Inwastement - Abfall in Umwelt und Gesellschaft [1. Aufl.] 9783839430507

Waste is developing a completely autonomous social, economic, and ecologic power. It forms the inwastement of a society,

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German Pages 342 Year 2016

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Inwastement - Abfall in Umwelt und Gesellschaft [1. Aufl.]
 9783839430507

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung: Inwastement
Dinge
Hausmüll, Industriemüll
Lebensmittelabfälle als ethisch-kulturelle Herausforderung
CO2-Emissionen Lastenver teilung und Governance im Kontext von Ef fizienz und Gerechtigkeit
Orte
Geschichte der Deponie – ist Deponie Geschichte?
Slum(scapes): Armut und mobile Erlebniswelten
Ozeane
Wege
Abfall und Globale Stoffströme – vom Archaikum zum Anthropozän
Phosphorwege in Richtung Nachhaltigkeit
Recycling als Kulturtechnik
Zeiten
Bioarchäologie des Abfalls Ein Schlüssel zur Alltagsgeschichtsforschung
Eine Million Jahre? Über die juristische Metaphysik der atomaren Endlagerung
Abfall(ge)schichten Der Müllhistoriker als Detektiv
Autorinnen und Autoren
Personenregister
Orts-, Regionen- und Länderregister
Sachregister

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Jens Kersten (Hg.) Inwastement – Abfall in Umwelt und Gesellschaft

Kulturen der Gesellschaft | Band 16

Jens Kersten (Hg.)

Inwastement – Abfall in Umwelt und Gesellschaft

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: nachtschreck / photocase.de Satz: Alexander Masch, Bielefeld Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3050-3 PDF-ISBN 978-3-8394-3050-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort   | 7 Einleitung: Inwastement Jens Kersten  | 9

D inge Hausmüll, Industriemüll Roman Köster  | 29

Lebensmittelabfälle als ethisch-kulturelle Herausforderung Markus Vogt  | 55

CO 2 -Emissionen Lastenver teilung und Governance im Kontext von Effizienz und Gerechtigkeit Karen Pittel  | 83

O rte Geschichte der Deponie – ist Deponie Geschichte? Soraya Heuss-Aßbichler und Gerhard Rettenberger  | 109

Slum(scapes): Armut und mobile Erlebniswelten Eveline Dürr  | 131

Ozeane Reinhold Leinfelder und Rüdiger Haum  | 153

W ege Abfall und Globale Stoffströme – vom Archaikum zum Anthropozän Wolfram Mauser  | 183

Phosphorwege in Richtung Nachhaltigkeit Claudia R. Binder, Michael Jedelhauser und David Wagner  | 205

Recycling als Kulturtechnik Helmuth Trischler  | 227

Z eiten Bioarchäologie des Abfalls Ein Schlüssel zur Alltagsgeschichtsforschung Gisela Grupe   | 247

Eine Million Jahre? Über die juristische Metaphysik der atomaren Endlagerung Jens Kersten  | 269

Abfall(ge)schichten Der Müllhistoriker als Detektiv Christof Mauch  | 289

Autorinnen und Autoren   | 309 Personenregister   | 315 Orts-, Regionen- und Länderregister   | 319 Sachregister   | 323

Vorwort

Der vorliegende Band über »Inwastement« ist aus der interdisziplinären Zusammenarbeit seiner Autorinnen und Autoren über Abfall in Umwelt und Gesellschaft hervorgegangen. Vor allem zwei Institutionen der Ludwig-Maximilians-Universität München haben diese fächerübergreifende Kooperation sowie diese Publikation nachhaltig gefördert: Das Rachel Carson Center for Environment and Society (RCC) ist ein ganz besonderer Ort, an dem sich das gemeinsame Interesse für das Verhältnis von Natur und Kultur mit einer einmaligen wissenschaftlichen Freiheit des interdisziplinären Austauschs und des internationalen Dialogs verbindet. Ganz besonders möchten wir uns bei den beiden Direktoren des RCC – Christof Mauch und Helmuth Trischler – bedanken, die den Anstoß für unsere Gespräche zum Thema »Abfall« gegeben und diese über die letzten Jahre sehr großzügig institutionell begleitet haben. Darüber hinaus hat das Center for Advanced Studies (CAS) der LudwigMaximilians-Universität München den Schwerpunkt »Abfall in Umwelt und Gesellschaft« eingerichtet: In der Vortragsreihe »Was machen wir mit dem Müll?« haben wir im Wintersemester 2013/2014 die Thesen unserer Beiträge erstmals vorgestellt. Mit den Visiting Fellows des CAS – insbesondere mit Zsuzsa Gille, Jacob Darwin Hamblin und Martin Melosi – konnten wir unsere Ideen und Ergebnisse diskutieren. Die internationale Tagung »Whose Waste, Whose Problem?«, die im Wintersemester 2014/2015 am CAS stattfand, hat Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus den verschiedensten Disziplinen und Ländern – von Argentinien bis China – zusammengeführt. Für diese wunderbaren Möglichkeiten des interdisziplinären und internationalen Gesprächs gilt unser besonderer Dank nicht nur den Fellows des CAS, sondern auch dessen Direktor Christof Rapp und dessen Geschäftsführerin Annette Meyer sowie Sonja Asal und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des CAS. Schließlich möchten wir uns ganz herzlich bei Eva-Maria Ehemann, Hildegard Lay, Laura Münkler, Nina Rinke, Judith Schamell und Lea-Marie Weischede für die intensive Unterstützung bei der Publikation dieses Bandes bedanken. München, im November 2015

Jens Kersten

Einleitung: Inwastement Jens Kersten

I nvestment und I nwastement Wir investieren gezielt in unsere Zukunft, nicht nur finanziell, sondern auch im Hinblick auf Emotionen, Bildung und Gesundheit. Ob sich diese Investitionen auszahlen, wissen wir nicht. Investitionen prägen nicht nur unser individuelles Verhalten, sondern auch ganze Gesellschaften: Öffentliche Güter, Infrastrukturen und soziale Sicherungssysteme sind Investitionen in unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Aber auch hier weiß niemand, ob sich diese Investitionen auszahlen. Das Inwastement – also der Abfall, den Menschen und Gesellschaften produzieren – ist in vielerlei Hinsicht das genaue Gegenteil einer Investition: Wir produzieren Abfall nicht gezielt, sondern nebenbei. Im Gegensatz zur Investition wollen wir die Wege und Konsequenzen unserer Inwastements nicht verfolgen: Investitionen dienen der Vorsorge. Inwastements werden demgegenüber entsorgt: Aus den Augen, aus dem Sinn! Im Gegensatz zu Investitionen wünschen wir uns im Fall des Inwastements auch keine Rendite: Wir wollen unseren Abfall um keinen Preis und schon gar nicht mit einem »Mehrwert« zurück haben. Anders als bei unseren Investitionen können wir uns aber bei unserem Inwastement sicher sein, dass es wieder auftauchen wird: bei uns selbst, beispielsweise in Form von verklappten Chemikalien, Plastikpartikeln oder Schwermetallen, die sich über die Nahrungskette in unseren eigenen Körpern anreichern und ablagern; im Globalen Süden, in den wir beispielsweise unseren Elektroschrott und Krankenhaussondermüll verschieben; global, wenn das von uns produzierte CO2 das Klima verändert; oder bei künftigen Generationen und der nichthumanen Nachwelt, denen wir unseren Atommüll der letzten fünfzig Jahre für die nächste eine Million Jahre hinterlassen.

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Inwastement – Abfall in Umwelt und Gesellschaf t

W as ist A bfall? Inwastement kennt viele Abstufungen und Formen, die schon in der begrifflichen Vielfalt greif bar werden: Abfall, Abwasser, Asche, Bodensatz, Brühe, Dreck, Emission, Exkremente, Fäkalien, Fäulnis, Film, Fleck, Garbage, Gammel, Gestank, Gifte, Gülle, Jauche, Junk, Kadaver, Kehricht, Litter, Mist, Müll, Plunder, Ramsch, Rest, Rubbish, Ruß, Schlacke, Schlamm, Schleim, Schmiere, Schredder, Schund, Spam, Staub, Schmutz, Schrott, Schutt, Trash, Trümmer, Unrat, Verschnitt, Verunreinigung, Verwesung, Waste, Wrack … Aber so viele Abstufungen und Formen von Inwastement man auch sprachlich unterscheiden mag, sie sind alle übrig geblieben und können, müssen oder sollen jetzt weg. An diese Beobachtung knüpft die wohl bekannteste Definition des Abfalls an: »We are left« – so Mary Douglas – »with the old definition of dirt as a matter out of place« (Douglas 1966 [1984]: 36). Diese Definition hat viel Zustimmung gefunden, aber auch viel Kritik erfahren. Dabei hat sich die Kritik vor allem an dem strukturalistischen Ansatz entzündet, den Douglas ihrer Begriffsbestimmung zugrunde legt. Denn nach ihrer Definition – Schmutz als Sache, Gegenstand, Material oder Materie am falschen Ort – fährt Douglas fort: »This is a very suggestive approach. It implies two conditions: a set of ordered relations and a contravention of that order. Dirt then, is never a unique, isolated event. Where there is dirt there is a system. Dirt is a by-product of a systematic ordering and classification of matter, in so far as ordering involves rejecting inappropriate elements. This idea of dirt takes us straight into the field of symbolism and promises a link-up with more obviously symbolic systems of purity« (Douglas 1966 [1984]: 36). Dieser dualistische Strukturalismus entdeckt den Abfall also in der klaren Unterscheidung von Ordnung und Unordnung. Gerade weil strukturalistische Ansätze mit einem universalistischen Deutungsanspruch auftreten, können sie in globaler Perspektive aber kaum überzeugen. Ganz in diesem Sinn haben Rivke Jaffe und Eveline Dürr darauf hingewiesen, dass Douglas’ Definition des Abfalls zugleich zu abstrakt und zu konkret ist (Jaffe/Dürr 2010: 4f.): Sie ist einerseits zu abstrakt, wenn sie die sozialen und historischen Kontexte ausblendet. Andererseits erscheint sie aber auch zu konkret auf eine Theorie der »modernen« Gesellschaft zugeschnitten, die sich durch binär codierte Subsysteme konstituiert sieht: »Der Abfall der Gesellschaft« ist zwar eines der ungeschriebenen Werke der Systemtheorie. Es entfaltet aber gleichwohl einen subkutanen Einfluss, wenn etwa im Hinblick auf die »modernen« Wohlfahrts- und Wegwerfgesellschaften vom Abfall als der binären »Kehrseite« des Konsums gesprochen wird (Windmüller 2004; Eriksen 2013). Gerade in diesem Punkt plädieren jedoch Jaffe und Dürr zu Recht dafür, der von Douglas selbst unterstrichenen Suggestion strukturalistischen Denkens zu widerstehen: Insbesondere postkoloniale Ansätze in den Kultur-

Kersten – Einleitung: Inwastement

wissenschaften sehen ein dichotomes Gesellschaftsverständnis kritisch. Sie betonen stattdessen die dynamische Veränderung von Gesellschaften und Kulturen durch soziale und politische Aushandlungsprozesse, die durch lokale und globale Rahmenbedingungen geprägt werden – und dementsprechend auch ganz andere Folgen für den Begriff und das Verständnis von Abfall haben. Diese kritische Einordnung des strukturalistischen Ansatzes von Mary Douglas bedeutet jedoch keineswegs, dass man ihre Definition von Abfall zwingend verabschieden müsste (Jaffe/Dürr 2010: 5). Man kann sie auch anders lesen und verstehen, indem man nicht einseitig auf die binäre Codierung »rein/unrein« fokussiert, sondern das Spannungsverhältnis zwischen den beiden zentralen Begriffsmerkmalen »Materie« und »am falschen Ort« entfaltet. Im Grundsatz bleibt es damit bei der Erkenntnis, dass Abfall eine soziale Konstruktion ist: »Es gibt keine Gegenstände, die aufgrund ihrer inneren Beschaffenheit schon ›Abfall‹ sind, und kein Gegenstand kann durch seine innere Logik zu Abfall werden« (Bauman 2005: 35; ferner Eriksen 2013: 1, 120). Menschen und Gesellschaften entscheiden vielmehr darüber, welche Sachen übrig bleiben und abfallen. Diese soziale »Konstruktion des Wertvollen« (Keller 2009) und damit eben auch des Wertlosen ist ein »schöpferischer Akt« (Bauman 2005: 36). Er kann in einer bewussten, dichotomen Entscheidung bestehen: »Das behalt’ ich jetzt und das schmeiß’ ich jetzt weg!« Doch die soziale Konstruktion von Abfall muss nicht in dieser Weise zugespitzt erfolgen. Sie kann sich auch unbewusst vollziehen und ambivalent ausfallen. Die Grenzen zwischen dem Wertvollen und dem Wertlosen können verschwimmen, sich zeitlich ausdehnen oder sich graduell entwickeln (Thompson 1981: 28). »Alle Grenzen erzeugen« – so hat es Zygmunt Bauman formuliert – »eine Ambivalenz, doch diese ist außergewöhnlich fruchtbar. So sehr man sich auch um Klärung bemüht, die das ›nützliche Produkt‹ von ›Abfall‹ trennt, bleibt eine Grauzone: ein Königreich des ungenau Definierten, der Ungewißheit – und der Gefahr« (Bauman 2005: 43). Damit wird deutlich, dass die soziale Konstruktion von Abfall sehr viel ambivalenter ausfällt, als dies im strukturalistischen Denken angelegt ist. Dieses schafft mit seinen normativ überschießenden Ordnungsvorstellungen binärer Codierung nur scheinbar klare Verhältnisse und folglich allenfalls eine oberflächliche »Sauberkeit« im gesellschaftlichen Diskurs über Abfall. Überschätzt der strukturalistische Ansatz die Klarheit der sozialen Konstruktion, so unterschätzt er zugleich die »Materialität« des Abfalls: In der Definition, Schmutz seien Gegenstände am falschen Ort, erscheint die Materie vollkommen relativ und passiv. Es wird suggeriert, es gebe eigentlich keinen »Schmutz«, sondern nur »falsche Orte«. Aber ganz so relativistisch lässt sich Abfall begrifflich und konzeptuell nicht erfassen (Jaffe/Dürr 2010: 5; Eriksen 2013: 20). Deshalb gilt es, im Rahmen der konstruktivistischen

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Begriffsbestimmung die Materialität des Abfallgegenstands und Abfallortes ernst zu nehmen. Dies entspricht dem Plädoyer, angesichts des vorherrschenden strukturalistischen Verständnisses auch die Materialität des Abfalls und seiner Orte (wieder) stärker in den Blick zu nehmen (Rathje/Murphy 1994; Hawkins 2006: 2ff.; in ästhetischer Perspektive Wagner 2001: 57ff.; Scanlan 2005: 89ff.). Aufgrund dieser materialistischen Perspektiverweiterung kommt über die damit aufgerufenen sozialen, historischen und kulturellen Kontexte bereits mehr Spannung in unsere Diskussionen über Abfall. Doch gerade Bruno Latour und Jane Bennett haben gezeigt, dass man hier noch einen Schritt weitergehen kann: Latour hat das Ozonloch und folglich einen Abfallort zum Anlass genommen, um seine Variation der Akteur-Netzwerk-Theorie zu entfalten, in der menschliche Akteure und nicht-menschliche Aktanten in hybriden Konstellationen interagieren (Latour 2008: 7ff., 18ff., 22ff., 43ff., 49, 55ff., 67ff.). Und Bennett nimmt Reflexionen über Abfall auf der Straße zum Anlass, ihr Verständnis von »Thing-Power« zu entfalten, das ebenfalls auf eine Assemblage von Akteuren und Aktanten hinausläuft, die miteinander umgehen (Bennett 2010: 4ff.). Mary Douglas’ »matters out of place« sind also »virbrant matters« (Bennett 2010): durch ihre Ästhetik, ihre Mobilität und ihre Risiken. Nicht nur Menschen gehen mit Abfall um, sondern Abfall beeinflusst auch aktiv menschliches Verhalten und Handeln.

P r a xis , N orm und K onte x t Die Verbindung eines materiellen Gegenstands und einer sozialen Konstruktion zu Abfall resultiert in einer sozialen Praxis, die durch Normen und Kontexte bestimmt wird. Deshalb bildet der Dreisatz »Praxis – Norm – Kontext« einen Schlüssel, um das Inwastement von Individuen und Gesellschaften zu verstehen. Dabei meint Praxis die sozialen, politischen, ökologischen, ökonomischen und technischen Formen und Konstellationen, in denen Menschen und Gesellschaften mit Abfall umgehen. Mit Norm wird auf die individuellen und kollektiven Normvorstellungen verwiesen, die unser Verhältnis zu Abfall bestimmen. Dabei sind nicht nur ethische und juristische, sondern auch soziale und kulturelle Regeln von ganz entscheidender Bedeutung. Abfall in seinem Kontext zu sehen, bedeutet schließlich die kulturellen Bedingungen, Differenzen und Zusammenhänge zu reflektieren, die unseren Umgang mit Abfall prägen. Vor dem Hintergrund dieser durch Praxis, Norm und Kontext bestimmten Analyse wird zugleich deutlich, warum das Inwastement einer Person, einer Familie, einer Stadt, einer Region, einer Gesellschaft, einer Kultur, eines Kontinents, einer Epoche oder eines Erdzeitalters so viel über diese aussagt (Rathje/Murphy 1992; Strasser 1999: 5; Hawkins 2006: 4; Eriksen 2013: 7, 29ff.). Wir können menschliche, soziale und epochale Profile aufgrund von

Kersten – Einleitung: Inwastement

Abfall historisch rekonstruieren, gegenwärtig erkennen und künftig prognostizieren. Aus der Tatsache, dass sich Inwastements als die soziale Konstruktion einer Materie über den Dreisatz »Praxis – Norm – Kontext« erschließen lassen, kann aber noch etwas Weiteres gefolgert werden: Abfall ist ein Kompositum. Bruno Latour deutet dies in seinem »Kompositionistischen Manifest« an, wenn er – ironisch – den »Kompost« als Beispiel für seine kompositionistische Weltsicht anführt (Latour 2010: 474; 2013: 11). Grundsätzlich nimmt dieses kompositionistische Verständnis die soeben entwickelte Erkenntnis auf, dass Abfall keine Kategorie a priori ist. Vielmehr setzt sich Abfall aus verschiedenen Komponenten zusammen, die zum einen seiner materiellen Gegenständlichkeit und zum anderen seiner sozialen Konstruktion geschuldet sind. In materieller Hinsicht kann Abfall nicht nur aus einer Materie, sondern aus vielen Materien bestehen. Dies gilt sowohl für einzelne Abfallgegenstände, die aus verschiedenen Stoffen (z.B. Holz, Metall, Plastik) produziert werden, als auch für die gemeinsame Entsorgung vieler unterschiedlicher Abfallgegenstände in einer Mülltonne und einer Müllverbrennungsanlage, auf einem Komposthaufen oder einer Deponie. Aber auch hinsichtlich der sozialen Konstruktion des Abfalls handelt es sich bei diesem um ein Kompositum, das aus der Kombination von Praxen, Normen und Kontexten resultiert. So besteht Abfall aus materiellen und sozialen Komponenten, die sich in einer hybriden Konstellation bzw. Assemblage von Akteuren und Aktanten verbinden.

A bfallwissenschaf ten – kein U nderground Dieses Verständnis von Inwastement als einer hybriden Konstellation aus materiellen Gegenständen und sozialen Konstruktionen, in der Akteure und Aktanten interagieren, hat auch Folgen für die Abfallwissenschaften. Es sei – so Thomas Hylland Eriksen – »ein kleines Mysterium, dass Konsumforschung Mainstream ist, Abfallforschung dagegen Underground bleibt« (Eriksen 2013: 7). Dieser wissenschaftlichen Selbststilisierung wird man in dieser Pauschalität jedoch kaum zustimmen können. Selbst wenn man einmal die Archäologie außen vor lässt, kann die Abfallforschung sehr selbstbewusst auf eine epistemologische Tradition zurückblicken, die ihre Klassiker und Trendsetter kennt: Mary Douglas’ Purity and Danger (1966), aber auch Michael Thompsons Die Theorie des Abfalls (1981) haben zu theoretischen Paradigmenwechseln in der Abfallforschung geführt, die unsere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Abfall bis heute prägen. Vance Packard hat mit The Waste Makers (1960) eine bahnbrechende Analyse der Konsum- als Wegwerfgesellschaft geschrieben, in deren Archäologie William Rathje und Cullen Murphy in Müll (1994) abgetaucht sind und deren Geschichte mit Susan Strassers Waste and Want (1999) vorliegt. Die Diskussion um den Müll der Städte wird durch Martin

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Melosis The Sanitary City (1999) und Garbage in the Cities (2005) ebenso geprägt wie durch Mike Davis’ Planet of Slums (2007). Zygmunt Bauman hat in Verworfenes Leben (2005) die Parallelen zwischen Abfall und Ausgrenzung gezogen. John Scanlans On Garbage (2005), Gay Hawkins’ The Ethics of Waste (2006) und Thomas Hylland Eriksens Mensch und Müll (2013) werben für ein kulturwissenschaftliches Verständnis von Abfall. Und Michael Braungart und William McDonough entwickeln in Cradle to Cradle (2014) und in Intelligente Verschwendung (2013) Visionen öko-effektiver Produktion und Strategien des Upcyclings. Diese Aufzählung ließe sich fortsetzen. Doch Sie werden als Leserin oder Leser dieses Buchs den genannten Autorinnen und Autoren immer wieder begegnen. Dies zeigt, dass der interdisziplinäre Zugang zu Inwastements bereits auf einen reichen Forschungsstand zurückgreifen und auf bauen kann.

I nterdisziplinarität : D as »S pülwasser der U ngenauen «? Es ist gerade diese interdisziplinäre Perspektive, um die wir uns in diesem Band über Inwastement bemühen. Doch wenn der Eindruck nicht täuscht, befindet sich der interdisziplinäre Austausch gegenwärtig auf dem wissenschaftspolitischen Rückzug. Nach den Jahren der interdisziplinären Euphorie scheint gegenwärtig der Trend wieder in die disziplinäre Richtung zu weisen und kann sich dabei auf ein bitterböses Diktum Ralf Dahrendorfs berufen: »Der Traum geht vielmehr weiter. Seine methodologische Version heißt ›Interdisziplinarität‹, jenes lauwarme Spülwasser der Ungenauen, der geistig Halbstarken, die sich der Disziplin mit Vokabeln zu entziehen suchen, nach deren Bedeutung weder im Satzzusammenhang noch sonst in einem Zusammenhang gefragt werden kann« (Dahrendorf 1979: 114). Hier wird die interdisziplinäre Arbeit selbst zum Abfall der Wissenschaft erklärt: zum »lauwarmen Spülwasser der Ungenauen«. Die wissenschaftliche Reinheit der Erkenntnis scheint sich – ganz im Sinn von Mary Douglas’ Purity and Danger – in den disziplinierenden Disziplinen zu finden; und wer das disziplinäre Reinheitsgebot nicht befolgt, kann bestenfalls auf Nichtbeachtung hoffen, weil er – im worst case – mit Ausgrenzung (»geistig Halbstarken«) rechnen muss. Doch hat Ralf Dahrendorf das alles wirklich ernst gemeint? Gerade wer das wissenschaftliche und persönliche Lebenswerk Dahrendorfs als das eines wissenschaftlichen Grenzgängers kennt und schätzt (vgl. nur Dahrendorf 2002), wird da seine Zweifel haben. Doch wie dem auch immer sei: Der interdisziplinäre Dialog ist aus zwei Gründen für die Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse essenziell. Zum einen führt der interdisziplinäre Austausch zu Anregungen für wissenschaftliche Innovationen in den beteiligten Disziplinen. Zum anderen besitzt

Kersten – Einleitung: Inwastement

die Entwicklung von interdisziplinären Konzepten auch einen wissenschaftlichen Eigenwert: Elinor Ostrom hat darauf hingewiesen, dass gerade für die Lösung von gesellschaftlichen Problemen das interdisziplinäre Arbeiten von ganz entscheidender Bedeutung ist und nicht durch das »bedauerliche Erbe« einer »wissenschaftlichen Überspezialisierung« verhindert werden sollte (Ostrom 2012: 22). Gerade wenn es um die Herausforderungen des Inwastements geht, gewährleistet die interdisziplinäre Zusammenarbeit, dass kulturelle, soziale, ökonomische und ökologische Erkenntnisse nicht »zwischen die Ritzen« der wissenschaftlichen Disziplinen »fallen«, weil man sie aufgrund disziplinärer Erkenntnisstrukturen nicht reflektieren kann oder will. Gerade bei einem so komplexen Kompositum wie dem Abfall ist dies lange der Fall gewesen – zu lange! Deshalb gilt es, in diesem Band neben naturwissenschaftlichen auch kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Inwastements zu eröffnen. Insofern finden sich Beiträge aus der Biologe, der Ethnologie, den Geo-, Geschichts-, Ingenieurs-, Kultur-, Rechts-, Religions- und Wirtschaftswissenschaften. Doch es ließen sich auch Beiträge aus der Soziologie, der Psychologie sowie den Literatur-, Kunst-, Medien- und Politikwissenschaften denken, die den interdisziplinären Diskurs über Inwastement bereichern könnten.

F r ame work : waste units , waste systems , waste agents und waste governance Die Frage, wie sich die interdisziplinäre Abfallforschung gestalten soll, haben die Autorinnen und Autoren dieses Bandes intensiv miteinander diskutiert. Dafür boten das Rachel Carson Center for Environment and Society (RCC) und das Center for Advanced Studies (CAS) ideale Bedingungen, da diese beiden Institutionen der Ludwig-Maximilians-Universität München auf den interdisziplinären und internationalen Austausch angelegt sind. In unseren Diskussionen sind wir zu der Auffassung gekommen, dass die interdisziplinäre Zusammenarbeit über Abfall einen wissenschaftlichen Rahmen benötigt. Eine solche Grundlage interdisziplinären Arbeitens haben wir im Anschluss an das »general framework for analyzing sustainability of social-ecological systems« konturiert, das Elinor Ostrom et al. entwickelt haben (Young et al. 2006; Ostrom 2007, 2009; McGinnis/Ostrom 2012). Dementsprechend beruht das Framework, das den Rahmen für einen interdisziplinären Dialog über Inwastements abstecken kann, auf vier Bausteinen: waste units, waste systems, waste agents und waste governance. Dabei handelt es sich bei den waste units um die einzelnen Abfall-Phänomene, die interdisziplinär analysiert werden, also beispielweise Haus- und Industrieabfälle, verfallene Lebensmittel, CO2 oder Atommüll. Waste systems bilden das unmittelbare soziale, technische, ökologische und ökonomische Umfeld einer waste unit, also beispielhaft Sammlungen,

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Deponien, Ozeane, Recycling- oder Müllverbrennungsanlagen. Waste agents sind die individuellen und kollektiven Akteure, die mit einer waste unit in einem waste system umgehen, also etwa Haushalte, Unternehmen und NGOs sowie Kommunen, Länder und Staaten. Waste governance umfasst schließlich die ethischen und rechtlichen Regelungsstrukturen sowie die kulturellen und sozialen Praktiken, die den Umgang mit einer waste unit in einem waste system durch waste agents maßgeblich bestimmen. Diese vier Bausteine, die das Waste-Framework bilden, wirken wechselseitig aufeinander ein. Zugleich sind sie in weiter zu fassende ethische, historische, kulturelle, soziale, ökologische, ökonomische, politische und religiöse Kontexte eingebettet, die wiederum die Wechselwirkungen unter den vier Grundbausteinen dynamisieren.

D ie B eitr äge in diesem B and Alle Beiträge in diesem Band lassen sich vor dem Hintergrund dieses interdisziplinären Waste-Frameworks lesen. Sie widmen sich verschiedenen Konstellationen von waste units, waste systems, waste agents und waste governance, wenn sie auf Dinge, Orte, Wege und Zeiten des Inwastements eingehen.

Dinge Im Hinblick auf die Dinge, die den Abfall bilden, werden beispielhaft Hausund Industriemüll, Lebensmittelabfälle und CO2-Emissionen diskutiert. Roman Köster widmet sich eingangs dem Haus- und Industriemüll, dessen Geschichte vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart verfolgt wird. Köster unterstreicht den besonderen Zusammenhang zwischen der wirtschaftlichen Entwicklung, der Entfaltung von Lebensstilen und dem Inwastement von Gesellschaften. Zentrale Sprünge in dieser Geschichte des Haus- und Industriemülls bilden die Entwicklung der Konsumgesellschaft, die eine »Müll-Lawine« auslöst, und die »späte« öffentliche Wahrnehmung des Gefahrenpotenzials von Industrieabfällen. Beide Entwicklungssprünge führen zu einem Wandel der waste governance: Der Umgang mit Haus- und Industriemüll entwickelt sich von einem Entsorgungs- zu einem Umweltproblem. Mit diesem Wandel verbindet sich eine zunehmende Politisierung von Haus- und Industrieabfällen, die sich in zivilgesellschaftlichen Protesten, konkurrierenden Entsorgungspraxen und der Forderung nach einer Änderung von Lebensstilen niederschlägt. Markus Vogt geht auf Lebensmittelabfälle als ethisch-kulturelle Herausforderung ein. Für eine differenzierte Argumentation kommt es – so Vogts zentrale These – vor allem auf die kulturellen Kontexte unseres praktischen Umgangs mit Lebensmitteln an, wenn man die Verschwendung von Lebensmitteln

Kersten – Einleitung: Inwastement

verhindern und den Hunger global bekämpfen möchte. Diese These begleitet Vogt auf seinem analytischen Weg durch die ambivalenten Begriffe und Statistiken des Lebensmittelabfalls, die Netzwerke von Lebensmittelindustrie und Lebensmittelhandel sowie Groß- und Kleinverbrauchern als äußerst komplexem waste system, dessen zentrales Paradigma der Streit um Verfallsdaten zwischen Hygieneanforderungen und Konsumentenbequemlichkeit bildet. Dabei zeigt die Analyse, dass sich der Welthunger nicht durch eine schlichte Umverteilung von Lebensmitteln beseitigen lässt. Vielmehr muss »Lebensmittelgerechtigkeit« auf eine nachhaltige globale wie lokale Lebensmittelproduktion und auf Konsumentenverantwortung für eine weniger fleischzentrierte Lebensmittelwirtschaft setzen. Doch Vogt zeigt ebenfalls die gegenwärtigen Grenzen unserer Konsumentenverantwortung auf, die es durch eine auch gesellschaftstheoretisch ansetzende Kritik unserer Lebensstile zu erweitern gilt. Karen Pittel fokussiert in ihrem Beitrag auf CO2-Emissionen, wobei sie sich auf globale Lastenverteilung und Governance im Kontext von Effizienz und Gerechtigkeit konzentriert. Dabei veranschaulicht bereits die Einordung von CO2 als waste unit, wie flexibel und dynamisch der Abfallbegriff ist: CO2 als lokal erzeugte, aber global wirkende Emission konfrontiert die Weltgemeinschaft mit Gerechtigkeitsfragen, die durch historische Verantwortung, wirtschaftliche Entwicklungspotenziale und aktuelle Wohlstandskonflikte bestimmt werden. Die Unfähigkeit der Weltgemeinschaft und ihrer Staaten, sich angesichts des 2°C-Ziels auf verbindliche Emissionsreduktionspfade zu einigen, ist Ausdruck sehr unterschiedlicher Gerechtigkeitsvorstellungen: Polluter-pays-, Poor-Losers-, Ability-to-pay- und Egalitarian-Prinzip sowie der Grundsatz historischer Verantwortung werden im Hinblick auf ihre konzeptionelle Kontur und Konsistenz sowie ihre praktischen Umsetzungschancen kritisch diskutiert. Die Reduktion von CO2-Emissonen kann nach der Auffassung von Pittel nicht durch die isolierte Umsetzung einer dieser Gerechtigkeitsvorstellungen gelingen. Vielmehr fließen unterschiedliche Gerechtigkeitskonzepte in die globale Klimagovernance der CO2-Vermeidung ein. Für die Ausgestaltung dieser Governance favorisiert Pittel ökonomische Preismechanismen und dabei insbesondere das CO2-Emissionshandelssystem. Angesichts der Beschleunigung der Erderwärmung ist inzwischen auch die Anpassung an den Klimawandel zu einer globalen Gerechtigkeitsfrage geworden: Die Notwendigkeit und Pflicht der Industrienationen zur Hilfe muss nach den Grundsätzen der Subsidiarität und der prozeduralen Fairness international ausgestaltet werden.

Orte Als Orte, die durch unsere ganz alltäglichen Abfälle gekennzeichnet sind, werden Deponien, Slums und Ozeane in den Blick genommen.

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Soraya Heuss-Aßbichler und Gerhard Rettenberger erzählen zunächst die Geschichte der Deponie. Deponien existieren seit der Vor- und Frühgeschichte. Insbesondere alte religiöse Texte geben bis heute über die ästhetischen, technischen und hygienischen Funktionen von Deponien Auskunft. Der historische Abriss zeigt, wie sich nicht nur die Zusammensetzung von Abfall in und auf Deponien verändert, sondern sich auch die Regeln für die Deponierung von Abfällen wandeln. Zu Brüchen in dieser Entwicklung der waste governance von waste systems kommt es vor allem im Mittelalter, in der Industrialisierung und in der Konsumgesellschaft. Dabei werden Praktiken der Deponierung im Laufe der Geschichte ebenso regelmäßig vergessen wie wiederentdeckt. Die in den westlichen Industrienationen entwickelte Praxis bestimmt heute in allen Gesellschaften und Kulturen weitestgehend den Umgang mit Abfall. Grundsätzlich sind Deponien derzeit die mit Abstand kostengünstigste Form der Abfallentsorgung. Der Vorstellung einer Zero-Waste-Gesellschaft stehen Heuss-Aßbichler und Rettenberger zurückhaltend gegenüber: Auch in einer optimierten Kreislaufwirtschaft lässt sich (giftiger) Müll nicht vollkommen vermeiden. Deshalb werden – so die Prognose – auch in Zukunft Deponien angelegt, wobei die Herausforderung in der technischen Gestaltung von »final sinks« und der politischen Akzeptanz von Deponien in der Bevölkerung bestehen. Gerade im letzten Punkt konstatieren Heuss-Aßbichler und Rettenberger in globaler Perspektive nicht nur große kulturelle Unterschiede. Vielmehr können sie zeigen, wie widersprüchlich sich Protest gegen und Ignoranz von Deponien in der Bundesrepublik gestalten. Eveline Dürr beschreibt Slums als Orte, in denen sich Raum und Moral mit Assoziationsketten von Abfall, Schmutz und Dreck, Kriminalität und Krankheit kreuzen. Dürr verfolgt die historische Entwicklung von Slums als Orte der Verarmung, Verelendung und Verschmutzung in einer sich industrialisierenden Welt. Doch neben diesen »Außenbeschreibungen«, deren Imaginationen nach wie vor harte soziale Konsequenzen der Ausgrenzung zeitigen, ist auch eine »neue Sichtbarkeit« von Slums zu konstatieren. Diese beruht zum einen auf der Selbstrepräsentation von Slumbewohnerinnen und Slumbewohnern und zum anderen auf deren Einbindung in kulturelle Ökonomien und Konsumwelten, die physisch wie virtuell fassbar sind und in globalen Medien zirkulieren. Dürr konzeptualisiert die Brüche, die mit dieser neuen Sichtbarkeit von Slums einhergehen, mit dem – an Arjun Appadurai angelehnten – Begriff der »slumscapes«: der Verlust einer universalistischen Vorstellung von Slums, die Gestaltungs-, aber auch Machtpotenziale verslumter Lebenswelten, die sozial wirkungsmächtige Materialität von Abfällen und deren globale Medialisierung sind die Stichworte. Sie eröffnen einen kritischen Zugang zu einer bisher nur stereotyp wahrgenommenen Lebenswelt, die räumlich keineswegs abgeschlossen, sozial keineswegs passiv und kulturell keineswegs separiert ist. Vielmehr stehen Slums in aktiven Wechselbeziehungen zu ihren sozialen,

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ökonomischen und ökologischen Kontexten und Umwelten. Diese Wechselwirkungen kulminieren in der Wahrnehmung von Abfall, der in Stoffströme eingebunden ist: Es ist der Abfall, der beispielsweise Müllsammlerinnen und Müllsammler mit Mülltouristinnen und Mülltouristen verbindet. Auf diese Weise eröffnen »slumscapes« einen neuen Zugang zu Slums und ein neues Verständnis von Slums als einem globalen Phänomen, ohne dabei vorschnell die kulturellen Besonderheiten und Differenzen auszublenden. Reinhold Leinfelder und Rüdiger Haum verfolgen die Vermüllung der Ozeane. In der kulturellen Imagination sind Meere Orte romantischer Sehnsucht, großer Abenteuer und wohlverdienter Erholung. In der Realität entwickeln sich die Meere, die zu den vulnerabelsten Ökosystemen der Welt gehören, zu waste systems: Atommüll und Schwermetalle, Plastik und Pestizide verwandeln sie in die größte globale Müllhalde, anstatt sie als Erbe der Menschheit zu pflegen. Es sind auch hier fahrlässige, ungeregelte Stoffströme, die diesen Müll teilweise über die Nahrungsketten wieder zu uns Menschen zurückbringen. Dies zeigt insbesondere das Beispiel der Akkumulation von Plastik in den Ozeanen. Darüber hinaus steht die Funktion der Meere als CO2-Speicher auf dem Spiel. Anthropogene CO2-Emissionen beanspruchen die Meere über Gebühr und führen zu deren Versauerung – ebenfalls mit bislang schwer abzuschätzenden Konsequenzen. Deshalb ist der Umgang mit den Meeren eine der größten Herausforderungen des Anthropozän – also des Zeitalters, in dem der Mensch selbst zu einer geologischen Kraft geworden ist. Ein Ende der Vermüllung der Meere ist gegenwärtig nicht absehbar. Der Schutz der Meere als anthropozäne Allmende beginnt – an Land. Recycling und Stoff kreisläufe müssen funktionieren, Konsumenten kritisch Kaufentscheidungen treffen und Firmen die Konsequenzen ihrer Produkte reflektieren. Doch so wichtig diese und weitere Strategien zum Schutz der Ozeane vor Vermüllung auch sind: Grundlegende Voraussetzung ist, dass die Weltgesellschaft im Sinne eines globalen Gesellschaftsvertrags für die Meere Verantwortung übernimmt und dementsprechend zielgerichtet handelt.

Wege Die Wege, die sich der Abfall sucht, sind oft überraschend. Dies zeigen die drei Beiträge, die den globalen Stoffströmen, den Phosphorwegen und dem Recycling gewidmet sind. Wolfram Mauser geht dem Abfall und globalen Stoffströmen vom Archaikum zum Anthropozän nach. Er erzählt die Entwicklungsgeschichte der Erde, indem Abfall in der Veränderung von Stoffströmen identifiziert wird. Die Entwicklung von organischem Leben hat die Stoffströme auf der Erde entscheidend verändert. Die Ablagerungen früher organischer Lebensformen im Archaikum verwandeln sich in Kohle und Öl. Diese stellen Millionen Jahre später die

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Anschubfinanzierung für das Anthropozän dar, das mit der Industrialisierung vor zweihundert Jahren einsetzte. Unter Rückgriff auf diese fossilen Energieformen verändert nun der Mensch (un)gezielt die globalen Stoff kreisläufe. Die Motivation dafür ist – so Mausers pointierte These – die Daseinsvorsorge: Die technischen und sozialen Infrastrukturen der Daseinsvorsorge kommen nicht ohne neue Abfallproduktionen aus, die – wie beispielsweise Toxine oder CO2 – die globalen Stoff kreisläufe weiter verändern. Wo die negativen Folgen dieses Inwastements nicht schlicht defensiv ignoriert werden, rechtfertigen sie Wissens- und Finanzinvestitionen. Diese werden selbst wieder – etwa in Form des Umweltschutzes – zu Daseinsvorsorgeleistungen umetikettiert. Das sinnfälligste Beispiel hierfür ist der Klimawandel, den wir durch unsere Daseinsvorsorge erzeugt haben und vor dem uns die Daseinsvorsorge nun wiederum schützen soll. Doch die global heiß gelaufene Daseinsvorsorge stößt an ihre Grenzen, wenn wir in unserer Abfallproduktion nicht radikal umdenken. Mauser schlägt ein Grundrecht auf Verschonung vor den Folgen des Klimawandels vor. Dieses Grundrecht wirft unmittelbar die Frage des freiwilligen Verzichts auf die weitere Nutzung der billigen fossilen Energievorräte auf. Deshalb ist die Entwicklung neuen Wissens und neuer Techniken notwendig, um die infrastrukturellen Lebenserhaltungssysteme der Daseinsvorsorge in einer urbanen Welt auch in Zukunft zu gewährleisten. Claudia R. Binder, Michael Jedelhauser und David Wagner verfolgen Phosphorwege in Richtung Nachhaltigkeit. Phosphor dient als Düngemittel und ist deshalb für die lokale, regionale und globale Nahrungsmittelproduktion von zentraler Bedeutung. Aus diesem Grund stehen wir wegen der zunehmenden Knappheit von Phosphor vor der Herausforderung eines effektiven und nachhaltigen Ressourcenmanagements. Dabei spielt die Gewinnung von Phosphor aus Abfällen und Abwässern eine zentrale Rolle. Welche Bedeutung die Dynamik von Phosphorströmen auf globaler, nationaler und kommunaler Ebene hat, zeigen Binder, Jedelhauser und Wagner in ihrer Analyse des Verhältnisses von waste units und waste governance. In globaler Perspektive haben Industrialisierung und Urbanisierung zu einem Verlust der kurzen Phosphorwege zwischen Stadt und Land geführt, ohne dass ein effektives Ressourcenmanagement durch die Gewinnung von Phosphor aus Abfällen und Abwässern an dessen Stelle getreten wäre. Deshalb ist eine Abfall- und Abwasserkreislaufwirtschaft erforderlich, um nachhaltige und lineare Wertschöpfungsketten von Phosphor zu schaffen. In der nationalen Perspektive zwingt Phosphorknappheit die importabhängigen Staaten (in Europa) dazu, sich mit einer effektiven Nutzung ihrer Phosphorströme auseinanderzusetzen, die über Abfälle und Abwasser zu Ressourcenverlusten führen. Am Beispiel der Schweiz veranschaulichen Binder, Jedelhauser und Wagner, wie die Abfallwirtschaft zu einer Senke für Phosphorflüsse geworden ist, dies aber keineswegs so bleiben muss. In kommunaler Perspektive ist die Gewinnung von Phosphor aus Ab-

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fällen und Abwässern vor allem in den Großstädten noch nicht in das allgemeine Bewusstsein vorgedrungen; und selbst wo dies wie in München der Fall ist, stellen sich neben den technischen Herausforderungen ökonomische Fragen: Die Attraktivität des Phosphorrecyclings hängt in den Industrienationen insbesondere von den internationalen Phosphorpreisen ab. Demgegenüber unterstreichen Binder, Jedelhauser und Wagner, dass ein effektives und nachhaltiges Management von Phosphor aufgrund seiner Bedeutung als weltweit knappe Ressource für die Nahrungswirtschaft selbst auf kommunaler Ebene zu einer globalen Gerechtigkeitsfrage geworden ist. Helmuth Trischler rundet mit seinem Beitrag über Recycling als Kulturtechnik diesen dritten Teil über Wege, die der Müll nimmt, ab. Trischler begreift das Recycling als eine anthropologische Kulturtechnik, die menschlichen Gesellschaften spätestens seit der Antike eingeschrieben ist, ohne dass es dabei darauf ankäme, ob es sich um eine Mangel- oder eine Überflussgesellschaft handelt. Zugleich offenbart der Gang durch die Geschichte des Wegwerfens und Wiederverwendens, dass Recycling keineswegs gleich Recycling ist, sondern dass Praxis, Norm und Kontext auch diesen Umgang mit waste units bestimmen. Dies zeigen insbesondere die unterschiedlichen Erscheinungsformen des Recyclings, die nicht nur die Kreislaufwirtschaft, sondern auch Praktiken der Verlängerung des Lebenszyklus von Gebrauchsgütern durch Instandhaltung und Reparatur, der Ressourcenschonung durch die Weitergabe von gebrauchten Gegenständen und auch der Substitution von knappen Stoffen umfassen. Wie schnell der Wechsel in den Konturen und Konjunkturen des Recyclings erfolgen kann, exemplifiziert Trischler anhand der Aufgabe von Kulturtechniken des Wiederverwendens in der industriellen Konsum- als Wegwerfgesellschaft ab 1950 und der Wiederentdeckung und Weiterentwicklung von Kulturtechniken des Recyclings seit den krisenhaften 1970er Jahren. Aber auch in den beiden Übergängen, welche die deutsche Gesellschaft nach 1945 und nach 1989 von Diktaturen zu einer freien Verfassung vollzogen hat, spiegelt sich nicht nur ein politischer, sozialer und ökonomischer Wandel, sondern es zeigen sich auch die Brüche und Kontinuitäten der Abfall- und Recyclingwirtschaft. Mit Blick auf die Gegenwart und Zukunft stellt sich daher die Frage, ob an die Stelle des Recyclings das Upcycling treten wird. In geschichtsphilosophischer Perspektive – so lautet Trischlers Antwort – folgt die gesellschaftliche Entwicklung weder linearen noch zyklischen Mustern, sodass die Vorstellung einer geschlossenen Kreislaufwirtschaftswelt wohl ahistorisch ist – was jedoch nicht gegen den Versuch spricht, neue ökologische Kulturtechniken des Recyclings zu entwickeln, die auf eine nachhaltige Wertsteigerung von Ressourcen setzen.

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Zeiten Die Zeiten, die sich Abfall hält, überschreiten die Existenz von Menschen in der Vergangenheit und in der Zukunft. Die Bioarchäologie erschließt aus Abfällen gesellschaftliche Entwicklungen der Menschheitsgeschichte. Atommüll wird von uns noch in einer Million Jahre übrig bleiben. Doch dies sind nur zwei Formen von Abfall(ge)schichten der Menschen. Gisela Grupe stellt die Bioarchäologie des Abfalls als einen Schlüssel zur Alltagsgeschichtsforschung vor. In den archäologischen Spuren menschlicher Abfälle lassen sich Lebensstile rekonstruieren: Abfallgruben, Gräber, Kloaken, Schlacht- und Zerlegeplätze sind nicht nur Geschichtsquellen für prähistorische Gesellschaften, sondern geben auch über demo- und geografische Expansionen sowie die ökologische Gestalt ganzer Landschaften Auskunft. Sie erlauben die Rekonstruktion von Mobilität und Migration, von Handel und Kulturtransfer. Zugleich eröffnen vor allem menschliche und tierische Skelettfunde die Analyse der Mensch-Umwelt-Beziehungen und damit insbesondere der Umweltbelastungen, denen Menschen ausgesetzt waren. Doch diese waste units ermöglichen nicht nur die Rekonstruktion sozialer Evolution, sondern weisen zugleich auch vier Archetypen aus, wie im Laufe der historischen Entwicklung schon immer mit Abfall umgegangen wurde und wird: Abfälle werden entweder wiederverwendet, deponiert, minimiert oder verbrannt. Gerade die bioarchäologische Perspektive – so Grupes Resümee – sollte uns anregen, Begriffe wie »Altlast« und Konzepte wie »Nachhaltigkeit« historisch reflektierter zu verwenden, um uns der Praxen, Normen und Kontexte von Abfall in Umwelt und Gesellschaft immer wieder neu zu versichern. Jens Kersten geht in seinem Beitrag über die »Entsorgung« von Atommüll der Zukunftsperspektive nach, welche die Menschheit ihrem Müll für die kommende eine Million Jahre eröffnet. Die teilweise bürgerkriegsartigen Auseinandersetzungen um die »friedliche« Nutzung der Kernenergie und die »Entsorgung« von Atommüll haben die Entwicklung der politischen Kultur der Bundesrepublik geprägt. Mit dem Standortauswahlgesetz aus dem Jahr 2013 vollzieht der Gesetzgeber im Kontext der »Energiewende« nun auch einen Paradigmenwandel im Umgang mit atomaren Abfällen. Es soll darum gehen, »in einem wissenschaftsbasierten und transparenten Verfahren für die im Inland verursachten insbesondere hochradioaktiven Abfälle den Standort für eine Anlage zur Endlagerung […] zu finden, der die bestmögliche Sicherheit für einen Zeitraum von einer Million Jahre gewährleistet« (§ 1 Absatz 1 Standortauswahlgesetz). Doch die Politik möchte für dieses Standortauswahlverfahren nicht verantwortlich sein. Deshalb wird bereits in der Standortauswahlkommission, welche die Kriterien für die »Entdeckung« eines atomaren Endlagers konkretisieren soll, die Verantwortung auf die Repräsentanten aus Wissenschaft, Umweltverbänden, Kirchen, Unternehmen und Gewerkschaf-

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ten verschoben, indem die Vertreterinnen und Vertreter des Bundestags und der Länder zwar mitberaten, aber nicht mitentscheiden. Die atomare Verantwortung wird auf möglichst alle verteilt, sodass sich niemand konkret verantworten muss – schon gar nicht der Staat, der sich vornehm zurückhält, weil er nicht wieder zum Adressat der Proteste werden will. Diese gesellschaftliche Diffusion der Verantwortung für Atommüll prägt auch das weiterte Verfahren der Standortsuche mit der Verdoppelung von Atombehörden, mit ihrer unübersichtlichen Vernetzung mit Bundesministerien und Landesverwaltungen, mit einem weiteren »gesellschaftlichen Begleitgremium« und mit ständigen atomaren Bürgerdialogen. Demgegenüber zieht sich der Bundestag auf die Funktion eines Notars für die »Metaphysik der Endlagerung« (Peter Sloterdijk) zurück. Christof Mauch schickt im abschließenden Beitrag über Abfall(ge)schichten Müllhistoriker als Detektive auf den Weg, die nicht nur die Geschichte menschlicher Gesellschaften aus deren Abfallschichten rekonstruieren, sondern auch die Abfallgeschichten erzählen, die unser kulturelles Gedächtnis prägen. Wir alle kennen das soziale Verhältnis von Menschen und Müll in der Londoner Gesellschaft des 19. Jahrhunderts durch Charles Dickens seit unserer frühesten Jugend. Auch der Lebensstil der Collyer Brothers ist zu einer Parabel auf unser Verhältnis zum Müll geworden, die längst durch das um sich greifende Phänomen der »Messies« eingeholt wurde – ein kulturelles Phänomen, das uns individuell wie kollektiv umso ratloser zurücklässt, als es unseren eigenen Umgang mit Müll zwischen Faszination und Ekel, zwischen Gewohnheit und Widerstand widerspiegelt. Mauch erzählt diese Geschichten: von Dantes Göttlicher Komödie bis zur Suche der Wissenschaften unserer Tage nach der Substanz, wenn nicht sogar dem »Wesen« des Mülls. Um diese kulturalistischen Dimensionen des Mülls historisch zu entfalten, wählt Mauch vier Perspektiven: Erstens entdecken wir im Abfall die »verwischten Spuren« vergangener Gesellschaften, die unsere soziale Wirklichkeit historisch provoziert: Wenn wir heute in der U-Bahn oder am Bahnhof die Pfandsammler sehen, entdecken wir eine fast verwischte Spur, die uns zeitlich über die Müll- und Lumpensammler des 19. Jahrhunderts noch weiter in unsere Gesellschaftsgeschichte zurückführt. Zweitens zeigt uns der Abfall in den Meeren, dass nicht nur »alles fließt«, sondern sich auch der Abfall globalisiert: Wenn Gummienten auf den Weltmeeren schaukeln, wissen wir, dass Plastik deshalb zur größten Gefahr für Ozeane geworden ist, weil wir immer neue Müllteppiche auf den Meeren entrollen. Drittens eröffnen Mülldeponien »Fundgruben« unserer Gesellschaft: Wenn wir mit gläsernen Fahrstühlen in die Tiefe unserer Deponien gleiten, sehen wir wie präsent unsere soziale, ökonomische und ökologische Entwicklung in den unterschiedlichen Abfallschichten noch immer ist. Viertens lässt sich im Abfall »Unsichtbares aufdecken«: Wenn wir uns die Frage stellen, warum es

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überhaupt Müll gibt, begegnen wir uns selbst und unserer Geschichte, unserer Gesellschaft und unserer Zukunft. Deshalb macht Abfall uns so neugierig.

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Dinge

Hausmüll, Industriemüll Roman Köster

P roblemstellung Menschliche Gesellschaften erzeugen Abfälle, d.h. Dinge verlieren ihren ursprünglichen Gebrauchswert, werden um- und neu genutzt, am Ende schließlich weggeworfen. Das ist historisch keine neue Erscheinung, und bereits seit langer Zeit gibt es Bemühungen, die Abfälle geordnet zu sammeln und aus der Stadt zu schaffen. Allerdings ist das Müllproblem, wie wir es heute kennen, wesentlich eines des 20. Jahrhunderts. In diesem Zeitraum kam es zu einer dramatischen Zunahme der Abfallmengen, die mit der Ausprägung der Konsumgesellschaft eng verknüpft ist. Bereits in den 1920er Jahren stiegen die Abfallmengen in den USA deutlich an, während sie in der Bundesrepublik erst ab Mitte der 1950er Jahre rapide zunahmen (Melosi 2004; Melosi 2008; Hösel 1987). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die festen Abfälle, die vormals ein eher nachrangiger Gegenstand der Städtehygiene gewesen waren, zu einem Umweltproblem von höchster Relevanz. Doch es war nicht nur das Wachstum der Abfallmengen allein, die das 20. Jahrhundert charakterisierten, sondern auch die Differenzierung zahlreicher Abfallarten. Während vormals als »Unrat« allgemein das behandelt wurde, was im urbanen Metabolismus gewissermaßen »übrig« blieb, fing man nach dem Zweiten Weltkrieg damit an, zwischen allen möglichen Abfallfraktionen zu unterscheiden: Autowracks, Altreifen, Elektroschrott, Sperrmüll, Haushaltschemikalien etc. – von dem besonders wichtigen, aus zahlreichen Gründen allerdings auch sehr speziellen Problem des Atommülls einmal ganz abgesehen. Dieser genauere Blick auf den Müll ergab sich einerseits aus der anschwellenden Müllflut, er war aber auch das Resultat einer gestiegenen wissenschaftlichen und politischen Beschäftigung mit dem Abfall, die wesentlich mit der Entdeckung seiner Gefahrendimension zu tun hatte. Der vorliegende Beitrag widmet sich – am Beispiel Westdeutschlands – dem Gegenstand des Haus- und Industriemülls unter dem Aspekt der Differenzierung verschiedener Abfallfraktionen. Er zeichnet zunächst die Entwicklungs-

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dynamik nach, die dazu führte, dass insbesondere große Städte im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts Einrichtungen für die regelmäßige Sammlung fester Abfallstoffe schufen, womit der städtische »Unrat« als Problem der Städtehygiene sichtbar wurde. Anschließend wird den Gründen für die massive Zunahme der Abfallmengen nach dem Zweiten Weltkrieg nachgegangen. Dieser Mengenzuwachs sowie eine gestiegene Gefahrensensibilität führten seit den 1960er Jahren dazu, insbesondere den »Industriemüll« zunehmend als eigenständige Abfallfraktion und Entsorgungsproblem zu identifizieren. Das trug wesentlich dazu bei, dass der Abfall seit den späten 1960er Jahren nicht mehr in erster Linie als Gegenstand der Städtehygiene, sondern als Umweltproblem identifiziert wurde. Abschließend wird auf die Frage eingegangen, welche Anstrengungen in den 1970er und 1980er Jahren unternommen worden sind, um mit dem Problem des Haus- und Industriemülls zurechtzukommen.

1. D ie E ntdeckung des H ausmülls In den einschlägigen Darstellungen zur Abfallgeschichte wird oftmals auf die frühen Formen der Abfallabfuhr verwiesen. Schon das alte Rom leistete sich zeitweise eine reguläre »Müllabfuhr«. Die Stadt Breslau richtete bereits im 15. Jahrhundert eine regelmäßige Abfallsammlung ein, genauso wie die reichen Kaufmannsstädte Augsburg und Nürnberg. Durchaus verbreitet waren solche Sammlungen auch in den holländischen Städten der Frühen Neuzeit, die für einen hohen hygienischen Standard bekannt waren (Hösel 1987: 39f., 44f., 77). Vielerorts wurden auch natürliche Gegebenheiten ausgenutzt, indem etwa der Unrat mithilfe von Wasserläufen abgeschwemmt wurde. Das war etwa in vielen Teilen Berlins oder auch mit dem uneingefassten »Bächle« in Freiburg der Fall (Gray 2014: 278f.; Reinhard 2004: 134). Das alles hatte allerdings mit den modernen Systemen der Abfallabfuhr wenig zu tun und stellte auch eher die Ausnahme dar. Das am häufigsten praktizierte »System« der Abfallentsorgung bestand bis ins späte 19. Jahrhundert darin, den festen Unrat zusammen mit Exkrementen, Abwässern und anderen Abfallstoffen in Jauchegruben zu sammeln. Nachdem das Wasser versickert war, konnte deren Inhalt nach einiger Zeit abgefahren und als Dünger auf die Felder ausgebracht werden (Möller 2014: 471). Hier bedeutete die dynamische Urbanisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allerdings ein Problem. Die Städte begannen, mehr Abfälle zu produzieren, als die Landwirtschaft aufnehmen konnte (Bauer 1998: 368ff.; Münch 1993: 110f.). Damit erzeugte die Abfallsammlung zunehmend auch logistische Schwierigkeiten, die sich mit den hergebrachten Methoden nicht länger bewältigen ließen.

Köster – Hausmüll, Industriemüll

Das »integrierte« System der Sammlung und Entsorgung des Abfalls verlor darüber hinaus in dem Moment seinen Sinn, als die deutschen Städte – englischen Vorbildern folgend – ab den 1860er Jahren damit anfingen, Schwemmkanalisationen zu errichten (Simson 1983; Hardy 2005: 98, 256ff.). Dann jedoch blieb der feste Abfall übrig (der zu ca. 30 % aus der Asche aus dem Hausbrand bestand), dessen Düngewert gering war und für den die Bauern nichts bezahlen wollten. Zugleich wurde die landwirtschaftliche Verwendung der organischen Abfälle dadurch erschwert, dass leistungsfähigere Düngemittel angeboten wurden. In den Städten der amerikanischen Ostküste verschwanden die Infrastrukturen, Abfälle zu sammeln und als Dünger zu verwerten, bereits Mitte des 19. Jahrhunderts, als peruanisches Guano auf den Markt kam (Wines 1985; Cushman 2013: 23ff.). Ab den 1890er Jahren wurden dann zunehmend »künstliche«, stickstoff basierte Dünger angeboten, welche die Verwendung von Abfällen unattraktiv machten (Vogel 1896: 482ff.). Das führte zum Bedeutungsverlust einer wesentlichen Möglichkeit, urbane Abfälle zu nutzen. Allerdings gab es andere Möglichkeiten, bestimmte Materialien bzw. nutzlos gewordene Gegenstände wiederzuverwenden bzw. -verwerten. Georg Stöger hat gezeigt, dass sich in Wien und Salzburg bereits im 17. Jahrhundert ausdifferenzierte Märkte für Gebrauchtwaren entwickelten (Stöger 2011). In den USA gab es zahllose Straßenhändler, die Waren aus zweiter Hand anboten (Strasser 1999: 75ff.). Solche Distributionssysteme dienten keineswegs ausschließlich dazu, die Grundbedürfnisse ärmerer Bevölkerungsschichten zu befriedigen, sondern stellten auch eine Möglichkeit dar, die eigenen Konsumoptionen zu erweitern. Das hat etwa Laurence Fontaine am Beispiel des Handels mit Bekleidung im Paris des 18. und 19. Jahrhunderts demonstriert: Hier bildeten sich spezialisierte Märkte heraus, auf denen Kleidung zirkulierte und weniger vermögenden Bevölkerungsschichten eine größere modische Vielfalt ermöglichte (Fontaine 2008). Solche Sekundärmärkte verschwanden in den industriell fortgeschrittenen Ländern in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend u.a. aufgrund höherer Hygienestandards, aber auch, weil industriell gefertigte Waren billiger produziert und über neue Distributionskanäle – vor allem Warenhäuser – angeboten wurden (Strasser 1999: 106ff.). Während jedoch die »economies of scale« der industriellen Produktionsweise die Wiederverwendung von Abfällen zunehmend bedeutungslos werden ließ, konnte die Wiederverwertung von Abfällen zeitweise von ihr profitieren. Das betraf insbesondere den Schrotthandel, aber auch andere Materialien (insbesondere Lumpen, Papier und tierische Abfälle), die leicht zu sammeln und zu verarbeiten waren (Hösel 1987: 207ff.; Stern 1914; Silberschmidt 1912: 622ff.; Hafner 1935; Petzold 1941: 12ff.). Für bestimmte Sekundärrohstoffe bildeten sich bereits seit dem späten 19. Jahrhundert globale Märkte heraus (Stern 1914).

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Auch wenn sich die Ausprägung des Hausmülls als städtehygienisches Problem nicht ohne Einschränkungen auf das Verschwinden von Verwertungsmöglichkeiten zurückführen lässt, so hing es trotzdem wesentlich damit zusammen, dass das Weggeworfene als Düngemittel oder für andere Formen der Weiternutzung untauglich wurde. Besonders in den verdichteten Stadtzentren entstanden nun mehr und mehr Abfälle, für deren Sammlung kein kommerzieller Anreiz mehr bestand. Der Hausmüll trat dann als das in Erscheinung, was im urbanen Metabolismus gewissermaßen »übrig« blieb. Bezeichnenderweise wurde er von den betreffenden Kommunalordnungen bis in die späten 1960er Jahre als »Restekategorie« erfasst, die additiv bestimmten, was als städtischer Unrat oder Hausmüll abgefahren werden musste.1 Zugleich intensivierte sich der städtehygienische Diskurs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dieser fokussierte sich zwar zunächst auf die Bereiche Wasserversorgung und Abwasserentsorgung, nahm schließlich aber auch die Frage des häuslichen »Unrats« in den Blick, der einer institutionellen Lösung zuzuführen war (Münch 1993: 109ff.). Es lag dabei zunächst nahe, »Privatunternehmen« (in der Regel Landwirte, die sich bereits früher um die Entleerung der Jauchegruben gekümmert hatten), Geld für die Abfuhr zu bezahlen. Unter den Vorzeichen des »Munizipalsozialismus« im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts und steigenden Ansprüchen an die Städtehygiene wurden deren Leistungen jedoch zunehmend kritisch betrachtet. Bis 1900 führten darum die meisten größeren Städte, von wenigen Ausnahmen abgesehen, eine reguläre, durch die Kommune organisierte Abfallsammlung ein (Verband Kommunaler Unternehmen 2012). Das Deutsche Reich war hierin keine Ausnahme: Bis in die 1960er Jahre ging in den meisten europäischen Ländern die Entwicklung hin zum kommunalen Regiebetrieb. Die USA, wo die Hausmüllabfuhr in vielen Fällen privatwirtschaftlich betrieben wurde, galten dagegen als Sonderfall.2 Zur Sammlung des Abfalls war der Auf bau einer technischen Infrastruktur notwendig, die es ermöglichte, die Abfälle sowohl effizient als auch hygienisch einzusammeln. Das führte ab der Jahrhundertwende zunächst zur Einführung der sogenannten »Systemabfuhr«, bei der individuelle Behälter und Jauchegruben durch Standardgefäße ersetzt wurden. Diese ermöglichten die Durchsetzung einer einheitlichen Gebührenbemessung sowie eines bestimmten städtehygienischen Standards. Dazu gehörte auch die »staubfreie« Abfuhr, dass also bei der Entleerung der Gefäße in das Sammelfahrzeug möglichst wenig Aschestaub entweichen sollte. Die staubfreie Systemabfuhr setzte sich 1 | Z.B. Satzung über die Müllabfuhr der Stadt Frankfurt a.M. (1946). Stadtarchiv Mannheim, Hauptregistratur, Zugang 42/1975, Nr. 2399. 2 | Schreiben Paul Erhardt an den Wirtschaftsminister des Landes NRW (25.9.1947). Landesarchiv NRW, NW 354, Nr. 1096.

