Vernunft geben kann. Denken ist stets kritisch, weshalb jemand, der nicht kritisch ist, nicht denkt. Jene Muslime, die sich gegen kritische Wissenschaften wenden, wenden sich unbewussterweise gegen die Vernunft an sich. Auch die Theologie, will sie eine Wissenschaft sein, muss kritisch sein. 14 Siehe etwa Bloch, Ernst: Avicenna und die Aristotelische Linke, Nördlingen 1963; Wöhler, Hans-Ulrich: Der Einfluss des averroistischen Denkens in der Philosophie des lateinischen Mittelalters, in: System & Struktur 2/1998, S. 104 – 120; Wahba, Mourad / Abousenna, Mona (Hrsg.): Averroes and the Enlightenment, New York 1996. 15 Siehe Starr, S. Frederick: Lost Enlightenment. Central Asia’s Golden Age from the Arab Conquest to Tamerlane, Princeton 2015. 16 Siehe etwa Mardin, S¸erif: The Genesis of Young Ottoman Thought. A Study in the Modernization of Turkish Political Ideas, Princeton 1962.

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den sich Theisten, Deisten, Mystiker, Freimaurer und Materialisten, aber auch Atheisten und Agnostiker. Viele von ihnen haben die französische Aufklärungsliteratur sowohl auf Französisch als auch in osmanischer Übersetzung gelesen. Entsprechend berichtet der konservative Schotte Charles MacFarlane voller Entsetzen, dass er 1848 eine medizinische Hochschule in Istanbul besucht habe und dort feststellen musste, dass die muslimischen Studenten begeistert Voltaire und andere aufklärerische und materialistische Literatur lasen.17 Die wichtigsten Impulse zur Debatte um die islamische Aufklärung kamen im deutschsprachigen Raum von Reinhard Schulze. In zwei Aufsehen erregenden Artikeln argumentiert er, dass es eine genuin islamische Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert gab.18 Doch zunächst einmal dekonstruiert Schulze in überzeugender Weise die Auffassung von einer allein westlichen Aufklärung; wobei man hierbei auch von einer Entmythologisierung, Entzauberung oder Entschleierung sprechen könnte. Er legt dar, dass eine Monopolisierung der universalen Rationalität durch den Westen, der sich dadurch selbst definiert und konstruiert / konstituiert, stattgefunden habe. Im Zuge dessen sei der Orient als das irrationale oder gar dunkle Andere konstruiert worden, was einer essenzialistischen und reduktionistischen Anschauung gleichkäme.19 Jedoch scheinen sich seitdem auch viele Muslime dieses essenzialistische Narrativ freiwillig angeeignet zu haben. Als hätte es die vielen islamischen Philosophen und Aufklärer nie gegeben, sagten sie plötzlich, dass sie keine kritische Vernunft, Säkularität oder Demokratie bräuchten. Die Religion und die Tradition allein seien notwendig! Die Essenzialisten auf beiden Seiten wurden sich einig, und allmählich verwandelten sich Begriffe wie Demokratie und Freiheit zu kulturpolitischen Kampfbegriffen, so dass ein sachlicher konstruktiver Diskurs nicht mehr möglich war. Wieso aber die Aufklärung in der sogenannten islamischen Welt nicht so wirkmächtig wurde wie im Westen, lässt sich – wenn überhaupt – nur schwer erklären. Ein Grund dafür könnte sein, wie es der Bamberger Osmanist Christoph Herzog nahelegt, dass der für die westliche Aufklärung so entscheidende Buchdruck erst mit großer Verspätung in die islamische Welt Einzug erhielt und in Folge dessen sich kein Printkapitalismus entwickeln konnte.20 Deshalb gab es auch keinen wirkmächtigen öffentlichen Diskurs, sondern immer nur kleinere elitäre Zirkel. Der Ankaraner Historiker Remzi Demir wiederum erklärt den Rückschritt damit, dass das Osmani17 Siehe Herzog, Christoph: Aufklärung und Osmanisches Reich. Annäherung an ein historiographisches Problem, in: Die Aufklärung und ihre Weltwirkung, hrsg. von Wolfgang Hardtwig, Göttingen 2010, S. 291 – 321. 18 Schulze: Was ist die Islamische Aufklärung?, S. 276 – 325; Ders.: Das Islamische Achtzehnte Jahrhundert. Versuch einer Historiographischen Kritik, in: Die Welt des Islams 1 – 4/1990, S. 140 – 159; siehe auch Ders.: Geschichte der Islamischen Welt im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 13 – 16. 19 Ähnlich ist es auch dargestellt in Leggewie, Claus: Alhambra – Der Islam im Westen, Hamburg 1993, S. 114 ff. 20 Siehe Herzog: Aufklärung und Osmanisches Reich, S. 321.

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sche Reich zu groß und mächtig, und gleichzeitig zu restriktiv und zentralistisch war. Damit gab es keinen Raum für einen intellektuellen Wettstreit, wie er in den britischen, französischen, deutschen oder niederländischen Territorien möglich war.21 Deutscher Islam als Subjekt der universalen Aufklärung In seinem Nachwort zu Mommsens „Goethe und der Islam“ schreibt Peter Anton von Arnim: „Ein deutscher Islam kann aber nichts anderes sein als ein Islam im Verständnis Goethes, das heißt ein Islam, in welchem die Werte der Toleranz, wie Goethe sie einst in den Lehren des Propheten Mohammed erkannt hat, wieder an oberster Stelle stehen.“22 Nun stellt sich die Frage, was getan werden kann, damit der deutsche Islam, wie hier gefordert, tolerant und auch insgesamt mehr Subjekt als Objekt der universalen Aufklärung wird. Zunächst muss festgehalten werden, dass das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet und das Rad nicht komplett neu erfunden werden braucht. Denn wie bereits erwähnt gab es auch in der islamischen Welt Vertreter eines rationalen und aufgeklärten Weltbildes. Daher sind Kontinuität und Wandel, Tradition und Erneuerung gleichermaßen gefragt. Auch sollten – wie auch von den deutschen Romantikern gefordert – Vernunft und Herz gleichermaßen beachtet und kultiviert werden. So war die kritische Vernunft etwa für die muslimischen Rechtswissenschaftler, systematischen Theologen, Philosophen, Philologen, Mediziner, Architekten und Astronomen ausschlaggebend, wohingegen die Mystiker und Künstler für die Ästhetik, das Gefühl, das Herz und die Liebe standen. Besonders die faszinierende Tradition der islamischen Liebesmystik, die bereits mit dem Propheten Muhammad (gest. 632) beginnt und von Namen wie Rabia al-Adawiyya (gest. 801), Mansur al-Halladsch (gest. 922),23 Ahmad al-Ghazzali (gest. 1126), Ibn Arabi (gest. 1240), Yunus Emre (gest. ca. 1320), Hafiz Schirazi (gest. 1389/90) oder dem bereits genannten Maulana Rumi zum Erblühen gebracht wurde, muss für den deutschen Islam stärker fruchtbar gemacht werden. Für sie ist Gott identisch mit der Liebe, welche zugleich die Essenz aller Religionen und spirituellen Weltanschauungen ist; deshalb sprechen sie auch von der „Religion der Liebe (arabisch din al-hubb bzw. persisch millat-i ischq)“. Deshalb haben wir Muslime heute, wenn wir über islamischen Religionsunterricht und islamische Theologie diskutieren, größten Wert darauf zu legen, dass wir im 21. Jahrhundert nicht hinter die ästhetisch-spirituellen Standards eines Maulana Rumi und die wissenschaftlich-theologischen eines Ibn Khaldun (gest. 1406) zurückfallen. Die sogenannte Akademisierung des Islam in Deutschland an theologischen und religionspädagogischen Standorten wie Tübingen, Frankfurt am Main, Münster, Erlangen, Gießen, Hamburg, Ludwigsburg oder Freiburg muss dazu beitra21

Siehe Demir, Remzi: Biz Nerede Hata Yaptık?, Ankara 2015. Mommsen: Goethe und der Islam, S. 446. 23 Zu Halladsch, der auf grausame Weise exekutiert wurde, siehe Schimmel, Annemarie: Al-Halladsch – Märtyrer der Gottesliebe. Leben und Legende, Köln 1968. 22

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gen, dass auf deutschem Boden ein Islam gelebt und kultiviert wird, der freiheitlich, streitbar, kritikfähig, mutig, idealistisch und visionär ist. Der altehrwürdige dynamisch-intersubjektive Diskurs der islamischen Religion um Spiritualität und Tradition kann und muss heute neue Blüten hervorbringen. Eine dieser Blüten ist das bedingungslose Bekenntnis zur Säkularität, da die gesetzlich verbürgte Religionsneutralität des Staates eine zentrale Errungenschaft der Moderne ist. Deshalb sollte der deutsche Islam dezidiert anti-islamistisch sein, denn Menschen, die den Traum von einem religiösen Staat nicht aufgeben möchten, können keine echte Bereicherung für unsere plurale Gesellschaft sein. Islamisten gleichen selbst noch in ihrer legalistischen Variante radikalen Kommunisten, Monarchisten, Evangelikalen oder Kapitalisten und untergraben damit unsere parlamentarische Demokratie. Jede Form von Islamismus ist ein Missbrauch und eine Instrumentalisierung des Islam. Der Islam ist eigentlich ein spirituelles Ideal, eine progressive Universalpoesie, wird von Islamisten aber zu einer politischen Ideologie degradiert, die anderen Menschen aufgezwungen werden soll. Säkularität ist hingegen eine Gnade Gottes, die die Religion vor Missbrauch schützt. Ohnehin sollte es Muslimen leicht fallen, sich mit der Säkularität abzufinden, denn entsprechend dem Koran und der prophetischen Praxis sind im Islam nur Gott und sein Geist (arabisch ruh) heilig, weshalb es auch keine Sakramente gibt.24 Weder Propheten, die nach islamischem Verständnis ganz Mensch sind, noch Moscheen, noch religiöse Autoritäten dürfen Sakralität beanspruchen. Es darf auch keine Kirche im Sinne von religiöser Hierarchie geben. Diesbezüglich heißt es bei Schulze: „[…] in der islamischen Dogmatik gab es, da der Islam keinen Klerus und kein Priestertum kennt, keine religiöse Macht, die von einer weltlichen getrennt werden müsste. Gerade dies hatte ja den autochtonen Charakter des Islam bestimmt, so dass es sinnlos wäre, an den frühen Islam ein Problem christlicher Dogmatik heranzutragen.“25 Der Tübinger Islamwissenschaftler Josef van Ess fragt sogar, ob es wohl der moderne europäische Einfluss war, der dafür sorgte, dass sich in der langen Zeit der primär säkular ausgerichteten islamischen Welt „die Gewichte verlagerten“.26 Der deutsche Islam wird sich auch immer mehr gegenüber der hiesigen Kultur und Geschichte öffnen und Deutschland zu einer echten Heimat machen. Denn historisch-anthropologisch betrachtet haben die islamischen Strömungen stets die Farbe und den Geschmack jener Regionen angenommen, in die sie geflossen sind; 24 Zu den Themen Säkularität, Laizität und Pluralismus im Islam siehe Filali-Ansary, Abdou: L’Islam est-il hostile à la Laicité?, Casablanca 2002; Filali-Ansary, Abdou / Ahmed, Sikeena Karmali (Hrsg.): The Challenge of Pluralism. Paradigms from Muslim Contexts, Edinburgh 2009; Diamond, Larry / Plattner Marc F. / Costopoulos, Philip J. (Hrsg.): World Religions and Democracy, Baltimore 2005, S. 153 – 243. 25 Schulze: Geschichte der Islamischen Welt, S. 13. Ähnlich formuliert es die Berliner Islamwissenschaftlerin Angelika Neuwirth in einem Interview, www.migazin.de/2013/11/21/ die-behauptung-islam-aufklaerung/, Stand: 4. 2. 2017. 26 Van Ess, Josef: Buchbesprechung von S. Frederick Starr: Lost Enlightenment. Central Asia’s Golden Age from the Arab Conquest to Tamerlane, in: Religionen Unterwegs 1/2015, S. 29.

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ob Senegal, Albanien, Kasachstan oder Malaysia. Auch muss eine konstruktivere Auseinandersetzung als bisher mit jenen Religionsgemeinschaften stattfinden, die bisher in Deutschland prägend waren. Etwa den zwei großen christlichen Konfessionen und auch dem Judentum. Zentrale Feste wie Weihnachten oder St. Martin sollten positiv bewertet und in einem kulturellen Sinne mitgefeiert werden, da sie im Einklang mit dem islamischen Geist den universalen Wert der Nächstenliebe verkörpern. Insgesamt sollte die deutsche Geistesgeschichte Gegenstand intensiver Beschäftigung für Muslime sein. Dichter und Denker wie Leibniz, Kant, Herder, Goethe, Lessing, Hegel, Schelling, Novalis, Nietzsche, Heine, Rilke oder Hesse haben sich alle vom Islam inspirieren lassen und verdienen es, dass sich heute die Muslime mit ihnen beschäftigen. So heißt es in Goethes Gedicht „Unbegrenzt“ über den persischen Poeten Hafiz, den er als einen Erzaufklärer und eine Art „anderer Voltaire“ verehrte:27 „Und mag die ganze Welt versinken, Hafis mit dir, mit dir allein Will ich wetteifern! Lust und Pein Sey uns den Zwillingen gemein! Wie du zu lieben und zu trinken Das soll mein Stolz, mein Leben seyn.“28

An anderer Stelle dichtet Goethe im „Buch der Sprüche“ in einem euphorischen Ton: „Herrlich ist der Orient Über’s Mittelmeer gedrungen, Nur wer Hafis liebt und kennt Weiß was Calderon gesungen.“29

Und im „Buch Suleika“ erklärt er Orient und Okzident zu Geliebten: „Bist du von deiner Geliebten getrennt Wie Orient vom Okzident, Das Herz durch alle Wüste rennt, Es giebt sich überall selbst das Geleit, Für Liebende ist Bagdad nicht weit.“30

Darüber hinaus sollten auch Orient- und Islamwissenschaftler wie Joseph von Hammer-Purgstall, Friedrich Rückert, Hellmut Ritter, Annemarie Schimmel, Josef van Ess oder Angelika Neuwirth wertgeschätzt werden, da sie die Schätze des Islam gesucht und im deutschsprachigen Raum zugänglich gemacht haben. Muslime werden vermutlich nicht alle ihre Thesen übernehmen können, aber man muss sich 27

Siehe Mommsen: Goethe und der Islam, S. 471; Lewisohn, Leonard: Hafiz and the Religion of Love in Classical Persian Poetry, New York 2010. 28 Goethe, Johann Wolfgang von: West-Oestlicher Divan, hrsg. von Joseph KiermeierDebre, München 2013, S. 44. 29 Ebd., S. 109. 30 Ebd., S. 146.

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zumindest sachlich mit ihnen auseinandersetzen. Der Blick von außen auf die eigene Religion ist von wesentlicher Bedeutung, da er wie ein Blick in den Spiegel die Reflexion des eigenen Seins ermöglicht. Religionsgeschichtlich scheint Deutschland ohnehin ein sehr fruchtbarer Ort zu sein. Die Reformation Martin Luthers, die Entstehung des Reformjudentums, die Etablierung der historisch-kritischen Bibelexegese fanden allesamt auf deutschem Boden statt. Auch die islamische Theologie fand in Deutschland erstmals außerhalb der islamischen Welt eine neue Heimat, ebenso wie die alevitische Theologie. Deshalb stellt sich die Frage, welcher Islam Subjekt der Aufklärung sein könnte, wenn nicht der deutsche. Bei aller Verwurzelung des deutschen Islams in heimischem Boden muss er aber auch einen weiten, globalen Horizont haben. Deutsche Muslime müssen die Freiheit, die sie hier haben, nutzen, um sich konsequent in gleicher Weise für die Rechte der Menschen in autoritären Staaten einzusetzen. Sie müssen versuchen, ihre freiheitlich-pluralistische Haltung auch anderen Muslimen näher zu bringen und universale Menschenrechte wie Meinungs-, Presse- und Religionsfreiheit nicht nur in der Bundesrepublik, sondern auch in der Türkei, in Ägypten, in Pakistan oder Saudi-Arabien einzufordern. Dies ist jedenfalls die Hoffnung des Essener Politik- und Kulturwissenschaftlers Claus Leggewie, der bereits 1993 schrieb, dass es sich im Westen entscheiden wird, „ob es eine neue islamische Reform geben wird, die auf den islamischen Osten ausstrahlen kann, der sich in einer tiefen materiellen und moralischen Krise befindet.“31 Die deutsche Politik und die politischen Stiftungen sollten indes solche Initiativen mit Interesse beobachten und auch fördern, da sie den gesellschaftlichen und weltweiten Frieden stärken; das sind sie den Wählern und Steuerzahlern schuldig. Natürlich darf die Politik dabei nicht zu weit gehen und den Muslimen diktieren, wie der deutsche Islam auszusehen hat und welche Aktivitäten zu erfolgen haben, denn dann wäre sie nicht besser als die Politik in den mehrheitlich muslimischen Staaten, wo religiöse Autoritäten nahezu immer Staatsbeamte sind und deshalb den Anweisungen der Regierenden Folge zu leisten haben. Schlussbetrachtung Unsere Welt scheint sowohl den Verstand als auch das Herz verloren zu haben. In vielen Ländern werden autoritäre Populisten, die vergessen haben, dass die Würde eines jeden Menschen unantastbar ist, von Wählern bejubelt und sogar an die Macht gebracht. Dabei bedienen sich die Volksverhetzer einer postfaktischen Sprache: Wahres und Falsches, Gerechtes und Ungerechtes, Gutes und Schlechtes werden nicht mehr unterscheidbar, selbst die idealistischsten Demokraten wirken wie gelähmt. Gleichzeitig wird die gesamte Menschheit von Kriegen und Terrorismus über31

Leggewie: Alhambra – Der Islam im Westen, S. 9.

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rollt, Gewalt und Gegengewalt scheinen in einer Endlosschleife gefangen zu sein. Zudem werden Armut, Umweltzerstörung und Turbokapitalismus immer bedrohlicher. Papst Franziskus oder Michail Gorbatschow warnen schon vor einem neuen Weltkrieg. Da ist es geboten, dass sich alle vernünftigen Menschen zu einem Bündnis zusammenraufen, ganz gleich welcher Religion sie angehören und welche Weltanschauung sie vertreten, um den Stein des Sisyphos gemeinsam den Berg hoch zu stemmen, auch wenn er mit Gewissheit zu gegebener Zeit wieder herunterrollen wird. Noch bin ich voller Zuversicht, dass wir, die deutschen Muslime, es schaffen werden, uns an der Lösung dieser Mammutaufgabe stärker zu beteiligen. Inspiriert vom lebendigen Geist Gottes, den laut Koran, Sure 32, Vers 9, alle Menschen in sich tragen, müssen wir uns zunächst wieder auf das Essenzielle, das Gute, Wahre und Schöne konzentrieren. Auch müssen wir die Werte und Tugenden von Orient und Okzident poetisch verweben, so wie es viele Dichter und Denker hierzulande bereits vor uns getan haben. Dann dürfen wir in Deutschland hoffen, dass das göttliche Fünklein, von dem Meister Eckart (gest. 1328) spricht, in unseren Herzen erwacht und sich wie eine mächtige Feuerwelle der Liebe ihre Wege bahnt. Oder wie es der Dichterfürst beschreibt: „Denn wie ein Funke fähig zu entzünden Die Kaiserstadt, wenn Flammen grimmig wallen, Sich winderzeugend, glühn von eignen Winden, Er, schon erloschen, schwand zu Sternenhallen; So schlangs von dir sich fort mit ew’gen Gluten Ein deutsches Herz von frischem zu ermuthen.“32

Nur so und nicht anders werden wir von Deutschland aus den irrsinnigen Zeitgeist wieder mäßigen können. Auch würde es mich nicht wundern, wenn der deutsche Islam schon bald zu einem Exportschlager wird und auf der ganzen Welt als kulturelle und spirituelle Bereicherung gesehen wird; von Muslimen wie auch von religiösen und areligiösen Nicht-Muslimen.

Jun.-Prof. Dr. Erdal Toprakyaran ist Direktor des Zentrums für Islamische Theologe an der Eberhard Karls Universität Tübingen.

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Goethe: West-Oestlicher Divan, S. 45.

Die Religionsverfassung des Grundgesetzes Islamisches Leben in Deutschland Von Heinrich de Wall Die steigende Präsenz von Muslimen stellt die deutsche Rechtsordnung vor Herausforderungen. Das gilt insbesondere für das Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes, das den rechtlichen Rahmen sowohl für die religiöse Betätigung des einzelnen Muslim als auch islamischer Verbände setzt. Aktuelle Forderungen nach einem Burkaverbot oder einer Einschränkung der ausländischen Finanzierung islamischer Verbände müssen sich daran messen. Grundlagen Zu den Grundlagen der rechtlichen Rahmenbedingungen für islamisches Leben in Deutschland zählt es, dass diese Regeln im modernen, souveränen Staat grundsätzlich vom Staat gesetzt werden. Das Religionsverfassungsrecht ist staatliches Recht oder, mit anderen Worten: Der Staat bestimmt die Spielregeln. Dass das Religionsverfassungsrecht vom Staat gesetzt wird, ist Ausdruck von dessen Souveränität. Wesentliche Aufgabe des Staates ist es, Sicherheit zu schaffen und die Grundlagen dafür zu sichern, dass die Menschen in Frieden und Freiheit leben können. Um diese Aufgaben zu erfüllen, hat der Staat das Gewaltmonopol: Allein der Staat darf über die Legalität körperlicher Gewalt entscheiden. Die Aufgabe, zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Kräften, zu denen auch die Religionen und religiösen Gemeinschaften gehören, Frieden schaffen und sichern zu können, kann der Staat nur dann ohne Schaden für die Freiheit und die Gleichheit der Bürger und der Religionsgemeinschaften erfüllen, wenn er selbst nicht Partei im Wettbewerb zwischen ihnen ist. Der Staat darf daher sich selbst nicht die Durchsetzung einer Religion zur Aufgabe machen: Er muss säkular und in Religions- und Weltanschauungsangelegenheiten neutral sein. Dafür ist Voraussetzung, dass er nicht mit einer Religionsgemeinschaft verbunden ist und grundsätzlich alle Religionsgemeinschaften gleich behandelt. Die mit der Souveränität verbundene Macht, die in der Rechtssetzungsbefugnis und der Möglichkeit, das Recht mit Mitteln des Zwangs durchsetzen zu können, zum Ausdruck kommt, ist in einem modernen Staat, der von der Würde, der Freiheit und der Gleichheit aller Menschen ausgeht und sie sichern will, nur legitim, wenn sie

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demokratisch ausgeübt wird: Alle Organe des Staates und alle seine Maßnahmen und Entscheidungen müssen demokratisch legitimiert sein. Mit diesen kurzen und schlagwortartigen Bemerkungen über Wesen und Aufgaben des Staates und sein Verhältnis zur Religion soll die Basis verdeutlicht werden, auf der die Einzelheiten der Religionsverfassung aufbauen: Souveränität und Gewaltmonopol des Staates, Freiheit und Demokratie, Würde und Gleichheit der Menschen, Säkularität und religiös-weltanschauliche Neutralität des Staates, Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften und Gleichheit der Religionen sind selbst Verfassungsgüter und unabdingbare Grundlagen für das Wirken von Religionen und Religionsgemeinschaften in der Bundesrepublik. Wenn sie in Frage gestellt und gefährdet werden, muss und darf der Staat zum Schutz seiner Grundlagen eingreifen – notfalls mit den Mitteln von Verbot und Zwang. Die Religionsfreiheit Das Grundgesetz (GG) errichtet eine Ordnung der Freiheit. Dies wird insbesondere durch die an seinem Anfang stehenden Grundrechte deutlich. Demgemäß steht die in Art. 4 I, II GG garantierte Religionsfreiheit an der ersten Stelle der Grundsätze des Religionsverfassungsrechts.1 Sie ist auch sein inhaltlicher Dreh- und Angelpunkt. Das hat das Bundesverfassungsgericht in zahlreichen grundlegenden Entscheidungen herausgearbeitet. Danach sind die durch Art. 140 GG in das Grundgesetz aufgenommenen religionsrechtlichen Bestimmungen der Weimarer Reichsverfassung (WRV) systematisch als Ergänzung der Religionsfreiheit zu verstehen. Die Funktion der darin enthaltenen Garantien besteht gerade in der Entfaltung, Ergänzung, Erweiterung und Sicherung der Religionsfreiheit.2 Das Staatskirchen- oder Religionsverfassungsrecht hat eine freiheitsgewährleistende und -sichernde Funktion und dient nicht der Privilegierung einzelner religiöser Bekenntnisse oder Gemeinschaften. Auch bei der Auslegung von Art. 4 I, II GG selbst steht sein Charakter als Freiheitsrecht im Vordergrund. Daher wird die Religionsfreiheit inhaltlich äußerst weit 1 Bis auf Hinweise zu wichtigen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts verzichtet der Beitrag auf Einzelnachweise der Literatur. Zu den Fragen, die sich aus der Präsenz des Islam in Deutschland ergeben, vertiefend insbesondere Rohe, Mathias: Der Islam in Deutschland, München 2016; Ders. u. a. (Hrsg.): Handbuch Christentum und Islam in Deutschland, 2 Bände, Freiburg 2014. Zum Religionsverfassungsrecht allgemein von Campenhausen, Axel / de Wall, Heinrich: Staatskirchenrecht, München, 4. Aufl., 2006; Classen, Claus Dieter: Religionsrecht, Tübingen, 2. Aufl, 2014; Heinig, Hans Michael / Munsonius, Hendrick (Hrsg.): 100 Begriffe aus dem Staatskirchenrecht, Tübingen, 2. Aufl., 2015; Unruh, Peter: Religionsverfassungsrecht, Baden-Baden, 3. Aufl., 2015; de Wall, Heinrich / Muckel, Stefan: Kirchenrecht, München, 5. Aufl., 2017; Winter, Jörg: Staatskirchenrecht der Bundesrepublik Deutschland, Köln, 2. Aufl., 2008. 2 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE) 19, 226, S. 236; 33, 23, S. 30 f.; 102, 370, S. 387.

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ausgelegt – und zwar sowohl im Hinblick auf den Begriff der Religion als auch auf den Umfang der religiösen Freiheit. Der Begriff der Religion Der religiös und weltanschaulich neutrale, freiheitsgewährleistende Staat darf nicht durch eine enge Fassung des Begriffs der Religion und der Religionsausübung einzelne Orientierungen von vornherein aus dem Freiheitsbereich ausgrenzen. Nach einer Definition des Bundesverwaltungsgerichts ist „unter Religion oder Weltanschauung […] eine mit der Person des Menschen verbundene Gewissheit über bestimmte Aussagen zum Weltganzen sowie zur Herkunft und zum Ziel des menschlichen Lebens zu verstehen“.3 Darunter fallen jedenfalls alle Weltreligionen wie der Islam, aber auch Naturreligionen und neue religiöse Bewegungen. Dass eine Religion politische Implikationen hat, beseitigt ihren Charakter als Religion nicht. Entscheidend ist, dass es um Aussagen zum Weltganzen geht, nicht um einzelne Aspekte, wie etwa bei der Kunst oder der Politik. Was man den politischen Anspruch des Islam nennt, beseitigt seine Religionseigenschaft ebenso wenig wie das bei der Befreiungstheologie im Christentum der Fall ist. Der Umfang der Religionsfreiheit Zum anderen werden nicht nur das Haben einer Religion bzw. Weltanschauung und kultische Handlungen durch die Religionsfreiheit geschützt. Vielmehr garantiert sie dem einzelnen, „sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln“.4 Demgemäß ist eine große Bandbreite an Verhaltensweisen umfasst, zu denen auch das Tragen bestimmter Kleidungsstücke aus religiösen Gründen gehört. Das Tragen eines Kopftuchs kann Ausdruck der Religionsfreiheit sein, auch wenn andere ein Kopftuch aus nicht-religiösen Gründen tragen. Die Religionsfreiheit umfasst nicht nur das („positive“) Haben und die Ausübung der Religion, sondern auch das Gegenteil, d. h. die Freiheit, keine Religion zu haben oder ausüben zu müssen („negative Religionsfreiheit“). Auch die Rechte, seine Religion zu wechseln, keiner Religion anzuhängen oder aus einer Religionsgemeinschaft auszutreten, sind umfasst. Soweit eine Religionsgemeinschaft selbst den Austritt nicht kennt, muss der Staat dafür sorgen, dass man sich der weltlichen Auswirkungen seiner Mitgliedschaft entziehen kann. Durch das private Vereinsrecht und durch das speziell geregelte Austrittsrecht aus Kirchen- und Religionsgemeinschaften, die den Rechtsstatus einer Körperschaft des Öffentlichen Rechts haben, sind diese Rechte in Deutschland bisher gewährleistet. Wenn eine Religionsgemeinschaft den Austritt behindern sollte, muss der Staat diese Freiheiten ggf. auch ihr gegenüber 3 4

Neue Juristische Wochenschrift 1992, 2497. BVerfGE 32, 98, S. 106 f.; 41, 29, S. 49; 44, 37, S. 49.

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schützen. All dies gilt selbstverständlich auch gegenüber islamischen Gemeinschaften. Schranken der Religionsfreiheit – ein Burka-Verbot als Beispiel Auch die Grundrechte sind nicht schrankenlos. Vielmehr enthalten die meisten Grundrechte einen Vorbehalt zugunsten des Gesetzes: Der Gesetzgeber kann im Interesse des Gemeinwohls in das Grundrecht eingreifen, sofern das Gesetz auch den übrigen Grundrechten und den rechtsstaatlichen Regeln entspricht und den Kernbereich des jeweiligen Grundrechts unangetastet lässt. Einen solchen Gesetzesvorbehalt enthält allerdings Art. 4 GG nicht. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Religionsfreiheit schrankenlos wäre. Eingriffe in die Religionsfreiheit sind aber nur zugunsten solcher Rechtsgüter zulässig, die selbst – wie etwa das Recht auf körperliche Unversehrtheit in Art. 2 Abs. 2 GG – verfassungsrechtlich geschützt sind. Dazu gehören Freiheit, Eigentum und Gesundheit sowie weitere Grundrechte anderer, aber auch grundlegende sonstige Verfassungsgüter wie Rechtsstaatsprinzip, staatliche Demokratie usw. Im Interesse solcher Verfassungsgüter kann der Gesetzgeber der Religionsausübung Einzelner, aber auch von Religionsgemeinschaften Grenzen ziehen und dem Spannungsverhältnis, das zwischen der Religionsfreiheit einerseits und den Rechten anderer oder grundlegenden sonstigen Verfassungsgütern andererseits entstehen kann, Rechnung tragen. An diesen Kriterien wird aber auch die Problematik des Verbots religiöser Kleidung, insbesondere der Burka, deutlich. Es bedarf dafür nicht nur einer gesetzlichen Grundlage. Vielmehr muss das Gesetz dem Schutz von Rechtsgütern mit Verfassungsrang dienen und muss die übrigen rechtsstaatlichen Grundsätze, insbes. das Verhältnismäßigkeitsprinzip, einhalten. Demgemäß haben zwar die Gerichte beispielsweise den Schulfrieden als in der staatlichen Schulaufsicht gem. Art. 7 I GG enthaltenes Rechtsgut für geeignet angesehen, der Religionsfreiheit Grenzen zu ziehen. Das BVerfG hat das an eine Lehrerin gerichtete Verbot, ein Kopftuch zu tragen, aber nur dann als verfassungsgemäß anerkannt, wenn sonst eine konkrete Gefahr für den Schulfrieden besteht.5 Das Verbot einer Vollverschleierung kann demgemäß nur in bestimmten Situationen verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein – denn es sind keine Rechtsgüter von Verfassungsrang ersichtlich, die für ein generelles Verbot stehen. Denkbar ist ein solches Verbot aber etwa für Prozessbeteiligte oder Zeugen zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Rechtspflege oder im Interesse des in Art. 7 I GG enthaltenen staatlichen Erziehungsauftrags im Schulwesen: Die für die Gerichtsverhandlung oder das Lernen erforderliche Kommunikation zwischen Lehrer und Schüler ist nicht möglich, wenn ein Beteiligter sein Gesicht vollständig verhüllt.

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BVerfGE 138, 296.