Köster – Hausmüll, Industriemüll

in den 1920er Jahren allgemein durch, wobei ein 1925 von der Firma Schmidt & Melmer patentiertes Verschluss-System für das Sammelfahrzeug zum Standard und Ende der 1950er Jahre in ca. 90 % der deutschen Städte verwendet wurde.3 In Deutschland entwickelte sich somit ein »schweres« System der Müllsammlung, das hygienisch einwandfrei und äußerst solide war (Stokes/Köster/Sambrook 2013: 33f.). Bis in die frühen 1960er Jahre konnte es durch die Motorisierung der Sammelfahrzeuge und die Ausweitung der Abfuhrgebiete verbessert werden. Es hatte jedoch auch gravierende Nachteile: Zunächst bedeutete es harte Arbeit für die Müllwerker, weil eine 110-Liter-Standardtonne bereits leer um die 30 kg wog und gefüllt bis zu 85 kg auf die Waage bringen konnte.4 Das verringerte die Spielräume der Arbeitsorganisation und machte das System vergleichsweise unflexibel. In Großbritannien wurden beispielsweise zumeist leichtere Tonnen verwendet. Diese mussten zwar schneller ersetzt werden, jedoch erwies sich das britische System als so flexibel, dass es vor dem Anstieg der Abfallmengen nach dem Zweiten Weltkrieg erst um einiges später kapitulieren musste als das deutsche (Stokes/Köster/Sambrook 2013: 55ff.). Die Stadtreinigungsämter in der Bundesrepublik konnten mit einer gewissen Steigerung der Abfallmengen zunächst zurechtkommen. Bis Mitte der 1950er Jahre stieg das Hausmüllaufkommen bestenfalls langsam, bedingt durch die wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Zwischenkriegszeit sowie dadurch, dass bis zu diesem Zeitpunkt nicht andere Faktoren zu einem Mengenwachstum führten. Das »schwere« System der Abfallsammlung geriet erst in den 1960er Jahren an seine Grenzen, als die rapide Steigerung der Müllmengen im Zuge des »Wirtschaftswunders« es zunehmend überforderte.

2. M üll und K onsumgesellschaf t In den 1950er Jahren sahen sich die Stadtreinigungsämter mit kontinuierlich steigenden Abfallmengen konfrontiert. Was zunächst indes noch als »Erholung« und Rückkehr zu den Vorkriegsverhältnissen erschien, gewann bald eine völlig neue Problemdimension. Es wurde klar, dass die Zunahme der Abfallmengen keineswegs beim Vorkriegsniveau Halt machen würde. Seit Beginn der 1960er Jahre wurde diese Entwicklung immer häufiger unter das bedrohliche Schlagwort der »Müll-Lawine« gefasst, die ein zunehmendes Pro3 | Heinrich Erhard, Lebenserinnerungen eines Mülliardärs (Unv. Ms. Stadtarchiv Siegen). 4 | Schreiben Heinrich Erhard an Rieger (13.5.1948). Landesarchiv NRW, NW 354, Nr. 1096.

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blem der Sammlung und Entsorgung des Hausmülls anzeigte (Schnitzbauer 1977: 21f.). Eine Ursache der steigenden Müllmengen bestand zunächst in der langfristigen Prosperitätsphase der westdeutschen Wirtschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, die erst in den 1970er Jahren nachhaltig unterbrochen wurde (Lindlar 1997). Steigender Konsum führte auch zu vermehrtem Abfall, was wesentlich auch die (langsame und diskontinuierliche) Zunahme der Hausmüllmengen in den 1920er und 1930er Jahren bedingt hatte. Auch in der öffentlichen Debatte wurden die steigenden Abfallmengen in erster Linie als ungebetenes Nebenprodukt des Wohlstands thematisiert. Auch wenn das »Wirtschaftswunder« als Faktor steigender Hausmüllmengen schwer zu bestreiten ist, so reicht es als Erklärung gleichwohl nicht aus. Das liegt nicht nur daran, dass die Abfallmengen tendenziell stärker zunahmen als die Haushaltseinkommen. Ihre Entwicklung blieb auch in den 1970er und 1980er Jahren von Konjunktureinbrüchen unberührt und Wirtschaftskrisen bildeten sich in der Entwicklung der Abfallmengen nach dem Zweiten Weltkrieg praktisch nicht ab (Amt für Statistik und Wahlen der Stadt Dortmund 1980: II). Es passt dazu, dass gerade der Hausmüll im Wesentlichen aus dem Lebensmittelkonsum resultierte, dessen Anteil an den Haushaltsausgaben in der Nachkriegszeit kontinuierlich absank. Der Anteil für Nahrungsmittel an den Haushaltsausgaben eines 4-Personen-Arbeitnehmerhaushalts betrug in der Bundesrepublik 1950 noch 46,4 %, 1960 36,2 % und 1990 nur noch 16 % (Wild 1994: 70). Insofern lässt sich – durchaus kontraintuitiv – feststellen, dass vor der rapiden Zunahme der Abfallmengen seit Mitte der 1950er Jahre das Hausmüllaufkommen wesentlich durch das Konsumniveau bestimmt wurde. Ab diesem Zeitpunkt war das jedoch nicht mehr ohne weiteres der Fall. Deshalb sind weitere Erklärungen für die steigenden Abfallmengen heranzuziehen. Wichtig waren insbesondere neue Distributionsformen im Einzelhandel, speziell die Selbstbedienung, die sich seit Mitte der 1950er Jahre zunächst im Lebensmittelbereich in raschem Tempo durchsetzte (Langer 2013; Wild 1994). Sie führte zu einem steigenden Verpackungsaufkommen, weil man nun nicht mehr mit eigenen Behältnissen einkaufen konnte, sondern praktisch mit jedem Produkt auch eine neue Verpackung erwarb. Das setzte im Übrigen auch der Wiederverwendung von Verpackungen im Haushalt enge Grenzen. Darüber hinaus war diese Entwicklung eine Voraussetzung für den Auf bau großflächiger Logistiken im Einzelhandel, die ein vormals nicht gekanntes Ausmaß an Vorverpackungen produzierten.5 Insofern hat auch die Herausbildung großer Einzelhandelskonzerne wie Aldi oder Rewe viel mit dem steigenden Müllaufkommen zu tun. 5 | Programm »Umweltgestaltung – Umweltschutz« der Bundesregierung. Beitrag der Projektgruppe Abfallbeseitigung, 15.5.1971. Bundesarchiv Koblenz, B 106, Nr. 29370.

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Die städtebaulichen Veränderungen nach dem Weltkrieg spielten ebenfalls eine Rolle. So wurde in den 1950er und 1960er Jahren der offene Hausbrand (v.a. Kohleöfen) zunehmend durch geschlossene Zentralheizungssysteme abgelöst, die es unmöglich machten, den Abfall zu verfeuern (Baumert 1995: 29). Dadurch veränderte sich auch die Zusammensetzung des Hausmülls, der mehr und mehr Verpackungen enthielt, während der Ascheanteil kontinuierlich absank. Hinzu kam, dass sich traditionelle Stadtstrukturen nach dem Zweiten Weltkrieg veränderten. Die Leitlinien des Wiederauf baus, die sich durch die Schlagworte Entdichtung der Zentren bei gleichzeitiger Urbanisierung und funktionalistischer Aufschließung für den Verkehr zusammenfassen lassen (Kramper 2008: 154), führten dazu, dass viele Vororte, die vormals eher Dörfern geglichen hatten, sich zu Vorstädten entwickelten. Damit verschwanden die Kleintiere von den Straßen und die Misthaufen aus den Gärten, die früher eine einfache Entsorgung der Küchenabfälle ermöglicht hatten.6 Waren es vormals die eng gebauten Stadtkerne gewesen, die die größten Müllprobleme erzeugten (und in denen darum auch zuerst eine reguläre Müllabfuhr eingerichtet wurde), unterschieden sich die Stadtteile bald kaum noch hinsichtlich ihrer Müllproduktion. Ein weiterer Grund für die ansteigenden Hausmüllmengen lässt sich in einem veränderten Wegwerfverhalten der Bevölkerung, insbesondere der Hausfrauen identifizieren. Traditionelle Sparsamkeitsrationalitäten wurden offensichtlich durch eine Wegwerfmentalität ersetzt. Diese führte dazu, dass auch brauchbare Dinge im Müll landeten, die vormals eventuell wiederverwendet worden wären. Jedenfalls wunderten sich die Müllpraktiker in den 1960er Jahren darüber, was mittlerweile alles weggeworfen wurde.7 Selbst Bierflaschen, auf die ein Pfand bestand, landeten immer öfter im Abfall. Der amerikanische Soziologe Vance Packard diagnostizierte bereits 1960 für die USA die Ausbildung einer »throwaway mentality« und ganz ähnliche Phänomene entwickelten sich auch in Westdeutschland (Packard 1960: 43; Kantona 1964). Aus den Quellen ist diese Entwicklung schwer zu fassen, weil selbst in den umfangreichen Forschungen zur Geschichte der Hausarbeit das Wegwerfen kaum ein Thema ist. Deswegen lassen sich auch für die mitunter angeführte These, die Hausfrauen seien im Zuge der Durchsetzung eines amerikanisch geprägten Konsumregimes zu guten »Wegwerferinnen« erzogen worden, keine tragfähigen Belege finden (Windmüller 2004: 43). Eine solche Überlegung 6 | Stadtarchiv Mannheim. Vortrag des Magistrats an Stadtverordneten-Versammlung Frankfurt (23.6.1953) Institut für Stadtgeschichte Frankfurt a.M., Magistratsakten, 5.960. 7 | Artikel Stuttgarter Zeitung (9.1.1974): Abfall landet tonnenweise auf dem Müll. Stadtarchiv Mannheim, Bauverwaltungsamt, Zugang 52/1979, Nr. 950.

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erscheint letztlich auch wenig wahrscheinlich, weil die Selbstbedienung im Einzelhandel die Wiederverwendung von Verpackungen bereits ad absurdum führte. Die Sauberkeitskampagnen der Stadtreinigungsämter seit den 1950er Jahren zielten vor allem darauf ab, keine Abfälle auf den Straßen und in Grünanlagen zu hinterlassen.8 Ganz davon abgesehen dürften die Ämter keinerlei Interesse an einer weiteren Steigerung der Abfallmengen gehabt haben. Es erscheint darum plausibler – auch wenn dafür gleichfalls Quellenbelege fehlen – die Ausbildung der »throwaway mentality« aus dem Wohlstandszuwachs zu erklären, dass also keine ökonomische Notwendigkeit zur Weiternutzung bestand. Zudem lässt sich eine Verbindung zur Technisierung der Hausarbeit herstellen: So ist verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass Apparate wie Staubsauger und Waschmaschinen den Zeitaufwand für die Hausarbeit in den 1950er und 1960er Jahren deswegen nicht verringerten, weil die Arbeitsersparnis durch erhöhte Hygienestandards kompensiert wurde (Lindner 2003: 97ff.). Angesichts dessen, dass die Wiederverwertung gebrauchter Dinge tendenziell sowohl zeitaufwändig als auch »unhygienisch« war, kann das schnelle Wegwerfen als Bestandteil der »Rationalisierung« der Hausarbeit aufgefasst werden. Insgesamt führte das Ansteigen der Abfallmengen zu gravierenden Problemen der Abfallsammlung und -entsorgung. In den 1960er Jahren wurde das traditionell »schwere« System der Müllabfuhr zunehmend aufgegeben und durch die Einführung von Plastikmülltonnen (ab 1964), Müllgroßbehältern (ebenfalls ab 1964) und neuen Sammelfahrzeugen rationalisiert (Willms/ Mlodoch 2014: 50ff.). Das war auch deswegen notwendig, weil sich der Arbeitsmarkt seit Mitte der 1950er Jahre zunehmend verengte und Arbeitskräfte für die Müllabfuhr kaum noch zu bekommen waren (Stokes/Köster/Sambrook 2013: 55f.). Durch technische Innovationen gelang es jedoch, das Problem der Abfallsammlung weitgehend in den Griff zu bekommen. Dass die Müllabfuhr in den 1970er Jahren in Tarifkonflikten zunehmend als Streikwaffe eingesetzt wurde, zeigt übrigens eindrücklich, dass Seuchengefahren zu diesem Zeitpunkt keine Rolle mehr spielten, die Sammlung also offensichtlich einwandfrei funktionierte (Reuber 2006: 93ff.). Ein anderes Problem trat nun allerdings in den Vordergrund. In den 1960er Jahren standen immer mehr Kommunen vor der Schwierigkeit, ihre Abfälle ordnungsgemäß zu entsorgen. Während vormals zumeist wenige ausgewiesene Ablagerungsplätze ausgereicht hatten, waren besonders die Großstädte während der 1960er Jahre zunehmend mit einem Müllnotstand konfrontiert.9 8 | Vermerk Hauptamt (7.5.1954). Stadtarchiv Mannheim, Hauptregistratur, Zugang 42/1975, Nr. 1084. 9 | Runderlass des Ministeriums für Landwirtschaft und Forsten Rheinland-Pfalz (29.10.1965). Bundesarchiv Koblenz, B 106, Nr. 25178.

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Ein wichtiger Grund dafür war die Knappheit an Entsorgungsflächen. Überall entstanden »wilde« Ablagerungen. Als im Jahr 1972 das Abfallbeseitigungsgesetz erlassen wurde, gab es in Westdeutschland schätzungsweise 50.000 Müllkippen.10 Naturschützer beklagten sich darüber, dass Wälder und Naherholungsgebiete zunehmend »vermüllten«.11 Weitere Probleme kamen durch die veränderte Zusammensetzung des Hausmülls hinzu. Der Verpackungsmüll erzeugte auf den Deponien Hohlräume, die Lebensräume für Ratten und Ungeziefer boten, aber auch Brände förderten. Durch die Zunahme an brennbaren Materialien (Papier, Kunststoffe) sowie von Haushaltschemikalien häuften sich in den 1960er Jahren die Deponiebrände, die zu einem ernstzunehmenden Problem für die städtische Umwelt wurden (Baumann 1967: 46f.). Hinzu kam, dass während der 1960er Jahre bewusst wurde, dass Abfälle nicht nur hygienische Probleme und Seuchengefahren mit sich brachten, sondern das Grundwasser kontaminierten und schädliche Gase produzierten. Auf diese Weise wurde der Abfall von einem Gegenstand der Städtehygiene zu einem Umweltproblem, das auch sprachlich zunehmend im Kontext von Wasser- und Luftverschmutzung thematisiert wurde. Darauf konnte man verschieden reagieren: Insbesondere die Städte investierten in den 1960er Jahren viel Geld in Müllverbrennungsanlagen, die zur vorherrschenden großstädtischen Entsorgungslösung wurden. Sie verbrauchten wenig Platz und galten als hygienisch einwandfrei; bis Mitte der 1970er Jahre galten sie sogar noch als generell umweltfreundlich. Zudem konnten sich in der Regel nur größere Städte das Investitionsvolumen leisten, das zur Errichtung einer solchen Anlage notwendig war. Für kleinere Städte und ländliche Gemeinden wurde hingegen das Konzept der geordneten Deponie zu einem Leitbild, das sich insbesondere am britischen »controlled tipping« bzw. der »sanitary landfill« orientierte (Weber 2014: 132f.). Dieses Konzept beinhaltete die Abdichtung der Deponie gegenüber dem Grundwasser, die Verdichtung des Mülls und seinen Einbau in die Deponie durch Abdeckung mit Erdschichten, schließlich die Kontrolle der Ablagerung sowie die Einzäunung der Deponie (Stief 2009). Das machte es nebenbei unmöglich, verwertbare Reststoffe auf der Deponie zu sammeln, und passte somit zu einer Gesellschaft, die das »Recycling« von Hausmüll in den 1960er Jahren weitgehend aufgegeben hatte (Saniter/Köhn 2001: 60; Weber, 2014: 139). Das Konzept der geordneten Deponie wurde allerdings in diesem Jahrzehnt bestenfalls halbherzig umgesetzt. Zu einer umfassenden Neuordnung der Ent10 | Programm »Umweltgestaltung – Umweltschutz« der Bundesregierung. Beitrag der Projektgruppe Abfallbeseitigung, 15.5.1971. Bundesarchiv Koblenz, B 106, Nr. 29370. 11 | Schreiben der Landesstelle für Naturschutz und Landschaftspflege an den Innenminister des Landes NRW (19.8.1971). Landesarchiv NRW, NW 455, Nr. 775.

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sorgungssituation kam es vielmehr erst im Zuge des Abfallbeseitigungsgesetzes von 1972, das die Gemeinden zur ordnungsgemäßen »Beseitigung« des Abfalls und die Länder zur Neuordnung der Entsorgung verpflichtete (Hösel 1987: 195f.). Seitdem wurde in der Tat vieles anders und die dezentrale, wenig koordinierte Form der Abfallentsorgung durch eine zentralisierte Struktur ersetzt. Das war allerdings kaum der Weisheit letzter Schluss. Vielmehr wurde in den 1970er und 1980er Jahren die Abfallwirtschaft zu einem hart umkämpften Feld.

3. I ndustriemüll Im Gegensatz zum Hausmüll trat das Problem des Industriemülls erst vergleichsweise spät in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Das lag zunächst hauptsächlich daran, wie diese Abfälle produziert, gesammelt und entsorgt wurden. Für Fabriken bedeuteten Produktionsabfälle zunächst einmal Verschwendung. Sie bemühten sich darum, den Materialverbrauch so gering wie möglich zu halten und entstehenden Ausschuss möglichst wiederzuverwenden. Gerade in der Metallindustrie ging wenig Material verloren und der Schrotthandel stellte eine der effizientesten Formen des »Recyclings« dar. Das bis in die 1950er Jahre in der Stahlindustrie dominierende Siemens-MartinVerfahren beispielsweise war auf die Verwendung von Schrott angewiesen (Wengenroth 1986: 37ff.). Seit Ende des 19. Jahrhunderts bemühten sich die Stahlunternehmen des Ruhrgebiets darum, nicht nur Überreste, sondern auch die Abwärme der Produktion auszunutzen (Kleinschmidt 1993). Überhaupt war das industrielle Recycling weit entwickelt. Die Bundesrepublik hatte bereits Mitte der 1960er Jahre die höchste Altpapierrücklaufquote der Welt ( 30 %), ohne dass Papier in Haushalten gesammelt wurde (Bundesministerium des Innern 1973a: 7). Was an nicht wiederverwertbaren Abfällen anfiel, wurde häufig zusammen mit dem Hausmüll gesammelt und entsorgt, wobei dieser »Gewerbemüll« nur selten statistisch separat erfasst wurde (für die Abfälle von Geschäften, Restaurants etc. wurde in den 1970er Jahren die statistische Kategorie der »hausmüllähnlichen Gewerbeabfälle« entwickelt). In vielen Fällen verbrachten die Firmen ihre Abfälle selbst auf Deponien oder kippten sie »wild« ab. Während es sich dabei rein mengentechnisch betrachtet in der Regel um unproblematische Abfälle handelte (vor allem Bodenaushub und Bauschutt), erwiesen sich vor allem chemische Abfälle als problematisch, wenn diese von den Firmen nicht oder nur mit hohen Kosten wiederverwertet werden konnten (Henneking 1994). Schon im 19. Jahrhundert führte dabei die einfache »Entsorgung« zu Umweltskandalen, wenn Überreste in Flüsse oder Bäche eingeleitet wurden und diese sich auch noch sichtbar verfärbten (Bauer 1998: 311ff.).

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Nicht zuletzt die beiden Weltkriege führten durch die Rüstungsproduktion zu einer gesteigerten Produktion gefährlicher Abfälle, die im Zuge der Altlastensanierung seit Ende der 1970er Jahre eine wichtige Rolle spielen sollten.12 Nach dem Zweiten Weltkrieg wiederum gehörte die chemische Industrie zu den Schlüsselbranchen des westdeutschen »Wirtschaftswunders«, was mit der zunehmenden Produktion von Abfällen einherging. Zwar besaß gerade die chemische Industrie eine elaborierte Expertise in der Weiternutzung von Neben- und Abfallprodukten chemischer Prozesse, was aber den Anfall gefährlichen Chemiemülls nicht verhinderte. Das Interesse der Industrieunternehmen daran, die Entsorgungskosten gering zu halten, verband sich mit einem oftmals gering ausgeprägten Problembewusstsein hinsichtlich des von Abfällen ausgehenden Gefahrenpotentials. Das sollten nicht zuletzt die zahlreichen, seit Ende der 1970er Jahre entdeckten Altlasten demonstrieren, besonders wo die Gefahr von industriellen Altstandorten ausging (Baumheier 1988: 56f.). Dazu gehörte etwa der 1981 aufgedeckte Skandal um die Kokerei Dorstfeld II/III in Dortmund, deren Gelände seit 1979 mit Wohnhäusern bebaut worden war. Die starke Belastung des Geländes zeigte an, dass bis zur Schließung des Betriebs Mitte der 1960er Jahre hier offensichtlich eine ausgeprägte Selbstvergiftung stattgefunden hatte – und das war alles andere als ein Einzelfall (Bergquist 2014). Als Abfallfraktion ins Bewusstsein der Behörden kam der Industriemüll während der 1960er Jahre aus zwei Gründen. Zum einen verschärfte er das Kapazitätsproblem auf den Kippen. Vereinzelte Versuche, den Firmen die Nutzung städtischer Deponien zu verbieten, führten in der Regel zu scharfen Protesten bis hin zur Drohung der Standortverlagerung.13 Zum anderen führte das Inkrafttreten des Wasserhaushaltsgesetzes 1960 zu einer erhöhten Aufmerksamkeit für Fragen des Wasserschutzes. Insbesondere in stark industrialisierten Gegenden wie dem Ruhrgebiet wurde das Problem der gemeinsamen Deponierung von Haus- und Industriemüll intensiv diskutiert und problematisiert, ohne dass es damals jedoch zu durchgreifenden Konsequenzen gekommen wäre.14 Das war u.a. deshalb der Fall, weil die billige Entsorgung bereits zu diesem Zeitpunkt als wichtiger Standortfaktor ins Spiel gebracht wurde.15 12 | Bericht über die Auswertung der Erfahrungen im Zusammenhang mit der Hanauer Giftmüllaffäre (Januar 1974). Bundesarchiv Koblenz, B 106, Nr. 65269. 13 | Vermerk Stadtreinigungsamt (11.12.1964). Stadtarchiv Augsburg, Bestand 49, Nr. 1473. 14 | Ministerieller Runderlass vom 21.1.1963, Beseitigung fester Abfallstoffe. Landesarchiv NRW, NW 354, Nr. 587. 15 | Schreiben Bundesverband der Deutschen Industrie, Landesvertretung NordrheinWestfalen, an den Minister für Landesplanung, Wohnungsbau und öffentliche Arbeiten des Landes NRW, Joseph Franken (5.5.1965). Landesarchiv NRW, NW 354, Nr. 586.

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Die Gefährlichkeit bestimmter industrieller Abfälle wurde dann allerdings zu Beginn der 1970er Jahre zu einem Thema, das nicht länger von Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit ignoriert werden konnte. Dazu trugen nicht zuletzt zahlreiche Giftmüllskandale bei, wobei die Aufdeckung der wilden Ablagerung von Natriumcyanid auf einer Kippe in Bochum-Gerthe (1971) sowie der sogenannte »Plaumann-Skandal« (1973), bei dem ein Entsorgungsunternehmer giftige Chemierückstände auf Deponien in der Umgebung von Hanau abgekippt hatte, die prominentesten waren.16 Hier war offensichtlich bereits bekannt, dass bestimmte Abfälle nicht auf normale Hausmülldeponien gehörten. Für ihre ordnungsgemäße Entsorgung fehlte aber eine ausreichende Infrastruktur, was dementsprechend hohe Kosten produzierte. Während beispielsweise das Volkswagenwerk bereits Mitte der 1960er Jahre eine Verbrennungsanlage für die werkseigenen Kunststoffabfälle errichtete (Grieger 2009: 86f.), waren insbesondere kleine und mittlere Unternehmen, die problematische Abfälle produzierten, nicht in der Lage oder nicht willens, deren ordnungsgemäße Entsorgung zu garantieren.17 Auch für den Industriemüll bedeutete das Abfallbeseitigungsgesetz 1972 einen Wendepunkt. Es beseitigte durchaus nicht die gemeinsame Entsorgung von Haus- und Industriemüll, es führte jedoch zu einer durchgreifenden Regulierung der Entsorgung sogenannter »Sonderabfälle« – ein Begriff, der im Zuge der Vorbereitung des Gesetzes geprägt wurde und die Abfälle bezeichnete, die nicht zusammen mit dem Hausmüll entsorgt werden sollten.18 Aber auch wenn bei weitem nicht aller Industriemüll »Sondermüll« war, so wurde damit ersterer trotzdem als separate Abfallfraktion etabliert. Ab Mitte der 1970er Jahre wurden Gewerbe- und Industrieabfälle zunehmend statistisch erfasst. Es wurden Abfallkataloge erstellt, und die Wissenschaft begann, sich intensiv mit dem Industriemüll zu beschäftigen.19 Nicht zuletzt wurden im Zuge der Neuordnung der Abfallwirtschaft in den 1970er Jahren zunehmend spezialisierte Entsorgungseinrichtungen ge16 | Bericht der durch Beschluss des Kabinetts vom 24.9.1973 eingesetzten Kommission zur Untersuchung der unerlaubten Ablagerung von industriellen Sonderabfällen. Bundesarchiv Koblenz, B 106, Nr. 65269. 17 | Schreiben Menke-Glückert an Willi Gässler (BDI) (20.3.1972). Bundesarchiv Koblenz, B 106, Nr. 25178. 18 | Ministerialrat Thomas Weinheimer (MELF), Die Novelle des Abfallbeseitigungsgesetzes unter besonderer Berücksichtigung der Frage der Sonderabfälle (4.6.1975). VKS-Bundestagung, 3.-7.7.1975 in Friedrichshafen. Landesarchiv NRW, NW 354, Nr. 886. 19 | Bundesministerium des Innern, Zusammenstellung der eingereichten Forschungsund Untersuchungserträge auf dem Gebiet der Abfallwirtschaft (15.2.1975). Bundesarchiv Koblenz, B 106, Nr. 69718.

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schaffen, die teilweise unproblematisch waren (etwa im Falle von Bauschuttdeponien), im Falle von Sondermülldeponien und -verbrennungsanlagen aber scharfe Proteste provozierten. Sie wurden während der 1970er Jahre zum Sinnbild für eine Gesellschaft, welche die Nebenfolgen ihres Wohlstands und hypertrophen Konsums nicht in den Griff bekam.

4. A bfall als U mweltproblem seit den 1960 er J ahren Es gehörte zu den schockierenden Erfahrungen für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des zuständigen Bundesinnenministeriums im Zuge der Vorbereitung des Abfallbeseitigungsgesetzes, wie umfassend sich das Abfallproblem tatsächlich darstellte. So stellte ein Gutachten von 1971 beispielsweise fest, dass organische Abfälle aus der industriellen Massentierhaltung quantitativ die größte Abfallfraktion überhaupt repräsentierten, die als Folge der chemischen Intensivlandwirtschaft auch keineswegs unproblematisch war.20 Hinzu kamen, neben den bereits bekannten Fraktionen, Autowracks, Altreifen, Krankenhausabfälle, Industrieschlämme etc. Es herrschte der Eindruck vor, als habe sich auf einmal der Schleier über einem der zentralen Umweltprobleme moderner Industriegesellschaften gelüftet.21 Das hatte die paradoxe Konsequenz, dass es Abfälle sowohl genauer zu differenzieren wie auch umfassender zu bestimmen galt. So wurde im Abfallbeseitigungsgesetz anstatt einer additiven Abfalldefinition nun eine systematische verwendet, die als Abfälle das bestimmte, was jemand entsorgen wollte und was tatsächlich zu entsorgen war (Münch 1993: 109). Diese Kombination eines »subjektiven« und eines »objektiven« Abfallbegriffs erwies sich als ausreichend flexibel, um ein Problem zu erfassen, dessen Umfang und Tragweite man noch gar nicht recht begriff. Für ein vertieftes Verständnis war jedoch eine genauere Differenzierung verschiedener Abfallfraktionen notwendig. Das hatte nicht zuletzt zur Konsequenz, dass die Menge der Abfälle auch statistisch geradezu »explodierte«, indem unter Abfällen nun auch Reststoffe gefasst wurden, die vormals gar nicht im Blickfeld der Behörden gewesen waren.22 Die generelle Zunahme der Abfallmengen wiederum legte eine genauere Differenzierung der Abfallfraktionen nahe, auch um ihre Verursacher in die Haftung zu nehmen bzw. an den Entsorgungskosten zu beteiligen. Vor allem 20 | Programm »Umweltgestaltung – Umweltschutz« der Bundesregierung. Beitrag der Projektgruppe Abfallbeseitigung, 15.5.1971. Bundesarchiv Koblenz, B 106, Nr. 29370. 21 | Programm »Umweltgestaltung – Umweltschutz« der Bundesregierung. Beitrag der Projektgruppe Abfallbeseitigung, 15.5.1971. Bundesarchiv Koblenz, B 106, Nr. 29370. 22 | Programm »Umweltgestaltung – Umweltschutz« der Bundesregierung. Beitrag der Projektgruppe Abfallbeseitigung, 15.5.1971. Bundesarchiv Koblenz, B 106, Nr. 29370.

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aber war es die Problemverschiebung von der Sammlung zur Entsorgung seit den 1960er Jahren, die zu einer »Verwissenschaftlichung« der Abfallwirtschaft führte und damit auch zu einer Verfeinerung der Kategorien, mit denen das Müllproblem geordnet, erforscht und statistisch erfasst wurde. Gerade der Hausmüll wurde darüber von einem städtehygienischen Problem zu einem Teilaspekt der Gesamtproblematik Abfall degradiert, der zudem – so schien es wenigstens zeitweise – technisch nur geringe Probleme aufwarf.23 Bis Mitte der 1960er Jahre war das Feld der Abfallbeseitigung vergleichsweise übersichtlich gewesen. Als Experten galten die Leiter der Stadtreinigungsämter, die sich in erster Linie mit Fragen der technisch effizienten und hygienisch einwandfreien Sammlung des Abfalls beschäftigten. Auch wenn sie auf diesem Gebiet durchaus erfolgreich waren, konnten sie zu Fragen seiner ordnungsgemäßen Entsorgung in der Regel wenig beitragen (Erbel/Kaupert 1965). Das hatte auch damit zu tun, dass seit Mitte der 1960er Jahre zunehmend deutlich wurde, dass die Entsorgungsproblematik die traditionellen Probleme der Städtehygiene »transzendierte«: Es ging nicht länger vorrangig um Hygiene, die Abwehr von Keimen und Bakterien und die Vermeidung von Seuchen. Vielmehr kontaminierten Abfälle das Grundwasser mit chemischen Substanzen und »Giften«, die ihre Wirkung erst langfristig entfalteten und über die wenig bekannt war.24 Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Abfall – in Universitäten, im Bundesgesundheitsamt (ab 1974 dann im Umweltbundesamt 25) oder in den Fachverbänden – setzte an diesem Problem an. Dabei war es unvermeidlich, dass diese Anstrengungen zu einer genaueren Differenzierung der Abfallfraktionen führte, schon um besonders gefährliche Müllarten zu identifizieren. Zugleich ergab sich daraus aber auch eine empirische Aufmerksamkeit dafür, welche quantitative Dimension diese Abfallfraktionen auch nach sorgfältiger Trennarbeit noch hatten. In jeglicher Hinsicht erwies sich darum das Abfallproblem zu Beginn der 1970er Jahre als umfangreicher als gedacht.26 Hinzu kam, dass sich die semantische Verhandlung des wissenschaftlichen wie gesellschaftlichen Diskurses um den Abfall seit Mitte der 1960er Jahre veränderte. Dass der Müll von einem Gegenstand der Städtehygiene zu 23 | Bericht über die Auswertung der Erfahrungen im Zusammenhang mit der Hanauer Giftmüllaffäre (Januar 1974). Bundesarchiv Koblenz, B 106, Nr. 65269. 24 | Artikel Rhein-Neckar Zeitung (1.9.1960): Die Konjunktur hat auch eine Kehrseite. Ersticken wir im Wohlstandsmüll? Stadtarchiv Mannheim, Hauptregistratur, Zugang 40/1972, Nr. 291. 25 | Erlass über die Einrichtung einer Bundesstelle für Umweltangelegenheiten (30.7. 1973). Bundesarchiv Koblenz, B 106, Nr. 69718. 26 | Programm »Umweltgestaltung – Umweltschutz« der Bundesregierung. Beitrag der Projektgruppe Abfallbeseitigung, 15.5.1971. Bundesarchiv Koblenz, B 106, Nr. 29370.

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einem Umweltproblem wurde, äußerte sich beispielsweise darin, dass Seuchengefahren seit Ende der 1960er Jahre kaum noch thematisiert wurden. Vielmehr trat der Abfall als Emittent von »Giften« in den Vordergrund und verband sich mit anderen Risikobereichen des Umweltschutzes, der Reinhaltung von Luft und Wasser (Bundesministerium des Innern 1973b). Damit wurde auch sprachlich eine Komplexität, Großflächigkeit und Vernetzung der Probleme angedeutet, die eine technische Beherrschung des Problems unsicher, ja sogar unwahrscheinlich machten. Daraus ergaben sich typische Effekte reflexiver Modernisierung: Auf der einen Seite wuchs das Wissen um den Abfall und die durch ihn verursachten Entsorgungsprobleme. Zugleich ging damit jedoch eine Zunahme des Nichtwissens einher. Wenn vor wenigen Jahren noch ein gedankenloser, bestenfalls naiver Zugang zum Müll vorgeherrscht hatte: Wie konnte sichergestellt werden, dass seine Problemdimension heute adäquat erkannt wurde (Beck 1987: 76ff.)? Welchen Sinn hatten beispielsweise Grenzwerte für die Schadstoffemissionen von Müllverbrennungsanlagen, wenn ein Großteil der chemischen Verbindungen, die im Verbrennungsprozess entstanden, gar nicht bekannt waren und dementsprechend weder gemessen noch reguliert werden konnten (Grassmuck/Unverzagt 1991)? Chemische Substanzen wie Furane, Cyanide und besonders seit dem Unglück im italienischen Seveso 1976 Dioxine wurden zunehmend zu Angstbegriffen, deren unkalkulierbare Wirkungen durch Grenzwerte nicht in den Griff zu bekommen waren (Friedrich 1989: 33f.; zur allgemeinen Grenzwertproblematik Luhmann 1997). Während die Angst vor Seuchen verschwand, rückte mit der Krankheit Krebs, deren Risiko durch die jahrelange Belastung mit Umweltgiften stieg, ein Symbol an ihre Stelle, das der veränderten »Phänomenologie« der Gefährdung entsprach, die unsichtbar, schleichend, langfristig erfolgte (Westermann 2007: 293f.). Dementsprechend erwies sich die Abfallentsorgung als technisch schwer beherrschbar. Entgegen der Selbstgewissheit, welche die Ingenieure und Techniker oftmals vermittelten, wuchsen parallel das Wissen und das Nichtwissen über die Gefahren der Entsorgung. Das brachte die Apologeten hergebrachter Technologien zunehmend in Erklärungsnot. Zumindest konnte das Argument, Gefahren der Entsorgung seien nicht bekannt, aus den genannten Gründen immer weniger überzeugen – geschweige denn beruhigen (Möller 2012). In diesem Angst- und Risikodiskurs erwies sich gerade die Differenzierung verschiedener Abfallfraktionen als ambivalent. Zwar konnten letztere getrennt, unterschieden, statistisch differenziert werden: In den Entsorgungsanlagen fanden sie jedoch oftmals wieder zusammen. Hier wurde dann wieder der Hausmüll zum besonderen Problem, weil er das heterogenste Abfallgemisch überhaupt darstellte (Friedrich 1989: 34). Hier war es am schwersten, zu kalkulieren, welche chemischen Verbindungen bei der Entsorgung entstanden

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und ob nicht auch gefährliche Abfälle unbemerkt beigemischt waren. Dann aber waren nicht mehr nur bestimmte Abfälle gefährlich, sondern tendenziell alle Abfälle.

5. W ege aus dem E ntsorgungsnotstand in den 1970 er und 1980 er J ahren In den 1970er und 1980er Jahren stand die Bundesrepublik, wie alle Industriegesellschaften, vor dem Problem der Entsorgung wachsender, zunehmend als komplex und gefährlich wahrgenommener Müllmengen. Mit dem Abfallbeseitigungsgesetz von 1972 wurde die Entsorgung zum Gegenstand umfassender, kostspieliger Planungsvorhaben und dadurch grundlegend verändert. An die Stelle kommunaler Lösungen trat eine zentralisierte Form der Entsorgung, die wesentlich auf Verbrennungsanlagen und geordneten Zentraldeponien basierte.27 Die Behörden waren dabei zu Beginn der 1970er Jahre zunächst mit einem Mengenproblem konfrontiert. Das Hausmüllaufkommen stieg während der 1970er Jahre weiterhin an, wenn auch nicht mehr ganz so schnell wie in dem Jahrzehnt zuvor, und begann erst um die Mitte der 1980er Jahre auf hohem Niveau zu stagnieren (Stadt Frankfurt a.M. 1984: 92; Stadt Frankfurt a.M. 1991: 1964, Stadtverwaltung Mannheim 1970: 20). Das eröffnete nur bedingt ein Fenster der Hoffnung. Auch wenn die Abfallmengen nicht unbedingt weiter stiegen: sinken taten sie nicht. Positiv an dieser Entwicklung war allein, dass Ende der 1960er Jahre die meisten Prognosen ein noch viel stärkeres Wachstum der Abfallmengen und amerikanische Verhältnisse (die USA waren die ungeschlagenen Weltmeister in der Müllproduktion) auch für die Bundesrepublik vorhersagten (O.V. 1970). Diese Entwicklung trat offensichtlich nicht ein. Es waren aber nicht zuletzt die zeitgenössischen Prognosen über das Wachstum des Abfallaufkommens, die die Dringlichkeit der Entsorgungsproblematik zu Beginn der 1970er Jahre zusätzlich verschärften. Aus diesem Grund mussten im großen Umfang neue Entsorgungskapazitäten geschaffen werden. Die Kompetenz der Kommunen wurde dafür als nicht länger ausreichend angesehen. Vielmehr wurden die Bundesländer als entscheidende Planungsinstanzen eingesetzt, um die Abfallentsorgung neu ordnen. Mit den Abfallbeseitigungsplänen trat seit den frühen 1970er Jahren ein Planungsinstrument in den Vordergrund, das zunehmend zu einer zentralisierten Form der Abfallentsorgung führte (Stokes/Köster/Sambrook 2013: 185).

27 | Werner Schenkel, Zukünftige Entwicklungslinien der Abfallwirtschaft (Vortrag 30.5.1979). Bundesarchiv Koblenz, B 106, Nr. 69732.

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Diese war dadurch charakterisiert, dass die Müllverbrennung als großstädtische Entsorgungslösung dauerhaft etabliert wurde. Für Kleinstädte und ländliche Räume waren hingegen zumeist geordnete Zentraldeponien vorgesehen, die es notwendig machten, dass sich besonders kleinere Gemeinden zu Zweckverbänden zusammenschlossen. Damit wurde jedoch die Standortfrage zu einem heiklen Problem: Eine Gemeinde musste den Abfall der anderen aufnehmen, was heftige Proteste provozierte.28 Die Widerstände waren dort am stärksten, wo aufgrund der Siedlungsstruktur die Abfallprobleme vormals relativ gering gewesen und darum bislang kaum Schritte zur Neuordnung der Entsorgung unternommen worden waren. So war etwa die Protestintensität im ländlich geprägten Baden-Württemberg deutlich stärker als im dichter besiedelten Nordrhein-Westfalen.29 Die Zentralisierung der Entsorgung warf auch andere Probleme auf. Sie bedingte lange Anfahrtswege zur Deponie, was zu erhöhten Abgasemissionen führte und die Arbeitsorganisation der Müllabfuhr störte. Je größer die Deponien wurden, umso schwerer ließen sie sich technisch beherrschen. Basisabdichtung, Sickerwasserdrainage sowie die Überwachung der biologischen und chemischen Prozesse in der Deponie wurden mit ihrer zunehmenden Größe immer komplizierter (Lottner 1992: 115). Deponien, deren großer »Vorteil« stets gewesen war, die einfachste und billigste Entsorgungslösung zu sein, wurden zu komplexen, teuren Bauwerken. Es erschien zunehmend unklar, inwiefern sie sich überhaupt (und über Jahrzehnte) wirksam kontrollieren ließen (Hillebrand/Reimer 1982: o.P., Tab 77). Aus Sicht der meisten Ingenieure waren Verbrennungsanlagen als geschlossene Systeme (mit einer problematischen Öffnung allerdings: dem Schornstein) technisch besser zu beherrschen (Schenkel 1974: 9). Sie ermöglichten eine dezentralere und darum effizientere Entsorgung. Die höheren Kosten für solche Anlagen sollten langfristig durch die Gewinnung von Strom und Wärme kompensiert werden (Hillebrand/Reimer 1982: o.P., Tab 77). Jedoch fokussierte sich der Protest von Umweltverbänden und Bürgerinitiativen in den 1980er Jahren besonders auf Müllverbrennungsanlagen. Das hing wesentlich mit dem Verdacht zusammen, dass diese Anlagen prozessspezifische Schadstoffe erzeugten, die nur zu einem Bruchteil überhaupt bekannt waren. Insbesondere der besonders stark zunehmende Kunststoffmüll wurde für die Bildung von Furanen oder Dioxinen verantwortlich gemacht (Friedrich 1989: 42ff.). Stärker noch als Deponien wurden Verbrennungsanlagen in den 1980er 28 | Schreiben Ewald Meurisch an Emmy Horstmann (25.7.1969). Bundesarchiv Koblenz, B 106, Nr. 25132; Schreiben Kurt Schaal an den Minister für Ernährung, Landwirtschaft und Umwelt (18.1.1973) Hauptstaatsarchiv Stuttgart, EA 7/703, Nr. 31. 29 | Vermerk Mertens, Bürgerinitiativen gegen die Errichtung der MVA Oberhausen (6.10.1972). Landesarchiv NRW, NW 455, Nr. 828.

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Jahren zum Gegenstand eines angstkorrelierten Nichtwissens (Grassmuck/ Unverzagt 1991). Abfall als Stoffgemisch galt in den 1980er Jahren zumindest bei einer kritischen Öffentlichkeit per se als gefährlich. Das änderte aber nichts daran, dass die anfallenden Abfallmengen je nach ihrer Zusammensetzung und Gefährlichkeit getrennt entsorgt werden mussten. An die Seite des Mengenproblems trat darum ein Differenzierungsproblem. Es mussten zahlreiche neue Anlagen für spezifische Sonderabfälle geschaffen werden, die nicht nur technische Probleme mit sich brachten, sondern auch starke Proteste provozierten.30 Im Gegensatz zum Hausmüll wurden Schadstoffe hier nicht erst im Prozess der Zersetzung oder der Verbrennung gebildet, sondern waren bereits im Abfall vorhanden. In den 1970er und 1980er Jahren wurden zahlreiche Sondermülldeponien und -verbrennungsanlagen durch Bürgerinitiativen verhindert (Gemeinde Mainhausen 2011; Peil 1981). Darum wurde die Sondermüllproblematik häufig dadurch zu lösen versucht, dass man diesen Müll exportierte. Das bevorzugte Reiseziel war während der 1980er Jahre die DDR, für die der Import von westdeutschem Sondermüll und anderen Abfällen eine wichtige Devisenquelle darstellte (Baerens/ von Arnswald 1993: 89). Dass es sich dabei um keine ideale Lösung handelte, lag auf der Hand, denn niemand konnte begründet annehmen, dass in der DDR angemessene Umweltauflagen eingehalten wurden. Aber auch zwischen den Bundesländern wurde der Müll verschoben, was ebenfalls zu erregten Debatten führte (Schenkel 1989: 35). Zwei Wissenschaftler fassten die Lage 1985 dahingehend zusammen, »dass es einerseits nur problematische Standorte gibt und andererseits bei jedem vorgeschlagenen Standort mit begründeten Widerständen zu rechnen ist« (Ellerbrock/Hangen: 572). Die Proteste gegen neue Anlagen richteten sich dabei oftmals gegen die zentralisierte Struktur der Entsorgung. Sie trugen aber unintendiert gerade dazu bei, dass diese sich in den 1980er Jahren noch verfestigte. Angesichts langer Planungszeiträume, Protesten gegen neue Einrichtungen und gleichzeitig kontroverser Debatten über die Risiken der Entsorgung bestand ein starker Anreiz für die Behörden, sowohl möglichst wenige Standorte auszuwählen, was notwendigerweise zu sehr großen Anlagen führte, als auch an getroffenen Standortentscheidungen um jeden Preis festzuhalten (Barbian 1990). Wozu das führte, lässt sich anhand zweier Beispiele aus Hessen demonstrieren. So hatte die Zentraldeponie Buchschlag für das Frankfurter Umland ihre Kapazitätsgrenze offiziell bereits in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre erreicht, wurde aber aufgrund des Mangels an Alternativen bis in die frühen 30 | Vgl. den ausführlichen Situationsbericht in Schreiben Deneke an den Wirtschaftsminister des Landes NRW (15.5.1974). Landesarchiv NRW, NW 455, Nr. 823.

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1990er Jahre weiter genutzt und entwickelte sich auf diese Weise zur größten Deponie Europas (O.V. 1990). In der Grube Messel wurde seit den frühen 1970er Jahren der Bau einer Großdeponie geplant. Obwohl es begründete Zweifel an der Eignung des Geländes gab und es sich um eine archäologische Ausgrabungsstätte von Weltrang handelte, wurde an ihr bis in die frühen 1990er Jahre als Deponiestandort festgehalten (Raab 1996). Zentraldeponien und Müllverbrennungsanlagen als »Pyramiden« und »Kathedralen« des Konsumzeitalters, die Gegenstand eines kritischen Abfalldiskurses wurden, erwiesen sich somit letztlich gerade als Resultat der Anstrengungen, eine vernünftige Lösung des Abfallproblems zu verwirklichen (Windmüller 2004). Was blieb dann aber noch als Ausweg übrig? Zumindest die Hausmüllproblematik wurde seit den späten 1970er Jahren durch ein verstärktes Recycling abzumildern versucht. Es entstanden Infrastrukturen für die Sammlung von Glas, Altpapier und bestimmten Metallen, die das Mengenproblem der Entsorgung verringerten (Köster 2014). Genauso sollte die Kompostierung der organischen Bestandteile des Hausmülls vorangetrieben werden (Gallenkemper/Doedens 1987: 176). Zugleich wurde damit die Entsorgung des übrig bleibenden Abfalls aber keineswegs einfacher: Vielmehr wurden auf diese Weise Materialien aussortiert, die zwar mengentechnisch wichtig waren, auf der Deponie oder in der Verbrennungsanlage aber eigentlich keine Probleme bereiteten. Mehr noch: Dadurch, dass solche Materialien fehlten, war der verbleibende Rest häufig sogar noch schwieriger zu entsorgen.31 Solche Widersprüche waren durchaus charakteristisch für den gesellschaftlichen Umgang mit Abfall in den 1970er und 1980er Jahren: Die Forderung nach unschädlicher Beseitigung des Mülls erschien vergeblich, wenn es offensichtlich keine adäquaten Entsorgungswege gab. Die zahlreichen Abfallfraktionen warfen ebenso zahlreiche Entsorgungsprobleme auf. Dann aber blieb als Lösung nur übrig, an den Produktionsmodi der Konsumgesellschaft grundlegend etwas zu verändern. Was als Motiv im Abfalldiskurs ohnehin stets präsent war, die Kritik an den Nebenfolgen eines schrankenlosen Konsums, wurde durch Schwierigkeiten der ordnungsgemäßen Entsorgung des Abfalls noch verstärkt. Auf diese Weise erschien der Abfall als das am engsten mit der individuellen Lebensführung verknüpfte Umweltproblem überhaupt.

R esümee Das Problem der festen Haushaltsabfälle resultierte zunächst aus dem Bedeutungsverlust traditioneller Verwertungsformen des Abfalls sowie einer inten31 | Schreiben Battelle-Institut an Gottfried Hösel (10.7.1973). Bundesarchiv Koblenz, B 106, Nr. 25151.

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sivierten Aufmerksamkeit für Fragen der Städtehygiene. Darauf reagierten insbesondere die Städte mit der Einrichtung einer »schweren« Infrastruktur der Müllsammlung, die bis in die frühen 1960er Jahre den städtehygienischen Standard darstellte. Allerdings begann sich das Abfallproblem nach dem Zweiten Weltkrieg dramatisch zu verändern. Besonders in den 1960er Jahren nahmen die Müllmengen schnell zu und fingen erst in den 1980er Jahren an, auf hohem Niveau zu stagnieren. Zugleich wuchs auch das Wissen um die Gefährlichkeit der Abfälle, das insbesondere die Entsorgung zu einem immer größeren Problem werden ließ. Das rapide Wachstum der Abfallmengen war insofern von einer »Verwissenschaftlichung« der Abfallwirtschaft begleitet, die nicht zuletzt zu einer stärkeren Differenzierung verschiedener Müllfraktionen führte. Am Ende der 1980er Jahre herrschte in der Bundesrepublik aus vielerlei Gründen ein Müllnotstand. Viele Entsorgungsanlagen gerieten an ihre Kapazitätsgrenzen, die Techniken der Entsorgung wurden zunehmend problematisiert, und es gab starke Proteste aus der Bevölkerung. Mit dem Fall der Mauer war zudem die Schließung des Müllventils im Osten absehbar, das bis dahin eine »Externalisierung« speziell der gefährlichen Industrieabfälle ermöglicht hatte. Besonders prekär erschien die Lage überdies deswegen, weil gerade eine technische Lösung im Umweltdiskurs der 1970er und 1980er Jahre nicht vorgesehen bzw. für unmöglich erachtet wurde. Vielmehr schien es oftmals so, dass gerade die Maßnahmen, die das Problem in den Griff bekommen sollten, es eher noch verschärften. Angesichts der Dringlichkeit der Abfallproblematik zu Beginn der 1990er Jahre ist es erstaunlich, dass die Entsorgungssituation in der Bundesrepublik lange Zeit kaum noch zur Debatte stand. Seit Mitte der 1990er Jahre trat der Müll als Umweltproblem für längere Zeit in den Hintergrund. Neue Müllverbrennungsanlagen, verbesserte Filter- und Entsorgungstechniken, verstärkte Recyclingaktivitäten sowie eine sukzessive verschärfte Gesetzgebung verbesserten die Entsorgungssituation tatsächlich. Trotzdem war es aber eher die Aufmerksamkeitsverschiebung auf andere Umweltprobleme – insbesondere den Klimawandel – die zur »Lösung« des Entsorgungsproblems unabdingbar war. Die normative Aufladung des Abfallproblems verschwand damit weitgehend. Den Technikern wurde freie Hand gegeben.

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Lebensmittelabfälle als ethisch-kulturelle Herausforderung Markus Vogt

Lebensmittel sind mehr als andere Dinge mit kulturellen Werten und Emotionen verbunden. Daher haben die hohen Wegwerfraten, die erst jüngst durch eine Bündelung wissenschaftlicher Forschungen, politischer Initiativen und zivilgesellschaftlicher Aktionen in das Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gelangt sind, intensive ethische Debatten ausgelöst. Indem die Europäische Kommission 2015 zum »Jahr gegen Lebensmittelverschwendung« de­kla­riert hat,1 will sie diese gezielt verstärken, differenzieren und mit Handlungsoptionen verknüpfen. Angesichts der höchst komplexen und vielschichtigen Zusammenhänge beansprucht der folgende Beitrag keine umfassende Darstellung, sondern konzentriert sich auf normative Aspekte zu drei Bereichen: 1. Analysen zur Quantifizierung der Lebensmittelabfälle mit Blick auf ihre normativen Implikationen sowie eine Abschätzung der zentralen Problembereiche; 2. Chancen, Barrieren und ethische Kriterien der Konsumentenverantwortung zugunsten weniger abfallintensiver Lebensstile; 3. Innovative Praxen für eine Reduktion der Lebensmittelabfälle im zivilgesellschaftlichen Bereich. Leitthese des Textes ist, dass dem kulturellen Kontext eine bisher unterschätzte Schlüsselbedeutung zukommt, wenn man die Umgangsformen mit Lebensmitteln in ihrer spannungsvollen Gleichzeitigkeit von Verschwendung und Hunger ändern will. Davon ausgehend ist die Darstellung konkreter Probleme und Initiativen der Abfallreduktion in eine methodische Reflexion der Kritik von Lebensstilen im Kontext liberaler Gesellschaften eingebunden.

1 | Ursprünglich war dies für 2014 geplant, sodass manche Aktivitäten und Diskussionen trotz der kurzfristigen Verschiebung bereits im Vorjahr stattfanden (www.magazinrestkultur.de/rest-kultur-themen/lebensmittel/2014-das-europaeische-jahr-gegenlebensmittelverschwendung/ [Abruf: 4.8.2015]).

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1. A nalysen zu L ebensmit tel abfällen 1.1 Bilanzen Die Berechnungen der in Deutschland jährlich weggeworfenen Mengen an Lebensmittelabfällen (food waste) unterscheiden sich erheblich. Eine umfangreiche Studie, die 2012 publiziert wurde, spricht von elf Millionen Tonnen (Institut für Siedlungswasserbau, Wassergüte- und Abfallwirtschaft der Universität Stuttgart 2012: 1). Das wäre gut ein Viertel der jährlich produzierten Mengen. Berücksichtigt sind dabei Industrie, Handel, Großverbraucher und Privathaushalte. Ausgeklammert wird die landwirtschaftliche Urproduktion, da die Abschätzung der Abfälle hier zu aufwendig und ungenau sei. Auch Abfälle, die weiterverfüttert oder weiterverwertet werden, sind in dieser und vielen ähnlichen Studien nicht berücksichtigt (dazu kritisch Heinrich Böll Stiftung 2014). Aufgrund dieser und weiterer methodischer Differenzen kommen andere Studien in ihrer Bilanz der jährlich in Deutschland weggeworfenen Lebensmittel auf 20 Millionen Tonnen,2 was ca. die Hälfte der produzierten Lebensmittel wäre. Wenn man einen weiten Begriff von »Abfall« voraussetzt, dann ist die Abschätzung, dass in Deutschland die Hälfte der Lebensmittel weggeworfen wird, nicht unrealistisch. Auch internationale Studien bewegen sich in ihren Schätzungen meist zwischen 33 % und 50 % (European Commission 2014; Zimring/Rathje 2012; Worldwatch Institute 2010). Insbesondere wenn man berücksichtigt, dass Unterschiede in den Zahlenangaben häufig auf methodische oder begriffliche Differenzen zurückzuführen sind, kann man die Berechnungen für die westlichen Industrienationen als einigermaßen repräsentativ ansehen. Bilanzierungen von Öko-Fair, die sich eher am oberen Rand des häufig genannten Spektrums bewegen, sind hier: 90 Millionen Tonnen Lebensmittel werden in der Europäischen Union jährlich weggeworfen; 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel landen weltweit jährlich auf dem Müll (Öko-Fair 2014: 1).3 Dies entspricht ca. einem Drittel aller Lebensmittel. Anschaulich: »Auf einer Fläche größer als Kanada bauen die Menschen Nahrungsmittel für den Abfalleimer an. Es ließen sich mehr als drei Milliarden Menschen damit ernähren« (Sauer 2014: 17). Gerade wer von einem weiten Abfallbegriff und damit einer hohen Wegwerfquote ausgeht, sollte jedoch berücksichtigen, dass dabei ein erheblicher Anteil an »unvermeidbaren« Abfällen einbezogen ist, insbesondere bei Obst 2 | Vgl. z.B. www.tafel.de/die-tafeln/zahlen-fakten/lebensmittelverschwendung [Abruf: 4.8.2015] (hier bezogen auf genießbare Lebensmittel, die jährlich in Deutschland weggeworfen werden). 3 | Die Zahlen beruhen auf umfangreichen Untersuchungen der FAO; Abfälle aus Landwirtschaft und Fischerei sind nicht mitgerechnet.

Vogt – Lebensmittelabfälle als ethisch-kulturelle Herausforderung

und Gemüse. In der Literatur wird deshalb zwischen vermeidbaren, teilweise vermeidbaren und nicht vermeidbaren Abfällen oder auch zwischen genießbaren und nicht genießbaren Lebensmittelabfällen unterschieden.4 Das Ideal der völligen Vermeidung von Lebensmittelabfällen lässt sich nur aufrechterhalten, wenn man einen engen Begriff von »Abfall« voraussetzt und seine »Verwertung« als Tierfutter, Kompost oder für thermische Energie nicht der Kategorie »Abfall« zurechnet. Der von der Heinrich Böll-Stiftung herausgegebene »Fleischatlas Extra« ergänzt diese Zahlen durch einige informative Details zu tierischen Abfällen: »Im Jahr 2013 entstanden bei 11,4 Millionen Tonnen Lebendgewicht der geschlachteten Tiere rund 4,9 Millionen Tonnen ›tierische Nebenprodukte‹ – worunter alles fällt, was für den menschlichen Verzehr nicht geeignet ist oder nicht nachgefragt wird« (Heinrich Böll Stiftung 2014: 5). Das meiste davon wird industriell weiter genutzt, weshalb es nicht als »Abfall« deklariert wird. Der essbare Anteil geschlachteter Tiere lag 2012 in Deutschland bei Ente, Gans und Schwein bei ca. 62 %, beim Rind bei nur 37 %. »In vielen armen Ländern werden Tiere so vollständig wie möglich verzehrt. In Deutschland ist das anders: Hier liegt dieser Anteil nur zwischen einem und zwei Dritteln« (Heinrich Böll Stiftung 2014: 10). Von der Europäischen Kommission werden über die vergangenheitsbezogenen Bilanzierungen der Lebensmittelabfälle hinaus auch Prognosen angeboten (European Commission 2014): Für 2014 wurden über 100 Millionen Tonnen Lebensmittelabfälle in der Europäischen Union pro Jahr erwartet; bis 2020 werden 126 Millionen Tonnen jährlich prognostiziert. Eine solche nicht unerhebliche Steigerungsrate ist Anlass, differenziert nach den Ursachen und möglichen Vermeidungsstrategien zu fragen. Zur Förderung der Bewusstseinsbildung und Partizipation hat die Kommission eine umfangreiche Forschungs-, Dialog- und Praxisstrategie zu »food waste« beschlossen (European Commission 2012). Bereits die quantitative Analyse des verschwenderischen Umgangs mit Lebensmitteln birgt komplexe methodische Herausforderungen: So wäre beispielsweise in einigen Bereichen nicht das Gewicht, sondern eher das Volumen oder die sortenreine Trennung bzw. Trennbarkeit eine signifikante Maßeinheit, um die mit dem jeweiligen Abfall verbundenen Probleme zu charakterisieren. Die Berechnung von Lebensmittelabfällen in Privathaushalten steht vor 4 | Teilweise ist auch von »natürlichen« Maßen des Wegwerfens (z.B. bei Fallobst oder Tierabfällen) die Rede; vgl. z.B. Heinrich Böll Stiftung 2014: 6, hier auf Fleischabfälle bezogen). Da die Abfallquoten jedoch wesentlich vom jeweiligen Handlungskontext abhängen und substantiell durch diesen mitbestimmt werden, ist der Begriff »natürlich« hier problematisch und der Terminus »unvermeidbare Abfälle« vorzuziehen. Auch diese Definition ist jedoch stets kontextabhängig.

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Problemen der Erfassung der zahlreichen Haushalte, die ihre Lebensmittelabfälle zu einem erheblichen Teil im Garten als Kompost entsorgen, sodass diese nicht in bürokratisch messbaren Handlungszusammenhängen erscheinen. Auch stellt sich bei der Bilanzierung die Frage, was man zu »Abfall« rechnet. Soll man beispielsweise Küken, die nicht das erwünschte Geschlecht haben und millionenfach »geschreddert« werden,5 zu den Lebensmittelabfällen rechnen? Zählt die Verschmutzung von Wasser durch Pestizide, die beim Anbau von Lebensmitteln zum Einsatz kommen, zum Abfall? Wenn man Wasser als das wichtigste »Lebensmittel« betrachtet, wäre es durchaus gerechtfertigt, die Verschwendung von sauberem Süßwasser, die primär im Kontext der Lebensmittelproduktion zu verorten ist, in die Bilanzen einzubeziehen, was jedoch kaum geschieht und was zu völlig anderen Berechnungen führen würde. Es wäre auch denkbar, Methan aus Rindermägen, das den Klimawandel nicht unerheblich verstärkt, als ein Neben- und Abfallprodukt aus dem Lebensmittelbereich einzubeziehen, was jedoch in den üblichen Bilanzen nicht vorkommt.6 Zwar sind die methodischen Schwierigkeiten der Berechnung und der Vergleichbarkeit durchaus starke Gründe, die genannten Bereiche nicht in die Bilanzen zu Lebensmittelabfällen einzubeziehen. Dennoch zeigen diese Beispiele anschaulich, dass wichtige Weichenstellungen der ethischen Debatte um Lebensmittel keineswegs erst dort beginnen, wo explizit normative Begriffe verwendet werden, sondern ganz wesentlich in der Art und Weise der Auswahl und Darstellung der vermeintlich neutralen empirischen Fakten (Vogt 2013). Versucht man in grundlegender Weise die Problematik von Lebensmittelabfällen zu charakterisieren, ist ihre Unterscheidung von anorganischen Abfällen in besonderer Weise relevant: Lebensmittelabfälle entstehen vorwiegend durch biologische Zerfallsprozesse, die bewirken, dass sie teilweise in recht kurzen Zeitspannen nicht mehr frisch und genießbar sind. Zudem sind sie in der Regel nur kurz oder gar nicht wiederverwertbar, zumindest nicht ohne radikales »Downcyceln«, z.B. in Form einer qualitativ niederwertigen Verwendung als Tierfutter oder als Grundlage für Kompost. Die Grenzwerte für die zugelassene Nutzungsdauer von Lebensmitteln unterscheiden sich je nach Handlungszusammenhang und werden teilweise restriktiver als nötig gesetzt, was Anlass für eine ethisch-gesellschaftliche Debatte bietet. Hier besteht ein

5 | Z.B. www.peta.de/eier#.VKK25cM4DY [Abruf: 4.8.2015]: 50 Millionen Eintagsküken landen in Deutschland jährlich auf dem Müll. Zur Kategorisierung von Fleischabfall außerhalb der normalen Schlachtung vgl. Heinrich Böll Stiftung 2014: 7. 6 | Für Zahlen siehe: http://klimaforschung.net/cgi-bin/weblog_basic/index.php? page_id=42 oder http://fleischfrage.wwf.de/worum-gehts/fleisch-klima/ [Abruf: 4.8. 2015].

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Konflikt zwischen Hygienestandards, marktbedingter Effizienzlogik und dem Ziel der Abfallvermeidung. Der »Vorteil« von Lebensmittelabfällen ist, dass sie in der Regel biologisch abbaubar sind und daher nicht langfristig in den Umweltmedien bleiben. Problematisch ist es, wenn organische und anorganische Abfälle zusammenkommen, da sich die Bedingungen ihrer Entsorgung bzw. Wiederverwertung radikal unterscheiden. Oft sind die Probleme anorganischer Abfälle jedoch eng mit denen von Lebensmittelabfällen verknüpft, insbesondere aufgrund der Verwendung von oft aufwändigen Verpackungen (häufig aus Plastik). Hier ist die Trennung von organischen und anorganischen Abfällen eine entscheidende Strategie der Abfallentsorgung bzw. ‑vermeidung – so die Leitidee des Cradle-to-Cradle-Konzeptes (Braungart/McDonough 2002). Die Problematik von Plastiktüten – die durchschnittlich lediglich fünf Minuten zum Einsatz kommen, aber fünfhundert Jahre in der Umwelt bleiben, da sie nicht durch natürliche Prozesse abgebaut werden (Liebezeit/Vogt 2014: 25f.) – stammt zu einem nicht unerheblichen Teil aus dem Kontext von Lebensmitteln.

1.2 Akteure des Weg werfens von Lebensmitteln Aufschlussreich ist die Analyse der Zusammensetzung von Lebensmittelabfällen: 26 % Gemüse, 18 % Obst, 15 % Backwaren, 12 % Speisereste, 39 % Sonstiges.7 Dabei werden der Industrie 17 %, dem Handel 5 %, dem Großverbraucher 17 % und den Haushalten 61 % der Abfälle zugerechnet (Institut für Siedlungswasserbau, Wassergüte und Abfallwirtschaft der Universität Stuttgart 2012: 10). Da in dieser Berechnung die landwirtschaftliche Urproduktion nicht mit einbezogen ist, wird hier möglicherweise der Anteil der Industrie bzw. der Produktion erheblich unterschätzt. Darüber hinaus ist von einer wechselseitigen Abhängigkeit der Akteure und einer komplexen Verwobenheit ihrer Handlungsfelder auszugehen. Deshalb ist die Zuordnung nicht immer eindeutig. So ist beispielsweise das abfallbezogene Handeln der Haushalte wesentlich von den im Handel angebotenen Warensortimenten abhängig. Diese dynamischen Wechselwirkungen sind handlungstheoretisch und systemisch von entscheidender Bedeutung, werden aber in den üblichen statistischen Zurechnungen nicht erfasst. Auf die einzelne Bürgerin bzw. den einzelnen Bürger in Deutschland bezogen ergeben sich 81,6 kg vermeidbarer Lebensmittelabfall im Durchschnitt pro Jahr, was ca. 235 Euro entspricht (Institut für Siedlungswasserbau, Wassergüte und Abfallwirtschaft der Universität Stuttgart 2012: 16ff.). Verluste von Lebens7 | Institut für Siedlungswasserbau, Wassergüte und Abfallwirtschaft der Universität Stuttgart 2012: 18, hier bezogen auf vermeidbare und teilweise vermeidbare Abfälle, was eine substantielle Einschränkung bedeutet.

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mitteln, die bei der Produktion, in der Nacherntephase, in der Gastronomie und im Handel sowie bei Transport, Verarbeitung und Lagerung anfallen, sind dabei nicht eingerechnet.8 Der hohe Anteil der Konsumenten an der Verursachung von Lebensmittelabfällen muss insofern etwas relativiert werden, als bei den hierbei zugrunde gelegten Berechnungen die landwirtschaftliche Urproduktion nicht berücksichtigt ist. Dennoch ist ihr Anteil erheblich und steht keineswegs zu Unrecht im Fokus der ethischen Debatten. Von Seiten der Lebensmittelindustrie oder auch des Gesetzgebers ist das »death dating« eine wesentliche Ursache für die hohen Wegwerfraten. Die Verfallsdaten definieren eine zeitliche Grenze des Konsumwerts von Lebensmitteln, mit deren Überschreitung sich die Nährstoffe in Müll verwandeln. Knapp bemessene Verfallsdaten erhöhen die Menge der vermüllten Lebensmittel erheblich. Sie sind normative Setzungen, die vom Handlungskontext abhängen. Restriktive Verfallsdaten minimieren Risiken, erhöhen jedoch die Abfallquote. Die Frage, wie viel »Abfall« eine gesundheitsorientierte Lebensmittelversorgung braucht und ab wann »Abfall« zur »Verschwendung« wird, ist deutungsabhängig und muss daher gesellschaftlich beantwortet werden. Es sind allerdings keineswegs nur gesundheitliche und hygienische Standards, die als normative Setzungen hohe Abfallraten verursachen. Auch »krumme Gurken« und anderes Gemüse, das aufgrund seiner Form nicht den EU-Standards entspricht und nicht in den Handel kommen darf (z.B. auch große Kartoffeln oder gebogene Zucchini), werden als Abfall deklariert. Hinsichtlich der Zuordnung von Lebensmittelabfällen zu Akteuren ist der Vergleich von Industrienationen und Entwicklungsländern signifikant. So kommt beispielsweise eine auf Haushaltsabfälle bezogene Studie von ÖkoFair zum Ergebnis einer Differenz um den Faktor fünfzehn (Öko-Fair 2014): 105 kg Lebensmittel wandern in Europa und Nord-Amerika pro Kopf und Jahr in den Müll; 7 kg pro Kopf und Jahr werden in Afrika und Süd-/Südostasien an Lebensmittelabfall entsorgt. Die FAO-Studie »Global food losses and food waste« vom Mai 2011 gibt folgende Zahlen an:9 In Europa werden pro Kopf und Jahr 95 kg Lebensmittelabfälle von Verbrauchern verursacht, jedoch 186 kg von Produktion, Transport und Handel. Der Studie zufolge fallen die Lebensmittelabfälle bei Privatverbrauchern in Entwicklungsregionen wie dem südlichen Afrika oder Südostasien weit geringer aus (6 bzw. 11 kg). Produktion, Transport

8 | Vgl. auch www.tafel.de/die-tafeln/zahlen-fakten/lebensmittelverschwendung.html [Abruf: 4.8.2015]: Die »Tafeln« sprechen von 20 Millionen Tonnen genießbarer Lebensmittel, die jährlich in Deutschland weggeworfen werden, und berechnen diese mit einem Gegenwert von 20 Milliarden Euro. 9 | Vgl. https://www.wien.gv.at/umweltschutz/abfall/images/norden-greenpeace-gr. jpg [Abruf: 4.8.2015].

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und Handel sind aber dort nicht sonderlich effektiver (161 bzw. 114 kg Lebensmittel werden hier auf Kopf und Jahr heruntergebrochen ungenutzt entsorgt). Bei allen Differenzen der verschiedenen Studien in einzelnen Zahlenangaben, ist ein signifikantes übereinstimmendes Ergebnis, dass die »Verschwendung« in Entwicklungsländern stark mit dem Produktionsbereich verbunden ist, während sie in den Industrieländern besonders im Handlungsbereich der Konsumenten lokalisiert werden kann. Meist sind dabei jedoch unübersichtliche Akteurs-Netzwerke beteiligt, sodass die Lebensmittelabfälle oft nicht ausschließlich bestimmten Personen, Gruppen oder Institutionen und ihrer Verantwortung zugerechnet werden können. Dennoch ist zumindest die grobe Abschätzung solcher Zurechenbarkeiten nötig, um die potentielle Wirksamkeit sowie Kosten und Nutzen von Maßnahmen, die eine Reduktion dieser Verschwendung erwarten lassen, aus gesamtwirtschaftlicher und einzelwirtschaftlicher Perspektive bewerten zu können. Darüber hinaus können die quantitativen Analysen dazu dienen, die weltweit unterschiedlichen Vermeidungspotentiale beim Lebensmittelmüll abzuschätzen.

1.3 Zusammenhänge von Lebensmittelmüll und Welthunger? In der gesellschaftspolitischen und ethischen Debatte wird die hohe Rate des Wegwerfens von Lebensmitteln vor allem vor dem Hintergrund des Welthungers als moralischer Skandal angesehen: »An estimated third to half of all of current food production ends up as waste. Meanwhile the FAO, the Food and Agriculture Organisation of the United Nations, reports that an estimated 868 million individuals, or 12 % of the world population, are undernourished« (European Commission 2012: Abschnitt »about food waste«).10 Analytisch gesehen ist der Zusammenhang von Lebensmittelabfall und Welthunger jedoch keineswegs eindeutig. Zumindest würde die direkte Umverteilung der Lebensmittel, also die Verteilung der überflüssigen bzw. weggeworfenen Lebensmittel in die Hungerregionen, nicht viel helfen. Im Gegenteil: Die subventionierte Verfrachtung von Lebensmitteln aus der europäischen und US-amerikanischen Überproduktion auf die Märkte in Entwicklungsländern ist paradoxerweise dort Mitursache für den Hunger, weil sie die Eigenproduk10 | Zu der in der Literatur fast standardmäßigen Verknüpfung der zunächst durchaus unterschiedlichen Themen vgl. auch: »Slow Food believes that in a world where millions are undernourished and resources are limited, reducing food waste is an essential step in achieving a sustainable food system. The present system in which we find ourselves as consumers and producers is founded on a mechanism of overproduction and waste, on the rapid selling-off of stock to put new products on the market, and the provision of food that is aesthetically perfect« (www.slowfood.com/international/164/food-waste [Abruf: 4.8.2015]).

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tion verdrängt, und die ganz Armen sich oft auch diese verbilligten Lebensmittel nicht leisten können, da sie mangels Geld und Mobilität oft kaum Zugang zu Märkten haben (Vogt/Hagemann 2010). Die Analyse der Ursachen von Hunger in Subsahara-Afrika, wo sich das Problem derzeit am dringendsten stellt, zeigt ein differenziertes Bild unterschiedlicher soziokultureller, struktureller und lokaler Faktoren. Besonders hervorzuheben sind beispielsweise • die Zerstörung kleiner landwirtschaftlicher Strukturen der Subsistenzwirtschaft, die eine stabilisierende Funktion für die Existenzsicherung gerade der Ärmsten haben; • mangelnder Zugang zu lokalen Märkte, der verhindert, dass mehr als für den jeweiligen unmittelbaren eigenen Bedarf produziert wird; • mangelnde Anpassung an die Veränderung der klimatischen Bedingungen (z.B. in Sambia verbreiteter Maisanbau, der dort erst im 19. Jahrhundert breit eingeführt wurde und sich in Trockenperioden als wenig robust erweist). Die Menschen dort brauchen »capacity-building« bzw. »Befähigungsgerechtigkeit« und nicht eine »halbierte« Solidarität, die sie bloß mit Gütern versorgt und dadurch zu passiven Empfängern externer Hilfe macht (Sen 2003: 217f.; Vogt 2009: 441ff.). Auch wenn Hunger nicht direkt die Folge von Lebensmittelverschwendung ist, bestehen dennoch signifikante Zusammenhänge zwischen Überernährung von ca. einem Drittel der Menschheit und Unterernährung von ebenfalls ca. einem Drittel der Menschheit.11 Die Situation ist Sinnbild einer aus dem Gleichgewicht geratenen Balance. Angesichts der Fettsucht von bis zu 50 % der Bevölkerung in den reichen Zivilisationen des Westens scheint es offensichtlich, dass das Problem des »verschwenderischen« Umgangs mit Lebensmitteln nicht erst bei dessen Wegwerfen beginnt, sondern bereits beim maßlosen Konsum. Papst Johannes Paul II. (1987, Nr. 28.31.35) verwendet dafür den Begriff »Überentwicklung«. In Bezug auf die Ernährung erweist sich bei genauerer Analyse der fleischzentrierte Ernährungsstil der Industrieländer aufgrund des damit verbundenen hohen Futter- und Flächenbedarfs sowie aufgrund des

11 | Vgl. zur Bilanzierung von Unter- und Überernährung sowie der mit unterschiedlichen Ernährungsformen verbundenen Flächeninanspruchnahme (Land- sowie CO 2-Indexpunkte): Jakubowitz 2000: 32ff.; Sauer setzt einen weiten Begriff von »Überernährung« voraus und konstatiert ein Verhältnis von 2:1: »Auf jeden unterernährten Erdenbewohner kommen mehr als zwei mit Übergewicht. Ihre Zahl hat sich seit 1980 auf 2,1 Milliarden verdoppelt. Die öffentlichen Kassen belastet das mit knapp 2 Billionen Dollar pro Jahr. Fast so viel wie Krieg, Terrorismus und Rauchen kosten […]« (Sauer 2014: 17).

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3- bis 17-fachen Wasserverbrauchs im Vergleich zu pflanzlicher Nahrung (Mauser 2007: 182) als zentrales Problem.12 Kausale Zusammenhänge lassen sich besonders hinsichtlich der Futtermittel aufzeigen: Futtermittel für Tiere, die dem wachsenden Fleischkonsum der Industrie- und Schwellenländer dienen, werden oft in Ländern produziert, in denen die Menschen Hunger leiden. Aber auch hier sind die Zusammenhänge komplex: Teilweise können die Gelder, die über die Tierfuttererzeugung in Entwicklungsländer fließen, durchaus dort zum Auf bau armutsüberwindender Strukturen beitragen und auf diese Weise zum Wohl der Ärmsten beitragen. In vielen Ländern von Subsahara-Afrika liegen große Teile der potentiellen Ackerflächen brach, sodass die Flächenkonkurrenz zwischen Nahrungs-, Futtermittel- und Bioenergieanbau nicht der entscheidende Faktor ist (Deutsche Kommission Justitia et Pax 2010: 45ff.). Trotz der hohen Rate an Lebensmittelabfällen, der wachsenden Zahl an Menschen – derzeit knapp 80 Millionen jährliches Wachstum13 – und der Abnahme von fruchtbarem Boden und verfügbarem Trinkwasser schätzt Jorgen Randers in seinem 2012 erschienenen Bericht an den Club of Rome zur ökologischen Entwicklung in den kommenden 40 Jahren die Chancen einer Überwindung des Hungers als Verteilungs- und nicht primär als Mengenproblem ein: »In den nächsten Jahrzehnten werden immer mehr Nahrungsmittel produziert werden und die Nachfrage wird nicht so stark steigen, wie viele erwarten. […] Viele Arme werden deutlich besser essen und viele Reiche werden weniger rohes Fleisch essen. […] Im Durchschnitt werden viermal so viele Nahrungsmittel konsumiert werden, als zum Überleben, dem sogenannten »Existenzminimum«, benötigt wird. Und mehr als genug für eine gesunde und schmackhafte Ernährung. Aber die Nahrungsmittel werden auch in Zukunft ungleichmäßig verteilt sein und es werden weiterhin viele Menschen verhungern« (Randers 2012: 163).14 Auf der Grundlage der enormen Erfolge in den vergangenen vierzig Jahren – die jährliche Produktion an Nahrungsmitteln hat sich zwischen 1970 und 2010 mehr als verdoppelt – schätzt der Millenniumsbericht der UNO die Chancen der Hungerüberwindung positiv ein. So gab er zur Jahrtausendwende das 12 | Es gibt jedoch durchaus Perspektiven für eine nachhaltige Ernährung, in der auch Fleisch seinen Platz haben kann; vgl. Körber/Hohler 2012. 13 | Neuere Prognosen gehen nicht mehr von einer Stabilisierung bei 9 Milliarden Menschen um die Jahrhundertmitte aus, sondern rechnen mit der Möglichkeit eines Wachstums bis zu 12 oder gar 15 Milliarden Menschen bis zum Ende des Jahrhunderts – vgl. UNFPA 2011; dazu auch aus ethischer Perspektive Vogt 2012: 129ff. 14 | Vgl. Randers 2012: 163ff., zum ökologischen Fußabdruck der Ernährung, also der Inanspruchnahme von Flächen außerhalb des jeweiligen Landes durch Nahrungs- und Futtermittelimporte.

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Ziel aus, bis 2015 die Zahl der Hungernden zu halbieren. Trotz beachtlicher Erfolge in Teilbereichen – vor allem im asiatischen Raum – hat sich die Zahl der Hungernden jedoch nicht so wie erhofft verringert, sondern zeitweise sogar gesteigert. Dafür gibt es eine Vielzahl von Gründen, u.a. den Klimawandel und die damit verbundenen Dürren und Extremwetterereignisse, der plötzliche Preisanstieg für Lebensmittel aufgrund von Spekulationen sowie nicht zuletzt das Phänomen des sogenannten »land grabbings«, also der Aneignung von fruchtbarem Land durch externe Investoren, oft unter unklaren rechtlichen Verhältnissen (Gottwald/Fischler 2007: 90ff.; Deutsche Kommission Justitia et Pax 2010: 13ff.; Randers 2012: 163ff.; Haber/Brückmann 2013: 189ff.). Vor diesem Hintergrund kann die Verminderung der Lebensmittelabfälle nur dann einen nennenswerten Beitrag zur Hungerüberwindung und »Lebensmittelgerechtigkeit« leisten, wenn sie in eine umfassende Strategie zur Strukturverbesserung im Bereich von Landwirtschaft und Ernährung eingebunden wird.

2. K onsumentenver ant wortung : R eichweite und G renzen eines mor alischen K onzep tes 2.1 Methodische Prämisse: Der Umgang mit Müll als Kulturtechnik Der ethische Zugang zur Analyse von Lebensmittelabfällen beruht auf einer spezifischen Prämisse: Er betrachtet den Umgang mit Müll als eine Kulturtechnik (Hawkins/Muecke 2003; Vogt 2014). Abfall ist in dieser Perspektive immer auch eine normative Kategorie, die impliziert, was als wertlos gilt und wie die Übergänge zwischen wertvoll und wertlos gestaltet werden (Hawkins 2005). Abfall ist das, was von einer bestimmten gesellschaftlichen Ordnungsund Normvorstellung »abfällt« und wofür nach den jeweils herrschenden Vorstellungen von Effizienz, Reinheit und Schönheit kein Platz ist. Er entsteht durch fehlende Nutzungsperspektiven für bestimmte Stoffe und prägt damit zugleich soziale Rollenverteilungen. Den Praxen und Normen des Umgangs mit Lebensmittelabfällen, die die Kehrseite der Konsummuster darstellen, liegen kulturell geprägte Unterscheidungen zwischen »brauchbar« und »unbrauchbar«, »rein« und »unrein«, »riskant« und »gefahrlos« oder »schön« und »hässlich« zugrunde. Insbesondere die organisierte Trennung von »rein« und »unrein« gehört zu den elementaren Kulturtechniken, die häufig religiös codiert sind und zu starken Wertungen, Tabuisierungen, sozialen Segregationen und rituellen Verhaltensmustern führen (Douglas 1966; Grassmuck/Unverzagt 1991). So war diese Unterscheidung beispielsweise für das antike Israel grundlegend und hat sich besonders hinsichtlich der Wasserhygiene als höchst wirksame Überlebensstrategie bewährt

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(Hüttermann/Hüttermann 2002: 85ff.). Gerade Lebensmittelabfälle gewähren auch für die historische und archäologische Forschung interessante Auskünfte über Gesellschafts-, Wirtschafts- und Lebensformen (Grupe 1993; Assmann 1996). Die symbolisch aufgeladene Unterscheidung von »rein« und »unrein« lebt auch in der Moderne in subtilen Transformationen fort und beeinflusst die Wahrnehmungen des Abfalls und die Praxen des Wegwerfens. So lässt sich in der moralischen Kommunikation über Mülltrennung das latente Sinnversprechen einer dadurch hergestellten Reinheit beobachten: Mülltrennung soll die Rückkehr der Dinge in den Kreislauf des Verwendbaren ermöglichen und so die ökologische Unschuld wieder herstellen.15 Vor diesem Hintergrund wird das Wegwerfen von Lebensmitteln als ein Verstoß gegen die »richtige« gesellschaftliche Ordnung wahrgenommen und nicht selten mit einer radikalen Gesellschaftskritik der »Müllwirtschaft« verbunden (Grassmuck/Unverzagt 1991: 83ff.). Aus ethischer Sicht ist es hier wichtig, die symbolischen Zuschreibungen von kausalen Wirkungszusammenhängen zu unterscheiden und die kulturellen Kontexte bei der Entstehung von Wertungen zu beachten. Die ethisch-kulturwissenschaftliche Perspektive auf Abfall betrachtet technische Maßnahmen zur Reduktion von Abfall als notwendig, jedoch nicht hinreichend. Denn diese können den durch soziokulturelle und gesellschaftliche Faktoren verursachten Trend ständig steigender Müllmengen in der »throwaway society« (Packard 1961) bestenfalls kompensieren, nicht jedoch in seinen Ursachen verstehen oder umlenken.

2.2 Kritik der Lebensstile Das Phänomen des massenhaften Wegwerfens von Lebensmitteln in den Industrienationen ist Ausdruck und Teil eines konsumorientierten Lebensstils. Lebensstile sind längerfristig angelegte Handlungs- und Verhaltensmuster, die sich von Praxen vor allem durch das Trägheitsmoment sowie die Einbettung in kollektive Sinnkonstruktionen unterscheiden.16 Lebensstile sind immer zugleich gegeben und gemacht: Die Individuen prägen sie einerseits aktiv und sind insofern für sie verantwortlich, zugleich sind aber Lebensstile kul15 | Vgl. hierzu die überschwängliche Rhetorik bei Braungart/McDonough 2009: besonders 68ff. 16 | Vgl. dazu Jaeggi 2014: 119ff. Die Abgrenzung zwischen den Begriffen »Lebensstil« und »Lebensform« ist in der Literatur nicht einheitlich. Ich verwende »Lebensstil« für die Kombination von Verhaltensweisen, die die Art der Lebensführung prägen. »Lebensform« bezieht sich auf bestimmte Sozialstrukturen des Zusammenlebens wie z.B. die Familie. Beiden gemeinsam ist, dass sie Ausdruck bestimmter kultureller Praktiken und Wertüberzeugungen sind.

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turell und kollektiv geprägte Muster, die dem Individuum nicht beliebig zur Gestaltung unterworfen sind (Jaeggi 2014: 208ff.). Ethisch betrachtet ist die Entscheidung für ein bestimmtes Produkt eine private Entscheidung, die in der liberalen Gesellschaft als solche nicht unmittelbar dem Dienst des Gemeinwohls und den für den öffentlichen Raum konstitutiven Transparenzverpflichtungen unterstellt werden darf. Politisch betrachtet ist das Konsumverhalten von Seiten der Politik nicht unmittelbar steuerbar (Arnswald/Kertscher 2002; Grunwald 2012; Jaeggi 2014). Lebensstilfragen sind dem Bereich der von inhaltlichen Bestimmungen eines sinnvollen und guten Lebens geprägten Verhaltensmuster zuzuordnen. Nach der Idee des politischen Liberalismus gibt es jedoch einen grundlegenden Vorrang des Rechten gegenüber der Idee des Guten (Rawls 1992: 364ff.). Lebensstilfragen können folglich nur dann sinnvoll zum Gegenstand einer ethisch-politischen Debatte gemacht werden, wenn man im Unterschied zur klassisch-liberalen Theorie Fragen des guten Lebens als Gegenstand der öffentlichen Vernunft ansieht (Etzioni 1998: 282ff.). Sozialethisch gesehen sind Lebensstilfragen vor diesem Hintergrund »Probleme zweiter Ordnung« (Jaeggi 2014: 240ff.): Insofern sie den Charakter evaluativer Fragen haben und sich auf subjektive Präferenzen beziehen, die nicht wie Gerechtigkeitsfragen dem Anspruch der Verallgemeinerbarkeit und Begründbarkeit unterstellt sind, kann man sie nur begrenzt unmittelbar zum Gegenstand der moralischen Theorie machen. Nötig ist hier eine »Kritik neuen Typs«, die man als immanente Kritik charakterisieren kann, die nicht primär auf allgemeine Begründbarkeit abzielt, sondern auf inhärente Konsistenz und die Vermeidung von Selbstwidersprüchlichkeit (Jaeggi 2014: 278ff.). Da Inkonsequenzen und kognitive Dissonanzen einer »partikularisierten Vernunft« gerade im Bereich des Umgangs mit Lebensmittelabfällen häufig anzutreffen sind (Leggewie/Welzer 2009: 74ff.), findet eine so geartete Kritik der Lebensstile hier durchaus viele Ansatzpunkte. Allerdings dürfen die Anforderungen an die Konsistenz der Lebensform in der postmodernen Gesellschaft, deren Markenzeichen das Leben mit Widersprüchen und ein modulares Konzept von Lebensformen ist (Jaeggi 2014: 89ff.), nicht überzogen werden. Spätmoderne Gesellschaften sind charakterisiert durch einen Pluralismus der Lebensstile und Konsummuster, der oft sogar im Verhalten ein- und derselben Person voller Widersprüche ist, die dies nicht in jedem Fall als Defizit empfindet. Die Perspektive auf Lebensstile bedarf von daher einer sozialwissenschaftlichen Fundierung in der Milieuforschung. Die von dem Sozialforschungsinstitut Sinus Sociovision entwickelten Sinus-Milieus gruppieren Menschen, die sich in ihrer Lebensauffassung und Lebensweise ähneln. Man geht dabei davon aus, dass sich die grundlegende Wertorientierung der Menschen in den Alltagseinstellungen zur Arbeit, zur Familie, zur Freizeit, zu Geld und

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zu Konsum äußert. Hier eröffnet sich ein breites, bisher wenig »beackertes« Forschungsfeld hinsichtlich der Zusammenhänge von Konsummustern und Abfallentsorgungsverhalten, hinsichtlich der Rolle sozialer Lock-Ins, genderspezifischer Prägungen sowie zu historischen Erfahrungen mit Leitbildern des maßvollen und weniger abfallintensiven Konsums. Wo es um bewussten Umweltschutz geht, macht sich das ökologische Interesse der Verbraucher stark an dem Motivkomplex »Gesundheit« und »Naturnähe« fest. Selbstsorge mischt sich mit Natur- und Zukunftssorge: Ressourcenschonender Konsum setzt sich am ehesten dort durch, wo er als persönlicher Gewinn erlebt wird (Jakubowitz 2000: 7ff.; Jäger 2007: 160ff., 194f.). Ökologische Motive und Handlungschancen lagern sich somit an unterschiedlichen Lebensstilen an. Es gilt, diese differenziert und zielgruppenorientiert zu nutzen, damit der Einkaufszettel zu einer Art politisch-wirtschaftlichem Stimmzettel wird. Lebensqualität drückt sich in Anerkennung aus und da das Bedürfnis nach Anerkennung – solange diese relational gedacht und erlebt wird – nie dauerhaft gesättigt werden kann, findet auch unser Bedürfnis nach positionalen Gütern keine Grenze aus sich selbst heraus. Die Theorie der positionalen Güter (Beckert 2010) besagt, dass die Attraktivität der Konsumprodukte in spätmodernen Gesellschaften nicht allein und oft auch nicht primär im Gebrauchswert liegt, sondern darin, dass sie zu Symbolen der sozialen Stellung und Zugehörigkeit geworden sind. Vor diesem Hintergrund greift auch die Unterscheidung zwischen Luxus- und Grundbedürfnisgütern zu kurz. Angesichts der Logik des »Immer-Mehr« wird in der Umweltethik häufig ein Wertewandel zugunsten von »Suffizienz« gefordert; dieser scheint jedoch nur dann akzeptanzfähig, wenn er nicht als Verzicht erlebt wird, sondern als Übergang vom mengenorientierten Verbrauchen zu einem neuen Qualitätsbewusstsein. Im Bereich der Lebensmittel ist dies unter dem Slogan »Klasse statt Masse« öffentlich diskutiert worden. Suffizienz ist in der ethischen Debatte um ökologisch verantwortbare Lebensstile ein selten fehlender Aspekt. Diese gilt neben Effizienz und Substitution von fossilen durch regenerative Energien oder Stoffe als dritte Grundstrategie der Nachhaltigkeit.17 Hiermit wird eine grundlegende Kritik westlicher konsum- und abfallintensiver Lebensstile, die sich weltweit verbreiten, verbunden (Stengel 2011: 87ff.). Übermäßige Abfallerzeugung und das »Psychogramm der Verschwendung« (Grünewald 2011) werden als Folge einer mangelnden Wertschätzung der Produkte und der Fixierung auf Schnäppchenjagd nach billigen, aber oft kurzlebigen und bisweilen auch gar nicht benötigten Produkten – nach dem Motto »Heutzutage kennen 17 | Vgl. dazu z.B. Stengel 2011: besonders 127ff. Stengel spricht von Effizienz, Konsistenz, Suffizienz als den drei gleichermaßen notwendigen und sich wechselseitig flankierende Lösungsstrategien; vgl. auch Jäger 2007: 160ff., 194ff.

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die Menschen von allem den Preis und von nichts den Wert« (Bernhard Shaw) – verstanden. Die »Suffizienzbarrieren« sind in den auf Wachstum und Massenkonsum ausgelegten Wirtschaftsformen vielfältig (Stengel 2011: 252ff.). Die Werbung ist in der modernen Innovativwirtschaft nicht nur auf Deckung vorhandener Bedürfnisse ausgelegt, sondern auch auf die Weckung von stets neuen Bedürfnissen. Diese Dynamik steht in Spannung zum Gedanken der Suffizienz. Werbung hat großen Einfluss, indem sie oft unbewusste Wünsche anspricht und zu erfüllen verspricht. Gerade im Bereich Ernährung kommt hinzu, dass dieser meist von tief verankerten Emotionen geprägt ist und sich nicht ohne weiteres rational und von externen gesellschaftspolitischen Vorgaben her steuern lässt. Erfolgversprechend erscheint vor diesem Hintergrund allenfalls eine vorsichtige Suffizienzstrategie des »Förderns ohne zu überfordern« (Voget-Kleschin 2013: 62f.; insgesamt zur Strategie der nachhaltigen Ernährung ebenda: 58ff.). Zugleich kann aber gerade hier die Fähigkeit zur Askese und die Distanz gegenüber den eigenen Bedürfnissen der Selbstvergewisserung dienen, innere Abhängigkeiten lösen und auch gegenüber den Suggestionen der Werbung personale Souveränität fördern. Eine solche Distanz bedarf aber der Einübung und sollte nicht mit einer lustfeindlichen Haltung verbunden werden, wie die Suffizienztheoretiker einhellig betonen (Linz 2012; Paech 2012; Worldwatch Institute 2010). Die Debatte über Konsum und Müll leidet oft an einer subjektfixierten Verkürzung. Dem ist zu begegnen, indem zugleich mit individuellen Handlungsmotiven auch kulturelle Muster, ökonomische Handlungszusammenhänge und gesamtgesellschaftliche Strukturen in den Blick genommen werden.

2.3 Die Moralisierung der Märkte Waste agents und waste governance sollten systematisch zusammengedacht werden, um einseitig individualethisch ansetzende Zugänge zum Thema Abfall im Lebensmittelbereich, das mit den gängigen Schlagworten der »Konsumentenverantwortung« und der »Politik mit dem Einkaufskorb« verbunden wird, zu vermeiden. Nötig ist der Blick auch auf strukturelle Bedingtheiten des Konsumverhaltens, z.B. wenn waste in seiner spezifischen Menge und Ausprägung als Resultat der Verfallsdaten für Nahrungsmittel analysiert und damit als inhärentes Resultat kultureller Normen verstanden wird. Auch soziale Rollenmuster und Genderperspektiven sind hier analytisch aufschlussreich und sozial-ökologisch relevant (Biesecker/Hofmeister 2006). Das Bewusstsein für ethische Zusammenhänge ist international zur Marktmacht aufgestiegen; dadurch werden Märkte zunehmend durch soziale und ökologische Aspekte beeinflusst. Große Hoffnungen richten sich deshalb auf die »Moralisierung der Märkte« (Stehr 2007: besonders 296ff.) durch

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verantwortungsbewusste Nachfrage, vor allem in den Ländern des Globalen Nordens. Dieser stellen sich jedoch vielfältige Hürden entgegen, wie etwa die Informations- und Wissensdefizite, Pfadabhängigkeiten oder paradoxe Systemeffekte. So kann konsequente Mülltrennung dazu führen, dass sich der Restmüll nicht mehr ohne Hinzufügung von Brennstoffen in thermische Energie umwandeln lässt. Auch in liberalen Gesellschaften ist es rechtfertigungsfähig, wenn der Gesetzgeber schädliche Produkte, Produktionsweisen oder Entsorgungswege reguliert oder verbietet. In diesen Fällen ergibt sich ein direkter Effekt auf die Zusammensetzung der konsumierten Produkte, z.B. in Form eines reduzierten Inputs von Ressourcen. Allerdings wird die Wirkung dieser angebotsseitigen Regulierung auf den Konsum durch die internationale Mobilität der Wirtschaft eingeschränkt, da die Produzenten und Konsumenten der heimischen Regulierung oft ausweichen können. Schon deshalb kann die Nutzung der Marktdynamik für sozialökologische Ziele, die aus moralischen Gründen von der Gesellschaft gewollt sind, nicht allein durch regulierende Eingriffe erfolgen. Sie braucht auch eine entsprechende Nachfrage der Konsumenten, die durch Wertbewusstsein geprägt ist (Stengl 2011; Lütke 2013). Der hohe Druck auf möglichst billige Lebensmittel, der durch Billigdiscounter befriedigt und verstärkt wird, steht im Widerspruch zur Verschwendung durch hohe Wegwerfraten.

2.4 Lebensmittelgerechtigkeit und nachhaltiger Lebensstil Sozial schwache Bevölkerungsgruppen sind im Durchschnitt deutlich stärker schadstoff haltigen Lebensmitteln sowie Problemen der Mangelernährung ausgesetzt als die Wohlhabenden. Insbesondere verschmutztes Wasser ist weltweit immer noch eine der häufigsten Todesursachen. In Deutschland und ähnlich in den meisten Industrienationen sind sogenannte »ökologische« Lebensmittel, die (vermeintlich) weniger mit Schadstoffen belastet sind, oft erheblich teurer und daher nur den reicheren Teilen der Bevölkerung in vollem Maße zugänglich. All diese Fragen werden unter dem Leitbegriff »ökologische Gerechtigkeit« diskutiert. Als einen Teilbereich hiervon kann man von »Lebensmittelgerechtigkeit« sprechen, wobei die extrem unterschiedlichen Kontexte der Anwendung des Begriffes stets bewusst bleiben sollten. Für den Umgang mit Lebensmitteln gibt es in den religiösen Traditionen zahlreiche Normen, in denen sich häufig historisch gewachsenes Erfahrungswissen niedergeschlagen hat. Dies ist insbesondere in den sogenannten »Speisegesetzen« der biblischen Überlieferung der Fall. Die zahlreichen Gesetzesvorschriften der fünf Bücher Mose (Tora) zeugen so von einem erstaunlich hohen Maß an Wissen über ökologische Zusammenhänge (Hüttermann/ Hüttermann 2002: 12f.; 143ff.). Dem Umgang mit Schmutz und Hygiene

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kommt dabei ein zentraler Stellenwert zu: So ergibt sich aus den Speisegesetzen beispielsweise eine optimale Vermeidung ökologisch oder hygienisch nachteiliger Nahrung (Hüttermann/Hüttermann 2002: 70ff.). Auch soziale Regeln, wie z.B. dass die Armen die übrig gebliebenen Ähren von den Feldern auflesen durften, sind biblische Tradition. Geht man von einem »Recht auf Ernährung« bzw. einem »Recht auf Ernährungssouveränität« aus und verortet dieses im Kontext der Menschenrechte (Gottwald/Fischler 2007: 176ff.; Deutsche Kommission Justitia et Pax 2010: 13ff.), dann verstößt der Hunger von derzeit mindestens 800 Millionen Menschen sowie die Mangelernährung von ca. zwei Milliarden Menschen in grundlegender Weise gegen Lebensmittelgerechtigkeit. Die Umsetzung des Rechts auf Ernährung erfordert jedoch mehr als ein paternalistisches Konzept von Solidarität, das lediglich vorhandene Überschüsse umverteilt. Notwendig sind vielmehr – wie bereits dargelegt – tiefgreifende Reformen im Bereich der Agrarstrukturen sowie ein Wandel der Ernährungsgewohnheiten in den Industrieländern. Eine entscheidende Ursache des Welthungers ist die zunehmende Knappheit von Süßwasser in den ariden Zonen der Erde. Wenn man Wasser dem Bereich der Lebensmittel zuordnet und das Analyseinstrument des »virtuellen Wassers« (Mauser 2007: 188ff.), das auch für den Anbau von Gemüse und Obst sowie für die Aufzucht von Tieren verwendetes Wasser einbezieht, zugrunde legt, dann zeigt sich hier ein zentraler Bereich von Verschwendung, ökologischer Irrationalität und mangelnder Lebensmittelgerechtigkeit: Virtuelles Wasser wird häufig ausgerechnet aus Regionen, in denen Wasser knapp ist, in die Regionen verschoben, wo es reichlich vorhanden ist, wo aber weniger Fläche und Sonneneinstrahlung zur Verfügung steht. Erst wenn man diese meist unbemerkte Mobilität des Wassers in den Blick nimmt, ergibt sich eine aussagekräftige Analyse der vielerorts prekären Versorgung mit Wasser. Unverschmutztes Süßwasser wird knapp – zum einen wegen der Plantagenbewässerung in der industriellen Landwirtschaft, zum anderen wegen der Verschmutzung durch Abfälle, Dünger und Pestizide. Wenn mehr als 40 % des blauen Wassers (gemeint ist der sichtbare Wasserstrom in Gewässern und damit das für menschliche Nutzung verfügbare Süßwasser) für die Produktion von Nahrungsmitteln genutzt wird, entstehen Wasserkonflikte, die die Menschen zu nicht-nachhaltigen Nutzungsformen zwingen (Mauser 2007: 174ff., 207). Der entscheidende Engpass der Wasserverfügbarkeit für die menschliche Ernährung entsteht durch den hohen Fleischanteil. »Wasserverschwendung« ist vor dem Hintergrund dieser Analysen erst dann eine sinnvolle normative Kenngröße, wenn man sie in Bezug zu der Knappheit von sauberem Wasser am Produktionsort setzt. Dabei ist kritisch zu prüfen, welche Rolle das Theorem der Knappheit bei der Bewertung spielt, in welchen Kontexten es sinnvoll oder auch weniger sinnvoll ist. Die pauschale,

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kontextlose Rede von »Wasserknappheit« ist irreführend. Aus sozialökologischer Perspektive ist vor allem die Frage relevant, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen und Governance-Strukturen nachhaltige Zirkulationen von Wasser zustande kommen. Ähnliches gilt für den Lebensmittelbereich insgesamt: Die normativ aufgeladene Rede von Knappheit sollte nicht pauschalisiert, sondern stets auf den sozio-kulturellen, ökologischen und gesellschaftlich-strukturellen Kontext bezogen werden. Als Resümee aus dieser kurzen Reflexion zur Reichweite und Grenze des moralischen Konzeptes der »Konsumentenverantwortung« lässt sich festhalten: Aufgrund der komplexen Wechselwirkungen zwischen Konsumenten, Produzenten und Handel im Lebensmittelbereich lassen sich maßgebliche Änderungen nur erreichen, wenn bereichsübergreifende Synergien zustande kommen.18 Chancen hierfür sollen im Folgenden anhand repräsentativer Beispiele innovativer Praxen zur Reduktion von Lebensmittelabfällen aufgezeigt werden.

3. I nnovative P r a xen für eine R eduk tion von L ebensmit tel abfällen 3.1 Soziale Bewegungen für nachhaltige Lebensstile und Ernährung Die Bewegung für nachhaltige Lebensstile, bei denen der umweltbewusste und abfallvermeidende Umgang mit Lebensmitteln einen wichtigen Teilbereich darstellt, ist inzwischen weltweit verbreitet. Aus ethischer Sicht ist dabei interessant, dass nicht mehr die Frage der Begründung im Vordergrund steht, sondern die Frage der Motivation sowie der gesellschaftlichen Bedingungen für die Fähigkeit zum Wandel. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien exemplarisch einige Initiativen und Impulse genannt: • Dies bringt der Leitbegriff »Transition-Bewegung« bzw. »Transition-TownBewegung« zum Ausdruck.19 Die Transition-Town-Bewegung wurde 2006 von Rob Hopkins und anderen in England begründet und ist inzwischen zu einem lockeren, weltweiten Netzwerk bürgerschaftlicher Initiativen für nachhaltige, »postfossile« Wirtschafts- und Lebensformen angewachsen (Transition Netzwerk 2015). Sie lässt sich als neue Form von Bürgerbewegung kennzeichnen, deren charakteristische Merkmale lokale, auf die 18 | Vgl. dazu den Mehrebenenansatz Ostrom 2007. 19 | Vgl. dazu auch den Bayerische Forschungsverbund »ForChange« www.forchange. de/ [Abruf: 4.8.2015].

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ökosoziale Mitgestaltung der eigenen Stadt bzw. des eigenen Stadtteils bezogenen Aktionen sowie das Eintreten für eine lebensstilbezogene Veränderung von Konsumgewohnheiten sind. Die Bewegung ist mit einem hohen Anspruch an eine zivilgesellschaftliche Erneuerung der Demokratie und der Rückgewinnung von Souveränität in der Lebensgestaltung als Bürger verbunden (Leggewie/Welzer 2009: 192ff.). Programmatisch für diesen pragmatischen Idealismus ist das Buch des britischen Umweltaktivisten und Dozenten Rob Hopkins Einfach. Jetzt. Machen! Wie wir unsere Zukunft selbst in die Hand nehmen (2014). Bisher ist die Transition-Bewegung eher auf die Energiewende zentriert. Ernährung und Abfall sind dort bisher keine primären Schlüsselthemen. • Dies ist eher bei der weniger politischen und stärker auf den persönlichen Konsum bezogenen LOHAS-Bewegung der Fall. LOHAS steht für »Lifestyles of Health and Sustainability« und bezieht sich auf Personen, Gruppen und Initiativen, die einen Lebensstil pflegen, der von Gesundheitsbewusstsein und -vorsorge sowie der Ausrichtung nach Prinzipien der Nachhaltigkeit geprägt ist (Wenzel/Rauch/Kirig 2007). LOHAS-Konsumenten kaufen häufig in Bioläden oder Biosupermärkten ein und verbinden ihre ökologisch ausgerichtete Nachfrage mit einer enormen Marktmacht. In Abgrenzung gegen das Verzichtethos der frühen Umweltbewegung verstehen sich die LOHAS als eine Art grüner Hedonismus. Da der Begriff nicht streng abgrenzbar ist, werden ihm teilweise viele Millionen Bürger bzw. Konsumenten zugeordnet. Das damit verbundene Veränderungspotential wird allerdings kontrovers eingeschätzt (zur Kritik Hartmann 2009). • Eine der stärksten sozialen Bewegungen im Bereich Ernährung ist »Slow Food«. 1989 gegründet ist sie inzwischen in 150 Ländern verbreitet und rechnet sich 100.000 Mitglieder und mehrere Millionen Anhänger zu (Slow Food 2014). Ihre Ziele sind die Erhaltung lokaler Ernährungskulturen, der Kampf gegen Fast-Food-Ketten und -gewohnheiten sowie die Kommunikation zu konkreten Initiativen einer nachhaltigen Ernährungskultur. Slow Food betrachtet die Wertschätzung von Lebensmitteln als entscheidende Grundlage des Kampfes gegen die wachsenden Mengen an Verschwendung und Abfall im Lebensmittelbereich: »At the center of our work is the strong belief that the key to fighting food waste is to give food back the value that it deserves« (Slow Food International 2015). Zugleich geht Slow Food von einem systemischen Zusammenhang zwischen »Überproduktion«, massenhaftem Lebensmittelmüll, ästhetischem Perfektionismus und marktbedingter Beschleunigung aus: »The present system in which we find ourselves as consumers and producers is founded on a mechanism of overproduction and waste, on the rapid selling-off of stock to put new products on the market, and the provision of food that is aesthetically perfect« (Slow Food International 2015). Slow Food organisiert unter anderem sogenannte »Fairtei-

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ler«: Stationen, an denen Lebensmittel, deren offizielles Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist, die jedoch noch genießbar sind, verteilt werden. • Die sozialen Bewegungen für eine Transformation der Ernährungsgewohnheiten sind keineswegs nur in den wohlhabenden Gesellschaftsschichten verankert. So haben sich in zahlreichen Städten die sogenannten »Mülltaucher« etabliert, die ein »fröhliches Nachernten« von Lebensmitteln aus Abfallcontainern praktizieren.20 Hier verbinden sich praktische Selbsthilfe in Situationen der Bedürftigkeit mit gesellschaftskritischen Positionen gegenüber der Lebensmittelverschwendung. • Mit den »Tafeln« hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine neue Form der solidarischen Hilfe im Ernährungsbereich etabliert. »Tafel« ist die Bezeichnung einer gemeinnützigen Hilfsorganisation, die im Wirtschaftskreislauf nicht mehr verwertbare Lebensmittel an Bedürftige verteilt oder gegen symbolisches Entgelt abgibt (Lorenz 2012; Bundesverband Deutsche Tafel e.V. 2014). In Deutschland sind Tafeln seit 1993 aktiv, zumeist auf der Ebene der Kommunen (z.B. Münchner Tafel, Zwickauer Tafel oder Berliner Tafel). Inzwischen gibt es in Deutschland über 900 Tafeln, die jährlich ca. 100.000 Tonnen Lebensmittel einsammeln und verteilen und bundesweit ca. 1,5 Millionen Personen im Schnitt einmal pro Woche versorgen. Meist handelt es sich um Lebensmittel, die als unverkäuflich aussortiert wurden, weil sie kurz vor Ende des Mindesthaltbarkeitsdatums stehen, teilweise aber auch, weil die Verpackung beschädigt ist oder die Waren aufgrund von Überproduktionen unverkäuflich sind. Mit über 50.000 ehrenamtlichen Helfern gelten die Tafeln in Deutschland als eine der größten sozialen Bewegungen der Gegenwart. International gibt es Lebensmittelbanken (»food banks«), die ähnliche Aufgaben wahrnehmen wie in Deutschland die Tafeln, nämlich Lebensmittel einsammeln und an Bedürftige abgeben (The Global FoodBanking Network 2015). Seit 1980 kauft die Europäische Kommission Überschüsse aus der Agrarproduktion (Fleisch, Milch, Butter usw.) teils auf und stellt diese den Lebensmittelbanken zur Verfügung. Auch wenn es in der gesellschaftspolitischen Diskussion vielfältige Kritik an den Tafeln gibt, weil diese die Bedürftigen vermeintlich abhängig machen und nichts an den Ursachen der Not ändern, sind die Tafeln als eine bemerkenswerte und starke Form der Solidarität im Ernährungsbereich anzuerkennen. Sie sind notwendig, um akute Not und existentiellen Mangel, die es auch mitten in den reichen Gesellschaften des Westens gibt, zu lindern. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass sie hinreichend sind: Sie sollten durch strukturelle Maßnahmen für eine nachhaltige, allen zugängliche Ernährung flankiert werden. 20 | Vgl. dazu die internationale Diskussionsplattform: www.containern.de [Abruf: 4.8.2015].

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3.2 Ethisch und religiös motivierte Initiativen für Suffizienz Auch wenn die sozialen Bewegungen für nachhaltige Ernährung, ökosoziale Lebensstile und solidarische Hilfe für Bedürftige heute neue gesellschaftliche Formen angenommen haben, sind die damit verbundenen Werte zum großen Teil keineswegs neu. So haben beispielsweise Fragen der solidarischen Hungerbekämpfung, des verantwortlichen Lebensstils und damit auch des abfallvermeidenden Konsums in der christlichen Ethik eine lange Tradition. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien exemplarisch einige Initiativen und Impulse genannt: • Die Sozialenzyklika Populorum progressio (Paul VI. 1967) skizziert ein »integrales« Konzept der Entwicklung, kritisiert unter dem Motto »vom Haben zum Sein« den konsumorientierten Lebensstil der reichen Industrieländer und fordert globale Solidarität in der Bekämpfung von Armut und Hunger. Auf der Grundlage dieser Enzyklika wurden in der katholischen Kirche zahlreiche Hilfsorganisationen gegründet. Ähnlich umfangreich fand dies weltweit auch in den evangelischen Kirchen statt. • Die Sozialenzyklika Sollicitudo Rei Socialis (Johannes Paul II. 1987) vertieft diese ethischen Postulate auf der Grundlage einer expliziten Analyse der Zusammenhänge von Konsumismus, Verschwendung und Hunger (Nr. 28 und öfter). Die Sozialenzykliken Centesimus annus (Johannes Paul II. 1991) sowie Caritas in veritate (Benedikt XVI. 2009) führen die Debatte eindringlich unter Bezugnahme auf die notwendige Reform der Weltwirtschaftsordnung weiter. • Die Lebensstilfrage spielt in der 1996 erschienenen Studie Zukunftsfähiges Deutschland – ein Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung (BUND/ Misereor 1996), zu der es allein im ersten Jahr nach dem Erscheinen mehr als 1.000 kirchliche Bildungsveranstaltungen gab, eine entscheidende Rolle. Unter dem Leitbild »Gut leben statt viel haben« werden die Chancen für einen Gewinn an Lebensqualität durch Distanz zu vorherrschenden abfallintensiven Konsummustern und Ernährungsgewohnheiten herausgestellt. • In zahlreichen Schriften seit den 1980er Jahren haben sich die Kirchen in Deutschland und weltweit immer wieder mit den Fragen der nachhaltigen Landwirtschaft und Ernährung sowie mit Strategien der Hungerbekämpfung und der nachhaltigen, weniger abfallintensiven Lebensstile auseinandergesetzt.21 Flankiert wurden und werden diese Schriften durch praktische Initiativen vor allem in den kirchlichen Verbänden und Bildungseinrichtungen der ländlichen Räume (Saan-Klein/Dirscherl/Vogt 2004: 70ff.). 21 | Vgl. hierzu stellvertretend Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland/ Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2004.

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Versucht man die Impulse dieser Schriften und Initiativen im Blick auf ihren spezifischen Beitrag zur ethischen Debatte zusammenzufassen, dann sind vor allem folgende Aspekte von zentraler Bedeutung (Die deutschen Bischöfe 1997; aus interreligiöser Perspektive: Gardner 2003; Bergmann/Gerten 2010): ein Menschenbild, das der Fixierung auf Materielles widerspricht; ein Naturbzw. Schöpfungsverständnis, das den Menschen als Teil einer umfassenden Ordnung versteht; eine Ethik, die globale und generationenübergreifende Solidarität einfordert. Auch wenn das Leitbild der Suffizienz, zu dem die Religionen in unterschiedlicher Form einen substantiellen Beitrag leisten, keineswegs für alle Probleme des abfallintensiven Lebens- und Ernährungsstils als Lösung taugt, kommt ihm doch ohne Zweifel ein zentraler Stellenwert zu. Es ist Gegenstand grundlegender Debatten über ökonomische Modelle.22

3.3 Ökosoziale Gütesiegel, Geschäftsmodelle und Projekte Um die Wirksamkeit von sozialen Bewegungen und ethischen Impulsen auch innerhalb der Wirtschaft stärker zur Geltung zu bringen, können ökologische und soziale Gütesiegel hilfreich sein. Sie sollen die Verbraucher verlässlich und übersichtlich informieren. Einzubeziehen ist dabei nicht nur die unmittelbare Qualität der Ware, sondern auch die Öko- und Sozialbilanz der Unternehmen insgesamt. Gütesiegel müssen mit Aufklärung und Bewusstseinsbildung verknüpft werden, um die Aufmerksamkeit für die ökologischen Eigenschaften der Produkte und ihrer Herstellungsprozesse zu fördern. Ein grundlegendes Problem der Gütesiegel im Ernährungsbereich ist ihre Vielzahl, die es dem Verbraucher oft schwer macht, den Überblick zu behalten. Da »Natur« und »Bio« keine geschützten Bezeichnungen sind, ist ihr inflationärer sowie teilweise wenig glaubwürdiger Gebrauch kaum zu vermeiden. Angesichts dieser Unübersichtlichkeit genießen regionale Produkte nach dem Motto »Weil man weiß, wo sie herkommen« neue Attraktivität. So haben beispielsweise die Produkte der Regionalvermarktungsinitiative »Unser Land« im Münchner Raum großen Erfolg und vermitteln zugleich mit den ökofairen und regionalen Lebensmitteln auf pragmatische und alltagsnahe Weise ein Heimatbewusstsein (Unser Land e.V. 2014). Weitere Beispiele für solche erfolgreiche Initiativen ökologischer und regionaler Lebensmittelproduktion und -vermarktung sind die Münchner »Hofpfisterei«,23 die »Hermannsdorfer Landwerkstätten« oder die online-Lebensmittelvermarktung »Rapunzel«.

22 | Vgl. Biesecker/Hofmeister 2006; Worldwatch Institute 2010; Reller/Holdinghaus 2011; Paech 2012; Linz 2012; Ott 2013; Lütke 2013. 23 | Die Hofpfisterei bietet dabei ein umfassendes Programm vom Bezug des Getreides aus ökologischer Landwirtschaft, der Weiterentwicklung alter Methoden des Brot-

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Eine Fokussierung auf das spezifische Ziel der Abfallvermeidung findet sich in diesen Kontexten bisher aber kaum. Hier könnte das von 2012 bis 2016 laufende Projekt der Europäischen Kommission »EU FUSIONS« (Food Use for Social Innovation by Optimising Waste Prevention Strategies) neue Impulse setzen (European Commission 2012). Das mit 21 Projektpartnern in 13 Ländern groß angelegte Forschungs- und Praxisprojekt will durch soziale Innovation und einen »food waste monitoring process« in der gesamten Kette von der Lebensmittelproduktion über den Handel bis zum Konsum die Lebensmittelabfälle reduzieren. Darüber hinaus sollen Richtlinien für eine »Food Waste Policy« der Europäischen Union formuliert werden. Die Initiative hat sich dem ehrgeizigen Ziel verschrieben, die Lebensmittelabfälle bis 2020 um 50 % zu reduzieren (European Commission 2011). Auch die Expo 2015 in Mailand, die 21 Millionen Besucher erwartet und 140 Nationen beteiligt, macht den Kampf gegen die Verschwendung und Vernichtung von Lebensmitteln zu einem zentralen Thema (Sauer 2014: 17). Einige Lebensmittelkonzerne haben sich gleichfalls die drastische Reduktion ihres food waste zum Ziel gesetzt (Sauer 2014: 17).

3.4 Nachhaltiges Landmanagement und der Konflikt um Bioenergie Dort, wo der Hunger am stärksten verbreitet ist, besteht das primäre Defizit nicht im Wegwerfen von Lebensmitteln durch die Konsumenten, sondern in den oft achtlosen Handlungsmustern bei der Erzeugung und Verteilung von Lebensmitteln. Nachhaltiges Landmanagement wäre hier die entscheidende Strategie, um Ineffizienz, Verschwendung sowie Bodendegradation zu vermeiden und Ernährung für alle zu sichern. Bodenschutz und nachhaltiges Gewässermanagement sind die Schlüsselfaktoren für eine ernährungssichernde Landwirtschaft im Globalen Süden (Haber/Brückmann 2013: 321ff.; Gottwald/ Fischler 2007: 76ff., 236ff.). Bei Hungersnöten von extremem Ausmaß ist in der Regel eine Überlagerung der natur- und erntebedingten Mangelsituation mit erheblichen Defiziten der sozialen Kommunikationssysteme zu beobachten (Sen 2003: 217f.). Stabile politische, soziale und wirtschaftliche Freiheitsrechte sowie die Verfügbarkeit an fruchtbarem Boden, Saatgut, Wasser, kontextangemessenen Betriebsmitteln und Marktzugang sind Voraussetzungen für eine dauerhafte Beseitigung von Armut und Hunger in den Ländern des Südens (Zentralkomitee der Katholiken in Deutschland 2003: 27).

backens und einer kulturellen Reflexion über den Wert des Brotes; vgl. Ebertshäuser/ Stocker 2004.

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Ohne hier auf das weite Problemfeld der Ernährungssicherung und Agrarreformen näher eingehen zu können, will ich im Folgenden exemplarisch eine ethisch gegenwärtig besonders umstrittene Frage herausgreifen: Ist die zunehmende Nutzung von Ackerflächen für die Erzeugung von Energie statt von Nahrung vor dem Hintergrund des Welthungers ethisch vertretbar? Seit einigen Jahren bewertet der Markt selbst bei Getreide seinen Energiewert teilweise weit höher, als der Erlös über den Verkauf als Nahrungsmittel einbringt. Da Brotgetreide nicht nur einen ökonomischen Wert, sondern – zumindest im Kontext der europäischen Kultur (Ebertshäuser/Stocker 2004) – auch einen »Symbolwert« als eines der wichtigsten Grundnahrungsmittel hat und seine Verbrennung auch ökonomisch nur unter möglicherweise recht kurzfristigen Bedingungen eine optimale Lösung darstellt, ist hier ethisch-politisch Zurückhaltung geboten (Vogt 2003: 3ff.). Zudem besteht die Gefahr, dass die thermische Verwendung von Weizen, Mais und anderen Getreidesorten zum vermehrten Import von Futter- und Nahrungsmitteln führt und somit die Nahrungsversorgung der Armen in südlichen Ländern durch Flächenkonkurrenz und Preisanstieg belastet (Pittel 2013). Minderwertiges Getreide, das sonst nur Abfall wäre, kann und sollte auch aus ethischer Sicht thermisch genutzt werden. Trotz der Chancen, die mit der Energie vom Acker auch für Entwicklungsländer verbunden sein können, hat das »Recht auf Nahrung« für alle ethischen Vorrang. Politisch sollte die Förderung des Anbaus nachwachsender Rohstoffe in ein Gesamtkonzept multifunktionaler Landwirtschaft, das die Vielfalt der Funktionen des ländlichen Raumes nachhaltig nutzt und betriebswirtschaftlich erschließt, eingebunden werden (Haber/Brückmann 2013: 189ff., 321ff.). »Food is one of the most important drivers of environmental pressures, particularly in terms of water, land and resource use, greenhouse gas emissions (GHGs), pollution, and subsequent climate and habitat change.«24 Erst in der prekären Verbindung mit dem Mangel an ökonomisch effizienten und ökologisch tragfähigen Strategien für die Entwicklung der ländlichen Räume werden Flächenkonkurrenz und Lebensmittelabfälle zu Ursachen von Hunger.

L iter atur Arnswald, Ulrich/Kertscher, Jens (Hg.) (2002): Die Autonomie des Politischen und die Instrumentalisierung der Ethik, Heidelberg.

24 | www.eu-fusions.org/about-food-waste [Abruf: 21.12.2014]: Die mit der Ernährung verbundene Umweltbelastung wird auf »20 % to 30 % of all EU environmental impacts« geschätzt.

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CO 2-Emissionen Lastenverteilung und Governance im Kontext von Effizienz und Gerechtigkeit Karen Pittel

1. CO 2-E missionen als A bfall und W ohlstandskriterium Eines der wohl bedeutendsten Abfallprobleme unserer Zeit und kommender Generationen stellen die mit der Verbrennung fossiler Energieträger verbundenen Emissionen von Treibhausgasen dar. Im Gegensatz zu Haushalts- und Industrieabfällen, die eine flüssige oder feste Konsistenz aufweisen, werden Treibhausgase allerdings häufig nicht als Abfall wahrgenommen. Definiert man Abfall allgemein als ungewolltes Residuum von Konsum- und Produktionsprozessen (beispielsweise UNSD 1997), umfasst dies auch Emissionen aus der Verbrennung fossiler Energieträger. Nach dem deutschen Kreislaufwirtschaftsgesetz gelten Gase allerdings nur dann als Abfall, wenn diese in Behältern gefasst sind. Diese rechtliche Ausgrenzung von Emissionen in Deutschland kann die Wahrnehmung jedoch allein kaum erklären. Erklärbar ist diese wohl eher aus dem historischen Kontext, in dem Abfall oder Müll jahrhundertelang als lokales Phänomen mit direkten Konsequenzen für das Lebensumfeld wahrgenommen wurde. In Bezug auf Hausabfälle trifft dies sicherlich am klarsten zu, auch wenn die direkte Kopplung von Konsumprozessen und negativen Einflüssen auf das Lebensumfeld bereits mit Einführung einer systematischen Entsorgung und Deponierung der Abfälle eine Einschränkung erfuhr. Die wahrgenommene räumliche Dichotomie von Abfallerzeugung und Konsequenzen für die Umwelt ist aber besonders ausgeprägt, wenn es sich um gasförmige Residuen von Konsum und Produktion handelt. Häufig nicht mit dem Auge wahrzunehmen, sind die Auswirkungen auf Natur und Gesundheit sogar bei lokalen und regionalen Phänomenen – wie im Fall des sauren Regens – scheinbar von den ursächlichen Aktivitäten entkoppelt. Das Gefühl einer persönlichen Verantwortung für negative Auswirkungen der eigenen Konsum- und Produktionsaktivitäten auf andere wird damit drastisch redu-

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ziert. Im Falle der Emissionen von Treibhausgasen und des Klimawandels liegt jedoch nicht nur eine räumliche, sondern auch eine zeitliche Entkopplung von abfallgenerierender Tätigkeit und ihren negativen Rückwirkungen vor. Diese zeitliche und räumliche Entkopplung und die damit verbundene Loslösung des Kontextes der Erzeugung vom Kontext der Wirkung kann dabei nicht nur die Wahrnehmung als Abfall beeinflussen, sondern auch die Bereitschaft, einen persönlichen Beitrag zur Abfallvermeidung zu leisten. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass Trittbrettfahrerverhalten umso leichter fällt, je weniger der Einzelne persönlich unter den Konsequenzen leidet und je geringer der Beitrag des Einzelnen zum Entstehen dieser Konsequenzen zu sein scheint. Es zeigt sich jedoch, dass Gerechtigkeitspräferenzen von Akteuren helfen können, dieses zu erwartende Trittbrettfahrerverhalten zu überkommen (Konow 2003). Der gesellschaftliche und politische Umgang mit den Themen CO2-Emissionen und Klimawandel muss allerdings auch immer im historischen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontext gesehen werden. Jenseits der allgemeinen Problematik räumlicher und zeitlicher Entkopplung, welche in mehr oder weniger starkem Maße auch auf Chemie- und Atomabfälle zutrifft, unterliegt die Wahrnehmung von CO2-Emissionen auch einer gewissen normativen Ambiguität. Kritikern des sogenannten »Wachstumsparadigmas« gelten die steigenden CO2-Emissionen als Epitom der Kurzsichtigkeit kapitalistischer Gesellschaften und des verschwenderischen Umgangs mit der Natur. Entsprechend könne lediglich ein gesellschaftlicher Wertewandel diese Problematik überwinden, technologische Lösungen alleine griffen zu kurz. Dieser negativen Wahrnehmung entgegen werden CO2-Emissionen in Entwicklungs- und Schwellenländern häufig mit wirtschaftlichem Fortschritt und Wohlstand assoziiert. Betrachtet man die Korrelation von CO2-Emissionen und wirtschaftlicher Entwicklung, so ist die Perzeption des Emissionsniveaus als Indikator für wirtschaftliche Entwicklung kaum verwunderlich. Aufforderungen zur Reduktion oder auch nur zur langfristigen Einschränkung von Emissionen werden auf Seiten der Entwicklungs- und Schwellenländer entsprechend kritisch gesehen, da sie den Weg zu wirtschaftlichem Aufschwung zu versperren drohen. Erwartungen, sich an Klimaabkommen zu beteiligen und Einschränkungen der zukünftigen Emissionsentwicklung zuzustimmen, wird denn auch häufig mit dem Hinweis auf historische Entwicklungen und Verantwortlichkeiten begegnet. Die Forderung nach »Fairness« im Klimaschutz spiegelt dieses Argument wider. Dass Klimaschutz nicht auf Kosten der wirtschaftlichen Entwicklung gehen darf, ist dabei aus Sicht der ärmsten Länder sicherlich nachvollziehbar. Als Pauschalargument, welches ebenfalls von Schwellenländern genutzt wird, deren pro-Kopf Emissionen wie im Fall Chinas bereits heute das Niveau entwickelter Volkswirtschaften erreicht haben, ist es allerdings sicher diskussionswürdig.