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Das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften Für das Staatskirchen- oder Religionsverfassungsrecht besonders bedeutsam ist, dass die Religionsfreiheit nicht nur die individuelle, sondern auch die kollektive Religionsausübung schützt. Darüber hinaus sind auch religiöse und weltanschauliche Vereinigungen selbst Träger der Religionsfreiheit (korporative Religionsfreiheit). Für die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften wird die Religionsfreiheit durch das Recht der Selbstbestimmung über die eigenen Angelegenheiten in den Schranken des für alle geltenden Gesetzes in Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV ergänzt. Dabei stellen sich zwei Probleme: Nämlich zum einen, den Begriff der Religionsgemeinschaft zu bestimmen, und zum zweiten, die Reichweite des Selbstbestimmungsrechts bzw. der für alle geltenden Gesetze als dessen Schranke zu bestimmen. Was ist eine Religionsgemeinschaft? Anders als in anderen Rechtsordnungen gibt es in Deutschland keine formale Anerkennung von Religionsgemeinschaften durch staatliche Behörden. Wenn sich eine Gemeinschaft von Menschen religiös betätigen möchte, – sei es privat, sei es öffentlich – kann sie dies tun, ohne dazu einer behördlichen Anerkennung zu bedürfen. Wenn sich eine Gemeinschaft auf die besonderen Rechte von Religionsgemeinschaften wie insbesondere das Selbstbestimmungsrecht berufen möchte, kann es allerdings fraglich sein, ob sie auch die Voraussetzungen dafür erfüllt. Das Staatskirchenrecht bzw. seine etablierte Praxis knüpft dabei an Gegebenheiten an, die sich in der langen Geschichte des Verhältnisses von Staat und Kirche in unserem Land herausgebildet haben. Dazu gehört, dass es Institutionen organisierter Religiosität gibt, die dem Staat als solche gegenüberstehen, nämlich die Kirchen und anderen Religionsgemeinschaften. Andere Kulturkreise kennen dagegen Religionsgemeinschaften als Gegenüber zum Staat nicht in dieser Weise. So ist der Islam in den Herkunftsländern vieler Muslime nicht als eine dem Staat gegenüberstehende Vereinigung von Bürgern organisiert. Die Lösung der Aufgabe, den Islam in das Religionsverfassungsrecht zu integrieren, kann vor dem Hintergrund der Regeln des Grundgesetzes nicht darin liegen, dass man eine Art Staatsislam schafft. Denn die Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften ist eine Kulturleistung und eine Verfassungsvorgabe, an der im Interesse der Religionsfreiheit und -gleichheit festzuhalten ist. Dies stellt die Muslime in Deutschland vor die Aufgabe, sich in Form einer oder mehrerer Religionsgemeinschaften zu organisieren, wenn sie Rechte wahrnehmen möchten, die das Grundgesetz gerade Religionsgemeinschaften einräumt. Das bedeutet aber nicht, dass islamische Religionsgemeinschaften genauso organisiert sein müssten wie die Kirchen. Sinn der grundgesetzlichen Regelung ist es nicht, durch das Aufstellen von formalen Erfordernissen die Geltendmachung der Rechte von Religionsgemeinschaften zu er-

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schweren. Vielmehr geht es lediglich darum, ein Gegenüber zum Staat zu schaffen und damit die Voraussetzungen dafür, dass die auf der Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften aufbauenden Regeln des Grundgesetzes angewandt werden können. Daher ist es möglich, an die Organisation von Religionsgemeinschaften andere Anforderungen zu stellen, als man das von den Kirchen gewöhnt ist. Das deutsche Staatskirchenrecht und die Muslime sind auf diesem Wege in den letzten Jahren einige Schritte vorangekommen. Dabei hat sich gezeigt, dass es bisweilen der Unterstützung und der Hilfe durch staatliche Einrichtungen bedarf. Die Einrichtung der deutschen Islamkonferenz und organisatorische Hilfestellungen der Länder bei der Einrichtung von Beiräten für den Religionsunterricht oder für theologische Fakultäten, in denen Vertreter der Muslime die Rechte wahrnehmen, die den Religionsgemeinschaften zukommen, sind Beispiele dafür. Dies bedeutet keine neutralitätswidrige Privilegierung oder Schaffung eines Staatsislam. Es ist vielmehr als Hilfe zur Wahrnehmung der Religionsfreiheit dort zu verstehen, wo ohne solche Hilfe die Verwirklichung dieser Freiheit deutlich erschwert ist. Aus der Verfassung lassen sich Merkmale herleiten, die eine Vereinigung erfüllen muss, um als „Religionsgemeinschaft“ qualifiziert zu werden: Eine Religionsgemeinschaft besteht aus einer Mehrzahl von Menschen. Zum Wesen einer Gemeinschaft – und damit auch einer Religionsgemeinschaft – gehören ein Minimum an Dauerhaftigkeit und organisatorischer Struktur. Die organisatorische Struktur muss zumindest so beschaffen sein, dass eine eigenständige Willensbildung der Gemeinschaft gewährleistet und eine Person bzw. ein Organ vorhanden ist, das die Gemeinschaft gegenüber dem Staat zu vertreten in der Lage und berechtigt ist: Anderenfalls können die Rechte der Religionsgemeinschaft gar nicht wahrgenommen werden. Von anderen Gemeinschaften unterscheidet sich die Religionsgemeinschaft dadurch, dass es ihr gerade um die Pflege einer bestimmten Religion geht. Keine Religionsgemeinschaften sind Vereinigungen, die sich anderen als religiösen Zwecken widmen, etwa der Kultur- oder Brauchtumspflege. Dabei ist es freilich unschädlich, wenn sich eine Religionsgemeinschaft neben der Religionspflege auch anderen Zwecken zuwendet, sofern sie Nebenaspekte und nicht Schwerpunkt der Vereinigung sind. Schließlich widmen sich Religionsgemeinschaften, anders als religiöse Vereine, die in der Verfassung ebenfalls genannt werden, nicht lediglich Teilaspekten des religiösen Lebens, sondern der umfassenden Erfüllung der durch das Bekenntnis gestellten Aufgaben. Ob die in der Bundesrepublik existierenden islamischen Gemeinschaften diese Merkmale erfüllen, ist im Einzelfall umstritten, etwa wegen der Dachverbandsstruktur solcher Gemeinschaften oder der Frage, ob sie sich im Schwerpunkt der Religionsausübung oder anderen Zwecken widmen. Die Moscheegemeinden vor Ort werden die Begriffsmerkmale einer Religionsgemeinschaft häufig erfüllen. Für überörtliche Angelegenheiten, etwa die Mitwirkung von Religionsgemeinschaften beim Religionsunterricht und bei theologischen Hochschuleinrichtungen, kann aber aus praktischen Gründen nicht auf die örtlichen Gemeinden zurückgegriffen werden,

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sondern bedarf es überörtlicher, insbesondere auf Landesebene handlungsfähiger Strukturen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Organisationsebenen der islamischen Verbände den staatlichen, insbesondere den föderalen Strukturen genau entsprechen müssten. Funktion, Umfang und Schranken des Selbstbestimmungsrechts Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV gewährt den Religionsgesellschaften das Recht, ihre Angelegenheiten innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes selbständig zu ordnen und zu verwalten. Damit wird die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit der inneren rechtlichen Ordnung der Religionsgemeinschaften vom Staat anerkannt, gleichzeitig aber betont, dass diese Unabhängigkeit nur in den Grenzen des allgemeinen staatlichen Gesetzes besteht. Zum Selbstbestimmungsrecht gehört alles, „was materiell, der Natur der Sache oder der Zweckbestimmung nach als eigene Angelegenheit“ anzusehen ist.6 Hier stellen sich ähnliche Probleme wie bei der Abgrenzung der Religionsfreiheit. Auch hier kann der religiös und weltanschaulich neutrale Staat nicht durch einengende Definition bestimmen, was Angelegenheit der Religionsgemeinschaften ist und was nicht. Daher kommt es auf das Selbstverständnis der jeweiligen Gemeinschaft an, das freilich nachvollziehbar begründet werden muss. Zu den eigenen Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften gehören, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, Lehre und Kultus, die eigene Organisation, das Mitgliedschaftsrecht, die Finanzierung ihrer Tätigkeit, insbesondere die Erhebung von Mitgliederbeiträgen, karitative und diakonische Tätigkeiten, die Vermögensverwaltung und die Verwaltung der eigenen Einrichtungen. Das Selbstbestimmungsrecht gilt „innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes“. Es kann also zugunsten der Rechte anderer und legitimer Gemeinwohlerfordernisse eingeschränkt werden. Da ein solches Gesetz aber „für alle gelten“ muss, scheidet ein Sonderrecht zu Lasten der Religionsgemeinschaften, das gerade auf eine Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts zielt, aus. Das Bundesverfassungsgericht hält dementsprechend solche Vorschriften nicht für geeignet, die Freiheit der Religionsgemeinschaften zu beschränken, die sie „nicht wie jedermann treffen, sondern in ihrer Besonderheit härter, […] anders als den normalen Adressaten“.7 Auch wenn ein Gesetz in diesem Sinne für alle gilt, darf das Selbstbestimmungsrecht der Religionsgemeinschaften als ein geschütztes Rechtsgut nicht einfach zugunsten eines anderen geopfert werden. Vielmehr sind beide zu einem möglichst schonenden Ausgleich zu bringen. Diese Aufgabe stellt sich in zahlreichen Rechtsgebieten. Beispiele für solche „allgemeinen Gesetze“ sind die Immissionsschutzgesetze, die kirchlichem Glockengeläut, aber auch dem Ruf des Muezzin Grenzen setzen, das Ge6 7

BVerfGE 18, 385, S. 387. BVerfGE 42, 312, S. 334; 66, 1, S. 20.

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werberecht, das die wirtschaftliche Betätigung auch von Religionsgemeinschaften beschränkt, das Straßenrecht für die Durchführung von Prozessionen oder das Baurecht für Gebäude der Religionsgemeinschaften, auch für Moscheen. Beschränkungen der ausländischen Finanzierung von Religionsgemeinschaften? Die Finanzierung von Religionsgemeinschaften ist als deren eigene Angelegenheit von ihrem Selbstbestimmungsrecht umfasst. Da dieses nur auf der Grundlage eines für alle geltenden Gesetzes im beschriebenen Sinne eingeschränkt werden kann, ist es verfassungsrechtlich schwierig, die Finanzierung von Religionsgemeinschaften aus dem Ausland zu beschränken, wie es das österreichische Islamgesetz 2015 anordnet. Nach der Deutschen Verfassungslage dürfte ein solches Gesetz gerade nicht lediglich bestimmte – etwa nur die islamischen – Religionsgemeinschaften betreffen oder sonst Sonderrecht zu Lasten der Religionsgemeinschaften schaffen. Überdies müsste es auch den übrigen rechtsstaatlichen Anforderungen an Gesetz genügen, also etwa dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Vor diesem Hintergrund ist es ein äußerst anspruchsvolles Unterfangen, verfassungsrechtlich haltbare Regeln zu formulieren, die etwa den Empfang von Spenden aus dem Ausland für islamische Religionsgemeinschaften beschränken. Religiöse Gleichheit und Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften Die Religionsfreiheit wird durch das Verbot der Ungleichbehandlung aus religiösen Gründen ergänzt. Ohne Gleichheit wäre die Religionsfreiheit unvollkommen: Die Gleichheit verhindert, dass über die bloße Abwehr staatlicher Eingriffe hinaus eine religiöse Orientierung gegenüber der anderen durch den Staat privilegiert bzw. diskriminiert wird. Die religiöse Gleichheit ist geltendes Verfassungsrecht. Sie erstreckt sich auf alle Religionen und Religionsgemeinschaften, nicht nur die Großkirchen oder nur in Deutschland seit langem etablierte Gemeinschaften. Sie gilt auch für den Islam oder islamische Gemeinschaften. Allerdings untersagt das Verbot der Diskriminierung wegen des Glaubens nicht schlechthin jede Ungleichbehandlung verschiedener Religionsgemeinschaften bzw. deren Anhänger. Ausgeschlossen sind nur solche Regelungen, die gerade aufgrund religiöser Kriterien bevorzugen bzw. benachteiligen. Dem Staat ist es nicht verwehrt, Unterschiede anderer Art zu berücksichtigen, so etwa die soziale Bedeutung oder den Umfang des Engagements der jeweiligen Religionsgemeinschaft. Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV lautet: „Es besteht keine Staatskirche.“ Dies bedeutet, dass staatskirchliche Formen, insbesondere institutionelle Verbindungen von Staat und Kirche, nicht erlaubt sind. Das gilt aber selbstverständlich für alle Religions- und auch Weltanschauungsgemeinschaften. Allerdings lädt der Begriff

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der Trennung zu Missverständnissen ein. Trennung bedeutet in erster Linie die Unabhängigkeit der jeweiligen Organisation voneinander, nicht aber Ausschluss jedweden Kontakts. Ebenso wenig bedeutet Trennung, dass sich die Religionsgemeinschaften nicht an der öffentlichen Diskussion beteiligen dürften: Wie jeder Bürger und jede Vereinigung dürfen die Religionsgemeinschaften ihre religiösen, aber auch ihre politischen Standpunkte äußern, entsprechende Bildungsangebote machen etc. Die Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften beinhaltet aber, dass der Staat und seine Mittel nicht für die Durchsetzung einer Religion zur Verfügung stehen. Der Staat ist kein Mittel für die Verbreitung religiöser Anschauungen. Dies müssen auch Religionsgemeinschaften akzeptieren, die ein anderes Verhältnis von Religion und Staat zugrunde legen oder deren aus dem Ausland stammenden Mitglieder in den Herkunftsländern etwas anderes gewöhnt sind. Die religiös-weltanschauliche Neutralität – Distanz und Kooperation von Staat und Religionsgemeinschaften Aus den bisher behandelten Grundsätzen – der Religionsfreiheit, der religiösen Gleichheit und der Trennung von Staat und Kirchen – wird der Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates hergeleitet,8 der im Grundgesetz nicht explizit formuliert wird. Er besagt, dass dem Staat grundsätzlich keine Befugnis zusteht, über Richtigkeit und Qualität weltanschaulicher und religiöser Modelle zu entscheiden. Dafür fehlen ihm die Maßstäbe. Es ist ihm verwehrt, sich mit einer bestimmten weltanschaulichen Richtung zu identifizieren. Demgemäß darf der Staat allerdings auch nicht etwa die Religionslosigkeit seiner Bürger propagieren. Er ist, wie das Bundesverfassungsgericht formuliert hat, „Heimstatt aller Staatsbürger“,9 ohne Unterschied von Religion oder Weltanschauung. Dem Grundgesetz ist ein Neutralitätskonzept, das Staat und Religion gegeneinander abschottet und den Staat zu einer Ignorierung des Religiösen zwingt, nicht zu entnehmen. Es sieht vielmehr in mehreren Vorschriften, zu denen neben der Garantie des Religionsunterrichts die der Anstaltsseelsorge (Art. 141 WRV) oder die Feiertagsgarantie des Art. 139 WRV gehören, Berührungspunkte vor. Diese sind integrale Bestandteile, nicht Ausnahmen des grundgesetzlichen Neutralitätsverständnisses. Ein anderes Verständnis mag den Neutralitätsvorstellungen anderer Verfassungsordnungen entsprechen. Das ist aber für die Auslegung des Grundgesetzes ohne Bedeutung. Damit wird bereits deutlich, dass das Religionsverfassungsrecht des Grundgesetzes nicht bei Merkmalen stehen bleibt, die die Abgrenzung von Staat und Religionsgemeinschaften betonen. Das Religionsverfassungsrecht beinhaltet auch Elemente der Kooperation, der Förderung und der Rücksicht auf die Besonderheiten und 8 9

BVerfGE 18, 386. BVerfGE 19, 206, S. 216.

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das Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften. Staat und Religionsgemeinschaften umfassen dieselben Menschen und haben daher Berührungspunkte – Erziehung und Wissenschaft (Art. 7 GG und die Verfassungsvorschriften der Länder zu theologischen Fakultäten), die seelsorgerlichen Bedürfnisse der Soldaten und in Krankenhäusern und Strafanstalten (Art. 141 WRV) oder der Schutz von Sonnund Feiertagen (Art. 139 WRV) sind Bereiche, in denen die Verfassungsordnung ausdrücklich religiöse Belange oder die Interessen der Religionsgemeinschaften berücksichtigt. Auch der Status einer Körperschaft des Öffentlichen Rechts (Art. 137 V WRV), den das BVerfG als ein „Mittel zur Entfaltung der Religionsfreiheit“ bezeichnet hat,10 zählt dazu. Er steht auch islamischen Religionsgemeinschaften zur Verfügung, wenn sie nach Verfassung und Zahl der Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten und die Grundlagen des Grundgesetzes und seiner Religionsverfassung respektieren. Die Religionsfreiheit ist nicht dort am besten verwirklicht, wo Religion in der Öffentlichkeit möglichst ignoriert oder geleugnet wird. Vielmehr bewähren sich Religionsfreiheit, Neutralität und Distanz gerade dann, wenn legitime Interessen und Anliegen, die die Religionen und Religionsgemeinschaften auch in Bezug auf öffentliche Einrichtungen haben, berücksichtigt werden, immer unter Wahrung der Freiheit anderer, der Gleichheit und Neutralität. Besonders nahe liegt es, gegenseitige Interessen durch Vereinbarung der Beteiligten zu regeln. Verträge wie die Konkordate oder Staatskirchenverträge mit den christlichen Kirchen sind besonders sinnvolle Mittel zur Koordinierung und zur Kooperation von Staat und Religionsgemeinschaften. In solchen Vereinbarungen sind typischerweise unter anderem Fragen der Universitätstheologie, der Seelsorge in Krankenhäusern, Strafanstalten, bei der Polizei und weitere Bereiche geregelt. Ungeachtet der Frage nach der Rechtsnatur solcher Vereinbarungen können sie auch mit islamischen Gemeinschaften geschlossen werden, auch über andere als die genannten Angelegenheiten bzw. solche Probleme, die nur islamische Gemeinschaften betreffen. Auf diese Weise lassen sich auch die Rechte und Pflichten islamischer Gemeinschaften in der Rechtsordnung auf konsensualem Wege fixieren. Die Religionsverfassung des Grundgesetzes steht immer wieder vor neuen Herausforderungen und Fallgestaltungen, in denen die Rechte und Freiheit des Einzelnen und der Religionsgemeinschaft sowie die legitimen Gemeinwohlbedürfnisse des Staates zu einem Ausgleich gebracht werden müssen. Die Herstellung „praktischer Konkordanz“ (Konrad Hesse) und die Abwägung der in Frage stehenden Rechtsgüter im Einzelfall sind ständige Aufgaben des Religionsverfassungsrechts, so wie dies auch in anderen Rechtsgebieten der Fall ist. Die Diskussionspunkte sind zahlreich und die jeweils aktuellen Beispiele umstritten. Dies zeigen die Diskussionen über die rituelle Beschneidung von Knaben oder die immer wieder neuen Fragen im Zusammenhang mit der Religion in der Schule, sei es die Verpflichtung zur Teilnahme am Schwimmunterricht oder am Religionsunterricht, sei es die Zulassung eines rituellen Gebets in der Schule. Auch für andere Bereiche ließe sich die Aufzählung der 10

BVerfGE 102, 370, S. 387.

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Sachfragen ohne weiteres verlängern. In solchen Streitfällen kommt es für die Rechtsetzung und die Rechtsanwendung darauf an, Kriterien dafür zu finden, wann und inwieweit die Religionsausübung toleriert wird und wann und inwieweit sie zugunsten anderer Rechtsgüter zurückzustehen hat. Wenn solche Kriterien überzeugend aufgezeigt und durchgesetzt werden, dann ist die Chance für die Wahrung des öffentlichen Friedens bei gleichzeitiger höchstmöglicher Gewährung bürgerlicher Freiheit auch im Bereich des Religiösen am größten. Nicht das Unterdrücken der Religion bietet die beste Integrationschance, sondern der in der Freiheit gegründete Pluralismus der Religionen und Weltanschauungen, denen freilich dann Schranken zu setzen sind, wenn dies zum Schutz anderer, durch die Verfassung geschützter Rechtsgüter, erforderlich ist.

Prof. Dr. Heinrich de Wall ist Lehrstuhlinhaber für Kirchenrecht, Staats- und Verwaltungsrecht an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg.

Islamismus – eine Gefahr für die innere Sicherheit in Deutschland Von Susanne Schröter Salafismus und Dschihadismus sind mittlerweile in Deutschland zu einer Jugendbewegung geworden. Selbstmordattentäter gelten als „Löwen“, als heldenhafte Kämpfer für die Herrschaft des Islam und sind bewunderte Vorbilder. Doch islamische Terroristen stellen nur die Spitze eines Eisberges dar. Die zentralen Thesen von Dschihadisten, dass der Westen islamfeindlich sei, Muslime sich daher in einer Selbstverteidigungssituation befänden und der Islam in naher Zukunft die ganze Welt unterwerfen werde, wird auch von vielen Mitgliedern muslimischer Organisationen vertreten, die Kooperationspartner der Politik sind. Terror im Namen Gottes „Im Namen Gottes, ich bin ein Soldat des IS und beginne eine heilige Operation in Deutschland. Die Zeiten sind vorbei, in denen Ihr in unsere Länder gekommen seid, unsere Frauen und Kinder getötet habt und Euch keine Fragen gestellt wurden […] Ihr könnt sehen, dass ich in Eurem Land gelebt habe und in Eurem Haus. Bei Gott, ich habe diesen Plan in Eurem eigenen Haus gemacht. Und so Gott will, werde ich Euch in Eurem eigenen Haus abschlachten. Ich werde so ein Durcheinander in Euren Straßen anrichten, dass Ihr Frankreich vergessen werdet […] So Gott will, werde ich Euch mit diesem Messer abschlachten und Eure Schädel mit Äxten brechen.“1 Dies sind die auf einem Video festgehaltenen letzten Worte Muhammad Riyadhs, der am 18. Juli 2016 im fränkischen Ochsenfurth schwer bewaffnet die Regionalbahn nach Würzburg bestieg und eine chinesische Familie mit Axt und Messer attackierte. Dem Angriff ging ein lautes „Allahu akbar!“ voraus. Als Mitreisende die Notbremse zogen, sprang der Mann aus dem Zug und überfiel bei seiner Flucht eine Spaziergängerin. Ein Sondereinsatzkommando der Polizei spürte ihn schließlich auf und erschoss ihn. Der Mann war am 30. Juni 2015 nach Deutschland gekommen, hatte sich als sechzehnjähriger Flüchtling ausgegeben und alle Privilegien genossen, die Minderjährigen nach unserem Recht zustehen. Er wurde von der örtlichen Jugendhilfe intensiv 1 Übersetzung des Videos des Attentäters von Würzburg durch die Deutsche Presseagentur, http://www.berliner-zeitung.de/politik/hintergrund-das-video-des-axt-attentaeters-im-wortlaut24424368, Stand: 14. 4. 2017.

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betreut, hatte ein Praktikum in einer Bäckerei gemacht und Aussicht auf eine Lehrstelle erhalten. Schließlich wurde er sogar von einer Pflegefamilie aufgenommen. Der Attentäter hatte Deutschland von seiner besten Seite kennengelernt, wurde behütet, beschützt und integriert. Genützt hat all das nichts, weil er voller Hass war und möglicherweise nur deshalb nach Deutschland kam, um hier zu morden. Das legt zumindest der Umstand nahe, dass er seine Umwelt von Anfang an betrogen hatte, unter falschem Namen und unter Angabe eines falschen Herkunftslandes einreiste. Auch ein anderer Fanatiker, der im letzten Jahr in Deutschland mordete, gab sich als Flüchtling aus. Es handelte sich um Anis Amri, der am 19. Dezember 2016 in Berlin einen gestohlenen Lastwagen auf einem Berliner Weihnachtsmarkt in eine Menschenmenge fuhr und dabei 12 Personen tötete. Wie Riyadh hinterließ Amri eine Videobotschaft. Darin heißt es: „Meine Botschaft geht gegen die Kreuzzügler, die, die jeden Tag Muslime angreifen. Wenn Gott will, so werden wir Euch abschlachten, ihr Schweine! Ihr tötet die Muslime? Wir sind gekommen, um Euch abzuschlachten. Wer töten kann in seinem Ort, der soll sich um das Töten bemühen. Wer sich in Europa befindet, soll diese Kreuzzügler töten […] Oh Allah, ermächtige mich gegen diese Kreuzzügler, diese ungläubigen Menschen. Sie haben deine Religion und deinen Gesandten bekämpft, oh Herr der Welten. Sie haben deine Gefolgschaft bekämpft, oh Allah […] [Dies geschieht] solange bis alle Ungläubigen beseitigt werden, bis die Scharia umgesetzt und die Errichtung des islamischen Staates vollzogen ist.“2 Die beiden Texte sind nicht zufällig so ähnlich. Man könnte unzählige andere finden, in denen die gleichen Begründungen für die Legitimität des Tötens vorgetragen werden – teilweise mit identischen Formulierungen und Schlüsselbegriffen. Die zitierten Wortlaute stellen gewissermaßen den Kern der dschihadistischen Rechtfertigungsnarrative dar, einer Narrative, die mehrere Funktionen erfüllt. Sie dient der Selbstvergewisserung des Mörders, wäscht ihn von Schuld frei und verkehrt das Abschlachten wehrloser Zivilisten in eine Heldentat. Die Morde werden zudem in einen kollektiven Kontext eingebettet, sollen Zugehörigkeit und die Anerkennung einer Gruppe gewährleisten. Sowohl Amri als auch Riyadh verstanden sich nicht als Einzeltäter, sondern als Mudschaheddin, als Kämpfer für die Sache Allahs, und sie suchten die Wertschätzung, die einem Attentäter von seinem Umfeld zuteil wird. Der IS verbreitet Nachrichten so genannter „Märtyreroperationen“ über seine weit verzweigten Medienkanäle, darunter auch in mehreren Hochglanzmagazinen. Hier werden Taten und Täter vorgestellt, oft zudem mit Bildern illustriert. In einer solchen Zeitschrift porträtiert zu werden, macht einen Mann zu einem anerkannten Helden, verleiht ihm internationale Sichtbarkeit und letztendlich sogar eine gewisse Unsterblichkeit. Die narzisstische Komponente der dschihadistischen Attentäter ist möglicherweise eine Erklärung dafür, dass Anis Amri, aber auch der Attentäter von Nizza und einer der Terroristen von Paris 2015 ihre Ausweise am Tatort zurückließen. Dschihadisten werden in den Medien als „Löwen“ gefeiert und präsentieren sich 2

Übersetzung: Sonia Zayed, FFGI.

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als Idole einer muslimischen Geschlechterordnung, die sich als Gegenentwurf zum westlichen Emanzipationsideal versteht.3 Die Videobekenntnisse erfüllen aber noch einen anderen Zweck: Sie stellen ein Mittel der Anwerbung neuer Mitglieder dar und sollen überzeugen – nicht nur durch die Anregung der Fantasie und das Evozieren von Heldenträumen, sondern auch durch Argumente. Aus diesem Grund ist es nicht ganz unerheblich zu verstehen, wie Gewalt legitimiert wird. Ich werde im Folgenden drei wesentliche ineinander verwobene dschihadistische Rechtfertigungsnarrative zeigen, die in den Videos enthalten sind. Es handelt sich um die dschihadistische Opfererzählung, die Erzählung von der Teilung der Welt in ein „Haus des Islam“ und ein „Haus des Krieges“ sowie um die Idee einer islamistischen Weltherrschaft. Der angebliche Krieg des Westens gegen die Muslime Schauen wir uns die Videobotschaften genauer an. Sowohl Anis Amri als auch Muhammad Riyadh rechtfertigen ihre Brutalitäten mit dem Argument, dass ihre Tat lediglich eine Antwort auf ein anderes, weitaus größeres Verbrechen darstelle. „Die Zeiten sind vorbei, in denen Ihr in unsere Länder gekommen seid, unsere Frauen und Kinder getötet habt und Euch keine Fragen gestellt wurden“, sagt Riyadh. Es fällt auf, dass Riyadh nicht sagt, wo und wann Frauen und Kinder getötet wurden. Er nimmt keinen Bezug auf ein konkretes Ereignis. Auch Amri bleibt im Ungefähren, wenn er angibt, dass die „Kreuzzügler“ jeden Tag Muslime angreifen und töten. Gerade durch die Unbestimmtheit der Aussage wird sie generalisierbar. Muslime, so die Kernbotschaft der Videos, werden überall in der Welt angegriffen. Allerdings wird durchaus auf reale Bezugspunkte, reale Konflikte und reale Kriege verwiesen. Zurzeit ist es Syrien, davor waren es der Irak und Afghanistan, davor Tschetschenien und Bosnien oder ein anderer nationaler oder lokaler Konflikt, in dem Muslime zu Tode kamen. Diese tatsächlichen Konflikte sind relevant, da sie die dschihadistische Erzählung sozusagen „von außen“ verifizieren. Auch in den gewöhnlichen Nachrichten wurde über die Bombardierung Aleppos oder die Massaker an bosnischen Muslimen berichtet, und gerade die Opfer in der Zivilbevölkerung erhalten besondere Aufmerksamkeit. Die Aussage Amris, „Muslime werden getötet“, suggeriert Anschlussfähigkeit an die Kritik militärischer Interventionen oder die Verurteilung von Waffenlieferungen, die in weiten Teilen der Bevölkerung und besonders unter Muslimen existent ist. Aus diesem Grund greift die dschihadistische Erzählung auch bei vielen nichtdschihadistischen Muslimen, vor allem dann, wenn sie konkrete Beispiele in plakativer Weise für die Grundthese eines Kampfes des Westens gegen die Muslime instru3 Vgl. Mohagheghi, Hamideh: Frauen für den Dschihad. Das Manifest der IS-Kämpferinnen, Freiburg 2015; Schröter, Susanne: Die jungen Wilden der Ummah. Heroische Geschlechterkonstruktionen im Jihadismus, in: Friedensgutachten 2015, Berlin 2015, S. 175 – 186.

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mentalisiert. Die dschihadistische Erzählung interessiert sich nicht für Hintergründe von Konflikten und schon gar nicht für politische Komplexität. Für Dschihadisten ist die Welt einfach: Sie besteht aus Opfern und aus Tätern. Muslime sind dabei ausnahmslos in der Rolle der Opfer, Nichtmuslime sind Täter. Die Erzählung von den getöteten Kindern Ein wichtiges Mittel der Mobilisierung für den Dschihad ist die Emotionalisierung von Konflikten. Dazu eignen sich besonders Bilder schwer verletzter und getöteter Kinder. Anders als in westlichen Medien, die zwar Bombenexplosionen und zerstörte Häuser abbilden, sich aber mit Darstellungen von Leichen und Verstümmelten zurückhalten, fokussieren dschihadistische Medien explizit auf die Szenen des Todes. In endloser Folge zeigen sie zerplatzte Schädel und blutüberströmte Gesichter, verdrehte kleine Körper und traurige Augen. Alles aus nächster Nähe, akustisch untermalt von Korangesängen. Wer sich die Wirkung dieser Bilder vorstellen möchte, möge an den Fall des syrischen Kindes denken, das im Herbst 2015 bei der Flucht im Mittelmeer ertrank und an die türkische Küste angespült wurde. Am 3. September war das Bild des kleinen Jungen, der in blauen Hosen und rotem T-Shirt leblos auf dem Bauch am Strand lag, in allen Zeitungen – und in der Nacht vom 4. auf den 5. September öffnete Deutschland die Grenzen. Der Zusammenhang ist sicher nicht zufällig. Das Bild des Kleinen ging um die Welt und löste eine Welle des Mitgefühls aus. Er gab der Flüchtlingsbewegung ein Gesicht, so wie die von Napalm verbrannte neunjährige Kim Phuc, die der Journalist Nick Ut fotografierte, das Gesicht des Vietnam-Krieges wurde. Auf das Leiden von Kindern zu verweisen, verfehlt seine Wirkung selten, und so eignet es sich hervorragend für die dschihadistische Propaganda. „Wa-llahi, sie schlachten ein Kind! Und die schlachten sie, weil sie ahl as-sunna (Sunniten) sind und weil sie Muslime sind. Für nichts anderes“4, sagte der österreichische Dschihadist Mohamed Mahmoud in einer Ansprache an potenzielle Gefolgsleute. Mahmoud, der zunächst als Führer der mittlerweile verbotenen Gruppe „Millatu Ibrahim“ auffiel und sich später dem IS anschloss, war einer der ersten, der die mediale Verbreitung dschihadistischer Ideologien im deutschsprachigen Raum voranbrachte und die „Globale Islamische Medienfront“ gründete. In der dschihadistischen Agitation ist es jedoch niemals ein bestimmtes Kind, das als Referenz für die Brutalität des Krieges steht. Es sind viele, eine unüberschaubare Anzahl. Anders als der ertrunkene Junge, dessen Name und Lebensgeschichte in allen westlichen Medien verbreitet wurde, haben die in Großaufnahme gezeigten toten Kinder der dschihadistischen Videos weder Namen noch Geschichte. Der Tod ist seriell und kommt ohne Individuen

4 Prucha, Nico: Die Vermittlung arabischer Jihadisten-Ideologie. Zur Rolle deutscher Aktivisten, in: Jihadismus und Internet. Eine deutsche Perspektive, hrsg. von Guido Steinberg, Berlin 2012, S. 50.