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Die scheinbare Unfähigkeit der Staaten, sich auf verbindliche Emissionsreduktionspfade zu einigen, kann aber nicht nur auf die zeitliche und räumliche Entfernung der Wirkungen oder auf die berechtigte Forderung von Entwicklungsländern, ihre Entwicklungschancen nicht einzuschränken, zurückgeführt werden. Auch die Gruppe der Industrieländer ist sich hinsichtlich notwendiger Maßnahmen und Zeitpläne nicht einig. Kurzfristiges wirtschaftliches Interesse – häufig als Wahrnehmung von Verantwortung gegenüber der heutigen Generation postuliert – scheint mit der Wahrnehmung von Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen zu kollidieren. Die Frage, ob eine Reduktion der Emissionen heute oder morgen (in der Hoffnung auf effizientere und günstigere Vermeidungstechnologien) zu bevorzugen sei, wird dabei nicht nur in der Politik, sondern auch in der Wissenschaft kritisch diskutiert und kann ein effizientes Herangehen an beide Alternativen blockieren. Auch in der Europäischen Union, in der Vergangenheit oft als Vorreiter der Klimapolitik gepriesen, wird diskutiert, ob die Nutzen oder Kosten dieser Vorreiterposition überwiegen. Die Schwierigkeit, einen langfristigen Effekt der europäischen Klimapolitik auf die globalen Emissionen nicht nur theoretisch, sondern auch empirisch zu belegen, wird diese Diskussion auch in absehbarer Zukunft nicht verstummen lassen. Den Mangel an Beweisen für die Wirksamkeit der Politik und die Frage nach ihren Kosten in Betracht ziehend, stellt sich naturgemäß die Frage, warum Gesellschaften willens sind, eine Vorreiterrolle im Klimaschutz zu übernehmen. Dem Paradigma eines seinen individuellen Nutzen maximierenden Individuums, wie es in der traditionellen ökonomischen Literatur postuliert wird, scheint dies zunächst zu widersprechen. Es scheint, dass die Praxis des Umgangs mit der Problematik Klimawandel nicht nur durch sozialproduktrelevante Nutzen und Kosten, sondern in erheblichem Ausmaß auch durch soziale Normen geprägt wird. Sowohl die Frage nach der Verteilung der Lasten aus dem Klimaschutz wie auch die Frage nach der Governance der Emissionsrechte und Vermeidungsverpflichtungen können weder aus dem wirtschaftlichen Kontext noch aus ethischen Überlegungen allein beantwortet werden. Die folgenden Abschnitte dieses Beitrages diskutieren zunächst Vermeidungsverpflichtungen und das Recht auf Emissionen im Kontext von Gerechtigkeit und Eigeninteresse, bevor die Frage von Governance und Effizienz aufgegriffen wird. Der Beitrag schließt mit einer Diskussion des scheinbaren Rätsels internationaler Anpassungsunterstützung und einem kurzen Fazit.

2. V er ant wortung für und das R echt auf CO 2-E missionen Führt man sich vor Augen, dass im Zeitraum von 1970 bis 2010 knapp 80 % des Anstiegs der globalen CO2-Emissionen aus der Verbrennung von fossilen

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Energieträgern resultierten (IPCC 2014), so wird klar, dass eine Reduktion dieser Emissionen zumindest kurzfristig mit erheblichen Kosten verbunden sein wird.1 Es stellt sich die Frage, welche Länder an diesen Kosten in welcher Höhe beteiligt werden können und sollten (sogenanntes »Burden Sharing«). Ein Minimalkonsens, auf den sich die Staaten der Erde dabei geeinigt haben, ist, dass die individuelle Beteiligung dem Grundsatz gemeinsamer, aber unterschiedlicher Verantwortlichkeiten und den jeweiligen Fähigkeiten entsprechen sollte (UNFCCC 2011). Während dieses allgemeine Kriterium zwar mehrheitsfähig ist, ist die Antwort auf die Frage, woran die Verantwortung im Speziellen festzumachen ist, weit weniger konsensfähig. Grundsätzlich existieren eine Reihe unterschiedlicher Gerechtigkeitsprinzipien, welche im Kontext der Bekämpfung des Klimawandels angewendet werden (siehe z.B. Kverndokk/Rose 2008). Verschiedene Gerechtigkeitsprinzipien können allerdings ein sehr unterschiedliches Burden Sharing implizieren. Das von den verschiedenen Ländern präferierte Prinzip hängt dabei in hohem Maße auch von der jeweiligen wirtschaftlichen Situation ab. So zeigt eine Umfrage unter Akteuren, die in Klimaverhandlungen involviert sind, dass die Unterstützung, die ein Gerechtigkeitsprinzip erfährt, von den Kosten, welche einem Land durch die Anwendung dieses Prinzips entstehen, abhängt (Lange et al. 2010; Dannenberg et al. 2010). Rabin (1993) kommt zu einer grundsätzlich ähnlichen Schlussfolgerung, wenn er bemerkt, dass, obwohl die Entscheidungen von Menschen durch Gerechtigkeitsprinzipien beeinflusst werden, diese eher willens sind, kleinere als größere finanzielle Opfer zu ihrer Aufrechterhaltung zu bringen. Interessanterweise wird die Europäische Union eher als gerechtigkeitsorientiert angesehen als die USA, Russland und die G77-Staaten+China, die als primär aus Eigeninteresse handelnd wahrgenommen werden (Lange et al. 2010). Bezüglich der konkreten Zustimmung, die verschiedene Gerechtigkeitsprinzipien erfahren, kommt die empirische Analyse von Lange et al. (2007) zu dem Schluss, dass das Polluter-pays-Prinzip (Verursacherprinzip) und die sogenannte Poor-losers-Regel international die meiste Unterstützung finden. Ersteres ist so definiert, dass sich die Vermeidungspflichten, die ein Land übernehmen sollte, an der Höhe seiner Emissionen orientiert. Die Poor-losers-Regel erlaubt dahingehend Ausnahmen, dass armen Länder keine Verpflichtung zur Emissionsreduktion auferlegt wird, bis sie ein bestimmtes Wohlstandsniveau (gemessen am Sozialprodukt) im Vergleich zum Durchschnitt der entwickel1 | In diesem Beitrag wird vor allem auf CO 2-Emissionen als wichtigste Treiber des Klimawandels Bezug genommen werden. Die behandelten Konzepte lassen sich aber ebenso auf eine umfassendere Bezugsgröße, welche andere Treibhausgase (z.B. Methan, Lachgas, FCKWs) ebenso wie Entwaldung und landwirtschaftliche Aktivitäten integriert, anwenden.

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ten Ländern erreicht haben. Andere Regeln wie die Sovereignity-Regel (alle Staaten haben das gleiche Recht zur Verschmutzung bzw. am Schutz vor Verschmutzung), das Ability-to-pay-Prinzip (nach dem die Vermeidungsverpflichtungen eines Staates mit seinem Sozialprodukt steigen sollten) oder auch das Egalitarian-Prinzip (gleiche pro-Kopf-Emissionen für alle Länder) haben unter den Befragten weniger Zustimmung erfahren. Im Folgenden werden diese alternativen Gerechtigkeitsprinzipien und ihre Implikationen für die Zuweisung von Verantwortung am Klimawandel und der Rechte an zukünftigen Emissionen sukzessive diskutiert und im Hinblick auf ihre Durchsetzbarkeit und Auswirkungen betrachtet. Verschiedene Ansätze für Lastenverteilungsregeln reflektieren dabei ein unterschiedliches soziales Verständnis von Fairness (Pittel/Rübbelke 2013). Ein zunächst logischer Anknüpfungspunkt für eine Lastenverteilungsregel sind die historisch kumulierten CO2-Emissionen, welche zugleich die wirtschaftliche Entwicklung seit der industriellen Revolution widerspiegeln. Historische Verantwortung für globale Erwärmung wird beispielsweise von Rive et al. (2006) als Kriterium für die Verteilung von Vermeidungsverpflichtungen in zukünftigen Klimaabkommen diskutiert. Die Zuordnung der Verantwortung für den Klimawandel an den historischen Emissionen kann als Anwendung des Polluter-pays-Prinzips mit Ausweitung auf den gesamten Zeitraum der für den Klimawandel relevanten Emissionen interpretiert werden. Aber auch das Souveränitätsprinzip, nach dem jeder Staat das gleiche Recht zur Verschmutzung hat, könnte an historischen Emissionen anknüpfen, um eine Verteilung der Rechte an zukünftigen Emissionen abzuleiten. Eine gewisse Problematik stellt bei der Basierung der Lastenverteilung auf weit in der Vergangenheit liegende Emissionen natürlich das Fehlen von Daten für frühe Emissionszeitpunkte dar, für die in der Regel nur eine Abschätzung anhand aufgezeichneter wirtschaftlicher Aktivitäten möglich ist. Ein Blick auf die geschätzten historischen Emissionen im Zeitraum 18502011 in Abbildung 1 zeigt, dass es, wenig überraschend, die heutigen Industrieländer sind, die die höchsten Emissionen aus historischer Perspektive vorzuweisen haben. Mit Ausnahme der zwei bevölkerungsreichsten Staaten dieser Erde, China und Indien, finden sich unter den zehn größten Emittenten, die im betrachteten Zeitraum mehr als 70 % der Emissionen verursacht haben, lediglich Industrienationen. Die Parallelität vom Grad wirtschaftlicher Entwicklung und Höhe der historischen Emissionen verdeutlicht, warum Schwellen- und Entwicklungsländer ihr Recht auf wirtschaftliche Entwicklung mit dem Recht auf Emissionen verbinden. Vertreter von Industrienationen verweisen dagegen – ebenfalls mit einer gewissen Berechtigung – darauf, dass die Entwicklung der Vergangenheit dazu geführt hat, dass wirtschaftlicher Wohlstand heute mit geringeren Emissionen erreicht werden kann. Entsprechend – so ihr Ar-

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gument – kann eine Gleichsetzung von Emissionen mit dem Potenzial wirtschaftlicher Entwicklung nicht mehr gerechtfertigt werden. Abbildung 1: Anteil an historischen, kumulativen CO2-Emissionen der größten CO2-Emittenten (in Prozent, 1850-2011, Daten: WRI 2015).

In Bezug auf das Recht, auch zukünftig CO2 zu emittieren, würde eine Orientierung an kumulierten historischen Emissionen einer Verteilung von Anteilen an einem globalen Kohlenstoff budget entsprechen. Laut dem Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) würde eine Erwärmung der Erde um weniger als 2°C einen kumulierten Ausstoß von weniger als 2900 Gigatonnen Kohlendioxid voraussetzen (IPCC 2013).2 Bereits im Jahr 2011 waren davon ungefähr 1890 Gigatonnen CO2 (also mehr als 65 %) emittiert worden. Eine Verteilung der Rechte an diesem kumulativen Kohlenstoff budget würde de facto bedeuten, dass die heutigen Industrienationen ihren Anteil bereits ausgeschöpft hätten. So würde sich beispielsweise für die USA bei einem Anteil von 4,5 % an der Weltbevölkerung (2014; PBR 2014) ein kumuliertes CO2-Budget von ca. 130 Gigatonnen ergeben. Die tatsächlichen kumulierten Emissionen der USA betrugen im Jahr 2011 aber schon 361 Gigatonnen (WRI 2015). Eine Zuweisung des Rechts auf zukünftige Emissionen im Verhältnis zum noch nicht genutzten Kohlenstoff budget würde entsprechend starke Umverteilungswirkungen nach sich ziehen. Die Länder, die am stärksten von einer solchen Zuordnung der Rechte profitieren würden, wären China und Indien. Ihr hoher Anteil an der Weltbevölkerung würden ihnen zusammen einen Anteil von knapp 37 % des globalen Kohlenstoff budgets sichern (China: ca. 19 %, Indien: ca. 17,8 %). Realistischer Weise ist eine Eins-zu-Eins Orientierung der Emissionsrechte an den kumulierten Emissionen jedoch nicht zu erwarten. Auch kann die normative Rechtfertigung für eine solche Zuordnung durchaus diskutiert werden. 2 | Laut IPCC würde diese Beschränkung mit einer Wahrscheinlichkeit von 66 % einen Temperaturanstieg um mehr als 2°C verhindern, wenn die Beiträge anderer Treibhausgase zum Klimawandel berücksichtigt werden (IPCC 2013).

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Zwar lagen erste wissenschaftliche Erkenntnisse zum Zusammenhang von Klima und CO2-Konzentration in der Atmosphäre bereits Ende des 19.  Jahrhunderts vor (Tyndall 1872), ein wissenschaftlicher Konsens über die Auswirkungen der anthropogenen CO2-Emissionen auf das Weltklima kam jedoch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zustande. Es ist eine essentiell moralphilosophische Frage, inwieweit Emissionen, die getätigt wurden, bevor die Wirkungen menschlicher Aktivitäten auf das Weltklima bekannt waren, bei der Bestimmung der Emissionsbudgets berücksichtigt werden sollten. Eine alternative Form der Anwendung des Polluter-pays- und des Souveränitätsprinzips wäre der Ansatz an den laufenden Emissionen. Diese sind für die Staaten mit den historisch höchsten Emissionen in Abbildung 2 dargestellt. Würden jedem Staat Vermeidungsverpflichtungen in Höhe eines Anteils an seinen laufenden Emissionen zugewiesen, so kann diese Anwendung des Polluter-pays-Prinzips allerdings auch als Lastenverteilung mit Besitzstandswahrung interpretiert werden. Danach würden höhere Emissionen zwar zu höheren Vermeidungsanstrengungen verpflichten, das grundsätzliche Recht auf Verschmutzung würde aber nicht in Frage gestellt. Da die Stärke des Klimawandels von kumulierten und nicht laufenden Emissionen determiniert wird, ist ein reines Anknüpfen an heutigen Emissionen allerdings schwer zu rechtfertigen. Abbildung 2: Anteil an CO2-Emissionen des Jahres 2011 für die größten historischen CO2-Emittenten (in Prozent, Daten: WRI 2015).

Ein Aspekt, der gerade im Kontext von Verantwortung und laufenden Emissionen diskutiert werden sollte, ist das Auseinanderfallen des Ortes der Produktion und des Konsums von Gütern. Berechnungen des Global Carbon Projects zufolge ergäbe sich bei Zugrundelegung des Konsums anstelle der Produktion für das Jahr 2012 eine Erhöhung der Emissionen, für die die Europäische Union verantwortlich ist, um mehr als 30 %, während die Emissionen Chinas um ca. 17 % reduziert würden (Global Carbon Project 2015). Aichele und Felbermayr (2011) geben eine Übersicht über die jeweiligen heimischen, produktionsbezogenen CO2-Emissionen verschiedener Staaten im Vergleich zu den CO2-

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Emissionen, die die Konsum- und Investitionsentscheidungen eines Landes hervorrufen (sogenannter »Carbon Footprint«). Es zeigt sich, dass insbesondere in den USA und in China die heimischen Emissionen und der Carbon Footprint im Zeitverlauf immer weiter auseinanderfallen. Diese Entwicklung verdeutlicht, dass die Transformation einer Ökonomie weg von Industrie und hin zu Dienstleistungen, wie sie besonders in den USA in den letzten Jahrzehnten zu beobachten war, die Bedürfnisse der Menschen nur wenig beeinflusst. Güter aus Industrieproduktion werden nach wie vor nachgefragt, allerdings nicht mehr heimisch produziert. Ist das Absinken der Emissionen eines Landes auf einen Strukturwandel hin zu einer postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft zurückzuführen, muss dies damit aus Sicht des Klimaschutzes nicht notwendigerweise positiv zu bewerten sein. Dies gilt umso mehr, wenn die Produktion in den Ländern, in die die Produktion verlagert wird, emissionsintensiver ist. Häufig wird das Argument einer drohenden Produktionsverlagerung auch gegen klimapolitische Alleingänge vorgebracht. Es stellt sich jedoch die Frage, inwieweit die Kosten der Umweltregulierung tatsächlich ursächlich für Produktionsverlagerungen sind. Die empirische Evidenz zu dieser Frage ist keineswegs eindeutig. So haben sich Unterschiede in Verfügbarkeit, Kosten und Qualität von Arbeit und Infrastruktur beispielsweise häufig als wichtiger für Standortentscheidungen erwiesen als Unterschiede in umweltbezogener Regulierung (z.B. Grossman/Krueger 1991; Manderson/Kneller 2012). Auch Arbeiten, die sich speziell der Thematik des sogenannten »Carbon Leakage« widmen, kommen zu sehr heterogenen Ergebnissen. Unter »Carbon Leakage« werden dabei Verlagerungen von CO2-Emissionen aufgrund von unilateralen Klimaschutzmaßnahmen verstanden, die die Effektivität dieser Maßnahmen reduzieren. Modellbasierte und empirische Analysen kommen zu sehr unterschiedlichen Aussagen über die Höhe der Leakage-Raten, welche zwischen moderaten Werten von 5 % bis 40 % und Werten von bis zu 130 % schwanken (Aichele/Felbermayr 2015 und darin enthaltene Literaturhinweise). Alternativ zum bisher vorrangig betrachteten Verursacherprinzip wären natürlich auch andere Gerechtigkeitsprinzipien als Grundlage für die Verteilung von Emissionsrechten denkbar. Ein häufig von Entwicklungs- und Schwellenländern ins Spiel gebrachtes Kriterium sind dabei die Emissionen pro Kopf – entweder aus historischer Perspektive oder anhand des Status Quo eines Basisjahres. Normativ wird dieses Egalitarian-Prinzip darüber gerechtfertigt, dass jedes Individuum unabhängig von seiner Herkunft und seinem wirtschaftlichen Status das gleiche Recht auf CO2-Emissionen besitze. Es sind insbesondere Indien und die ärmsten Länder der Erde, die von einer Zuweisung von Rechten anhand der Status-Quo-Emissionen profitieren würden. So entsprachen die indischen pro Kopf Emissionen im Jahr 2011 nur ca. 32 % des Weltdurchschnitts (siehe Abbildung 3). Würden Emissionsrechte pro Kopf ver-

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teilt, würde Indien entsprechend aktuell über mehr Rechte als Emissionen verfügen. Im Gegensatz zu Indien dürfte sich China jedoch gegen eine Verteilung der Rechte pro Kopf aussprechen. Nach dem rasanten Anstieg der Emissionen in den vergangenen Jahrzehnten (zwischen 1990 und 2013 mehr als vervierfacht) lagen die chinesischen pro Kopf Emissionen im Jahr 2011 bereits 45 % über dem Weltdurchschnitt und im Jahr 2014 sogar über dem durchschnittlichen Niveau der Europäischen Union (China: 7,1 tCO2 pro Kopf, EU: 6,8 tCO2 pro Kopf, Global Carbon Project 2014). Böhringer und Welsch (2009) argumentieren, dass das Gleichverteilungsprinzip »aus grundsätzlichen ethischen Überlegungen […] auf breite gesellschaftspolitische Zustimmung« (Böhringer/Welsch 2009: 267) treffen würde. Lange et al. (2007) bestätigen dies in ihrer empirischen Analyse nur partiell. So finden bei einem relativ kurzen Zeithorizont (weniger als 20 Jahre) das Verursacherprinzip und die Poor-losers-Regel weitaus mehr Zustimmung als das Gleichverteilungsprinzip. In der langen Frist allerdings – also bei einem Zeithorizont von mehr als zwanzig Jahren – gewinnt die Gleichverteilung erheblich an Attraktivität und liegt fast mit dem Poor-losers- und dem Ability-to-pay-Prinzip gleichauf – wenn auch immer noch weit hinter dem Verursacherprinzip. Abbildung 3: CO2-Emissionen pro Kopf relativ zum Weltdurchschnitt für die größten historischen CO2-Emittenten (in Prozent, 2011, Daten: WRI 2015).

Ein letzter Anknüpfungspunkt zur Verteilung der Vermeidungsverpflichtungen, welcher hier kurz diskutiert werden soll, ist die CO2-Intensität der Produktion, also die CO2-Emissionen im Verhältnis zur generierten Wertschöpfung (in beispielsweise Tonnen CO2 pro Euro). Dieses Kriterium kann als Variante des Ability-to-pay-Prinzips interpretiert werden, welches die Verpflichtung zur Vermeidung nicht an die Höhe des Sozialproduktes, sondern an die Wertschöpfung pro emittierter Tonne CO2 koppelt. Abbildung 4 zeigt die entsprechenden Werte im Verhältnis zum Weltdurchschnitt für die historisch größten Emittenten. Die Unterschiede zwischen den Staaten reflektieren unter anderem Unterschiede in der Effizienz des Einsatzes fossiler Energieträger in der Produktion.

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Allerdings sind die Werte aus Abbildung 4 nur bedingt aussagekräftig, da sie nicht nur Effizienzunterschiede in der Produktion der gleichen Güter reflektieren, sondern ebenso Unterschiede in der Branchenstruktur und Unterschiede im Energiemix. Ein Grund für die geringe CO2-Emissionsintensität Frankreichs liegt denn auch im hohen Anteil an Atomenergie, ein weiterer im relativ geringen Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Wertschöpfung (weniger als 15 % im Vergleich zu mehr als 25 % in Deutschland). Da ein geringerer Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Produktion eines Landes noch nichts über die Zusammensetzung der dort konsumierten Güter aussagt, erscheint eine Zuordnung der Lastenverteilung anhand der CO2-Intensität der Produktion wenig sinnvoll. In seiner ursprünglichen Form würde das Ability-to-pay-Prinzip einen Staat zur Übernahme von Vermeidungskosten entsprechend seines Anteils am globalen Sozialprodukt verpflichten – unabhängig von der Höhe seiner Emissionen. Dies würde implizieren, dass Italien und Russland beispielsweise aufgrund ihres fast identischen Bruttoinlandsprodukts die gleiche Verpflichtung zur Übernahme von Vermeidungskosten hätten – obwohl Italien lediglich ein Viertel der Emissionen Russlands aufweist. Dem Ability-to-pay-Prinzip liegen damit weniger klimabezogene Überlegungen als der normative Grundsatz »Eigentum verpflichtet« zugrunde. Während diesem Grundsatz, etwa im Zusammenhang mit Entwicklungshilfe, durchaus eine ethische Berechtigung zugesprochen werden kann, ist seine Anwendung im Kontext von CO2-Emissionen problematischer. So impliziert eine Lastenverteilung entsprechend des Sozialproduktes, dass Traglast und Verursachung nur bedingt in einer kausalen Beziehung zueinander stehen. Die Anreize, eine effiziente und damit kostengünstige Form der Emissionsreduktion zu wählen, sind damit gering. Abbildung 4: CO2-Intensität der Produktion der größten historischen CO2-Emittenten (relativ zum Weltdurchschnitt in %, 2011; Daten: WRI 2015)

Die obige Diskussion zeigt deutlich, wie schwierig es ist, sich international auf ein Kriterium für die Zurechnung der Verantwortlichkeit am Klimawandel und die Verteilung der Rechte auf weitere Emissionen zu einigen. Klar ist, dass eine konsequente Einschränkung der zukünftigen Emissionen notwendig ist,

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wenn der Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur beschränkt werden soll. Soll eine realistische Chance auf Einhaltung des 2°C-Ziels bestehen, muss dies zudem schnell geschehen. In Anbetracht der mit der Zuordnung der Rechte verbundenen Verteilungswirkungen scheint es für Optimismus momentan allerdings nur wenig Anlass zu geben.

3. G overnance der CO 2-V ermeidung Sollte es der internationalen Gemeinschaft trotz der oben diskutierten Probleme gelingen, sich auf eine Verteilung der Emissionsrechte und damit implizit auf eine Festlegung der zukünftigen Emissionspfade zu einigen, stellt sich die Frage, wie diese Emissionsszenarien implementiert werden können. Die verschiedenen Instrumente, die hierzu gewählt werden könnten, sind aus der Umweltregulierung der vergangenen Jahrzehnte grundsätzlich bekannt, erhalten im Kontext von CO2-Emissionen allerdings eine globale Dimension. Ein wichtiges Grundprinzip staatlicher Eingriffe stellt in den meisten Staaten – so auch in der Europäischen Union (EU 2010) – das Subsidiaritätsprinzip dar. Staatliche Eingriffe sollten demnach so dezentral wie möglich erfolgen. Entstehen durch Aktivitäten von Individuen oder Unternehmen Rückwirkungen auf andere Individuen und Unternehmen, sollte die Regulierung räumlich so gestaltet werden, dass sowohl die Nutzen als auch die Kosten dieser Aktivitäten in den regulierten Raum fallen. Auf diese Weise können die Präferenzen der betroffenen Akteure bestmöglich im Rahmen der Regulierung Berücksichtigung finden. Schätzen die Individuen einer Region eine intakte Natur beispielsweise mehr als in einer anderen, so kann dies über entsprechend striktere Auflagen Eingang in die Regulierung finden. Da CO2-Emissionen unabhängig vom Ort ihrer Entstehung global Kosten verursachen, müsste nach dem Subsidiaritätsprinzip auch ihre Regulierung global erfolgen. Eine solche Regulierung würde allerdings eine globale Autorität voraussetzen, die diese nicht nur einführen, sondern auch durchsetzen kann. Da diese nicht existiert, müssten sich im Optimalfall alle Staaten auf Vermeidungsziele einigen und entsprechende Sanktionsmechanismen für den Fall der Nichteinhaltung beschließen. Schon aufgrund der im vorangegangenen Abschnitt beschriebenen unterschiedlichen Wahrnehmung der Verantwortung steht eine solche Einigung allerdings immer noch aus. Falls eine solche Einigung aber wider Erwarten doch zustande kommt: Wie sollte dann die Regulierung erfolgen? Aus ökonomischer Sicht ist hier Instrumenten der Vorrang zu geben, welche über den Preismechanismus wirken. Prominenteste Beispiele für diese Art von Instrumenten sind CO2-Steuern und handelbare CO2-Emissionszertifikate. Beide sorgen quasi ad design für eine ökonomisch effiziente Verteilung der Emissionen.

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Eine ordnungsrechtliche Regulierung der Emissionen (sogenanntes »Command-and-Control«), die für bestimmte Industrien Emissionsobergrenzen festlegt oder die Nutzung spezieller Technologien vorschreibt, läuft immer Gefahr, dass sich die Lasten der Emissionsreduktion sehr ungleich verteilen. Die Einsparung von CO2 mag dabei in einem Unternehmen zu Kosten von Tausenden von Euro führen, während in einem anderen Unternehmen kaum Zusatzkosten entständen. Da das CO2 – egal wo es eingespart wird – die gleichen vermiedenen Schäden impliziert, erscheint eine Vermeidung dort, wo das Verhältnis aus Nutzen und Kosten am höchsten ist, sinnvoll. Commandand-Control-Maßnahmen, denen dies – zumal auf globaler Ebene – gelingt, sind kaum realistisch. Aus diesem Grund bevorzugen Ökonomen in der Regel Regulierungssysteme, die eine umweltverschmutzende Tätigkeit mit einem Preis belegt. Im Falle von Steuern geschieht dies direkt: Für jede Tonne an emittiertem CO2 ist der gleiche Preis zu entrichten. Die ökonomische Überlegung, ob es sich lohnt, diese Tonne zu emittieren, ist über alle Sektoren und Aktivitäten identisch. Ein Zertifikatesystem, bei denen das Recht zur Emission mit dem Halten der entsprechenden Zertifikate einhergeht, erreicht das gleiche, wenn die Zertifikate zwischen den Unternehmen auf einem freien Markt gehandelt werden können. Auf diese Weise werden Emissionen dort getätigt, wo die Zahlungsbereitschaft am höchsten ist. Es lässt sich leicht zeigen, dass Steuern und Zertifikate, solange die Kosten der Vermeidung bekannt sind, so gestaltet werden können, dass sie das gleiche Niveau und die gleichen Kosten der Vermeidung implizieren. Diese Äquivalenz ist allerdings nur eingeschränkt gültig, wenn Unsicherheit über die Höhe der Vermeidungskosten besteht (Weizman 1974). Ob Steuern oder Zertifikate in einem solchen Fall effizienter sind, ist allerdings allgemeingültig kaum zu sagen, sodass auf eine genauere Diskussion an dieser Stelle verzichtet werden soll. Grundsätzlich soll nur darauf hingewiesen werden, dass CO2-Steuern bei Unsicherheit mit einem Mengenrisiko einhergehen. Erweisen sich die Kosten der Vermeidung von Emissionen beispielsweise als höher (geringer) als gedacht, wird die erreichte Vermeidung geringer (höher) sein als antizipiert. Im Gegensatz zu einer Steuer kann eine Zertifikatelösung nicht mit höheren Emissionen als geplant einhergehen. Das Mengenrisiko ist entsprechend geringer. Allerdings können die Kosten zur Reduktion der Emissionen hier höher ausfallen als ursprünglich antizipiert, mit entsprechenden Wirkungen auf die wirtschaftliche Tätigkeit und die Wohlfahrt. Das Risiko liegt entsprechend auf Seiten der Preise für Emissionszertifikate, wie die aktuelle Entwicklung im Europäischen Emissionshandelssystem (EU-ETS) deutlich zeigt. Die niedrigen Preise für Zertifikate im EU-ETS spiegeln wider, dass die Nachfrage nach Zertifikaten geringer ist als ursprünglich antizipiert. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Wichtig im gegenwärtigen Kontext ist jedoch, dass diese niedrigen Preise nicht die Schäden reflektieren, welche durch CO2-Emissionen verursacht

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werden. Schadensschätzungen sind zwar mit hoher Unsicherheit behaftet und variieren stark,3 die meisten Schätzungen liegen jedoch weit über den knapp ca.  8  Euro/tCO2, die zur Zeit der Entstehung dieses Beitrags (Oktober 2015) für ein Emissionszertifikat gezahlt werden müssen. Das Ziel, eine schadensgerechte Bepreisung des CO2 vorzunehmen, wird damit klar verfehlt, obwohl das ursprünglich gesetzte Emissionsziel erreicht wird. Wie dieser Problematik begegnet werden soll, darüber herrscht keine Einigkeit. Eine stärkere Reduktion und damit Verknappung der Zertifikate würde die CO2-Preise zwar erhöhen, ist aber aufgrund befürchteter negativer Rückwirkungen auf die Wirtschaft umstritten. Dies gilt umso mehr, als in vielen Staaten bisher keine CO2-Bepreisung stattfindet. Ein weiterer Kritikpunkt an existierenden Zertifikatehandelssystemen ist ihre limitierte Reichweite – nicht nur räumlich, sondern auch bei der Erfassung von CO2-Emissionen. So werden im Europäischen Emissionshandel beispielsweise nur sechs Wirtschaftssektoren (am wichtigsten davon der Energiesektor) und damit ca. 50 % der CO2-Emissionen vom Zertifikatemarkt erfasst. Hinsichtlich der restlichen 50 % sind in den verschiedenen EU-Ländern äußerst heterogene Politiken implementiert, die sehr unterschiedliche CO2-Preise implizieren. Hier sei beispielhaft auf die Energiesteuer in Deutschland verwiesen, welche in Bezug auf Benzin zu einer Belastung von 273 Euro/ tCO2 führt (Ketterer/Wackerbauer 2009). Betrachtet man die europäischen CO2-Emissionsstandards für Kraftfahrzeuge, so wird sogar geschätzt, dass es einen Zertifikatepreis von 370 Euro brauchen würde, um die gleichen Effekte zu induzieren, die der Standard direkt vorschreibt (Mock et al. 2014). Implizit kann eine solch heterogene Bepreisung als nicht begründbare Wertung verschiedener CO2-Emissionen verstanden werden. Eine Tonne CO2, die bei der Stromerzeugung entsteht, könnte damit als weniger »schlimm« interpretiert werden als eine Tonne, die durch Autofahren generiert wird. Auch das Argument, dass verteilungspolitische Überlegungen – die sich beispielsweise in der geringen Besteuerung von Heizöl widerspiegeln – bei der Regulierung eine Rolle spielen, greift zu kurz. Ein Haushalt wie ein Unternehmen sollte bei der Entscheidung, welche Güter konsumiert oder produziert werden, die gesellschaftlichen Kosten der CO2-Emissionen, die mit seiner Entscheidung einhergehen, berücksichtigen. Verteilungsaspekte dagegen sollten durch geeignete Instrumente der Sozialpolitik erfasst werden. Ihre Berücksichtigung im Rahmen der Klimapolitik kann zu einer willkürlichen und paternalistischen Bewertung der Präferenzen von Individuen und Entscheidungen von Unternehmen führen. Die kurze Diskussion der Situation in Europa verdeutlicht, wie schwierig es ist, ein System zu etablieren, welches konsistent eine einheitliche Bepreisung 3 | Vgl. Tol (2009) für einen Überblick über Schätzungen aus der einschlägigen Literatur.

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von CO2-Emissionen zulässt. Diese Schwierigkeiten sind naturgemäß auf globaler Ebene noch größer. Nichtsdestotrotz soll auf einen Vorteil von Zertifikaten aus internationaler Perspektive hingewiesen werden. Gehen wir dazu von einer gegebenen Verteilung der Emissionsrechte über die Länder hinweg aus, die beispielsweise durch die historischen Emissionen festgelegt sei. Zur Erreichung der entsprechenden Emissionsmengen könnte in den einzelnen Ländern eine CO2-Steuer eingeführt werden. Die Höhe der Steuersätze wird dabei in Abhängigkeit von den zugeteilten Emissionsrechten und dem wirtschaftlichen Entwicklungsstand sehr unterschiedlich ausfallen.4 In einigen, bisher wenig entwickelten Ländern werden die Emissionsrechte vermutlich selbst bei negativen Steuersätzen (also Subventionierung) des Einsatzes fossiler Energieträger kaum ausgeschöpft werden. In anderen Staaten müssten die Steuersätze prohibitiv hoch sein. De facto würde dies wiederum eine Gewichtung der Emissionen in »gute« oder gar »gewünschte« Emissionen (in Entwicklungsländern) und »schlechte« (»ungewünschte«) Emissionen (in Industrieländern) implizieren. Ausgehend vom Prinzip der historischen Verantwortung mag dies zunächst als gerecht erscheinen. Andererseits würde es ebenfalls implizieren, dass einigen Staaten und damit Millionen von Menschen komplett die Lebensgrundlagen entzogen würden. Auch finden sich die emissionseffizientesten Technologien in der Regel eher in Industrie- und nicht in Entwicklungsländern. Eine Verlagerung der Produktion könnte entsprechend die globalen Emissionen noch erhöhen und nicht vermindern. Es ist klar, dass das gerade beschriebene System keine Chance auf Verwirklichung hat und daher nur zur Verdeutlichung der Implikationen als Extremfall herangezogen wird. Die Frage ist, ob eine Verteilung der Emissionsrechte entsprechend der historischen Verantwortung nicht trotzdem durchführbar wäre. Es lässt sich leicht zeigen, welche Vorteile die Einführung eines internationalen Zertifikatehandels in diesem Zusammenhang hätte. Zertifikate, die international handelbar wären, würden implizieren, dass Emissionsrechte, die in einigen Ländern nicht gebraucht würden, an andere Länder bzw. Unternehmen verkauft werden könnten. Ein solcher Handel mit Zertifikaten würde dem Handel mit Gütern über Staatengrenzen hinweg vergleichbar sein. Günstige Vermeidungspotentiale könnten auf diese Weise erschlossen werden, da es sich lohnen würde, bei geringen Vermeidungskosten Zertifikate zu verkaufen und stattdessen Emissionen zu vermeiden. Die ursprüngliche Verteilung der 4 | Alternativ wird auch die Einführung einer globalen, also in allen Ländern gleich hohen, CO 2-Steuer diskutiert. Diese hätte den Vorteil, dass der Preis einer Tonne CO 2 unabhängig von seinem Entstehungsort wäre, würde allerdings die Menge an CO 2-Emissionen, die jedes Land ausstoßen darf, endogenisieren. Im Kontext der zuvor diskutierten Gerechtigkeitsprinzipien müsste eine solche Steuer entsprechend durch einen Kompensationsmechanismus für arme Länder ergänzt werden.

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Rechte an den Emissionen würde entsprechend lediglich eine Anfangsausstattung etablieren. Der nachfolgende Handel würde es den Industrieländern erlauben, gegen Zahlung des Zertifikatepreises weiter zu produzieren, würde aber auch Anreize setzen, die Emissionen in Zukunft zu verringern. Den Entwicklungsländern würden auf diese Weise Mittel zufließen, welche für den Aufbau der eigenen Wirtschaft genutzt werden könnten – direkt oder auch indirekt über Investitionen in Humankapital oder Rechtssicherheit. Betrachtet man die Unterschiede in den historischen Emissionen, wird klar, dass die Umverteilungswirkungen eines solchen Handels substantiell sein können. Gegen die Etablierung eines solchen internationalen Zertifikatemarkts wird häufig eingewendet, dass dieser – ebenso wie der Clean Development Mechanismus (CDM) des Kyoto-Protokolls – eine Art »Ablasshandel« darstelle, bei dem sich die Industriestaaten gegen Zahlung eines Preises von der Verantwortung für ihre »Sünden«, in diesem Fall von der Verantwortung für den Klimawandel, freikaufen können (BUND 2011) – der religionsgeschichtliche Kontext der Reformation als eine Art von Revolution gegen das etablierte System ist bei dieser Analogie sicherlich kein Zufall. Ähnlich wie beim CDM, bei dem sich Industrieländer die in Entwicklungsländern erreichten Emissionsreduktionen auf ihre Vermeidungsverpflichtung anrechnen lassen können, würde der Handel mit Emissionszertifikaten lediglich eine Verlagerung der Vermeidung von einem Land zum anderen implizieren. Der Vorteil läge auch hier in den reduzierten Kosten einer gegebenen Menge an Vermeidung. Im Gegensatz zum CDM wäre allerdings eine gleichmäßigere Verteilung der Gewinne aus dem Handel mit den Zertifikaten zu erwarten. So wurden 69 % aller Projekte, die im Rahmen des CDM implementiert wurden, in Indien und China durchgeführt (Center on Energy, Climate and Sustainable Development 2015). Die am wenigsten entwickelten Staaten (least developed countries) attrahierten dagegen nur 1,4 % aller Projekte. Würden die Emissionszertifikate dagegen entsprechend der historischen Emissionen verteilt, würden gerade die ärmsten Länder am meisten profitieren. Ein weiterer, häufig genannter Kritikpunkt am CDM ist, dass die durchgeführten Projekte entgegen der ursprünglichen Zielsetzung (UN 1997) nur wenig zur nachhaltigen Entwicklung der Entwicklungs- und Schwellenländern beitragen würden (Shishlov/Bellassen 2012; Boyd et al. 2009). Die Frage stellt sich, inwieweit dieses Ziel besser erreicht würde, wenn Entwicklungs- und Schwellenländer die finanziellen Mittel aus dem Verkauf der Zertifikate zur freien Verfügung hätten. Es ist durchaus vorstellbar, dass den sozialen Wirkungen der Mittelverwendung größere Aufmerksamkeit gewidmet würde und die freie Verfügbarkeit der Mittel einen effizienteren Einsatz nicht nur für die Vermeidung von Emissionen, sondern auch zur Erreichung anderer Nachhaltigkeitsziele erlauben würde. Weniger positiv für die langfristige Entwicklung würde hingegen sein, dass der Technologietransfer, wie er beispielsweise durch inter-

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nationale Kooperationen im Rahmen des CDM gefördert wurde, zurückgehen dürfte. Die Erfahrung zeigt, dass unilateral von den Entwicklungsländern durchgeführte CDM-Projekte wesentlich seltener in einem Technologietransfer resultierten als bi- oder multilaterale Projekte (Das 2011). Wie bereits angedeutet, würden viele Ökonomen die schnelle Einführung eines globalen Zertifikatehandels empfehlen (Sinn 2008). Dies würde sofort eine Obergrenze für die globalen Emissionen definieren; der Preis für Emissionen würde über den Zertifikatemarkt determiniert. Nun mag die Einführung eines solchen Handels zwar für wünschenswert erachtet werden, realistisch erscheint sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht. Dem Subsidiaritätsprinzip in seiner reinen Form, nach dem die Regulierung der globalen Umweltexternalität Klimawandel auch auf globaler Ebene erfolgen sollte, wird entsprechend kaum Rechnung getragen werden können. Da das Subsidiaritätsprinzip aber bisher nicht einmal in der Europäischen Union vollständig umgesetzt wird, kann dies auf globaler Ebene kaum verwundern. Die Frage stellt sich, ob ein Abweichen vom Subsidiaritätsprinzip nicht zumindest in der kurzen Frist gegenüber einem klimapolitischen Stillstand oder einer Einigung auf einen Minimalkompromiss vorzuziehen ist. Eine Klimapolitik entsprechend des Subsidiaritätsprinzips würde zwar aus Sicht der ökonomischen Theorie und eines benevolenten globalen Planers das Optimum implementieren. In einer Welt konkurrierender Nationalstaaten, die zumindest teilweise eine gemeinsame Klimapolitik als Einschränkung ihrer nationalen Souveränität sehen, mag dieses Optimum aber auch auf längere Sicht nicht Realität werden. Insbesondere für Entwicklungsländer kann das Streben nach Erhalt der Souveränität und der Freiheit, über zukünftige Entwicklungspfade selber entscheiden zu können, einen höheren Stellenwert einnehmen als die Partizipation an einem Klimaabkommen, dessen zukünftiger Nutzen aus Sicht der einzelnen Staaten unsicher erscheint. Ein Festhalten an global umfassenden Klimaabkommen wird vermutlich, wenn überhaupt, wesentlich später Erfolge zeigen als dezentrale Ansätze. Ist ein globales Abkommen kurzfristig nicht erreichbar, kann statt einer einheitlichen Regulierung »von oben« eine sukzessive Angleichung der Politiken »von unten« erfolgversprechender sein. Im besten Fall wird ein solcher bottom-up-Prozess langfristig zu einer strikteren Politik führen als ein top-down-Ansatz. Ein eher dezentraler Ansatz in der Klimapolitik wird auch durch die Ergebnisse spieltheoretischer Analysen von Klimaabkommen unterstützt. Hier zeigt beispielsweise Barrett (1994), dass Umweltabkommen nur bei einer sehr kleinen Gruppe an Vertragspartnern stabil sind. Für die Klimaverhandlungen impliziert dies, dass in der Runde der 194 Staaten, deren Teilnahme an den internationalen Klimaverhandlungen der UN in Paris 2015 erwartet werden, kaum bahnbrechende Resultate zu erwarten sind. Berücksichtigt man zudem, dass die 194 Staaten, im Gegensatz zu Barretts Analyse, nicht identisch, son-

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dern sowohl wirtschaftlich wie auch kulturell äußerst heterogen sind, überrascht dies kaum. Bilaterale Verhandlungen oder Verhandlungen im Rahmen eines kleineren Kreises von Staaten, die zumindest ökonomisch auf einem relativ ähnlichen Entwicklungsstand sind, weisen hier vermutlich höhere Erfolgschancen auf. Das bilaterale Abkommen zwischen den USA und China, in welchem sich beide Staaten im Dezember 2014 erstmalig auf langfristige Emissionsziele festlegten, scheint diese Einschätzung zu unterstützen – oder wie es die britische Zeitung The Guardian ausdrückte: »The US-China climate deal is a model for world diplomacy: too small to fail« (The Guardian 2014). Auch im Fall eines dezentralen Ansatzes wird allerdings eine mittel- bis langfristige Einbeziehung der Staaten, die heute nur geringe CO2-Emissionen aufweisen, in die globalen Vermeidungsanstrengungen unabdinglich sein. Neben dem mit Abstand bevölkerungsreichsten Kontinent Asien weist hier insbesondere Afrika, dessen CO2-Emissionen bei einem Anteil an der Weltbevölkerung von ca. 15 % lediglich 3,4 % der globalen CO2-Emissionen ausmachen (CDIAC 2015), einen erheblichen Nachholbedarf auf. Eine frühe Festlegung auf Emissionsreduktionspfade ist bei den meisten dieser Staaten nicht zu erwarten, allerdings können Verlauf und Inhalte heutiger Klimaverhandlungen die Chancen einer Einbindung in der Zukunft durchaus beeinflussen. In diesem Zusammenhang können insbesondere Klimafinanzierung und Unterstützung zur Anpassung an den Klimawandel eine wichtige Rolle spielen.

4. A npassung und/oder V ermeidung ? Über Anpassung an den Klimawandel wurde auf internationaler Bühne lange Zeit nur wenig diskutiert. Ein Grund dafür liegt in der Natur der Anpassungsmaßnahmen, von denen viele – wie der Bau von Deichen oder das Bohren von Brunnen – keine grundsätzlichen Eigenschaften aufweisen, die eine internationale Koordination erforderlich machen würden. Für viele Anpassungsmaßnahmen werden vermutlich nicht einmal politische Eingriffe notwendig sein (Stern 2007). Nach dem Subsidiaritätsprinzip sollte die Planung und Durchführung dieser Art von Maßnahmen den Individuen und Nationalstaaten überlassen bleiben. Ein weiterer Grund dafür, dass Anpassungsmaßnahmen lange Zeit eher stiefmütterlich behandelt wurden, ist die Befürchtung, dass Anstrengungen zur Anpassung an den Klimawandel zulasten von Vermeidungsanstrengungen gehen. Dieser Befürchtung liegt die typische Wahrnehmung von Anpassung und Vermeidung als Substitute zugrunde. Ein dritter Grund kann vermutlich in der Assoziation einer Anpassung an den Klimawandel mit einer Art von Kapitulation gesehen werden. Da eine Erhöhung der globalen Durchschnittstemperatur um mindestens 2°C allerdings kaum zu vermeiden sein wird, ist

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die Auseinandersetzung mit einer Anpassung an die geänderten Verhältnisse unumgänglich. Wie Stehr und von Storch (2005) es formulieren: Vermeidung schützt die Natur vor der Gesellschaft aber Anpassung schützt die Gesellschaft vor der Natur. Nachdem bereits in Bali 2007 vereinbart wurde, dass entwickelte Staaten adäquate, voraussehbare und nachhaltige finanzielle Ressourcen für Entwicklungsländer zur Verfügung stellen sollen, um ihnen bei der Anpassung an den Klimawandel zu helfen (UNFCCC 2008), wurde dies auf dem internationalen Klimagipfel in Cancun 2011 um die Aussage ergänzt, dass das Thema »Anpassung an den Klimawandel« mit der gleichen Priorität adressiert werden sollte wie das Thema »Vermeidung« (UNFCCC 2011). Wie hoch die Kosten der Anpassung sein werden, darüber gehen die Schätzungen weit auseinander. Eine Studie der Weltbank schätzt die den Entwicklungsländern entstehenden Kosten auf 70-100 Milliarden US$ pro Jahr im Zeitraum 2010-2050 (World Bank 2010), andere Schätzungen belaufen sich auf 4-109 Milliarden US$ pro Jahr (Parry et al. 2009). Obwohl aus allokativer Perspektive Anpassungsmaßnahmen den einzelnen Agenten und Staaten überlassen bleiben sollten, kann internationale Unterstützung bei Finanzierung und Durchführung sowohl aus distributiven Gründen wünschenswert als auch aus strategischen Überlegungen sinnvoll sein. Projekte wie die Anpassung von Infrastruktur können die finanziellen Möglichkeiten von Entwicklungsstaaten schnell übersteigen, sodass sie auch bei gegebener Sinnhaftigkeit nicht stattfinden. In Cancun wurde entsprechend beschlossen, zur Finanzierung von Anpassungs- und Vermeidungsmaßnahmen in Entwicklungs- und Schwellenländern ab 2020 jährlich 100 Milliarden US$ zur Verfügung zu stellen. Ein erheblicher Teil davon dürfte zur Finanzierung von Anpassungsmaßnahmen verwendet werden. Zurzeit ist allerdings der Anteil von Anpassungsunterstützung an den gesamten Transfers, die zum Zwecke des Klimaschutzes aus reichen in arme Staaten fließen (sogenannte »Klimafinanzierung«) im Vergleich zur Vermeidungsunterstützung noch gering (9 % im Jahr 2013; Buchner et al. 2014). Aus Sicht der Geberländer stellt sich die Frage, warum die Anpassung an den Klimawandel in anderen Ländern überhaupt unterstützt werden sollte. Im Gegensatz zu Vermeidungsmaßnahmen, die durch die Verlangsamung des Klimawandels auch für die Geberländer positive Konsequenzen haben – und zudem in armen Ländern häufig günstiger durchzuführen sind –, haben Anpassungsmaßnahmen meist keine direkten positiven Konsequenzen für andere Regionen. Ein Grund für die Beteiligung an den Kosten ist sicherlich in der historischen Verantwortung zu sehen. Nicht nur haben Entwicklungs- und Schwellenländer bisher wenig zum Klimawandel beigetragen, viele von ihnen werden auch besonders hart vom Klimawandel getroffen. So prognostizieren modellbasierte Simulationen teilweise gravierende Rückgänge in der Getrei-

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deproduktion in Entwicklungsländern, während in den Industrieländern bei relativ moderaten Temperaturanstiegen noch ein Anstieg der Produktion erwartet wird (Parry et al. 2005). Schätzungen zu Gesundheitskosten und Todesfällen bestätigen eine solche Kostenverteilung zulasten der ärmsten Regionen der Welt ebenso wie Schätzungen zu den hier diskutierten Anpassungskosten (WHO 2014; World Bank 2010). Ein weiterer Anreiz für entwickelte Länder, sich an den Kosten der Anpassung in Entwicklungsländern zu beteiligen, kann aber auch strategischer Natur sein. Die Unterstützung der Anpassung kann in den Entwicklungsländern die Wahrnehmung, fair behandelt zu werden, und damit die Wahrscheinlichkeit, einem Klimaabkommen beizutreten, positiv beeinflussen (Pittel/ Rübbelke 2013). Im Gegensatz zur Unterstützung von Vermeidungsmaßnahmen, welche von Entwicklungsländern aufgrund der resultierenden Nutzen für die Industrieländer als eigennutzorientiert wahrgenommen werden kann, spiegelt die Unterstützung für Anpassungsmaßnahmen eine weniger gegenleistungsorientierte Politik wider. Wie positiv eine solche Unterstützung wahrgenommen wird, hängt allerdings nicht nur von der Höhe der finanziellen Unterstützung ab, sondern auch von der Art und Weise, wie Entscheidungsfindungsprozesse ablaufen und finanzielle Ressourcen gemanagt werden. In der Literatur wird entsprechend zwischen distributiven und prozeduralen Fairnessaspekten unterschieden. Es war gerade die Wahrnehmung fehlender prozeduraler Fairness, die einen wichtigen Kritikpunkt an den gescheiterten Klimaverhandlungen im Jahr 2009 in Kopenhagen darstellte (Müller 2010). Kverndokk und Rose (2008) betonen denn auch, dass Handlungen aus ethischer Perspektive nicht nur nach ihren Konsequenzen, sondern auch nach dem Prozess ihrer Entstehung beurteilt werden müssen. Für das Management der für Anpassungs- und Vermeidungsmaßnahmen zur Verfügung stehenden Mittel impliziert dies insbesondere, dass Entwicklungsländer in maßgeblicher Weise an der Governance dieser Mittel beteiligt werden sollten. So wird der Vorstand des Green Climate Funds, welcher in Zukunft eines der Hauptinstrumente zur Anpassungsfinanzierung sein wird, denn auch paritätisch von Entwicklungs- und Industrieländern besetzt sein.

5. F a zit Dieser Beitrag hat CO2-Emissionen als Abfall eingeordnet, der sich kurzfristig nur partiell vermeiden lässt, jedoch langfristig zu einem globalen Klimawandel führt. Gerade diese globalen Konsequenzen erfordern eine differenzierte Governance, welche die Rechte und Pflichten im Umgang mit CO2-Emissionen reguliert. Es ist insbesondere die Irrelevanz des Ortes der Entstehung, die CO2Emissionen dabei von fast allen anderen Arten von Abfall unterscheidet und

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die Mögichkeiten und Grenzen im Umgang mit ihnen nachhaltig beeinflusst. Eine effektive und effiziente Regulierung dieser speziellen Art von Abfall ist durch das Fehlen einer internationalen Institution, welche rechtlich bindende Normen beschließen und durchsetzen kann, nur schwer implementierbar. Die Allokation und Governance von Emissionsrechten und Vermeidungsverpflichtungen kann damit nicht zentral entschieden werden, sondern muss in weit stärkerem Maße als bei anderen Arten von Abfall konfligierenden Interessen Rechnung tragen. So werden CO2-Emissionen häufig nicht als Abfall, sondern als eine Art Produktionsfaktor wahrgenommen, dessen Verfügbarkeit für die zukünftige wirtschaftliche Entwicklung unabdinglich ist. Diese Wahrnehmung beeinflusst ebenfalls die Positionierung zu unterschiedlichen normativen Prinzipien über die Gerechtigkeit der Lastenverteilung am Klimaschutz. Es bleibt abzuwarten, inwieweit die politischen Entscheidungsträger in der Lage sein werden, sich über ihren jeweiligen nationalen Kontext hinweg zu setzen und sich zur Übernahme von dringend notwendigen Verpflichtungen zur Emissionsreduktion bereitfinden.

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Geschichte der Deponie – ist Deponie Geschichte? Soraya Heuss-Aßbichler und Gerhard Rettenberger

1. E inleitung Hatten die alten Kulturen bereits Abfalldeponien? Dass Abfall anfiel, steht außer Frage. Doch warum hätten sie Deponien anlegen sollen? Diese sind erst dann erforderlich, wenn der Abfall nicht mehr in Stoff kreisläufe zurückgeführt werden kann, sei es durch Verwertung oder durch Dissipation. Aber bereits die Natur kennt »Deponien« im Sinne langfristiger Lagerung von »Abfall«, z.B. bei der Ablagerung von Aschen nach Vulkanausbrüchen oder organischer Stoffe, die zu Kohlelagerstätten führten. Wie lösten jedoch die Menschen den Umgang mit Abfall? Bereits die Bibel enthält die Regel, sich seiner Fäkalien außerhalb menschlicher Ansammlungen zu entledigen. Sie sollten in ein Loch gegeben und anschließend mit Erde wieder zugeschüttet werden. Damit standen neben ästhetischen Gesichtspunkten (Gestank) bereits damals wohl Fragen der Sicherheit (Auffindbarkeit), der Hygiene (Krankheitserreger) sowie der Wasserverschmutzung im Vordergrund. Ein entsprechendes Wissen über die Zusammenhänge zwischen den Abfällen und ihren Auswirkungen muss daher damals schon existiert haben. Ein Rückblick auf die vergangenen Jahrhunderte zeigt, dass die verschiedenen Gesellschaften zu jeder Zeit eine eigene Lösung für die Entsorgung ihrer Abfälle entwickelten. Dabei hat sich der Begriff »Abfall« im historischen Kontext kontinuierlich gewandelt. Lofrano und Brown (2010) haben festgestellt, dass es keine verlässlichere Quelle über die Gewohnheiten und Sitten einer Gesellschaft gibt, als deren Abfall. Waren es anfänglich die Fäkalien bzw. Exkremente sowie Tierkadaver und menschliche Leichen, die deponiert wurden, so waren es später Abraum von Lagerstätten, Baumaterialien von verfallenen Gebäuden1 und gewerbliche Abfälle z.B. aus Schlossereien. In unseren Tagen 1 |  So liegt z.B. heute das Geländeniveau der Stadt Trier ca. 6-8 Meter höher als zu römischen Zeiten.

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sind es Produktionsabfälle, Schlacken und Aschen, aber auch Elektronikschrott, Medikamente und Krankenhausabfälle. Soweit wir Einblick haben, waren bereits in der Antike die Umgangsformen mit Abfall reguliert. Man hatte eine Vorstellung von den Auswirkungen der Abfälle auf die Umwelt. Gleichwohl war die Abfallmenge verhältnismäßig gering und die Auswirkungen auf die Umwelt somit weitgehend unbedeutend. Lediglich das unmittelbare Umfeld der Siedlung oder des Lagerplatzes musste geschützt werden. Dadurch entstanden aber nur geringfügige Aufwendungen für die Abfallentsorgung. In großen Städten hingegen war der Aufwand insbesondere für die Fäkalentsorgung bedeutsam. Im Mittelalter änderten sich die Normen drastisch. Traditionen wurden über Bord geworfen und viele gut etablierte Praktiken gerieten in Vergessenheit. Einzellösungen wurden gesucht, Gesetze und Vorschriften setzten sich nur zögerlich durch. Erst mit der Industrialisierung mussten infolge hygienischer Notwendigkeiten, die durch Seuchen offenkundig wurden, neue Strategien entwickelt werden. Der Notstand durch die ungeordnete Abfallbeseitigung gab den Antrieb zu technischen Erfindungen und der Einführung infrastruktureller Veränderungen, dies jedoch vor dem Hintergrund geringer finanzieller Ressourcen. Wer mochte schon für etwas bezahlen, das für ihn wertlos war? Abfälle wurden schlicht wo immer nur möglich entsorgt. Nur in wenigen Fällen wurden sie aus hygienischen Gründen und zur Mengenverminderung verbrannt. Diese Praxis hielt sich bis in die Neuzeit. Erst in den 1980er Jahren, als Prognosen auf Notstand an Deponieflächen hinwiesen und zudem die Rohstoffpreise stiegen, kamen Forderungen nach Strategien zu Abfallvermeidung und Recycling auf. Allerdings gilt nach wie vor, dass die einzelnen Nationen nicht mehr als etwa 1,5 % ihres BIP für die Abfallentsorgung ausgeben. Aktuell stellen die Deponierungen – auch unter Berücksichtigung der kompletten Nachsorge – mit Abstand die kostengünstigste Art der Abfallbeseitigung dar. Daher werden aufgrund der finanziellen Gegebenheiten Abfälle überwiegend deponiert. Nur bei Sonderabfällen ist künftig mit erheblichen Problemen zu rechnen, nicht nur wegen der Toxizität, sondern auch weil diese in großem Stil Deponieraum beanspruchen. Die in den westlichen Industrienationen entwickelte Praxis bestimmt mittlerweile weltweit in allen Gesellschaften und Kulturen den Umgang mit Abfall. Insbesondere der in der Europäischen Union etablierte Standard gilt international als Vorbild. Dieser umfasst vor allem die Verminderung organischer Abfälle in Deponien, da diese durch die Methanbildung wesentlich zum Treibhausgaseffekt beitragen. Der Rückgang im deutschen Treibhausgasinventar ist weitestgehend darauf zurückzuführen, dass in Deutschland seit 2005 nahezu keine organischen Abfälle mehr deponiert wurden. Zwischenzeitlich war sogar von einer »Zero-Waste-Gesellschaft« die Rede – einer Gesellschaft ohne Abfall! Alle Abfallstoffe sollten, in den Kreislauf

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zurückgeführt, Deponien verzichtbar machen. Dieser Gedanke hat sich aber schnell wieder verflüchtigt, da die Verwertung von Bauabfällen als sogenannte »Inertabfälle« immer noch ein Problem darstellt. Gleiches gilt für schadstoffhaltige Abfälle, die aus dem Kreislauf herausgeschleust werden müssen. Daher ist es nicht möglich, in Deutschland auf Deponien zu verzichten, es müssen – ganz im Gegenteil – neue Deponien angelegt werden. Ist das problematisch? Wenn wir wissen, was wir unserer Erde zumuten können, sicherlich nicht. Es bedarf daher einer klaren Vorstellung über »final sinks«. Die Wissenschaft hat aktuell ziemlich genaue Vorstellungen, welche Anforderungen an moderne Deponien zu stellen sind. Die entwickelten Konzepte – gesicherte Ablagerung möglichst in Form inerter Abfälle unter Berücksichtigung der Hintergrundbelastung – scheinen sich insbesondere in Ländern mit hoher Bevölkerungsdichte durchzusetzen. In Mitteleuropa hat der Druck der Öffentlichkeit Regierungen und Behörden veranlasst, die Notwendigkeit von Deponierungen zu reduzieren und darüber hinaus die Deponietechnik wesentlich zu verbessern. Deponien werden vor allem aus Kostengründen in Ländern mit niedrigem BIP klaglos akzeptiert. In Ländern mit hohem Lebensstandard, aber geringer Bevölkerungsdichte, sind sie mit dem Hinweis auf Einsparung unnötiger Kosten einfach aus dem Blickfeld ausgeblendet. Die Bedingungen für die Errichtung von Deponien und deren Akzeptanz sind weltweit völlig unterschiedlich. Die jeweiligen Auswirkungen auf die Umwelt sind jedoch beträchtlich. Die derzeit üblichen Deponien in Entwicklungs- oder Schwellenländern, aber auch die vielen ungeordneten Deponien in reichen Ländern befinden sich in einem Zustand, der aus Gründen des Umweltschutzes jede Zwischenlösung bis hin zur Realisierung hochentwickelter Deponietechnik akzeptabel erscheinen lässt.

2. F rühgeschichte und erste H ochkulturen Erste Zeugnisse von Abfalltechniken fanden sich u.a. in der Entwicklung der Völker der Natufian im Gebiet des heutigen Israel und Palästina. Die Anordnung der Fundstücke in und um die Behausungen der wandernden Völker aus der Zeit vor ca. 12.000 Jahren zeigt keine Systematik (Hardy-Smith/Phillip 2007). Rathje und Murphy haben die ursprüngliche Praxis wie folgt charakterisiert: »Throughout most of time human beings disposed garbage in a very convenient manner: simply by leaving it where it fell« (Rathje/Murphy 1992: 32). Mit dem Übergang zur Sesshaftigkeit nahmen Ordnung und Sauberkeit in den eigenen Behausungen zu. Rathja und Murphy (1992: 33) beschreiben die zunehmende Ordnung im Präkeramischen Neolithikum B als eine der ersten Abfallkrisen der Menschheit. In verschiedenen Studien wurden Techniken des Recyclings identifiziert. Hierbei betont Amick (2015), dass diese im Paläolithikum entwickelten Techniken nur bedingt unserem Verständnis der Wieder-

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bzw. Weiterverwertung von Abfall entsprechen. Es war eher die Begrenztheit der natürlichen Ressourcen, wie z.B. geeignete Gesteinsvorkommen zur Werkzeugherstellung, die dazu führten. Über die führenden antiken Hochkulturen und ihren Umgang mit Abfall ist wenig überliefert. Die Entwicklungen der Abwassersysteme (Lofrano/ Brown 2010) erlauben jedoch, indirekt Schlüsse zu ziehen. In Mesopotamien (3.800-2.500 v. Chr.) waren beispielsweise die Häuser in Ur und Babylon zur Entsorgung ihrer Abwässer über Entwässerungssysteme miteinander verbunden, die zu Sickergruben führten (Jones 1967). Auch im Indusgebiet gab es um 4.500-2.500 v. Chr. Sitzaborte und die Anfänge eines komplexen Abwassersystems (Knoll 1998: 12): Unterirdische Kanäle aus gebrannten Tonrohren leiteten das Abwasser in den Indus. Auch für die festen Abfälle waren moderne Ansätze im Sinne von Müllschluckern im Einsatz: So konnte Hausmüll aus dem ersten Stock in Tonbehälter im hinteren Bereich der Häuser fallen. Die Entsorgung dieser »Wechseltonnen« erfolgte dann über eigene Straßen. Diese technisch hochentwickelten Errungenschaften im Verbund mit Hygienestandards standen im Einklang mit einer ausgeklügelten Städteplanung (Avvannavar/Mani 2008). Hinweise auf die Nutzung einer »Deponie« über mehrere Jahrhunderte hinweg ergab die Datierung einer Ansammlung von Scherben in einem Hügel in der Nähe der Sesostris Pyramide und des Kahun Tempels (Smith 1998: 116). Papyrusfunde in Ägypten und Funde auf Kreta belegen, dass in diesen Kulturen der Umgang mit Abfall wohl geregelt war. Nach Knoll (1998: 12) lassen sich diese Regeln als Gesetze und Empfehlungen zur Umwelthygiene verstehen. Im Allgemeinen lag im alten Griechenland die Verantwortung für die Abfallbeseitigung bei der Bevölkerung. Öffentliche Kontrollinstanzen überwachten die privatwirtschaftlich organisierte Abfallbeseitigung. In Athen jedoch war die Sammlung und Entfernung von Abwässern und Abfall städtisch organisiert. (Knoll 1998: 13). Interessant ist die Auswertung von Bohrprofilen durch die Ablagerungen des Hafens von Ephesos (Kraft et al. 2007). Sie ergab, dass dieser nicht nur die eingeleiteten Abwässer aufnehmen musste, sondern auch eine Senke für Bauschutt und Industrieabfälle darstellte. Eine Dokumentation von Bar-Oz et al. (2007) ermöglicht am Beispiel der Zusammensetzung des Abfalls einen Einblick in die Lebensumstände in Jerusalem als aufstrebende Metropole (60 v. Chr. bis 70 n. Chr.). Die Stadt hatte mehr als 30.000 Einwohner und dazu dreimal im Jahr viele Pilger zu versorgen. Ausgrabungen in der Nähe des Tempelberges belegen, dass dort zu jener Zeit Abfall kein Problem darstellte und demnach ein Müllbeseitigungssystem vorhanden gewesen sein musste (Reich/Billig 2000). Eine auf der Ostflanke des südöstlichen Hügels von Jerusalem entdeckte Müllhalde ließ sich aufgrund der dort gefundenen Münzen auf das 1. Jahrhundert v. Chr. bzw. das 1. Jahrhundert n. Chr. datieren (Bar-Oz et al. 2007). Der Hauptanteil der Fundstücke bestand aus Materialien, die nicht weiter verwertbar waren (Keramik,

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Steine, Ofenbaureste, Wandputz), während recycelbare Stoffe wie Metall und Glasscherben nahezu vollkommen fehlten. Auffällig in dieser Müllhalde war der überproportional hohe Anteil an Keramikscherben. Diese Ungleichverteilung lässt sich mit religiösen Riten erklären (Bar-Oz et al. 2007). Materialien aus Metall, Leder, Holz, Textilien oder Knochen konnten durch rituelle Wäsche (miqweh) gereinigt werden, während verunreinigte Tongefäße zerstört werden mussten. Es ist bezeichnend, dass es hier keinerlei Hinweise auf Luxusgegenstände gibt, wie z.B. wertvolles Tafelgeschirr, die auf eine Oberschicht deuten würden. Die Untersuchung der dort abgelagerten Knochen zeigt, dass nichtkoschere Tiere wie Schweine vollständig fehlen. In der Summe belegen die Befunde den bevorzugten Aufenthalt jüdischer Pilger. Somit ist nicht nur das Vorhandensein, sondern auch das Fehlen bestimmter Gegenstände in den Müllhalden Zeuge der Lebensweise der jeweiligen Kulturen. Die Tradition des sorgfältigen Umgangs mit Wasser führten die Römer weiter, wodurch sich der Auf bau des Abwassersystems zunehmend komplexer gestaltete (Lofrano/ Brown 2010). Im antiken Rom wohnte nahezu eine Million Menschen. Die Entsorgung des häuslichen Abfalls sowie Exkremente übernahm großteils die Kanalisation und damit die Cloaca maxima, die in den Tiber führte (Jones 1967; Taylor 2005). Es war auch üblich, die festen Abfälle in Tonkrügen bzw. Latrinen zu sammeln. Die Entleerung besorgten die sogenannten »Goldgräber« und lagerten den Inhalt außerhalb der Stadt ab (Knoll 1998: 13). Urin, gesondert in Tonkrügen gesammelt, war im vergorenen Zustand das Waschmittel jener Zeit. Der Spruch »Geld stinkt nicht« stammt daher, dass die Wäscher um Steuererlass baten, weil ihr Waschmittel so elend stinke. Cäsar lehnte dieses Gesuch ab, indem er an einer Münze roch und äußerte: »pecunia non olet«. Die Betrachtung dieses Zeitabschnitts zeigt, dass die zunehmende Sesshaftigkeit und Bevölkerungsdichte eine effektive Regelung des Umgangs mit Abfall erforderte, die wiederum zur Entwicklung von – auch aus heutiger Sicht – sehr fortschrittlichen Entsorgungssystemen führte. Die Einführung von Normen für den Umgang mit Abfall lässt sich allerdings nur teilweise anhand der Befunde rekonstruieren. Die wenigen erhalten gebliebenen Hygienevorschriften entsprechen nach Knoll (1998:  12) durchaus auch den noch heute geltenden Anforderungen, sind jedoch mit Sicherheit im jeweiligen kulturellen Kontext zu sehen. Die Einhaltung von Reinheit war vorrangig religiös begründet. In der Praxis erfolgte die Umsetzung von Abfallregelungen lokal sehr unterschiedlich, Missstände waren häufig gravierend wie am Beispiel Roms dokumentiert. Schon damals zeigte sich damit die Fragilität der Balance zwischen Wirtschaftswachstum und gesellschaftlichem Umgang mit Abfällen.

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3. M it tel alter und N euzeit Das Mittelalter war eine Zeit des Umbruchs: Die Revolutionierung der Landwirtschaft, der Einsatz von Wasserkraft im 8. Jahrhundert und Windkraft ab dem 10. Jahrhundert prägten diese Zeit maßgeblich. Auch fand während dieser Zeitspanne vom Frühmittelalter bis zur industriellen Revolution in Europa eine Neuorientierung statt: Alte Traditionen wurden gemäß dem Slogen »Man and nature are two things, and man is master« (White 1967) außer Kraft gesetzt. Dies hatte weitreichende Folgen für die Praktiken und Normen der Abfallentsorgung. Mit dem Zusammenbruch des Römischen Reichs ging in Europa das Wissen über den Umgang mit Abwasser verloren. Die Abwassersysteme, die die Römer vielerorts eingeführt hatten, gerieten in Vergessenheit. Im Umgang mit Abfall trat ebenfalls eine Kehrtwende ein (Knoll 1998: 13). Unrat in jeglicher Form und Konsistenz wurde in Städten unmittelbar auf die Straße beseitigt. Der Entsorgungsweg führte direkt aus dem Fenster auf die Straße. Aus dieser Zeit stammt auch die Gepflogenheit, dass Herren auf der Seite nahe zur Straßenmitte marschierten, um die Damen vor dem Unrat, der aus den höheren Stockwerken entsorgt wurde, zu schützen (Cooper 2001: 13). Insbesondere nachts waren Bürger auf den Straßen durch das Entleeren eines Nachtopfs gefährdet. Es wird berichtet, dass in London 1290/1291 John de Abyndon auf diese Art zu Tode kam (Taylor 2005). Dokumente mit den darin festgelegten Regelungen bezeugen, dass in Städten, Burgen und Klöstern der Kampf zwischen ungeregelter Ablagerung und geordneter Entsorgung ein alltägliches Problem darstellte. Mit dem Wachsen der Städte entwickelte sich beispielsweise die noch übliche Tierhaltung innerhalb der Stadtmauern zunehmend zum Problem (Isenmann 2014: 467ff.). Das Wissen um Sauberkeit der Gewässer war theoretisch vorhanden. Trotzdem brauchte es ausdrückliche Hinweise, dass Hausmüll oder Kehricht ebenso wie Steine und Bauschutt außerhalb der Gewässer zu deponieren wären (Isenmann 2014: 466ff.). Der Anteil an Verwertbarem in gewerblichen oder häuslichen Abfällen war aufgrund der hohen Rohstoffpreise und Produktionskosten insgesamt sehr gering: Textilien, Metallgegenstände, aber auch Küchenabfälle fanden bereits am Ort des Anfalls ihre Abnehmer. Fäkalien fanden zum Teil als »night soil« Abnehmer bei den Bauern, die damit ihre Felder düngten (Keller 2009: 76; Lofrano/Brown 2010). Außerhalb der jeweiligen Grenzen befanden sich die Müllhalden für die nicht verwertbaren Reste, wie Bauschutt aller Art neben Hausrat, Kot und Mist (Keller 1998: 32). Ebenso wurden Gruben und Vertiefungen im Gelände damit verfüllt. Der nachlässige Umgang mit Müll und die damit verbundenen Missstände waren bis in die Neuzeit Usus. Insbesondere in den Großstädten änderte sich der Umgang mit Abfall nur zögerlich. Die Bevölkerungsexplosion und Wucherungen eines planlosen Städtebaus überforderten

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die Stadtverwaltungen. Die unkontrollierte Anhäufung von Abfall hatte zur Folge, dass die Bevölkerung den eigenen Lebensraum innerhalb kürzester Zeit massiv verschmutzte und so die Voraussetzung für das wiederholte Auftreten von Seuchen schuf (White 1967). Mehrere Hunderttausend Menschen starben an verschiedenen Seuchen, bevor diese Art der Abfallentsorgung als verursachendes Hauptproblem erkannt wurde. Ein allgemeines Hygienebewusstsein entwickelte sich im Laufe des 18. Jahrhunderts nur zögerlich (Rosen 1993: 118). Erst die großen Cholera Epidemien – in Deutschland war auch der Philosoph Hegel unter den Opfern – bewirkten eine Bewusstseinsänderung. In England war der »Public Health Act« von 1848 der erste Schritt zur Verbesserung der hygienischen Bedingungen. Es entstanden Abwasserbeseitigungssysteme mit ersten Kanalisationen und Rieselfeldern – wohlgemerkt zu einem Zeitpunkt, als die Ursachen der Seuchen noch nicht bekannt und die Hygieniker darüber noch zerstritten waren. Abfallentsorgung der Haushalte war in dieser Zeit grundsätzlich Privatangelegenheit. Verordnungen regelten die Reinerhaltung von Wasser, Luft und Straßen. In der Praxis zeigten sich jedoch diese Maßnahmen als unbefriedigend. Sie spiegelten die Ungleichheit zwischen den sozialen Gruppen wider. Mit dem Entstehen des Bürgertums wurde Sauberkeit und Ordnung ein Leitbild (Keller 2009: 74). Doch während sich die Reichen ein privates Konzept von Abfallentsorgung leisten konnten, entledigten sich die Armen ihrer Exkremente und ihres Mülls, wo es nur ging (Geels 2006). Vereinzelt übernahmen ab dem 16. Jahrhundert die Stadtverwaltungen die Verantwortung für die Sauberkeit der Straßen und Häuser. Aus den Ansätzen einer kommunalen Müllentsorgungsinfrastruktur entwickelten sich die ersten Entsorgungsbranchen (Keller 1998: 41). Diese Aufgaben übernahmen Personen vom Rande der Gesellschaft, beispielsweise Tierkörperbeseitiger, Gefangene oder Henker. Erst im Zeichen medizinischer und sozialer Hygiene änderten sich die Praktiken im Umgang mit Abfällen und Schmutz. Neue Normen konnten durchgesetzt werden. In Deutschland ist dies mit den Namen Max von Pettenkofer und Robert Koch verbunden, die in München das erste Hygieneinstitut auf bauten und leiteten (Exner/Kramer 2012).

4. I ndustrialisierung und M üllnotstand – die G eburtsstunde der geordne ten D eponie Die neuen landwirtschaftlichen Errungenschaften des 18. Jahrhunderts erforderten moderne Technik und moderne Metallurgie. Der Fortschritt im Bereich der Naturwissenschaften und im Ingenieurwesen des 19. Jahrhunderts erfasste jedoch den Umgang mit Abfall nur bedingt. Zur Bekämpfung der Seuchen wurden 1885 in New York und 1886 in England die ersten städtischen Müllver-

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brennungsanlagen gebaut. In Hamburg entstand 1894 die erste Müllverbrennungsanlage Deutschlands. Neben der Verminderung des Abfallvolumens war die Gewährleistung von Hygiene ein wesentliches Ziel. Auch das unkontrollierte Durchsuchen des Mülls nach Verwertbarem sollte so beendet werden (Keller 2009: 76). Während um 1900 in England 121 Müllverbrennungsanlagen betrieben wurden, gab es in Deutschland nur 10. Die zögerliche Umsetzung der neuen Technologie war auf den geringen Brennwert des Abfalls zurückzuführen. Beispielsweise bestand noch Mitte der 1930er Jahre Müll aus 75 % Braunkohleasche, 15 % Küchenabfällen und 10 % sogenannten »Sperrstoffen« sowie aus ausrangierten Gebrauchsgegenständen, Blech, Glas und Papier (Köstering 2003: 144). Insbesondere der hohe Gehalt an Braunkohleasche hatte zur Folge, dass der Kehricht nicht immer selbstständig brannte. Die Müllverbrennung kam auch nach dem Zweiten Weltkrieg nur zögerlich zum Einsatz. In Bayern nahm die erste Müllverbrennungsanlage erst 1963 in Rosenheim ihren Betrieb auf. Allerdings war damals diese Form der Abfallbeseitigung noch unwirtschaftlich. Der geringe Brennwert des Abfalls stellte ein zentrales Problem der Müllverbrennung dar. Zudem verstärkten Diskussionen zur Luftbelastung sowie Dioxinemissionen den Widerstand in der Bevölkerung gegen solche Anlagen. Die Abtrennung verwertbarer Fraktionen von Müll war während der Anfänge der Industrialisierung noch üblich. Müllsortierungen nach amerikanischem Vorbild entstanden um 1900 in den verschiedenen Gemeinden wie Charlottenburg bei Berlin oder Puchheim bei München. Zum Teil zeigten sich hier schon die Ansätze einer professionellen Organisation der Mülltrennung (Hösel 1998; Keller 2009: 79). Die Situation verschärfte sich während des Zweiten Weltkrieges. Bedingt durch die Knappheit der Rohstoffe war die Weiterverwendung von Abfall für die Kriegswirtschaft essentiell und wurde daher vom nationalsozialistischen Regime administrativ gesteuert (Keller 2009: 72). Nach dem Krieg wuchsen in den weitgehend zerstörten Großstädten Trümmerberge aus Bauschutt. Bekannt sind zum Beispiel der Teufelsberg in Berlin, der 50 Meter hohe Olympiaberg in München sowie die »Monte Scherbelinos« in Frankfurt, Stuttgart und vielen weiteren Städten der Bundesrepublik. Teilweise führte man diese als ungesicherte Müllhalden weiter. Mit dem Wachstum der wirtschaftlichen Leistungen und damit der Vielfalt an Produktionen in den verschiedensten Bereichen nahm auch der Verbrauch von Energie und natürlichen Ressourcen vehement zu. Hand in Hand damit wuchsen die Abfallmengen – in Form von Halden, Müllbergen und unbehandelten Abwässern. Während 1972 in Deutschland nur 279 kg Müll pro Einwohner und Jahr anfiel, stiegen die Abfallmengen 1988 auf mehr als 450 kg pro Kopf. Mit der Verbreitung der industriellen Güter änderte sich zwangsläufig die Zusammensetzung der Haushaltsabfälle. Der Anteil an voluminösem Verpackungsmaterial nahm

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drastisch zu. Der Werbeslogan »Ex und Hopp« spiegelte die soziokulturelle Praxis des Konsums (Keller 2009: 75). Es war die Zeit, in der Vance Packard mit seinem Buch The Waste Makers (1960) die große Verschwendung in der US-amerikanischen Gesellschaft und Wirtschaft anprangerte. Die Haltung in den Industrienationen beschreibt White (1967) so: »We are superior to nature, contemptuous of it, willing to use it for our slightest whim«. Dies korrespondiert mit dem Fazit von Köstering und Rüb (2002: 168ff.), dass ein Umweltbewusstsein – eine Gleichstellung des Schutzes der Natur mit den Interessen des Menschen – fehlte. In dieser Zeit wurden lediglich 2 % des Abfalls kompostiert. Mit dem Bau von Kläranlagen wuchsen die Abfallberge zusätzlich. Typisch für diese Nachkriegszeit sind – wie gesagt – zahllose ungesicherte Müllkippen, die »wild« in der Landschaft entstanden. Deren Anzahl wird in Deutschland auf ca. 85.000 geschätzt. Sie verfügten überwiegend über eine Größe bis 50.000 m³. Es gab keine gesetzliche Regelung und die Verantwortung lag in den Händen der Gemeinden. Eine Untersuchung der Altablagerungen in Schleswig-Holstein zeigt, dass die meisten Müllkippen im Zeitraum zwischen 1950 und 1960 entstanden sind. Lediglich 10 % der bekannten Deponien stammen aus der Zeit vor 1945 (Klein/Grube 1999). Allein in Schleswig-Holstein waren 2.300 Standorte mit einer Gesamtmenge von etwa 80 Millionen m³ Müll bekannt. 50  % dieser Standorte waren klein und enthielten weniger als 10.000 m³ Abfall. In lediglich 14 % der Müllkippen wurde mehr als 100.000 m³ Abfall abgelagert. Sie entstanden meist in der Nähe der jeweiligen Gemeinden, durch Verfüllung von Kiesgruben, auf landwirtschaftlichen Ruderalflächen, in Wäldern und in Kleingewässern bzw. Feuchtgebieten. In der Regel waren die wenigen Deponien mit mehr als einer Million m³ Müll tendenziell höher belastet (Klein/Grube 1999). »Wilde« Ablagerungen der zum Teil beachtlichen Abfallmengen im Gelände ohne Schutzmaßnahmen führten zu massiven Beschwerden der Bevölkerung. Hösel schreibt hierzu: »Diese wilden und ungeordneten Müllplätze stellten auch ein die Gesundheit von Mensch und Tier bedrohendes Reservoir von Krankheitserregern, Schädlingen und Lästlingen dar. In einzelnen Fällen konnte in der Umgebung von Müllplätzen noch in zwei Kilometer Entfernung eine davon ausgehende Rattenplage nachgewiesen werden« (Hösel 1998: 192f.). Die in den 1960er Jahren auf Bundesebene gebildete »Länderarbeitsgemeinschaft Abfall (LAGA)« als Arbeitsgremium der Umweltministerkonferenz stellte einen möglichst ländereinheitlichen Vollzug des Abfallrechts sicher. Die »Zentrale Koordinierungsstelle Abfall« (ZKS-Abfall) bekam die Aufgabe, die Abfallentsorgung zu organisieren: Müll wurde zunehmend sortiert, gefährliche Abfälle und Produktionsabfälle aus der Industrie vom Hausmüll getrennt und auf Sondermülldeponien entsorgt. Ein Deponiemerkblatt regelte die technischen Kriterien für den Bau und Betrieb der Deponien, das Zeitalter der modernen Deponien begann (Stief 2005). Das erste Abfallgesetz des Bundes

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(Abfallbeseitigungsgesetz – AfG) von 1972 führte sukzessive zur Schließung der »wilden« Müllhalden. Einige ausgewählte zentrale Deponien ließen sich mit verbesserter Technik unter der Trägerschaft der Kreise, kreisfreien Städte und Zweckverbände weiterführen. Die neue Abfallpolitik mit ordnungsrechtlichen Gesichtspunkten orientierte sich am »Verursacherprinzip« oder PolluterPays-Principle (PPP). Wirtschaftliche und organisatorische Gründe führten zu einer starken Zentralisierung und damit zwangsläufig zu größeren Deponien mit bis deutlich über einer Million m³ Deponievolumen im Endausbau. Dies bedeutete aber auch zugleich höhere Emissionen. Der Schwerpunkt der neuen Rechtsnormen lag hierbei noch – wie der Name des Gesetzes schon sagt – in der Beseitigung von Abfall. Eine der neuen Maßnahmen war die Einführung der Abfallnachweis- und -beförderungsverordnung im Jahr 1974, die eine ordnungsgemäße Beförderung und Entsorgung nachweispflichtiger Abfälle in einer Abfallentsorgungsanlage sicherstellen sollte. Die Abfallmenge stieg zwischen 1975 und 1990 um 75 %. 1982 waren Deponieflächen noch reichlich vorhanden. Hochrechnungen aus dieser Zeit ergaben jedoch, dass im Jahr 2000 nur noch 10 % der Deponieflächen in Bayern benutzbar wären (Keller 2009: 81). Mit dem Übergang des alten Deponiesystems in ein neues mussten in den 1970er und 1980er Jahren neue Deponiestandorte gesucht und ausgebaut werden. Die Beeinträchtigungen der Lebensqualität durch die mittlerweile größeren Deponien und deren Emissionen – vor allem Gerüche – führten in der Bevölkerung zu erheblichem Widerstand. Neue Standorte waren kaum mehr durchsetzbar, die Zulassungsverfahren dauerten zehn und mehr Jahre. Da praktisch keine Entsorgungskapazitäten mehr zur Verfügung standen, kam es zu einem Abfallnotstand. Die Stadt München hatte zeitweise eine Entsorgungskapazität, die nur noch für wenige Tage ausreichte. Die Novellierung des Abfallbeseitigungsgesetzes im Jahre 1986 führte zu einem Paradigmenwechsel im Umgang mit Abfall. Die integrierte Abfallentsorgung stellte drei Forderungen auf: 1. Vermeidung von Abfällen vor 2. stofflicher und thermischer Verwertung, vor 3. Deponierung von Abfällen. Der Schwerpunkt lag in Maßnahmen der Verwertung von Verpackungsmaterialien wie Glas, Pappe, Papier, Weißblech und Aluminium. Die Einführung des »Dualen Systems« sollte diese Entwicklung weiter fördern. Während 1990 lediglich 13,5 % der insgesamt 39 Millionen Tonnen Siedlungsabfall verwertet wurden, lag dieser Anteil 2004 bei 58 % von 43 Millionen Tonnen Siedlungsabfall – Tendenz leicht steigend (Jaron/Bauer 2011). Dabei ist zu beachten, dass Siedlungsabfall im Durchschnitt nur 15  % des gesamten Abfallaufkommens darstellte. Regelwerke legten den Umgang mit größeren Abfallgruppen, wie Bau- und Abbruchabfällen, Altholz, Altfahrzeuge, Bioabfälle oder Klärschlamm fest. Alte Müllkippen wurden zunehmend saniert und rekultiviert; für die Vorgehensweise bei der Sanierung war das LAGA-Merkblatt »Die geordnete Ablagerung von Abfällen« vom 1.9.1979 gültig. Parallel hierzu wurden bis zur

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Jahrtausendwende immer wieder Altablagerungen in Betrieben und Industrieanlagen aufgedeckt. Als Beispiel für große Umweltskandale steht die Chemische Fabrik Marktredwitz (CFM). Hier führte die Jahrzehnte lange Ablagerung von Quecksilber auf dem Betriebsgelände zu starker Belastung von Erdreich und Gewässern. Diese Missstände hatten zur Konsequenz, dass das Deponieren spezieller, wie z.B. chemischer Abfälle, zunehmend kritischen Beobachtungen ausgesetzt war. Mit der Konzentration der Abfälle auf wenige und damit größere Standorte gingen aber auch immer lautere Forderungen nach der Gewährleistung von Sicherheit einher. Das bereits erwähnte »Deponiemerkblatt« sorgte immerhin dafür, dass man neue »geordnete Deponien« oder Deponieabschnitte nur noch auf »naturdichten« Standorten und solchen mit mineralischen Basisabdichtungen, jeweils mit Sickerwasserableitung ausgestattet, anlegte. Diese Vorgaben galten auch bald für Hausmülldeponien. Erste »Reststoffdeponien« mit Aktiventgasung und Gasverwertung nahm man in Bayern ab 1982 in Betrieb. Nach Stief (2005) »begann ein ›goldener‹ Zeitabschnitt für Ingenieure, Hersteller und Anbieter von Abdichtungsmaterialien, […] von Anlagen zur Sickerwasserbehandlung sowie zur Deponieentgasung und Deponiegasverwertung, für Baufirmen und für Beschäftigte im öffentlichen Dienst auf dem Sektor Deponie.« Deponien wandelten sich zu bautechnischen Großanlagen, für deren Umsetzung ein Planfeststellungsverfahren nach dem Abfallrecht notwendig war. Sicherheit hinsichtlich Emissionen bot die Umsetzung von Konzepten mit einem Multibarrierensystem. Folgende Maßnahmen stellen jeweils eine Barriere dar: 1) Qualität des Abfalls, 2) Standortwahl nach geologischen und hydrogeologischen Gesichtspunkten, 3) der technische Auf bau der Deponie, 4) eine Basisabdichtung und eine Sickerwasserbehandlung zur Verhinderung der Verunreinigung des Grundwassers durch austretende Sickerwässer, 5) eine Oberflächenabdichtung, damit weder Regenwasser nach innen noch Deponiegas unkontrolliert nach außen gelangen kann, und 6) die Nachsorge und die Möglichkeit einer Reparatur nach Abschluss der Verfüllung. Einen bedeutenden Meilenstein für die Weiterentwicklung der Deponietechnik stellten die Verwaltungsvorschriften TA Abfall (1990) sowie TA Siedlungsabfall (1993) dar. Mit einer Übergangsfrist von 12 Jahren wurde damit erstmals festgelegt, wie Abfälle beschaffen sein müssen, um sie überhaupt auf den »Reaktordeponien« ablagern zu dürfen. Dies war weltweit ein Novum. 1995 trat das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz (KrW-/AbfG) in Kraft. Darin fand die Produktverantwortung, eigentlich im Gewerbe- oder Industrierecht erwartet, ihre Verankerung im Abfallrecht. Eine ganzheitliche Stoffstrombetrachtung rückte in den Vordergrund, innerhalb derer Abfall einen Teilstrom darstellt. Zahlreiche weitere Verordnungen und Verwaltungsvorschriften machten diese neue Betrachtungsweise operabel. So regelte z.B. die Verordnung zum Europäischen Abfallverzeichnis (AVV) von 2001 erstmals

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die Benennung der Abfälle nach Herkunft. Weitere Rechtsnormen, wie die Nachweisverordnung (2006), trugen zur effizienteren Überwachung der Abfallströme bei. Die getrennte Sammlung zur besseren Verwertung erfuhr zunehmend Breitenwirkung. Mit den dualen Systemen zur Erfassung von Verpackungen sollte neben der Verwertung auch ein Schub hin zur Abfallvermeidung erreicht werden. Die Einführung einer Biotonne sowie einer Wertstofftonne in bestimmten Regionen bzw. Kommunen, aber auch mit der getrennten Erfassung von Elektronikschrott, Textilien und speziellen schadstoff haltigen Abfällen förderte das Recycling weiter und trug damit zu einer weiteren Verminderung der zu deponierenden Abfallmenge bei. Der massive Umschwung in der Deponietechnik erfolgte spätestens ab dem 1.6.2005: Zur Vermeidung von Deponiegasbildung durften ab diesem Stichtag Abfälle nur noch geringe organische Anteile enthalten, um die Kriterien einer »Inertdeponie« zu erfüllen. Dies erforderte grundsätzlich eine Vorbehandlung der Siedlungsabfälle – eine bisher weltweit einzigartige Entwicklung. Hausmüll wurde von da an vor einer Deponierung in Bayern zu 98 % thermisch und in anderen Bundesländern teilweise auch mechanischbiologisch behandelt. Eine EU-Richtlinie umsetzend entstanden fünf unterschiedliche Deponieklassen, die in der Deponieverordnung (DepV 2009) geregelt sind. Als Kriterien dienen neben dem Schadstoffgehalt des Abfalls der organische Anteil und die Schadstofffreisetzung im Auslaugversuch: Deponieklasse 0 (für Inertabfälle mit geringer Belastung), Deponieklasse I (für nicht gefährliche Abfälle mit sehr geringem organischem Anteil), Deponieklasse II (für nicht gefährliche Abfälle mit geringem organischem Anteil), Deponieklasse III (für gefährliche Abfälle) und Deponieklasse IV (Untertagedeponie für besonders gefährlicher Stoffe). Die hier dargestellten Entwicklungsstufen zeigen den Wandel der Wahrnehmung von Müll in der Nachkriegszeit als gesamtgesellschaftliches Problem, das die Medien sehr bald mit drastischen Schlagwörtern thematisierten. Auf der einen Seite kritisierte man das Konsumverhalten der Menschen und forderte von der Politik ein korrektives Eingreifen. Auf der anderen Seite lehnte man korrigierende Maßnahmen als dirigistische Eingriffe in die Marktwirtschaft und den Wettbewerb ab. Dennoch wurde die Forderung nach End-ofPipe-Lösungen immer lauter (Keller 2009: 107). Das Abfallwirtschaftsprogramm der Bundesregierung (AWP) vom 1.10.1975 vollzog den Übergang von der traditionellen Form der Abfallbeseitigung zur »echten Abfallwirtschaft«. Fachleute aus Verwaltung, Wirtschaft und Wissenschaft sollten gezielt zusammenarbeiten, um Sonderabfallmengen zu reduzieren, Abfallvermeidung und -verwertung zu steigern und eine ordnungsgemäße Deponierung zu gewährleisten. Abfallentsorgung und damit das Deponieren von Abfällen wurde durch Gesetze, Verwaltungsverordnungen, Technische Richtlinien, Anleitungen, Empfehlungen und Merkblätter regu-

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liert. In den 1980er Jahren vollzog sich ein Wandel von der Abfallbeseitigung zur Abfallverwertung. Das Abfallgesetz (AbfG) unterstrich die Bedeutung der Gewinnung von Stoffen und Energie aus Abfällen. Abfallverwertung entwickelte sich so zu einem zentralen Baustein der Abfallentsorgung, bei der sich die Verantwortung zunehmend in die Privatwirtschaft verlagerte. Die steigenden Entsorgungskosten entfalteten eine unmittelbare Wirkung und machten eine Verwertung als »Wertstoff« in eigenen Anlagen oder durch Dritte attraktiv (Ormond 1998). Hierzu gehörten auch Maßnahmen wie der sogenannte »Bergversatz« oder die »Rekultivierung« von Kies- und Tongruben mit belasteten Mineralstoffen. Die Müllverbrennungsanlagen, gerade wegen Dioxinemissionen als »Giftschleudern« in Verruf geraten, kamen aufgrund der Entwicklung der Feuerungs-, Luftreinhaltungs- und Überwachungstechnik zunehmend als Alternative in Betracht. Verbrennung war jedoch immer noch nachrangig: 1994 verbrannte man etwa ein Fünftel des Hausmülls, während der Rest weiterhin auf die Deponie kam. Die Steigerung der Effizienz von Müllverbrennungsanlagen hob die hochkalorische Fraktion von Hausmüll zum Ersatzbrennstoff als Energieträger und steigerte damit seinen Stellenwert in der Abfallhierarchie. Dies spiegelt sich in der Änderung der Begrifflichkeit wider: Aus Müllverbrennungsanlagen wurden alternativ »Waste-to-Energy-Anlagen« (WtE-Anlagen) bzw. »Müllheizkraftwerke« (MHKW).

5. E ine Z ukunf t ohne D eponie ? Die allgemeine Definition des Begriffs »Deponie« ist vergleichsweise einfach. Nach der mittlerweile durch die Deponieverordnung (DepV) ersetzten Abfallablagerungsverordnung (AbfAblV) wird unter einer Deponie eine Abfallbeseitigungsanlage für die Ablagerung von Abfällen oberhalb der Erdoberfläche (oberirdische Deponie) verstanden. Mit »Untertagedeponie« ist die Ablagerung unterhalb der Erdoberfläche gemeint. Es existieren zwar nationale, regionale und internationale Regelungssysteme, dennoch weichen Deponien in der Praxis stark voneinander ab. In der Praxis sind sie von Region zu Region und von Land zu Land sehr unterschiedlich (Rettenberger, 2010): Eine Deponie kann ein Volumen   20 Millionen m3 umfassen, ihre Fläche kann < 1 ha sein oder mehr als 100 ha betragen, eine Höhe von 1-2 Meter oder bis zu 100 Metern erreichen. Die Deponie kann als Halde geschüttet sein (Haldendeponie), innerhalb einer von Mineralstoffen oder Kohle ausgebeuteten Grube (Grubendeponie) oder untertage – z.B. in ehemaligen Bergwerken – betrieben werden. Sie kann oberhalb oder unterhalb des natürlichen Grundwasserspiegels angelegt sein. Die Ausstattung mit Anlagen zur Erfassung von Sickerwasser und Deponiegas oder Abdichtungs-(Barrieren-)

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Systemen kann sehr unterschiedlich sein und, je nach Land, sogar fehlen. Es können verschiedenste Abfallarten inklusive Industrie- und Krankenhausabfälle abgelagert oder nur ausgewählte, gegebenenfalls vorbehandelte Abfälle akzeptiert werden. Auch die Ablagerung des Abfalls kann sehr unterschiedlich erfolgen. Mögliche Varianten sind: lose deponiert, zu Ballen gepresst und aufgestapelt (Ballendeponie), sofort nach der Anlieferung mit speziellen Maschinen möglichst hoch verdichtet und aufgeschichtet (Verdichtungsdeponie) oder in Mieten gerottet und im Anschluss deponiert (Rottedeponie). Eine weitere Variante ist, belasteten Industrieabfall vor der Deponierung mit Zement zu verfestigen oder mit Beton zu umhüllen. Zum Teil übernehmen an Stelle technischer Anlagen sogenannte »Müllpicker«, »Müllsammler«, »Scavanger« oder »Reclaimer« die Aussortierung des Abfalls. Ein Abdecken der Fläche während des Betriebs verhindert das Eindringen von Regenwasser und reduziert damit das Sickerwasser. In Europa existierte lange Zeit kein einheitlicher Stand der Technik. Erst im Jahr 2002 wurde eine gewisse Vereinheitlichung durch den Erlass der EU-Deponierichtlinie erreicht. Die im zeitlichen Wandel veränderte Bewusstseinslage zeigt sehr eindrücklich die Deponie Georgswerder in Hamburg: In den Nachkriegsjahren – nach der Ablagerung von Trümmerschutt – wurden auf dem Gelände Abfälle und Hausmüll deponiert. Es entstand auf einer Fläche von ca. 45 ha ein Deponieberg mit 40 m Höhe und einem Müllvolumen von ca. 7 Millionen m³. Die von 1967 bis 1979 dorthin verbrachten zusätzlichen Industrieabfälle bestanden vorzugsweise aus organischen Sonderabfällen: ca. 150.000 m³ flüssig und ca. 100.000 Fässer mit pastösen und festen Abfällen (Schnittger 2001). Nach der Stilllegung wurden hohe Belastungen – u.a. auch durch Dioxin und das Pflanzenschutzmittel Parathion (E 605) – im Sickerwasser der Deponie festgestellt. Um eine weitere Belastung des Grundwassers zu verhindern, erarbeitete man ab 1985 ein Sanierungskonzept. Die Kosten für die grundlegende Sanierung betrugen um die 90 Millionen Euro, die Nachsorgekosten beliefen sich auf 200.000 Euro pro Jahr (Melchior 2004). Nach 1995 wurde der Ausbau dieser ehemaligen Deponie zum »Energieberg Georgswerder« vorangetrieben – mit Windpark und Fotovoltaikanlage. Einen weiteren spektakulären Fall stellt aktuell die mitten in einem Wohngebiet liegende Deponie Kölliken in der Schweiz dar, die mit großem Aufwand saniert wird. Von 1978 bis 1985 diente sie als Deponie u.a. für Sonderabfälle (Bernard et al. 2012). Die Sanierungskosten betragen mehr als 900 Millionen Schweizer Franken. Besteht ein Bedarf an Deponien? Nach den Daten des Statistischen Bundesamtes gab es 2012 in Deutschland 1.146 Deponien, davon 952 der Deponieklasse 0 und I. Unter Berücksichtigung von vier großen Deponien für Braunkohleaschen verfügen die restlichen Deponien noch über eine Restlaufzeit von 11-12 Jahren (Biedermann 2015). Die Anzahl der klassischen Siedlungsabfalldeponien ist deutlich zurückgegangen. Während es im Jahre 1993 noch 562

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Hausmülldeponien (Deponieklasse II) gab, reduzierte sich die Zahl bis zum Jahr 2004 auf nur noch 297 und bis heute auf etwa 160. In den letzten Jahren wurden in Deutschland keine neuen Deponien mehr errichtet. Für viele der bestehenden Deponien endete der Betrieb. Sie befinden sich zum Teil noch in der Nachsorgephase. Manche müssen aufwendig saniert werden. Im Jahr 2005 veröffentlichte das Bundesumweltministerium (BMU) den Bericht Strategie für die Zukunft der Siedlungsabfallentsorgung (Ziel 2020) (Verbücheln et al. 2005). Ziel 2020 beinhaltet: Weg von der Siedlungsmüll-Deponierung durch eine vollständige Verwertung aller Abfälle unter möglichst hochwertiger Nutzung des stofflichen oder energetischen Potenzials. Reststoffe, die während der Behandlung anfallen, sollten in einem Zustand sein, der erlaubt, dass sie umweltneutral »weggelegt« werden können. Eine »Zero-Waste-Gesellschaft« – durch Abfallvermeidung und Bewirtschaftung von Abfall als Ressource – war die Vision. Durch zahlreiche Aktivitäten im Bereich getrennte Sammlung, Recycling und Beseitigung durch Verbrennung oder mechanischbiologische Vorbehandlung war der Focus nun nicht mehr auf die Bereitstellung ausreichender Deponiekapazitäten gerichtet. Dazu trug auch das neue Kreislaufwirtschaftsgesetz (KrWG) bei, das am 1.6.2012 in Kraft trat. Dieses setzt – basierend auf EU-Vorgaben – eine neue fünfstufige Abfallhierarchie zur Abfallbewirtschaftung um: 1.  Vermeidung, 2. Vorbereitung zur Wiederverwendung, 3. Recycling, 4. sonstige Verwertung, insbesondere energetische Verwertung und Verfüllung, und 5. Beseitigung. Zur Erfüllung dieser Hierarchie hat der Gesetzgeber die Einführung einer getrennten Erfassung von Bioabfällen und von stoffgleichen Wertstoffen vorgegeben. Damit sind nunmehr organisatorische, wirtschaftliche und technische Kapazitäten gebunden. Der Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen über die »Vollständige Verwertung von Siedlungsabfällen bis zum Jahr 2020« (Deutscher Bundestag 2007a; Wagner 2007: 74) ist Folgendes zu entnehmen: »Dabei ist die – möglichst – vollständige Verwertung von Siedlungsabfällen bis zum Jahr 2020 ein Schwerpunkt, zu dem sich die Bundesregierung nach wie vor bekennt. Es geht der Bundesregierung allerdings nicht um das Erreichen einer Verwertung ›um jeden Preis‹. Wichtig ist in diesem Zusammenhang vielmehr, neben der möglichst vollständigen Verwertung auch eine möglichst effiziente Nutzung der in den Abfällen vorhandenen stofflichen und energetischen Potentiale zu erreichen und dies mit angemessenem Aufwand und möglichst geringen Kosten. Abfälle, deren Verwertung mit erheblichen Umweltbeeinträchtigungen oder erheblichem Energieverbrauch, der in keinem Verhältnis zum Nutzen steht, verbunden ist, sollen auch künftig der Beseitigung zugeführt werden« (Deutscher Bundestag 2007b: 2). Welche Abfälle werden also zukünftig deponiert werden müssen? Dies sind einerseits die Abfälle, die nicht brennbar sind bzw. einen geringen Heizwert besitzen und als inerte Abfälle bewertet werden. Hinzu kommen die Abfälle,

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deren Verwertung zu teuer käme und für die sich deshalb kein Markt fände. Abfälle, die schadstoff belastet sind, sind durch Deponierung dem Stoff kreislauf zu entziehen. Den weitaus größten Abfallstrom in Deutschland stellen die mineralischen Abfälle dar. Etwa 90  % davon (192 Millionen Tonnen im Jahr 2012) wird einer Verwertung zugeführt, der Rest deponiert. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass die Grenzen der Verwertung recht weit reichen: Beispielsweise gilt Verfüllung in Gruben oder Hohlräume Untertage als Verwertung. So geschehen im Jahre 2012 mit immerhin 20 Millionen Tonnen an Abfällen, bei denen eine schadlose Verwertung aus technischen oder wirtschaftlichen Gründen nicht möglich war. Ähnlich steht es um Aschen oder Schlacken aus thermischen Prozessen einschließlich der Verbrennung von Abfällen, Klärschlämmen oder Ersatzbrennstoffen. Rückstände aus den Müllheizkraftwerken sind aufgrund ihres Schwermetallgehalts und der Auslaugbarkeit Objekt vieler Studien (Sabbas et al. 2003). Ein großer Teil der Müllverbrennungsschlacke wird zur Oberflächengestaltung von stillgelegten Deponien oder Untertage verwertet. Im Jahre 2009 wurden 0,5 Millionen Tonnen deponiert (Biedermann 2015), weil die Akzeptanz und damit die Verwertungsmöglichkeiten dieser Verbrennungsrückstände – z.B. im Straßenbau – abnehmen. Dies trifft auch auf eine Vielzahl von mineralischen Abfällen wie beispielsweise Asbest zu. Unter dem Titel »urban mining« wird die Rückgewinnung der Schwermetalle aus den Rückständen der thermischen Abfallbehandlung intensiv untersucht. Die Auf bereitung trockener ausgetragener Müllverbrennungsschlacke wird bereits erprobt, auch wenn hier die spontane Wasserstoff bildung beim Kontakt mit Wasser als Gefahrenpotential in Kauf genommen wird (HeussAßbichler et al. 2007). Klärschlämme stellen einen weiteren Sonderfall dar. Die Zusammenführung der verschiedenen Abwässer hat zur Folge, dass mit dem Klärschlamm essentielle Elemente wie Kohlenstoff, Stickstoff und Phosphor sowie weitere Spurenelemente verloren gehen. In der Frühgeschichte gab es hervorragende Systeme, die – wie das Konzept »Terra Preta Sanitation« (TPS) – auch heute dazu beitragen könnten, eines unserer akuten Probleme – die Phosphorrückgewinnung – zu lösen und so auch menschliche Abfälle in den Stoff kreislauf zurückzuführen. Untersuchungen von Terra Preta do Indio in Gebieten Amazoniens belegen, dass die Zivilisationen in diesem Gebiet vor 7.000 Jahren ein hoch effizientes sanitäres System entwickelt hatten, um ihre Böden aufzuwerten (Factura et al. 2010). Sie verwendeten Bioabfall und Exkremente gemeinsam mit Holzkohle, um fruchtbare Böden zu gewinnen, die auch nach mehreren tausend Jahren ihre fruchtbaren Eigenschaften nicht eingebüßt haben. Der Einsatz von Kunstdünger ist in diesen Böden nach wie vor nicht erforderlich. Heute ist diese Möglichkeit jedoch nur in indigenen Regionen möglich. Den sogenannten »zivilisierten Ländern« ist sie im Allgemeinen verwehrt, da die

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Exkremente insbesondere durch Spurenverbindungen so belastet sind, dass sie als Dünger in der Landwirtschaft nicht mehr in Frage kommen. Aufgrund des hohen organischen Gehalts ist eine direkte Deponierung nicht möglich, sie müssen verbrannt werden. An einer wirtschaftlichen Rückgewinnungsmethode von Phosphor wird immer noch intensiv geforscht, bis dahin werden die Aschen auf Monodeponien gelagert. Deshalb sind neue Deponiekapazitäten erforderlich. Bedenkt man, dass die Zulassungsverfahren schnell bis zu 10 Jahre dauern können, besteht bereits jetzt konkreter Handlungsbedarf, der regional noch drängender ist. Die Erfahrungen mit aktuellen Zulassungsverfahren zeigen, dass der Widerstand der Bevölkerung gegen diese Deponien die gleiche Intensität erreichen kann, wie dies vor 15-20 Jahren bei den Siedlungsabfalldeponien der Fall war. Nicht zuletzt weist auch das deutsche Baugewerbe darauf hin, dass ohne neue Kapazitäten Arbeitsplätze gefährdet und Neubauvorhaben nicht mehr realisierbar seien und zudem die Entsorgungskosten für Bauherren extrem teuer wären. Was letztendlich wie deponiert werden kann, ist derzeit Gegenstand vieler Forschungsvorhaben. Kriterien für »final sinks« zu finden, ist eine der zentralen Aufgabe der nächsten Jahre. Maßstab hierfür können natürliche oder akzeptierte Hintergrundbelastungen sein. Wir haben in Deutschland und auch weltweit viele Deponien, die zwar abgeschlossen sind, die aber durch Deponiegas bzw. Sickerwasser erhebliche Emissionen abgeben. Diesbezüglich geht man derzeit in Deutschland von ca. 1.500 Deponien aus. Entwicklungen in den letzten Jahren zielen darauf, diese Deponien zu stabilisieren bzw. zu inertisieren, um die Emissionen zu vermindern. So kann z.B. durch das Einbringen von Luft die Vermeidung weiterer Methanemissionen und durch Infiltrieren von Wasser eine schnellere kontrollierte Auslaugung von Schadstoffen erfolgen. Verschiedene Projekte dazu sind angelaufen. Da sich die Bundesregierung davon einen erheblichen Rückgang des Treibhausgases Methan verspricht, wird die Deponiebelüftung finanziell umfangreich unterstützt (Rettenberger 2004; Heyer et al. 2014). Natürlich könnte auch eine komplette Deponie abgegraben und einer Verwertung zugeführt werden. Intensive Untersuchungen in den letzten Jahren, bei denen insbesondere das Rohstoffpotenzial im Vordergrund stand, zeigten sehr schnell, dass die stofflich und thermisch verwertbaren Anteile kaum mehr als 40 % betragen (Rettenberger 1998; Münnich et al. 2014). Der Feinmüllanteil ist meist sehr hoch und deshalb kaum zu verwerten. Aber auch die thermisch verwertbaren Fraktionen sind erheblich verschmutzt und verhindern so eine optimale Verbrennung. Die aktuell hohen Kosten können nicht durch Erlöse oder Einsparungen kompensiert werden, selbst die thermische Verwertung erfordert derzeit eine Zuzahlung. Nur in Sonderfällen – z.B. bei Sanierungen oder hohen Grundstückspreisen – mag sich ein Rückbau lohnen, ebenso bei einem beträchtlichen Anstieg der Energiepreise. Mit anderen

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Worten, die Nachsorgekosten einer Deponie sind im Grunde genommen zu gering. Inklusive Stilllegung, d.h. Bau einer Oberflächenabdichtung sowie Betrieb der technischen Maßnahmen, schlagen diese bei realen Deponien mit kaum mehr als 2-8 Euro/t Deponiegut zu Buche. Damit ist ein Deponierückbau mit Kosten von etwa 35 Euro/t nicht finanzierbar. Der an sich schöne Gedanke, alle Deponien zurückzubauen, Umweltbelastungen und insbesondere Treibhausgase zu vermeiden, Landschaften zu schonen und somit das Thema »Nachsorge« ein für alle Mal auch finanziell hinter sich zu lassen, ist wirtschaftlich nicht akzeptabel und damit politisch nicht durchsetzbar. Dies gilt ungeachtet der Tatsache, dass sich aktuell die Mehrheit der Bevölkerung aus Umweltgesichtspunkten für eine Verbrennung der Abfälle ausspricht, also bereit ist, zumindest für die nächste Zukunft diese Kosten zu tragen. Den Ansatz »Deponierückbau« fallen zu lassen, scheint nicht mehr so schrecklich zu sein. Immerhin wurden die Deponien unter der Bedingung zugelassen, dass von ihnen keine Umweltgefährdung ausgeht. Tatsächlich erscheint die Akzeptanz von Deponien auch in Deutschland unmittelbar davon abzuhängen, ob eine persönliche Betroffenheit vorliegt. Bürger begehren dagegen auf, wenn eine Deponie in ihrer unmittelbaren Nähe entstehen oder erweitert werden soll. Bei bestehenden Deponien nimmt die Akzeptanz im Laufe der Zeit zu. Nach Abschluss der Deponie ist sie so weit gegeben, dass oftmals noch nicht mal eine Sanierung gefordert wird, selbst wenn die Deponie auf einem niedrigen technischen Stand ist, z.B. über keine Basisabdichtung verfügt. Die Umweltrelevanz alleine erscheint somit nicht das entscheidende Kriterium zu sein. Daher hat auch die Weiterentwicklung der Deponietechnik politisch nicht die höchste Priorität. Entsprechend wird auch in Deutschland die Sanierung der Deponien nur schleppend angegangen. International ist das Deponiewesen gesellschaftlich eher ausgeblendet und/oder verdrängt: Hauptsache man ist nicht betroffen (»not in my backyard«) und wird finanziell nicht belastet. Allgemein ist festzustellen, dass ein gesellschaftliches Defizit besteht, wenn es darum geht, Abfallvermeidung und -entsorgung als eine gemeinsame Aufgabe zu begreifen. In der Öffentlichkeit fehlt die Wahrnehmung, dass die massiven Methanemissionen, die weltweit von Deponien noch ausgehen, in ganz erheblichem Maße zum Treibhausgaseffekt beitragen. Entsprechende effektive Maßnahmen setzen sich daher nur sehr zögerlich durch. Zwar sind die Industrieländer technisch führend, aber nach wie vor mit recht geringer Effizienz in dieser Sache. In den Schwellenund Entwicklungsländern findet die Diskussion hierzu praktisch überhaupt noch nicht statt. Es bedarf weitsichtiger politischer Vorgaben. Eine Prognose, wie sich die Deponierung als Entsorgungsmaßnahme weiter entwickeln wird, ist schwierig. Gründe zu einer pessimistischen Einschätzung sind in hohem Maße gegeben.

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Slum(scapes): Armut und mobile Erlebniswelten Eveline Dürr*

1. E inleitung Die weltweite Ausbreitung städtischer Lebensformen gilt als ein herausragendes Merkmal der Gegenwart. Seit 2008 lebt die Mehrzahl der Menschen in Städten, und Prognosen gehen davon aus, dass der Anteil der Stadtbevölkerung bis 2050 auf zwei Drittel der Weltbevölkerung ansteigen wird (UN Habitat 2010). Allerdings vollzieht sich dieser Prozess im internationalen Vergleich sehr unterschiedlich und zieht verschiedene Konsequenzen nach sich. Während in den Industrienationen Prozesse urbaner Schrumpfung zu beobachten sind, verläuft der Urbanisierungsprozess im Globalen Süden nahezu explosionsartig. Die damit einhergehenden Probleme in den Bereichen Gesundheitsversorgung, Umweltschutz und nachhaltige Ressourcennutzung manifestieren sich in besonderer Weise in als »Slums« bezeichneten, durch squatting entstandenen Stadtvierteln, die von der städtischen Infrastruktur und dem öffentlichen Versorgungssystem abgeschnitten sind. Der illegale Status dieser Stadtteile bedingt eine Unsichtbarkeit trotz weltweiter Präsenz: da sie offiziell nicht existieren, erscheinen sie auch nicht auf Stadtplänen. Der Prozess der Legalisierung und Integration von Slums in die städtische Matrix ist in der Regel äußerst mühselig und ändert am marginalisierten Status dieser Stadträume ebenso wenig wie an der Diskriminierung seiner Einwohner/innen. Ungeachtet der prekären Dokumentation dieser Stadträume gehen Schätzungen davon aus, dass gegenwärtig ca. eine Milliarde Menschen in sogenannten »Slums« leben (Moreno/Warah 2006). Jedoch sind von dieser Problematik Städte im globalen Vergleich in ganz unterschiedlicher Weise betroffen. In sogenannten »developing countries« leben etwa die Hälfte der

* | I ch möchte den Mülltrenner/innen von Mazatlán an dieser Stelle aus­d rück­lich für ihre Bereitschaft danken, an dieser Forschung mitzuwirken. Außerdem danke ich meiner Doktorandin Jeannine-Madeleine Fischer für die Durchsicht des vorliegenden Textes.

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Stadtbewohner/innen in Slums; weltweit wohnen etwa 30  % in urbanen Armutsvierteln und Schätzungen zufolge wird diese Zahl im Jahr 2020 auf 50 % ansteigen (UN Habitat 2004: 3). Die generelle, weltweite Klassifikation ganz unterschiedlicher Stadtviertel als »Slum« trägt zur Ungenauigkeit des Begriffs bei und wirft Zweifel an seinem heuristischen und epistemologischen Wert auf. Trotz zahlreicher Definitions- und Abgrenzungsversuche existiert keine einheitliche Begriffsbestimmung von Slums − gleichwohl ist diese Bezeichnung gängig. Der Begriff wird dadurch verkompliziert, dass »Slum« eine Außenbezeichnung darstellt und von den betroffenen Einwohner/innen selbst so gut wie nicht verwendet wird. Vielmehr ist festzustellen, dass die damit assoziierten Stadtviertel häufig euphemistisch klingende, beschönigte Ortsnamen besitzen, wie z.B. »smokey mountain« in der Metropole Manila. Außerdem existieren länderspezifische Bezeichnungen für »Slums« mit jeweils eigenen Konnotationen, wie »favela« in Brasilien oder »villa miseria« in Argentinien. Schließlich werden »Slum« und »Ghetto« häufig synonym verwendet (z.B. UN-Habitat 2003: 9f.), obgleich schon aus historischen Gründen zwischen beiden Begrifflichkeiten zu differenzieren ist.1 Es ist zu vermuten, dass der Ursprung der Bezeichnung »Slum« im frühen 19. Jahrhundert zu finden ist, als dieser Begriff erstmals schriftlich in James Hardy Vaux’s Vocabulary of the Flash Language fixiert und zunächst mit Gaunerei oder kriminellen Machenschaften in Verbindung gebracht wurde. Wenig später traten neben die moralischen Wertungen auch räumliche Merkmale hinzu, wie etwa Behausungen, die sich aus medizinischer Sicht nicht als Wohnraum für Menschen eigneten oder überbelegt waren (Dyos 1967: 7, 9). Stets ging mit dem Ausdruck »Slum« jedoch nicht nur die Vorstellung von sanierungsbedürftigen Stadtvierteln einher, sondern auch von defizitären sozialen Merkmalen der Bewohner/innen. Bis heute löst der diffuse Begriff – ungeachtet des Kontextes seiner Verwendung – derartige Konnotationen aus und vermittelt die untrennbare Assoziationskette von Abfall, Schmutz und Dreck, gekoppelt mit negativen normativen Zuschreibungen, die von ansteckenden Krankheiten bis hin zu Kriminalität reichen, aber auch Unordnung, Rückständigkeit, Subversion und Anomalie einschließen können. »Slums« gelten als suspekte Stadträume, die gesellschaftlichen Ordnungen und Vorstellungen von Normalität entgegenstehen. In diesen Imaginationen liegt aber auch das Potenzial einer besonderen Spannung und Anziehungskraft, die diese Stadträume seit ihrer Entstehung auszeichnen und einzigartig machen. Auch deshalb sind Slums immer wieder Gegenstand verschiedener Projekte, die von voyeuristischen, exotisierenden Expeditionen in fremde Lebenswelten über 1 | Für eine Kritik an dieser Gleichsetzung und eine ausführliche Diskussion der Begrifflichkeiten »Ghetto« und »Slum« siehe Wacquant (2006, 2008) und Jaffe (2012).

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karitative Maßnahmen bis hin zu Bestrebungen im Dienste des Humanitarismus und der Entwicklungshilfe2 reichen. Das physische/materielle Erscheinungsbild, das von mangelhaften sanitären Einrichtungen und einem offensichtlichen Problem mit der Abfallentsorgung geprägt ist, spielt bei diesen Bestrebungen eine herausragende Rolle. Slums können nicht getrennt von den vielfältigen Konnotationen des Abfalls verhandelt werden. Die perzipierte Unordnung und das Chaos, das aus Sicht von Außenstehenden in Slums zu herrschen scheint, verweist auf die Douglas’sche Definition von Schmutz, die diesen als »matter out of place« (Douglas 1966 [1984]: 36) definiert. Gerade dieses Merkmal scheint Slums inhärent zu sein. Douglas verstand Schmutz als Element einer kulturspezifischen Umweltklassifikation, als etwas, das sich am falschen Ort befindet und das daher als Störendes oder Bedrohung wahrgenommen wird. Schmutz basiert immer auf einem Klassifizierungssystem, auf Sortieren, Markieren und dem Ziehen von Grenzlinien. Verunreinigung entsteht durch Transgression, wodurch die normative Ordnung aus der Balance gebracht wird (Jaffe/Dürr 2010). Douglas sieht Schmutz primär als Konstruktion, die von einer spezifischen Sozialstruktur, einem damit in Verbindung stehenden Weltbild und von kulturellen Bedeutungszuschreibungen abhängig ist − und eben nicht als universelle Kategorie. In dieser Perspektive transformiert sich Verunreinigung zur moralischen Symbolik und ist mehr als ein hygienisches Phänomen. Diese grundlegenden Einsichten werden durch die gegenwärtige Theoriediskussion erweitert und teilweise neu gedacht. Abfall wird nicht mehr nur als symbolisch, passiv und dinglich konzipiert, sondern als ein mit Handlungsmacht ausgestattetes Phänomen. Abfall entfaltet diese Kraft jedoch nicht in isoliertem Raum, sondern er ist vielmehr Teil eines weitgefächerten, heterogenen und dynamischen Netzwerkes, das neben Diskursen, Praxen und moralischen Zuschreibungen auch Akteursgruppen und Interessen verbindet. Im Sinne Bruno Latours (2008, 2010) kann Abfall als »mediator« verstanden werden, d.h. er ist nicht länger auf eine untätige Materie zu reduzieren, die es zu beseitigen gilt, sondern Abfall gilt als vermittelnd und strukturierend für die Interaktionen, in die er verwoben ist. Dies geschieht auch durch die spezifischen materiellen, symbolischen, sozialen und praxeologischen Dimensionen, die Abfall inhärent sind. Die spezifische Materialität des Abfalls, die in diesen Netzen wirkt, ist an eine zeitliche Dimension gebunden. Abfall kann sich im Laufe der Zeit enorm verändern: Er wird kompostiert, verrottet, beginnt zu stinken oder auch nicht. Neben diesen sensorischen Eigenschaften äußerst sich die Materialität des Abfalls auch in ganz anderer Form, z.B. mittels Pamphleten und Dokumenten, 2 | Ich verwende bewusst das antiquierte Wort »Entwicklungshilfe« und nicht den »politisch korrekten« Ausdruck »partnerschaftliche Entwicklungszusammenarbeit«, da ich diesen für einen Euphemismus halte.

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die über seine Charakteristika aufklären und den »richtigen« Umgang mit ihm erläutern. In diesem Zusammenhang treten semantische und diskursive Dimensionen hinzu. Denn auch die Art und Weise, wie über Abfall gesprochen wird, trägt zu seiner Konstruktion, Wahrnehmung, Klassifizierung und nicht zuletzt auch zu seiner Weiterverarbeitung und Wieder-Inwertsetzung – etwa durch upcycling oder re-cycling – bei. Abfall besitzt auch eine geografische und räumliche Dimension, was bereits in der Douglas’schen Definition angelegt ist. Denn Abfall wird nicht an allen Orten in gleicher Weise als gravierend oder störend wahrgenommen. Außerdem ist er vor dem Hintergrund der massiven Müllverschiebungen, insbesondere vom Globalen Norden, wo er im Wesentlichen produziert wird, in den Globalen Süden, wo er »entsorgt« werden soll, extrem mobil geworden. Darüber hinaus besitzt Abfall auch eine psychologische, somatische, moralische und ästhetische Kraft und kann sowohl Ekel als auch Affinität und Neugier evozieren. Diese Aspekte haben Eingang in aktuelle Forschungen gefunden, die Abfall als globale Erscheinungsform sowie als historisches, soziales, kulturelles und kognitives Phänomen konzeptualisieren, kontextgebunden analysieren, zuweilen in eine Gesellschaftskritik einbauen und dabei zugleich die Grenzen gängiger Definitionen und Verständnisse ausloten (Grassmuck/Unverzagt 1991; Nebelung/Pick 2003). Eine historische Perspektive zeigt, dass Abfall zunächst als spezifisch urbanes Problem gedeutet und mit Industrialisierung und Urbanisierung in einem Atemzug genannt wurde. Ebenso besitzt die Verquickung von materiellen und sozialen Charakteristika verarmter Stadtteile und deren ambivalente Wirkkraft, die zwischen Abstoßung und Anziehung oszilliert, eine tiefe historische Dimension und hat sich seit der Entstehung von Slums nur wenig geändert. Vielmehr sind gesellschaftliche Diskurse, Wahrnehmungen und Klassifizierungen überraschend konstant geblieben und scheinen sich als Wahrheiten im öffentlichen Meinungsbild verfestigt zu haben. Auch die Vielzahl kritischer sozial- und kulturwissenschaftlicher Studien, die für eine differenzierte Betrachtung von Slums plädieren bzw. sogar eine Abschaffung dieser umstrittenen Begrifflichkeit fordern (Gilbert 2007), finden in der öffentlichen Wahrnehmung nur zögerlich ein Echo. Die Gründe dafür liegen – wie im Folgenden noch detaillierter gezeigt werden wird – unter anderem in homogenisierenden und repetitiven Repräsentationen von undifferenziert als »Slums« betitelten, obgleich extrem diversen städtischen Armutsvierteln und seinen in Schmutz lebenden Bewohner/innen. Allerdings zeichnen sich in jüngerer Zeit tendenziell revidierte Sichtweisen ab, die mit einer veränderten Wahrnehmung von Abfall und damit auch von Slums und seinen Bewohner/innen einhergehen. Diese sind wesentlich von Diskursen über Ökologie, Umweltschutz und den sich immer stärker ausdifferenzierenden Perspektiven auf Abfall bestimmt, die in weltumspannende Kommunikationsströme eingebunden und in engem Zusammenhang mit Globalisierung, Medien und Weltöffentlichkeit zu lesen

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sind. Gleichzeitig ist eine neue Sichtbarkeit von Slums zu beobachten, die sowohl aus der (Selbst)repräsentation von Slumbewohner/innen resultiert als auch auf deren Einbindung in kulturelle Ökonomien und Konsumwelten, die sowohl physisch konkret als auch virtuell erfahr- und konsumierbar sind und in globalen Medien zirkulieren. Wenngleich diese slum- und abfallbezogenen Konsumwelten ethisch stark umstritten sind, geht damit eine Form der Ermächtigung einher, die mit universalistischen Vorstellungen von Slums bricht und auf die Vielfältigkeit sowie das Gestaltungspotenzial dieser Lebenswelten verweist. Denn durch die Einbindung in globale Kommunikationsströme erlangen auch die mit Abfall − im sozialen wie im materiellen Sinn − verquickten Slums und ihre Bewohner/innen eine neue Präsenz, werden mobil und mobilisiert zugleich. Um diese Prozesse zu fassen und die Diversifizierung von Slums sowohl als spezifische urbane Räume als auch als Lebenswelten zu analysieren, die als Repräsentationssysteme und Imaginationen global präsent sind, schlage ich in Anlehnung an Appadurai (1996) den Begriff »slumscapes« vor. Es handelt sich dabei um benachteiligte Stadtlandschaften, die sich vom dominanten Stadtbild unterscheiden, spezifische Lebenswelten ausbilden und trotz großer, weltweiter Diversität eine Identität durch die Außenzuschreibung als »Slum« konstruieren und mittels globaler Kommunikationskanäle präsentiert werden. Slumscapes sind mobile Konzepte im Sinne von verräumlichten, sozialen Vorstellungen, die durch spezifische Repräsentationsformen, wie Bilder, Geschichten, Dokumente, Filme oder Musik, geformt und perpetuiert werden.3 Auf theoretischer Ebene verweisen diese Betrachtungen auf verschiedene Dimensionen. Sie offenbaren die Wirkmacht von global zirkulierenden Repräsentationen sowie die Konstruiertheit, Ambivalenz und zunehmende Mobilität von Abfall und den damit assoziierten Orten. Außerdem werfen sie ein neues Licht auf das Phänomen »Abfall« selbst und rücken Fragen nach seiner sich stets wandelnden Materialität, gesellschaftlichen Bewertung und der ihm eigenen Wirkmächtigkeit in den Vordergrund. Diesen Prozessen folgt dieses Kapitel und zeigt, wie durch globale Medien slumscapes ausgebildet werden, die sich wiederum in Wechselwirkung mit neuen Sichtweisen auf Abfall modifizieren und als Folge neue Klassifikationen und Formen der Inwertsetzung generieren. In historischer Perspektive wird dargelegt, wie sich soziale Klassifikationen verräumlichen und in urbane Strukturen einschreiben. Dadurch werden die Dynamiken des Zusammenspiels von Slum und Abfall bzw. Schmutz in Städten aufgezeigt und die entsprechenden Entwicklungslinien bis zur Gegenwart nachgezeichnet. Es finden auch die sich wandelnden wissenschaftlichen Herangehensweisen, Prämissen und 3 | Vergleichbare Phänomene finden sich auch in anderen Zusammenhängen, siehe z.B. Jaffe (2012).