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aus. Das erleichtert die Instrumentalisierung der Getöteten, ihre Vereinnahmung für eine Sache, die nicht weniger blutig ist als der Krieg, der angeklagt wird. Außer den Kindern werden auch die Frauen als Opfer des Westens genannt. Sie eignen sich allerdings deutlich schlechter für die dschihadistische Werbung, weil ihre bildliche Darstellung an bestimmte Bedingungen geknüpft ist. Aus Gründen islamistischer Moralvorstellungen sollen Frauen nicht in der Öffentlichkeit gesehen werden, so dass nur ältere Frauen gezeigt werden, vorzugsweise in der Rolle der trauernden Mütter. Einige Dschihadisten sprechen von „vergewaltigten Schwestern“, die es zu rächen gelte. Arid Uka, der im März 2011 am Frankfurter Flughafen zwei Soldaten erschoss, gab vor Gericht an, er sei durch einen Film beeinflusst worden, in dem die Vergewaltigung einer irakischen Muslimin durch einen US-Soldaten gezeigt wurde. Diese Erzählung bleibt aber insgesamt schwächer als die Erzählung des getöteten Kindes, weil sexuelle Gewalt im muslimischen Erzählkontext mit einer Reihe von Tabus behaftet ist. Beide Narrative eignen sich zur Rechtfertigung von Gewalt. Sie belassen es nicht allein bei einer Viktimisierung von Muslimen, sondern erheben den Vorwurf einer besonderen Niederträchtigkeit, die die Angriffe angeblich charakterisiert. Es sind nicht die Männer, deren Leben von den „Kreuzzüglern“ bedroht sei, sondern Unschuldige, die keine Chance haben, sich zu wehren. Sie werden einfach getötet, und das „jeden Tag“. In dieser Unabwendbarkeit des täglichen Getötetwerdens gibt es keine Normalität, keinen Alltag, der nicht unmittelbar bedroht ist. Die Legitimität des Dschihad als Selbstverteidigung Implizit liegt in dieser Konstruktion bereits ein starker Aufruf zum Handeln. Jeder, der sich nicht mit der Ungeheuerlichkeit abfinden möchte, so die implizite Botschaft, müsse etwas tun, um das Unrecht zu beseitigen. Wie eine solche Botschaft inszeniert wird, zeigt das Video „Mutter bleibe standhaft“ aus dem Jahr 2010. Darin erklärt Yassin Chouka aus Bonn-Kessenich, der sich in Waziristan einer dschihadistischen Gruppe angeschlossen hatte, seiner Mutter, warum er Dschihadist geworden ist. Seiner mehr als 20-minütigen Ansprache stellte er voran, dass er „vom Boden der Ehre“ spreche, einer von Dschihadisten häufig verwendeten Metapher, die der Glorifizierung des Kämpfers dient. „Mutter, geehrte Mutter, es sind die kleinen, die unschuldigen Kinder, die du auf dem Bildschirm deines Fernsehers siehst. Jung und unschuldig werden sie von den Gefährten des Unheils bombardiert. Die Gefährten des Unheils, deren Herzen von der Barmherzigkeit völlig verlassen wurden, sie machen keinen Unterschied. Sie bombardieren ganze Bezirke, ganze Städte, Kinder, Frauen, alte Menschen. Mama, die Krankenhäuser sind überfüllt, die Körper durch chemische Waffen entstellt, die Totenzahl nimmt von Tag zu Tag zu. Über 60 Jahre, seit über 60 Jahren und die Situation wird immer schlimmer und schlimmer. Mutter, während deine Tränen entlang deiner Wangen fließen (weil der Sohn nicht mehr da ist, d. Verf.), fließt das Blut unserer Mütter in den Straßen von Gaza. Mutter, wie soll ich sitzen bleiben? Unsere Geschwister sind in Not. Mutter, siehst du nicht, was geschieht in Filistin? Mutter,

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Susanne Schröter hörst du nicht die Bomben im Irak? Unsere Geschwister sind gefangen, darüber werden wir befragt. Mutter, während deine Tränen tropfen, fließt das Blut im Shisham, die Juden und die Christen sind hier in Khorasan. Man beleidigt den Propheten und man tritt auf den Koran. Mutter, bleibe standhaft, dein Sohn ist im Jihad.“

Auch hier sehen wir wieder eine Aneinanderreihung seltsam unbestimmter Dinge, mit denen begründet wird, warum der Dschihad ehrenhaft, gerecht und notwendig ist. Sie reichen von Bomben im Irak bis zur Beleidigung des Propheten und erfüllen in der Ideologie radikaler Muslime den Tatbestand der Selbstverteidigung. Dieser ist – in einer Minimaldefinition – dann erfüllt, wenn Muslime bedroht und ihre Länder besetzt sind oder wenn der Islam angegriffen wird. Interessant ist v. a. der Sachverhalt der Beleidigung des Islam. Dies stellt eine muslimische Besonderheit dar. Erinnern wir uns an die Attentate auf die Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ im Jahr 2015 oder die Welle der Gewalt, die nach den Mohammed-Karikaturen der dänischen Zeitschrift „Jillands Posten“ im Jahr 2005 entflammte. In beiden Fällen wurden Menschen abgeschlachtet, weil der Selbstverteidigungsfall „Prophetenbeleidigung“ ausgerufen wurde. Dafür gibt es unter Muslimen Verständnis und sogar Sympathie. Nach der Veröffentlichung der dänischen Zeichnungen hatte der einflussreiche Prediger Yusuf Qaradawi zu einem „Tag des Zorns“ aufgerufen, der zu brennenden Botschaften und insgesamt zu mehr als 150 islamisch legitimierten Morden führte. Nach den Pariser Attentaten gab es ebenfalls international nicht nur die pflichtgemäße Ablehnung terroristischer Gewalt von Staatsoberhäuptern, sondern auch die Verurteilung der Verunglimpfungen des Islam durch die französischen Zeichner. In Frankreich und in Deutschland kam es zu heftigen Reaktionen muslimischer Schüler, die Gedenkminuten für die Opfer des Terrors störten, Veranstaltungen sabotierten und offene Sympathien für die Attentäter äußerten. Vorbilder dafür gibt es in der muslimischen Musikszene, in der Rapper wie der Frankfurter Sadiq zu dschihadistischen Helden stilisiert werden. Sadiq hatte den Pariser Anschlag in einem Gewaltvideo heroisiert, das mit einem Bild endete, auf dem der Rapper mit einem „Free Gaza“ T-Shirt posierte. In einer weiten Definition fallen auch vermeintliche Diskriminierungen von Muslimen in Deutschland unter den Selbstverteidigungsgrund. Ich selbst habe seit 2014 mehrere Podiumsdiskussionen miterlebt, auf denen muslimische Diskutanten ernsthaft die Auffassung vertraten, die Gesellschaft habe „unseren Kindern“ keine guten Angebote gemacht, sondern sie ausgegrenzt und damit zwangsläufig in den Terror getrieben. Das Ziel solcher Interventionen ist deutlich. Man möchte muslimische Gewalttäter entschuldigen und der Mehrheitsgesellschaft die Verantwortung dafür aufbürden. An dieser Stelle müssen die Konstruktionen der „Islamophobie“ bzw. des „antimuslimischen Rassismus“ erwähnt werden, die in schöner Einigkeit von Dschihadisten, Vertretern muslimischer Verbände und einem Teil der linksliberalen Zivilgesellschaft vertreten werden. In einer besonders perfiden Form behauptet man gar eine historische Kontinuität vom Antisemitismus der Nationalsozialisten bis zur angeblichen Muslimfeindlichkeit der Gegenwart, wobei geflissentlich der muslimische

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Antisemitismus ausgeblendet wurde.5 Die Konstruktion der Islamophobie hat sogar Eingang in Salafismusprävention gefunden, die man jetzt gerne als Maßnahmen gegen Salafismus und Islamfeindlichkeit betitelt. Wie ich selbst bei der Auswertung einiger Maßnahmen feststellen musste, fokussierte man in der Praxis gern ausschließlich auf die vermeintliche Islamfeindlichkeit – getreu der These, dass islamischer Extremismus lediglich eine Folge von Diskriminierung sei. Gegenbeispiele wie die sehr große Anzahl akademisch gebildeter tunesischer Dschihadisten oder mittelständischer deutscher Konvertiten werden in solchen Konstruktionen ausgeblendet. In Teilen der islamischen Gelehrsamkeit gilt ein Dschihad auch dann als legitim oder sogar als Pflicht, wenn er die „Befreiung eines ehemals islamischen Territoriums“ intendiert. Der Krieg gegen Israel steht deshalb ganz oben auf der Agenda, aber auch der Kampf gegen ausländische Interventionstruppen.6 Dabei ist es unwichtig, wie die religiöse Landkarte in verschiedenen Phasen der Geschichte ausgesehen hat, sondern allein der Umstand, dass ein Gebiet schon einmal islamisch war, ermächtigt zur Beanspruchung. Aus diesem Grund versuchen Islamisten auch Teile Spaniens und Italiens, die ehemals von Muslimen besetzt waren, zu einem islamischen Kernland zu erklären. Das dschihadistische Magazin „Rumiyah“ enthält diesen Anspruch bereits im Namen. „Rumiyah“ bedeutet „Rom“ und propagiert den Krieg gegen den Westen, bis dieser islamisch geworden ist.7 Bei aller Legitimierung von Gewalt als Verteidigung bleiben natürlich blinde Flecken, und zwischen der Selbstkonstruktion eines „ehrenhaften Kämpfers gegen das Unrecht“ und der Realität klaffen Welten. Anders als Dschihadisten wie der bereits erwähnte Chouka es glauben machen wollen, kämpfen sie gewöhnlich nicht gegen andere Kombattanten, sondern vorzugsweise gegen die Zivilbevölkerung. Sie versklaven Frauen und Kinder, um sie sexuell zu missbrauchen, entführen Einzelpersonen, um Lösegeld zu erpressen, massakrieren ganze Dörfer, weil die Bewohner keine Muslime sind, führen Anschläge auf Zivilisten durch, darunter Frauen und Kinder, und foltern vor laufender Kamera. Das sind keine Aktionen der Selbstverteidigung, sondern Verbrechen gegen die Menschheit. Das „Haus des Islam“ und das „Haus des Krieges“ Der Dschihad wird allerdings nicht nur als Verteidigung legitimiert, sondern auch ganz allgemein als Pflicht eines jeden Muslims, um den Islam zu verbreiten und die 5 Vgl. Brumlik, Micha: Parallelen zwischen Antisemitismus und Islamfeindlichkeit heute, in: Islamophobie und Antisemitismus. Ein umstrittener Vergleich, hrsg. von Gideon Botsch u. a., Berlin 2012, S. 65 – 81. 6 Vgl. Ourghi, Mariella: Muslimische Positionen zur Berechtigung von Gewalt. Einzelstimmen, Revisionen, Kontroversen, Würzburg 2010, S. 92. 7 Vgl. https://ojihad.wordpress.com/2016/10/11/is-magazin-rumiyah-toeten-als-pflicht/, Stand: 3. 5. 2017.

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Nichtmuslime zu unterwerfen. Der Krieg gegen die Nichtmuslime, so Anis Amri, dauere so lange, „bis alle Ungläubigen beseitigt werden, bis die Scharia umgesetzt und die Errichtung des islamischen Staates vollzogen ist“. Diese Auffassung ist ebenso wie das Selbstverteidigungsrecht in der islamischen Theologie verankert. Sayyid Qutb, einer der „profiliertesten Denker des Islamismus“,8 vertrat in seiner wichtigen Schrift „Wegmarken“ die These, dass der Dschihad keine reine Verteidigung darstelle, sondern vielmehr in seiner inneren Struktur begründet sei. Es gehe um die Errichtung einer normativen Ordnung, die allein auf den Geboten Gottes basiere, und um die Zerstörung jeder anderen Art des Regierens. Dieses Credo wurde von Abdullah Jussuf Mustafa Azzam, der sich in Afghanistan einen Namen als Dschihadist gemacht hatte, in seinen Schriften bestätigt. „Der Weg auf dem jihad Gottes bedeute, so Azzam, einzig und allein, dass man die Ungläubigen so lange mit dem Schwert bekämpft, bis sie Muslime werden oder sich unterwerfen und die Kopfsteuer errichten.“9 Auch der von der Islamwissenschaftlerin Mariella Ourghi erwähnte Gelehrte Abdel al-Malik al-Barrak beschreibt den Krieg gegen Nichtmuslime als Pflicht. Dies sei eindeutig im so genannten Schwertvers (Sure 9:5) niedergelegt. Dort heißt es: „Sind die heiligen Monate abgelaufen, dann tötet die Beigeseller, wo immer ihr sie findet, ergreift sie, belagert sie, und lauert ihnen auf aus jedem Hinterhalt! Doch wenn sie sich bekehren […] dann lasst sie laufen.“10 Theologisch basieren diese Texte auf einer Zweiteilung der Welt in ein „Haus des Islam“ (Dar al-Islam) und ein „Haus des Krieges“ (Dar al-Harb), einem Konzept, dass Frieden zwischen Muslimen und Nichtmuslimen als Ausnahme und nicht als Regel definiert. Der wirkliche Friede entsteht dieser Ideologie zufolge erst, wenn die ganze Welt islamisch geworden ist. Dass dieses Ziel angestrebt werden soll, darüber besteht bei Islamisten kein Zweifel. Die Frage ist lediglich, ob man bei der Umsetzung dem Mittel der Mission oder des Krieges den Vorzug geben soll bzw. unter welchen Umständen das eine oder das andere Mittel angewendet werden soll.11 Die Legitimität einer weltweiten islamischen Herrschaft begründet sich aus dem Koran und den prophetischen Überlieferungen. Die schnelle Ausbreitung des Islam unmittelbar nach seinem Entstehen ist für viele Muslime der Beweis dafür – der Zusammenbruch der muslimischen Herrschaft im 19. Jahrhundert jedoch erklärungsbedürftig. Viele islamische Gelehrte vertraten die Auffassung, dass ein Abfall vom wahren Glauben die Ursache dafür war, und empfahlen eine Rückkehr zur „wahren“ Religion und zum Vorbild der Salaf, der altehrwürdigen Vorfahren. Heute sind Salafisten der Ansicht, dass eine Zeitenwende bevorsteht und der Islam zu neuer Größe wiedererstehen wird. Sie berufen sich auf Prophezeiungen, denen zufolge Krieger aus Khorasan mit schwarzen Fahnen einen globalen Dschihad ankündigen

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Ourghi: Muslimische Positionen zur Berechtigung von Gewalt, S. 28. Kepel, Gilles / Milelli, Jean-Pierre: Al-Qaida: Texte des Terrors, o. O. 2006, S. 234. 10 Bobzin, Hartmut: Der Koran, München 2015, S. 160. 11 Vgl. Wiedl, Nina: Da’wa. Der Ruf zum Islam in Europa, Berlin 2008.

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werden, der zum endgültigen Sieg des Islam führen wird.12 Khorasan ist eine historische Region, die heute Teile Afghanistans, Irans und Pakistans umfasst und aus der im 21. Jahrhundert dschihadistische Kämpfer (Taliban, al-Qaida, IS) mit den entsprechenden Fahnen erschienen. Islamismus in muslimischen Verbänden und Gemeinschaften Halten wir fest: Kernelemente des islamischen Extremismus sind die Konstruktion zweier sich intrinsisch feindlich gegenüberstehender Welten, eine tiefe Feindschaft gegen den Westen und die Rechtfertigung von Gewalt, um dem Westen, Nichtmuslimen oder vermeintlichen Abtrünnigen Schaden zuzufügen. Diese Elemente finden sich nicht nur in dezidiert dschihadistischen Milieus, sondern sind auch innerhalb des orthodoxen Mainstream-Islam verbreitet: beispielsweise innerhalb des größten muslimischen Dachverbandes DITIB, der nach eigenen Angaben fast 1.000 Gemeinden in Deutschland unterhält und ideologisch, strukturell und finanziell eine Extension der türkischen Religionsbehörde Diyanet darstellt.13 In den zentral geschriebenen Freitagspredigten werden das Märtyrertum gefeiert, davor gewarnt, Freundschaften mit Nichtmuslimen zu schließen, und die Anti-Integrationsparolen Erdogans mit Beschwörungen der türkischen Heimat unterstützt. Auf türkischsprachigen Homepages von Ortsgemeinden erscheinen immer wieder antijüdische, antichristliche und antiwestliche Einträge und in zwei Gemeinden (Wolfsburg und Dinslaken) verbündeten sich DITIB-Funktionäre mit Salafisten bzw. stellten ihnen Räumlichkeiten zur Verfügung. Solche Beeinflussungen sind wirkungsvoll. Das Abstimmungsergebnis der Deutschtürken beim Referendum über die weitgehende Abschaffung von Demokratie und Rechtstaatlichkeit, die nicht zuletzt von Visionen eines neo-osmanischen islamischen Reiches beeinflusst waren, verdeutlichte, in welcher Parallelwelt sich selbst in Deutschland geborene und aufgewachsene türkische Muslime befinden. DITIB-Funktionäre zeigen, wie Erdogan selbst, klare Sympathien für die Muslimbruderschaft.14 Sie schließen ideologisch an eine andere große muslimische Organisation, die Islamische Gemeinschaft Milli Görüs, an, deren Funktionäre beständig versuchen, islamische Regularien in Deutschland durchzusetzen. In Milli Gazete wurde 2004 12 Vgl. Günther, Christoph / Ourghi, Mariella / Schröter, Susanne / Wiedl, Nina: Dschihadistische Rechtfertigungsnarrative und ihre Angriffsflächen, in: Salafismus und Dschihadismus in Deutschland. Ursachen, Dynamiken, Handlungsempfehlungen, hrsg. von Janusz Biene, Christopher Daase, Julian Junk und Harald Müller, Frankfurt 2017, S. 172. 13 Vgl. Schröter, Susanne: Ein undurchsichtiges Spiel, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. 8. 2016, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/streit-um-ditib-ein-undurchsichtigesspiel-14394916.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2, Stand: 8. 5. 2017; Yasar, Aysun: Die DITIB zwischen der Türkei und Deutschland. Untersuchungen zur Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religionen e.V., Würzburg 2012. 14 Sarhan, Aladdin: Die Muslimbruderschaft in Deutschland, in: Islamismus. Gefahren erkennen, Demokratie stärken, http://www.kas.de/wf/de/71.15455/, Stand: 8. 5. 2017.

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das Verhältnis zu Nichtmuslimen folgendermaßen beschrieben: „In zahlreichen Suren des Koran wird betont, dass die Juden und die Christen, die so genannten Schriftbesitzer, Ungläubige sind und dass sie auf ewig in der Hölle brennen werden. Diese Menschen, die selbst Ungläubige sind, bedrängen uns heute, auch Ungläubige zu werden, und dass wir mit ihnen zusammen in die Hölle fahren.“15 Sowohl Milli Görüs als auch DITIB sind in der Deutschen Islamkonferenz vertreten. DITIB ist in mehreren Bundesländern Kooperationspartner des Staates und hat gerade 6,5 Millionen staatliche Unterstützung aus Bundesmitteln erhalten. Das ist möglich, weil Funktionäre der genannten Organisationen stets ihre Treue zum Grundgesetz betonen und islamistische Umtriebe erfolgreich verharmlosen. Kleineren muslimischen Gemeinschaften, die ihre Sympathie offen für salafistische und dschihadistische Ideologie zum Ausdruck bringen, gelingt es ebenfalls immer wieder, sich als Partner des Staates ins Spiel zu bringen. Ein Beispiel stellt der Deutsch-Islamische Vereinsverband Rhein-Main e.V. (DIV) dar, dem 2015 aus dem Bundesprogramm „Demokratie leben“ Fördergelder in Höhe von 86.000 Euro für ein Programm gegen die Radikalisierung muslimischer Jugendlicher zugebilligt wurden. In dem Verband befinden sich mehrere Moscheegemeinschaften, die in der Vergangenheit auffällig wurden, weil sie extremistische Prediger zu Vorträgen und Islamseminaren einluden und weil sie Treffpunkte für Salafisten und Dschihadisten darstellten. Nur dem investigativen Journalismus ist es zu verdanken, dass Öffentlichkeit und Politik auf den Missstand aufmerksam und die Finanzierungen gestoppt wurden.

Das Bindeglied des Antisemitismus Extremistische Organisationen verbindet ihre Ablehnung so genannter Ungläubiger und des damit verbundenen Westens, insbesondere aber ihre Juden- und Israelfeindlichkeit. Dschihadisten lehnen das Existenzrecht Israels ab und solidarisieren sich mit der Hamas oder anderen radikalen palästinensischen Organisationen. Das antisemitische Gesicht des Dschihadismus wird in einer langen Reihe von Anschlägen in und außerhalb Europas offenbar. Antisemitismus und Judenfeindlichkeit sind allerdings nicht auf die kleine Gruppe der Dschihadisten beschränkt, sondern prägen die Einstellung vieler Muslime weltweit. In Deutschland wird sie alljährlich auf dem Al Quds-Tag öffentlich demonstriert. Der Tag, der nach der arabischen Bezeichnung für Jerusalem benannt wurde, geht auf eine Forderung des iranischen Ayatollah Khomeni zurück, der damit den Aufruf zur Eroberung und Vernichtung Israels verband. Hassparolen gegen Israel und Juden sind auf diesen Demonstrationen auch in deutschen Großstädten üblich. Im Jahr 2014 kam es in Frankfurt zu einem Zwischenfall, als ein Mann, der versprochen hatte, die ins Gewalttätige kippende Veranstaltung zu deeskalieren, vom Lautsprecher eines Polizeiwagens aus antiisraelische Parolen skandierte, anschließend das islamische Glaubensbekenntnis aufsagte und die Mas15

Wiedl: Da’wa. Der Ruf zum Islam in Europa, S. 100.

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sen mit einem „Allahu akbar“ begeisterte. Eine Entschuldigung des Polizeipräsidenten beim Präsidenten des „Zentralrates der Juden in Deutschland“ war daraufhin von einem hohen Funktionär des DITIB-Landesverbandes Hessen kritisiert worden. Ein anderer muslimischer Verbandsfunktionär hatte auf seinem Facebook-Profil israelfeindliche Seiten verlinkt, auf denen u. a. stand: „Wir haben nicht vergessen, dass Israel bei seinem Angriff auf Gaza im Jahr 2009 Hunderte Kinder grausam ermordet hat.“16 Pikanterweise waren beide Herren Mitglieder hochrangiger lokaler Dialogzirkel. Fazit Islamischer Extremismus stellt ein Sicherheitsproblem dar, weil Dschihadisten offen aufrufen, in Deutschland Anschläge zu begehen, und dies bereits getan haben. Ein Sicherheitsproblem ist aber auch die weite Verbreitung radikaler Ideologien innerhalb eines fundamentalistischen muslimischen Mainstreams, die auf der intrinsischen Feindschaft zwischen Muslimen und Nichtmuslimen, dem islamischen Herrschaftsanspruch sowie der muslimischen Opfernarrative und den daraus abgeleiteten Rechtfertigungen dschihadistischer Gewalt basieren.

Prof. Dr. Susanne Schröter ist Inhaberin der Professur „Ethnologie kolonialer und postkolonialer Ordnungen“ an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam (FFGI) sowie Vorstandsmitglied des Deutschen Orient-Instituts.

16 http://www.faz.net/aktuell/rhein-main/frankfurt-protest-der-juedischen-gemeinde13077300.html; Stand: 8. 5. 2017.

Integration in Deutschland Zwischen Gretchenfrage und „German Dream“ Von Düzen Tekkal Als Gesellschaft eines Einwanderungslandes müssen wir es wagen, die Gretchenfrage zu stellen. Die Antwort gilt es konsequent und mit aller Klarheit einzufordern. Mit unserer vermeintlichen politischen Korrektheit stehen wir uns dabei jedoch meist noch selbst im Weg. Dabei können wir uns leisten, selbstbewusst aufzutreten, denn wir haben viel zu bieten: zum Beispiel unseren „German Dream“. * Wie hältst Du’s mit dem Grundgesetz? Für meinen Vater, der mit meiner Mutter als religiöser Flüchtling nach Deutschland kam, ist die Antwort auf die Gretchenfrage unserer Zeit seit jeher klar: Er habe sich in das Grundgesetz gerettet. Ich finde, das ist eine sehr schöne Formulierung. Mein Vater möchte damit seine Wertschätzung für die Menschenrechte ausdrücken, die hier in Deutschland gelten und welche er in der Region, aus der meine Familie stammt, nie erleben durfte. Diese Wertschätzung tragen wir in unserer Familie von Generation zu Generation weiter. Von dieser familiären Prägung, von meiner Identität als Jesidin, als ausgebildete Politologin und als deutsche Staatsbürgerin leite ich meine persönliche Verantwortung, mich gesellschaftlich einzubringen, ab. All denen eine Stimme zu geben, die unter Verfolgung und Unterdrückung leiden, egal, welcher Religion sie angehören. Ich möchte die Werte der Gesellschaft schützen, auf deren Boden, den Boden des Grundgesetzes, sich meine Familie retten konnte und die ich als meine Heimat empfinde. Die Integration der Einwanderungsgesellschaft Deutschland ist mir ein Herzensanliegen, und ich möchte dazu beitragen, dass wir eine solche bleiben. Begegnung ohne Verurteilung Hierbei spielt aus meiner Sicht die Macht der Begegnung eine zentrale Rolle. Zu zeigen, dass Vorurteile nicht begründet sind. Das sehen wir, wenn Menschen verschiedenen oder gar keines Glaubens sich gegenüberstehen, austauschen und feststellen, dass sie gar nicht so unterschiedlich sind, wie ihre kulturellen Ursprünge es vielleicht vermuten lassen. In einem ehrlichen Miteinander muss dabei jedoch auch Kritik am Gegenüber erlaubt bleiben. Als vermeintliche Jesidin wird mir häufig

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per se erst einmal unterstellt, gegen den Islam zu sein. Fortlaufend muss ich das Gegenteil beweisen. Dies ist traurig genug. Was mich jedoch noch trauriger macht, ist die damit einhergehende Reduzierung meiner Person auf die familiäre Herkunft. Mir wird meine deutsche Identität abgesprochen, um die es eigentlich vielmehr gehen muss. So werde ich oft angegriffen, wenn ich mich kritisch zu bestimmten Aspekten im Verhältnis Islam und Staat äußere. Das ist der zentrale Fehler in unserem System, in unserer öffentlichen Debattenkultur. In Deutschland sind wir selbstkritisch, wir sind gesellschaftskritisch. Sobald wir uns aber islamkritisch äußern, gerät das Konstrukt vermeintlich politischer Korrektheit ins Wanken. Doch wir brauchen eine quellenkritische Auseinandersetzung mit den Botschaften der Religion Islam. Ein entsprechender Diskurs über die Vereinbarung privat-religiöser und gesellschaftlich-säkularer Werte bedarf besonderer Sensibilität und muss zwingend darauf verzichten, eine ganze Religion als Ganzes zu verurteilen. Ebenso aber dürfen Stimmen nicht als Islamkritik pauschalisiert und abgetan werden, die sich ehrlich mit dem Verhältnis Islam und Integration auseinandersetzen. Ohne als Islamkritikerin verunglimpft zu werden, muss ich feststellen dürfen, dass muslimische Kinder wie Computer formatiert werden, wenn wir die religiöse Früherziehung in einem Großteil der Moscheen, islamischen Vereinen und Verbänden heute in Deutschland betrachten. Es muss erlaubt sein festzustellen, dass allen abrahamitischen Religionen das Prinzip göttlicher Strafe und Gnade als Kern ihres religiösen Lebens innewohnt. Religionsgeschichtlich ist das Christentum dabei nicht herauszunehmen. In Folge von Aufklärung und Säkularisierung hat ein historisch christlich geprägtes Deutschland diese theologische Maxime jedoch bereits überwunden. Wir haben uns mit dem Verhältnis Religion und Staat schon zu einer viel früheren Zeit auseinandergesetzt. Vor dem Hintergrund von Flucht und Migration ist es für den Islam spätestens heute an der Zeit, die Spannung zwischen religiösen und weltlichen Regeln aufzulösen. Bis heute steht in islamischen Kulturkreisen häufig noch immer das Wort Gottes über dem Menschenwort. Debatten wie über das Burka-Verbot sind daher nur Nebenschauplätze, hinter denen wir uns nicht verstecken dürfen. Sie adressieren nicht die Ursachen, sondern Begleiterscheinungen eines religiösen Grundverständnisses. Wenn beispielsweise Hassprediger in deutschen Moscheen Jesiden als Barbaren beschimpfen und dazu aufrufen, sie zu bekämpfen,1 ist es nur zweitrangig, was diese Imame sagen. Viel besorgniserregender sind die Rezipienten und ihre Einstellungen, bei denen solche Botschaften auf offene Ohren treffen. Die Aufgabe von Integration ist es, den individuellen sowie gesellschaftlichen Nährboden für solche Hassbotschaften zu nehmen. Denn unser deutsches Grundgesetz lässt es nicht zu, dass sich irgendjemand auf seinem Boden als Vollstrecker eines göttlichen Glaubens versteht. Eben dieses Phänomen in islamischer Ausprägung, der Salafismus bis hin zum Jihadismus, ist aktuell das wirklich Gefährliche. Um dem entgegenzuwirken, ist es entscheidend zu verstehen, dass es 1 Vgl. http://www.tagesspiegel.de/medien/der-moscheereport-mit-constantin-schreiber-hop pla-was-wird-denn-hier-fuer-eine-meinung-verbreitet/19570320.html, Stand: 25. 4. 2017.

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von denjenigen ausgeht, welche die Religion Islam nicht verstanden haben und sie vielmehr missbrauchen. Klare Differenzierung zwischen Religion und Ideologie Trotzdem, oder gerade deshalb, ist es jedoch sehr schwierig, so zu tun, als hätten politischer Islam und seine noch extremere Form, der islamistische Terrorismus, nichts mit der Religion Islam zu tun. Unsere Aufgabe besteht ganz klar darin, strikt zwischen Muslimen und Islamisten zu unterscheiden. Doch dieses Verständnis kann nicht allein aus den nicht-islamischen Teilen der Gesellschaft hergeleitet und etabliert werden. Es bedarf auch der Muslime, hier bewusst und öffentlich zur Aufklärung beizutragen. Alle Seiten müssen sich darin üben, präzise zu differenzieren. Dies wird für alle Seiten umso schwieriger, wenn, wie zuletzt jüngst in Berlin geschehen, Imame von großen Verbänden dem Terrorakt am Breitscheidplatz seinen islamistischen Hintergrund absprechen.2 Natürlich sind Entscheidungen islamistisch motiviert, wenn sich junge Männer dem sogenannten Islamischen Staat anschließen oder in seinem Namen, wie beim Anschlag am Breitscheidplatz geschehen, und im vermeintlichen Auftrag Allahs handeln. Jihadisten halten sich für fromme Muslime und mir fehlt es bisher an Bemühungen von islamischer Seite, ihnen diesen Status abzuerkennen. Hierbei kommt den religiösen Autoritäten eine zentrale Rolle zu, den Lehrern und Imamen, deren Verantwortung die Aufklärung ist. Als Theologen und Interpreten der religiösen Quellen kommt ihnen die Aufgabe zu, im öffentlichen Bewusstsein eine klare Trennlinie zwischen islamisch und islamistisch zu ziehen und auf diese hinzuweisen. Solange Gläubige zulassen, dass ihre Religion pervertiert wird, was zurzeit leider zu häufig mit dem Islam geschieht, gilt es gemäß Machiavellis „Jede religiöse Rede ist politische Rede“3, diese mit besonderer Sensibilität kritisch zu hinterfragen. Wenn wir das nicht tun, dann ist das unterlassene Hilfeleistung. Auch von Seiten der Aufnahmegesellschaft, der mehrheitlich vielleicht keine religiöse Verantwortung zukommt, die dennoch aber ihren Beitrag zu leisten hat, die offene und ehrliche Auseinandersetzung zu fördern und zu fordern. Dazu gehört zum einen eine offenere Debattenkultur, deren Unvollständigkeit ich oben bereits beschrieben habe. Dazu gehört zum anderen aber auch konsequenteres Vorgehen im Sinne eines wehrhaften Rechtsstaates. Hierbei denke ich beispielsweise an die Koranverteil-Aktion „Lies!“, welche wir viel zu lange haben gewähren lassen, obwohl klar gewesen ist, aus welcher Richtung sie kam und wohin sie wollte. 2 Aber im zweiten Atemzug Projekte vermeintlicher Präventionsarbeit und Deradikalisierung von staatlicher Seite fördern lassen. 3 Vgl. hierzu Machiavelli, Niccolò: Discorsi. Staat und Politik, Frankfurt a. M. / Leipzig 2000, S. 54, wo es heißt: „In der Tat gab es nie einen außerordentlichen Gesetzgeber bei einem Volke, der sich nicht auf Gott berufen hätte, weil seine Gesetze sonst gar nicht angenommen worden wären. Denn ein kluger Mann erkennt vieles Gute, aber die Gründe dafür sind nicht so augenscheinlich, daß man andere davon überzeugen könnte. Darum nehmen weise Männer ihre Zuflucht zu Gott […]“.