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Axiome Berücksichtigung, die städtische Armutsviertel, Schmutz und ihre sozialen Dimensionen zum Gegenstand ihrer Untersuchungen machten. Diese Studien sind auch deshalb von Bedeutung, weil sie nicht nur zur kritischen Dekonstruktion von Kategorien und Diskursen beigetragen haben, sondern eben auch zu ihrer Konstruktion und Perpetuierung.

2. S lums als verr äumlichte V erschmut zung und V er armung Die Industrialisierung und die damit einhergehende Urbanisierung lösten im 19. Jahrhundert radikale gesellschaftliche Transformationen aus. Es entstanden neue Formen der urbanen Lebensführung und sozialen Organisation, die sich im Stadtbild niederschlugen. Die industrielle Architektur mit Fabrikhallen und Maschinen reflektierte die Veränderung der Arbeitswelt, und es entstanden sukzessive neue Stadträume mit spezifischen physischen Strukturen. Dazu zählten auch die sogenannten »Slums«, die von Verarmung, Verelendung und Verschmutzung gekennzeichnet waren und die sozial-räumliche urbane Segregation − sowohl im physisch-materiellen als auch im symbolischsozialen Sinn − verschärften. Diese massiven Umwälzungen sind mannigfach und ausführlich dokumentiert, insbesondere in den dafür beispielhaft bekannten Städten London und New York. Bereits in ihrem zeitgenössischen Kontext wurden sie von mehreren Repräsentationstechniken eingefangen, die sich über literarische und journalistische Dokumentationen bis hin zu kartographischen und visuellen Darstellungen erstreckten und neuen Technologien verpflichtet waren. Berühmte Beispiele dafür sind die Arbeiten von Jacob Riis’s How the Other Half Lives (1890) und Children of the Poor (1892), in denen mittels der Fotografie die Lebensumstände in den New Yorker Slums abgelichtet und soziale Fragen in die oberen Schichten der Gesellschaft getragen wurden (Dürr/Jaffe 2014). Auch wissenschaftliche Studien widmeten sich den gesellschaftlichen Transformationen und enthielten ebenfalls spezifische Repräsentationsformen der sich herausbildenden städtischen Armutsviertel. Die sich etablierende Soziologie mit Georg Simmel und Max Weber in Deutschland sowie mit Vertretern der Chicago School in den USA befasste sich mit der sozialräumlichen Differenzierung des urbanen Raumes und der Dokumentation der damit einhergehenden neuen Lebensformen. Allerdings dienten diese Studien nicht nur der Sichtbarmachung und Lokalisierung dieser neuen Räume und ihrer Bewohner/innen, sondern mittels Statistiken, surveys und gezielten Hausinspektionen auch ihrer Kontrolle. Mit ähnlichen Methoden arbeiteten auch Henry Mayhew (1861/1862) und Friedrich Engels (1845), die über das Leben der neu entstandenen Arbeiterklasse in durchaus differenzierter Weise berichteten.

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Die Überwachung und – sofern möglich – Regulierung dieser Armutsviertel wurde angesichts des neuen medizinischen Diskurses zentral, der einen kausalen Zusammenhang zwischen Epidemien, Abfall und Hygiene herstellte und diesen zu normativen Kriterien wie Lasterhaftigkeit und Dekadenz in Beziehung setzte (Lindner 2004: 20). Untermauert wurde dieser durch die viel beachteten Kartierungen Londons von Charles Booth (1902/1903), in denen explizit schmutzige, arme Stadtviertel mit normativen Bezügen gekoppelt wurden, wie etwa Prostitution und Kriminalität mit Krankheit, mangelnder Hygiene und Armut. Diese Repräsentationsformen konfrontierten die breite Gesellschaft mit oft sensationalistischen Berichten über die Lebensumstände in den entstehenden Armutsvierteln. Eine Kommission, die von Dr. Edwin Chadwick geleitet wurde, publizierte 1842 den berühmten Bericht Report on the Sanitary Condition of the Labouring Population in Great Britain, in dem u.a. eine integrierte städtische Kanalisation in den Industriestädten Englands gefordert, aber auch die Frage aufgeworfen wurde, wer die Kosten der urbanen Infrastruktur zu tragen hatte. Die Sanierungsmaßnahmen und die sich formierenden sozial-reformerischen Bewegungen entfachten breite gesellschaftliche Debatten, in denen soziale Dimensionen und materielle Gegebenheiten vermischt wurden. Jane Addmas (1990 [1910]) beispielsweise, eine US-amerikanische Reformerin, berichtete in ihren Memoiren Twenty Years at Hull House über die unhygienischen und elenden Wohn- und Arbeitsbedingungen in Chicago und verband die Frage nach sanitären Einrichtungen und Gesundheit mit dem Wahlrecht der Frauen und einer Reformierung der korrupten städtischen politischen »machine«. Um 1910 hatten sich die Sanierungsbestrebungen überparteilich mit sozialen und politischen Zielsetzungen verbunden, die auch neue Entwürfe der Stadtplanung hervorbrachten. Auch diese sind nicht von den damaligen vorherrschenden normativen Vorstellungen zu trennen. Armutsviertel galten als Zeichen des unkontrollierten Wachstums und standen dem Bild einer fortschrittlichen, planbaren und zukunftsorientierten Stadt entgegen. Die Städte sollten nicht nur vor Armut und Ansteckung, sondern auch vor moralischem Verfall bewahrt werden, was wiederum einen verstärkenden und legitimierenden Effekt auf die innerstädtische Segregation hatte, denn die wohlhabenden Viertel wurden als »gesund« und damit auch als tugendhaft bewertet. Die Trennung von rein und unrein, sauber und schmutzig besaß deutliche normative Züge und ging mit der Ausrottung von moralisch konnotierten Krankheiten Hand in Hand.4 Abfall wirkte mit seinen vielfältigen Zuschreibungen strukturierend auf die Stadtplanung: hinsichtlich seiner moralischen und symbolischen Bezüge, aber auch im Hinblick auf sei4 | Lindner (2004: 24) verweist darauf, dass Cholera aufgrund der Ausscheidung von Körpersekreten und Fäkalien moralisch anders bewertet wurde als z.B. Schwindsucht.

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ne konkret materiellen Dimensionen, wie Gestank und krankmachende Erreger, vor denen die Mittelschicht geschützt werden sollte. In diesem Sinne offenbarten die städtischen Sanierungsbestrebungen nicht nur vorherrschende soziale Ordnungen, Moralvorstellungen und Kontrollmechanismen, sondern sie griffen massiv in die Gliederung des modernen Stadtraumes ein. Die Stadtplanung wurde zunehmend von sauberen Vorstellungen von Modernität geprägt, und die Neubebauung und Modernisierung des Stadtraumes zog die Umsiedlung von Armen und schmutzigen Bevölkerungsteilen aus dem Stadtzentrum an den Stadtrand nach sich. Eines der bekanntesten Beispiele dieser Stadtplanung Mitte des 19. Jahrhunderts ist die Haussmannisierung von Paris, die sich zum Vorbild vieler europäischer und lateinamerikanischer Städte entwickelte und zahlreiche Modelle von »modernen« Städten inspirierte. Auch wenn die städtischen Sanierungsmaßnahmen in den sich industrialisierenden Ländern ihren Ausgang genommen hatten und sich an den Werten der sich dort etablierenden Mittelschicht und den Erfordernissen der Industrialisierung orientierten, globalisierten sie sich bald und hinterließen in den kolonialen Städten ihre Spuren. Die Angst vor Epidemien führte dort zur Regulierung und Überwachung des öffentlichen Raumes durch sogenannte »cordon sanitaire« oder Quarantänelinien (Roy 2004: 73). Diese auf rassistischen Kriterien basierende räumliche Segregation sollte sowohl die Ausbreitung ansteckender Krankheiten als auch rebellischer Ideologien und sozialer Unruhen verhindern (McFarlane 2008). Die sozialräumlichen Abgrenzungen zwischen den »weißen«, »sauberen« Kolonialmächten und der als »schmutzig«, »rückständig« und »krankmachend« perzipierten indigenen Bevölkerung war ein wichtiger Anreiz für die Implementierung sozialreformerischer Infrastruktur. In diesem Sinne wurde die öffentliche Gesundheitsversorgung dafür genutzt, rassistische Segregation zu legitimieren und fremde, als gefährlich klassifizierte Körper und damit assoziierte Stadträume zu diskriminieren (Anderson 2006; Anderson 1995; Bashford 1998, 2004). Diese Form der legitimierten Regulierung des urbanen Raumes diente in den Kolonien wie in den Industrienationen der Perpetuierung sozialer Hierarchien. In den USA und Kanada waren neben den Arbeitervierteln insbesondere auch als schmutzig und gefährlich geltende, sogenannte »ethnische« Quartiere, wie das legendäre Chinatown, Ghettos oder Little Italy, von den Sanierungsbestrebungen und den genannten sozialen Implikationen betroffen (Anderson 1991; Conforti 1996; Craddock 2000). Diese Maßnahmen trugen dazu bei, dass räumlich, sozial und ethnisch segregierte neue Stadtviertel entstanden, die sich von denen der Mittelklasse fundamental unterschieden. Dies bezog sich nicht nur auf ihre physische Struktur, sondern auch auf die sie prägenden Sinneseindrücke, wie Gerüche und Geräusche. Diese Andersartigkeit, die Exotik und Verderbtheit mit Sensatio-

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nalismus und Sozialreform verband, führte zur Entstehung von regelrechten Entdeckungsreisen in bislang unbekannte, urbane Räume und Lebenswelten. Flankiert vom sich ausbreitenden Kolonialismus und der Entdeckung fremder Menschen (Lindner 2004: 15) entstand slumming als eine touristische Praxis, die Interessierte unter sicherer Begleitung eines Führers in diese exotisierten, verarmten urbanen Zonen geleitete (Steinbrink 2012). Der »verschmutzende« Andere einschließlich seiner sozialräumlichen Verschränkung ist bis heute als Narrativ relevant und manifestiert sich als geographies of exclusion (Sibley 1995), die sich sowohl in Slums als auch in gated communities am anderen Ende des Spektrums der räumlich-sozialen Abgrenzung zeigen. Die räumliche Trennung und soziale Verfremdung ist jedoch nur eine vermeintliche − tatsächlich sind beide Pole unauflöslich miteinander verwoben. Vorstellungen von Fortschritt, Zivilisation und Moderne brachten im 20. Jahrhundert ähnliche Effekte zum Tragen wie diejenigen von Krankheit, Ansteckung und Devianz im 19. Jahrhundert. Auch in neuerer Zeit wird der Stadtraum entlang sozialräumlicher Linien geordnet, wenngleich weniger mit Vorstellungen von Krankheit als vielmehr mit Fortschritt und Moderne verknüpft. Die Aufteilung des Stadtraumes in Nutzungszonen dient als Mittel, den urbanen Raum in Einklang mit dominanten sozialen und normativen Ordnungsvorstellungen und Modernitätsentwürfen zu strukturieren. In der Nachkriegszeit strebten viele europäische und nordamerikanische Städte im Zeichen der Moderne eine urbane Erneuerung an. Die in den 1960er und 1970er Jahren als urban regeneration oder urban renewal bekannten Projekte veränderten städtische Landschaften nachhaltig. Bereits damals umstrittene Modernisierungsprojekte sollten der Revitalisierung − und damit oft der »Säuberung« – bestimmter städtischer Zonen dienen, allerdings häufig auf Kosten der dort ansässigen Einwohner/innen. Sozial schwache Stadtviertel wurden nicht selten schlicht niedergewalzt oder an den Stadtrand verlagert, um neuen Raum für investitionsträchtige Projekte zu schaffen und der Verslummung der Stadtzentren vorzubeugen. Die evidente Ordnung spezifischer Räume durch Praktiken und Personen wird allerdings gestört bzw. in Frage gestellt, wenn sich die »falschen« Personen am »falschen« Ort aufhalten. Auch dann greifen durch das Entfernen von unerwünschten Personen, wie Obdachlosen, Straßenkindern und auch Prostituierten oder anderen »verschmutzenden« Personen, räumliche Strategien der urbanen Kontrolle (Dürr 2010; Hubbard/ Sanders 2003; siehe auch Davis 2006). Allerdings existiert auch ein Gegen-Narrativ, das »Schmutz« subversiv wendet und eine eigene Identitätsmacht hervorbringt, die als ermächtigend empfunden wird und sich in gewollter Abgrenzung zu normativen Vorstellungen von »Sauberkeit« äußert. Schmutz kann in spezifischen Kontexten dazu dienen, gegen bürgerliche Vorstellungen zu rebellieren und eine Gegenidentität zu artikulieren. Auch diese ist in der Regel räumlich konnotiert und in

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spezifischen Stadtvierteln verankert. Diese Prozesse besitzen eine tiefe historische Dimension und zeigten sich in der Etablierung von Identitäten als hart arbeitende, daher »schmutzige« und nach Schweiß riechende Kohlearbeiter sowie in sich als Bohème, Künstler und Intellektuelle definierende Zirkel der Mittelschicht, die nicht-sanierte Stadtteile als Wohnraum präferieren. Ähnliches gilt für verschmutzende Praktiken, die ebenfalls bewusst als Subversion eingesetzt werden, wie bewusstes Vermüllen, Urinieren, Spucken oder das Aufsprühen von Graffiti als Identitätsmarker, insbesondere in urbanen Räumen, die gerade nicht mit diesen Praktiken assoziiert werden. Gegenwärtige Visionen von modernen Städten, die ihre Positionen und Identitäten im globalen Gefüge als Kultur- und Finanzmetropolen der global cities oder Megacities konstruieren und sich durch die Akkumulation von Kapital, Vermögen und politischer Macht auszeichnen (Sassen 1991, 1994, 2002), sind nur schwer mit »Unsauberkeit« oder schmutzigen Stadtvierteln in Einklang zu bringen. Müll wird in den Städten der Moderne nicht nur aus verkehrstechnischen Gründen nachts entfernt, sondern auch weil diese Aktivitäten nicht das Stadtbild trüben sollen. Der Müll einer modernen Stadt ist geordnet und klassifiziert − und zum Merkmal des modernen Menschen gehört es auch, Müll zu vermeiden und auf Sauberkeit zu achten. Bezeichnenderweise entstehen jedoch gerade in den großen städtischen Agglomerationen die unterschiedlichsten Arten von Slums als Rückseite der growth machine (Molotch 1976). Außerdem bleibt offen und wäre empirisch zu prüfen, inwiefern diesem Ideal des nicht-vermüllenden und auf Sauberkeit bedachten modernen Stadtmenschen in der alltäglichen Praxis tatsächlich entsprochen wird. Die Abwesenheit von Müll, zumindest die Abwesenheit von sichtbarem, geruchsintensivem oder ungeordnetem Schmutz, gilt als Zeichen der Moderne, während Müll gleichzeitig als Ausdruck der Krise dieser Moderne gewertet werden kann und sich insbesondere in den Städten des 21. Jahrhunderts in enormen Umweltproblemen manifestiert. Ungeachtet aller Bemühungen um die Etablierung von sustainable cities (Evans 2002; Isenhour et al. 2015; Newman 2008) werden giftige Industriegase ausgestoßen, Abwasser in Flüsse geleitet und Abfall verbrannt. Allerdings wirken sich die Konsequenzen dieser Umweltverschmutzung nicht auf alle Stadtbewohner/innen in gleichem Maße aus. Dies zeigt sich weltweit: Sozial benachteiligte Stadtviertel sind überdurchschnittlich stark industriellen und verkehrsbedingten Verschmutzungen ausgesetzt und haben generell mit größeren Umweltbelastungen zu kämpfen als diejenigen von privilegierten Bevölkerungssegmenten. Gleichzeitig verfügen die sozial schwächeren Stadtviertel häufig über deutlich schlechteren Zugang zu urbanen Versorgungsleistungen als besser gestellte Viertel und werden dennoch als Umweltverschmutzer bzw. als Umweltproblem wahrgenommen, etwa wenn Slums primär als ökologisches und weniger als strukturelles Problem gesehen werden. Die Unterversorgung und Unterfinanzierung sozial be-

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nachteiligter Stadtviertel einerseits und die Sicherstellung angemessener Versorgungsleistungen sowie die Bereitstellung gesunder bzw. weniger belasteter Umwelten in privilegierten Vierteln, wie etwa in gated communities, andererseits, werden als environmental racism bzw. als toxic racism bezeichnet (Auyero/ Swistun 2008; Checker 2005; Sze 2007). In Nordamerika spielen diese Phänomene im öffentlichen Diskurs eine wichtige Rolle und beinhalten auch die Komponente der Hautfarbe, da Stadtviertel mit mehrheitlich nicht-weißer Bevölkerung wesentlich stärker gesundheitsschädlichen Stoffen ausgesetzt sind als die Einwohner/innen »weißer« Stadtbezirke. Diese Erkenntnisse führten in den 1980er Jahren in den USA zu einer Reihe von konzertierten Aktionen und sozialen Bewegungen. Aus den nordamerikanischen Umweltbewegungen entstanden schließlich die environmental justice-Bewegungen, die urbanen Umweltschutz vor dem Hintergrund von Armut, sozialer Ungleichheit und räumlicher Verteilung von Umweltgefahren betrachten. Die Träger dieser Bewegungen sind international vernetzt und wenden sich auf globaler Bühne gegen die umweltbezogene Benachteiligung spezifischer Wohnviertel sowie gegen die Stigmatisierung von Slums als selbstverschuldete Lebensformen.5 Darin manifestiert sich der mobilisierende und impulsgebende Aspekt von Abfall, der über nationale Grenzen hinweg Interaktionen generiert und Verflechtungen herstellt. Gleichzeitig erhöht die Öffentlichkeitsarbeit dieser Akteur/innen die Sichtbarkeit benachteiligter Stadtviertel und trägt zur Mobilisierung von slumscapes bei. Aus dem verräumlichten Abfall und der sozialen Stigmatisierung werden kritische Impulse in die Gesellschaft hineintragen. Außerdem wird deutlich, dass die Akteur/innen trotz sozialer Ausgrenzung verschiedene Formen der Partizipation »von unten« durchsetzen und neue Aufmerksamkeits- und Öffentlichkeitsregime generieren.

3. S lums als quantifizierbare R äume : K ritische P erspek tiven In Abgrenzung zu moralisch konnotierten Definitionen tendieren neuere Ansätze dazu, quantifizierbare Bestimmungsmerkmale wie Zugang zu Wasser, Infrastruktur, Häuserqualität und rechtliche Dimensionen für die Definition eines Slums zu Grunde zu legen (UN-Habitat 2003: 10ff.), um damit eine gewisse internationale Vergleichbarkeit zu erzielen. Kritische Stimmen hingegen lehnen diese Vorgehensweise als zu universalistisch ab und zweifeln an der 5 | Studien dieser Art haben im deutschsprachigen Raum deutlich weniger Echo gefunden als in den USA, wo sie auch für die politische Lobbyarbeit eine wichtige Rolle spielen.

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Übertragbarkeit der definierten Kriterien, da auch diese kontextgebunden und abhängig von der jeweiligen gesellschaftlichen Einbettung zu sehen sind, wie beispielsweise vom dominanten Lebensstandard, von politischem Willen oder auch von historisch bedingten und ideologisch legitimierten Formen der Teilhabe und Bürgerschaft (citzenship) bzw. von sozialer Ausgrenzung und Ungleichheit. Aus diesen Gründen stellen sie den Begriff »Slum« vielmehr gänzlich in Frage (Gilbert 2007; Fuchs 2006). Sie verstehen »Slums« als einen machtdurchzogenen Diskurs, der dazu beiträgt, politisch gewollte Sanierungsprojekte zu legitimieren und durch gentrifizierte Slums quasi erzwungene, aber mit quantifizierten, defizitären Kriterien Umsiedlungen durchzusetzen (Checker 2011; Gilbert 2007: 699). Neben diesen Einwänden ist die Reduzierung von Slums auf quantifizierbare Merkmale wie Bebauung, Einkommensstruktur oder Zugang zu Wasser und medizinischer Versorgung auch in theoretischer Perspektive problematisch. Eine derartige Definition steht Einsichten über die Herstellung von Raum durch Praxis, Performanz und Konsum diametral entgegen und ignoriert entscheidende Kräfte des placemakings. Sie verschleiert einerseits die die urbane Ungleichheit konstituierende soziale Komplexität und ihr inhärentes Machtgefälle, andererseits birgt sie die Gefahr, Slums nicht mehr als Teile des gesamten urbanen Geflechts zu verstehen, sondern als eine statische, verräumlichte Form von Deprivation. Diese isolierende Sichtweise würde darüber hinaus implizieren, Slums als eine Art eigenständigen Siedlungstypus zu betrachten, der territorial eingrenzbar, weitgehend selbstversorgend und sozial abgesondert ist. Eine derartige Aufteilung der Stadt erinnert an die überholte Vorstellung des urbanen Raumes als ein Mosaik aus einer Art »natürlicher«, abgrenzbarer, singulärer Einheiten (Brenner/Schmid 2014; Gotham 2003). Damit verbunden ist auch die zweifelhafte Vorstellung einer untrennbaren Einheit von Kultur und Raum, die Slums und ihre Bewohner/innen zu passiven Rezipient/innen einer essentialisierten und statischen Definition von Kultur werden lassen. Diese verzerrte Annahme spiegelt sich in der wissenschaftstheoretisch längst überholten, aber populistisch immer wieder gestellten Frage, ob das Leben in Armut den Charakter präge oder eine Folge des Charakters sei (Wohl 1977: 8, zitiert in Lindner 2004: 27). Unter diesen Vorzeichen stehen Projekte, die primär darauf abzielen, die »Mentalität« von Slumbewohner/innen zu »verbessern« und erst in zweiter Linie die strukturelle Ungleichheit und politische Geographie in den Blick nehmen. Derartige Unterfangen besitzen eine tiefe historische Verankerung und spiegeln sich auch in den verschiedenen Klassifikationen von Slumbewohner/innen als deserving poor und undeserving poor wider (Lloyd 2009), als Arme, die entweder Opfer eines ungerechten Schicksals sind oder in selbstverschuldeter Armut leben. Wissenschaftliche Studien, die Slums als eine Art soziales Labor betrachten und darin in verdichteter Form soziale Prozesse beobachten wollen, ohne

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diese in übergeordnete Kontexte zurückzubinden, sind ebenfalls zu problematisieren. Auch sie tragen zu stereotypen Repräsentationen bei, wie etwa die weit beachtete Untersuchung von Oscar Lewis (1966), der eine »culture of poverty« als einen sich selbst perpetuierenden »way of life« konzipierte und damit zahlreiche sozial- und kulturwissenschaftliche Studien und gesellschaftliche Diskurse prägte. Während Lewis den Armen zu Recht Ausgrenzung von der Gesamtgesellschaft und fehlende Partizipation an signifikanten Einrichtungen wie Krankenversorgung, Gewerkschaften oder Bankwesen bescheinigte, sind Bewohner/innen von benachteiligten Stadtvierteln stets auch Teile und Produkt eben dieser Gesellschaft und daher eng mit ihr verwoben. Auch neuere Terminologien, wie etwa der Begriff der »Subkultur«, neigen dazu, Slums eigene, abgeschlossene kulturelle Identitäten zu unterstellen, selbst wenn sich diese auf eine Art geographischer Enklaven mit kulturellen Unterschieden beziehen, die Teile eines größeren Ganzen darstellen. In dieser Logik wäre die Kultur der benachteiligten Stadtviertel eine nachgereihte Variation einer spezifischen urbanen oder nationalen Kultur. Damit verknüpft ist eine weitere, gängige Vorstellung von Slums, die diese als weitgehend homogen konzipiert und damit der gelebten Realität in diesen Stadtvierteln diametral entgegensteht. Sehr häufig werden die enormen sozialen Ausdifferenzierungen und Hierarchien übersehen, die sich nicht selten durch Ausbeutung der noch ärmeren Haushalte in Slums konstituieren. »Slumlords« und ihre Gefolgschaften kassieren Miete und Schutzgeld, kontrollieren den (informellen) Handel und dominieren Straßenzüge. Diese hierarchischen sozialen Beziehungen, die prägend für das Leben im Slum sind (Davis 2006: 42) werden – falls nötig – mit Gewalt aufrechterhalten. Neben diesen vertikalen Hierarchien existieren gleichzeitig solidarische Nachbarschaftsnetzwerke und reziproke soziale Beziehungsgefüge, die sich nur wenig von denen in anderen Stadtvierteln unterscheiden. Slums sind weder geographisch als peripher noch kulturell als separiert zu betrachten, sondern vielmehr als stets in Wechselbeziehung zu übergeordneten sozialen Kontexten stehend. Weder Raum noch Kultur sind fixe oder geschlossene Kategorien, sondern zeichnen sich vielmehr durch Prozesshaftigkeit und Durchlässigkeit aus (Brenner/Schmid 2014; Lefebvre 1974). Raum und Akteur/innen konstituieren sich gegenseitig, weshalb Raumnutzung und Raumproduktion nicht getrennt zu betrachten sind, sondern vielmehr als ein sich gegenseitig durchdringender, ineinandergreifender Prozess. In diesem Sinne interagieren Praktiken und Alltagshandeln mit physischen Strukturen, ebenso wie mit politischen und ökonomischen Kräften, die wiederum auf das weitere gesellschaftliche Gefüge wirken. Durch diese Perspektive werden abermals das kontextuelle Eingebundensein und die Wandelbarkeit von Raum und Kultur in den Vordergrund gerückt. Die soziale Konstruktion von Raum ist allerdings nicht als gradlinig verlaufender Prozess zu verstehen, da konkur-

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rierende und konfliktive Narrative heterogener Akteur/innen existieren. Vielmehr ist die Raumproduktion einer ständigen Aushandlung von Imaginationen und Narrativen unterschiedlicher Gruppenkonstellationen und Interessen unterworfen. Diese theoretische Perspektive eröffnet den Blick für Handlungen, die alternative und politisierte Bedeutungen dieses Raumes erzeugen und Stigmatisierungen, die mit benachteiligtem Raum assoziiert werden, in Frage stellen (Gotham 2003). Slums werden nicht als per se existierende Räume konzipiert, sondern relational ausgebildet und sind von den in ihnen agierenden Menschen nicht zu trennen. Entgegen dieser theoretischen Einsichten, die soziale Dynamik und Kontingenz von Slums als spezifische urbane Räume betonen, ohne das Materielle zu ignorieren, dominieren in der öffentlichen Außenperspektive naturalisierende Narrative und Repräsentationen, die Slums vorrangig als defizitäre Lebenswelten und als »anders« als die Gesamtgesellschaft verstehen, geprägt von Verschmutzung, Abfall, Gewalt, Informalität und Knappheit an Ressourcen. Diese symbolischen und diskursiven Imaginationen des Weggeworfenen, Dunklen und Defizitären besitzen ambivalente Kräfte. Sie verweisen einerseits auf stereotype Repräsentationen, die über »Andere« verfasst werden, ohne dass diese selbst daran partizipieren könnten. Andererseits veranlassen sie Slumbewohner/innen dazu, sich selbst darzustellen, Stereotype zu brechen, zu verstärken oder alternative Narrative zu präsentieren. Diese Form der Ermächtigung wird durch moderne Kommunikationsmittel befördert, die vielfältige Möglichkeiten der (Selbst)Darstellung bereithalten. Slumbewohner/innen selbst wenden sich in den neuen Medien gegen homogenisierende und viktimisierende Darstellungen, reklamieren ihre Rechte auf Zugehörigkeit zum Gesamtkontext der Stadt und üben Bürgerschaft vor einem globalen Publikum aus − gleichzeitig entwerfen sie durch ihre Präsenz neue urbane Bilder, brechen mit »bereinigten« und eindimensionalen Vorstellungen von Städten und fordern Inklusion und Anerkennung sozialer Heterogenität.6 Außerdem vernetzen sich Slumbewohner/innen untereinander und eröffnen damit eine Debatte »von unten«, die ebenfalls ermächtigend wirkt und neue Strategien der Sichtbarkeit generiert (Appadurai 2002).7 In diesem Sinne bilden sich slumscapes als mobile urbane Landschaften heraus, die durch globale Netzwerke zirkulieren. Auch hier zeigt sich, dass Slums als Lebensräume – wenngleich mit teilweise extremen Bedingungen – von spezifischen Akteur/innen gestaltet, modifiziert und perpetuiert werden (Fuchs 2006: 47). Diese Repräsentationen transformieren sich zu Performanzen, die in kulturelle Ökonomien integriert werden und von filmischen Inszenierungen, wie 6 | Vgl. zum Beispiel http://uk.reuters.com/video/2014/11/19/buenos-aires-roughbarrios-exposed-throu?videoId=244315911 [Abruf: 5.8.2015]. 7 | Vgl. zum Beispiel http://sdinet.org/ [Abruf: 5.8.2015].

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etwa City of God, Slumdog Millionaire, Soul Boy oder von Slum-Biennalen, Blogs bis hin zu Kunstprojekten und verschiedenen Formen der Touristifizierung und Konsumierung reichen. Diese Inwertsetzung von Armut und Schmutz im symbolischen wie konkreten Sinn, verräumlicht im Slum, zeugt vom Potenzial dieser Kategorien, die wirkmächtig ganz unterschiedliche Assoziationen und Emotionen hervorrufen und global wirken. Allerdings sind die Konsequenzen der zunehmenden Vermarktung von Armut nicht kalkulierbar, sondern entwickeln vielmehr eigene Dynamiken: Während sie öffentliche, häufig emotional geführte Wortgefechte über die Ethik und Moral der monetären Verwertung von Armut und Abfall hervorrufen, lenken sie zugleich den öffentlichen Blick verstärkt auf soziale Missstände und Differenz. Anhand von zwei Inszenierungen von Abfall und Slums soll dies im Folgenden illustriert werden. Beide Beispiele sind konsumorientiert und im Kontext des Tourismus angesiedelt, unterscheiden sich jedoch fundamental. Das erste, karitativ motivierte Beispiel veranschaulicht insbesondere die Assemblage-Power des Abfalls; das zweite fokussiert stärker auf slumscapes als verräumlichte Lebenswelt in Armut, allerdings ästhetisiert und transformiert zum Motto bzw. Themenpark.

4. M obile S lumscapes : A bfall als A ssembl age und A rmut als S ensation Die Touristifizierung von Slums als Lebenswelten in Abfall und Armut ist nicht neu, sondern reicht bereits bis ins 19. Jahrhundert zurück. Von London aus verbreitete sich slumming nach New York und differenzierte sich bis in die Gegenwart immer stärker aus. Heute existieren weltweit Touren mit einer großen Angebotspalette für sämtliche touristischen Segmente: Slums können mit klimatisierten Bussen, zu Fuß oder auf Motorrädern erkundet werden, mit großer oder so gut wie keiner Beteiligung der Einwohner/innen vor Ort. Ebenso breit ist das thematische Spektrum dieser Touren, die dezidiert auf Missstände hinweisen und Deprivation, Ausgrenzungen und Marginalisierung betonen, oder aber ganz im Gegenteil die positiven Aspekte und das gemeinschaftliche Leben in Armutsvierteln, die Kreativität und sozialen Errungenschaften der Einwohner/innen in den Mittelpunkt rücken (Frenzel et al. 2012). Außerdem wächst neben den konkret physischen Touren auch das Angebot, Slumwelten virtuell zu erschließen.8 Als Beispiel soll hier eine Tour in eine Slumwelt dienen, in deren Mittelpunkt Abfall steht. Die aus karitativen Gründen organisierte Halbtagestour führt auf die Deponie der glamourösen Stadt Mazatlán an der mexikanischen Pazifikküste und bringt wohlhabende Tourist/innen mit Mülltrenner/innen in 8 | Siehe z.B. www.compassion.com/change/default.htm [Abruf: 5.8.2015].

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Kontakt. Ziel der Führung ist es, Tourist/innen auf die »andere« Seite dieser Stadt aufmerksam zu machen, sie für soziale Missstände zu sensibilisieren und das touristische Freizeitangebot mit dem Leben auf der Deponie zu kontrastieren. Auf der Müllhalde verteilen die Tourist/innen Brot und Wasser an die Mülltrenner/innen und haben auch die Möglichkeit, ihre Behausungen zu besuchen (Dürr 2012a, 2012b). In dieser Begegnung im Abfall werden ganz unterschiedliche Akteur/innen und Ebenen in Verbindung gebracht, und es entstehen sozio-kulturelle Interaktionsformen zwischen Personen aus völlig diversen Lebenswelten. Gleichzeitig offenbaren sich durch das vermittlerische Potenzial des Abfalls globale Verflechtungen, die allen Beteiligten eine gemeinsame Welt in ihrer Verbundenheit vor Augen führen. Denn die Tourist/ innen erkennen auf der Müllhalde, dass sich die Konsequenzen ihres Handelns und Lebensstils in vermeintlich weit entfernten Ländern buchstäblich zu ihren Füßen wiederfinden. Auf der Deponie werden die Tourist/innen mit ihrem »eigenen« Abfall und Konsumverhalten konfrontiert, wenn sie beispielsweise Elektroschrott oder Verpackungen von Produkten wiedererkennen, die sie selbst nutzen. Abfall wird in diesen Begegnungsszenarien zu einem weltweiten, soziale und nationale Grenzen überschreitenden Interaktionsfeld, das in einem globalen Bezugsrahmen zu verstehen ist. Diese, dem Abfall anhängige »thing power« (Bennett 2004: 348; siehe auch 2010) hat darüber hinaus die Kraft, normative Zuschreibungen und Klassifikationsmuster zu modifizieren, indem ehemals als Müllsammler/innen oder als scavenger bezeichnete Personen zu ökologischen Expert/innen transformiert werden. Dies resultiert aus einer revidierten Wahrnehmung von Abfall in Einklang mit zeitgenössischen Sichtweisen, die Abfall nicht mehr nur als Bedrohung und Umweltproblem verstehen, sondern als ein in Stoffströme eingebundenes Material, das durch Recycling neue Nutzungspotenziale offenbart, die gewinnbringend in Wert gesetzt werden können. Vor diesem Hintergrund transformiert sich die gesellschaftliche Bewertung von »Abfall« als eine bedeutende Rohstoffquelle und damit auch die Normativität der damit assoziierten Individuen, ihren Tätigkeiten und ihrer Wohnviertel. In den Augen vieler Tourist/innen avanciert die Mülltrennung zu einem tugendhaften Beitrag zur Bewältigung des städtischen Abfallproblems sowie zum globalen Klimaschutz. Die Aufwertung von mit Abfall befassten Personen, die sich auch in anderen Städten abzeichnet (Gutberlet 2014; Nunn/Gutberlet 2013), bedeutet allerdings nicht, dass das Leben und Arbeiten auf Deponien in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit ebenfalls eine generelle Wertschätzung erfahren würde − ganz im Gegenteil ist diese Tätigkeit weiterhin stark stigmatisiert. Dennoch wirken die positiv gewendeten Diskurse über die wertvolle Tätigkeit der Materialsammler/innen und ihren niedrigen ökologischen Fußabdruck auf diese selbst zurück. Sie bezeichnen sich zunehmend selbst als Expert/innen für

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Abfall − was sie nun nicht mehr mit Scham, sondern mit gewissem Stolz erfüllt.9 Dazu tragen auch die aus der Touristifizierung resultierende Erweiterung ihrer Netzwerke und Wissensbestände sowie ihre größere Präsenz in den Medien bei. Zahlreiche Tourist/innen hinterlassen Berichte, Bilder und andere Zeugnisse ihrer Begegnung in der virtuellen Welt und transformieren die Deponie in ein mobiles, sichtbares, sich über Abfall definierendes slumscape, wenngleich die Stimme der Betroffenen selbst bislang nur wenig Berücksichtigung findet. Dennoch wird die Lebenswelt auf der Deponie dadurch mobil und mobilisiert zugleich, was sich z.B. in der größeren Aufmerksamkeit der städtischen Verwaltung für die Situation der Arbeiter/innen auf der Müllhalde manifestiert. Das zweite Beispiel bezieht sich ebenfalls auf eine spezifische Form der Touristifizierung von Armut und Abfall, fokussiert jedoch stärker auf die Transformation von Slums hin zu konsumierbaren, thematisierten slumscapes als Erlebniswelten. Im Gegensatz zum oben dargelegten Fall stehen hier weder karitative Absichten noch Authentizität im Vordergrund, sondern ganz im Gegenteil die monetäre Inwertsetzung und Vermarktung von Slums als touristischem Erfahrungsraum, vermittelt als Shanty Town (Mkukhu Villlage/ Shack Village) durch das Emoya Luxury Hotel & Spa, einem Luxushotel in der Nähe des südafrikanischen Bloemfontein. Dieses Hotel bietet eine nachgebaute Slumsiedlung als Übernachtungsmöglichkeit an und preist diese als »unique accommodation experience« an. Das Hotel wirbt damit, dass Gäste hier die Möglichkeit hätten, zwar in einer Shanty, gleichwohl aber in der sicheren Umgebung eines privaten Tierreservates zu übernachten. Dies sei außerdem die einzige Shanty weltweit, die über eine Fußbodenheizung und eine drahtlose Internetverbindung verfüge. Darüber hinaus wird diese Shanty als sicher, kinderfreundlich und mit Außentoiletten ausgestattet beschrieben, die Platz für 52 Gäste bietet und gut kombinierbar mit einer Reihe von Aktivitäten ist. Laut Emoya eignet sich diese Shanty ideal für Teambildungs-Erfahrungen, Grillfeste und Partys mit Motto. In seiner Werbung weist das Hotel explizit darauf hin, dass Millionen Menschen in Südafrika in informellen Siedlungen leben würden und nennt als deren Merkmale die einfache Bauweise der »Häuser« oder Unterkünfte aus Wellblech oder anderem wasserfesten Material sowie die Ausstattung mit Paraffinlampe, Kerzen, Batterie betriebenem Radio sowie die Außentoiletten und ein Fass, das als Feuerstelle für das Kochen dient. Zahlreiche Bilder auf der Website des Hotels sowie ein Video erlauben den Gästen einen Einblick in dieses Shanty, das rustikal-romantisch anmutet. Im Unterschied zum ersten Fallbeispiel steht hier gerade nicht das vermeintlich Authentische oder gar ein von sozialem Engagement getriebenes Versprechen im Vordergrund, das »wahre« Gesicht und nicht die für Tourist/ 9 | Siehe dazu z.B. den Dokumentarfilm Waste Land von Lucy Walker, 2010.

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innen geschaffene Fassade zu präsentieren, sondern ganz im Gegenteil die Inszenierung und Maskerade (Steinkrüger 2014). Das »so tun als ob« – also gerade das Bewusstsein, dass es sich lediglich um eine arrangierte Themenwelt handelt – ist für dieses Unterfangen essentiell, ebenso wie die gewährleistete Abwesenheit von Shantybewohner/innen selbst. Gerade damit unterscheidet es sich im Kern von dem ersten Beispiel, das mitten im Abfall einen Begegnungs- und Interaktionsraum kreiert. In beiden Fällen jedoch spielen Imaginationen über »andere«, außerhalb der perzipierten Normalität angesiedelte Lebenswelten eine herausragende Rolle, deren sicheres Betreten und Zähmung entweder durch eine von erfahrenen Begleitern geführte Tour oder durch die gewollte Täuschung garantiert werden.

F a zit : S lumscapes als A rmutsviertel und E rlebniswelten Dieser Beitrag konzipiert »Slums« als spezifische urbane Lebenswelten, die sowohl Symbol- und Diskurssysteme als auch physisch-materielle Komponenten einschließen, immer relational gedacht werden müssen und sich in slumscapes mobilisieren und globalisieren. Er zeigt auch, dass sich Imaginationen von Slum und Abfall wechselseitig durchdringen und gestalten. Es handelt sich um interdependente, dynamische Kategorien, die sich beständig modifizierenden, gesellschaftlichen Zuschreibungen ausgesetzt sind. Damit wendet sich dieser Beitrag dezidiert gegen eine Quantifizierbarkeit von Slums nach von internationalen Organisationen vorgegebenen Parametern und plädiert vielmehr für die Anerkennung einer physisch/materiellen Diversität sowie sozialer Heterogenität. Während die konkrete Bestimmbarkeit von Slums diffus und fluide bleiben muss und kontinuierlich vor dem Hintergrund sich neu ausrichtender Kontexte zu reflektieren ist, zirkuliert der Begriff global und perpetuiert sich in mobilen slumscapes. Diese entwickeln wiederum eigene Dynamiken, da Ästhetisierungen und Repräsentationen ebenfalls Handlungsmacht besitzen und sich diese in nicht prognostizierbarer Form entfalten (Rancière 2006). Slums existieren nicht als fixierbare Räume, sondern werden durch die in ihnen stattfindenden Performanzen und Repräsentationen ständig neu entworfen und sind in einen globalen Mobilitätsfluss eingebunden. Imaginationen von Slums sind beweglich und ermöglichen eine virtuelle Grenzüberschreitung, die Individuen in verschiedenen geographischen Kontexten verbindet, und damit nicht-physisch mobilen Akteur/innen eine Form der virtuellen und potenziell transgressiven Mobilität zugesteht. Mit dieser Perspektive kann der Falle entgangen werden, Räume als immobil und abgegrenzt zu konzipieren und den Blick auf imaginative und zum Konsum freigegebene Geographien zu versperren. Narrative und Bilder von Slums werden durch die Verschmelzung verschiedener Mobilitätsregime (Glick Schiller/Salazar 2013) als grenzenlose

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Räume in Gang gesetzt. Außerdem werden dadurch die Bewohner/innen nicht als passive Opfer von negativen Stereotypisierungen konzipiert, sondern als mit Handlungsmacht ausgestattete Akteur/innen, die die Möglichkeiten der Globalisierung zu nutzen wissen. Gleichzeitig wird damit die Frage nach Repräsentationsmacht und tatsächlicher Partizipation aufgeworfen. Diese Frage ist auch deshalb von Bedeutung, weil Repräsentationen auf die Selbstwahrnehmung der Slumbewohner/innen zurückwirken. Sowohl ihre Identitäten als auch ihre Positionen in der weiteren Gesellschaft werden durch dieses Wechselspiel mitbestimmt.

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Ozeane Reinhold Leinfelder und Rüdiger Haum

1. E inleitung Ozeane sind globale Orte par excellence: Meere bedecken annähernd drei Viertel der Erde, der »blaue Kontinent« ist für das Erdsystem wie für die moderne Zivilisation gleichermaßen von Bedeutung. Er ist Quelle für Nahrung und Ressourcen, Medium für weltumspannende Infrastrukturen und Transporte sowie zentrales Element des globalen Klimasystems. Daneben sind die Ozeane aber eben auch abseitige Orte zur kontrollierten oder unkontrollierten Entsorgung von Unbrauchbarem und Störendem aller Art (WBGU 2013, Leggewie 2013). Die Weite der Ozeane führte seit der frühen Menschheitsgeschichte dazu, die Meere als unerschöpflich und nahezu unendlich anzusehen. Noch im 17. Jahrhundert dachte man, Schifffahrt und Fischerei hätten keinen nennenswerten Einfluss auf die Meere (Vidas 2010). Selbst die Umweltaktivistin Rachel Carson ging in den 1940er Jahren noch davon aus, dass die Meere insgesamt eher unverletzlich seien (Carson 1943) und noch in den 1950er Jahren konnte ein Buch zweier damals bedeutender Wissenschaftler mit dem Titel The Inexhaustible Sea (Die unerschöpfliche See) erscheinen (Daniel/Minot 1955; Roberts 2007). Der Umgang des Menschen mit den Meeren ist stark kulturell eingebunden und geprägt von einer dauernden Ambivalenz des Meeres als Sehnsuchtsort und Gefahrenquelle für die Menschheit. Trotz umfassender Nutzung galten die Meere bis in die Neuzeit vor allem als Ort des Schreckens, was sich auch in unzähligen überlieferten Meeresmythen ausdrückt (Corbin 1994; WBGU 2013). Die Mythen der frühen Völker erzählen von Ängsten vor Stürmen, Flutwellen, Nebeln, Seeungeheuern und Schiff brüchen. In der nordischen Mythologie trugen der Donnergott Thor und die Midgardschlange der Urozeane einen meeresaufwühlenden Kampf aus (de Vries 2011). Die Bibel beeinflusste mit dem Leviathan, dem Sintflut-Mythos oder der Teilung des Roten Meers die Symbolik der Meere als ein Instrument göttlicher Strafen (WBGU 2013).

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Durch die Säkularisierung und die Verwissenschaftlichung von Weltbildern und Kosmologien sowie neue ästhetische Betrachtungsweisen entstanden zunehmend positive Bilder. Diese gipfelten in der »Meereslust« der Romantik (Corbin 1994) und festen Redewendungen wie den »Inseln der Glückseligen«, dem hoffnungsvollen »In See stechen« oder »zu neuen Ufern auf brechen«. Die in Mode gekommene Reise in die »Sommerfrische« führte nicht nur in die Berge, sondern auch an die Meeresstrände oder auf Kreuzfahrten über die Meere. Die kulturelle Wahrnehmung der Meere ist heute von Meeressport, Naturbeobachtung (Tauchen, Walbeobachtung), Urlaub und global verfügbaren kulinarischen Kostbarkeiten (Edelfische, Hummer, Austern) geprägt. Zudem tragen weitverbreitete literarische und visuelle Narrative in der Kunst und der Populärkultur dazu bei, eine Art maritimes Weltwissen verfügbar zu machen. In diesem Zusammenhang ist die Sorge um ikonische Meeresbewohner wie Wale und Eisbären oder auch um Korallenriffe zu sehen. Die von den frühen Apollo-Missionen aufgenommenen Fotos »Earthrise« (1968) und »Blue Marble« (1972) vertieften das Bewusstsein von der Verletzlichkeit des gesamten Erd- und Ozeansystems und führten zu einer ersten Stärkung des globalen Umweltgedankens. Differenziertere Bilder entwickelten sich erst allmählich und ausschließlich bei speziellen Nutzergruppen und Expertengemeinschaften. So sind sich professionelle Naturschützer ebenso wie viele Meereswissenschaftler darüber im Klaren, dass die Meere vielfältig genutzt werden und keinesfalls mehr Orte einer wie auch immer gearteten Wildnis sind (Barr/Kliskey 2014; Halpern et al. 2008). Im starken Kontrast zur Entwicklung romantischer, positiver Meeresbilder begann der Mensch das Allmendegut Weltmeere immer vielfältiger und vor allem intensiver zu nutzen. Technik, Tatendrang und eine weitgehende Blindheit gegenüber den Folgen führten zu einer rasanten Verschlechterung bis hin zu einer teilweise bereits irreversiblen Zerstörung der Meeresumwelt. Das geschah insbesondere durch Überfischung, aber auch durch die missbräuchliche Verwendung der Ozeane als Abfalldeponie (WBGU 2013). Ein überaus kritischer Zustand ist erreicht. Weniger aus der kulturellen Bedeutung der Meere, denn vielmehr aus der Praxis der stark durch technologische Sprünge im Schiff bau geprägten Seefahrt heraus, bildeten sich spätestens im 17.  Jahrhundert auch umfassende rechtlich-normative Parameter der Meeresnutzung. Während die Wikinger im 9. bis 11. Jahrhundert noch in mehr oder minder »wilden« Raubzügen bis nach Nordafrika und Nordamerika ausgriffen, hatten die Phönizier, Griechen und Römer im Mittelmeerraum bereits regionale Identitäten geschaffen. Zu nennen wäre hier etwa das römische politische Mare nostrum-Imperium mit einer universalistischen Rechtsordnung. So betrachteten die Römer das Mittelmeer als ihr eigen (mare nostrum) und unterhielten spezielle Flotten, die insbesondere die Seeräuberei und den Schmuggel eindämmen sollten, womit sie das

Leinfelder, Haum – Ozeane

Mittelmeer zu einem für ihr Imperium uneingeschränkt nutzbaren, frei zugänglichen Raum der Seefahrt erhoben (Höckmann 1985; Tellegen-Couperus 1993). Der Bau leistungsfähiger Segelschiffe leitete das »Zeitalter der Entdeckungen« ein und führte zur Umwandlung des universalistischen, jedoch regionalen römischen Rechts in ein globales Recht: Die Hohe See wurde nunmehr als globales Gemeinschaftsgut (Mare liberum; Grotius 1609) betrachtet (WBGU 2013). Das Prinzip des »Mare liberum« wandte sich insbesondere gegen den Monopolanspruch der portugiesischen »Mare clausum«-Politik und zielte vor allem auf eine freie Seefahrt für alle (Papastravidis 2011). Damit wurden schließlich die Tore für die imperialistische Globalisierung geöffnet. Im Laufe des 17.  und 18.  Jahrhunderts weitete sich der Atlantische Dreieckshandel stark aus (Thomas 2006). Zum Ende des 18. Jahrhunderts führte die Perfektionierung der Dampfmaschine durch James Watt zu einer Kaskade neuer Techniken, darunter die Errichtung der Infrastrukturen der Eisenbahn sowie motorisierte Handelsschiffe. Die Dampfmaschine erlaubte durch das Betreiben von Bergwerkspumpen auch den großmaßstäblichen Abbau von Kohle, die zum Betrieb von Eisenbahnen und Schiffsmotoren und weiteren Dampfmaschinen zur Gewinnung von Bodenschätzen sowie zur Verhüttung von Eisen essenziell war. Im Zuge dessen kam es zum ersten Mal zum Ausstoß signifikant hoher Anteile an CO aus fossilen Quellen in die Atmosphäre (Osterhammel 2009; WBGU 2011). Die Erfindung des nach seinem Erfinder Rudolf Diesel benannten, deutlich effizienteren Motors sollte für Handwerker und Kleinbetriebe eine Alternative zur teuren Dampfmaschine bieten. So hatte Diesel es gewollt, sein Motor kam jedoch vor allem dem Auf bau einer neuen Klasse von Schlachtschiffen zugute – ein Entwicklungsprozess, den Winston Churchill 1911 mit seiner Entscheidung zum Bau solcher Schiffe eingeleitet hat (Köhler 2012). Neben der Marine stellte sich auch die Handelsflotte rasch um. Alle motorisierten Tanker, Frachtund Kreuzfahrtschiffe werden bis heute mit Dieselmotoren betrieben. Etwa 95 % des weltweiten Ferngüterhandels wird über die Weltmeere abgewickelt (Flottenkommando der Marine 2011: 94). Bis heute ist die friedliche Seefahrt frei und darf nicht nur die Hohe See, sondern auch die Hoheitsgewässer der Nationen frei durchfahren. Die dazu notwendigen Regelungen wurden im Internationalen Seerechtsübereinkommen der United Nations (UNCLOS) vereinbart. Insgesamt haben sich also die menschlichen Nutzungsformen der Meere ihrem Wesen nach über die Zeit wenig verändert. Sie wurden und werden bewusst als Quelle für biologische und mineralische Ressourcen, als Infrastruktur für den Personen- und Güterverkehr sowie zunehmend für technische Installationen genutzt. Die Meere werden jedoch zunehmend zu Ab-Orten für gasförmige, flüssige, gelöste und partikuläre Materialien, die uns unnütz oder lästig geworden sind. Trotz des

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inzwischen beträchtlichen wissenschaftlichen Wissens geschieht das teils unbeabsichtigt, teils aber auch wissentlich bzw. unter Inkaufnahme eventueller Folgeschäden. Unter Müll bzw. Abfall werden insbesondere feste bzw. bewegliche Materialien verstanden, wobei die Grenzziehungen im Detail schwierig sind. Das deutsche Kreislaufwirtschaftsgesetz definiert Abfall als »alle Stoffe oder Gegenstände, derer sich ihr Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muss« (§ 3 Absatz 1 Satz 1 KrWG). Diese Definition weist zumindest auf den Verursacher, den landbewohnenden Menschen hin. Abfallproduktion und Entsorgung ist dieser Definition nach eine eindeutig menschliche »Kulturtechnik«. Marine Organismen produzieren keinen Abfall, sondern ausschließlich Produkte, die in biogene natürliche Kreisläufe eingeschlossen sind. Müll in den Meeren ist daher auch als Ausweitung der Inbesitznahme des Meeres durch den Menschen anzusehen. Während in den Mythen der Frühzeit sagenhafte Meeresbewohner über uns herrschten, uns bedrohten oder zu sündenfreiem Leben mahnten, scheint beim Thema Meeresverschmutzung ein allgemeines Wegschauen nach dem Motto »Aus den Augen, aus dem Sinn« oder bestenfalls ein schulterzuckendes Hoffen auf den »homöopathischen« Verdünnungseffekt der Meere die Oberhand zu haben. Die Problematik wird weitgehend ignoriert, was sich auch in mentalen Bildern spiegelt, die wir uns vom Meer machen. Die Übernutzung der Meere als Ab-Orte kommt darin kaum oder gar nicht zum Ausdruck.

2. D er O ze an als A b -O rt des L andwesens M ensch Callum Roberts – der große Historiker der Meere – stellt sich in seinem Buch The Ocean of Life (2012) sehr bildlich vor, wie Aristoteles vor mehr als 2000 Jahren am Strand von Lesbos gelegentlich das Holzfragment eines gekenterten Bootes, ein verwittertes Stück Tau oder auch eine Ledersohle fand. Noch vor nur hundert Jahren wäre er – häufiger zwar – über dieselben Dinge und zudem noch über Glasschwimmkörper aus Fischernetzen, Fassdauben sowie organischen Abfall aus Flüssen gestolpert (Roberts 2012: 149ff.). Heute hätte der große Philosoph und Naturforscher möglicherweise große Mühe, einen Strand von einer Müllkippe zu unterscheiden. Allem voran türmt sich Plastikschutt neben Blechbüchsen, Glasscherben und Altmetall. Ganze Infrastrukturen, wie Schiffswracks, ausgediente Ölplattformen oder Eisenbahnwaggons landen im Meer und werden oft Stück für Stück wieder an Land gespült. Diese Art Müll ist immerhin einigermaßen wahrnehmbar. Unsichtbar ist, was in Feinfraktion dazukommt: Atommüll, Arzneimittel, Pestizide, Schwermetalle, Abwässer aus Landwirtschaft und Städten, Erdöl sowie Erdgas aus Tanker- und Förderhavarien, aber auch bewusster Verklappung, sowie or-

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ganische Abfälle aus Flüssen, aber auch aus wieder über Bord geworfenen Beifängen. Schließlich fungieren die Meere auch als CO2-Lager, entweder durch direkte Lösung großer Teile anthropogenen Ausstoßes an fossilem Kohlendioxid, was die Meeresversauerung vorantreibt, oder auch durch die noch im Anfangsstadium befindliche Verpressung des Gases in den Sedimenten unterhalb des Meeresbodens. Das Meer als Auffangbecken: Einträge schädlicher Materialien in flüssiger und in Wasser gelöster Form sind vielfältig, ihre Behandlung sprengt den Rahmen dieses Beitrags, der seinen Schwerpunkt auf Abfall in fester Form legt. Die Meere sind für uns heute mehr denn je Auffangbecken für Abwässer, Giftstoffe und weitere Substanzen aller Art, welche über die Flüsse oder das Grundwasser eingeleitet, von Schiffen und Bohrinseln verklappt, aus Aquakulturanlagen eingespült, aus der Atmosphäre und über Land eingetragen werden oder bei der Erdölförderung ins Meer gelangen (COML 2011; WBGU 2013), sei es in flüssiger, gelöster, feinpartikulärer oder fester Form. Der Großteil der landseitig eingetragenen Stoffe entstammt der landwirtschaftlichen und industriellen Produktion oder den Abwässern von Haushalten und Kommunen. Nährstoffe, Pestizide, Schwermetalle, toxische Stoffe aus der Industrieproduktion sowie insbesondere Plastik und weiterer fester Müll dominieren hierbei. Seit den späten 1940er Jahren werden für die Landwirtschaft anorganische Düngemittel auf Phosphat- und Nitratbasis industriell hergestellt (Mackenzie et al. 2002), wobei sich deren Nutzung enorm verbreitet und intensiviert, d.h. beschleunigt hat. Die anthropogene Produktion reaktiven Stickstoffs (N) hat sich seit der Industrialisierung von ca. 15 auf 156 Mt N pro Jahr verzehnfacht. Sie übersteigt mittlerweile die natürliche Menge des Stickstoff kreislaufes. Bis 2050 wird sogar eine Steigerung auf ca. 267 Mt N pro Jahr angenommen (Galloway et al. 2004; Bouwman et al. 2009). Ähnlich dramatisch ist die Steigerung der Einträge von Phosphor in die Ozeane. Diese Überdüngung führt zu vermehrtem Algenwachstum und Eutrophierung bis hin zu Sauerstoffarmut. Insbesondere Korallenriffe, aber auch viele andere marine Ökosysteme sind davon betroffen. Insgesamt ist die Vermüllung der Meere eingebunden in die seit den 1950er Jahren durchstartende »Große Beschleunigung« der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Prozesse sowie der damit einhergehenden anthropogenen Veränderungen des Erdsystems (Steffen et al. 2011, 2015). Zu den in die Meere gelangenden chemischen Schadstoffen gehören Schwermetalle wie Blei, Quecksilber und Cadmium, aber auch langlebige organische Schadstoffe (Persistent Organic Pollutants, POPs), darunter das Insektizid DDT, polychlorierte Biphenyle (PCBs) und polyfluorierte Verbindungen (PFCs). Sie werden teilweise eigens für industrielle und landwirtschaftliche Zwecke produziert, fallen aber auch bei Fertigungs- oder Verbrennungsprozessen als Nebenprodukte an. Schwermetalle werden gezielt gefördert oder

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eingesetzt, etwa zur Metallveredelung. Obwohl es inzwischen zunehmend Datenreihen und Emissionskataster gibt, sind Zahlen zu den Verunreinigungen insgesamt nur schwer zu generieren. Insgesamt werden mehr als 300 chemische Substanzen für die Meeresumwelt als gefährlich eingestuft (OSPAR 2010). Etliche davon, wie etwa langlebige organische Substanzen (POPs) und Schwermetalle, welche seit Jahrzehnten in die Meere gelangen, können schwere Schädigungen der marinen Fauna hervorrufen. Außerdem können sie über die Nahrungskette akkumulieren und so auch wieder durch den Menschen aufgenommen werden. Aufgrund ihrer Langlebigkeit werden POPs in weit von den Schadstoffquellen entfernte Regionen transportiert, wie z.B. in die Arktis, wo sie in teils gesundheitsgefährdenden Konzentrationen in Organen von Eisbären, Walen und Seevögeln nachgewiesen werden konnten. Außerdem wird zunehmend bekannt, dass POPs auch an Mikroplastikpartikeln angereichert werden, wodurch sich neue Wege in Nahrungsketten eröffnen. Während die Auswirkungen der POPs auf den Menschen noch ungenügend erforscht sind – sie stehen im Verdacht, krebserregend zu sein und den Hormonkreislauf zu beeinflussen (UNEP-AMAP 2011) – sind die toxisch auf das Nervensystem wirkenden Effekte des Quecksilbers gut bekannt (WHO 2007b). Auswirkungen auf ganze Ökosysteme sowie kumulative Effekte bedürfen hingegen noch der Erforschung. Die Anreicherung in Tieren am oberen Ende der Nahrungskette ist allerdings mittlerweile so hoch, dass in bestimmten Regionen vor dem Verzehr von Fisch und Walfleisch gewarnt wird (OSPAR 2010b). Der Beginn des postulierten neuen erdgeschichtlichen Abschnitts – Anthropozän – ist international noch nicht festgelegt. Nach einem aktuellen Diskussionspapier der damit beauftragten internationalen Arbeitsgruppe wird derzeit insbesondere das Einsetzen der atomaren Testversuche als möglicher Zeitpunkt diskutiert (Zalasciewicz et al. 2015a, 2015b). Seit dem 16.7.1945 – dem ersten Atomwaffentest (»Trinity Test«) – gelangen anthropogene radioaktive Substanzen in die Umwelt und landen letztendlich vor allem in den Meeren (Aarkrog 2003), wo sie sich als Referenzhorizont teilweise über Millionen von Jahren nachweisen lassen werden. Das meiste Material stammt aus den atmosphärischen Nuklearwaffentests der 1950er und 1960er Jahre, ein geringerer Anteil aus den Reaktorunfällen in Tschernobyl (1986) und Fukushima (2011). Fukushima übertrifft seiner Lage wegen Tschernobyl hinsichtlich der Effekte auf die Meere (Buesseler et al. 2011). Zudem werden bis heute legale Einleitungen radioaktiver Abwässer aus nuklearen Wiederauf bereitungsanlagen durchgeführt (Livingston/Povinec 2000). Hinzu kommen die Verklappung radioaktiver Abfälle oder kleinere AKW-Unfälle, deren Auswirkungen allerdings wie andere Schadstoffe auch durch Meeresströmungen schnell global verteilt werden (AMAP 2010). Auch verseuchen von Mini-AKWs angetriebene Atom-U-Boote durch auslaufenden, radioaktiven Müll die See (Matishov et al.