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Unter dem Aspekt der Wehrhaftigkeit unserer Demokratie müssen wir beginnen, bestimmte Selbstverständlichkeiten unserer säkularen Werte tatsächlich auch abzuverlangen. Und hier komme ich zurück auf die Gretchenfrage: „Wie hältst Du’s mit dem Grundgesetz?“ Dies ist die zentrale Frage für die Lehre der Imame und ihr Verhältnis bzw. das ihrer Religion zu den Werten des Landes, in dem sie leben und lehren. Hier finden wir den Zugang zu gläubigen Muslimen, für die ein als verhaltensbestimmend angesehener Koran zu oft mit der weltlichen Rechtsordnung kollidiert. Die Jugendlichen, mit denen ich im Rahmen meiner Arbeit spreche, beschreiben oft das Gefühl, sich zu versündigen, wenn sie demokratisch sein wollen. Die Spannung zwischen ihrer persönlichen Religion und ihrer säkularen Heimat bedeutet für junge Muslime oft eine Identitätskrise. Diesen Gewissenskonflikt müssen auch wir als Gesellschaft uns vergegenwärtigen und fragen, wie wir dabei unterstützen können, beides miteinander zu vereinbaren. Denn in letzter Konsequenz kann ein solcher Identitätskonflikt Nährboden für salafistische Rekrutierungsmaßnahmen bilden und unsere Sicherheit gefährden. Hier müssen wir und islamische Autoritäten von der religiösen Früherziehung an bis in die schulische Bildung hinein das Staatsverständnis an oberste Stelle setzen. Bisher wird die Religion zu oft und inadäquat als vorrangig behandelt. Darüber hinaus darf es von Seiten der Mehrheitsgesellschaft nicht darum gehen anzuprangern. Vielmehr müssen wir die selbstkritische Frage stellen: Haben wir diesen Menschen bessere Rezepte geliefert oder nicht? Werte leben (lassen) Meine Antwort auf die Frage nach einem guten Rezept ist Demokratieschulung, die wir selbstverständlich unter den verschiedenen Flüchtlings- und Migrantengruppen betreiben müssen. Wir können unsere Werte nicht als selbstverständlich voraussetzen und einfordern, ohne sie zu unterrichten. Im Rahmen der praktischen Arbeit meines Hilfsvereins treffe ich selten auf Jugendliche, die nicht dazu bereit sind, mitzugehen. Im Gegenteil, gerade bei meinen Begegnungen an Schulen merke ich häufig, dass eine Sehnsucht da ist, an die Hand genommen zu werden. Insbesondere männliche Jugendliche mit muslimischem und Migrationshintergrund haben große Schwierigkeiten in der Bewältigung ihres Alltags, mit Bürokratie, mit schulischen und gesellschaftlichen Strukturen. Sie kommen kaum hinterher und sind oft überfordert. Jeder, der hier aussteigt, wird zur Gefahr für die Gesellschaft. Dabei haben wir als Mehrheitsgesellschaft nicht nur restriktive Mittel, sondern können auch durch positive Anreize viel erreichen. Wir können Perspektiven schaffen, unsere Werte praktisch mit Leben füllen und so Orientierung geben. Wir dürfen nicht vergessen, dass es sich um Individuen handelt, jeder und jede mit Potenzialen, die wir im Grunde genommen nur belegen und sich positiv entfalten lassen müssen. Und dies tun wir, indem wir allen Mitgliedern unserer Gesellschaft das Gefühl geben, dass sie in diesem Land unabhängig von ihrer Herkunft alles erreichen können, was sie wollen. Der Begriff der Integration umschreibt vieles, vor allem aber auch die Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen und an wirtschaftlichen Gütern. Strukturelle Grenzen der

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Diskriminierung darf es nicht geben, denn sobald Menschen Ungerechtigkeit erleben und ein Ungleichgewicht verspüren, steigen sie aus. Wir müssen mitspielen lassen und belohnen, wenn dies getan wird. Im Interesse eines jeden sollten wir daher aber auch uneingeschränkt Eigenverantwortung voraussetzen, denn Integration ist eine bewusste Entscheidung. Als Aufnahmegesellschaft können wir diesen Willen einfordern, mit Herzlichkeit, aber auch mit Härte. Entsprechend halte ich Ahmad Mansours Zuspitzung angebracht, wenn er mahnt, Migranten nicht zu Opfern zu reduzieren und zu Kuscheltieren linksliberaler Gutmenschen zu stilisieren.4 Ich erlebe es oft und zähle mich vor dem Hintergrund meiner eigenen Biographie dazu, dass Jugendliche aus weniger privilegierten sozialen Verhältnissen einen Biss, einen Hunger und Ehrgeiz entwickeln, der sie vorantreibt und motiviert. Diese Energie in Positives umzuwandeln und dadurch etwas zu erreichen, ist Teil unseres German Dream, von dem ich überzeugt bin, dass er existiert. Während der American Dream in den USA zunehmend als Legende abgetan wird, kann ich selbstbewusst sagen, dass der German Dream gelebt wird bzw. gelebt werden kann. In diesem Sinne fallen mir Mädchen, auch und gerade mit muslimischem und migrantischem Hintergrund, oft als sehr stark auf. Sie erscheinen mir als das stärkere Geschlecht, als sehr ambitioniert und ehrgeizig. Sie haben für sich erkannt, dass Bildung und Leistung für sie einen Weg in die kulturelle Selbstbestimmtheit und Freiheit bedeuten. So war es in gewisser Weise auch bei mir und so beobachte ich es auch bei meinen Schwestern, von der Profifußballerin bis hin zur DJane. Dies zeigt, wie sehr die Emanzipation der Frau mit der Frage der erfolgreichen Integration zusammenhängt. Wenn es der Frau gelingt, sich frei zu machen, insbesondere von sie einschränkenden Religionsverständnissen, dann ist das in der Regel ein ganz gutes Zeichen, auch für den beständig nötigen innerfamiliären und innerkulturellen Diskurs. Denn um Parallel- und Gegengesellschaften zu verhindern, bedarf es eines stetigen Austausches zwischen Eltern- und Kindergenerationen. Auch hier liegt noch zu viel Potenzial brach, durch die Würdigung positiver Geschichten der Integration Anerkennung auszusprechen und positiv in die verschiedenen Winkel unserer Gesellschaft strahlen zu lassen. Solche kleinen Heldengeschichten sollten wir viel bewusster und öffentlich erzählen, im Sinne der Bestätigung des Einzelnen als auch der Gesellschaft. Das gegenwärtige Medienverhalten, die Schwarzmalerei und die Dichotomie eines Entweder-oder, polarisiert durch ihre unausgewogene Berichterstattung zum Vorteil von Skandalen und zum Nachsehen der Erfolgsgeschichten. Die positive Dynamik, Gutes zu tun und darüber auch zu reden, sollte nicht unterschätzt werden. Dies sage ich beispielsweise auch mit Blick auf die bayerische Integrationspolitik,

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Vgl. http://m.taz.de/!5317219;m/, Stand: 25. 4. 2017; hier nehme ich auch die Jesiden in die Verantwortung, die nicht alle nur Opfer sind oder nicht alle genug dazu beitragen, sich zu integrieren und in einer neuen Gesellschaft anzukommen. Wir haben als Religion z. B. mit orientalisch-patriarchalischen Strukturen zu kämpfen, konkret mit Ehrenmorden oder auch Polygamie.

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die beachtliche empirische Erfolge vorzuweisen hat,5 was jedoch kaum öffentlich oder über die Landesgrenzen hinaus hinreichend kommuniziert wird. Es stellt sich also die Frage, inwiefern wir als Mehrheitsgesellschaft eigentlich selbst zur Spaltung beitragen. Als Hilfsverein Hawar.help ist es uns daher ein besonderes Anliegen, uns für alle Stimmenlosen stark zu machen. Dabei verstehen wir uns auch als Mediatoren und Übersetzer, die hörbar machen, was bisher nicht oder nicht genug gehört wird. Neben der Verfolgung von Jesiden weltweit setzen wir uns daher auch sehr intensiv gegen Antisemitismus und Rassismus ein. Unsere innerdeutschen Stipendienprogramme sind konfessionsübergreifend, wir fördern ebenso Jesiden wie Atheisten, Muslime und Religionsangehörige aller anderen Glaubensrichtungen. Denn jede und jeder, unabhängig der Herkunft und des Glaubens, hat Respekt verdient. Jeder, der mitspielen möchte, sollte die Chance dazu haben und mit Anerkennung belohnt werden, wenn er dies tut. Um zu verdeutlichen, was ich meine, nehme ich gerne die Analogie des Fußballfeldes zu Hilfe, ein Vergleich, auf welchen mich meine Schwester, die Profifußballerin, aufmerksam gemacht hat. Auch auf dem Fußballfeld gibt es gewisse Regeln, an die man sich zu halten hat, deren Einhaltung die Voraussetzung zum Mitspielen ist. Ähnlich pragmatisch sollten wir in Deutschland unsere Debatte über die Vereinbarkeit von Islam und Integration führen. Und wie beim Fußballspiel aber auch erkennen, dass die Herausforderung Integration trotz ihrer pragmatischen Notwendigkeit auch eine hoch emotionale Angelegenheit für alle Beteiligten bleibt. Politischer Handlungsbedarf Ich kann mir vorstellen, dass es im Moment gerade für Muslime hier in Deutschland keine einfachen Zeiten sind. Sie werden in Geiselhaft genommen, ihre säkulare Stimme aber kaum gehört. Eine große Frustration droht sich deshalb unter ihnen auszubreiten. Viele säkulare Muslime beklagen, dass ihre Meinung und ihre Integrationsleistung nicht zu zählen scheinen, während sie von anderer Seite wiederum als Nestbeschmutzer beschimpft werden. Beides liegt natürlich daran, dass die progressiven Muslime in Deutschland wenig organisiert sind. Sie leben ihre Religion meist individuell, statt in einer Gemeinde oder einem Verband institutionalisiert, die oder der sie im Sinne eines gemeinsamen Sprachrohres repräsentieren könnte. In der öffentlichen Wahrnehmung fehlt es daher an einem Gegenpol zu den dominant auftretenden, konservativen und rückwärtsgewandten islamischen Verbänden. Für dieses Ungleichgewicht trägt auch der deutsche Staat eine Teilverantwortung, als dass wir diese unausgewogenen Strukturen viel zu lange nicht nur zugelassen, sondern durch Finanzierung mit rechtsstaatlichen Mitteln selbst gefördert haben. Es ist an der Zeit, eben diese islamischen Organisationsstrukturen noch einmal genau zu prü5 Vgl. https://www.hss.de/news/detail/bayern-modellland-der-integration-news336/, Stand: 17. 4. 2017.

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fen. Wir müssen und können dafür sorgen, dass Moscheen Orte der Integration werden, und nicht, wie so häufig bisher noch der Fall, das Gegenteil bleiben.6 Deshalb unterstütze ich die Einführung eines Zentralregisters für Moscheen. Im Rahmen einer solchen Erhebung sollte zudem erfasst werden, wer die jeweiligen Imame sind, woher sie kommen, was sie predigen und welche Amtshandlungen sie vornehmen. Wir haben beispielsweise keinerlei Übersicht über in Moscheen geschlossene Ehen und damit über das gemäß des deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs, § 1306, verbotene Phänomen der Polygamie. Wir brauchen konkretere Handhabungen, wie wir mit sogenannten „Google-Imamen“ umgehen und diese zur Verantwortung ziehen können, wenn sie online gefährliches und hetzerisches Halbwissen verbreiten. Dies sind nur einige wenige Beispiele, wo wir mehr politisches Eingreifen brauchen. Angesichts dieses großen Bedarfs halte ich die Einrichtung eines Integrationsministeriums für dringend notwendig. Die für Deutschland seit der Flüchtlingskrise 2014/ 15 typische Willkommenskultur ist sehr begrüßenswert, doch es fehlt der ergänzende, zwingend nötige Schritt hin auch zu einer Ankommenskultur. Diese zu vermitteln und einzufordern geht über die Kapazitäten zivilgesellschaftlichen Einsatzes7 hinaus. Ebenso, wie oben beschrieben, bedarf es mit Blick auf Migration und Integration in Deutschland einer deutlicheren Darstellung unserer Werte. Hier kann ein Einwanderungsgesetz den Prozess der Migration von Anfang an in unserem Interesse, im Interesse der Aufnahmegesellschaft, steuern. Die Vorgaben für ein Zusammenleben in Deutschland müssen von der Mehrheitsgesellschaft kommen. Wenn wir unsere Regeln klar definieren, dann können wir auch darüber bestimmen, wer in dieses Land kommt. Die Bleiberechtsfrage kann klar von der Wertefrage abhängig sein, Kanada lebt es vor. Deshalb hoffe ich auf ein deutsches Einwanderungsgesetz in der kommenden Legislaturperiode. Damit würde auch die Gretchenfrage ganz zu Beginn eines jeden Migrationsprozesses gestellt und die Antwort weder für Befragte noch für Fragende zu einer Überraschung.

Düzen Tekkal ist freie Journalistin, Filmemacherin, Kriegsberichterstatterin (Schwerpunkt Syrien, Irak), Autorin und Publizistin für Spiegel TV, Stern TV und ARD. Sie gründete im Jahr 2015 den gemeinnützigen Verein Hawar.help für humanitäre Hilfe, dessen Vorsitzende sie bis heute ist. Zudem ist sie Politikberaterin und war im Schattenkabinett von Julia Klöckner für den Themenbereich Integration und Frauen verantwortlich.

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Vgl. http://www.tagesspiegel.de/medien/der-moscheereport-mit-constantin-schreiber-hop pla-was-wird-denn-hier-fuer-eine-meinung-verbreitet/19570320.html, Stand: 25. 4. 2017. 7 Dessen Qualität und Quantität ein bereits so wichtiges und erfreuliches Ausmaß angenommen hat und weitaus deutlichere Würdigung verdient.

Aufklärung, Leitkultur, Integration und der muslimische Citoyen Von Aiman A. Mazyek Heute neigen wir Muslime dazu, der sinnfreien Politik der Angst, der sich einige politische Parteien verschrieben haben, mit einem reflexartigen Re-Aktionismus zu begegnen. Wir schlittern von einer Reaktionsblase in die nächste Reaktionsblase und von einer Erregung in die nächste, um den Ideologen der Angst zu widersprechen. Die gestalterische Kraft der eigenen Initiative entgleitet uns dabei zusehends. Islambild versus Islamkritik Die Frage sei gestellt, ob tatsächlich alle öffentlich oder privat agitierenden Maulhelden die Anerkennung, Aufmerksamkeit und Beachtung, die sie durch unseren Widerspruch erfahren, verdienen. Auch mir gelingt es zu selten, die uns vor die Füße geworfenen Fehdehandschuhe eben nicht aufzunehmen, selbst wenn dies mit unverhohlenen Hetztiraden oder subtilen, gegen den Islam gerichteten Untertönen geschieht. Der Agent provocateur genießt die ihm durch Aufmerksamkeit geschenkte Kurpackung, die ihm Muslime mit ihrer Neigung zum Re-Aktionismus gewähren. Ein qualifizierendes Moratorium könnte vielleicht als praktische Option zur Überwindung einer in Sachen Islam weit verbreiteten und von Hochmut getragenen Debattenkultur, die sich auch in Form von geschwätzigen Talkshows präsentiert, ins Auge gefasst werden. Muslime werden so zu Akteuren. Sie sind nicht mehr Getriebene der selbst ernannten nichtmuslimischen „Experten“ und sogenannten Islamkritiker, die von zwei Dingen überhaupt nichts verstehen: nämlich vom Islam und wie man Kritik betreibt. Ein flüchtiger Blick auf die aktuelle Qualität des Diskurses lässt aufmerksame und interessierte Beobachter nicht selten zu dem Schluss kommen, dass dieser der verschreckten Öffentlichkeit zu oft ein Islambild vermittelt, das den Islam als für die Moderne ungeeignet betrachtet, als unfähig, auf die Komplexität der heutigen Welt zu reagieren. Nun hascht der Kritiker nach Aufmerksamkeit, und wie kann man das am besten? Seine populistischen, pauschalen – und inhaltlich wider besseres Wissen formulierten – Aussagen über den Islam sind schäbig und eines Philosophen solchen Ranges unwürdig. In einem Artikel heißt es allen Ernstes: „Mit dem Islam lässt sich keine authentische Zivilgesellschaft führen.“1 Diese Aussage tätigte Peter 1

http://www.kath.net/news/53778, Stand: 9. 5. 2017.

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Sloterdijk unlängst. Zudem billiger Alarmismus: „Asylanten überrollen uns.“2 Solche Einwürfe haben ihm zu Recht Kritik eingebracht. Schmallippig warf er seinen Widersachern vor, eine zunehmend reflexartige Debattenkultur in Deutschland zu pflegen.3 Als der „Staatsphilosoph“ Peter Sloterdijk damals noch das Philosophische Quartett moderierte, habe ich einige seiner Auftritte bewundert. Auf die Bitten Martin Walsers, den er in seiner letzten Sendung4 eingeladen hatte, er möge doch weitermachen, sagte er, er freue sich, sich nun wieder nur auf die Philosophie zu konzentrieren und dass nun die Neider in einem erheblich kleineren Umfang auf ihn eindreschen würden. Das fand ich bemerkenswert. Scheinbar hat ihm das Abtauchen in nicht-populäre Gefilde aber nicht so gutgetan. Fortwährend ist die Rede von der Notwendigkeit einer „islamischen Aufklärung“, als ob die Mechanismen der historischen Konfrontation zwischen Aufklärung und kirchlichem Christentum auf den Islam überhaupt angewendet werden können. Ein selbst auferlegtes Moratorium, aber kein Dialog des leeren Stuhles könnte langfristig den scheinheiligen Diskurs, der der breiten Öffentlichkeit gegenwärtig als Versuch der Annäherung präsentiert wird, als Scharade demaskieren. Dennoch, Muslime müssen eingestehen, dass die Notwendigkeit einer Aufklärung (keinesfalls in der durch das Christentum vorgegebenen Bedeutung) nicht von der Hand zu weisen ist. Aber nicht der Islam trägt Verantwortung für die derzeitige Misere in der muslimischen Welt, sondern es sind – neben einer Vielzahl von externen Faktoren – Subjekte, Menschen, Muslime eben selbst, die ihren Anteil zu dieser Misere beitragen. Eine selbstkritische Nabelschau in dieser Situation wird zeigen, dass der Allgemeinzustand des gegenwärtigen muslimischen Geistes in fast allen Belangen überholungsbedürftig ist. Negative Bewertungen des Islam in Gesellschaften mit nichtmuslimischen Mehrheiten ausschließlich dem Wirken der professionellen nichtmuslimischen Hassprediger zuzuschreiben, wäre zu kurz gegriffen und heuchlerisch. Der Islam lehrt den Muslim, sich in seinem gesellschaftlichen Umfeld vorbildlich zu verhalten, dies gilt vor allem in Gesellschaften, in denen sich Muslime in der Minderheit befinden. Das Geschwätz der selbst ernannten und auf Bestsellerlisten schielenden Islamexperten, die dieses Verhalten als Täuschungsmanöver beziehungsweise Taqqiya5 diskreditieren, können Muslime dabei getrost ignorieren. Muslime, die in europäischen Gesellschaften beheimatet sind, müssen aus ihrem bisweilen tiefen Schlummer aufwachen, sich von ihrem gelegentlichen Selbstmitleid verabschieden und damit aufhören, einer glorreichen Vergangenheit nachzutrauern. Die nostalgische Erinnerung an eine eindrucksvolle muslimische Vergangenheit, die sich in Europa zum Beispiel in Cordoba, Granada, Malta, auf 2

http://www.tagesanzeiger.ch/ausland/europa/merkel-ging-einen-teufelspakt-ein/story/ 16212849, Stand: 9. 5. 2017. 3 Ebd. 4 https://petersloterdijk.net/das-philosophische-quartett/die-kunst-des-aufhoerens/, Stand: 9. 5. 2017. 5 Die Annahme, dass das „sich Verstellen“ ein religiöses Gebot sei.

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dem gesamten Balkan oder auch in Istanbul in großer Vielfalt manifestiert, kann uns vielmehr helfen, Energien zu entwickeln, um die bittere Wirklichkeit von heute, in der sich Muslime verfangen haben, zu verstehen. Das Zeitalter der ausgeprägten zivilisatorischen, wissenschaftlichen und kulturellen Blüte in den muslimischen Ländern war das Ergebnis von harter Arbeit und ebenso leidenschaftlicher wie auch fleißiger, gottergebener Bemühung. Das Wissen um eine prächtige Geschichte, die zum festen Bestandteil des kollektiven muslimischen Gedächtnisses geworden ist, kann eine, aber eben nicht die einzige Grundlage sein für die erfolgreiche und konstruktive Gestaltung unserer Zukunft in einem multikulturellen, multireligiösen Europa. Gerade Europa bildet und bietet aufgrund seiner geographischen, ethnischen, religiösen und kulturellen Vielfalt die beste Voraussetzung für einen konstruktiven, fruchtbaren Umgang mit Vielfalt und Multikulturalität. Muslime in der Verantwortung Muslime sind aufgefordert, die Gegenwart mitzugestalten. Die muslimische Gemeinschaft entwickelte sich auf der Basis der reformatorischen Kraft in der menschlichen Geschichte. An ihrem Anfang stand das Wort „Iqra“, das erste dem Propheten Mohammed hinabgesandte Wort des Koran; es ist das arabische Wort für „lies“ und ist damit eine unmissverständliche Aufforderung zur Wissenserweiterung. Doch die muslimische Wissensgemeinschaft hat sich von diesem Auftrag weit entfernt. Die Zahl der Haushalte in muslimischen Mehrheitsgesellschaften, die über Bücher verfügen, geschweige denn über eine kleine Bibliothek, ist enttäuschend gering. Der Mangel oder das Fehlen von authentischem Wissen ist der muslimischen Welt und auch der deutschen Muslime größtes Handicap. Im Gegensatz zu den grundlegenden, Veränderung fordernden Lehren des Islam neigen Muslime nicht selten dazu, ihre Religion auf eine mechanische Praxis der Rituale zu reduzieren. Dies macht es schwierig, Verständnis zu entwickeln und Nichtmuslimen die Angst vor dem Islam zu nehmen. Die berechtigte Forderung, in nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaften objektiv und vorurteilsfrei beurteilt und nicht aufgrund von Religionszugehörigkeit verurteilt beziehungsweise auf ein gesellschaftliches Abstellgleis geschoben zu werden, kann nur schwer in Abrede gestellt werden, wenn Muslime auch Vertrauen durch Klarheit im Handeln erlangen. Dies ist mitnichten ein Aufruf zum Opportunismus oder zur Unterwürfigkeit, sondern ein Aufruf zur zuverlässigen Partnerschaft im Sinne der Lehren des Islam, eine Aufforderung zur analytischen Loyalität, ein Appell, den inneren Maßstäben der Gerechtigkeit zu dienen, eine Befürwortung der Praxis uneingeschränkter Gerechtigkeit und Aufrichtigkeit.

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Der muslimische Citoyen Das islamische Konzept der Ummah6 kann einem Muslim das Verständnis für die Konzeption eines Citoyen in der Moderne vermitteln, eines lokal wie auch global denkenden und agierenden Individuums, das sich darum bemüht, seiner Verantwortung im Leben lokal wie auch global gerecht zu werden. Ein muslimischer „global citizen“, der sich zum Beispiel gleichermaßen für Umweltschutz und gegen jede Form von Rassismus vor seiner Haustür wie auch für die Einhaltung der Menschenrechte im Mittleren Osten einsetzt. Mit dieser Haltung und einem fundamentalen Verständnis von Ummah werden Muslime in Europa mittel- wie auch langfristig mehr Anerkennung für ihre gerechten Anliegen erlangen können. Dieses Verständnis von Ummah ist keine Errungenschaft modernen muslimischen Denkens. Es knüpft vielmehr an die vom Propheten des Islam begründete erste Ummah im Stadtstaat Medina an. Es ist aber ebenso der Tradition der „fraternité“ der Französischen Revolution oder des Schiller’schen Gedankens „alle Menschen werden Brüder“ verhaftet. Diese Ummah war multikulturell und multireligiös aufgestellt, und nur aus diesem Grund war sie in der Lage, den jahrelangen Diffamierungen erfolgreich zu widerstehen. Eine so definierte Basis eines neuen Verständnisses von wir wäre auch heute vollkommen auf der Höhe der Zeit. Wir stehen vor der großen Herausforderung, diesen vielversprechenden Geist wieder zu entdecken und zu beleben. Die kreative und selbststabilisierende, den Charakter formende Kraft wird uns aus der Lethargie führen, in die wir uns schon seit so vielen Jahren verirrt haben. Muslime müssen wieder begreifen, dass der Islam in seiner ganzen intellektuell anspruchsvollen Tiefe und seiner zivilisatorischen Kraft keineswegs in einem Konflikt mit den weltlichen Gesetzgebungen ihrer europäischen Heimatgesellschaften steht. Europa bietet Muslimen, die bereit sind, die Herausforderungen in der Ummah anzunehmen, den intellektuellen Freiraum, um nicht nur aktiv an einer Neuausrichtung dieses Denkens mitzuwirken, sondern es auch einzuleiten. Dabei können wir Muslime in Europa um das ideologische und schwammige Schlagwort „Integration“ einen großen Bogen schlagen. Nach Oslo und nach mehr als tausend registrierten Gewalttaten rechtsradikaler Täter in Deutschland allein im Jahr 2015 müssen sich die Verfechter der sogenannten Leitkultur zudem fragen, ob es nicht langsam an der Zeit ist, die fortwährende Diffamierung des Begriffes Multikultur zu beenden. Der Massenmord von Oslo, der europaweite Wildwuchs rechtsnationaler Parteien, die wie ein Katalysator für unzählige mörderische Gewalttaten wirken, muss als Fanal für einen uniformierenden Leitkulturalismus angesehen werden. Diese besorgniserregenden Entwicklungen, die Europa verraten, sind auch das Resultat einer sich in Europa seit Jahren bahnbrechenden ideologisch geprägten Verhetzung von Islam und Muslimen. Muslime müssen nicht vor allem integriert werden, sie sind bereits ein unbestreitbarer Teil der euro6 Bezeichnet allgemein gesprochen die Gemeinschaft der Muslime. Viele Gelehrte – dies ist auch meine Position – beschreiben damit auch die Gemeinschaft der Menschen, ja der Tiere und Pflanzen.

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päischen Gegenwart und der Geschichte Europas, eine Tatsache, die viele Agitatoren in ihr beschränktes Verständnis von Europa nicht integrieren können und wollen. Muslime sind nicht zu Gast in den europäischen Gesellschaften, sie sind integraler Teil dieser, ihrer europäischen Heimat. Jenseits des materiellen Beitrags, den Muslime in ihren europäischen Heimatgesellschaften leisten, fordert der Islam Muslime dazu auf, ihre Umgebung mitzugestalten, weiterzuentwickeln und ihr Angebote zu machen. Auch hier muss ein Umdenken unter Muslimen stattfinden. Die langjährige zähe und weiterhin ergebnisoffene Auseinandersetzung zwischen Muslimen und staatlichen Institutionen hinsichtlich der rechtlichen Verortung des Islam im Gefüge des Gemeinwesens sollte Muslimen in Europa Anlass sein, sich zum Beispiel der großartigen Tradition des „Waqf“, des Islamischen Stiftungswesens, zu erinnern. Nur auf diese Weise kann die Unabhängigkeit der Islamologie gewahrt werden, eine Grundvoraussetzung, um in der muslimischen Lehre und der Lebenspraxis Tradition und Moderne jenseits jeglicher politischer Einflussnahmen wieder miteinander in Einklang zu bringen. Muslimen in Europa wird eine Atmosphäre von Freiheit und Unabhängigkeit des Denkens geboten, um die sie Muslime in Ländern mit muslimischen Mehrheiten beneiden. Muslime in Europa sollten diese optimalen Bedingungen nutzen, doch weder im Interesse eines obskuren, konturlosen und entmündigten „Euro-Islam“, noch eines Neo-Salafismus, der in Wirklichkeit eine folkloristische und bisweilen gefährliche Protestbewegung ist. Muslime in Europa sollten erkennen, dass sie eine Verantwortung gegenüber der Gesellschaft, in der sie leben, tragen. Sie müssen sich dem Wettbewerb der Ideen stellen, im Interesse einer neuen Nachdenklichkeit und Nachhaltigkeit, um den „Islam als Barmherzigkeit“ im Herzen von Europa zu entwickeln und zu positionieren. Zum Nutzen Europas und zum Wohle der Schöpfung im Allgemeinen und nicht zuletzt im Dienst ihrer Träume von einer besseren Zukunft. Jenseits politischer Grabenkämpfe, von denen Muslime sich nicht allzu sehr irritieren lassen sollten, können sie das auch in Deutschland sehr gut tun. Muslime sind freie Bürger dieses Landes, die sich ihrer Pflichten und ihrer Rechte bewusst sind, Pflichten, denen sie nachkommen müssen, und Rechte, die sie selbstverständlich in Anspruch nehmen dürfen. Muslime bereichern Deutschland und machen dieses Land lebenswerter. Muslime sind Teil der Zivilgesellschaft, sie gestalten und verändern diese Gesellschaft. Manchmal fordern sie diese auch heraus. Und natürlich müssen sie die Gegenwart konstruktiv und positiv herausfordern, denn nur so können Muslime die Zukunft Deutschlands und Europas mitaufbauen und mitgestalten, und exakt das ist auch gut so. Wer baut, will bleiben – Moscheen und der Muslime Heimat Ein bekanntes arabisches Sprichwort sagt: Hubul wattan minal iman – Heimatliebe kommt vom Glauben. Doch leben die Muslime hierzulande in der Heimat, die sie

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lieben? Betrachten sie Deutschland als ihr Vaterland, als Glaubens- und Herzensangelegenheit? Viele von ihnen sind qua Geburt oder Sozialisation Deutsche. Ihre Eltern sind vor einem halben Jahrhundert auf Einladung Deutschlands als sogenannte Gastarbeiter hierhergekommen. Doch die Identifikation mit ihrer neuen Heimat ist leider allzu oft noch immer ein kleinwüchsiges Pflänzchen. Das sehen wir unter anderem daran, dass deutsche Fußballstars mit türkischen Wurzeln doch lieber in der türkischen als in der deutschen Nationalmannschaft spielen. Die „Aufnahmegesellschaft“ verhält sich aber auch nicht anders. Obwohl ich hier geboren und aufgewachsen bin, werde ich immer noch gefragt, für welche Nationalmannschaft ich die Daumen drücke. Mich irritiert die Frage, weil es für mich schon als Kind nichts anderes gab, als mit den Deutschen zu fiebern, obgleich ich schon damals – denn das hat sich ja erfreulicherweise heute geändert – erkannte, dass wir nicht immer den schönsten Fußball spielten. Das war mir aber „wurscht“. Und war es nicht schon fast schaurig schön, als die „Welt zu Gast bei Freunden“ war und Deutsche und Türken – mit und ohne Kopftuch – Schwarz-Rot-Gold trugen? Sie alle gemeinsam haben die Weltmeisterschaft zu einem Volksfest gemacht. Die Welt hat sich anno 2006 verwundert die Augen über „uns Deutsche“ gerieben. Lang ist‘s her. Und man will die greifbaren Erinnerungen konservieren. Damals ist vielen klar geworden – selbst den Berufszynikern und Allesbekritlern, die immerfort bei solchen Aussagen den gefährlichen Gutmenschen wittern –, dass es in Deutschland auch anders, eben gemeinsam gehen kann. Bei Freunden zu Hause? Ist der Islam hierzulande überhaupt schon angekommen? Ich meine, ja. Denn der Islam ist überall auf der Welt zu Hause. Er bejaht ausdrücklich die Verschiedenartigkeit und bunte Vielfalt der Menschen. „Und niemals sendeten Wir einen Boten, als in der Sprache seines Volkes, damit er rede ihnen deutlich“ (14:4). Die Menschen sind diesem Verständnis nach verschieden, weil sie einander besser kennenlernen sollen. Menschen sollen nicht nach ihrer Volks- oder Ethnienzugehörigkeit beurteilt werden, sondern nach ihrer Rechtschaffenheit und Aufrichtigkeit. Ein Wetteifern um diese Werte würde uns sicherlich entspanntere Zeiten und weniger Ängste bescheren. Doch Muslime sind fehlbar wie alle Menschen. Sie handeln leider nicht immer so, wie es ihnen der Koran empfiehlt. Ein weit verbreitetes islamisches Sprichwort sagt: „Lebe, als würdest du morgen sterben und als würdest du ewig leben.“ Mit anderen Worten: Wir Muslime sollen hier unser tägliches Leben gestalten, wir sollen hier unsere Wohnhäuser für uns und unsere Nachkommen im Diesseits bauen. Und wir sollen gleichzeitig unsere Gotteshäuser hier errichten, damit wir uns darin auf unsere Begegnung mit Gott im Jenseits vorbereiten können. Ignaz Bubis, der langjährige Vorsitzende des Zentralrats der Juden, hat einmal zum Bau von Gotteshäusern gesagt: „Wer baut, will

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bleiben.“7 Doch wie viele Muslime leben immer noch auf gepackten Koffern, als wollten sie morgen abreisen? (Und damit meine ich nicht die Geflüchteten der Gegenwart.) Sie investieren lieber in ein prachtvolles Haus in einer fernen, oft fremd gewordenen Heimat. Sie erdulden im Gegenzug ein Leben in einer zu engen Wohnung – oft irgendwo am Rande der Stadt, am Rande der deutschen Gesellschaft. Und wenn sie sich anschicken, Moscheen zu bauen, dann orientieren sie sich gerne an der traditionellen Architektur ihrer Herkunftsländer. Das ist an sich kein Problem, aber es zeigt leider auch, dass sich Muslime hierzulande oft scheuen, nach neuen Wegen – jenseits der vertrauten heimatlichen Gefilde – Ausschau zu halten. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel ist das etwas anders. Dort gibt es mehr als 2.000 Moscheen, die die traditionelle muslimische Bauweise mit moderner amerikanischer Architektur verbinden. Beispiele dafür gibt es auch hier in Deutschland, etwa die wunderbare Moschee im oberbayerischen Penzberg. Aber sie sind, gemessen an der Notwendigkeit, sich in der deutschen Gesellschaft „zu verheimaten“, noch zu selten. In der neuen Heimat ankommen heißt auch, mit neuen Ideen zu experimentieren. Der Islam ist nicht statisch, er ist dynamisch. Muslimische Amerikaner kopieren nicht einfach Vorbilder aus Istanbul, Kairo oder Islamabad. Sie entwickeln Eigenes und zeigen damit Selbstbewusstsein in ihrer neuen Heimat und ein Bewusstsein für ihre neue Heimat. „Und wenn die Türken kämen, dann würden wir ihnen Moscheen bauen“ Um aber eine sich ausbreitende Stimmung der Intoleranz gegenüber Muslimen zu ändern, brauchen wir mehr denn je den Dialog der Religionsgemeinschaften. Wir müssen die Begegnung aller gesellschaftlichen Gruppen fördern. Mir fällt einiges dazu ein, wie wir das hinkriegen können: Tage der offenen Moschee, Kirchentage, Islamkonferenzen. Aber mehr als alles andere brauchen wir das Gespräch mit unseren Nächsten, mit den Nachbarn, den Bekannten, den Arbeitskollegen. Und wir brauchen viel mehr mutige Politiker und Journalisten, die klar Position beziehen gegen Intoleranz und Angstmache. In Zeiten sozialer und globaler Verunsicherung sowie zunehmender Identitätskrisen fallen einigen Leuten nur noch Sündenbockdiskussionen und Schwarzer-Peter-Spiele ein. Ich wünsche mir, dass sich in Zukunft Politiker, Journalisten und Kirchenfrauen und -männer klarer und deutlicher dagegen engagieren. Ich wünsche mir, dass der Geist der europäischen Aufklärung, auf die wir zu Recht so stolz sind, die Integrationsdebatte um folgenden Gedanken von Friedrich II. bereichert, der 1740 verfügt hat: „Alle Religionen sind gleich und gut, wenn nur die Leute, die sich zu ihnen bekennen, ehrliche Leute sind. Und wenn die Türken […] kämen und wollten hier im Lande wohnen, dann würden wir ihnen Moscheen […]

7 http://www.tagesspiegel.de/kultur/ignatz-bubis-der-unermuedliche/858570.html, Stand: 9. 5. 2017.

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bauen.“8 Unsere Toleranzfähigkeit misst sich nicht am Getöse, mit dem wir wie oft das Wort Toleranz in den Mund nehmen, sondern daran, ob man Toleranz lebt und bereit ist, dafür einzustehen, selbst wenn es, wie derzeit, noch so unpopulär erscheint. Ein Minarett ist eben nicht das Ende des Abendlandes. Bei aller verständlichen Aufregung: Wir müssen die Moschee im Dorf lassen. In der Schweiz ging es damals um vier Minarette für rund 400.000 Muslime. Politiker und Medien haben in dem einstigen Modellstaat für Toleranz rechten Demagogen und Scharfmachern das Feld überlassen. Diese haben eine hysterische Angstdebatte über Ausländer und Muslime losgetreten. Ohne jedes Augenmaß und fern aller Fakten. Angst macht blind, das wissen wir. Angst führt zu Fehlentwicklungen. Genau das ist in der Schweiz passiert. Fehler lassen sich korrigieren. Und genau darauf hoffe und vertraue ich. Oft wird bei der Debatte auch ins Feld geführt, ob Muslime hier in Deutschland Moscheen und Minarette bauen dürften, hänge doch davon ab, ob Christen in einigen sogenannten islamischen Ländern ihrerseits Kirchen bauen dürften. Diese Argumentation beschreibt auf den Punkt das Dilemma und auch die Unwürdigkeit in der Diskussion. Muslime werden dabei zu Paria, ja zu Vasallen eines anderen Staates gemacht, und die vom Grundgesetz zuerkannte Religionsfreiheit für alle wird eingeschränkt, zumindest an Bedingungen geknüpft. Diese Reziprozität ist ein rechtsstaatlich absurdes Theater, oft auch vor dem Hintergrund, dass nicht wenige Muslime in ihren Ländern ebenso Repressionen und massive Einschränkungen, was die Menschenrechte angeht, erleben. Tag der offenen Moschee (ToM) Jedes Jahr öffnen bundesweit über tausend Moscheen ihre Pforten zum „Tag der offenen Moschee“. Diese Aktion geht auf eine im Jahre 2007 gestartete Initiative des Zentralrats der Muslime in Deutschland zurück und entwickelte sich zum Selbstläufer. Moscheen aller islamischen Verbände nehmen Jahr für Jahr daran teil. Der bewusst gewählte Zeitpunkt am Tag der Deutschen Einheit soll das Selbstverständnis der Muslime als Teil der Deutschen Einheit und ihre Verbundenheit mit der Gesamtbevölkerung zum Ausdruck bringen. Der Tag wird veranstaltet zur Information, zur Selbstdarstellung und zum gegenseitigen Kennenlernen. Es geht um Öffnung und Dialog. Die Menschen sollen sich ein eigenes Bild vom Islam und von den Muslimen machen und sich eine Meinung bilden. Meist führt fehlendes Wissen über Muslime zu Vorurteilen, die ein gedeihliches Miteinander in der Gesellschaft erschweren. Dies lag oft auch an den beschränkten Möglichkeiten der Muslime, Wissen weiterzugeben und Fragen zu beantworten. Sprachliche Barrieren und fehlende Bereitschaft der Ansprechpartner kamen in der Vergangenheit hinzu. Durch fähige Moscheeführer wird heute dem Informationsbedürfnis der Bevölkerung stärker Rechnung getragen, als es 8 Lehmann, Max: Preussen und die katholische Kirche seit 1640. Nach den Acten des Geheimen Staatsarchives. 2. Theil. 1740 – 1747. Leipzig 1881, S. 4.

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noch vor Jahren der Fall war. Viele Moscheen sorgen auch für das leibliche Wohl ihrer Besucher und bieten musikalische Darbietungen an, was zu einer anregenden Atmosphäre beiträgt. Hemmschwellen können damit abgebaut werden, denn Besucher kommen oft zunächst mit einem gewissen Unbehagen. Viele sind misstrauisch und wollen sich nur vergewissern, ob ihre Nachbarn den negativen Stereotypen aus den Medien tatsächlich entsprechen. Für viele Besucher ist es der erste Kontakt mit Muslimen. Manche sind enttäuscht, da sie sich eine Moschee prächtiger vorgestellt hatten, manche überrascht, da sie die Gebäude kannten und nie für eine Moschee gehalten hatten. Zum ersten Mal lud der Koordinierungsrat der Muslime (KRM) im Jahr 2007 unter dem Motto „Moscheen – Brücken für eine gemeinsame Zukunft“ zu diesem Tag ein. Die vier größten islamischen Dachverbände Zentralrat der Muslime, Islamrat, DITIB und der Verein islamischer Kulturzentren hatten sich im März 2007 zu der Spitzenorganisation KRM zusammengeschlossen und verdeutlichen die Einheit der Muslime in Deutschland seither auch in der gemeinsamen Organisation des ToM. Neben Moscheeführungen und Informationsveranstaltungen eröffnete der Tag der offenen Moschee 2007 zudem die Möglichkeit, einen Einblick in den Fastentag der Muslime zu gewinnen. Denn der Tag fiel in die Zeit des Ramadan, des Fastenmonats der Muslime. Der Ramadan war daher auch das vorherrschende Thema bei den angebotenen Vorträgen und Seminaren. Viele Gemeinden nutzten diese Möglichkeit dazu, das gemeinsame Fastenbrechen bei Sonnenuntergang in das Programm aufzunehmen. Da sich der islamische Kalender nicht mit dem hiesigen Gregorianischen Kalender deckt, fiel der ToM 2008 auf das Ramadanfest am Ende des Fastenmonats. Das Motto 2008 lautete „Moscheen – Orte der Besinnung und des Feierns“. Die Begleitbroschüre behandelte Bedeutung und Praxis von muslimischen Feiertagen, insbesondere des Ramadanfestes. Dieser Tag wurde zum Anlass genommen, Nachbarn und Interessierte zum gemeinsamen Feiern einzuladen und sie an dem Fest der Liebe teilhaben zu lassen. „Moscheen – ein fester Teil der Gesellschaft. 60 Jahre Bundesrepublik und die Muslime“ lautete das Motto 2009. Ziel war es, aufzuzeigen, dass Muslime in Deutschland angekommen sind und sich als Teil dieses Landes sehen. Muslime sind heute in allen Gesellschaftsschichten anzutreffen, in allen Altersgruppen. Vor dreißig Jahren waren sie eine wesentlich homogenere Gruppe. Heute haben sie größtenteils den Gedanken aufgegeben, in die Herkunftsländer zurückzukehren, ja, sie lassen sich sogar zunehmend in Deutschland beerdigen. Sichtbares Zeichen der Verwurzelung und der Identifikation mit diesem Land sind zudem Moscheen, die sowohl als Gebetsstätten als auch als Bildungs- und Begegnungszentren dienen. In der Broschüre 2009 wurde denn auch auf die Angebote in Moscheen, auf deren Potenziale und auf das ehrenamtliche Engagement der Muslime eingegangen, die einen wichtigen Beitrag zur Integration und zum Gemeinwohl leisten. Es wurde dazu eingeladen, einen Blick auf die oft unterschätzte Arbeit von Moscheen als religiöse und so-

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ziale Orte zu werfen. Die Resonanz war mäßig, eher rückläufig. 2009 war aber auch das Jahr der Minarett-Debatte, die medial stark aufbereitet wurde. Interessant war, dass das Innenleben der Moschee nur einen Bruchteil des Interesses auf sich zog wie das Minarett, das eigentlich Zubehör ist. Unter dem Titel „Der Koran – 1400 Jahre, aktuell und mitten im Leben“ wurde beim Tag der offenen Moschee 2010 des 1400. Jahres seit dem Beginn der Offenbarung des Koran gedacht und die Geburtsstunde des muslimischen Glaubens gefeiert. Der Koordinierungsrat der Muslime in Deutschland nahm dieses historische Ereignis zum Anlass, um ein zentrales Anliegen des Koran zum Thema des Tages der offenen Moschee zu machen. In der begleitenden Broschüre wurde der Begriff der „Verantwortung“ auf der Basis des Koran erläutert. Anhand verschiedener Lebensbereiche wurde gezeigt, was Muslime unter Verantwortung verstehen und wie sie dies innerhalb der Gesellschaft umsetzen möchten. Im Zentrum stand die Frage, worin die Verantwortung der Moscheen innerhalb der Gesellschaft besteht und wie man dieser Verantwortung gerecht werden kann. Die Moscheegemeinden griffen das Thema in Form von Seminaren und Koranrezitationen auf. Der Tag der offenen Moschee ist ein positiver Beitrag der Muslime zu der Gesellschaft, der sie sich zugehörig fühlen; er ist nicht Ausdruck einer Defensivhaltung oder Opferrolle, sondern nimmt selbstbewusst Stellung, immer auch aus aktuellem Anlass. Diese Gelegenheit wird genutzt, den Islam aus einer anderen Perspektive zu zeigen als jener, die vielfach die Medien prägt, nämlich aus der der Muslime selbst. Das Motto bezieht sich jeweils auf das unmittelbare Leben der Muslime und zeigt, was für sie wichtig ist und womit sie sich beschäftigen, worüber sie sich freuen, wie sie feiern und welches Gemeindeleben sich in den Moscheen abspielt. Es gibt sehr viel kritisches Material in Bezug auf Muslime, aber nur sehr wenig Authentisches, was von Muslimen selbst herrührt und ihre Begeisterung für ihren Glauben erklärt. Ein großes Manko, das auch nicht durch den ToM aufgefangen werden kann. Dennoch sind solche Aktionen aus meiner Sicht ein guter Anfang und bieten Anstöße zum Nachdenken. Denn das Gespräch über Muslime kann nie so effektiv sein wie Gespräche mit ihnen.

Leitkultur Übrigens störe ich mich nicht grundsätzlich an dem Begriff Leitkultur, um zuletzt noch ein heißes Eisen anzupacken. Die Frage ist aber, wie wir die Diskussion führen. Offenkundig benötigt unsere Gesellschaft eine – hoffentlich – leidenschaftliche wie auch sachliche Diskussion über Fragen unserer gemeinsamen Identität. Woher kommen wir und wohin wollen wir gemeinsam gehen, der Philipp, der Mesut, der Lukas und der Jerome, die Laura, die Hasret, die Dszenifer und die Steffi? Und so etwas wie eine sogenannte Leitkultur gibt es durchaus: Ich denke dabei an die Werte des Grundgesetzes und unser Land der Dichter und Denker. An Kant, Goethe, Schiller, an die jüdischen Dichter Heinrich Heine und Kurt Tucholsky und an den

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muslimischen Friedenspreisträger Navid Kermani. Ich denke an „Made in Germany“, das Wirtschaftswunder, das ohne die Türken auch nicht zustande gekommen wäre. An wissenschaftliche und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, an Ordnung und Regeln, aber eben auch an die Lehren aus der Shoah. Das alles gehört für mich zur Leitkultur und von mir aus auch das „Halal-Würstchen beim Oktoberfest“.9 Etwas überraschend, dass unser Innenminister in seinem kürzlich veröffentlichten Sprechzettel über Leitkultur10 – als Verfassungsminister zumal – das Grundgesetz gerade mal so streift und auf die Grundrechte nicht näher eingeht, z. B. die Gleichheit von Mann und Frau. Nun gut, er wird seine Gründe gehabt haben. Vielleicht ist dieses für ihn wie auch andere selbstverständlich, sich der vortrefflichen Grundlage unseres Zusammenlebens in einem Rechtsstaat zu erinnern. Ehrlich gesagt, für mich nicht; für mich ist es immer noch ein Wunder, die Grundlage unseres friedlichen Zusammenlebens in Deutschland und Europa allemal. Positiv finde ich die Betonung der Rolle der in Deutschland beheimateten Religionsgemeinschaften für den sozialen Kitt. De Maiziere, der bei Dresden zu Hause ist, weiß das vermutlich noch mehr zu schätzen als manch anderer. Er schreibt: „In unserem Land ist Religion Kitt und nicht Keil der Gesellschaft […]. Ein solcher Kitt für unsere Gesellschaft entsteht in der christlichen Kirche, in der Synagoge und in der Moschee.“11 In der weiter anhaltenden Debatte sollten wir aber auf die negative Ausrichtung der Frage der kulturellen Identität, also das ausgrenzende „Wir und Ihr“ endlich gänzlich verzichten. Wir sollten zudem der Gefahr gewahr sein, dass nicht selten auch ein Subtext gebildet wird, der in romantisierender Verblendung die „deutsche“ Vergangenheit, die es so nie gegeben hat, schönfärbt, der eine Ausgrenzungssemantik, der sich um den Begriff „Leitkultur“ rankt, in der Gesellschaft befördert, und die Biedermeier und Brandstifter in unser Haus einlädt, anstatt diese draußen im Regen stehen zu lassen. „Einigkeit und Recht und Freiheit“, so heißt es in der Strophe unserer Hymne, die der Chef-Liberale Christian Lindner kürzlich Mesut Özil auftrug, sozusagen mit geschwollener Brust mitzusingen.12 Er solle sich dabei nicht damit begnügen, einmal mehr für Deutschland auf dem Platz alles zu geben, und diese – aus meiner Sicht weisen und großen Worte des August Heinrich Hoffmann von Fallersleben – zu seiner Herzenssache machen. Nein, er muss sie auch lauthals singen, um ein guter Deutscher zu sein. Dass ein Mesut Özil vor dem Spiel zu unserem Schöpfer für den Erfolg der deutschen Mannschaft betet, das scheint dem liberalen Geist nicht zu genügen. Eigenartig! Noch eigenartiger ist der Umstand, dass Lindner Minister de Maizieres 9 Mazyek, Aiman: Was machen Muslime an Weihnachten? Islamischer Glaube und Alltag in Deutschland, München 2016. 10 http://www.bmi.bund.de/SharedDocs/Interviews/DE/2017/05/namensartikel-bild.html, Stand: 9. 5. 2017. 11 Ebd. 12 https://www.welt.de/politik/deutschland/article164018051/FDP-Chef-will-dass-Oezil-beider-Nationalhymne-mitsingt.html, Stand: 9. 5. 2017.

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Einwurf als bloßes Wahlkampfgetöse abtut.13 Wahlkampf ist eben immer das, was der andere macht. Dabei zeigt gerade diese Strophe doch so deutlich auf, worauf es bei der Identität ankommt. „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland! Danach lasst uns alle streben, brüderlich mit Herz und Hand.“ Vielleicht sollten wir in Zukunft die Strophe nicht nur singen, sondern versuchen, sie in ihrer umfassenden Bedeutung auch zu verstehen. Wer wirklich ein Herz für Deutschland hat und wem die Identität unseres Landes wahrhaftig ein Anliegen ist, der ruft nicht nur zu Einigkeit auf, der arbeitet auch daran, dass in unserem Land das Recht hochgehalten wird und individuelle Freiheiten geschützt bleiben. An dieser Identität zu arbeiten macht Spaß und regt zum Mitmachen an. Dies kann in einer offenen Zivilisation auf der Basis der Verfassung bzw. dem Grundgesetz nur inklusiv und nicht exklusiv gelingen. Wir brauchen jetzt eine Debatte, wo das Anfreundende, das Anspornende im Zentrum unserer Diskussion steht. Wenn wir gemeinsam zum Jahreswechsel der Ode an die Freude aus dem letzten Satz der neunten Sinfonie Ludwig van Beethovens lauschen, die gleichsam die Hymne der Europäischen Gemeinschaft ist, dann sollten wir uns den Text des großartigen Friedrich Schillers auch zu Herzen nehmen. Er ruft uns zu Brüderlichkeit auf, denn eines Freundes Freund zu sein, das ist der große Wurf, das wäre eine in der Tat erstrebenswerte Leitkultur. Und wenn wir diesen Gedanken verinnerlichen, wenn wieder einmal eine deutsche Mannschaft im Endspiel steht, wir dann unsere Jungs und Mädels mit und ohne Migrations-Vorder-/Hintergrund anfeuern, – und diese hoffentlich gewinnen und wenn nicht, ist es auch nicht so schlimm – dann können wir auf unser Deutsch-Sein wirklich stolz sein. Und zwar ohne Wenn und Aber.

Aiman A. Mazyek ist seit 1994 im Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) und seit 2010 dessen Vorstandsvorsitzender. Mit Rupert Neudeck gründete er 2003 die Grünhelme: Christen und Muslime helfen weltweit beim Wiederaufbau durch Krieg und Naturkatastrophen zerstörter Schulen. Sein letztes Buch erschien 2016 im Bertelsmann Verlag: „Was machen Muslime an Weihnachten?“

13 http://www.focus.de/politik/deutschland/leitkultur-debatte-nach-de-maizieres-zehn-the sen-innenminister-erhaelt-zuspruch-und-kritik_id_7060069.html, Stand: 9. 5. 2017.

Ja zur Religion, nein zur Ideologie Von Martin Neumeyer „Den“ Islam gibt es nicht. Als Religion ist er kein Integrationshindernis. Es gibt aber Versuche einer Minderheit unter den – sunnitischen – Gläubigen, den Islam zu einem alle Bereiche des Lebens überwölbenden und regelnden Ordnungssystem zu überhöhen. Einzelne versuchen sogar, dies mit Gewalt durchzusetzen. Wir sollten jedoch nicht den Fehler begehen, Fanatiker und Jihadisten zu Vertretern des Islam aufzuwerten. Denn damit spielen wir ihnen in die Hände. Islam ein Integrationshindernis? Ist der Islam ein Integrationshindernis? Diese Frage bewegt, ob wir es wollen oder nicht, eine wachsende Zahl an Menschen. Deshalb sollte man sich auch die Zeit nehmen, diese Frage gewissenhaft zu prüfen, um zu einer tragfähigen Antwort zu kommen. Einfach ist das nicht, denn „den“ Islam als solchen gibt es genauso wenig wie „das“ Christentum oder „den“ Hinduismus. Außerdem verbietet es der geltende politische Comment, einer Religion pauschal zu unterstellen, sie behindere die Integration. Andererseits ist der Zweifel an der Integrationsfähigkeit „des“ Islam eben auch eine gesellschaftliche Realität, und es führt zu nichts, eine solche Realität nur deshalb auszublenden, weil sie politisch inopportun zu sein scheint. Nun ist eine Religion als solche natürlich kein Integrationshindernis. Wie sollte sie auch? Religion ist eine Glaubenslehre, eine Lehre, die das Verhältnis des Menschen zum Göttlichen beschreibt und versucht, Antworten auf die existenziellen Fragen des Menschseins und der Existenz zu geben. Aber Religionen sind eben nicht nur Worte. Menschen legen die Worte aus, interpretieren sie, vereinnahmen sie für ihr Weltbild und ihre Interessen. Womöglich „missbrauchen“ sie die Religion sogar, indem sie an die Stelle ihres spirituellen Kerns und ihrer ethischen Fundierung eine Ideologie setzen, die exklusiv ist und keinen Widerspruch duldet. Das ist dann religiöser Fundamentalismus – und der ist natürlich Integrationshindernis. Solange der Islam aber einfach als Glauben, als ethische Richtschnur und innere Beziehung zu Gott gelebt wird, ist er natürlich kein Integrationshindernis. In einem solchen Fall stellt sich auch gar nicht die Frage, ob er mit dem Grundgesetz und den Werten unserer Gesellschaft vereinbar ist. Natürlich ist er das. Und ein solcher Islam würde auch zu Deutschland gehören. Aber ist das bereits „der“ Islam? Deshalb ziehe ich es vor, zu sagen: „Die Muslime gehören zu Deutschland“, zumindest jene, die integrationswillig sind und den Islam als Religion, nicht als Ideologie ansehen.

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Der „andere“ Islam Denn es gibt eben auch den „anderen“ Islam. Der Islam, wie ihn Islamisten und erzkonservative Muslime sehen. Sie postulieren, dass „der“ Islam in ihrer Auslegung, die sich zum einen auf Buchstabentreue gegenüber dem Koran, zum anderen auf atavistische Traditionen aus den Herkunftsländern stützt, Grundlage jeder gesellschaftlichen Organisation und damit letztlich auch der Staatsordnung werden muss. Sie sehen ihre Religion als alle Lebensbereiche umfassendes Ordnungssystem, dessen Normen und Regeln nicht verhandelbar sind. Ein solcher Islam ist natürlich nicht mit dem Grundgesetz vereinbar, sondern eine Gefahr für unsere freiheitlich-demokratische Rechtsordnung und die Demokratie in Deutschland. Dieses Islamverständnis propagiert Abgrenzung, ja selbstgewählte Isolation. Seine Anhänger wollen Muslimen vorschreiben, wie sie sich zu verhalten und zu sprechen, zu denken und zu leben haben. Das hat notwendigerweise zur Folge, dass die, die ihren Glauben auf diese Weise verstehen, nicht mit, sondern neben, zuweilen sogar gegen die Mehrheitsgesellschaft leben. Mit anderen Worten: Dieses Islamverständnis führt in die „Parallelgesellschaft“ und gefährdet überdies unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt, indem es die Gläubigen in Loyalitätskonflikte stürzt, ob sie unseren Gesetzen oder doch den Vorgaben der Scharia folgen sollen. Dabei wird dieses Islamverständnis, das gerne auch als „politischer Islam“ bezeichnet wird, beileibe nicht nur von Salafisten und Wahhabiten vertreten. Auch viele konservative Muslime halten die von ihnen als Gottes Gesetz angesehenen Koranverse, Hadithe und die Bestimmungen der Scharia für nicht diskutierbar und absolut verbindlich. War die politische Wirkmächtigkeit einer solchen Islaminterpretation bislang aber weitgehend auf einige Golfstaaten begrenzt, mehren sich mittlerweile die Anzeichen, dass auch die von der AKP geführte türkische Regierung „den“ Islam zunehmend als politisches Ordnungsprinzip für das eigene Land durchsetzen will. Das muss uns mit Sorge erfüllen, denn die Türkei ist nicht irgendein muslimisches Land, sondern langjähriges NATO-Mitglied am Rande Europas und die Brücke des Westens in die islamische Welt. Zudem leben viele Türken und türkischstämmige Deutsche in unserem Land, die von den Entwicklungen in ihrem Herkunftsland natürlich nicht unbeeinflusst bleiben. Wohin also treibt die Türkei? Ein politscher Islam nach den Vorgaben der Scharia wäre auf jeden Fall unvereinbar mit Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, da er den Anspruch erhebt, Staat und Gesellschaft nach einer strengen und wortgetreuen Koranauslegung zu organisieren. Auch unabhängig von der Entwicklung in der Türkei, auf die ohnehin noch viele andere, vom Islam unabhängige Faktoren einwirken, befindet sich der „politische Islam“ weltweit auf dem Vormarsch. Gerade in Krisenstaaten fallen extrem konservative Koraninterpretationen auf fruchtbaren Boden. Zuweilen geschieht dies friedlich, oft aber auch unter dem Einsatz massiver Gewalt wie in den Failed States der arabischen Welt und Schwarzafrikas. Dabei dürfen die Anhänger eines radikalen Is-

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lamverständnisses auf Unterstützung durch Golfstaaten hoffen, dank deren Hilfe der salafistische Einfluss mittlerweile bis ins Herz Europas, nach Nordbosnien, reicht. Im Extremfall münden salafistische Einstellungen im Jihadismus, also dem Versuch, dieses Islamverständnis und die daraus resultierenden politischen Ordnungsvorstellungen mit Terror und Gewalt durchzusetzen. Dabei erstaunt es immer wieder, wie wenig die Anhänger des so genannten „Islamischen Staates“ (IS) die von ihnen vorgeblich verteidigte Glaubenslehre, den Koran und die Geschichte des Islam kennen. Vielmehr handelt es sich bei ihnen häufig um „Spätbekehrte“, die in ihrem bisherigen Leben wenig Erfolg hatten. Folglich finden sich unter den Jihadisten auffallend viele Kleinkriminelle und natürlich Psychopathen, denen es vorrangig um das Ausleben brutaler Machtphantasien und sadistischer Neigungen geht. Das macht den IS im Vergleich etwa zu al-Qaida noch gefährlicher, weil die Radikalisierung wesentlich schneller, zuweilen innerhalb weniger Wochen, erfolgt, und von den Anhängern keine echte Religiosität, sondern Unterordnung und hemmungslose Gewaltbereitschaft erwartet wird. Oder anders gesagt: Von seiner Binnenstruktur erinnert der IS eher an Mohnhaupt als an Meinhof, er fordert Praxis statt Theorie. So ist der Islamische Staat für viele bindungslose junge Leute auch in unseren westlichen Gesellschaften und gerade für Menschen mit abhängiger Persönlichkeitsstruktur zu einer neuen Heimat, ja zu einer regelrechten Jugendkultur avanciert. In gewisser Weise hat dies zu einer Proletarisierung des Jihad geführt, weil Theologie gar keine Rolle mehr spielt. Hatte man früher noch in der Tradition linksextremistischer Bewegungen Unrecht und Gewalt gegen Muslime, die Verderbtheit des Westens und dessen „doppelte Standards“ angeprangert, so reduziert sich die hinter dem Jihadismus des IS stehende Philosophie auf das „wir gegen sie“, darauf, dass alle, die nicht dasselbe Islamverständnis wie die eigenen Gesinnungs- und Kampfgenossen teilen, des Todes seien. Das – und das Fehlen eines politischen, aber auch eines theologisch begründeten Ziels – erklärt auch die furchtbare Grausamkeit, das Töten um des Tötens willen, das die Mörder des IS auszeichnet. Integrationsfähigkeit des Islam Natürlich überschatten die Mordtaten des IS auch die Debatte über den Islam hierzulande. Wer nur darauf schaut und gleichzeitig auf die Selbstermächtigung des IS hereinfällt, angeblich für alle Muslime zu sprechen, für den muss der Islam ein Integrationshindernis sein. Dabei repräsentieren die Jihadisten – und selbst die Fundamentalisten – nur einen Bruchteil der Muslime weltweit. Und auch von seiner Theologie her steht der Islam nicht notwendigerweise einer Integration der Muslime in Demokratie und Rechtsstaat entgegen – auch wenn die Islamisten und im Übrigen auch die autoritären Machthaber islamischer Staaten das gerne behaupten. Hierzulande berufen sich die, die dem Islam generell jede Integrationsfähigkeit absprechen, gerne auf bestimmte Koranverse, in denen zu Gewalt gegen Andersgläubige aufgerufen und Intoleranz propagiert wird. Solche Passagen aber gibt es auch in

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unserer Bibel, ohne dass dies von irgendjemandem – außer einigen Fanatikern – ernst genommen würde. Als problematisch erweist sich aber in der Tat, dass manche, und nicht nur erzkonservative, Muslime den Koran als absolut unverfälschtes Wort Gottes betrachten und auf seiner wortwörtlichen Gültigkeit bestehen. Mag damit auch kein Aufruf zur Gewalt verbunden sein, so erschwert eine solche Haltung doch den interkulturellen und interreligiösen Dialog erheblich. Hier rächt sich, dass der Islam – anders als das christliche Abendland – keine Aufklärung erlebt hat. Dementsprechend haben konservative Muslime Vorbehalte, sich vollständig in eine westliche, vom christlich-jüdischen Kulturerbe, Humanismus, Aufklärung, griechischer Philosophie und römischem Recht geprägte Gesellschaft einzufinden. Allerdings stehen sie damit nicht alleine. Auch manche evangelikale Christen in den USA oder Angehörige der russisch- oder der serbisch-orthodoxen Kirche wenden sich aus Glaubensgründen mitunter dezidiert gegen das, was wir als gemeinsames Wertefundament, als demokratischen Konsens begreifen. Unbestritten ist, dass der Koran manche Passagen enthält, die einem guten Verhältnis zu und der Toleranz gegenüber Andersgläubigen entgegenstehen. Es gibt aber auch Passagen, die das genaue Gegenteil belegen könnten, die für Toleranz, Frieden und Nächstenliebe eintreten. Umso absurder die Argumentation derjenigen, die sich auf den Koran berufen, um Andersgläubige und sogar Muslime, die ihre rigide Islamauslegung nicht teilen, zu bekämpfen. Hinzu kommt, dass sich viele der vorgeblich islamischen Traditionen, Werte und Haltungen, die diese Fundamentalisten propagieren, gar nicht aus dem Koran ableiten lassen, sondern eher den atavistischen und patriarchalischen Traditionen der Herkunftsländer entstammen. Das gilt insbesondere für das Kopftuchgebot und die Verschleierung der Frau, die Weigerung mancher muslimischer Männer, Frauen die Hand zu geben, die Ablehnung von Christen und Juden als unrein, die nicht selten minderjährige Mädchen treffenden „Zwangsverheiratungen“ sowie vermeintlich nicht verhandelbare „Familienwerte“, die in Einzelfällen schon in so genannten „Ehrenmorden“ eskaliert sind. Ohnehin sind es häufig überkommene Familienstrukturen und eine in vormodernen Vorstellungen fußende Rollenverteilung zwischen den Geschlechtern, für die „der“ Islam häufig – ungerechtfertigter Weise – als Legitimation herhalten muss. Derartige Familienstrukturen hemmen die Integration – und setzen insbesondere die Nachgeborenen, die, die bereits in unseren westlichen Gesellschaften aufgewachsen sind, häufig schwersten inneren Konflikten aus. Die Betroffenen sehen sich zerrissen zwischen den Wertvorstellungen ihrer Familien und den Erwartungen und Herausforderungen ihrer westlich geprägten Umgebung. In der Folge fühlen sie sich unsicher, heimatlos und überfordert durch die Frage nach der eigenen Identität. Diese Seelennot, dieses Gefühl, weder hier noch dort wirklich dazuzugehören und nicht zu wissen, was richtig und falsch ist, kann fatale Konsequenzen haben. Das gilt ganz besonders dann, wenn die fehlende Integrationsbereitschaft ihrer Familien dazu führt, dass Kinder und Jugendliche in der Schule – und später auch im Beruf – unter ihren Möglichkeiten bleiben. Leider ist das bei jungen Muslimen über-

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durchschnittlich häufig der Fall. Das führt zu Frustration und oft auch zur Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft und zum Rückzug in die eigene Community. Das Gefühl, letztlich nicht dazuzugehören, fremd zu bleiben in der Welt, in der man aufgewachsen ist, macht junge Menschen anfällig für einfache Lösungen. Sicher, Bildung ist eine wichtige Präventionshilfe dagegen, aber auch kein Allheilmittel. Isolation, ob nun selbst verschuldet oder nicht, und Misserfolg tragen ganz erheblich dazu bei, dass sich Menschen von unserer Gesellschaft abwenden und Halt in ihrer Community, im vertrauten Umfeld von Leuten gleicher Herkunft, suchen. Im Endeffekt führt dies zur Bildung so genannter „Parallelgesellschaften“, von Strukturen, in denen Menschen neben unserer Gesellschaft leben ohne wirklich in Kontakt mit uns zu kommen oder das auch nur zu wollen. Man bleibt untereinander in einer Welt, der man im Grunde ablehnend gegenübersteht. Vor allem junge, ungefestigte Charaktere laufen Gefahr, sich in eine solche feindselige Haltung ihrer Umwelt gegenüber hineinzusteigern – bis hin zu Gewaltbereitschaft und Terrorismus. Die ersten Opfer einer solchen Radikalisierung sind in der Regel nicht die Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft, sondern in ihrer Mehrheit andere Muslime, die sich dem Diktat der Islamisten nicht beugen wollen oder zufällig in die Auseinandersetzungen innerhalb der Community hineingeraten. Die Betroffenen stehen dann zwischen allen Stühlen, werden sie doch von den Bürgern, die dem Islam ohnehin schon kritisch gegenüberstehen, für Fehlentwicklungen innerhalb „des“ Islam und der muslimischen Gemeinde mitverantwortlich gemacht. Damit aber treibt man die Moderaten in die Arme der Radikalen, deren Propaganda von der Ausgrenzung der Muslime in einem feindseligen Westen sich solcherart zu bestätigen scheint.