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1999). Von 1949 an haben vierzehn Staaten ganz offiziell Atommüll auf dem Meeresboden gelagert, bis 1993 die Lagerung von radioaktivem Müll in den Meeren verboten wurde (IAEA 1999). So rosten etwa noch über 220.000 legal im Atlantik versenkte Fässer mit Atommüll am Meeresboden langsam vor sich hin. Bis vor Kurzem wenig beachtete radioaktive Quellen sind auch stillgelegte nuklear betriebene Schiffe (AMAP 2010). Abgesehen von den Belastungen bei akuten Unfällen wie in Fukushima liegen die durchschnittlichen Belastungsdosen durch Radionuklide für marine Organismen sowie den Menschen durch den Verzehr belasteter Meerestiere weit unter internationalen und EU-Grenzwerten. Die stärkste Belastung stammt weiterhin aus natürlichen Quellen (UNEP/GPA 2006). Problematisch ist allerdings die Langlebigkeit radioaktiven Mülls und die dadurch resultierende Akkumulation entlang von Nahrungsketten. Das Meer als CO2-Senke: Bislang haben die Weltmeere etwa ein Drittel der anthropogenen CO2-Emissionen aufgenommen. Diese Emissionen stammen im Wesentlichen aus fossilen Energiequellen sowie aus Landnutzungsänderungen (Khatiwala et al. 2012). Bezogen nur auf die Emissionen aus fossilen Energiequellen werden 45 % davon von den Meeren aufgenommen. Insgesamt befinden sich heute in den Meeren etwa 38.000 Gt Kohlenstoff in gelöster oder dissoziierter Form. Dies übersteigt den Kohlenstoffgehalt der Atmosphäre um das fünfzigfache und den der terrestrischen Biosphäre und der Böden um das zwanzigfache (WBGU 2006, 2011). Die Ozeane sind damit der größte natürliche Speicher des Treibhausgases CO2, welches allerdings bei Erreichen der Sättigung auch leicht wieder abgegeben werden kann, sodass die Ozeane von einer Senke zu einer Quelle von CO2 werden würden. Die enorme Klimarelevanz der Ozeane ist wissenschaftlich unstrittig. Ozeane sind ein natürliches Puffersystem und halten sich ohne Berücksichtigung des fossilen CO2 mit der Atmosphäre im Gleichgewicht. Erst die anthropogene Zufuhr fossilen Kohlenstoffs an die Atmosphäre ändert den CO2-Partialdruck der Atmosphäre und macht dadurch die Ozeane zu einer Senke. Der derzeitige Eintrag an CO2 in die Ozeane von etwa 2 Gigatonnen pro Jahr ist folglich ausschließlich durch den Menschen bedingt (WBGU 2011). Der Seeschiffsverkehr, der nach wie vor ganz überwiegend auf Dieselmotoren setzt, trägt immerhin zu etwa 3 % der globalen Treibhausgasemissionen bei. Dieser Anteil könnte sich bis 2050 verdreifachen (UNCTAD 2011: 27). Das Meer als CO2-Speicher: Um auch weiterhin die großen Vorräte an fossilen Energieträgern nutzen zu können, wird auch das Abfangen von CO2 durch Filteranlagen und dessen Verpressung im Meeresboden (Carbon Capture and Storage) diskutiert und getestet. Verflüssigtes CO2 wird dabei per Pipeline oder per Schiff zum Untergrundspeicher transportiert. Zu diesen Zwecken bestehen bisher etwa 5.000 km Pipeline, entsprechende Schiffe mit Fassungsvermögen von ca. 40.000 Tonnen CO2 werden derzeit konstruiert. Insbeson-

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dere im norwegischen Sektor der Nordsee, aber auch in weiteren Anlagen wird bereits in einem wissenschaftlichen Großversuch CO2 verpresst und gelagert (WGBU 2013). Allerdings ist eine Garantie der Permanenz der Speicher generell unmöglich. Der IPCC fordert Speicherdichten, bei denen nach 1.000 Jahren noch 99 % des CO2 gespeichert sein sollen. Der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung globale Umweltveränderungen (WBGU) hat sich unter Erwägung des Vorsorgeprinzips für eine Rückhaltezeit von 10.000 Jahren ausgesprochen, da auch geringe Leckage-Raten bei großen Mengen gespeicherten Kohlendioxids den gefährlichen Klimawandel vorantreiben (WBGU 2006). Eine Rückhaltezeit von 10.000 Jahren ist in tiefen Aquiferen theoretisch erreichbar. Allerdings dürfte sich mit den hohen Anforderungen die Zahl der geeigneten Lagerstätten sehr stark einschränken. CCS-Lagerstätten wären technisch auch an Land möglich und dort günstiger befüllbar sowie einfacher überwachbar, wobei allerdings auch hier die Zahl der geeigneten Lagerstätten kaum genügen dürfte. Die Auslagerung in die Meere erscheint daher einmal mehr auch als eine Verdrängungsstrategie. Das Meer als Mülldeponie: Die Meere werden in einem der Öffentlichkeit kaum bekannten Ausmaß auch als Deponie für Feststoffmüll genutzt. Fischereischiffe werfen kommerziell nicht nutzbaren Beifang über Bord. Das Gewicht an Rückwurf von Fisch und anderen Meeresorganismen wird auf 8-20 Millionen Tonnen geschätzt (Jaquet/Pauly 2008), was knapp einem Fünftel der gefischten Meeresorganismen (ca. 80 Millionen t/a; FAO 2012) entspricht, das – meist tot – wieder in die See geworfen wird. Auch Handels- und Tourismusschiffe verklappen Teile ihrer Bordabfälle im Meer. Das internationale Marpol-Abkommen zur Verhütung der Meeresverschmutzung durch Schiffe erlaubt – mit Ausnahme einiger Sondergebiete, wie Nord- und Ostsee, Mittelmeer oder Karibik – tatsächlich ab einer Entfernung von mindestens 25 Seemeilen zur Küste die Entsorgung von Stauholz, sowie von schwimmfähigen Verpackungs- und Staumaterialien, die nicht aus Kunststoff sind. Bereits ab 12 Seemeilen dürfen Lebensmittelabfälle sowie sonstiger Müll wie Papier, Lumpen, Glas, Metall und dergleichen in die See abgegeben werden. Materialien aus Kunststoff müssen an Land entsorgt werden (Marpol 1973/78, Annex V). Dennoch landen weiterhin Teile des Hausmülls aus ungesicherten strandnahen Müllkippen sowie durch direkten Eintrag und bei touristischen Aktivitäten entsorgte Abfälle oft im Meer. Selbst weit im Inland liegende Mülldeponien können durch Erosion, Stürme, aber auch durch mangelhafte Überwachung ein Quell ständiger Müllzufuhr in die Meere werden. Darüber hinaus führt die industrielle Nutzung der Meere, etwa der Abbau von Kies oder das Betreiben von Ölplattformen, zu weiterem Müll in den Meeren. Das Umweltbundesamt schätzt, dass sich allein auf dem Boden der Nordsee 600.000 qm Müll befinden (UBA 2013a).

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Tausende Tonnen Bauschutt, giftige Flugasche aus Kohlekraftwerken, alte Autoreifen, Ölbohrinseln, Schiffe, Autos und Straßenbahnwagen wurden in den vergangenen Jahrzehnten als sogenannte »künstliche Riffe« im Meer versenkt. Die ökologischen Konsequenzen sind zumeist enorm: Auf Sekundärsubstraten wie Metall, Kautschuk oder Kunststoff siedeln sich etwa Steinkorallenlarven in der Regel nicht an. Anstriche, Antifouling-Lacke und Altöl geben Schadstoffe ab. Metallschrott dient insbesondere als Versteck für Fische und wird für die Fischerei dann zu effizienten Fischfallen, um die herum es sich besonders zu fischen lohnt (Schuhmacher 2008). Im Blickpunkt der Öffentlichkeit und neuerdings auch der Wissenschaft steht jedoch insbesondere die Verschmutzung der Meere durch Plastikmüll.

3. P l astik in den M eeren Plastik sind Kunststoffe aus organischen Polymeren, die zum Großteil aus Erdöl hergestellt werden und nur zu einem kleinen Teil pflanzlichen Ursprungs sind. Aufgrund ihrer vielfältigen Eigenschaften wie Formbarkeit, Elastizität, Beständigkeit, Bruchfestigkeit sowie der vergleichsweise geringen Herstellungskosten werden Kunststoffe weltweit in einer schier endlosen Anzahl an Variationen verwendet. Die Polymere gelten wegen ihrer molekularen Größe als ungefährlich für die Umwelt und die menschliche Gesundheit. Allerdings finden sich in Kunststoffen Reste von bedenklichen Monomeren sowie einer ganzen Reihe von Behandlungs- und Zusatzstoffen, die den verschiedenen Kunststofftypen einerseits zu ihren spezifischen Eigenschaften verhelfen, andererseits aber toxisch wirken können (Lithner et al. 2011). Schätzungen gehen davon aus, dass sich die Kunststoffproduktion seit den 1950er Jahren von etwa 2 Millionen Tonnen jährlich auf 299 Millionen Tonnen im Jahr 2013 mehr als verhundertfacht hat, wobei in dieser Schätzung PET, PA und Polyacryl-Fasern nicht mit eingerechnet sind. Der Umfang der Plastikproduktion korreliert mit dem globalen Wirtschaftswachstum. So brachte die ökonomische Krise von 2008 vorübergehend einen deutlichen Rückgang der Plastikproduktion. Der größte Plastikproduzent ist China mit knapp 25 % der Jahresproduktion für 2013, gefolgt von der Europäischen Union (27 EU-Staaten sowie Norwegen und die Schweiz) (20 %) und den Ländern der Nordamerikanischen Freihandelszone (19,4 %). Innerhalb der Europäischen Union ist die Bundesrepublik Deutschland der mit Abstand größte Produzent von Kunststoffen. In der Europäischen Union fallen fast 40  % auf die Produktion von Verpackungen, gut 20 % kommen im Bausektor zum Einsatz und 8,5 % in der Automobilindustrie (Plastics Europe 2015). Was nach der Verwendung mit dem Plastik geschieht, ist nur teilweise geklärt. Ein Teil wird im Rahmen des Abfallmanagements als Müll in Deponien

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gelagert, zur Energiegewinnung verbrannt oder recycelt. Der Rest bleibt als Teil von Produkten über einen längeren Zeitraum in Verwendung oder endet als Müll in der Umwelt. Eine neue Studie, mit Zahlenmaterial der Weltbank, schätzt basierend auf der Untersuchung von 192 Meeresanrainerstaaten für das Jahr 2010, dass Plastik im Durchschnitt 10  % des Gesamtmüllaufkommens ausmacht (Jambeck et al. 2015). In der Europäischen Union inklusive Norwegen und der Schweiz werden nach Angaben des Verbands der Plastikindustrie 36 % des verwendeten Plastiks verbrannt, 38  % in Mülldeponien gelagert und 26  % recycelt, wobei die jeweiligen Anteile in den Ländern stark variieren (Plastics Europe 2015). In den Vereinigten Staaten werden lediglich 9 % des im Hausmüll anfallenden Plastiks recycelt, der Rest kommt auf die Deponie (EPA 2013). Auch in Entwicklungs- und Schwellenländern haben veränderte Lebensstile den Einsatz von Plastik und damit auch Plastikabfälle stark zunehmen lassen. Das Schwergewicht liegt auch hier im Verpackungsbereich. Eine geregelte Abfallentsorgung ist in diesen Ländern generell noch weniger entwickelt als in Industrieländern. Auch wenn der Müll zunächst geregelt entsorgt wird, landet er zuletzt meist in offenen, ungesicherten Mülldeponien, aus denen Kunststoffe über Wind und Ausspülungen nach Regenfällen ins Meer gelangen können (UN ECA 2009; Zhang et al. 2010). Es existieren zwar aktuell keine übergreifenden Zahlen für Kunststoffrecycling, aber Fallstudien zu einzelnen Städten zeugen von der Schwere des Problems. In Nairobi beispielsweise werden über 80 % des benutzten Plastiks ungeregelt in der Umwelt entsorgt (Kenya National Cleaner Production Centre 2006). Die Menge an Plastik, die tatsächlich im Meer endet, ist schwer zu beziffern. Die Europäische Union spricht von geschätzt mehr als 100.000 Tonnen flottierenden Plastiks in den Meeren (EC 2011; Erikson et al. 2014) gehen sogar von über 250.000 Tonnen aus. Eine neuere Modellrechnung schätzt den Eintrag von Plastikabfall durch Küstenanrainerstaaten auf zwischen 4,8 und 12,7 Millionen Tonnen allein für das Jahr 2010 (Jambeck et al. 2015). Die Schätzung beruht auf Daten der Weltbank, wobei die Autoren die Unsicherheit der Datenlage betonen (Hoornweg/Bhada-Tata 2012). Momentan ist die Konzentration von marinem Plastikabfall in der nördlichen Hemisphäre größer als in der südlichen (Lebreton et al. 2012). Etwa 80 % aller Plastikabfälle im Meer stammen von Land (EC 2011; Cole et al. 2011). Sie gelangen über Abwasserkanäle, Kläranlagen, industrielle Einleitungen oder durch in Flüssen bzw. an Küsten entsorgtem Müll ins Meer. Die anderen 20 % sind Abfälle und Überreste von Schiffen, Bohrinseln, Aquakulturanlagen oder der Fischerei. Zu trauriger Berühmtheit gelangten nicht zuletzt die herrenlos im Meer treibenden, aus Kunststoff gefertigten Fischereinetze als Vogel-, Fisch- und Schildkrötenkiller. Aber auch in einfachen Plastiktüten verheddern sich Tiere und gehen daran zu Grunde.

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Einmal ins Meer gelangt, sind Kunststoffe dort allgegenwärtig: an der Oberfläche, in der Wassersäule und am Grund, sogar in der Tiefsee. Die Meeresströmungen verteilen Kunststoff über sehr weite Strecken bis in entlegene Meeresregionen. An Stränden und in den fünf ozeanischen Müllkreiseln reichert er sich besonders an. Zu einem Austausch von Plastikabfall zwischen der Nord- und der Südhemisphäre kommt es aufgrund der Wind- und Strömungsmuster nur in wenigen Küstengebieten (Andrady 2011; UNEP 2011; Lebreton et al. 2012; van Cauwenberghe et al. 2013). Zur Beurteilung der vielfältigen und teils gravierenden schädlichen Umweltwirkungen von Plastik muss zwischen Makro- und Mikroplastik unterschieden werden. Die Wissenschaft hat verschiedene Einordnungen in Größenklassen vorgenommen, deren feine Unterschiede in diesem Zusammenhang nachrangig sind. Wichtig ist, dass Plastikteile in so gut wie allen Größen ihr Unwesen treiben: vom riesigen Netz über gut sichtbare Bruchstücke bis hin zu mit bloßem Auge nicht erkennbaren Partikeln. Eine gängige Einteilung bezeichnet alle Plastikpartikel die kleiner als 5 Millimeter sind als Mikroplastik. Es gilt hier allerdings festzuhalten, dass im Meer vor allem Plastikpartikel in einer Größe von wenigen Mikrometern (μm) vorhanden sind (Andrady 2011). Solch winzige Plastikpartikel werden auch als Nano-Plastik bezeichnet und entsprechen in ihrer Größe einer ganzen Reihe von Planktonarten. Plastikgranulat, das mit Größen von über 5 Millimeter ebenfalls schwer sichtbar und im Meer weit verbreitet ist, wird gelegentlich als Meso-Plastik bezeichnet. Alle größeren Plastikteile werden dementsprechend als Makroplastik kategorisiert. Die genaue Lebensdauer von Plastik im Meer ist nicht bekannt, wird aber auf bis zu 450 Jahre geschätzt (UBA 2010, 2013a, 2013b). Mikroplastik gelangt zum Teil durch Abwässer ins Meer. Winzige Partikel u.a. aus kosmetischen Peelings, Zahncremes, Scheuermitteln sowie Kunstharz-Granulat (Rohstoff für andere Plastikprodukte) bauen sich nicht von selbst ab und werden in Kläranlagen nicht herausgefiltert. Vielmehr noch können Klärwerke selbst zu Verursachern der Verschmutzung mit kleinen Plastikteilchen werden. Es sind mehrere Fälle bekannt, in denen bei unsachgemäßer Anwendung oder Überflutung der Klärbecken durch Regen Kunststoff-Trägerteilchen für Bakterienkulturen zur Auf bereitung von Abwasser zu Hunderttausenden ausgeschwemmt und an Stränden gefunden wurden (Odenthal 2013). Zunehmend nachgewiesen werden auch Mikroplastik-Fasern, die sich beim Waschen synthetischer Stoffe lösen und weder von Waschmaschinen noch von Klärwerken zurückgehalten werden (Browne et al. 2008, 2011; Woodall et al. 2014). Mikroplastik entsteht außerdem bei Verwitterung größerer Plastikteile durch Sonneneinstrahlung oder mechanische Belastung durch das Meer, ganz besonders an Stränden (Andrady 2011). An Stränden und in küstennahen Sedimenten ist Mikroplastik weltweit zu finden. Im Meereswasser wurden in star-

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kem Maße unterschiedliche Konzentrationen ermittelt. Je dichter eine Küste besiedelt ist, desto höher sind die nachgewiesenen Konzentrationen. In einem Hafen in der Nähe einer schwedischen Kunststofffabrik wurde eine Konzentration von 100.000 Partikeln pro Kubikmeter Wasser gemessen. Im offenen Meer ist die Konzentration wesentlich geringer (Wright et al. 2013). Die Umwelteffekte von Makro- und Mikroplastik sind sehr unterschiedlich. Fischereinetze und größere Plastikteile erwürgen und verletzen Meeressäuger, Fische und Seevögel. Von ungefähr 44 % aller Seevogelarten weiß man, dass sie kleinere Plastikteile fressen; einzelne Arten füttern Plastikteilchen sogar an ihre Jungen (Andrady 2011). Auch in Fischen finden sich – insbesondere in den Populationen in Plastikstrudeln – oft hohe Anteile von Plastikpartikeln im Mageninhalt (Boerger et al. 2010; Davidson/Asch 2011). Makroplastik sinkt auch zum Meeresboden, lagert sich dort ab und kann von Hartsubstrat abhängige Organismen anziehen. Auch flottierende Plastikteilchen können von Organismen besiedelt werden, dadurch zu Boden sinken, dort gegebenefalls wieder abgeweidet werden und danach wieder aufsteigen. Kunststoffpartikel können also eine sehr lange Verweildauer in verschiedensten Bereichen der Wassersäule haben. Der Floßeffekt von Plastikteilchen kann zudem dazu beitragen, die Ausbreitungsgeschwindigkeit invasiver Arten zu erhöhen. All dies kann zu Veränderungen benthischer und pelagischer Artenzusammensetzungen und deren Ökosystemen führen (Katsanevakis 2008; Gregory 2009; Golfstein et al. 2012; Wright et al. 2013). Die Wirkungen von Mikroplastik sind gänzlich anders gelagert und weniger gut bekannt. Mikroplastik ist in der Lage, hormonschädigende und krebserregende Stoffe wie PCBs oder POPs an sich zu binden. Kunstharz-Granulat mit unterschiedlich hohen Konzentrationen an PCBs, die das Granulat im Meerwasser aufgenommen haben muss, wurde an den Stränden von sechzehn Ländern gefunden (Teuten et al. 2009). Einmal gebunden, können sich diese Substanzen verteilen, durch Nahrungsaufnahme in Organismen anreichern und in der Nahrungskette akkumulieren (Cole et al. 2011; Andrady, 2011; Ugolini et al. 2013). Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass nahe dem Meeresboden lebende Organismen wie Seegurken und Kaiserhummer sowie verschiedene kleinere, von Plankton lebende Fischarten Mikroplastik aufnehmen (Wright et al. 2013). Meist ist nicht bekannt, ob das Mikroplastik wieder ausgeschieden wird. Das bedeutet ein großes Manko, sofern mögliche Schäden davon abhängen und auch ein Transfer von Mikroplastik und Schadstoffen in die Nahrungskette möglich ist. Obwohl die vorliegenden Untersuchungsergebnisse noch kein Gesamtbild ergeben, besteht durchaus Anlass zur Sorge. Im Kot von Robben und Seelöwen ist bereits Mikroplastik gefunden worden, was Indiz für einen Eingang in die Nahrungsketten sein könnte. Bei experimentellen Untersuchungen mit Miesmuscheln, konnte nachgewiesen werden, dass Mi-

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kroplastik in deren Blut übergegangen war (Browne et al. 2008; Wright et al. 2013). Auch ist ein direkter Zusammenhang bei der Aufnahme von Plastik und der PCB-Konzentration im Fettgewebe von Großen Sturmtauchern (Puffinus gravis) hergestellt worden (Teuten et al. 2009). Nach einer Schätzung von Thompson et al. (2004) machte der Anteil von Plastik am Eigengewicht ausgewählter Strände 10 % aus. Untersuchungen zur Sedimentation von Makro- und Mikroplastikpartikeln am Meeresboden sind noch selten, zeigen jedoch bereits das Vorhandensein von signifikanten Anteilen von Plastik auf – und das in allen Meeresbodenbereichen, von Strandsedimenten bis zu Tiefseeablagerungen.1 Auch wenn Mikroplastikpartikel von sedimentfressenden oder filtrierenden, grabenden oder festsitzenden Organismen aufgenommen und gegebenenfalls sogar »verdaut« werden können (Browne et al. 2008), werden die meisten dieser Partikel letztendlich als menschengemachte Sedimentkörner bzw. »Technofossilien« (sensu Zalasiewicz et al. 2015) in marine Sedimente integriert werden. Daher sehen Zalasiewicz et al. (2015) das Auftreten sedimentärer Plastikpartikel seit den 1950er Jahren als weiteres Kriterium zur Definition der Basis des Anthropozäns als neue erdgeschichtliche Epoche. Aufgrund dieser kurzen Zeitspanne gibt es noch keine Erkenntnisse zur Langzeitüberlieferung von Plastikpartikeln als Bestandteil von Meeressedimenten. Insbesondere in feinkörnigen Sedimenten bzw. bei hoher Hintergrundsedimentationsrate und dadurch raschem Sauerstoffabschluss ist – in Analogie zur aus der Erdgeschichte unter solchen Bedingungen bekannten Erhaltung organischer Substanzen – jedoch eine extrem reduzierte Abbaurate und damit eine geologisch signifikante Persistenz anzunehmen.

4. M üll als Teil des M enschheitserbes M eer : E in systemischer L ösungsversuch Die Verschmutzung der Ozeane ist ein typisches Beispiel im Sinne der Tragedy of the Commons (Tragödie des Allgemeinguts). Nach diesem Prinzip werden Allgemeingüter wie öffentlich zugängliche Ressourcen vom Individuum bis zum Maximum ohne Eigenbeschränkung genutzt. Da die Ressourcen begrenzt sind, werden diese zwangsläufig übernutzt und zerstört, so lange keine Beschränkungen erfolgen (Gordon 1954). Solange Staaten und Individuen nicht dafür Sorge tragen, Müll und besonders Plastikmüll nicht im Meer zu deponieren, besteht für das Meer eine Tragödie des Allgemeinguts darin, dass wichtige Funktionen der Ozeane – wie zum Beispiel deren Funktion als Nahrungslieferant (Stichwort: Überfischung) oder als Erholungsraum – nicht 1 | Vgl. Barnes et al. 2009; Bergmann/Klages 2012; Browne et al. 2011; Claessens et al. 2011; Dekiff et al. 2014; Pham et al. 2014; Watters et al. 2010.

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mehr zur Verfügung stehen werden. Die Idee des Mare liberum im Sinne eines freien Zugangs zur See lässt sich auf die Nutzung der Meere als Transportwege anwenden, nicht aber auf deren Nutzung als Ressourcenquelle bzw. Auffangbecken und Müllhalde. Plastik in den Meeren hat seitens der Wissenschaft und der Politik zwar bereits einige Aufmerksamkeit erfahren – von einer Lösung des Problems kann jedoch nicht einmal in Ansätzen in die Rede sein. Eine Reihe internationaler Einrichtungen wie die OSPAR-Kommission oder die HELKOM-Kommission haben zum Ziel, den Eintrag von Müll in die Ozeane zu reduzieren. Bislang sind diese Bemühungen jedoch nur wenig erfolgreich. Auch unternehmen viele Länder Anstrengungen, Plastikmüll sicher zu entsorgen oder wiederzuverwerten. Mit Blick auf die Prognosen zur Plastikproduktion – sie wird weiter steigen – und den immer noch wachsenden Eintrag von Plastik ins Meer, muss man feststellen, dass der gesellschaftliche Umgang mit Plastik derzeit alles andere als zufriedenstellend ist. Von der Landseite aus müssten verstärkte Anstrengungen unternommen werden, den Einsatz von Plastik zu reduzieren und benutztes Plastik in geschlossene Stoff kreisläufe zu integrieren. Hier ist zum einen die Politik gefragt, etwa mit einem Verbot der kostenlosen Abgabe von Einmalplastiktüten, der Einführung von Pfand-Mehrwertsystemen bei der Verpackung von Lebensmitteln und anderen Produkten, aber auch in der Unterstützung zahlreicher gesellschaftlicher Initiativen, die sich für saubere Meere einsetzen. Zusätzlich müssten sich auch Unternehmen stärker ihrer Verantwortung als Produzenten bewusst werden und den Einsatz von Plastik vermeiden bzw. Recycling aktiv unterstützen. Erfreulicherweise stellten nach Bekanntwerden der weiten Verbreitung feinster Plastikpartikel in kosmetischen Produkten viele Produzenten aufgrund von Kundendruck rasch auf ökologisch unbedenkliche Zusatzstoffe um bzw. kündigten die baldige Umstellung an (BUND 2015). Im Kontext eines »Inwastements« sollte aber insbesondere die kulturelle Dimension – verstanden als Spiegel der gesellschaftlichen Wahrnehmung – bei der Lösung des Plastikproblems im Vordergrund stehen. Sieht man im Verhältnis von Plastik und weiterem Müll zu den Meeren nämlich eine kulturelle Praxis, erkennt man, dass durch unser Handeln u.a. auch das Verhältnis von Mensch, Gesellschaft und Natur produziert und reproduziert wird. Teil dieses Handelns sind kognitive Bedeutungs- und Sinnstrukturen, an denen sich unsere jeweiligen Handlungen bewusst und unbewusst ausrichten. Naturbilder sprechen – überspitzt gesagt – über unser Naturverhältnis und reproduzieren es (Hörning/Reuter 2004). Im Fall der Ozeane scheint eine tiefe Kluft zu bestehen zwischen der an kulturellen Artefakten ablesbaren Imagination der Meere als Ort des Abenteuers, der Erholung und der Freiheit und der Praxis, die Meere als Kloaken zu nutzen.

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Notwendig ist folglich ein kulturelles und soziales Umdenken, um die Meere – unter Wahrung der positiven Imagination – als Ort gravierender, vom Menschen gemachter Umweltprobleme überhaupt wahrzunehmen. Dies kann in mehreren unterschiedlichen Schritten geschehen: Auf einer ersten Ebene sollten die problematischen Aspekte von Plastik stärker artikuliert werden, um die Wahrnehmung zu verändern. So gibt es beispielsweise den Vorschlag, Plastik aufgrund der toxischen Eigenschaften bestimmter Plastikbestandteile als »hazardous« (»gefährlich«/»Gefahrgut«) einzustufen (Rochman et al. 2013). Dies hätte weitreichende Folgen für den Umgang mit Plastik, denn in vielen Ländern gibt es spezielle Regeln für den Umgang mit Gefahrgütern. Die Einschränkung des Blicks allein auf Kunststoffe ist in diesem Zusammenhang jedoch unzureichend. In der Umweltpolitik spricht man bei der Fokussierung auf den Schadstoff als End-of-Pipe-Strategie: Ein umweltschädlicher Stoff wird nach der Herstellung und Verwendung am Eintritt in die Umwelt gehindert und entsorgt. Der Nachteil besteht darin, dass die Verhinderung des Eintritts – falls sie technisch überhaupt realisierbar ist – meist mit erheblichen Kosten verbunden ist und das Umweltproblem oft einfach nur geographisch verschoben wird. Wohin mit dem Müll, wenn er nicht im Meer landen soll? Sowohl Müllverbrennung als auch die Deponierung von (Plastik-)Abfall sind ökologisch nicht problemlos. Auf einer zweiten Ebene stünden Start-of-Pipe-Lösungen: Die Umweltwirkungen von Produkten werden vor Herstellung und Einsatz abgeschätzt, um negative Effekte zu vermeiden. Dieser Ansatz hat eine starke kulturelle Dimension, sofern bei der Entwicklung von Plastik neue Leitbilder und Strategien ausschlaggebend wären, die positive Aspekte wie »umweltfreundliches Plastik« oder »100 % Plastikrecycling« ins Spiel bringen, die dann auch realisiert würden. Gerade auch für neue kunststoffintensive Technologien, wie etwa plastikbasierte 3D-Drucker, müssten diese Aspekte von vornherein mitgedacht werden. Zu den Start-of-Pipe-Lösungen kann auch die Vermeidung von Kunststoffen gezählt werden, was unter Umständen die einfachste, auf jeden Fall aber die sinnvollste Strategie zur Reduktion von Plastikabfall wäre. Da sich der Einsatz von Kunststoff – etwa durch Verzicht auf Plastiktüten und teilweise auch auf Verpackungen – zwar reduzieren, sich aber in Anbetracht der Allgegenwart von Plastik sowohl in Alltagsgegenständen als auch in industriellen Prozessen und Erzeugnissen bis hin zu Hightech-Produkten wie dem künstlichen Herzen keinesfalls vermeiden lassen wird, sind letztlich systemische Ansätze zur Problemlösung von Nöten. Auf der soziokulturellen Ebene hat sich der WBGU für einen neuen Gesellschaftsvertrag zur Erreichung einer zukunftsfähigen Gesellschaft ausgesprochen, der auch das Thema »Müll« mit beinhaltet. Ein Gesellschaftsvertrag für die Meere: In der politischen Philosophie geht die Idee des Gesellschaftsvertrags unter anderen auf Jean-Jacques Rousseau

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zurück. Sie beinhaltet, dass die Menschen einer Gesellschaft im Sinne eines ideellen Vertrags freiwillig darin übereinkommen, ihr Verhalten unter die Richtschnur eines gemeinsam beschlossenen, auf das Wohl aller zielenden »Gemeinwillens« zu stellen. Zentral ist auch die Idee Immanuel Kants, dass die gemeinschaftlich beschlossene Selbstbeschränkung individuellen Handelns aus rationalen, guten Gründen möglich sein muss. Neuere Interpretationen des Gesellschaftsvertrages verstehen ihn als Zusammenschluss von Menschen aus freiem Willen in einem Gemeinwesen, in dem sie sich auferlegen, zum gegenseitigen Nutzen gemeinsamen Regeln und Pflichten nachzukommen. In der Interpretation des WBGU sind Gesellschaftsverträge keine Gesetze oder Verfassungen, sondern die Summe geteilter Werte, Überzeugungen und Ansichten, die Verfassungen, Gesetzen und politischem Handeln zu Grunde liegen. Gesellschaftsverträge sind in diesem Sinne virtuelle, gedachte Übereinkünfte, die sich im Rahmen gesellschaftlichen Wertewandels und demokratischer Prozesse verändern können. In diesem Sinne ist der ideelle Vertrag im ersten Schritt mit einem breiten demokratischen Aushandlungsprozess und im zweiten Schritt mit konkreten politischen Institutionen verknüpft. Der WBGU schreibt dazu: »In einer solchen gedachten Übereinkunft verpflichten sich Individuen und zivilgesellschaftliche Gruppen, Staaten und die Staatengemeinschaft sowie Unternehmen und Wissenschaft, gemeinsame Verantwortung für den Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen zu übernehmen, indem sie Vereinbarungen für die Erhaltung globaler Gemeinschaftsgüter treffen« (WBGU 2011a). Wie lässt sich nun die Idee eines neuen Gesellschaftsvertrags für eine nachhaltige und zukunftsfähige Entwicklung auf die Meere übertragen? Der WBGU hat als ideelle, normative Grundlage die Idee des Menschheitserbes Meer vorgeschlagen. Sie wurde in den 1960er Jahren bereits von Arvid Pardo und Elisabeth Mann-Borgese als grundlegendes Prinzip zur Gestaltung des damals entwickelten globalen Seerechtsübereinkommens entwickelt. Kern ist, dass bestimmte Orte der ganzen Menschheit gehören und ihre Ressourcen zum Wohle aller, auch zukünftiger Generationen, genutzt werden müssen (Pardo 1967, 1975). Diese Idee konnte sich aber bei der Entwicklung des internationalen Seerechtsabkommens, das bis heute die rechtliche Grundlage für die Nutzung der Meere ist, nicht vollständig durchsetzen. Die Nutzung der Meere ist durch die UN-Seerechtskonvention (UNCLOS) und eine Reihe von Durchführungsabkommen wie folgt geregelt: Für das sogenannte »Küstenmeer«, das sich von der Küstenlinie 12 Seemeilen ins Meer erstreckt, gilt nahezu uneingeschränkte Souveränität für den jeweiligen Küstenstaat. In der sich daran anschließenden Ausschließlichen Wirtschaftszone (AWZ), die sich auf bis max. 200 Seemeilen ab der Küste ausdehnt, verfügen die Küstenstaaten über souveräne Rechte zur Bewirtschaftung der Ressourcen. Küstenmeer

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sowie AWZ umfassen Wassersäule, Meeresboden und -untergrund. Die AWZ kann bis auf 350 Seemeilen für einen Staat ausgeweitet werden, vorausgesetzt der Festlandsockel ragt so weit in das Meer hinein. Über die Ausweitung der AWZ entscheidet die Festlandsockelkommission. An die AWZ schließt sich die sogenannte »Hohe See« an, die den Rest der Meere, hierbei jedoch lediglich die Wassersäule umfasst. Diese unterliegt keiner staatlichen Souveränität. Es gilt unter anderem die Freiheit der Schifffahrt, der Fischerei und der Forschung. Der Meeresboden und der Meeresuntergrund der Hohen See werden »das Gebiet« genannt. Die Nutzung der dort vorkommenden mineralischen Ressourcen ist tatsächlich bereits nach dem Prinzip des Menschheitserbes geregelt. Dies bedeutet im Wesentlichen, dass der Zugang dazu nicht frei ist, sondern durch eine Meeresbodenbehörde reguliert wird. UNCLOS wird als Verfassung der Meere bezeichnet, denn es setzt den Rahmen für weitere Regelungen bezüglich Schutz und Nutzung der Meere. UNCLOS selbst überlässt viele Regelungen weiteren internationalen Abkommen und nationalem Recht. Neben UNCLOS gibt es eine Reihe weiterer internationaler Organisationen (Internationale Seeschifffahrtsorganisation, Zwischenstaatliche Ozeankommission der UNESCO), die sich mit der Nutzung der Meere befassen. Des Weiteren existieren etliche internationale Konventionen, regionale Seerechtsabkommen und zahlreiche nationale Initiativen zur Reduzierung des Eintrags von Plastikmüll in die Meere. Sowohl der aktuelle Zustand der Meere als auch eine Reihe umfassender Begutachtungen der Meeres-Governance lassen allerdings den Schluss ziehen, dass die Regelungen trotz Fortschritten in Teilbereichen unzureichend sind (Global Ocean Commission, 2013; WBGU 2013, 2015; UNEP 2014). Im Rahmen seines Gesellschaftsvertrages für die Meere schlägt der WBGU nun vor, die Idee des Menschheitserbes auf das ganze Meer auszuweiten. Daraus ergibt sich, dass »globale Kollektivgüter allen Menschen zugänglich sein müssen und keinem Staat, Individuum oder Unternehmen uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Die Erhaltung und nachhaltige Nutzung des Menschheitserbes erfordert Sachwalter, ein Schutz- und Nutzungsregime sowie Teilungsregeln, mit denen Kosten und Vorteile des Regimes gerecht verteilt werden. Aus politikwissenschaftlicher Perspektive leitet sich daraus ein System geteilter Souveränitätsrechte zwischen Staaten, basierend auf einem globalen, an Nachhaltigkeitszielen ausgerichteten Ordnungsrahmen ab. Die Kollektivgüter sollen erhalten sowie ihre kurzfristige Ausbeutung und Übernutzung vermieden werden, damit ihre Nutzung auch zukünftigen Generationen ermöglicht wird« (WBGU 2013: 2). Die Re-Interpretation der Meere als Menschheitserbe hätte – wie der WBGU in seinem Gutachten ausführt – zahlreiche Implikationen für die zukünftige Governance der Meere. Sie ist aber genauso auch ein kultureller Akt von zentraler Bedeutung. Anstelle des Meeres als Ab-Ort tritt das Bild eines

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schützenwerten, positiv konnotierten Ortes, dessen Nutzung nachhaltig geregelt werden muss und zu dessen Erhaltung jeder und jede beitragen sollte. Für den WBGU ergibt sich im nächsten Schritt als konkrete Empfehlung eine umfassende Reform der Meeres-Governance, auf die hier im Einzelnen nicht eingegangen werden soll (WBGU 2013). Zentral ist darauf hinzuweisen, dass sich aus dem Bild des Meeres als Menschheitserbe einerseits die Möglichkeit zur Nutzung ergibt, andererseits aber auch die Verantwortung für den Schutz und Erhalt der Meere, um eine Nutzung dauerhaft und generationenübergreifend zu ermöglichen. Nutzer sind der Weltgemeinschaft gegenüber rechenschaftspflichtig; die Sanktionierbarkeit von Regelbruch muss gegeben sein. Eng verbunden mit der Idee des Meeres als Menschheitserbe ist auch ein systemischer Blick auf die Meere, der die komplexen Interaktionen der marinen Ökosysteme untereinander, die Wechselwirkungen zwischen den Meeren und dem gesamten Erdsystem sowie zwischen menschlichen Gesellschaften und den Meeren erkennen lässt. Auch das Vorsorgeprinzip müsste beim Handeln hinsichtlich der Meere stärker Anwendung finden. In der Interpretation des WBGU ist vorgesehen, dass »nach dem (neuesten) Stand von Wissenschaft und Technik Vorsorge gegen mögliche Umweltschäden getroffen wird, auch wenn keine vollständige wissenschaftliche Gewissheit über die Eintrittswahrscheinlichkeit eines Schadens oder über die Schadenshöhe besteht« (WBGU 2013: 3). Die neue anthropozäne Sicht auf das Erdsystem – also die Auflösung des Dualismus Mensch versus Natur zugunsten eines positiv reflektieren systemischen Verständnisses der Eingebundenheit und Bedingtheit menschlichen Lebens und Handelns in die Natur, der Wertschätzung dieses Gesamtsystems sowie der damit verbundene Ansatz des wissensbasierten und kulturell eingebundenen gärtnerischen Mitgestaltens dieses Systems – sollte helfen, die neuen Bilder und Narrative zu entwickeln (Leinfelder 2013; Schwägerl 2013). Die Meere dabei nicht als besonders entfernten Teil einer uns umgebenden Umwelt zu sehen, sondern als verbindenden und zentralen Teil einer »Unswelt« (Leinfelder 2011), wäre ein geeignetes Mittel, einen Gesellschaftsvertrag für die Meere auch mit der kulturellen Differenziertheit unserer Welt zu verknüpfen und letztendlich die positiven Aspekte und Möglichkeiten dieser Vielfalt zu einem neuen »Enjoyment of Complexity« (Kersten 2013) zu führen. Eine romantisierende und Negatives ausblendende, unzeitgemäße »Meereslust« könnte so in eine neue »Lust an der Vielschichtigkeit der Meere« überführt werden.

5. Z usammenfassung und S chlussfolgerungen Eine der Ausgangsthesen dieses Beitrags ist, dass neue kulturelle Bilder der Meere für eine neue Wahrnehmung sensibilisieren, die im Sinne des Anthropozän-Gedankens dann einen anderen, gärtnerisch-pflegenden Umgang mit

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den Meeren zur Folge haben kann. Es wäre allerdings naiv zu glauben, der Zusammenhang zwischen neuem Bild des Meeres und neuem Handeln sei so linear wie impliziert (und natürlich heimlich erhofft). Individuelles Handeln wird nicht allein durch Wissen verändert und der Weg von der Erkenntnis zum Handeln ist häufig weit. Oft sind persönliche Erfahrungen und experimentelles Erproben neuer Verhaltensweisen der Schlüssel und können bestenfalls auch auf andere beschleunigend wirken. Im politischen Prozess sind die Interessen der beteiligten Akteure oft so gegensätzlich, dass es immer wieder zu scheinbar unversöhnbaren Konflikten kommt, zu deren Lösung numerische Informationen über die Anzahl der Tonnen Plastik im Meer, der qualvoll verendeten Seevögel oder der Wahrscheinlichkeit einer PCB-Anreicherung im Robbenfleisch nur wenig beiträgt. Neben partikularen Interessen sind es auch die unterschiedlichen normativen Annahmen und Werte, zum Beispiel über die Gewichtung von Naturschutz versus ökonomischer Entwicklung oder der Einschätzung der Verletzlichkeit von Ökosystemen, welche Konflikte in die Länge ziehen. Dennoch arbeiten die Bilder, die wir uns von der Welt machen, auf kognitiv-emotionaler Ebene, was langsam und langfristig auch Einfluss auf unsere Werte und moralischen Vorstellungen haben wird. So ist es nicht abwegig anzunehmen, dass nach Abschaffung moralisch unhaltbarer Zustände wie der Sklaverei oder der Ächtung der Kinderarbeit auch der unkontrollierte, blinde Raubbau an den Meeren langfristig in nachhaltige Bahnen gelenkt wird, in denen sich Schutz und Nutzung die Waage halten. Historische gesellschaftliche Transformationen lassen sich gemäß WBGU kategorisieren in die Typen »Vision« (z.B. Abolitionismus, Europäische Integration), »Krise« (z.B. Grüne Revolution der 1960er Jahre), »Wissen« (z.B. Schutz der Ozonschicht) und »Technik« (z.B. Industrialisierung, IT-Revolution) (WBGU 2011: 3). Bei der Müllproblematik der Meere könnten alle vier Kategorien gemeinsam in ihrer Wirkung zum Tragen kommen, also (1) die Vision eines müllfreien Menschheitserbes Meere, (2) die bereits vorhandenen gravierenden, krisenhaften Problematiken, (3) das wissenschaftliche und kulturelle Wissen um die systemische Bedeutung der Meere für das Erdsystem und die gesamte Menschheit sowie (4) die technischen und sozialen Möglichkeiten zur Müllvermeidung. Politische Lösungen, etwa eine neue Governance für die Meere, sind zwar dringend notwendig. Voraussetzung für deren Gelingen ist jedoch eine deutlich intensivere kulturelle Reflexion des Umgangs der Menschen mit den Meeren, der Rolle der Meere für eine funktionierende und zukunftsfähige »Unswelt« sowie eine neue Lust auf die Vielschichtigkeit des uns alle verbindenden »blauen Kontinents«.

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Wege

Abfall und Globale Stoffströme – vom Archaikum zum Anthropozän Wolfram Mauser

Globale Stoffströme im Zusammenhang mit Abfall zu behandeln, erscheint zunächst nicht unbedingt naheliegend. Abfall wird als kausales Endprodukt von Nutzung wahrgenommen und ist damit sowohl lokal als auch intentional zuordenbar. Globale Stoffströme hingegen sind allumfassende Bestandteile des Erdsystems und damit Teil der Natur. Abfall, das Weggeworfene am Ende einer Kette zweckgebundener Verwandlungen, folgt stofflichen Kategorien, wie Energiegehalt, Konzentration und Form, kann aber ebenso Folge der Erfüllung eines primären Zwecks sein. Verlust an Energie (Batterie), Verdünnung der Konzentration von Stofflichem (Teebeutel), eine Veränderung seiner Form (Kleidung) sowie die Erfüllung seines primären Zwecks (Einwegflasche) verhindern die weitere Zweckerfüllung. Auflösung des Zwecks ist damit der Beginn von Abfall. Die Frage nach Zuweisung und Auflösung von Zweck ist folglich von zentraler Bedeutung für die Beschäftigung mit Abfall. Sie geht weit über die stofflichen Aspekte des Abfalls hinaus, ist geprägt vom Metabolismus einer Gesellschaft und fokussiert auf Praxis, Norm und Kontext im Umgang mit Abfall. Mit »Praxis« sind die sozialen, politischen, ökologischen und ökonomischen Umgangsformen von Abfall gemeint. »Norm« bezeichnet individuelle und kollektive Normvorstellungen, welche die Umgangsformen mit Abfall prägen. Der »Kontext« wird bestimmt von kulturellen Bedingungen, Differenzen und Zusammenhängen, in denen mit Abfall umgegangen wird. Natur kennt keinen Abfall! Dies wird allgemein postuliert, nur um zu meinen, dass man der Natur keine Zuweisung und Auflösung von Zweck unterstellen will. Der Frage, ob die Zuweisung und Auflösung von Zweck und damit Abfall sowie seine Untersuchung in den Kategorien Praxis, Norm und Kontext ausschließlich menschlichen Gesellschaften vorbehalten ist, wird dabei allerdings nicht weiter nachgegangen. Der folgende Beitrag unternimmt den Versuch, bei der Betrachtung der Veränderungen globaler Stoffströme im Laufe

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der Entwicklungsgeschichte der Erde Abfall jeweils zu identifizieren und nach den Kategorien Praxis, Norm und Kontext zu untersuchen.

1. G lobale S toffströme Die neue Auseinandersetzung mit der Anhäufung von CO2 als Abfallprodukt anthropogener Energieerzeugung in der Atmosphäre und die damit verbundenen Klimaveränderungen haben die Abfalldiskussion verändert. CO2 hat sie entortet, mit einer globalen Dimension versehen und ihre kausale Zuordnung aufgelöst. Erstmals zwingen globale Konsequenzen lokalen Handelns zur kritischen Reflexion der veränderten Rolle des Menschen im Erdsystem. Nachdem die von uns veränderten Kohlenstoffströme nicht alleine stehen und vielmehr nur einen Teil der globalen Stoffströme ausmachen, lohnt damit im entwicklungsgeschichtlichen Kontext einer sich ständig verändernden Erde eine vertiefte Betrachtung der globalen Stoffströme mit einem spezifischen Blick auf Praxis, Norm und Kontext von Abfall. Stoffströmen – also Materie in Bewegung – wird gemeinhin Wirkung abgesprochen. Keine Bewegung ohne Ursache in Form vorheriger immaterieller Einwirkung ist die Grundlage des Newton’schen Weltbildes. Immaterielle Ströme von Energie (oder Intentionen oder Gedanken) hingegen stoßen Prozesse an, die die materielle Welt verändern. Immaterielles ist damit letztendlich nur in Form der durch sie ausgelösten Bewegung zugänglich und wird nur durch sie erfahrbar. Stoffströme sind also Folge immateriellen Wirkens. Sie repräsentieren die reale Welt. Eine Welt ohne Bewegung ist eine Welt ohne Veränderung und damit eine Welt ohne Erkenntnis. Stoffströme sind zunächst Objekt naturwissenschaftlichen Interesses. Von den kleinsten Skalen der Elementarteilchen bis zu Galaxien und extraterrestrischen Staubwolken zielt die Beobachtung von Materie in Bewegung vor allem auf das Verstehen der immateriellen Wirkungsträger. Die Naturwissenschaften vermuten dahinter Kräfte und Energie und sind angetreten, diese zu verstehen. Sie schöpfen Erkenntnis über ihre Natur aus der Beobachtung der Stoffströme. Gelingt es, die beobachteten Stoffströme in ihrer Vielfalt durch eine überschaubare Zahl einfacher Wirkungsträger zu erklären oder gar auf ihrer Basis Vorhersagen zu treffen, spricht sie von Verständnis. Diese Betrachtung der Welt kann eine erstaunliche Breite von Stoffströmen – zumindest prinzipiell – auf die Wechselwirkung von vier Kräften und Energie zurückführen, und das häufig mit beachtlichem Detail. Ozeanströmungen, Konvektionen im Inneren der Erde, Winde, die Strömungen von Eiweiß im Inneren von Einzellern, Nordlichter als Folge von Partikelschauern von der Sonne, die Bewegung von Protonen und Neutronen im Atomkern sowie die Kollision von Galaxien und das Auseinanderdriften des Universums gehören

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dazu. Auch die Vielfalt der nicht-belebten Welt mit ihren zig-tausend anorganisch-chemischen Verbindungen lässt sich damit auf einfache Wechselwirkungen nicht-materieller Wirkungsträger zurückführen. Die Liste ließe sich fast beliebig fortsetzen. Die Vorstellung, dass die Erde ein System darstellt und Stoffströme die eigentliche Charakteristik des Erdsystems ausmachen, ist allerdings vergleichsweise jung. Sie hat ihren Ursprung in der Vorstellung eines Wasserkreislaufs, der zwar in der Antike vereinzelt philosophisch gefordert wurde, aber erst in den letzten hundert Jahren experimentell bestätigt werden konnte. Der systemare Ansatz fußt auf dem radikalen naturwissenschaftlichen Konzept der Erhaltungssätze, das fordert, dass fundamentale physikalische Größen, wie Masse, Energie und andere nicht einfach entstehen oder verschwinden können. Bewegung und Erhaltung erzwingt Kreislauf; dies gilt für jedes der ca. 100 chemischen Elemente auf der Erde als Legobausteine alles uns vertrauten Materiellen. Spätestens auf dieser Organisationsebene allerdings ist das Prinzip der Erhaltung von Materie erschöpft. Erhaltung gilt nämlich nicht für das aus den Elementen in Form von Molekülen, Kristallen, Böden, Gebirgen und Meeren zusammengesetzte »Legoland«. Die Möglichkeit zu stetiger gegenseitiger Umsetzung und Wieder-Verbindung kennt tatsächlich keinen Abfall, nur Umwandlung. Jede Umwandlung ist in dieser Welt durch Zugabe von Energie im Prinzip reversibel. Die geschilderte, einfache Betrachtungsweise ist ohne erkennbare Strategie und Zweck und benötigt beides nicht. Alles ist determiniertes Resultat von Naturgesetzen. Der Ablauf des Lebens auf der Erde ist allerdings alleine auf der Basis der genannten Naturgesetze und Erhaltungssätze für Energie, Materie etc. nicht erklärbar. Leben widerspricht den Naturgesetzen nicht, es erweitert sie. Leben beeinflusst allerdings vorher unbelebte Stoffströme und verändert sie. Ein Blick auf die Entwicklungsgeschichte der Erde gibt interessante Hinweise auf Strategien des Lebens, die den Raum der Naturgesetze beträchtlich erweitern.

2. E ine kurze G eschichte der E rde Die Erde ist ca. 4,7 Milliarden Jahre alt. Entstanden ist sie vermutlich aus der Verdichtung einer Staubwolke, die sich um einen kleinen Stern am Rande der Milchstraße bewegte. Die Zusammensetzung der Elemente auf der Erde war nicht zufällig oder gleichverteilt. Bei ihrer Geburt war sie mit überproportional viel Wasserstoff, Silizium, Aluminium, Calcium, Eisen, Kohlenstoff und Sauerstoff ausgestattet. Zu Beginn der Entwicklung und ohne die Beeinflussung durch das Leben hat – wie auf allen anderen bekannten Planeten – der Sauerstoff die übrigen Elemente oxidiert (Canfield 2005). Sauerstoff ist sowohl

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ein starker Oxidierer als auch ein starker Elektronen-Akzeptor, was ihn sowohl dazu prädestiniert, mit beinahe allen Elementen sehr enge, energiereiche Verbindungen einzugehen als auch aus großen, komplexen Molekülen kleine, energiearme zu machen. Zunächst entstanden durch Oxidation Wasser (H2O), Eisenoxid (Fe2O3), Kohlendioxid (CO2) und auch Silizium-(SIO2) und Aluminium-Oxid (Al2O3). Auch alle anderen geeigneten Elemente wurden oxidiert, damit war aller Sauerstoff in Molekülen gebunden. Die damalige Atmosphäre kannte nur Spuren von Sauerstoff. Zunächst waren bei den hohen Temperaturen während der Entstehung der Erde Wasser und Kohlendioxid nur als Gase in der Atmosphäre vorhanden. Sinkende Temperaturen sorgten dafür, dass der im Erdinneren gebildete Wasserdampf in der Atmosphäre kondensieren konnte und sich damit flüssiges Wasser bildete. Da der Siedepunkt von Kohlendioxid bei -80 Grad C liegt und die Erde in ihrer Geschichte nie so weit abgekühlt ist, blieb diesem Atmosphärenbestandteil die Kondensation versagt. Damit reicherte sich CO2 auf der Grundlage natürlicher chemischer Prozesse in der Atmosphäre an, während Wasser allmählich die Ozeane bildete. In dieser Zeit konnte sich, da Wasser in flüssigem, festem und gasförmigem Zustand existierte, ein Wasserkreislauf bilden. Dies war die Voraussetzung für Erosion und Lösung von Gebirgen, die zu dieser Zeit fast ausschließlich aus Silizium- und Aluminium-Oxid-Kristallen bestanden. Über die ersten Flüsse kamen die durch Erosion gelösten Stoffe, hauptsächlich Salze, in die neu entstandenen Weltmeere. Das Wasser verdunstete dort wieder, wurde in der Atmosphäre transportiert und regnete über den Festländern ab, um die Flüsse zu speisen, die wiederum ins Meer flossen. Der beschriebene Stoffstrom des Wassers bildet einen schnellen Kreislauf, das Wasser in der Atmosphäre wird im Schnitt alle neun Tage ausgetauscht. Für das gelöste Salz in den Flüssen war in den Weltmeeren zunächst Endstation. Sie können nicht verdampfen, bilden damit auch keinen schnellen Kreislauf und reichern sich in den Weltmeeren an. Damit drängt sich aber die Frage auf, warum der Salzgehalt der Ozeane nicht ständig ansteigt, sondern seit Jahrmillionen bei »nur« 3,7 % stagniert. Eine Antwort auf diese Fragen bot die Erkenntnis an, dass das Festland der Erde auf dem flüssigen Erdinneren schwimmt, wie Toast auf Milch. Wenn die Festländer sich bewegen, wird an ihren Rändern Meerwasser mit den darin gelösten Salzen ins Erdinnere geleitet. Das Meerwasser entweicht als Wasserdampf über Vulkanausbrüche, das Salz bleibt im Erdinneren. Wenn Festländer dann zusammenstoßen oder in ihrer Bewegung begrenzt werden, falten sie sich und bilden Gebirge, in denen das ehemalige Salz der ehemaligen Meere auf seinen Abtransport durch das Regenwasser wartet. Es existiert also doch ein Salz-Kreislauf. Dieser ist sehr langsam, nicht neun Tage wie im Fall von Wasserdampf, sondern dauert hunderte Millionen Jahren. Zeiträume also, die der menschlichen Erfahrung nicht mehr zugänglich sind. Der Salz-Kreislauf ist damit ein langsamer Kreislauf. Der wesentliche Grund ist, dass er sich –

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anders als der Wasserdampf oder der Kohlenstoff, die gasförmig in der Atmosphäre transportiert werden – die Atmosphäre nicht zunutze machen kann. Auf die Unterscheidung zwischen globalen Stoffströmen in schnellen und langsamen Kreisläufen werde ich im Weiteren noch zurückkommen. Sie hat zentrale Bedeutung für die Bewertung globaler Stoffströme im Kontext von Abfall. Ist das Salz im Ozean damit der Abfall des Wasserkreislaufs und der Ozean die Deponie? Nachdem in der Beschreibung der bisherigen Vorgänge der Zweck der Stoffströme nicht erkennbar ist, ist zwar die Praxis – also in diesem Fall die Prozessabfolge – die zur Anhäufung des Salzes im Meer, der Reinigung des Wassers durch Kondensation und der erneuten Auflösung des Festlandes durch Niederschlag, leicht identifiziert. Im übertragenen Sinn erkennt der Geograph darin auch leicht einen Kontext, da das beschriebene Wirkungsgefüge an jedem Ort auf der Erde verschieden ist und nur aus dem Kontext der individuellen natürlichen Gegebenheiten nachvollziehbar wird. Schwieriger ist es schon, in den beschriebenen Vorgängen Normen zu erkennen. Offensichtlich greifen hier weder soziale, noch ethische, noch rechtliche Normen. Einzig die Reduzierung von Entropie im Rahmen der Trennung von Wasser und Salz durch Destillation und damit die Wiederherstellung eines höher geordneten Zustands durch Verwendung von Energie könnte als normative Kategorie herhalten. Die Aufrechterhaltung des Wasserkreislaufs setzt nämlich diese Entropiereduzierung voraus. Doch kommen wir zur kurzen Geschichte der Erde zurück. Bis hierher war die Geschichte der Erde unbelebt. Sie folgte den Naturgesetzen, war weitgehend vorhersehbar und der Geschichte anderer unbelebter Planeten ähnlich. Nach ungefähr 2,5 Milliarden Jahren ständigen Wasser- und Kohlenstoff kreislaufs mit Vulkaneruptionen, Erdbeben und Verlagerung der damaligen Kontinente hatte zunächst nichts dagegen gesprochen, dass die globalen Stoffströme nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten noch weitere 2,5 Milliarden Jahre hätten weiter laufen können. Bis auf das Auftreten einer neuen Organisationsform von Materie. Sie hatte sich schon kurz vorher in den Weltmeeren an den Austritten von unterseeischen Vulkanen gezeigt und dort die Wärme und den verfügbaren Schwefelwasserstoff dazu genutzt, um erste belebte Organismen zu entwickeln. Bei diesen neu organisierten organischen Molekülen nimmt der Kohlenstoff eine zentrale Rolle ein. Er stellt sich bei den herrschenden Bedingungen auf der Erde als ein Wunder an Vielfalt dar und ist in der Lage, Millionen von Verbindungen zu knüpfen und sich in komplexesten, im Vergleich riesigen Molekülen zu organisieren. Diese neue Organisation von Materie verfügte über bemerkenswerte neue Eigenschaften. Sie grenzte sich erstmals gegenüber ihrer Umwelt ab, davor gab es keine Umwelt. Sie verbrauchte Energie und betrieb damit einen internen Stoffwechsel, d.h. sie nahm zum Zweck der Erhaltung ihrer inneren Umwandlungsprozesse Stoffe auf und wandelte

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sie gezielt in etwas um, das sie »brauchen« konnte. Die Organismen als Gebilde dieser neuen, hochkomplexen Organisation von Materie waren instabil und konnten sich nur eine begrenzte Zeit selbst erhalten. Sie mussten sich deshalb regelmäßig reproduzieren und – um sich zu erhalten – ihre Eigenart in Form von Informationen und Bauplänen an die nächste Generation weiter geben. Diese drei Eigenschaften – Abgrenzung, Stoffwechsel und Reproduktion – zeichnen Leben aus. Das Leben unterwarf die globalen Stoffströme und Kreisläufe seinen Regeln. Die Meeresströmungen, die im Meerwasser gelösten Umweltressourcen und das Konzept von Abgrenzung, Stoffwechsel und Reproduktion führten zu einer schnellen Ausbreitung von Leben in den Weltmeeren. Fehler in der Weitergabe von Informationen an die nächste Generation sorgten für verschiedenartige Organismen, die schnell zu Konkurrenten um die zum Stoffwechsel notwendigen Umweltressourcen wurden. Verbesserungen der Konkurrenzfähigkeit bei jeweils gegebenen Umweltbedingungen als Folge von Kopierfehlern begünstigten die Ausbreitung einer Art, Verschlechterungen führten zu ihrem Verschwinden. Die Evolution und die Entwicklung von Arten war zwangsläufige Folge von Abgrenzung, Stoffwechsel und Reproduktion. Dies ist allerdings nicht das Ende der Geschichte des Lebens. Stoffwechsel – also die Nutzung von Energie zur Umwandlung von Umweltressourcen in etwas, was man zum Leben benötigt – führt zu Stoffströmen, die der unbelebten Materie nicht bekannt sind. Cyanobakterien nutzten die nun gegebene Umwelt und ihre Ressourcen selektiv. Sie waren erstmals in der Lage, mit Sonnenlicht als Energiequelle aus dem reichlich vorhandenen CO2 in der Atmosphäre den Kohlenstoff zu extrahieren, den sie als Bausteine ihrer immer komplexeren Moleküle nutzten. Dabei entstand Sauerstoff (O2), den sie als Zellgift und damit Abfall schnellstmöglich an die Atmosphäre abzugeben suchten. Erstmals fand sich nun Sauerstoff in nennenswerten Mengen in der Atmosphäre. Es entstanden auch Organismen, die in der Lage waren, im Meerwasser gelöstes Calcium und Kohlendioxid aufzunehmen, deren Konzentration in ihrem Inneren massiv zu erhöhen, sie chemisch zu verbinden, als Sekret durch die Zellwände zu schleusen und an der Außenhaut der Organismen zu fixieren. Diese Fähigkeit als solche klingt zunächst schräg und erinnert fast an eine patentierfähige technologische Innovation. Sie hatte zur Folge, dass erstmals Organismen mit einem Exoskelett ausgestattet waren, das ihnen Stabilität und Schutz gewährte. Der Effekt war durchschlagend, und z.B. Foraminiferen und Muscheln zeigen, dass er bis heute andauert. Millionen von Kleinstlebewesen entstanden, die sich alle mit Kalkschalen umgaben. Jeder Reproduktionszyklus ließ eine alte Schale und ein neues Lebewesen zurück, das sich aus dem in der wässrigen Umwelt gelösten Calcium und Kohlendioxid eine neue Schale aus Calciumkarbonat baute. Die toten Schalen sanken auf den Meeresgrund

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und bildeten bis zu tausende Meter dicke Ablagerungen. Das Kohlendioxid wurde aus der Atmosphäre nachgeliefert, in der es zunächst reichlich vorhanden war. Die Explosion dieser Kleinstlebewesen verwandelte große Mengen Calcium und Kohlendioxid in einem vorher nicht gekannten Ausmaß in einen Stoff mit neuen Eigenschaften: Kalk. Diese überfallartige Explosion der Cyanobakterien, Coccolithen, Foraminiferen, Algen, Stromatolithen und Korallen lässt die Atmosphäre der Erde bis auf Spuren kohlendioxidfrei und mit einem hohen Anteil an Sauerstoff zurück und erzeugt riesige Kalk-Deponien in Form der noch heute existierenden mächtigen Kalksteingebirge. Abbildung 1 zeigt den Verlauf der Konzentration von Kohlendioxid und Sauerstoff in der Erdatmosphäre während der letzten 4,5 Milliarden Jahre. Abbildung 1: Veränderung der Kohlendioxid- und Sauerstoff konzentration der Erdatmosphäre in den letzten 4,5 Milliarden Jahren (logarithmische Skala)

Dies war ein massiver Eingriff des Lebens in die vorher durch unbelebte Stoffkreisläufe bestimmte Erde. Er hat sie irreversibel verändert, kein anderer bekannter Planet weist eine ähnliche Atmosphärenzusammensetzung auf. Es ist wichtig festzustellen, dass die Überlebensvorteile derjenigen Lebewesen, die Sonnenenergie nutzen konnten, um Kohlenstoff zu ernten oder sich durch Kalkschalen schützten, diese sicher nicht intendierte völlige Veränderung der Erdatmosphäre zur Folge hatten. Dabei kamen globale Stoffströme in Gang, die ohne Abgrenzung, Stoffwechsel und Reproduktion des Lebens nicht möglich sind. Im Zuge dieser Entwicklung hat sich auch das Leben selbst verändert. Auch wenn fast alle genannten Lebewesen heute noch existieren (wenn auch nicht als die damaligen Arten), war mit der durch sie verursachten Veränderung der Atmosphäre auch ihre Dominanz auf der Erde zu Ende. Die Bildung von Kalkstein weist heute nur noch einen Bruchteil der damaligen Werte auf.