Unterstützung integrationswilliger Muslime Deshalb empfiehlt es sich, „den“ Islam und die hier lebenden Muslime auf keinen Fall über einen Kamm zu scheren, sondern zu differenzieren und die Mehrheit der säkular eingestellten und integrationswilligen Muslime gegen die Radikalen zu unterstützen. Schließlich zielen die Islamisten – wie auch ihr Antipode und heimlicher Verbündeter auf der Seite der Rechtsradikalen – darauf, einen Keil zwischen die Muslime und die Mehrheitsgesellschaft zu treiben, und auf beiden Seiten Angst und Ablehnung zu provozieren. Vorurteile, vermeintliche Diskriminierung und „Islamophobie“ sind dann die Argumente, mit denen sich neue Anhänger rekrutieren lassen. Aus diesem Grund sollten wir klar zwischen „dem“ Islam und Anhängern eines totalitären, absoluten Islamverständnisses unterscheiden, das häufig auch unter dem Begriff „Islamismus“ firmiert. Dagegen ist die Begrifflichkeit „politischer Islam“ zu unkonkret, denn jede Religion hat durch ihre gesellschaftliche Wirkmächtigkeit natürlich auch bis in die Politik reichende Auswirkungen. Das gilt auch für das Christentum – ohne dass wir deshalb von „politischem Christentum“ sprechen würden. Der Terminus „politischer Islam“ meint die Unterordnung des gesamten gesell-

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schaftlichen und öffentlichen Lebens bis in das Private unter Koran und Scharia – und das ist besser durch den Begriff „totalitäres Islamverständnis“ beschrieben. Die große Mehrheit der integrationswilligen Muslime hat dagegen Anrecht auf Toleranz und Verständnis. Dazu gehört auch, dass wir rechtsextreme Hetze, Rassismus und Xenophobie bereits in ihren Anfängen und ohne falsche Rücksichtnahme konsequent bekämpfen. Aber auch in Konflikten innerhalb der muslimischen Gemeinde dürfen wir diese – oft schweigende – Mehrheit unter den Muslimen nicht im Stich lassen. Vielmehr gilt es, die durchaus vorhandenen aufklärerischen Tendenzen innerhalb „des“ Islam zu stärken und zugleich den Muslimen auch das Gefühl zu vermitteln, dass die, die mit uns leben wollen, Teil unserer Wertegemeinschaft sind. Sie gehören genauso zu uns wie jeder andere, und das Prinzip der Religionsfreiheit gebietet es, ihnen die Ausübung ihres Glaubens und islamische Kulturarbeit zu ermöglichen. Begrenzt wird diese Freiheit nur durch den gesetzlichen Rahmen – und falls die religiöse Praxis mit allgemeinverbindlichen Werten unserer Gesellschaft kollidieren sollte. Das aber ist nur in den seltensten Fällen so. Außerdem sollten wir nicht die Vielfalt innerhalb „des“ Islam unterschätzen. So gibt es unter den hier lebenden Schiiten oder in der Sufi-Bewegung nur selten fundamentalistische und keinerlei jihadistische Tendenzen. Es gibt eben nicht den einen, „einzigen“ Islam. Aber nicht nur unterschiedliche konfessionelle Glaubensausprägungen und „Schulen“ belegen, dass „der“ Islam mindestens ebenso viele verschiedene Farben hat wie Christentum oder Judentum – es gibt auch regional und national große Unterschiede. Der „türkische“ Islam, der bosniakische Islam, derjenige der Araber und der Völker Südostasiens und der in Afrika oder im Kaukasus und an der Wolga praktizierte Glauben weisen mitunter signifikante Unterschiede auf. Daraus resultieren unterschiedliche Traditionen und Haltungen zu gesellschaftlichen Fragen – und auch das hat einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Integrationsbereitschaft. Daher sollten wir uns vor Verallgemeinerungen hüten, Integrationswillige unterstützen, aber konsequent gegen all jene vorgehen, die unsere Gesellschaft ablehnen oder auszunutzen versuchen. Und wir dürfen nicht den Fehler begehen, jenen Gehör zu schenken, die die Reformfähigkeit „des“ Islam grundsätzlich abstreiten, ja ihm sogar den Charakter einer Religion absprechen und ihn als vermeintlich totalitäre Ideologie in eine Reihe mit Faschismus und Bolschewismus stellen. Wer einen anderen Glauben verunglimpft, alle Muslime unterschiedslos verurteilt, ja kriminalisiert, propagiert nicht nur den „Kampf der Kulturen“, sondern stellt letztlich auch den inneren Frieden, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat in Abrede. Natürlich ist ein Islam, so wie ihn einige Radikale und Fundamentalisten verstehen, ein Integrationshindernis. Ihre Islamauslegung steht der Integration und dem friedlichen Zusammenleben von Angehörigen unterschiedlicher Kulturen und Religionen entgegen, aber nicht „der“ Islam. Insofern kann der Glaube Integration behindern – er muss es aber nicht, anders als dies manche selbst ernannte Retter des Abend-

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landes uns weiszumachen versuchen. Vielmehr liegt es auch an uns, dazu beizutragen, dass „der“ Islam möglichst kein Integrationshindernis wird, und möglichst wenige Muslime und Konvertiten der islamistischen Versuchung erliegen. Die Bedeutung des Dialogs Deshalb halte ich den interreligiösen, noch mehr aber den interkulturellen Dialog für ganz entscheidend, wenn wir nicht den Scharfmachern auf beiden Seiten das Feld überlassen wollen. Dieser Dialog darf aber – und darin sehe ich ein Versäumnis der bisherigen Praxis – kein Gespräch unter den „üblichen Verdächtigen“ und auf Funktionärsebene bleiben, sollte sich unter keinen Umständen nur auf Kirchen, Verbände, Verwaltung und gesellschaftliche Institutionen beschränken, sondern muss überall geführt werden, in der ganzen Gesellschaft, von jedem von uns. Vor allem aber gehört dieser Dialog in unser Erziehungs- und Bildungswesen. Wenn es uns gelingt, schon in den Kindergärten und im Schulunterricht flächendeckend gemeinsame Werte zu vermitteln, wenn bereits die Kleinsten erleben, dass wir alle Menschen und gar nicht so verschieden sind, wenn sie gemeinsam begreifen, dass es unterschiedliche Wege zu Gott geben mag, diese Unterschiede aber kein Grund für Konflikte und Kriege sind, wird sich die Frage, ob „der“ Islam ein Integrationshindernis ist, schon bald nicht mehr stellen. Deshalb gilt es, Kindern und Jugendlichen so früh wie nur möglich die Grundlagen auch der anderen Religionen zu vermitteln, und damit auch ihre interkulturelle Kompetenz in einem Alter zu fördern, in welchem sie in aller Regel sehr offen sind für andere Eindrücke. Um zu verhindern, dass „der“ Islam jemals zu einem Integrationshindernis werden kann, sollten wir Achtung vor dieser Religion und ihren Gläubigen zeigen und gegen „den“ Islam gerichteten Vorurteilen und Ressentiments in Teilen unserer Gesellschaft entschieden entgegentreten. Wir müssen aber auch bereit sein, Kritik an mit dem muslimischen Glauben begründeten Haltungen zu üben, wo diese mit unserer Werteordnung nicht vereinbar sind. „Kulturelle Diversität“ ist kein Selbstzweck. Und wir dürfen – und müssen – umgekehrt auch Achtung vor dem Christentum, dem Judentum und den so genannten „westlichen Werten“ einfordern. Wenn wir dazu bereit sind, dann bin ich sicher, dass uns die Integration der Muslime gelingen wird.

Martin Neumeyer ist Landrat des Landkreises Kehlheim und Integrationsbeauftragter der Bayerischen Staatsregierung a. D. (2009 – 2017).

Der politische Islam stellt unsere Religionsfreiheit auf den Prüfstand Von Winfried Bausback Der politische Islam stellt Deutschland vor neue Herausforderungen. Die Globalisierung und die Flüchtlingskrise haben viele Menschen muslimischen Glaubens nach Deutschland geführt. Mit ihnen kommt nicht nur eine neue kulturelle Vielfalt in unser Land. Es kommen auch Wertvorstellungen zu uns, die mit unserem Grundgesetz nicht immer im Einklang stehen, und auch Menschen, die unsere Grundwerte offen ablehnen. Parallel dazu beobachten wir ein weiteres Phänomen: Viele Menschen muslimischen Glaubens, die schon lange bei uns leben, fühlen sich hier wohl, machen sich aber gleichwohl unsere Grundwerte und unser Verständnis von Demokratie, Rechtsstaat und Grundrechten nicht wirklich zu eigen. Auch entsteht der Eindruck, dass sich zahlreiche Muslime in unserem Land – synchron zur Entwicklung des politischen Islam weltweit – stärker denn je auf die kulturellen Wertvorstellungen und das traditionelle Islamverständnis wie zu Zeiten des Propheten Mohammed besinnen und dies auch bei uns so leben wollen. Hinzu kommen die „Spitzel-Affäre“ bei DITIB, die Anti-Integrations-Botschaften in hiesigen Moscheen und die hohe Zustimmung in Deutschland lebender Türken zugunsten des demokratiegefährdenden Referendums in der Türkei. All dies geschieht auch vor dem Hintergrund des politischen Islam, dem es nicht um Spiritualität, sondern um politische Macht geht, und des islamistischen Terrorismus, der immer öfter in Europa zuschlägt. Islam als Herausforderung für ein Land der Freiheit Angesichts der aktuellen Entwicklung des politischen Islam befürchten viele Menschen bei uns, dass sich unser Land grundlegend verändert – im Hinblick auf unseren „way of life“, unsere Lebenskultur, und insbesondere auch auf unser friedliches Zusammenleben in Freiheit, Gleichberechtigung und Toleranz. Erschreckende Beispiele sind die Terroranschläge, die Vorfälle in der Silvesternacht in Köln 2015/ 2016, aber auch der Fall des 14-jährigen jüdischen Jungen, der die Schule wechseln muss, weil muslimische Mitschüler ihn wegen seines Glaubens beleidigt und schließlich angegriffen haben. Vieles vollzieht sich aber auch unterhalb der Schwelle konkreter polizeirechtlicher Gefahren oder Straftaten: Viele Frauen berichten von abschätzigem Verhalten muslimischer Männer, die die Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht anerkennen wollen. Das hat – ähnlich wie etwa bei westlich

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gesinnten Frauen in der Türkei – Folgen für ihr Verhalten: Wo sie wann mit wem hingehen, wie sie sich kleiden. Ähnliches erlebt man im Kontakt mit vollverschleierten Frauen: Da wir gewohnt sind, Gesicht zu zeigen und zu sehen, fühlen sich viele in der Nähe vollverschleierter Frauen verunsichert. Subjektives Unbehagen ist freilich kein Gut mit Verfassungsrang, das den Staat zu kraftvollen Schutzmaßnahmen verpflichten würde. Es sind jedoch Vorboten einer Entwicklung, die Ungutes erahnen lassen. Denn man erinnert sich, dass Frauen in manchen Gebieten der Welt erst Vollverschleierung trugen, nachdem IS-Kämpfer ihr Dorf besetzt hatten, und sie den Schleier nach ihrer Befreiung sogleich wieder ablegten. Man erinnert, dass Frauen in vielen muslimischen Ländern schon mehr Rechte hatten, kaum Kopftuch oder Schleier trugen und selbstverständlich auch studieren durften. Wir stehen in Deutschland vor einem Dilemma: Wir leben in einem Land der Freiheit, Gleichberechtigung und Toleranz. Wir sind zu Recht stolz darauf. Staatliche Verbote sind bei uns die Ausnahme. Es gibt sie nur dort, wo sie zum Schutz des Einzelnen, der Allgemeinheit oder unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung erforderlich sind. Aus gutem Grund: Freiheit, Gleichberechtigung und Toleranz sind in einem demokratischen Rechtsstaat die Lebensader der Demokratie, eine der ergiebigsten Quellen für Vielfalt, Innovation, Kreativität und Individualität und – wie wir aus eigener leidvoller Erfahrung wissen – der beste Schutz gegen Diktatur, Willkür und Staatsterror. Das Grundgesetz schützt die Freiheit des Einzelnen, die Gleichberechtigung und Toleranz vor allem durch die Grundrechte – etwa das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Meinungsfreiheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Pressefreiheit, die Berufsfreiheit und die Religionsfreiheit. Das muss auch so bleiben. Unser Grundsatz ist: Wir müssen den Gegnern der freiheitlichen Gesellschaft Grenzen setzen und die grundgesetzlich garantierten Freiheiten schützen. Was aber ist, wenn diese grundgesetzlich garantierten Freiheiten in einer Weise genutzt werden, wie sie die Väter und Mütter des Grundgesetzes nicht vorhersehen konnten? Wenn die Kernfreiheiten des Grundgesetzes als Deckmantel benutzt werden können, unter dem Gesinnungen Raum bekommen, die im Widerspruch zu unseren Grundwerten stehen? Ist dann noch Zeit für großzügige Toleranz, Weltoffenheit und gesellschaftlichen Wandel? Oder sollten wir uns dann nicht doch besser frühzeitig selbstbewusst vor unsere Werte stellen? Das Grundrecht der Religionsfreiheit und der politische Islam Besonders zeigen sich diese neuen Herausforderungen des Islam immer öfter an unserem Grundrecht der Religionsfreiheit in Artikel 4 des Grundgesetzes (GG). Die aktuelle Entwicklung des politischen Islam rückt es zunehmend in das Blickfeld der öffentlichen Aufmerksamkeit: Sei es durch die Kopftuch tragende Lehrerin, Kinder-

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gärtnerin oder Rechtsreferendarin, die vollverschleierte Zeugin vor Gericht oder die Schülerin, die nicht am Sportunterricht teilnehmen soll. Hier zeigt sich, dass sich der Islam von der christlichen und jüdischen Religion deutlich unterscheidet: Während sich der Anspruch der christlichen und jüdischen Religion in unserer eigenen Säkularkultur – nicht zuletzt infolge der Aufklärung – auf seine Kernbereiche beschränkt hat, beobachten wir beim Islam weltweit eine gegenläufige Entwicklung: Der politische Islam will Geltung für alle Bereiche von Staat, Recht und Gesellschaft beanspruchen. Er stützt sein Selbstbewusstsein auf die als glorreich empfundene Epoche zwischen dem 7. und 17. Jahrhundert und propagiert die bedingungslose, kritiklose Unterwerfung unter den Willen Allahs bzw. die Gebote des Korans. Dieser politische Islam lehnt in seiner Rückwärtsgewandheit all die Grundwerte ab, die unser Grundgesetz schützen will: die Demokratie, die Meinungsfreiheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, die Religionsfreiheit, das Gewaltmonopol des Staates – um nur einige Beispiele zu nennen. In seiner Rückwärtsgewandtheit will er auch vieles als verbindliches religiöses Gebot erfassen, was wir bei uns eher der Lebenskultur, der Tradition und den Bräuchen zurechnen. Dabei kommt es teilweise zu einer Vermengung von Religion und patriarchalisch-archaischen Traditionen. Dieser Allmachtsanspruch soll der Religion zugleich ein höheres Gewicht verleihen: Dementsprechend sind auch in Deutschland nicht wenigen Muslimen die Religionsgebote des Islams wichtiger als die Grundwerte und Gesetze unseres Landes. So schafft sich der politische Islam auch in Deutschland zunehmend Raum in wachsenden Parallelgesellschaften, die grundgesetzkonträre Werte und Traditionen leben und einfordern. Viele beobachten diese Entwicklung des politischen Islam in Deutschland und in der Welt zu Recht mit Unbehagen. Sie sehen diesen Hintergrund, wenn eine Lehrerin im Klassenzimmer mit Kopftuch unterrichten will, obwohl Eltern, Kinder und Schulleitung das ablehnen; wenn eine Rechtsreferendarin im Gerichtssaal mit Kopftuch auftreten will, obwohl damit der fatale Eindruck einer religiös-motivierten Rechtsprechung entstehen könnte. In solchen Konfliktfällen entpuppt sich das aktuelle verfassungsrechtliche Verständnis der Religionsfreiheit als eines, das sehr weit zugunsten des Grundrechtsträgers geht, das keine klaren objektiven Konturen aufweist und das hohe Hürden für staatliche Beschränkungen dieser Freiheit aufstellt.

Die aktuelle Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Die Religionsfreiheit umfasst nach dem aktuellen Verständnis der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und der herrschenden Rechtslehre nicht nur typisch religiöse Verhaltensweisen wie etwa Gebete oder Gottesdienste. Sie soll auch Verhaltensweisen schützen, die erst und entscheidend durch das subjektive Verständnis der einzelnen Betroffenen zur Religionsausübung werden. Ein Beispiel ist die Bekleidung, etwa das Kopftuch. Es stammt aus vorislamischer Zeit und ist eigent-

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lich Ausdruck einer traditionellen Schamkultur. Aus dem Koran kann man kein eindeutig formuliertes, verpflichtendes Kopftuchgebot entnehmen. Entsprechend der aktuellen Entwicklung des Islam gibt es aber natürlich konservative Islamgelehrte, die das Kopftuchtragen auf zwei Suren im Koran zurückführen und teilweise auch als unbedingte Pflicht einordnen. Betroffene Frauen erklären im Einzelfall, das Kopftuchtragen sei für sie eine unbedingte religiöse Pflicht und elementarer Bestandteil einer am Islam orientierten Lebensweise. Selbstverständlich täten sie dies freiwillig, also nicht auf Druck ihres Mannes oder ihrer Familie. Ist die Bekleidung aber erst einmal als Religionsausübung anerkannt, sind die Hürden für staatliche Beschränkungen hierzulande sehr hoch und nur zum Schutz überwiegender Grundrechte oder Grundwerte mit Verfassungsrang zulässig. Beim Kopftuch wird derzeit wie folgt argumentiert: Weil die Frau frei und selbstbestimmt ihre religiöse Pflicht erfülle, könne man für ein Verbot auch nicht die Menschenwürde anführen oder die Gleichberechtigung von Mann und Frau, nicht die negative Religionsfreiheit anderer, die vor einer solchen Glaubensbekundung verschont bleiben wollen. Eine Steigerung dessen ist die Vollverschleierung. Auch hier erklären die Frauen, es handele sich um ein islamisches Gebot. Ob auch die Vollverschleierung unter die Religionsfreiheit des Artikels 4 GG fällt, hat das Bundesverfassungsgericht noch nicht entschieden. Sollte es die Grundsätze seiner „Kopftuch-Rechtsprechung“ auch auf die gesichtsverhüllende Burka oder den Nikab übertragen, wäre dies aber ein Schritt, der uns endgültig wachrütteln sollte. Wer bestimmt, was Religionsfreiheit ist? Der Staat darf – wegen seiner grundgesetzlichen Pflicht zur Neutralität gegenüber den Religionen und Weltanschauungen – zwar nicht bestimmen, was im Einzelfall als Ausübung von Religion anzusehen ist. Daraus kann aber nicht folgen, dass eine Glaubensrichtung und ihre Anhänger im Wege der Selbstqualifizierung frei und unbegrenzt bestimmen können, was in den Schutzbereich der grundrechtlich garantierten Religionsfreiheit fällt, und dass der Staat diese individuelle Definition dann hinzunehmen hat. Denn dann könnten sie sich einen Schutz verschaffen, der ihnen nicht zusteht – einen Vorteil gegenüber den anderen Religionen, die sich in ihrem Geltungsanspruch beschränken, aber auch gegenüber den gegenläufigen Interessen von Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die sich nur auf weniger gewichtige Grundrechte wie etwa die allgemeine Handlungsfreiheit in Artikel 2 Absatz 1 GG stützen können. Grundrechte sind aber nicht Teil eines Systems unbegrenzter Freiheit. Ihr Wesensgehalt gemäß Artikel 19 Absatz 2 GG muss objektiv fassbar sein. Nur der Staat kann und muss deshalb die Neutralität und Objektivität der Verfassungsinterpretation gewährleisten. Aber genau das passiert derzeit nicht im Umgang mit dem politischen Islam. Der politische Islam erhebt einen allumfassenden Geltungsanspruch, der auch von Teilen der Muslime bei uns beherzigt wird. Durch die weite Auslegung des Koran werden archaische Traditionen aus vorislamischer Zeit – wie Kopftuch und Gesichtsverhül-

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lung – zu religiösen Geboten erklärt und ihre Achtung eingefordert. Das bedeutet: Letztlich kann jedes beliebige kulturelle Verhalten durch subjektive, extensive Korandeutung mit religiösem Etikett versehen und so über die Religionsfreiheit in Artikel 4 GG nahezu sakrosankt gemacht werden. Unsere schützenswerte eigene Säkularkultur, die sich – als positive Folge der Aufklärung – gerade nicht mehr religiös definiert, kann sich dagegen kaum behaupten. Obwohl also eigentlich „Kultur“ gegen „Kultur“ steht, machen wir unsere eigene durch den extensiven individuellen Grundrechtsschutz nachrangig. Wir schwächen damit zugleich den Schutz der christlichen und jüdischen Mitbürger, die nicht jedes Verhalten im Streitfall zur Religionsausübung erklären, gerade weil sie bewusst nicht in die Zeit vor der Aufklärung zurückkehren wollen. Deshalb kann eine extensive Auslegung der Religionsfreiheit nicht richtig sein. Landesrechtliches Verbot für das Tragen religiöser Symbole in bayerischen Gerichten Nach meiner festen Überzeugung ist es an der Zeit, dass wir stärker als bisher für unsere eigenen Grundwerte eintreten. Zum Beispiel, wenn eine Rechtsreferendarin mit Kopftuch bei Gerichtsverhandlungen auftreten will. Unsere Gerichtssäle sind kein Ort für persönliche Glaubensbekundungen durch das Tragen religiöser oder für religiös erklärter Symbole. Zwar können sich auch Richter ebenso wie Beamte auf ihr Grundrecht der Religionsfreiheit aus Artikel 4 Absatz 1 und Absatz 2 GG berufen. Das Grundgesetz verpflichtet Richterinnen und Richter jedoch unmittelbar persönlich und ausdrücklich zu strikter Neutralität: Artikel 97 Absatz 1 GG garantiert ihnen Unabhängigkeit und bindet sie ausschließlich an das demokratisch legitimierte Gesetz. Nach dem Grundgesetz gehört es zum Wesen der richterlichen Tätigkeit, dass sie durch einen nichtbeteiligten Dritten in persönlicher und sachlicher Unabhängigkeit ausgeübt wird; das betont das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung. Die richterliche Tätigkeit erfordert daher persönliche Unabhängigkeit, Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten. Erst diese Eigenschaften versetzen Richterinnen und Richter in die Lage, ihr Fachwissen über das demokratisch legitimierte Recht frei von sachfremden Einflüssen in den Entscheidungsgang einzubringen und die von Artikel 3 GG garantierte Gleichbehandlung der Parteien vor Gericht zu wahren. Hierzu ist – wie der Gesetzgeber einfachrechtlich in § 39 des Deutschen Richtergesetzes normiert hat – auch ein bestimmtes Maß an Zurückhaltung vor allem dort erforderlich, wo das persönliche Bekenntnis mit dem Ansehen des Amtes in Konflikt geraten könnte. Denn die Überzeugungskraft richterlicher Entscheidungen beruht nicht nur auf der juristischen Qualität ihrer Gründe; sie stützt sich in hohem Maße auch auf das Vertrauen, das Richterinnen und Richtern und dem Rechtsstaat von der Bevölkerung entgegengebracht wird. Dieses Vertrauen der Rechtsuchenden und der Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit der Richterinnen und Richter schützt gleichzeitig Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 GG: Er garantiert, dass der Rechtsuchende im Einzelfall vor einem Richter steht, der unabhängig und unpar-

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teilich ist und die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet. Das bedeutet einerseits äußere Unabhängigkeit, verlangt aber auch innere Unabhängigkeit und ausschließliche Orientierung am Gesetz. Damit hat ein Richter neutral zu sein und alles zu unterlassen, was das Vertrauen in seine Neutralität beeinträchtigt. Aber Letzteres passiert, wenn etwa eine Richterin oder Rechtsreferendarin im Gerichtssaal mit einem Kopftuch die Bedeutung ihres ganz persönlichen religiösen Bekenntnisses herausstellt. Sie signalisiert damit gegenüber allen Beteiligten, dass sie sich auch im Gerichtssaal nicht nur dem Gesetz, sondern auch ihrem Glauben verpflichtet fühlt. Dieses Signal ist zweifelsfrei geeignet, das Vertrauen in ihre äußere und innere Unabhängigkeit und ihre Neutralität zu erschüttern, und widerspricht dem Richterbild des Grundgesetzes. Es schwächt zugleich das Vertrauen in die Funktionsfähigkeit unseres Rechtsstaates, seine Akzeptanz und damit die Friedensfunktion richterlicher Entscheidungen. Das Grundgesetz verlangt von der Richterin zu Recht, dass ihre absolute persönliche Neutralität Vorrang haben muss vor ihrer Bekenntnisfreiheit. Und das heißt: Kein Kopftuch im Gerichtssaal. Deshalb wollen wir in Bayern die rechtlichen Grundlagen novellieren. Im Bayerischen Richtergesetz sowie im Gesetz zur Ausführung des Gerichtsverfassungsgesetzes und von Verfahrensgesetzen des Bundes (AGGVG) soll künftig ganz klar und eindeutig geregelt sein, dass Richter, Staatsanwälte, Rechtspfleger und Rechtsreferendare in Gerichtsverhandlungen oder im sonstigen unmittelbaren Kontakt mit Verfahrensbeteiligten keine religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke und Symbole sichtbar tragen dürfen. Auch bei Staatsanwälten, Rechtspflegern und Rechtsreferendaren muss die Öffentlichkeit darauf vertrauen können, dass sie sich bei ihren Entscheidungen bzw. bei der Wahrnehmung der ihnen übertragenen hoheitlichen Aufgaben nur von den geltenden Gesetzen leiten lassen. Der Gerichtssaal darf keine Plattform für persönliche religiöse Statements der Repräsentanten des Rechtsstaates sein – und das muss so auch klar im Gesetz stehen. Aus gutem Grund lautet eine – auch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte oft betonte – klassische Regel des englischen Rechts: „Justice must not only be done, it must also be seen to be done.“ Zusätzliche Rückendeckung für dieses Vorgehen gibt auch ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH Rechtsache C-157/15, G4S Secure Solutions) vom 14. März 2017 zu einem arbeitsrechtlichen Verbot des Tragens politischer, philosophischer und religiöser Zeichen für Angestellte bei Kundenkontakten. Der EuGH hat hier den Wunsch des Arbeitgebers, seinen Kunden ein Bild der Neutralität zu vermitteln, als rechtmäßig angesehen und eine Diskriminierung verneint.

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Streitpunkt Gesichtsverhüllung – Nikab, Burka versus offene Kommunikation Eine weitere Erscheinungsform des politischen Islam ist neuerdings die bereits erwähnte Gesichtsverhüllung mit Burka und Nikab. Immer öfter trifft man vor allem in deutschen Großstädten auf Muslima, die ihr Gesicht mit einer Burka oder einem Nikab verhüllen. Auch die Gesichtsverhüllung ist eine archaische Tradition aus vorislamischer Zeit. Ein eindeutiges religiöses Gebot lässt sich dem Koran nicht entnehmen. Doch auch diese Gesichtsverhüllung wird von den Trägerinnen als Ausdruck ihres Glaubens deklariert. Bei der Gesichtsverhüllung zeigt sich der Widerspruch zu unserer Kultur in besonderem Maße. Ein Grundpfeiler unserer freiheitlich-demokratischen Kultur und unserer europäischen Zivilisation ist die offene Kommunikation. Wenn Gesicht und Mimik eines Menschen nicht erkennbar sind, sind eine offene Kommunikation und damit auch ein gesellschaftliches Zusammenleben, wie wir es definieren, nicht möglich. Die Erkennbarkeit des Gesichts ist in einem freiheitlich-demokratischen Staat daher unverzichtbar. In Zeiten des Terrors kommt der Sicherheitsaspekt hinzu: Viele Menschen in Deutschland fühlen sich von einer vollverschleierten Person ganz konkret und nachvollziehbar in ihrer Sicherheit beeinträchtigt. In Zeiten des Terrors will man sehen, wen man im Zug, im Restaurant oder auf der Straße vor sich hat – um einschätzen zu können, ob er einem wohlgesonnen ist oder Böses im Schilde führt. Und so überrascht es nicht, dass nach einer Umfrage aus dem vergangenen Jahr 81 % der Deutschen die Vollverschleierung ablehnen und die Hälfte ein Verbot fordert. Zu Recht – wie ich meine: Warum sollte es in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung schützenswert sein, dass eine Frau in der Öffentlichkeit ihr menschliches Antlitz verbirgt, sich ausgrenzt und sich entindividualisiert? Was ist das für ein schützenswertes Verständnis von Freiheit und Gleichberechtigung, wenn die Frau vollverschleiert durch die Innenstadt läuft, während der Mann neben ihr kurze Hosen und T-Shirt trägt? Und selbst wenn es sich in manchem Einzelfall um eine selbstbestimmte Entscheidung der Frau für die Vollverschleierung handeln mag, sind doch die Folgen für all die anderen Frauen, die dazu gezwungen werden, fatal: Denn mit der Entscheidung, die Vollverschleierung im selbstbestimmten Einzelfall zu erlauben, legitimiert der Staat faktisch die kaum nachweisbare Unterdrückung derjenigen muslimischen Frauen, die zur Verschleierung gezwungen werden. Und erhöht damit zugleich den Druck auf diejenigen muslimischen Frauen, die sich bisher geweigert haben, solchen Bekleidungsvorschriften zu folgen.

Landesrechtliche Gesichtsverhüllungsverbote in Bayern für besonders sensible Bereiche des öffentlichen Lebens und des Kindeswohls Vor dem Hintergrund der „Kopftuch-Rechtsprechung“ des Bundesverfassungsgerichts hat der Bayerische Ministerrat am 21. Februar 2017 in einem ersten Schritt

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einen Gesetzentwurf mit bereichsspezifischen Verboten der Gesichtsverhüllung in Bayern auf den Weg gebracht. Die Gesichtsverhüllung soll in den Bereichen Öffentlicher Dienst, Hochschulen, Schulen, Kindergärten, im Bereich der allgemeinen Sicherheit und Ordnung sowie bei Wahlen verboten werden. Die entsprechenden Verbote sollen in das Beamtengesetz, das Hochschulgesetz, das Gesetz für das Erziehungs- und Unterrichtswesen, das Kinderbildungs- und -betreuungsgesetz sowie in das Landeswahlgesetz aufgenommen werden. Außerdem werden das Polizeiaufgabengesetz, das Landesstraf- und Verordnungsgesetz sowie die Landeswahlordnung entsprechend ergänzt. Losgelöst von der Frage, ob eine Gesichtsverhüllung überhaupt unter den Schutzbereich der Religionsfreiheit fällt, lassen sich in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in jedem Fall überwiegende Werte mit Verfassungsrang für diese Verbote anführen. Denn gerade Beamtinnen und Beamte sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes sind generell in besonderer Weise als Repräsentanten des Gemeinwesens zu Neutralität gegenüber dem Bürger verpflichtet. Im Bereich der allgemeinen Sicherheit und Ordnung, aber auch bei Wahlen ist es erforderlich, die Identifikation zu ermöglichen und deshalb eine Gesichtsverhüllung zu verbieten. Eine Gesichtsverhüllung widerspricht auch dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag in Kindertageseinrichtungen und Schulen. Denn hier geht es insbesondere um das Vermitteln und Erlernen kommunikativer Fähigkeiten. Unsere Kinder müssen die Reaktionen ihres Gegenübers richtig einschätzen können. Auch für Lehrer ist es wichtig, ihren Schülerinnen und Schülern ins Gesicht schauen zu können, beispielsweise um Aufmerksamkeit und Mitarbeit besser bewerten zu können. Allgemeines Vollverschleierungsverbot auch in Deutschland? Bei dem landesrechtlichen Verbot für das Tragen religiöser Symbole bei Gericht und den bereichsspezifischen Gesichtsverhüllungsverboten in Bayern konnte man die Frage offenlassen, ob die Religionsfreiheit überhaupt berührt ist, da man die Verbote in jedem Fall mit überwiegenden Werten mit Verfassungsrang rechtfertigen kann. Dabei können und sollten wir aber nicht stehenbleiben. Nach meiner festen Überzeugung ist es an der Zeit, eine offene, ehrliche und faktenbasierte Debatte über den politischen Islam in Deutschland zu führen. Dabei müssen wir auch das Verständnis vom Umfang und den Grenzen der Religionsfreiheit auf den Prüfstand stellen. Denn sie ist einer der Dreh- und Angelpunkte für ein friedliches Zusammenleben auf der Basis unseres Grundgesetzes. Eine Religion, die den eigenen Machtanspruch über die Werte unseres Grundgesetzes und unserer Gesetze stellt, muss auch in ihre Schranken gewiesen werden können. Wie diese Debatte geführt werden kann, lässt sich beispielhaft an einem allgemeinen Verschleierungsverbot in der Öffentlichkeit darlegen. Manche zweifeln, ob in Deutschland ein solches Verbot verfassungsrechtlich zulässig wäre. Ich bin da – bestärkt durch die Entwicklung in umliegenden europäischen Staaten – nicht so pessi-

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mistisch, selbst wenn es hier um ausgesprochen komplexe verfassungsrechtliche Fragestellungen geht. Unser Grundgesetz war immer in der Lage, auch auf neue, nicht vorhersehbare Entwicklungen adäquate Antworten zu geben. Ein Beispiel sind die sogenannten IT-Grundrechte, die ohne eine Verfassungsänderung aus dem Grundgesetz heraus entwickelt wurden. Gerade in Zeiten, in denen weltweit ein fundamentalistischer, intoleranter, nichtintegrationsbereiter politischer Islam auf dem Vormarsch ist und Islamisten die Religion für ihre terroristischen Zwecke missbrauchen, muss man die Frage der Religionsausübung des Einzelnen künftig stärker als bisher in diesen Gesamtkontext einordnen. So kann man durchaus höhere Anforderungen an die – auch vom Bundesverfassungsgericht geforderte – Plausibilität der Behauptung stellen, eine bestimmte Bekleidung sei vom Koran gefordert und Teil der Religionsausübung. Gerade wenn der Koran dies nicht ausdrücklich sagt und offenbar nur fundamentalistische Islamgelehrte dies herauslesen. Deshalb sollte künftig auch der Sachverstand der Islamwissenschaft und der islamischen Theologie stärker beteiligt werden. Hier könnte man in künftigen Streitfällen vor dem Bundesverfassungsgericht zur Objektivierung durchaus einmal renommierte Islamwissenschaftler und Theologen anhören, die extensive Auslegung des Islam detailliert hinterfragen und dem Grundrecht der Religionsfreiheit so klarere objektive Konturen geben. Denn wie schon angedeutet: Es droht eine Banalisierung der Religionsfreiheit und eine Verschiebung der Wertebalance im Verhältnis zu anderen Grundrechtsträgern, Verfassungswerten und Religionen, wenn praktisch jedes Verhalten vom Betroffenen in kaum nachprüfbarer Weise zur Religionsausübung erklärt und unter den hohen Schutz des Artikel 4 GG gestellt werden kann. Und selbst wenn die Vollverschleierung noch darunter fiele: Wenn der Koran eine solche Bekleidung nicht ausdrücklich vorschreibt, geht es in keinem Fall um den Kernbereich der Religionsausübung, sondern allenfalls um einen Randbereich. Deshalb sollten hier auch die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtfertigung einer staatlichen Pflicht, in der Öffentlichkeit sein Gesicht zu zeigen, niedriger sein. Grundrechte sind Teil einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung und bestehen auch zu ihrem Schutz und damit im öffentlichen Interesse. Der Einzelne ist nicht nur Individuum, sondern auch Teil einer Gemeinschaft, die ihm diese Rechte verleiht. Deshalb kann man von dem Einzelnen – auch unterhalb der Strafbarkeitsgrenze – ein Mindestmaß an Rücksichtnahme auf die Interessen der Mitbetroffenen verlangen: auf deren Religionsfreiheit, auf deren Erziehungsrecht, auf deren Verständnis von der Gleichberechtigung von Mann und Frau, auf deren allgemeine Handlungsfreiheit. Der vom Bundesverfassungsrecht immer wieder geforderte möglichst „schonende Ausgleich“ der Religionsfreiheit mit widerstreitenden anderen Grundrechten und Verfassungsgütern sollte auch tatsächlich so erfolgen und nicht regelmäßig zu Lasten der Allgemeinheit gelöst werden. Die Entwicklung des Islam sollte auch Anlass geben, verfassungsrechtlich neue Wege zu beschreiten und z. B. zu erwägen, der offenen Kommunikation als Grundpfeiler unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft – gestützt auf das Demokratieprinzip bzw. die

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Menschenwürde und die Freiheitsrechte – Verfassungsrang beizumessen. Die so verfassungsrechtlich geschützte offene Kommunikation könnte meines Erachtens durchaus ein Vollverschleierungsverbot in der Öffentlichkeit rechtfertigen. Fazit Unser freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat sollte seine Grundlagen und Grundwerte bestmöglich schützen und verteidigen – auch wenn er es mit einer Glaubensrichtung und Anhängern zu tun hat, die teilweise besonders extensiv und vehement die Achtung ihrer religiösen Gebote einfordern. Und erst recht, wenn sie unsere Werte ablehnen. Deshalb kann die Lösung auch kein „Mix“ aus Koran, Scharia und ein bisschen Grundgesetz sein. Das Grundgesetz allein ist und bleibt die Basis unseres gesellschaftlichen Konsenses. Auf dieser Basis müssen wir die Herausforderungen des politischen Islam ehrlich und sachlich analysieren und bei Bedarf auch klare Grenzlinien ziehen, um unser friedliches Zusammenleben in Freiheit, Gleichberechtigung und Toleranz zu sichern.

Prof. Dr. Winfried Bausback ist Universitätsprofessor für Öffentliches Recht, insbesondere Europäisches und Internationales Wirtschaftsrecht, an der Bergischen Universität Wuppertal. Seit Oktober 2008 ist er Mitglied des Bayerischen Landtags und seit Oktober 2013 Bayerischer Staatsminister der Justiz. Die Professur ruht seit Beginn des Landtagsmandats.

Der religionsrechtliche Rahmen islamischer Gemeinschaften in Österreich Von Oliver Henhapel In Österreich wurde im Jahr 2015 ein „Islamgesetz“ beschlossen, das Regelungen für das Leben der und mit den Muslimen enthält. Dem Beschluss ging eine intensive öffentliche Diskussion voraus. Dabei wurden viele Themen, von Sicherheitsaspekten über Integrationsfragen bis zum Inhalt der religiösen Lehre des Islam, angesprochen. Welche Intention mit welchen Regelungsinhalten hat das österreichische IslamG 2015 wirklich? Demographische Ausgangssituation Es gab in Österreich im Jahr 2016 mehr als 700.000 Personen (die genaue Zahl ist nicht feststellbar) mit muslimischem Hintergrund. Von diesen sind eine relevante Gruppe österreichische Staatsbürger. Diese Personen haben ein unterschiedliches Verhältnis zum Islam, von strenggläubig bis ex-Muslim und gehören verschiedenen Konfessionen an. Sie sind nur zum Teil, und dann in verschiedenen juristischen Personen, organisiert. An islamischen Konfessionen sind in Österreich die Ahmadiyya (einige Hundert), die Aleviten (islamische Aleviten inkl. arabische Aleviten, rund 60.000 bis 80.000), die Schiiten (überwiegend 12er-Schiiten iran. und irak. Herkunft, teilw. Afghanen mit rund 80.000 bis 100.000 Personen) sowie die Sunniten (hauptsächlich Hanefiten, hoher Anteil mit türkischem Hintergrund, die zweitgrößte Gruppe sind Personen aus dem ehem. Jugoslawien) vertreten. An juristischen Personen bestehen zivilrechtliche Vereine gemäß VereinsG 2002, eine religiöse Bekenntnisgemeinschaft sowie öffentlich-rechtliche, gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaften. Die Vereine sind, wie in ganz Europa, teilweise nationalstaatlich, teilweise nach religiöser Autorität zu Verbänden zusammengeschlossen und mit ausländischen Partnerorganisationen verbunden (ATIB = DITIB, islam. Föderation = Milli Görüs, Union Islamischer Kulturzentren, Dachverband der bosnischen Vereine usw.). Die Bekenntnisgemeinschaft nach dem Bundesgesetz über die Rechtspersönlichkeit religiöser Bekenntnisgemeinschaften (BekGG) ist die „Islamische Schiitische Glaubensgemeinschaft in Österreich (SCHIA)“, die überwiegend aus irakischen und afghanischen Familien besteht.

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Die gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaften sind die „Islamische-Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich“ (ALEVI)1 und die „Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich“ (IGGiÖ)2. Religionsfreiheit in Österreich Das österreichische Kultusrecht ist im Wesentlichen dreistufig gestaltet. Die erste Stufe bildet die Religionsfreiheit des Einzelnen, wie sie schon im Staatsgrundgesetz von 1867 (StGG) eingeführt, im Staatsvertrag von St. Germain 1919 weiter ausgeführt und in der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), die in Österreich seit 1958 im Verfassungsrang steht, konkretisiert und aktualisiert wurde. Das Staatsgrundgesetz 1867 normiert neben der individuellen Religionsfreiheit des Einzelnen3 auch eine korporative Grundrechtsgarantie in Gestalt des Art. 15 StGG.4 Damit ist eine Unterscheidung zwischen gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften und anderen religiösen Gemeinschaften verfassungsrechtlich vorgegeben.5 Die einfachgesetzliche Umsetzung dieser grundrechtlichen Garantie erfolgte durch das Gesetz vom 20. Mai 1874 betreffend die gesetzliche Anerkennung von Religionsgesellschaften.6 In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass die Kirchen und Religionsgesellschaften damals umfangreich in die staatliche Verwaltung eingebunden waren. Die zweite Stufe ist der Erwerb einer eigenen religionsrechtlichen Rechtspersönlichkeit, die Registrierung als eingetragene religiöse Bekenntnisgemeinschaft, die nach dem „Bundesgesetz über die Rechtspersönlichkeit religiöser Bekenntnisgemeinschaften“ (BekGG)7 vom Vorliegen oder nicht Vorliegen bestimmter, im Gesetz geregelter Tatbestände abhängt: 1. Nachweis einer eigenständigen religiösen Lehre, 2. Mindestanzahl von 300 Anhängern, 1

Im Jahr 2013 mit Verordnung nach dem AnerkG 1874 anerkannt, BGBl. II 133/2013 und gemäß § 31 IslamG 2015 übergeleitet mit Verordnung BGBl. II 75/2015, wie alle österreichischen Rechtsnormen abrufbar unter https://www.ris.bka.gv.at. 2 BGBl. Nr. 466/1988, gemäß § 31 IslamG 2015 übergeleitet mit Verordnung BGBl. II 76/ 2015. 3 RGBl. Nr. 142/1867, Art. 14. 4 RGBl. Nr. 142/1867, Art. 15: „Jede gesetzlich anerkannte Kirche und Religionsgesellschaft hat das Recht der gemeinsamen öffentlichen Religionsübung, ordnet und verwaltet ihre inneren Angelegenheiten selbständig, bleibt im Besitze und Genusse ihrer für Cultus-, Unterrichts- und Wohlthätigkeitszwecke bestimmten Anstalten, Stiftungen und Fonde, ist aber, wie jede Gesellschaft, den allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen.“ 5 Zu Art. 15 StGG und dessen Entwicklung siehe Kalb, Herbert / Potz, Richard / Schinkele, Ulrike: Religionsrecht, Wien 2003, S. 66 ff. 6 RGBl. Nr. 68/1874. 7 BGBl. I Nr. 19/1998, zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 75/2013.

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3. Mindestmaß an innerer Organisation, 4. es liegt keiner der folgenden Untersagungsgründe vor: a. Verstoß gegen die Interessen der öffentlichen Sicherheit, Ordnung, Gesundheit und Moral oder gegen die Rechte und Freiheiten anderer, b. Beeinträchtigung der psychischen Entwicklung Heranwachsender, c. Eingriffe in die psychische Integrität von Personen, d. Einsatz von Methoden der Psychotherapie zur Religionsvermittlung. Die dritte Stufe ist jene einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft, somit die Stellung als Körperschaft öffentlichen Rechts. Das Erreichen dieser Stufe hängt wiederum von gesetzlich festgelegten Tatbeständen ab. Dies sind kurz zusammengefasst Folgende: 1. auf Dauer gesicherter Bestand, 2. mindestens rd. 17.000 Mitglieder (2 vT der Bevölkerung der letzten Volkszählung), 3. positive Grundeinstellung gegenüber Staat und Gesellschaft, 4. die Geldmittel werden nur für religiöse (inkl. mildtätige) Zwecke verwendet, 5. keine gesetzwidrigen Störungen (z. B. Herabwürdigung religiöser Lehren im strafrechtlichen Sinn) im Verhältnis zu anderen Kirchen und Religionsgesellschaften, 6. Vorliegen der notwenigen inneren Verfasstheit. Fällt eine der Vorrausetzungen weg, liegt ein Untersagungsgrund für eine Bekenntnisgemeinschaft vor oder hat eine Religionsgesellschaft durch mindestens ein Jahr keine handlungsfähigen statutengemäß vertretungsbefugten Organe für den staatlichen Bereich, so ist die Anerkennung mit Verordnung aufzuheben.8 Grundsatz der Selbstverwaltung und Selbsterhaltung Das österreichische Staatskirchenrecht hat neben der verfassungsrechtlichen Garantie der Selbstverwaltung als ein Prinzip die Selbsterhaltungsfähigkeit der Kirchen und Religionsgesellschaften. Dies ergibt sich aus den verschiedenen Rechtsnormen, z. B. im Anerkennungsgesetz von 1874, dem Bekenntnisgemeinschaftengesetz9 oder dem IsraelitenG 1890 idF BGBl. I Nr. 18/2012. Diese Rechtsgrundlagen sehen beispielsweise vor, dass für die staatliche Genehmigung einer Kultusgemeinde der Nachweis zu erbringen ist, dass sie die erforderlichen Mittel aufzubringen vermag, 8 Die Aufhebung der Herrnhuter-Brüderkirche erfolgte mangels vertretungsbefugter Organe mit BGBl. II 31/2012. 9 BGBl. I Nr. 19/1998, zuletzt geändert durch BGBl. I Nr. 75/2013.

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die für das religiöse Leben der Gemeinde erforderlich sind.10 Diese Frage stellte sich bei der Anerkennung der Herrnhuter-Brüderkirche, die bereits mit Schreiben vom 19. Juli 1874 beantragt wurde. Die zu gründende Kultusgemeinde verfügte im Jahr 1876 über 212 Mitglieder, was die Kultusverwaltung und die örtlich zuständige Statthalterei Prag an deren Selbsterhaltungsfähigkeit zweifeln ließ. Eine finanzielle Unterstützung aus dem Ausland wurde als bedenklich abgelehnt und sodann vereinbart, dass die Leitung der Unität zur materiellen Sicherstellung der Brüdergemeinden Kapital in Österreich deponiert, um aus den Zinserträgen die Kosten zu tragen.11 Die gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften erhalten keine direkten, sondern nur indirekte staatliche Unterstützungen. Dabei ist zwischen den Bereichen der Erbringung von Leistungen im allgemeinen öffentlichen Interesse und der pauschalierten Unterstützung in Anerkennung der immateriellen Leistungen, die von den Kirchen und Religionsgesellschaften erbracht werden, zu unterscheiden. Erstere werden sachgerecht unterstützt, da deren Erbringung auch im wirtschaftlichen Interesse des Staates liegt. Im Bereich der immateriellen Leistungen wird von der Tatsache ausgegangen, dass ein freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat, der unter anderem auf die Religionsfreiheit aufbaut, keine Tätigkeit im Bereich der Sinnstiftung des Lebens für seine Bürger entfalten kann und darf („Indoktrinationsverbot“). Der Staat ist daher darauf angewiesen, dass freiwillige Gemeinschaften die Auseinandersetzung mit diesen Fragen führen und dadurch eine moralischethisch-religiös-philosophische Dimension in die Gesellschaft einbringen.12 In Anerkennung dieser vom Staat im doppelten Sinn nicht leistbaren Dimension wird ein Teil der für die Arbeit der Kirchen und Religionsgesellschaften, die die zentralen Erbringer dieser Leistungen sind, aufgewendeten finanziellen Mittel vom Staat durch steuerliche Anerkennung mitgetragen. Dies erfolgt in Österreich beispielsweise durch die steuerliche Absetzbarkeit der Beiträge bis zu höchstens E 400,– pro Person und Jahr, die Absetzbarkeit von freiwilligen Zuwendungen an Einrichtungen zur Förderung kirchlicher Zwecke, die Befreiung von Liegenschaften von der Grundsteuer oder die Befreiung von Gebühren im Verkehr mit Behörden.

10 § 5 AnerkG: „Die staatliche Genehmigung zur Errichtung einer Cultusgemeinde (§ 4) ist durch den Nachweis bedingt, daß dieselbe hinreichende Mittel besitzt, oder auf gesetzlich gestattete Weise aufzubringen vermag, um die nöthigen gottesdienstlichen Anstalten, die Erhaltung des ordentlichen Seelsorgers und die Ertheilung eines geregelten Religionsunterrichtes zu sichern.“ 11 Schwarz, Karl: Eine kultusrechtliche Quadratur des Kreises – Anmerkungen zur gesetzlichen Anerkennung der Herrnhuter Brüderkirche im Jahre 1890, Österreichisches Archiv für Recht und Religion 2003, S. 481 ff. 12 Diese Ausführungen in den parlamentarischen Materialen einer Novelle zum BekGG im Jahr 2011 beziehen sich wohl auf das „Böckenförde-Theorem“, wenn es auch im dortigen Text nicht explizit genannt wird.

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Unterstützung bei der Erbringungen von Leistungen im allgemeinen öffentlichen Interesse Die Kirchen und Religionsgesellschaften, insbesondere die römisch-katholische Kirche, erbringen solche Leistungen in erheblichem Umfang. Die Haupttätigkeitsgebiete sind dabei soziale Betreuung, Bildungswesen, Spitalswesen und der Denkmalschutz. Die staatlichen Unterstützungsleistungen sind aber in keinem Fall ausreichend, um die Kosten zu decken. Es werden in nahezu allen Fällen Leistungen durch die Konfessionen in großem Umfang erbracht und finanzielle Unterstützungen durch private Spenden in erheblichem Ausmaß zum Einsatz gebracht. Von gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften geführte Privatschulen haben aufgrund der § 17 ff. Privatschulgesetz (PrivSchG) einen Rechtsanspruch darauf, jene Lehrkräfte bereitgestellt zu erhalten, die zur Erfüllung des Lehrplanes erforderlich sind, wenn die Zahl der Schüler je Klasse nicht wesentlich unter jener an öffentlichen Schulen liegt (sogenannte „lebende Subventionen“). Im tertiären Bildungsbereich hat sich die Republik Österreich zur Finanzierung der Ausbildung des Nachwuchses des Klerus für die katholische Kirche im Wege der katholisch-theologischen Fakultäten an österreichischen Universitäten verpflichtet.13 Konfessioneller Religionsunterricht im staatlichen Kontext In Österreich ist aufgrund des Religionsunterrichtsgesetzes (RelUG) für Schüler an öffentlichen oder mit Öffentlichkeitsrecht ausgestatteten Privatschulen Religion Pflichtgegenstand, wenn sie einer gesetzlich anerkannten Kirche oder Religionsgesellschaft angehören. Dem österreichischen staatskirchenrechtlichen System der Koordination entsprechend steht dieser inhaltlich in der alleinigen Verantwortung der jeweiligen Konfession. Die Lehrkräfte, die von der öffentlichen Hand bezahlt werden, sind aber im dienstrechtlichen und schulrechtlichen Bereich an die allgemein für Lehrkräfte geltenden Bestimmungen gebunden. Dies reicht von der Einhaltung der Unterrichtszeit, über Unterrichtssprache, Leistungsbeurteilung oder Aufsichtsführung bis zur Führung von Amtsschriften. Ebenso werden die auf der Grundlage der von der Konfession erstellten Lehrpläne ausschließlich in deren Verantwortung erstellten Schulbücher und andere Lehr- und Unterrichtsmittel aus öffentlichen Mitteln finanziert. Diese unterliegen inhaltlich der Beschränkung, dass sie nicht den Zielen der staatsbürgerlichen Erziehung widersprechen dürfen. Die Ziele der staatsbürgerlichen Erziehung ergeben sich auf höchster normativer Regelungsebene aus den Bauprinzipien der österreichischen Bundesverfassung, den Staatszielbestimmungen in der Stammurkunde und einigen besonderen Bundesgesetzen, wobei im Jahr 2005

13 Konkordat zwischen dem Heiligen Stuhle und der Republik Österreich samt Zusatzprotokoll, StF: BGBl. II Nr. 2/1934; Art. V.

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in der Stammurkunde in Art. 14 B-VG ein Abs. 5 a eingefügt wurde, der die Grundwerte und Ziele des österreichischen Schulwesens festlegt.14 Die Entstehung des Islamgesetzes 1912 Die Anerkennung der Anhänger des Islam als Religionsgesellschaft im Jahr 191215 steht in der Tradition der österreichischen Religionsrechtsentwicklung. Die Anerkennung der Anhänger des Islam steht aber auch mit historischen Entwicklungen in Südosteuropa im Zusammenhang. Im Vertrag von Berlin 1878 erhielt Österreich-Ungarn das Recht, Bosnien-Herzegowina zu besetzen. Dort lebten neben serbisch-orthodoxen und katholischen Christen auch eine erhebliche Anzahl Muslime. Dies führte in der Folge 1882 zu einer neuen Organisation der „Leitung der religiösen Angelegenheiten“ in Bosnien-Herzegowina und dann zu einer Diskussion über die Notwendigkeit einer Anerkennung des Islam als Religionsgesellschaft. Der „Bericht der Spezialkommission zur Vorberatung der Gesetzesvorlage betreffend die Anerkennung der Anhänger des Islam nach hanefitischem Ritus als Religionsgesellschaft“16 vom Jänner 1910 gibt einen Einblick in die damaligen Überlegungen und Sichtweisen. Eine Anerkennung nach dem Gesetz von 1874 schien nicht möglich. Der Spezialbericht führt dazu aus, dass „besondere Ausnahmebestimmungen Platz greifen sollen“, und dazu wäre eben ein Spezialgesetz erforderlich. Dies stellte im Kultusrecht kein Novum dar, sondern es bestanden beispielsweise schon das Protestantenpatent von 1861 und das „Gesetz betreffend die äußeren Rechtsverhältnisse der israelitischen Religionsgesellschaft“ vom 21. März 1890. Gerade das Letztgenannte enthielt zahlreiche „Spezialnormen“, die durch die besondere Verfasstheit der Religionsgemeinschaft bedingt waren. Bezüglich der Reichweite der Anerkennung „des Islam“ wurde bereits damals erkannt, dass dieser in verschiedene Strömungen oder Richtun14 (5 a) Demokratie, Humanität, Solidarität, Friede und Gerechtigkeit sowie Offenheit und Toleranz gegenüber den Menschen sind Grundwerte der Schule, auf deren Grundlage sie der gesamten Bevölkerung, unabhängig von Herkunft, sozialer Lage und finanziellem Hintergrund, unter steter Sicherung und Weiterentwicklung bestmöglicher Qualität ein höchstmögliches Bildungsniveau sichert. Im partnerschaftlichen Zusammenwirken von Schülern, Eltern und Lehrern ist Kindern und Jugendlichen die bestmögliche geistige, seelische und körperliche Entwicklung zu ermöglichen, damit sie zu gesunden, selbstbewussten, glücklichen, leistungsorientierten, pflichttreuen, musischen und kreativen Menschen werden, die befähigt sind, an den sozialen, religiösen und moralischen Werten orientiert Verantwortung für sich selbst, Mitmenschen, Umwelt und nachfolgende Generationen zu übernehmen. Jeder Jugendliche soll seiner Entwicklung und seinem Bildungsweg entsprechend zu selbständigem Urteil und sozialem Verständnis geführt werden, dem politischen, religiösen und weltanschaulichen Denken anderer aufgeschlossen sein sowie befähigt werden, am Kultur- und Wirtschaftsleben Österreichs, Europas und der Welt teilzunehmen und in Freiheits- und Friedensliebe an den gemeinsamen Aufgaben der Menschheit mitzuwirken. 15 RGBl.: 159/1912. 16 Nr. 56 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Herrenhauses-XX.Session.

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gen, im Bericht als „Sekten“ bezeichnet, „zerfällt“. In den Materialien wird argumentiert, dass der hanefitische Ritus eine wesentliche und die in Bosnien-Herzegowina einzig vertretene Richtung wäre. Auf daraus folgende inhaltliche, bereits damals bekannte Problemstellungen wird in den Materialien nicht eingegangen, wenngleich die im Folgenden angeführten Überlegungen einen Blick auf die dahinterliegenden Diskussionen gestatten. Die Einschränkung auf die „Anhänger nach hanefitischem Ritus“ wurde im Jahre 1987 durch den Verfassungsgerichtshof der Republik als gleichheitswidrig aufgehoben.17 Damit war „der Islam“ anerkannt, ohne dass die Frage der Reichweite dieser Anerkennung näher konkretisiert wäre. Der Spezialbericht zeigt weiter, dass bereits damals das bestehende Spannungsverhältnis des staatlichen Rechts zu verschiedensten Regelungen im Lehrbestand des Islam gesehen wurde. Aus diesem Grund weist der Bericht auch darauf hin, „dass in der Sitten- und Rechtslehre Bestandteile vorkommen, die der christlich-europäischen Zivilisation widerstreiten“18 und nennt in der Folge exemplarisch die Anerkennung der Sklaverei, die Polygamie, das Talionsprinzip, die Steinigung bei Ehebruch oder die Verstümmelung wegen Diebstahls. Im Anschluss findet sich eine Abwägung dieser mit dem staatlichen Recht nicht vereinbaren religiösen Lehren auf zwei Ebenen. Auf der staatsrechtlichen Ebene wird begründet, dass nach § 6 Islam 1912 eben nur jene Teile der Lehre anerkannt werden, die nicht mit den Staatsgesetzen in Widerspruch stehen. Auf religiös-ethischer Ebene wird darauf hingewiesen, dass es sich beim Islam um eine monotheistische Religion handle, die die Unsterblichkeit der Seele lehre und sich auch ansonsten im Koran „Stellen von hohem ethischen Werte“19 fänden. Da der Organisationsprozess nicht abgeschlossenen war, auf dem Gebiet des heutigen Österreich nicht einmal begonnen hatte, wurde die Regelung der äußeren Organisation einer Verordnung vorbehalten. Zu deren Erlassung kam es aufgrund des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges nicht mehr. Erst 1979 wurden eine Kultusgemeinde und eine Verfassung einer Islamischen Religionsgesellschaft, der heutigen „Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ)“, genehmigt. Die mit der allgemeinen Anerkennung des Islam verbundenen Herausforderungen zeigten sich im Jahr 2009 aus Anlass eines Antrages einer alevitischen Gemeinschaft auf Erwerb der Rechtspersönlichkeit als „Islamisch-alevitische Glaubensgemeinschaft“, die von den Vertretern der IGGiÖ nicht als Muslime anerkannt wurden. In der Folge erkannte der österreichische Verfassungsgerichtshof, dass es unbeschadet der Regelungen des IslamG 1912 idF 1987 mehrere islamische Religionsgesellschaften, die nach dem Anerkennungsgesetz von 1874 zuzulassen wären, geben kann.20

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VfSlg 11574/1987. Nr. 56 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Herrenhauses-XX.Session. 19 Ebd. 20 VfSlg 19240/2010. 18

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Das Bundesgesetz über die äußeren Rechtsverhältnisse islamischer Religionsgesellschaften – IslamG 201521 Die bereits bei der Vorberatung des IslamG 1912 aufgetretene Frage der Regelung der Anerkennung mit einem Spezialgesetz stellte sich auch wieder im Jahr 2013 bei den Vorarbeiten für das IslamG 2015. Ein Jahr zuvor waren bei der Neuregelung des IsraelitenG 189022 einige Rechtsfragen im Umgang mit besonderen religiösen Bestimmungen zu lösen gewesen, beispielsweise die Speisenvorschriften, die besondere Sichtweise auf letzte Ruhestätten, der Schutz der religiösen Feiertage u. ä. Im Zusammenhang mit dem Islam stellten sich vergleichbare Fragen in Bezug auf die äußeren Verhältnisse. Gleichzeitig waren die Erkenntnisse des Verfassungsgerichtshofes, insbesondere die Zulässigkeit mehrerer islamischer Religionsgesellschaften unter Beachtung der Parität, des Gleichheitssatzes, zu berücksichtigen. Das IslamG 2015 greift daher zunächst im 1. Abschnitt die allgemeinen Aspekte auf, indem das Recht auf Selbstverwaltung einerseits mit der Bindung an die allgemeinen staatlichen Gesetze andererseits verbunden wird, wobei in § 2 Abs. 2 IslamG der Wortlaut des Jahres 1912 übernommen wird. Anschließend werden Erwerb und Verlust der Rechtspersönlichkeit sowie die verpflichtenden Regelungsinhalte der religionsgesellschaftlichen Verfassung geregelt. Die Kriterien für Zulassung und Aufhebung sind wortident aus dem Bekenntnisgemeinschaftengesetz und dem Anerkennungsgesetz übernommen worden. Dadurch wird sichergestellt, dass an islamische Religionsgesellschaften die gleichen Maßstäbe wie an alle anderen Kirchen oder Religionsgesellschaften angelegt werden. Im 2. Abschnitt über die Organisation der Religionsgesellschaften wird der Grundsatz der Selbsterhaltungsfähigkeit in § 6 Abs. 2 IslamG konkretisiert: „(2) Die Aufbringung der Mittel für die gewöhnliche Tätigkeit zur Befriedigung der religiösen Bedürfnisse ihrer Mitglieder hat durch die Religionsgesellschaft, die Kultusgemeinden bzw. ihre Mitglieder im Inland zu erfolgen.“

Die Auslegung des Begriffs „gewöhnliche Tätigkeit“ muss sich dabei an der Regelung des § 5 AnerkG 1874 orientieren.23 Es sind daher die Erhaltung der Moscheen („gottesdienstlichen Anstalten“), die Aufwendungen für die Seelsorge (Imame, einschließlich deren Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie Kategorieseelsorge, soweit nicht anders geregelt) und der Religionsunterricht in all seinen möglichen Formen, d. h. einschließlich der Unterweisung im Koran, zu verstehen. Diese Regelung wurde in der öffentlichen Diskussion als „Auslandsfinanzierungsverbot“ bezeichnet. Die 21

BGBl. I 39/2015. BGBl. I 48/2012. 23 Vgl. § 5 AnerkG: „Die staatliche Genehmigung zur Errichtung einer Cultusgemeinde (§ 4) ist durch den Nachweis bedingt, daß dieselbe hinreichende Mittel besitzt, oder auf gesetzlich gestattete Weise aufzubringen vermag, um die nöthigen gottesdienstlichen Anstalten, die Erhaltung des ordentlichen Seelsorgers und die Ertheilung eines geregelten Religionsunterrichtes zu sichern.“ 22

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parlamentarischen Materialien führen aber klar aus, dass finanzielle Zuwendungen aus dem Ausland nicht grundsätzlich untersagt sind. Einmalige Zuwendungen sind grundsätzlich möglich, auch als Zuwendung an eine religionsrechtlich mögliche „fromme Stiftung“ („waqf“ oder „vakuf“).24 Diese Möglichkeit folgt nicht nur dem bereits im Jahr 1880 entwickelten Modell, sondern entspricht auch islamischen Traditionen und dem Selbstverständnis der Religionsgesellschaft. Davon unberührt bleibt das Gebot, dass eine Religionsgesellschaft ihre Geldmittel nur für religiöse und damit verbundene Zwecke einsetzen darf. Der 3. und der 4. Abschnitt regeln die Rechte und Pflichten der zum Zeitpunkt der Beschlussfassung bestehenden islamischen Religionsgesellschaften. Diese sind weitgehend wortident mit jenen des IsraelitenG 1890 idF 2012. Die Rechtswirkungen des – erst mit dem IsraelitenG in das österreichische Religionsrecht eingeführten – Verfahrens zum Namensschutz als Schutz vor Verwechslung der von den anerkannten Religionsgesellschaften vertretenen Konfession mit anderen Traditionen oder Strömungen der gleichen Religion sind noch nicht absehbar, da dazu derzeit weder Literatur noch Judikatur vorliegen. Da in den parlamentarischen Materialien von „Vereinen“, „Radiosender“, „Club“ oder „Gemeinschaft“ gesprochen wird, lässt dies darauf schließen, dass die Beschwerdemöglichkeit auf konfessionelle und dieser zuzurechnenden Organisationsstrukturen abstellt. Die Speisevorschriften der §§ 12 (IGGÖ) und 19 IslamG (ALEVI) sind ebenfalls wortident aus dem IsraelitenG übernommen. Sie stellen auf anerkannte Religionsgesellschaften ab. Das Gesetz spricht von „Speisen und anderen Nahrungsmitteln“, die ansonsten im islamischen Bereich bekannten „Halal“-Regelungen sind somit davon nicht umfasst. Zur Formulierung, „in Österreich die Herstellung […] zu organisieren“, führen die Materialien aus, dass damit „keine Durchbrechung allgemeiner staatlicher Rechtsnormen, beispielsweise im Bereich des Gewerbe-, Betriebsanlagen-, Tierschutz- oder Steuerrechtes“ verbunden sein soll. Vielmehr wird darauf hingewiesen, dass diese allgemein gültig sind und auch auf diese Regelung anzuwenden sind, „sofern dadurch die Produktion nicht gänzlich unmöglich gemacht wird“. Auch hier findet sich die Einschränkung auf Produktion, so dass der Import von im Ausland hergestellten Nahrungsmitteln nicht umfasst wäre und höhere Produktionskosten, die sich z. B. aus den religiösen Regelungen ergeben, zumutbar sind. Dies zeigt, dass die Regelung dem klassischen Grundverständnis der Grund- und Freiheitsrechte als Abwehrrechte folgt. Das Wort „organisieren“ ist im Zusammenhang mit den Erläuterungen so zu verstehen, dass die Bestimmung darin keine religiösen Handlungen erblickt, sondern wirtschaftliche Tätigkeit in religiösem Zusammenhang im Rahmen der allgemeinen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ermöglichen will.

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Österreichischer Nationalrat, Nr. 446 der Beilagen XXV. Gesetzgebungsperiode.

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Der Abs. 2 der Speisevorschriften sieht vor, „bei der Verpflegung von Mitgliedern der Religionsgesellschaft beim Bundesheer, in Haftanstalten, öffentlichen Krankenanstalten, Versorgungs-, Pflege- oder ähnlichen Anstalten sowie öffentlichen Schulen ist auf die innerreligionsgesellschaftlichen Speisegebote Rücksicht zu nehmen“. Die Erläuterungen25 führen dazu aus, dass kein subjektiver Rechtsanspruch begründet wird. Die vom Gesetzgeber gewählte Formulierung „Rücksicht zu nehmen“ stellt auf eine, die Gefühle und möglichen Konflikte in die Entscheidung miteinzubeziehende, Abwägung der Interessen aller Beteiligten ab.26 Eine solche Abwägung muss neben der faktischen Machbarkeit („Maßgabe der Möglichkeiten“) auch die Interessen anderer als der Anhänger des Islam, im gegenständlichen Fall der Schul-, Kranken- oder Pflegeheimerhalter sowie anderer Schüler oder Patienten, miteinbeziehen. Eine Verpflichtung zur „Halal“-Verpflegung wäre ihrerseits ein Eingriff in die individuelle Religionsfreiheit, da niemand gezwungen werden darf, gegenüber staatlichen Einrichtungen seine Religion oder weltanschauliche Überzeugung offen zu legen und die Ausübung von Religion jedem selbst vorbehalten ist. Niemand darf gezwungen werden, an religiösen Handlungen teilzunehmen. Auch die im 5. Abschnitt enthaltenen Regelungen sind weitgehend wortident aus dem IsraelitenG übernommen, insbesondere die Instrumente der Wahlaufsicht und der Möglichkeit einer Kuratorenbestellung. Das Konzept des „religionsrechtlichen Kurators“ ist ein Ergebnis eines Rechtsentwicklungsprozesses im Bereich der griechisch-orientalischen Kirche in Österreich und stellt ebenfalls grundsätzlich kein Novum dar.27 Das IslamG 2015 stellt somit keine revolutionäre Umgestaltung des österreichischen Kultusrechts aufgrund einer neu aufgetretenen Sachlage dar. Es ist vielmehr ein nächster Schritt in einer evolutionären Weiterentwicklung eines seit mehr als 150 Jahren gewachsenen Regelungsbereiches. Dies bedingt, dass, um dem Erfordernis der Parität gerecht zu werden, bestehende Regelungen aus anderen kultusrechtlichen Normen übernommen werden müssen. Gleichzeitig muss bei sachlichen Unterschieden eine differenzierte Regelung geschaffen werden. Das IslamG 2015 kann daher nur bei gleichzeitiger Betrachtung des gesamten österreichischen Kultusrechts erfasst werden. Die ihm innewohnende Intention der Schaffung von Rechtssicherheit für die äußeren Verhältnisse von Religionsgesellschaften einerseits und andererseits eine Grundlage für ein Zusammenleben von Religionen und Konfessionen in einer

25 Der Begriff „Rücksicht zu nehmen“ ist dabei so zu verstehen, dass nach Maßgabe der Möglichkeiten in der Vollziehung Alternativen zu Speisen, die aufgrund religiöser Bestimmungen nicht konsumiert werden dürfen, zu ermöglichen sind. Daraus kann keine Verpflichtung abgeleitet werden, dass die angebotene oder bereitgestellte Verpflegung den religiösen Speisegeboten entsprechen muss. Als Alternative wäre z. B. ausreichend, dass Speisen selbst mit- oder beigebracht werden können. 26 VfSlg 19947/2014. 27 Österreichisches Archiv für Kirchenrecht 44/1995 – 97, S. 215 ff.

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grundrechtsbasierenden demokratischen Marktwirtschaft zu sein, ist aber nicht auf Österreich beschränkt. Inwieweit die richtigen Ansätze gewählt wurden, werden Umsetzung und Judikatur der kommenden Jahre zeigen.

MinR Mag. Oliver Henhapel ist Leiter des Kultusamtes im Bundeskanzleramt Österreich, Wien.

Islamisches Leben in Deutschland muss sich vom Ausland frei machen Von Alexander Radwan „Der Islam gehört zu Deutschland“, sagte 2010 der damalige Bundespräsident Christian Wulff. Ist das so? Und wenn ja, welcher Islam gehört zu Deutschland? Die Mehrheit der Muslime lebt ihren Glauben konform mit den Grundwerten unserer Gesellschaft. Gleichzeitig beansprucht eine extremistische Randgruppe die Deutungshoheit über das islamische Leben für sich. Die Politik muss Rahmenbedingungen schaffen, in denen Muslime in Deutschland ihr Glaubensleben vermehrt aus dem eigenen Kreis, sozusagen aus sich selbst heraus, losgelöst von ausländischen Einflüssen, organisieren und finanzieren. Bezieht sich die verfassungsrechtlich festgeschriebene säkulare Ordnung allein auf die Trennung von Kirche und unserem Bundesstaat oder auf die Trennung von Religion und Staat in Deutschland? Der Gesetzgeber muss tätig werden, um das friedliche Miteinander der Religionen in Deutschland und Europa nicht zu gefährden. * Mein Vater, ein gebürtiger Ägypter, kam in den 1950er-Jahren zum Studieren nach München, wo er meine Mutter kennenlernte. Indem er eine katholische bayerische Lehrerin heiratete, wählte er, wie ich salopp zu sagen pflege, den härtesten Weg der Integration. Das Ägypten, das er damals verließ und das ich in den 1970er-Jahren zum ersten Mal besuchte, war ein anderes als heute: Alexandria, die ägyptische Hafenstadt am Fuße des Mittelmeeres, galt als offen, liberal und dem Westen zugewandt. Frauen, die ein Kopftuch als religiöses Zeichen trugen, sah man im Straßenbild der pulsierenden Stadt eher selten. Das Stadtbild Kairos war bestimmt von modernen, weltoffenen Menschen. Auch Metropolen wie Teheran, Tunis, Beirut oder Istanbul waren zu dieser Zeit dafür bekannt, offen, westlich orientiert und gleichzeitig islamisch geprägt zu sein. Wenn man diese Städte heute besucht, zeigt sich ein vollkommen anderes Bild. Ein Großteil der weiblichen Bevölkerung trägt ein Kopftuch oder verschleiert sich sogar im öffentlichen Raum. Diese Beobachtung steht symptomatisch für eine Entwicklung: Die islamische Welt – in vorrangig arabisch, türkisch und persisch geprägten Regionen gleichermaßen – hat einen Schritt zurück zur konservativeren Auslegung der Glaubensgrundlagen erfahren. Indem wir zugelassen haben, dass islamisches Leben in Deutschland überwiegend aus dem Ausland beeinflusst wird, wurde diese Entwicklung geradezu im-

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portiert. Wir entfernen uns immer mehr von dem Ziel, einen Islam deutscher beziehungsweise europäischer Prägung, der mit unserer Rechtsordnung kompatibel ist, zu etablieren. Dieser ist aber eine wesentliche Voraussetzung für das friedliche Miteinander von Muslimen und Nicht-Muslimen in Europa und der Welt. Ex-Bundespräsident Christian Wulff prägte 2010 den Satz: „Der Islam gehört zu Deutschland“, blieb aber die Antwort auf die Frage, welcher Islam dies sei, schuldig. Den einen Islam gibt es weder im Nahen und Mittleren Osten, noch in Deutschland. Vielmehr sind Sunniten, Schiiten, Aleviten und weitere Strömungen innerhalb der Gemeinschaft der Muslime unterschiedliche Gruppen. Die Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslime bekennt sich zu unserer freiheitlich demokratischen Grundordnung, dem säkularen Staat und dem Vorrang von staatlichem Recht vor Glaubensvorschriften. Gleichzeitig gibt es eine extremistische, nicht zu unterschätzende Randgruppe, die unsere Wertebasis ablehnt und teilweise offen bekämpft. Diese Gruppe, die auch der ehemalige Integrationsbeauftragte Martin Neumeyer, MdL, in seinem Beitrag zu dieser Publikation thematisiert, trägt maßgeblich zur Radikalisierung bei. In der Folge wird diese Religion immer mehr abgelehnt. Mit dem Argument, dass der Staat sich nach unserem Verfassungsrecht in innere Angelegenheiten von Glaubensgemeinschaften nicht einmischen darf, haben Politik und Justiz hier zu lange weggesehen. Außen- sowie innenpolitische Ereignisse der letzten Jahre zwingen uns, die längst überfällige Debatte zur Frage, wie islamisches Leben in Deutschland organisiert sein muss, endlich anzugehen, um einerseits die Rechte moderater Muslime zu schützen und zu stärken sowie andererseits extremistische Radikalisierung zu bekämpfen. Gleichzeitig müssen die Grenzen der Religionsfreiheit, der kollektiven wie individuellen, definiert werden. Diese Grenzen müssen natürlich für alle Religionen, auch für die christlichen Kirchen und das Judentum gelten. Unzweifelhaft ist es die Entwicklung des Islams, die uns zu dieser Debatte zwingt, in der der alleinige Blick auf Aspekte des Verfassungsschutzes und des Strafrechts zu kurz greift. Zunehmende arabische Prägung des Islam in Deutschland Die Frage nach der Organisation und Praxis islamischen Lebens in Deutschland und Europa ist nicht zuletzt durch die Flüchtlingskrise im Herbst 2015 zunehmend in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung und Debatte gerückt. Nach Hochrechnungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) sind zwischen 2011 und 2015 rund 1,2 Millionen muslimische Männer und Frauen nach Deutschland gekommen. Der Anteil der neu Zugewanderten an den zwischen 4,4 und 4,7 Millionen in Deutschland lebenden Muslimen beträgt 27,3 Prozent.1 Gut jeder vierte Muslim ist 1 Stichs, Anja: Wie viele Muslime leben in Deutschland? Eine Hochrechnung über die Anzahl der Muslime in Deutschland zum Stand 31. 12. 2015 im Auftrag der Deutschen Islamkonferenz und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Nürnberg 2016.

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folglich erst kürzlich in Deutschland eingetroffen. Viele der Menschen, die in den vergangenen Jahren als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, stammen aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan. Muslime aus dem Nahen Osten haben sich mit einem Anteil von 17,1 Prozent zur zweitgrößten Herkunftsgruppe entwickelt. Diese Entwicklung hat das muslimische Leben in Deutschland bereits jetzt verändert: Der Islam in Deutschland ist bislang stark von türkischstämmigen Bürgern geprägt, die seit vielen Jahren die mit Abstand größte Herkunftsgruppe der muslimischen Bevölkerung in Deutschland darstellen. Er wird künftig zusätzlich verstärkt arabische Aspekte beinhalten. Deutschland und Europa stehen vor der Mammutaufgabe, die Flüchtlinge mit langfristiger Bleibeperspektive bestmöglich in unsere Gesellschaft zu integrieren, um ideologische Abschottung und die Bildung von Parallelgesellschaften zu verhindern. Wir müssen die Integration aktiv einfordern. Meiner Ansicht nach dürfen wir dabei nicht blauäugig sein. Die vielen haupt- und ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, die sich in beispielloser Art und Weise für Flüchtlinge engagieren, leisten Gewaltiges: Neben der Bearbeitung von Asylanträgen kümmern sie sich unter anderem um Unterbringung, Versorgung mit Kleidung und Lebensmitteln sowie um kulturelle, medizinische und sportliche Angebote. Sie helfen bei der Organisation von Sprachkursen und begleiten bei Behörden- und Amtsgängen, Anwaltsbesuchen und der Arbeitssuche. Dieses Engagement schätze ich sehr, es zeigt nicht nur ein positives Bild unseres Landes, sondern erleichtert die Ankunft in einem fremden Land und trägt ungemein zur Integration der zu uns Kommenden bei. Allerdings war, wie ich in vielen Gesprächen erfahren habe, die Ausübung der Religion der Flüchtlinge in vielen Orten oft kein Thema. In Deutschland ist Religion für sehr viele Privatangelegenheit, in ihren Heimatländern aber oftmals zentraler Bestandteil des gesellschaftlichen Zusammenlebens. In Deutschland werden Flüchtlinge ungewollt alleingelassen und Organisationen, die nicht auf dem Fundament des Grundgesetzes stehen, schließen diese Lücken. Wir dürfen nicht wegschauen und den angesprochenen radikalen Randgruppen die Deutungshoheit über den Islam überlassen. Es bedarf hier einer Alternative. Wir müssen die moderaten, liberalen Muslime, die bereits länger in unserem Land leben, auffordern und unterstützen, Strukturen aufzubauen, um entsprechende mit unserem Leben vereinbare religiöse Angebote zu entwickeln. Gesprächskreis Islam der CSU-Landesgruppe Den Gesprächskreis Islam hat die CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag bereits im Juni 2015 ins Leben gerufen. Das Bundesverfassungsgericht hatte 2015 in einem konkretisierenden Urteil zum Kopftuch entschieden, dass ein pauschales Verbot religiöser Bekundungen in öffentlichen Schulen durch das äußere Erscheinungsbild von Pädagoginnen und Pädagogen mit deren Glaubens- und Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG) nicht vereinbar sei. Das Urteil entfachte eine heftige Debatte über das Verhältnis von staatlich gebotener Neutralität im öffentlichen Dienst und der Religionsfreiheit. Ziel des Gesprächskreises Islam war es zunächst, über die

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Religion sowie ihre verschiedenen regionalen beziehungsweise theologischen Strömungen zu informieren. Somit sollten Einblicke in häufig auf religiösen Fragen beruhende Entwicklungen sowie politische Spannungen im Nahen und Mittleren Osten ermöglicht werden. Durch die Ereignisse im Sommer desselben Jahres wurde aus dem ursprünglich außenpolitischen Thema ein innenpolitisches. Fragen nach der Kompatibilität des Islam mit den rechtsstaatlichen, demokratischen und säkularen Grundwerten, auf denen unsere Gesellschaft fußt, wurden in der Folge kontrovers diskutiert. Im Rahmen der Organisation islamischen Lebens in Deutschland müssen unter anderem Fragen der Gestaltung islamischen Religionsunterrichts, der Auswahl von Lehrkräften, der Seelsorge, der Ausbildung von Imamen sowie der Finanzierung diskutiert werden. Bei der Debatte über die Finanzierung kommt man allerdings schnell in den Bereich der Außenpolitik zurück, denn viele Moscheeverbände und -vereine werden überwiegend aus dem Ausland, mitunter direkt von ausländischen Staaten, getragen. Auslandsfinanzierung läuft der Integration zuwider So wird neben dem Bau von Moscheen und Gemeindezentren auch die Mehrheit der in Deutschland predigenden Imame von Geldgebern aus dem Ausland finanziert. Die türkische Religionsbehörde (Diyanet), die der türkischen Regierung direkt unterstellt ist, hat nach eigenen Angaben derzeit rund 970 Imame nach Deutschland entsandt, die weiterhin vom türkischen Staat angestellt sind, bezahlt werden und mehrheitlich in den rund 900 von der Ditib verwalteten Moscheen predigen. Viele der türkischen Staatsbeamten sprechen kaum oder kein Deutsch und gehen nach vier bis fünf Jahren zurück in ihre Heimat. Eine Integration ist damit ausgeschlossen. Ziel muss es sein, dass Prediger und Gemeinden ihre Religion als Bestandteil unserer Gesellschaft ausüben und nicht etwa parallel. Dass ihre Loyalität oft sogar nicht zuerst der von ihnen betreuten Gemeinde, sondern vielmehr ihrem Arbeitgeber, dem türkischen Staat, gilt, hat zuletzt die Spionageaffäre um Ditib-Imame zum Jahreswechsel 2016/17 erneut deutlich gezeigt: Einige Imame hatten auf Geheiß der Diyanet Informationen über Anhänger der Gülen-Bewegung, die der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan für den Militärputsch im Juli 2016 verantwortlich macht, gesammelt und dem türkischen Generalkonsulat in Köln übermittelt. Mehrere Bundesländer haben daraufhin Verhandlungen über Staatsverträge mit der Ditib, die unter anderem eine Kooperation im Bereich des islamischen Religionsunterrichtes vorsahen, auf Eis gelegt oder bestehende Vereinbarungen erneut auf den Prüfstand gestellt. Es ist die Diyanet, die auch den in Deutschland praktizierenden Imamen unter anderem Predigtinhalte vorgibt und Schulbücher zur islamischen Religionslehre, in denen beispielsweise das Märtyrertum gepriesen wird, verlegt. Diese Inhalte auf Basis eines konservativ ausgelegten Islams sind nicht mit unserem Grundgesetz kompatibel. Wenn wir aus dem Ausland gesteuerte Religionsgemeinschaften als Partner an unsere Schulen holen, importieren wir das politisch gelenkte Gedankengut aber gleichermaßen auch in die Klassenzimmer. Hier muss der Staat, nicht trotz des Gebots

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der Neutralität, sondern gerade zu seiner Verteidigung, schützend eingreifen und die Verwendung von verfassungsfeindlichem Gedankengut unterbinden. Imame anderer Moscheevereine kommen ebenfalls häufig aus dem Ausland und werden beispielsweise aus den Golfstaaten finanziert. In der Regel sind Moscheevereine in Deutschland als eingetragene Vereine organisiert, die sich zum Teil bestimmten Dachverbänden angeschlossen haben. Die größten vier Dachverbände – Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. (Ditib), Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD), Islamrat und Verband islamischer Kulturzentren (VIKZ) – haben sich im Koordinationsrat der Muslime (KRM) zusammengeschlossen. Schätzungsweise sind jedoch nur 10 bis 20 Prozent der in Deutschland lebenden Muslime in diesen Verbänden organisiert. Folglich finden über 80 Prozent offenbar nur begrenzt ein ansprechendes Angebot zur Ausübung ihrer Religion in den von diesen Vereinen und Verbänden organisierten Gemeinden. Sie fühlen sich häufig von der sehr konservativen Ausrichtung nicht angesprochen. Hier müssen wir ansetzen und den moderaten, liberalen Muslimen Rahmenbedingungen aufzeigen, die es ihnen ermöglichen, ihr Glaubensleben entsprechend zu organisieren und öffentlich zu vertreten. Gleichzeitig müssen wir sie aber auch in die Pflicht nehmen, sich an der Integration in unsere Gesellschaft aktiv zu beteiligen. Der Gesprächskreis Islam der CSU-Landesgruppe will Diskussionen anregen, den politischen Handlungsbedarf für entsprechende Rahmenbedingungen ausloten und Lösungsansätze mit Augenmaß finden. Rahmenbedingungen für islamisches Leben in Deutschland Welche Rahmenbedingungen für islamisches Leben in Deutschland leiten sich in der Folge aus den Gegebenheiten ab, um eben dieses Ziel zu erreichen? Zunächst muss der Einfluss aus dem Ausland auf in Deutschland lebende Muslime deutlich zurückgefahren werden, damit die hier Lebenden den Raum erhalten, muslimische Glaubensgemeinschaften eigenständig zu gestalten. Wichtiger Ansatzpunkt ist die Finanzierung, die transparenter gemacht und überwiegend aus dem Inland sowie aus dem Kreis der Gläubigen selbst erfolgen sollte. Österreich hat sich diesem Thema im Rahmen der Novelle des österreichischen Islamgesetzes von 1912 vor zwei Jahren angenommen. Mit dem überarbeiteten Gesetz, das im Januar 2015 vom Nationalrat verabschiedet wurde, haben österreichische Muslime eine Reihe von Rechten, aber auch gleichermaßen Pflichten erhalten. So müssen sie sich seither ausschließlich über die Religionsgesellschaft, die Kultusgemeinden und ihre Mitglieder im Inland finanzieren und unter dem Dach der beiden islamischen Glaubensgemeinschaften „Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich e.V.“ (IGGÖ) sowie „Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich“ (ALEVI), analog zu den christlichen Kirchen, organisieren. Mit dem Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts erhalten sie im Gegenzug entsprechende Rech-

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te, unter anderem die Möglichkeit, Seelsorge in öffentlichen Institutionen wie beispielsweise der Armee oder in Krankenhäusern anzubieten oder die Anerkennung islamischer Feiertage, die weiterhin keine gesetzlichen sind. Die Seelsorger sowie Lehrkräfte müssen dazu in Österreich ausgebildet werden. Auch wurde in dem österreichischen Gesetz nochmals festgeschrieben, dass staatliches Recht Vorrang gegenüber religiösem Recht hat. Seither können islamische Glaubensgemeinschaften, Kultusgemeinden und Fachverbände als Mitglieder der Glaubensgemeinschaften ihre Anerkennung beim Kultusamt, das im Bundeskanzleramt angesiedelt ist, beantragen. Hier erfolgt auch die Überprüfung der Finanzierungsauflagen. Parallel zur Reduzierung der Auslandsfinanzierung muss die ausreichende Finanzierung des Glaubenslebens aus dem Inland ermöglicht werden. Diese ist nach geltender Rechtslage in Österreich bereits analog der Kirchenfinanzierung möglich, erfolgt aber in der Praxis eigenständig durch die Moscheegemeinden, -vereine und -verbände. Die Finanzierung in Deutschland könnte, analog zu der bereits existierenden Kirchensteuer für Katholiken und Protestanten beziehungsweise der Kulturabgabe für Juden, durch die Muslime selbst erfolgen. Weitere wichtige Ansatzpunkte, um die eigenständige Entwicklung islamischen Lebens in Deutschland unabhängig von Einflüssen aus dem Ausland zu unterstützen, sind die Förderung der innerislamischen theologischen Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Religion und Pluralität, wie sie auch Prof. Dr. Ednan Aslan in seinem Beitrag fordert, sowie die Ausbildung von Imamen, Religionslehrern und Religionslehrerinnen im Inland. Der Diskurs über die Auslegung des Islam im zeitlichen Kontext muss auch in Form einer von religiösen Institutionen unabhängigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung erfolgen. Diese kann durch die fünf von der Bundesregierung geförderten Lehrstühle für islamische Theologie in Tübingen, Erlangen-Nürnberg, Frankfurt, Münster und Osnabrück vorangetrieben werden. Gleichzeitig muss die Ausbildung von Imamen, Lehrern und Lehrerinnen für den islamischen Religionsunterricht verstärkt national erfolgen und sukzessive in die Verantwortung der Bundesländer übergehen, um externen Einfluss zu minimieren. Der Bund kann hier bei der Schaffung von Ausbildungsplätzen unterstützen, letztendlich liegt es aber an den Moscheegemeinden, das Angebot national ausgebildeter Imame auch zu nutzen. Derzeit droht allerdings die erste hier ausgebildete Generation von Imamen arbeitslos zu werden, weil sie scheinbar von weiten Teilen der Verbände und der ausländischen Financiers nicht akzeptiert werden. Der Staat muss auf Strukturen bestehen, die dafür Sorge tragen, dass wir wissen, wer in unserem Land in welcher Art predigt. Verhältnis zwischen Religionsfreiheit und demokratischen Gesetzen In der Debatte um Rahmenbedingungen für religiöses Leben in Deutschland muss neben Fragen nach Seelsorge, Unterricht, Imamausbildung und Finanzierung auch

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das Spannungsfeld beziehungsweise die Auslegung der durch die Verfassung garantierten individuellen Religionsfreiheit thematisiert werden. Dürfen sich religiöse Verhaltensgebote über den Rechtsstaat stellen? Die Antwort ist ein klares Nein. In der Vergangenheit hat sich der Staat in der Abwägung der Prämissen oftmals um Neutralität bemüht. Es geht um die Frage der Grenzen der Religionsfreiheit, der individuellen und der kollektiven. Es muss geklärt werden, wieviel Freiheit notwendig ist und wo die Rechte Dritter beeinträchtigt sind. Können wir es zulassen, dass beispielsweise muslimische Polizeibeamte aufgrund religiöser Verhaltensgebote den Dienst in einem Geschäft, das Alkohol verkauft, ablehnen oder ihre weiblichen Kolleginnen sich weigern, alleine mit einem Mann im Dienstwagen Streife zu fahren? Darf eine Richterin als Repräsentantin des Rechtsstaates bei der Ausübung ihres Amtes im öffentlichen Raum ein Kopftuch als religiöses Zeichen tragen? Udo di Fabio, ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, beantwortet die Abwägungsfrage Ende 2016 in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung wie folgt: „Das vom Einzelnen vertretene Absolute wird vom Rechtsstaat zur Kenntnis genommen und gewichtet. Doch das demokratisch beschlossene Gesetz, dem alle unterworfen sind, darf nicht zurückweichen.“2 Die Grundwerte, auf denen unsere Gesellschaft fußt, ermöglichen nicht nur Religionsfreiheit, sie zeigen auch ihre Schranken auf, die jetzt genauer definiert werden müssen – durch Politik, aber auch durch Wissenschaft und die Judikative. Auslegung der „Trennung von Staat und Kirche“ Wenn ich Verfassungsjuristen frage, ob beispielsweise das Bayerische Ministerium für Bildung und Kultus, Wissenschaft und Kunst einen Beamten mit abgeschlossenem Studium der Theologie und Missio canonica an eine katholische Gemeinde in Bayern mit Priestermangel abbestellen kann, ihn aber, obgleich er Seelsorge leistet und Messen liest, weiter aus der Staatskasse bezahlen darf, erhalte ich eine klare Absage. Das halte ich für richtig. Frage ich, ob der türkische Staat eine Abbestellung ähnlich der eben beschriebenen vornehmen kann, soll dies verfassungsrechtlich möglich sein. Die verfassungsrechtlich festgeschriebene säkulare Staatsordnung gilt hier als Trennung zwischen Kirche und unserem Bundesstaat und nicht als Trennung von Staat und Religion in Deutschland. Diese Argumentation verwundert. Wenn wir – wie ich finde, zu Recht – keinen Einfluss des deutschen Staates auf die Religionsausübung und umgekehrt dulden, dürfen wir nicht gleichzeitig allen anderen Staaten die Hintertür für mitunter interessensgeleitete Einflussnahme eröffnen. Das, was für Deutschland als Grundsatz gilt, sollte auch für alle anderen Staaten gelten.

2 Di Fabio, Udo: Begegnung mit dem Absoluten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22. 12. 2016, S. 6.

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Friedliche Koexistenz mit dem Islam Das Gestalten des islamischen Lebens in Deutschland durch die hier lebenden Muslime ist Voraussetzung für die friedliche Koexistenz, die wir national und international mit dem Islam wollen und brauchen. Sie ist ebenfalls unerlässlich für die erfolgreiche Integration der vielen, vorrangig muslimischen Menschen, die in den vergangenen Jahren auf der Suche nach Schutz vor Bürgerkrieg und Verfolgung zu uns gekommen sind und hier eine langfristige Bleibeperspektive suchen. Dazu gehört, dass muslimische Organisationen und Institutionen eigenständig dafür Sorge tragen, dass gläubige Moslems ungeachtet der in den Moscheen vermittelten Glaubensinhalte nicht den Grundrechten und -werten in Deutschland widersprechen. Unsere freiheitliche, demokratische Grundordnung darf nicht durch eine falsch verstandene Toleranz ad absurdum geführt werden. Diese Werte wie Toleranz, Rechtstaatlichkeit und Religionsfreiheit sind nicht einseitig. Sie respektieren das Individuum, müssen aber auch respektiert werden. Die Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslime ist mit diesen Grundwerten in Einklang. Unsere Aufgabe muss es sein, diese bei ihrem Streben, den Glauben auf Basis der hier herrschenden Wertegemeinschaft zu leben, zu unterstützen. Sie sind es, die wir in den Fokus unserer politischen Bemühungen stellen müssen – nicht die abzulehnende ideologisch extremistische Minderheit, die Glaubensvorschriften über den Rechtsstaat stellt. Es ist an uns, Rahmenbedingungen zu schaffen, die einen Wandel in der muslimischen Gesellschaft befördern. Dieser muss zukünftig von seinen Mitgliedern selbst gestaltet werden. Ein Gesetz wie beispielsweise ein „Islamgesetz“ alleine wird dies nicht leisten können. Es bedarf einer ganzen Reihe von Bundes- und vor allem Landesinitiativen. Die Beziehungen zu den Religionsgemeinschaften obliegen bekanntermaßen den Bundesländern. Bei den Beziehungen müssen sich die Besonderheiten der einzelnen Religionsgemeinschaften wiederfinden, ohne die Gleichbehandlung zu verletzen. Grundlage für die eigene Entfaltung islamischen Lebens in Deutschland ist die Akzeptanz der Trennung von Staat und Religion in Deutschland, beginnend bei der Loslösung von der Finanzierung des Glaubenslebens durch ausländische Staaten. Es geht um einen Islam, der kompatibel mit den rechtlichen sowie gesellschaftlichen Gegebenheiten in Deutschland und Europa ist. Zeigen wir, dass es geht. Es geht um das friedliche Miteinander. Wenn wir das nicht einfordern, ist dieses gefährdet. In Europa haben wir den Krieg durch die Europäische Union überwunden. 70 Jahre Frieden stehen dafür. 60 Jahre Römische Verträge erinnern uns an die Kernaussage der Gründerväter: Nie wieder Krieg! Dieses Projekt muss ein Erfolg bleiben. Zusätzlich stehen wir vor der Herausforderung des friedlichen Miteinanders der Religionen, national wie international. Der Journalist Peter Scholl-Latour hat vor vielen

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Jahren sinngemäß gesagt: „Die nächsten großen Kriege werden Religionskriege sein.“ Hier müssen wir – wie in Europa – Brücken bauen, damit dies nicht eintritt. Beginnen wir in Deutschland!

Alexander Radwan, MdB ist Leiter des Gesprächskreises Islam der CSU-Landesgruppe im Deutschen Bundestag sowie Mitglied im Finanzausschuss und im Auswärtigen Ausschuss.