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Die neue Atmosphäre, die sie als Abfallprodukt zurückließen, verlangt allen Lebewesen, die sich zukünftig auf der Erde durchsetzen sollten, umfangreiche Schutzmaßnahmen gegen den Sauerstoff ab. Dieser war und ist nämlich hochtoxisch, da er in der Lage ist, die hochkomplexen Makromoleküle des Lebens (Proteine, DNA, Membrane) zu zerstören. Die Experimente der Evolution mit den Möglichkeiten der neuen Atmosphäre führten zu Organismen, die sich von der Sonnenergie unabhängig machten und stattdessen die im Sauerstoff gespeicherte Energie produktiv nutzten. Sauerstoff enthält schließlich die Sonnenenergie, die Cyanobakterien und Pflanzen verwenden, um niederenergetisches CO2 in hochenergetischen Kohlenstoff und den Abfall Sauerstoff zu spalten. Die Nutzung des überall und immer verfügbaren Sauerstoffs sowie des von der Pflanzenwelt akkumulierten Kohlenstoffs machte sie unabhängig vom Sonnenlicht. Auf der Sauerstoff-Müllhalde, die die ersten Lebewesen in der Atmosphäre zurückgelassen haben, entstanden – wenn man so will – Bakterien, Mehrzeller, Tiere und der Mensch. Sie alle haben die Potentiale dieses Abfalls genutzt, um sich durch höhere Organisation, Mobilität und Flexibilität in der Nutzung von Umweltressourcen in der Konkurrenz um diese durchzusetzen. Es stellt sich erneut die Frage: Ist die Kategorie »Abfall« im geschilderten Zusammenhang der Umgestaltung der globalen Stoffströme durch das frühe Leben auf der Erde angemessen? Ich möchte dies – wie schon im Fall der nicht-belebten Stoffströme – anhand von Praxis, Norm und Kontext im Verhältnis des frühen Lebens auf der Erde mit der erstmals vorhandenen Umwelt untersuchen. Das Fehlen von Umwelt ließ keinen Umgang mit selbiger zu, weil es nur einen Stoffwechsel gab, der alle Stoffströme beinhaltete. In diesem ist Abfall nicht darstellbar. Erst die Abgrenzung von der Umwelt, der interne Stoffwechsel der Organismen und die Reproduktion mit den ihr inhärenten Fehlern lassen unterschiedliche Stoffwechsel und damit Umgangsformen mit der Umwelt gegeneinander antreten. Erst mit internen Stoffwechseln abgegrenzter Organismen entsteht die Praxis des »Brauchens« und des »Nichtmehr-gebraucht Werdens« und damit Abfall. Diese Praxis kommt der menschlicher Gesellschaften sehr nahe. Wir haben an den zwei Beispielen Kalkstein und Atmosphäre gesehen, dass das frühe Leben die Vorstellung, dass sich auf einer im Weltraum isolierten Erde die globalen Stoffströme in stabilen Kreisläufen organisieren und damit ein idealisierter Gleichgewichtszustand erreicht wird, ganz offensichtlich widerlegt hat. Das Leben hat sich seine eigenen, stets im Wandel begriffenen Stoffströme geschaffen und durch die gelebte Praxis große Mengen zuvor bewegter Materie in Müll-Deponien fixiert. Die neu geschaffenen Kombinationen globaler Stoffströme waren nicht lebensfeindlich. Dies zeigt die Tatsache, dass es seit seinem Entstehen trotz massiver Veränderungen der Umwelt keinen Tag mehr ohne Leben auf der Erde geben sollte. Leben hat sich im Zuge der Evolution vielfältig ausdifferenziert und Millionen von Arten gebildet. Sie alle haben die Grundzüge des Stoffwechsels

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gemeinsam, unterscheiden sich aber in wichtigen Details, wie das Beispiel der Sauerstoff-ausscheidenden Cyanobakterien und der Kalk-ausscheidenden Foraminiferen zeigt. Diese unterschiedlichen Stoffwechsel beruhen auf der genetischen Information, die einem Organismus Fähigkeiten verleiht. Auch haben im Zuge der immer komplexeren Organisation des Lebens von Zellen über Zellgruppen bis zu Vielzellern mit ausdifferenzierten Organen diese die Fähigkeiten erlangt, Umweltreize wahrzunehmen, auf sie zu reagieren, sich zu verhalten und zu lernen. Das genetische Programm stellt damit eine Palette von Fähigkeiten zur Verfügung, wobei die vorgefundene Umwelt den Grad bestimmt, mit dem die unterschiedlichen Fähigkeiten auch tatsächlich genutzt und durch Lernen kombiniert werden. Der Kontext, in dem Leben Abfall produziert, wird also sowohl durch seine Genetik als auch durch seine Umwelt bestimmt. Wie bei unbelebter Materie ist es nicht möglich, dem Leben Normen zuzuschreiben. Vielmehr sind es Funktionsprinzipien oder Strukturierungsmechanismen der Selbstorganisation,1 die das Leben ausmachen. Der zentrale Strukturierungsmechanismus ergibt sich aus der Notwendigkeit zur Reproduktion – und den dabei auftretenden Fehlern. Er beruht auf Information und ihrer Weitergabe, schafft Konkurrenz um Umweltressourcen zwischen unterschiedlichen Individuen und Arten und fördert in seiner Selektion diejenigen, die mit den Umweltressourcen so umgehen, dass sie ihre genetische Information besser als andere in die nächste Generation bringen. Die Produktion von Abfall ist integraler Bestandteil dieses optimierenden Selbstorganisationsprozesses des Lebens. Die einzig erkennbare Norm, nach der dieser Bestandteil genutzt wird, ist der kurzfristige Erfolg bei der Reproduktion. Kategorien wie Abfallvermeidung, Ressourcenschutz, Kreislaufwirtschaft und Nachhaltigkeit sind nicht erkennbar. Das so beschriebene Leben hatte bereits hunderte von Millionen Jahren gelebter Praxis im Meer hinter sich, als es die bisher leblosen Landoberflächen eroberte. Diese Eroberung war schwierig, da die Schwerkraft nicht wie im Meer durch den Auftrieb des Wassers kompensiert wurde. Auf der Landoberfläche ist Schweben nicht möglich, was zur Ausbildung von teuren Stützstrukturen in Form von zellulosehaltigen Zellwänden bis zu Baumstämmen und Skeletten führte. Pflanzen haben dafür große Mengen CO2 aus der Atmosphäre aufgenommen und im Wesentlichen in Holz verwandelt. Dies zeigt auffällige Parallelen zu den Kalkskeletten, da das holzartige Gewebe und die Zellulose übrigblieben, wenn die Pflanze starb. Das tote Material häufte sich an, da auf der Landoberfläche zu dieser Zeit noch geeignete Bakterien fehlten, 1 |  Ich benutze das Wort »Strukturierung« in diesem Zusammenhang in Anlehnung an das Wort »Entscheidung« im menschlichen Umfeld, da ich der nicht-menschlichen belebten Welt keine Entscheidungen zuschreiben möchte.

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um es – wie heute – zu verrotten und durch Oxidation wieder als CO2 an die Atmosphäre abzugeben. Es entstanden große Lagerstätten von kohlenstoff haltigen Abfällen, die sich im Lauf der Zeit unter Abschluss von der Atmosphäre in Gas, Öl und Kohle verwandelten. Dieser Abfall sollte Millionen Jahre später die Anschubfinanzierung für das Anthropozän bilden.

3. G lobale S toffströme im A nthropoz än Bis zum Beginn des Anthropozäns vor etwa zweihundert Jahren deutete kaum etwas darauf hin, dass der Mensch als Gattung in der Lage wäre, die verschränkten globalen Stoff kreisläufe der belebten und unbelebten Erde wahrnehmbar zu verändern. Er verhielt sich in seinem Stoffwechsel im Vergleich mit seinen Mit-Lebewesen und vor allem seinen direkten Verwandten eher unauffällig. Erkennbare Eigenheiten waren auch vereinzelt bei anderen Tieren zu finden. Tiere und mitunter sogar Pflanzen bauen sich ebenfalls Behausungen, sie verändern ihre Umwelt und erzeugen Abfall. Ein externer unvoreingenommener (nicht-menschlicher) Verhaltensforscher hätte mitunter große Schwierigkeiten, den einen, alles entscheidenden Unterschied zwischen einem archaischen Menschenaffen- und Menschenrudel zu finden. Beide zeigten intensive Sozialkontakte mit einer dem Beobachter nicht direkt erschließbaren Gestik und Sprache als Kommunikationsmedium, familiäre Banden, ausgefeiltes und ausgiebiges Training ihres Nachwuchses, koordinierte Jagdstrategien und sogar Rituale für ihre toten Mitglieder. Beide nutzten Werkzeug zur Unterstützung ihrer Extremitäten bei der Suche nach Nahrung. Worin bestand also der Unterschied, der den Menschen dazu in die Lage versetzte sollte, nach einer kurzen Entwicklung, die nicht auf Evolution beruhte, schließlich die globalen Stoff kreisläufe ähnlich zu beeinflussen wie Milliarden Jahre zuvor die Cyanobakterien? Das menschliche Verhalten unterscheidet sich – wie die Aufzählung des vorigen Kapitels veranschaulicht – nur graduell von dem seiner direkten Verwandten. Man kann wohl für fast jedes menschliche Verhalten ein Lebewesen finden, das dieses – zumindest im Ansatz – auch zeigt. Die Analyse der vielfältigen Aspekte menschlichen Verhaltens und ihre kulturellen Modulationen sprengen den Rahmen dieses Aufsatzes. Ich möchte mich deshalb im Folgenden auf einen für das Anthropozän aus meiner Sicht wichtigen Aspekt konzentrieren. Er verbindet sich mit dem Begriff »Daseinsvorsorge« (umfassend Jellinghaus 2006). Er hat – wie noch zu zeigen ist – beim Menschen als Lebewesen zu neuen, kollektiven Verhaltensweisen geführt. Sie leiten sich aus den einmaligen menschlichen Fähigkeiten ab, die Zukunftsbewusstsein, Empathie, Wissensproduktion und Macht verbinden.

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Die einfachste Form der Daseinsvorsorge ist sicher die Lagerhaltung von Lebensmitteln und Saatgut, um Perioden von Kälte oder Trockenheit zu überstehen und danach den Anbau von Nahrungsmitteln fortsetzen zu können. Es gehört zu den bemerkenswertesten Kulturtechniken, in Zeiten von Hungersnöten die restlichen Getreidevorräte nicht aufzuessen, um kurzfristig zu überleben, sondern sie zurückzulegen, um im nächsten Frühjahr wieder sähen zu können. Sie muss den Glauben an die Zukunft und das Wissen über ihren Ablauf mit Machtstrukturen in der Gruppe verbinden, um Einzelne zu opfern, damit die Gruppe überlebt. Daseinsvorsorge als staatliche Aufgabe unterscheidet sich von diesen ersten prä-urbanen Kulturtechniken. Sie erwächst aus der Entmündigung des Einzelnen im Zuge der Urbanisierung. War der prä-urbane Mensch noch in der Lage (und damit auch verantwortlich), für die Befriedigung seiner primären Lebensbedürfnisse selbst zu sorgen, so ist dies in der Stadt schon aus Gründen der Bevölkerungsdichte nicht mehr möglich. Der urbanen Gesellschaft fällt damit die Aufgabe zu, die Lebenserhaltung ihrer Mitglieder sicherzustellen. Urbanisierung charakterisiert das Anthropozän. Nach zweihundert Jahren Entwicklung leben – wie Abbildung 2 zeigt – bereits mehr als die Hälfte der Menschen in Städten, und das scheint nur der Anfang der Entwicklung zu sein. Während der ländliche Anteil der Erdbevölkerung rapide abnimmt und in etwa fünf bis zehn Jahren beginnen wird, auch in absoluten Zahlen zurückzugehen, ist der Anstieg der städtischen Bevölkerung ungebrochen. Jenseits des Jahres 2050 wird es schwer werden, ländliches Leben im Bewusstsein der Menschen auf der Erde als etwas Gegenwärtiges zu erfahren. Man wird es überall auf der Welt – vielleicht romantisierend – dem letzten Jahrhundert zuordnen, in dem man noch wusste, was es war. Im Rahmen der Urbanisierung und Industrialisierung wurde allerdings deutlich, dass im gezielten Einsatz von Wissen zur Lebenserhaltung urbaner Bevölkerung auch Vorteile gegenüber Mitbewerbern liegen können. So hat die Einführung der Kanalisation in Paris im 18. Jahrhundert zu einer beispiellosen Verringerung der Cholera und in Folge der Arbeitskosten geführt. Mit der Einführung der Kanalisation war die Entwicklung der modernen Hydraulik verbunden, denn nur mit diesem Wissen konnte das Wasser gezielt durch Paris geleitet werden.

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Abbildung 2: Entwicklung der globalen Urbanisierung (nach World Economic Forum 2012)

Die »Daseinsvorsorge« beschreibt damit die Anwendung eines in die Zukunft gerichteten Instrumentariums von Kulturtechniken, die durch gezielte Produktion und Nutzung von Wissen auch unter sich ändernden Randbedingungen den Fortbestand von Gesellschaften, schließlich auch der Menschheit als solcher, sichern sollen. Der Begriff hat Eingang in den Sprachgebrauch gefunden und übt einen deutlichen, allerdings zumeist auch kontroversen Einfluss auf die deutsche und internationale Politik aus. Er lenkt z.B. beachtliche finanzielle Ressourcen in den Bereich der Forschung zur Wissensproduktion. Die Wissensgesellschaft sieht Forschung zur Daseinsvorsorge inzwischen als ein für das Überleben von Gesellschaften entscheidendes Aktivitätsfeld an. Daseinsvorsorge hat sich seit der Zeit prä-urbaner Agrargesellschaften entwickelt. Laut Wikipedia ist sie im Jahr 2015 »die staatliche Aufgabe zur Bereitstellung der für ein menschliches Dasein als notwendig erachteten Güter und Leistungen − die sogenannte »Grundversorgung«. Dazu zählt als Teil der Leistungsverwaltung die Bereitstellung von öffentlichen Einrichtungen für die Allgemeinheit, also Verkehrs- und Beförderungswesen, Gas-, Wasser-, und Elektrizitätsversorgung, Müllabfuhr, Abwasserbeseitigung, Bildungs- und Kultureinrichtungen, Krankenhäuser, Friedhöfe, Bäder usw. als Infrastruktur« (Wikipedia 2015). Welch prächtige Anhäufung von Errungenschaften der letzten zweihundert Jahre, vor denen ein Mensch der Renaissance ungläubig staunend und zum Teil ahnungslos verharrt hätte. Und wie beeindruckend effizient zeigen sich diese in zweihundert Jahren erzielten Fortschritte der »Leistungsverwaltung« gegenüber den endlos langwierigen, zufälligen Veränderungen des Erbguts unserer Mit-Lebewesen, die zu den Vor- oder Nachteilen der evolutionären Entwicklung geführt haben. Für den Menschen hat diese Evolution der Daseinsvorsorge die biologische Evolution in einer Weise hinter

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sich gelassen, wie Abgrenzung, Stoffwechsel und Reproduktion die Naturgesetze der nicht-belebten Materie. Hier werden die gezielte Produktion und der geplante Einsatz von Wissen mit der Befriedigung der »Grundversorgung mit als notwendig erachteten Güter und Leistungen« verbunden. Zentrales Merkmal ist dabei die Wahrnehmung der Zukunft als ein durch Wissen gestaltbarer und für das menschliche Dasein optimierbarer Raum. Es lohnt sich an dieser Stelle, genauer auf die Produktion von Wissen im Zusammenhang mit der Daseinsvorsorge einzugehen. Es ist offensichtlich, dass demjenigen Wissen, das in Erwartung einer Verbesserung der Überlebenschance einer Gesellschaft oder gar der Menschheit produziert wurde, eine hohe gesellschaftliche Relevanz beigemessen wird. Dies schafft Motivation, die Befriedigung der gesellschaftlichen Nachfrage nach Wissen zu organisieren und nicht, wie die biologische Evolution, dem Zufall zu überlassen. Wissensproduktion wird damit normativ, da die Zusammenhänge zwischen der »Leistungsverwaltung« der Kulturtechniken zur Steigerung der Überlebenschancen einer Gesellschaft und dem dazu notwendigen Wissen ja nicht a priori feststehen, sondern in einem Aushandlungsprozess gesellschaftlich festgelegt werden. Man muss gemeinsam an bestimmte Lösungen glauben (wie man im oben genannten Beispiel aus dem Bereich der Ernährung daran glaubt, dass der Frühling kommt), damit eine bestimmte Wissensproduktion Sinn macht. Das Anthropozän glaubte und glaubt offensichtlich an die Urbanisierung, die damit einhergehende Entmündigung des Einzelnen und die Erfindung der Daseinsvorsorge als staatliche Aufgabe. Die als Fortschritt empfundene Ausweitung der Daseinsvorsorge veränderte die Wissensproduktion. Zum einen erlebt sie nun gesellschaftliche Relevanz. Diese manifestiert sich in der stetigen Um-Etikettierung neu erworbenen Wissens und darauf basierender Dienstleistungen, Technologien und Kulturtechniken in gesellschaftliche Grundbedürfnisse. War die Elektrizität vor zweihundert Jahren gerade entdeckt, so ist sie heute ein Grundbedürfnis und ihre Verfügbarkeit damit Teil der Daseinsvorsorge. Zum anderen lebt die Wissensproduktion zwangsläufig mit dem Makel der Unvollständigkeit. Sie hat diese Unvollständigkeit im Zuge der Einlösung der gesellschaftlichen Versprechen der Daseinsvorsorge im Grunde akzeptiert und sogar zum Prinzip erhoben und sich in Folge in eine breite Palette von Disziplinen diversifiziert. Was war das Resultat? Ich möchte diese Entwicklung anhand zweier zusammenhängender Beispiele verdeutlichen: der Nahrungsmittelproduktion und dem Energieverbrauch. Dazu stelle ich die These auf, dass eine Ausweitung der Daseinsvorsorge in dem Ausmaß, wie sie im Rahmen der Urbanisierung der letzten zweihundert Jahre stattgefunden hat, Abfall als festen Bestandteil beinhalten muss. Er ist Resultat unvollständiger, punktueller Wissensproduktion und selektiver, normativer Wissenswahrnehmung.

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Die Organisation einer sich ausweitenden Daseinsvorsorge beruht auf der Nutzung immer größerer Mengen an Energie und Material. Dies ist Tabelle 1 zu entnehmen, die zeigt, dass sich der Energieeinsatz pro Kopf der Bevölkerung im Zuge der Entwicklung des Menschen vom Jäger und Sammler über die frühen Agrargesellschaften zur Industriegesellschaft versechzehnfacht und der Materialeinsatz verzehnfacht hat. Die Einlösung des Versprechens der Lebenserhaltung im Zuge der Entmündigung städtischen Lebens hat damit den Energie- und Materialeinsatz grob verzehnfacht. Wem nützt also eine Ausweitung der staatlichen Daseinsvorsorge durch Verzehnfachung des Ressourceneinsatzes bei einer gleichzeitigen Verzehnfachung der Bevölkerung, wenn ein Leben vor dieser Entwicklung mit dem hundertstel des Ressourceneinsatzes möglich war? Es war der Preis für die Erhaltung des Einflusses des industriell-urbanen Produktionssystems von Waren und Dienstleistungen auf eine steigende Anzahl in Städten lebender, leicht formbarer Kunden. Tabelle 1: Jährlicher pro Kopf Energie- und Materialverbrauch verschiedener Gesellschaftsformen Energieverbrauch (GJ/a)

Materialverbrauch (t/a)

3,5

1

Jäger und Sammler (unkontrollierte Nutzung der Sonnenenergie)

10-20

2-3

Agrargesellschaften (kontrollierte Nutzung der Sonnenergie)

60-80

4-5

250

20-22

Grundlegender menschlicher Bedarf (Biomasse durch Nahrungsaufnahme)

Industriegesellschaften (Nutzung fossiler Energie)

Diese Entwicklung war nur möglich durch billige Energie. Die neu entdeckten Abfälle aus dem Erdzeitalter, in dem das Leben die Landoberfläche eroberte, dienten als willkommene Anschubfinanzierung für das Anthropozän. Durch geeignete chemische Verarbeitung war Energie aus fossilen Quellen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert beinahe umsonst zu haben. Fossile Energie gewinnbringend für die Ausweitung der Daseinsvorsorge der urbanen Massen und damit für die Erhaltung der Macht zu nutzen, lag nahe. Es standen nämlich gravierende Probleme zur Lösung an. Da war der Mangel an Nahrungsmitteln, der der weiteren Urbanisierung der Erde damals enge Grenzen setzte. Er resultierte im Wesentlichen aus einem Mangel an Wasser und Nährstoffen für die agrarischen Nutzpflanzen. Wasser zur Bewässerung wurde schon in

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der Antike in kleinem Umfang über hydraulische Systeme dem Gefälle folgend auf die Felder verteilt. Dies war ohne Energieeinsatz möglich. Pumpen zur Hebung des Wassers wurden vereinzelt schon damals mit Tieren betrieben, was allerdings einen hohen Energieaufwand bedeutete, da diese ja ernährt werden mussten. Erst die Entwicklung von Diesel- und Elektropumpen führte zu massiver Ausweitung der Bewässerung. Der Strom für die Elektropumpen wird heute in aller Regel fossil erzeugt und ist z.B. in Indien inzwischen Teil der Daseinsvorsorge. Konsequenter Weise ist er für alle Kleinbauern kostenlos. Alle Regierungen Indiens scheuen bis heute, daran etwas zu ändern. Sie fürchteten die Konsequenzen steigender Lebensmittelpreise und der damit verbundenen Unruhen. Dies wiederum hat zur Folge, dass zwar die Nahrungsmittelproduktion gestiegen und die Preise für Nahrungsmittel gefallen sind, die Wasserspiegel der Grundwasservorräte aber landesweit sinken. Natürlich weiß man seit Langem um diese Zusammenhänge, ist allerdings nicht bereit, diese wahrzunehmen. Gegenüber der Bedeutung der mittelfristigen Sicherung der Nahrungsmittelversorgung musste das hydrologische Wissen um die Begrenztheit der Aquifere in den Hintergrund treten. Die natürliche Bildung von Stickstoffdünger und die ebenfalls natürliche Freisetzung von Phosphat aus den Gesteinen der Festländer waren nie auch nur im Ansatz ausreichend zur Erzeugung der Nahrungsmittel für eine wachsende, urbanere Bevölkerung von inzwischen 7 Milliarden Menschen. Auf der Basis von Wissen um die Chemie der Stoffe wurden deshalb äußerst energieaufwändige Verfahren zur Breitstellung von Düngemittel aus dem im Überfluss vorhandenen Stickstoff der Atmosphäre entwickelte. Diese Lösung lag aufgrund der niedrigen Energiepreise nahe. In welchem Ausmaß die chemischen Düngemittel einer von Düngemittelmangel gekennzeichneten Welt zur Steigerung der Agrarproduktion nun zur Anwendung kamen, zeigt Abbildung 3. Dort wird der Eintrag von Stickstoff (in Tonnen pro km² Ackerfläche und Jahr) in vorindustrieller Zeit mit dem heutigen Eintrag verglichen. Man sieht in weiten Teilen der Erde – vor allem in den Ballungsräumen der Bevölkerung – eine explosionsartige Zunahme des Stickstoff-Eintrags. Natürlich wusste man seit Beginn der industriellen Stickstoffproduktion um die negativen Folgen des überschüssigen Stickstoffs für das Leben in Flüssen und Seen; und man ahnte zumindest schon früh, dass es auch das gesamte Erdsystem inklusive der Weltmeere beeinflussen könnte. Im Zuge der sich ausweitenden Daseinsvorsorge war man allerdings zunächst nicht bereit, dieses Wissen auch wahrzunehmen. Die Veränderungen der landwirtschaftlichen Produktion und die Eingriffe in die Umwelt fanden nun fernab der neuen Zentren der Wertschöpfung und der Bevölkerung statt. Die örtliche Trennung von Erzeugung und Konsum lebenserhaltender Dienstleistungen reduzierte das Bewusstsein der Betroffenen für die Produktionsbedingungen und für den dabei entstehenden Abfall sowie die Umweltbelastung.

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Abbildung 3: Stickstoffeintrag in die Umwelt in vor-industrieller Zeit im Verhältnis zu heute (um 2000) (nach Green 2002)

Die Ausweitung der Düngemittelproduktion führte innerhalb des 20. Jahrhunderts zu einer weitgehenden Aneignung der globalen pflanzlichen Stickstoffströme (und das sind die wesentlichen Stickstoffströme auf der Erde) durch die Leistungsverwaltung im Rahmen der Nahrungsmittelproduktion zur Daseinsvorsorge. Die natürliche Vegetation ist auf die Produktion von pflanzenverfügbarem Stickstoff durch Blitze, Bakterien im Boden und das Recyceln von Stickstoff aus absterbender Vegetation angewiesen. Diese verändern sich über die Zeit in ihrer Menge kaum. Demgegenüber hat der Mensch innerhalb von nur 80 Jahren mit der auf den 12  % landwirtschaftlich genutzter Landoberfläche ausgebrachten Menge an industriell erzeugtem Stickstoff die gesamte globale natürliche Stickstofffixierung überholt. An diesem Beispiel zeigt sich eindrücklich die Dynamik, mit der die Aneignung eines großen und wichtigen Stoffstroms im Erdsystem durch den Menschen vonstatten geht, wenn sie für die Daseinsvorsorge gerechtfertigt erscheint. Die Sicherung der Nahrungsmittelversorgung hat Anfang des 19. Jahrhunderts Agraruniversitäten hervorgebracht. Auf der Grundlage des dort erzeugten Wissens entstand das System der industriellen Landwirtschaft, das diese Dynamik erst ermöglichte. Sowohl die industrielle Erzeugung des Stickstoffs als auch seine Nutzung sind mit gewaltigen Abfallmengen verbunden. Abfall in Form von ungenutztem Stickstoff, der natürliche Ökosysteme kontaminiert, oder Abfall in Form von Emissionen giftiger Abgase bzw. CO2, die bei der in-

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dustriellen Erzeugung des Düngemittels entstehen, waren in diesem System nicht mitgedacht, da es sich nur auf die Sicherung der Nahrungsmittelversorgung fixierte. Sie führten auch zunächst zu keinen wahrnehmbaren Nachteilen bei der Daseinsvorsorge. Der Abfall bei der Produktion der Energie zur Herstellung der Düngemittel genauso wie bei seiner verschwenderischen Anwendung befand sich demnach jenseits der Disziplingrenzen einer in Disziplinen separierten Wissensproduktion. Das ist durchaus verallgemeinerbar und ermöglicht es den Leistungsverwaltern als den gesellschaftlichen Nutzern des Wissens, Abfall so lange als Problem zu ignorieren, bis er die Menschen selbst betrifft. Die negativen Folgen der Umwandlung von immer mehr fossiler Energie in immer exzessivere Leistungsverwaltung im Rahmen der Daseinsvorsorge wurden allmählich spürbar, als die Emissionen der Energieerzeugung die Gesundheit der Menschen in den Städten beeinträchtigte. Billige Energieerzeugung ging mit der Erzeugung giftiger Abfälle einher. Wissen über die Gesundheitsschädigung der Industrieabgase war schon lange verfügbar. Es fehlte allerdings so lange die Wahrnehmung, bis die Emissionen dem gesellschaftlichen Frieden und damit der Machterhaltung abträglich wurde. Abfall erlangte damit Bedeutung. Dieser Mechanismus ist aktuell in China zu beobachten, wo der Konflikt zwischen oben genannten, positiv besetzten Aspekten der Daseinsvorsorge und den Gesundheitsgefährdungen durch ihre Erfüllung an der Luftverschmutzung der großen Metropolen und der Reaktion der Kommunistischen Partei klar zutage tritt. Der im Rahmen der Daseinsvorsorge anfallende Abfall an sich wird nicht problematisiert, sondern »nur« seine negativen Einflüsse auf die Gesundheit der betroffenen Menschen, die schlussendlich zu einem Machverlust der Herrschenden führen könnte. Diese Art von Wahrnehmung von Abfall rechtfertigt Investitionen in den Umweltschutz, indem sie die Beseitigung der durch Abfall erzeugten Gesundheitsgefährdung zur Daseinsvorsorge umetikettiert. Der Eingriff der Daseinsvorsorge in die globalen Stoffströme setzt sich fort. Unter anderem dokumentiert dies der steigende CO2-Gehalt der Atmosphäre. Er ist Ausdruck der immer noch steigenden Inanspruchnahme der Anschubfinanzierung des Anthropozäns aus fossilen Energieträgern. Es drängen sich Parallelen zur Luftverschmutzung in dem Sinn auf, dass der Abfall der fossilen Energieerzeugung erst wahrgenommen wird, wenn Folgen für das Leben der Menschen damit verbunden sind. Im Fall der CO2-Emissionen bestehen diese im Klimawandel. Die Diskussion um den Klimawandel ist damit im Kern einer klassischen Abfalldiskussion ähnlich. Auch hier existiert einhundert Jahre altes Wissen über das Erwärmungspotential des CO2-Konzentrationsanstiegs, das wahrzunehmen die dynamische Entwicklung des 20. Jahrhunderts nur gestört hätte. Erstmalig allerdings hat der aus regionaler Vorteilnahme durch Nutzung billiger fossiler Energie resultierende Abfall nicht nur regio-

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nale, sondern auch und vor allem globale Auswirkungen. Dies wirft die inzwischen bekannten Fragen nach der Verantwortung der Nutzer auf. Aus Gründen der Klimafolgen der Akkumulation des Abfalls in der Atmosphäre ist da zum einen die Verantwortung derjenigen, die schon Abfall produziert haben, für die globalen Folgen des damit erzeugten Klimawandels. Zum anderen sind da diejenigen, die für sich das gleiche Recht auf Anschubfinanzierung ihrer Entwicklung durch billige Energie fordern. Die Diskussion über den Umgang mit dem Klimawandel wird vor allem in Europa als Schutz der Bevölkerung vor den Auswirkungen des Klimawandels im Sinne der Daseinsvorsorge geführt. Hier zeigt sich der weiter oben schon beschriebene Vorgang der stetigen Umetikettierung neu erworbenen Wissens und darauf basierender Dienstleistungen, Technologien und Kulturtechniken in gesellschaftliche Grundbedürfnisse. Es stellt sich allerdings die Frage, ob es ein Recht auf Verhinderung des menschgemachten Klimawandels gibt. In diesem Fall müsste man die Vermeidung des Klimawandels zur Aufgabe staatlichen Handelns machen. Was aber, wenn der Klimawandel den Bürgern eines Staates Vorteile erbringt, und es dem Staat erleichtert, die Daseinsvorsorge für seine Bürger sicherzustellen? Aus welchen Gründen wäre er dann verpflichtet, gemeinsam mit den benachteiligten Staaten für die Verhinderung des Klimawandels zu kämpfen? Daseinsvorsorge, zu der sich bisher einzelne Staaten des Globalen Nordens ihren Bürgern gegenüber verpflichtet haben, wird durch die allgegenwärtige Dynamik der Urbanisierung zu einer globalen Notwendigkeit. Es ist naiv zu glauben, man könne die Bevölkerung des Globalen Südens auf lange Sicht durch Urbanisierung entmündigen ohne verlässliche staatliche Garantie auf Versorgung mit den Grundbedürfnissen. Das Recht darauf ist aus meiner Sicht unteilbar und nur abhängig von der objektiven Situation des Betroffenen. Dieses Recht zu realisieren, ist allerdings – wie bereits gezeigt – in seiner heutigen Form extrem ressourcenintensiv, weil die Daseinsvorsorge sich in ihrer heutigen Realisierung auf der Grundlage billiger fossiler Energie entwickelt hat. Die verfügbaren Ressourcen, vor allem aber die heute genutzten Energieressourcen, reichen nicht aus, um die Daseinsvorsorge in ihrer bekannten Form global zu garantieren und gleichzeitig an der Welt, wie wir sie kennen, wenig zu ändern, weil der Klimawandel begrenzt werden muss. Dies deutet das Ende der Anschubfinanzierung des Anthropozäns aus fossilen Energieträgern an; und zwar nicht, weil sie erschöpft wären, sondern weil wir glauben, eine weitere Entsorgung von CO2 in die Atmosphäre verstoße wegen des damit verbundenen Klimawandels gegen ein wie immer geartetes Grundrecht auf Verschonung vor dem Klimawandel als Teil der Daseinsvorsorge. Ein stabiles Klima gehörte nach dieser Logik zu den Grundbedürfnissen jedes Menschen, wie Verkehrs- und Beförderungswesen, Gas-, Wasser- und Elektrizitätsversorgung, Müllabfuhr, Abwasserbeseitigung, Bildungs- und Kultureinrichtungen, Krankenhäuser, Friedhöfe, Bäder usw. Daseinsvorsorge wäre dann vom Staat

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ohne den bisher dafür stattfindenden Eingriff in das Klima sicherzustellen. Das allerdings wäre in der Entwicklung der Erde und im Umgang mit Ressourcen und Abfall neu. Es würde bedeuten, dass auf der Grundlage von Wissen über die möglichen Auswirkungen und ausgehend von dem Wunsch, die globalen Stoffströme in für uns als sicher erachteten Grenzen zu stabilisieren, ein freiwilliger Verzicht auf weitere Nutzung der billigen fossilen Energievorräte stattfinden würde. Was ist aus dem Gesagten im Hinblick auf Praxis, Norm und Kontext des Umgangs der Menschen mit Abfall speziell im Hinblick auf die globalen Stoffströme abzuleiten? Aus den dynamischen Entwicklungen der letzten zweihundert Jahre kann man ableiten, dass vor allem die Urbanisierung und die damit verbundene Verstaatlichung der Daseinsvorsorge als Triebfeder für die Beeinflussung der globalen Stoffströme durch den Menschen dienten. Es ist ja in der Regel nicht der überschwängliche Luxus der Menschen in den industrialisierten Ländern, der zur Veränderung der globalen Stoffströme geführt hat, sondern die überaus energieaufwändige Befriedigung ihrer Existenzgrundlagen durch den Staat, nachdem die Individuen dazu nicht mehr in der Lage sind. Dies bezieht sich vor allem auf Nahrungsmittel- und Energieversorgung, Strom, Wasser, Abwasser sowie auf Verkehr. Die rasante Weiterentwicklung dessen, was in den Gesellschaften des Globalen Nordens zu den menschlichen Grundbedürfnissen gezählt wird, hat in diesen zweihundert Jahren zur Verzehnfachung des Energieeinsatzes pro Person für die Daseinsvorsorge geführt. Dies wird jedoch kollektiv nicht als Luxus betrachtet oder als Errungenschaft gefeiert. All dies ist vielmehr für den Einzelnen in immer größerem Umfang notwendig, um im kompetitiven urbanen Leben bestehen zu können. Abfall entsteht im Zusammenhang mit globalen Stoffströmen im Anthropozän vor allem durch die Ausweitung der Daseinsvorsorge, die dem Erhalt staatlicher und wirtschaftlicher Machtstrukturen dient. Abfall ist damit das beinahe unvermeidliche Nebenprodukt der Stabilisierung urbaner Gesellschaften. Die Praxis der Abfallerzeugung ist wissensgetrieben und folgt der klassischen, an Disziplinen orientierten Wissensproduktion. Was außerhalb eines jeweils disziplinär abgegrenzten Bereiches der Daseinsvorsorge fällt, wird als Abfall ignoriert – so lange, bis dieser die Daseinsvorsorge gefährdet. Der Kontext, unter dem diese Praxis der Abfallerzeugung stattfindet, ist eindeutig durch die global ablaufenden Mechanismen der Urbanisierung und Industrialisierung geprägt. Hier unterscheiden sich verschiedene Gesellschaften im Grad der Entwicklung und damit auch in der Intensität der Abfallerzeugung. Die Ausweitung der Urbanisierung und damit zwangsläufig auch der Daseinsvorsorge ist aber aus meiner Sicht ein ausnahmslos globales Phänomen. Damit muss Abfall im Kontext der globalen Stoffströme der Logik der Urbanisierung folgen.

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Die weitere Entwicklung des Menschen im angehenden Anthropozän und sein Verhältnis zu global wirksamem Abfall2 ist damit durch Urbanität, Daseinsvorsorge und Wissen geprägt. Sie unterscheiden sich grundlegend von den Faktoren Abgrenzung, Stoffwechsel und Reproduktion, die zu Beginn des Lebens auf der Erde die damaligen globalen Stoff kreisläufe auf den Kopf gestellt haben. Die gezielte Produktion und Nutzung von Wissen hat in der weiteren Entwicklung einer Welt, in der das Schicksal der Natur mit dem des Menschen eng verwoben ist, als veränderndes Agens die biologische Evolution in Geschwindigkeit und Wirksamkeit weit hinter sich gelassen. Wissensproduktion hat sich als wirksamer, effizienter und extrem schneller Selektionsmechanismus in der Konkurrenz um Ressourcen erwiesen. Der Einsatz von Wissen ist notwendig, um die Lebenserhaltungssysteme der urbanen Welten in einer kompetitiven, sich verändernden Umgebung am Laufen zu halten. Die Wissensproduktion wird von dem Versprechen der Staaten getrieben, die Daseinsvorsorge für ihre Bürgerinnen und Bürger zu übernehmen, da diese selbst dazu nicht mehr in der Lage sind.

4. W ie mag es weitergehen ? Die starken Gestaltungskräfte von Urbanität, Daseinsvorsorge und Wissen werden zukünftig zunehmend die Eingriffe des Menschen in die globalen Stoff kreisläufe prägen. Wissen wird sich dabei nicht nur auf das »Wie« der Eingriffe beschränken, sondern beinhaltet in steigendem Maß auch ihre möglichen Folgen. In der beschriebenen Logik der Machterhaltung sind dabei mindestens zwei Extreme denkbar (und alles dazwischen): Zum einen ist da der Verbleib des Menschen in seiner natürlichen Umwelt mit einem weitgehenden Verzicht auf global wirksamen Abfall und die weitere Nutzung der fossilen Lagerstätten und dem Auf bau globaler Normen einer Sensorik und Mechanik des Anthropozäns zur Erhaltung der globalen Stoffströme in ihrer präindustriellen Form. Zum anderen ist da die strikte Trennung des Menschen von der umgebenden Natur und die konsequente Ausstattung der isolierten, urbanen Lebensräume mit eigenen, von der Natur unabhängigen Lebenserhaltungssystemen wie in den technophilen Träumen von der urbanen Glaskuppel der 1960er Jahre. Welches Extrem besser geeignet ist, die Weiterentwicklung des Menschen im Anthropozän zu sichern, bleibt vorerst eine Wissenslücke. Hier öffnet sich Raum für die Erforschung und Erprobung neuer Normen. Ich selbst bin davon überzeugt, dass der Mensch jenseits der Fähigkeiten zu Zu-

2 |  Abfall wird hier als Abfall verstanden, der die globalen Stoffkreisläufe beeinflusst, wie z.B. CO 2.

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kunftsbewusstsein, Empathie, Wissensproduktion und Macht auch über die bisher noch nicht herausgeforderte Fähigkeit zur Selbstbeschränkung verfügt.

L iter atur Canfield, Donald E. (2005): The early History of Atmospheric Oxygen: Homage to Robert M. Garrels, in: Annual Review of Earth and Planetary Sciences 33, S. 1-36. Green, Pamela A./Vörosmarty, Charles J./Meybeck Michael/Galloway, James N./Peterson, Bruce J./Boyer, Elisabeth W. (2004): Pre-industrial and contemporary fluxes of nitrogen through rivers: a global assessment based on typology, in: Biogeochemistry 68, S. 71-105. Jellinghaus, Lorenz (2006): Zwischen Daseinsvorsorge und Infrastruktur. Zum Funktionswandel von Verwaltungswissenschaften und Verwaltungsrecht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. Wikipedia (2015): Daseinsvorsorge (https://de.wikipedia.org/wiki/Daseins vorsorge [Abruf: 20.9.2015]). World Economic Forum (WEF) (2012): Global Risks 2012. Seventh Edition (http://www3.weforum.org/docs/WEF_GlobalRisks_Report_2012.pdf [Abruf: 6.8.2015]).

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Phosphorwege in Richtung Nachhaltigkeit Claudia R. Binder, Michael Jedelhauser und David Wagner

1. E inleitung Die zukünftige Versorgung mit Phosphor (P) – ein nicht-substituierbares Element und neben Stickstoff und Kali zentraler Bestandteil von Pflanzendüngung – ist in den vergangenen Jahren zunehmend in das öffentliche, politische und akademische Bewusstsein gerückt. Obwohl alarmierende Studien einer baldigen Phosphorknappheit und Gefährdung der globalen Nahrungsmittelversorgung (Cordell et al. 2009) relativiert und neue mineralische Phosphatreserven entdeckt wurden (Scholz/Wellmer 2013), stellen sich Fragen der gerechten Verteilung von Phosphor, der geopolitischen Phosphorknappheit sowie der effizienten und nachhaltigen Nutzung von Phosphor. Die Frage der gerechten Verteilung ist insbesondere für Entwicklungsländer von Bedeutung, da steigende Düngerpreise mit sinkenden Erträgen bzw. steigenden Nahrungsmittelpreisen einhergehen. Die geopolitische Phosphorknappheit bezieht sich auf die räumliche Ungleichverteilung mineralischer Phosphatreserven, die dazu führt, dass die meisten Staaten der Erde, darunter die gesamte Europäische Union mit Ausnahme Finnlands, in ihrer Phosphorversorgung vollständig importabhängig sind. Bezüglich Effizienz spielen vor allem der Erzabbau, die Überdüngung des Bodens und die mangelhafte Rückführung von Phosphor aus Abfällen und Abwässern eine zentrale Rolle. Beim letzteren äußert sich die Phosphorproblematik in der Eutrophierung der Gewässer, die vor allem in Industrieländern durch die Intensivierung der Landwirtschaft, d.h. Überdüngung und Erosion, im letzten Jahrhundert entstanden ist (Smil et al. 2000). Dementsprechend wird ein nachhaltigerer Umgang mit Phosphor auf globaler, nationaler und kommunaler Ebene gefordert. Dabei stellt das Wissen über die Verteilung und Dynamik von Phosphorflüssen eine bedeutende Grundlage für das geforderte Ressourcenmanagement dar. Die Phosphorflüsse werden dabei als die materialisierte Form der Praxis des Umgangs mit Gütern, die für den Phosphorhaushalt relevant sind, verstanden. Die Praxis des Umgangs mit Phosphor variiert je nach Skala (global, national, kommunal)

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und ist eng an den jeweiligen räumlichen Kontext geknüpft. So unterscheiden sich beispielsweise die Phosphorwege von Ländern, die phosphorhaltige Erze besitzen, in erheblichem Maße von den Ländern, die komplett von Phosphorimporten abhängig sind, was unterschiedliche Handlungs- und Verbesserungsoptionen mit sich bringt.1 Der normativen Ebene kommt beim Umgang mit Phosphor eine ganz besondere Rolle zu, denn letztlich bestimmen die globalen Vereinbarungen, die Gesetze auf nationaler Ebene sowie die expliziten und impliziten Normen der Individuen, Organisationen und Gesellschaften, wie sich der Umgang mit Phosphor gestaltet. Die Umsetzung der normativen Vorgaben wirkt sich auf das Phosphormanagement aus und äußert sich letztendlich in der Veränderung der Phosphorflüsse bzw. -wege. Im Folgenden wird auf der globalen, nationalen und kommunalen Ebene erläutert, wie sich heutige Praktiken des Umgangs mit Phosphor äußern, welche Phosphorflüsse quantitativ von Bedeutung sind, wo die »Verluste« von Phosphor liegen und wo der Schwerpunkt für einen nachhaltigeren Umgang mit Phosphor gelegt werden sollte. Ein spezieller Fokus wird dabei auf das Potential phosphorreicher Abfall- und Abwasserflüsse gelegt, welches insbesondere anhand der Phosphorsysteme Schweiz und München als Fallbeispiele auf nationaler bzw. urbaner Ebene veranschaulicht wird. Anschließend werden die Kontexte und Normen dargestellt, innerhalb derer sich das Phosphormanagement auf der jeweiligen Ebene bewegt. Spezifisch werden folgende Fragen näher beleuchtet: • Wie stellt sich der Umgang mit Phosphor auf der globalen, nationalen und urbanen Ebene dar? Welches sind die größten Verluste? • Wo liegen die größten Potentiale für ein nachhaltiges Phosphormanagement auf den jeweiligen Ebenen und welche Handlungsoptionen lassen sich daraus ableiten? Welche Rolle spielen Abfälle und Abwässer? • Wie lassen sich die Phosphorflüsse in Richtung Nachhaltigkeit steuern? Welche Governancestrukturen sind auf den jeweiligen Ebenen relevant? Die Methode, die der Erhebung der Phosphorflüsse zugrunde liegt, ist die Methode der Stoffflussanalyse (Baccini/Brunner 1991; Baccini/Bader 1996; Brunner/Rechberger 2004; Binder 2005). Die Stoffflussanalyse ist eine Methode zur »Erfassung, Beschreibung und Interpretation von Stoffwechselprozessen« (Baccini/Bader, 1996: 44). Es ist eine naturwissenschaftliche Methode, mit der 1 |  Vgl. auch Antikainen (2007); Cooper/Carliell-Marquet (2013); Egle et al. (2014); Gethke-Albinus (2012); Linderholm et al. (2012); Ma et al. (2011); Matsubae-Yokoyama et al. (2009); Senthilkumar et al. (2012); Smit et al. (2010); Suh/Yee (2011); Binder et al. (2009); Binder/Jedelhauser (2014).

Binder, Jedelhauser, Wagner – Phosphor wege in Richtung Nachhaltigkeit

für einen definierten Raum (Systemgrenzen) in einer bestimmten Zeitperiode der Stoff- und Energieumsatz quantifiziert wird. Es gelten die physikalischen Gesetze der Massen- und Energieerhaltung. Die hier vorgestellten Analysen beruhen auf Literaturdaten, internationalen, nationalen und städtischen Statistiken sowie Experteninterviews. Die Modellierung der Phosphorflüsse erfolgte mit der Software STAN 2.5.

2. G lobale P hosphorflüsse Wirft man einen Blick auf die Wege von Phosphor bzw. Phosphat auf globaler Ebene, wird augenscheinlich, dass ein nachhaltiger Umgang mit der Ressource gegenwärtig weder in ökologischer und ökonomischer noch in sozialer Hinsicht gegeben ist. Die globale Wertschöpfungskette von Bergbau bis Entsorgung bzw. Recycling ist durch Ineffizienzen und damit verbundenen Verlusten an Phosphor gekennzeichnet (Bleischwitz et al. 2012; Scholz et al. 2014), die auf unterschiedliche Gründe zurückzuführen sind und im Folgenden zunächst aus historischer Perspektive beleuchtet werden. Dabei wird deutlich, dass der Umgang mit Abwasser und Abfällen zwar ein wesentliches Element eines nachhaltigen Phosphormanagements war und bis heute ist, die Praktiken, Normen und Kontexte jenes Umgangs sich jedoch im Laufe der Jahrhunderte verändert haben. Seit der Sesshaftwerdung und dem Beginn räumlich fixierter landwirtschaftlicher Tätigkeit steht der Mensch vor der Herausforderung, die Fruchtbarkeit der von ihm bewirtschafteten Böden zu erhalten und gegebenenfalls zu steigern. Im Laufe der Jahrtausende wurden zu diesem Zweck in unterschiedlichen Kulturen und Räumen unterschiedliche Praktiken entwickelt, die in Teilen bis heute bewahrt sind. Während im heutigen europäischen Raum zu neolithischen Zeiten Feuer das zentrale Mittel war, um die Pflanzenverfügbarkeit von Nährstoffen im Boden zu erhöhen, hat China bereits vor mindestens 5.000 Jahren durch die systematische Sammlung und Rückführung nährstoff- und speziell phosphorreicher tierischer und menschlicher Exkremente versucht, eine Kreislaufwirtschaft von Phosphor zu entwickeln (Ashley et al. 2011). Ähnliche Praktiken sind ab dem 12. Jahrhundert in Japan dokumentiert (Cordell et al. 2009). In den vergangenen etwa zweihundert Jahren haben sich im Zuge einer industrialisierten und sich globalisierenden Wirtschaft sowie weltweit anhaltender Urbanisierungstendenzen die engen und kleinräumigen Stadt-Land-Beziehungen zunehmend entkoppelt (Cohen et al. 2011). Die »grüne Revolution« im 20. Jahrhundert und der damit verbundene erhöhte Bedarf an Mineraldünger und somit Phosphor haben dazu geführt, dass die globale Nahrungsmittelversorgung heute über weltweit gespannte, komplexe Produktionsnetzwerke gesi-

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Inwastement – Abfall in Umwelt und Gesellschaf t

chert wird (Cordell et al. 2009; Sutton et al. 2013). Die geographische Verortung von Produktion einerseits und Konsum von Nahrungsmitteln andererseits hat sich räumlich zunehmend auseinanderentwickelt. Da die Rückführung phosphorreicher Abfälle und Abwasser in das rurale Hinterland durch den Import von Mineraldüngern substituiert wurde, veränderte sich die Bedeutung und Wahrnehmung von Abwasser und Abfällen, die weniger als wichtige Nährstoffquelle und vielmehr als entsorgungswürdige Belastung wahrgenommen werden. Als Folge ist gegenwärtig eine nicht-nachhaltige lineare Wertschöpfungskette von Phosphor zu beobachten, in der auf globaler Ebene die meisten Länder in erheblichem Maße von mineralischen Phosphatreserven abhängig sind (Reijnders 2014). Diese Geographie der Reserven ist jedoch durch große Disparitäten gekennzeichnet. Nach dem United States Geological Survey (USGS) (2014) konzentrieren sich 75  % der globalen Reserven auf Marokko und die Westsahara, die zweit- und drittgrößten Konzentrationen finden sich in China (6 %) und Algerien (3 %). Da Marokko derzeit seine Reserven noch nicht in vollem Maße ausschöpft, ist die jährliche Produktion von Phosphatgestein (224 Millionen Tonnen im Jahr 2013) vorrangig auf China (43 %), die USA (14  %), Marokko und Westsahara (13  %) und Russland (6  %) verteilt (USGS 2014). Aufgrund aktuell großer Investitionen Marokkos in den Ausbau seiner Produktionskapazitäten, kann jedoch zukünftig mit einer deutlichen Verschärfung der Produktionskonzentration und insbesondere der exportorientierten Produktion gerechnet werden (Wellstead 2012). Der europäische Raum verfügt, von geringen Reserven in Finnland abgesehen, über keine eigenen rentabel förderbaren Phosphatvorkommen (de Ridder et al. 2012). Da China und die USA ihre Produktion für den eigenen Binnenmarkt benötigen, sind die europäischen Staaten vom Import aus kleineren Produktionsländern abhängig. Vor dem Hintergrund endlicher Phosphatvorkommen, gegenwärtiger politischer Instabilitäten in manchen produzierenden Staaten (Syrien, Westsahara) sowie einer zunehmenden Verunreinigung des geförderten Phosphats mit Schwermetallen wie beispielsweise Cadmium stehen importabhängige Länder vor der Herausforderung, ihren Umgang mit Phosphor nachhaltiger zu gestalten, um ihre Abhängigkeit von mineralischem Phosphor zu reduzieren (Montag et al. 2013). Eine wesentliche Komponente einer Transition hin zu einer Kreislaufwirtschaft ist ein neuer Umgang mit phosphorhaltigen Abfall- und Abwasserströmen. Bevor das konkrete quantitative Potential dieser Stoffflüsse für das Recycling von Phosphor näher beleuchtet wird, liefert Abbildung 1 zunächst einen Einblick in das globale Phosphorsystem von Bergbau bis Recycling, um Ansatzpunkte und Handlungsoptionen für ein nachhaltigeres Phosphormanagement abzuleiten.

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Abbildung 1: Globale Phosphorflüsse (in Megatonnen [Mt]) von Exploration bis Recycling für das Jahr 2011 (weltweite Phosphatgesteinsproduktion von 191 Mt entspricht 25 Mt Phosphor); Quelle: Vereinfachte Darstellung nach Scholz et al. 2014.

Die quantitativ größte Menge an Phosphor (25-30 Mt P/Jahr) geht über die Erosion von Böden in Oberflächengewässern verloren. Diese Verluste können über eine effizientere Düngung reduziert werden. Verluste in Form von Abfällen unterschiedlicher Art stellen weitere relevante Phosphorflüsse dar, welche entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu beobachten sind. Die größten Abfälle fallen hierbei im Zuge der Extraktion und Auf bereitung von Phosphatgestein an, betreffen jedoch nur die wenigen Förderländer. Die anschließende Verarbeitung, etwa im Rahmen der Düngemittelherstellung, verursacht weitere phosphorreiche Abfälle, die in allen Staaten mit industrieller Phosphornutzung anfallen. Die hinsichtlich eines nachhaltigen Phosphormanagements auf lokaler, regionaler oder nationaler Ebene bedeutendsten Ansatzpunkte für Verbesserungen sind Abfall- und Abwasserflüsse. Ein nachhaltigerer Umgang mit Abfall in Form von Müllvermeidung, Kompostierung von Bioabfällen und Gärrückständen, der Verwertung von Tierkörper- und Fleisch-/Knochenmehl sowie neuen Rückgewinnungstechnologien für Phosphor aus Abwasser, Klärschlamm und Klärschlammaschen stellen große Potentiale dar, Ressourcenverluste zu reduzieren, Phosphor in den Kreislauf zurückzuführen und dadurch den Verbrauch von mineralischen Phosphaterzen zu substituieren (Montag et al. 2013).

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Eine Addition der von Scholz et al. (2014) geschätzten jährlichen weltweiten Verluste aus Abfall und Abwasser verdeutlicht das Potential dieser Phosphorflüsse. Aus Abwässern gehen jährlich 0,9 Mt Phosphor im Zuge der Ko-Verbrennung, d.h. der Mitverbrennung des Klärschlamms in Müllverbrennungsanlagen und Zement- und Kohlewerken, sowie 0,16 Mt Phosphor durch die Auffüllung von stillgelegten Minen und im Rahmen der Asphaltherstellung verloren. Darüber hinaus werden 0,4 Mt Phosphor pro Jahr in Klärschlamm auf Deponien entsorgt. Siedlungs- und Industrieabfälle führen ebenfalls erhebliche Mengen Phosphor mit sich, sind jedoch auf globaler Ebene schwer zu quantifizieren. Während Phosphor in Abfällen, die direkt deponiert werden, auf 0,5 Mt Phosphor pro Jahr geschätzt werden, sind für Abfälle, die Verbrennungsanlagen zugeführt werden, ebenso wenig Zahlen vorhanden wie zu Abfällen aus der Produktion tierischer Nahrungsmittel. Stoffstromanalysen auf nationaler und kommunaler Ebene liefern jedoch Hinweise darauf, dass auch diese Flüsse über bedeutende Phosphorpotentiale verfügen (siehe 3.2 und 3.3). Aufsummiert ergibt sich aus den genannten quantifizierten Flüssen eine Phosphormenge von jährlich knapp 2 Mt Phosphor. Vergleicht man den Wert mit dem weltweiten Phosphorverbrauch des menschlichen Körpers (3,3 Mt Phosphor pro Jahr), wird das Potential von Phosphor in Abwasser und Abfall deutlich. Darüber hinaus gehen jährlich weltweit 0,5 Mt Phosphor durch die fehlende Anbindung von Haushalten an Kanalisationssysteme verloren. Diese Verluste könnten mittels infrastruktureller Investitionen reduziert werden. Neben einer schwach ausgeprägten ökonomischen und ökologischen Nachhaltigkeit des gegenwärtigen weltweiten Phosphorsystems aufgrund der genannten Ineffizienzen, Verluste und generellen Folgen einer auf mineralischen Phosphorquellen basierenden globalen Nahrungsmittelversorgung, lassen sich auch in sozialer Hinsicht Fehlentwicklungen in Form regionaler Disparitäten feststellen. Obersteiner et al. (2013) weisen auf das sogenannte »phosphorus trilemma« hin, welches die Interessenskonflikte zwischen Produzenten, d.h. phosphatreichen Ländern sowie reichen und armen Nachfragestaaten beschreibt. Während reiche Länder ihre Versorgungssicherheit aufgrund politischer und ökonomischer Macht erhalten und sogar verbessern können, sind arme Länder oftmals nicht in der Lage, Zugang zu Düngemitteln zu erlangen. Ein Grund hierfür ist unter anderem ein hoher Weltmarktpreis für Phosphor, welcher wiederum von den produzierenden Staaten beeinflusst werden kann. Als Folge dieses Trilemmas besteht die Gefahr, dass sich die momentanen globalen Disparitäten und sozialen Ungerechtigkeiten bei der Sicherung der Nahrungsmittelversorgung weiterhin zu Ungunsten der Länder des Globalen Südens verschärfen. Sowohl die weltweite Nahrungsmittelproduktion als auch explizit die Wertschöpfungskette mineralischen Phosphors sind durch globalisierte Strukturen gekennzeichnet. Im Kontext der Sicherung der weltweiten Nahrungsmittel-

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versorgung und der Endlichkeit mineralischer Phosphatreserven sind neben Bestrebungen auf nationaler und lokaler Ebene hin zu einem nachhaltigeren Phosphormanagement (siehe 3. und 4.) in den vergangenen Jahren zunehmend Initiativen im Sinne einer Global Governance von Phosphor zu beobachten (Ulrich/Schnug 2013). Mittels institutionalisierter Kooperationen zwischen Politik, Forschung und Unternehmen soll der Austausch in Forschung und Entwicklung ebenso gefördert werden wie eine Zusammenarbeit auf legislativer Ebene. Hierzu wurden mehrere supranationale Plattformen und Foren ins Leben gerufen. Als Beispiele sind die Global Phosphorus Research Initiative, das UNEP Global Partnership on Nutrient Management, das Netzwerk Global TraPs (Global Transdisciplinary Processes for Sustainable Phosphorus Management), das Global Food Security Forum sowie – mit regionalem Bezug – die European Phosphorus Platform zu nennen. Die Gründung einer nordamerikanischen Plattform für Kanada, die USA und Mexiko wird derzeit geplant. Zwar weisen die einzelnen Initiativen unterschiedliche Hintergründe und Schwerpunkte auf, das langfristige Ziel eines nachhaltigeren Umgangs mit Phosphor ist jedoch allen gemein. Eine zentrale Herausforderung einer supranationalen und globalen Governance von Phosphor besteht darin, die erheblich differierenden nationalen und lokalen Praktiken, Kontexte und Normen, welche sich unter anderem im Umgang mit Abfällen und Abwasser widerspiegeln, und die damit verbundenen unterschiedlichen Interessen einzelner Akteure im Governance-System zu vereinen. Ähnlich wie im Falle des oben beschriebenen globalen Wertschöpfungsnetzwerks lassen sich auch bei den gegenwärtigen GovernanceBestrebungen regionale Disparitäten in Form einer mangelhaften Integration von Ländern und Akteuren des Globalen Südens feststellen (Ulrich/Schnug 2013). Dadurch besteht die Gefahr, dass momentan existierende Ungleichgewichte und Machtasymmetrien manifestiert und weiter verschärft werden.

3. P hosphorflüsse auf nationaler E bene : das B eispiel der S chweiz Der Fokus der Analyse von Phosphorflüssen auf nationaler Ebene liegt auf europäischen Ländern, die komplett von Phosphorimporten abhängig sind. Wie bei Jedelhauser und Binder (2015) dargestellt, kann man europäische Länder, zu denen bislang eine Stoffflussanalyse auf nationaler Ebene durchgeführt wurde, hinsichtlich ihrer Effizienz und Nachhaltigkeit im Umgang mit Phosphor, insbesondere sekundärem Phosphor, in drei Cluster zusammenfassen (Deutschland-Frankreich-Österreich; Schweiz-Schweden-Vereinigtes Königreich; Niederlande als Einzelfallcluster). Im Folgenden erläutern wir die Zusammenhänge innerhalb des Clusters Schweiz/Schweden/Vereinigtes Königreich am Beispiel der Schweiz.

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Die Schweiz verfügt über keine eigenen Phosphorreserven und importiert ihren Dünger zu 100 %. Es ist deshalb ein prioritäres Interesse der Schweiz, sich mit den Phosphorflüssen und deren nachhaltiger Nutzung auseinanderzusetzen, um Abhängigkeiten vom Ausland so weit wie möglich zu reduzieren. Interessant ist hier vor allem die zeitliche Entwicklung der Phosphorflüsse, die auch den Bezug zu Normen und Kontexte klar erscheinen lässt. Zunächst werden die Phosphorflüsse für das Jahr 2011 erläutert, danach wird auf die geschichtliche Entwicklung und den normative Kontext eingegangen.

3.1 Der Phosphorhaushalt der Schweiz Im Jahr 2011 wird der Phosphorhaushalt der Schweiz vor allem durch die Landwirtschaft und die Abfallwirtschaft sowie in vermindertem Maße durch den Konsum (Haushalte & Gewerbe) dominiert. Die Schweiz importiert jährlich ca. 16.000 Tonnen Phosphor. Knapp 90 % der Importe werden in die Landwirtschaft und gut 10 % in den Prozess Chemische Industrie geführt (Abbildung 2). Von der importierten Menge von 16.000 Tonnen Phosphor wurden ca. 3.900 Tonnen Phosphor exportiert, d.h. das System Schweiz weist ein Wachstum des gesamten Phosphorlagers von ca. 12.000 tP/a auf. Diese Akkumulation verteilt sich zu ca. 90 % auf die Abfallwirtschaft und zu 10 % auf die Böden im Prozess Landwirtschaft Pflanzen. Das Phosphorlager in der Abfallwirtschaft steht aufgrund von Verbrennungs- und Entsorgungsprozessen für künftiges Recycling nicht mehr zur Verfügung, woraus sich bereits ein beachtliches Optimierungspotential in diesem Bereich ableitet. Die größten Phosphorflüsse im System (ca. 30.000 tP/a) zirkulieren in der Landwirtschaft zwischen den beiden landwirtschaftlichen Prozessen Landwirtschaft Tiere und Landwirtschaft Pflanzen in Form von Hofdünger und Futter. Sie bilden einen zu über 95 % geschlossenen Kreislauf (Abbildung 2). Die beiden Prozesse decken ihre Phosphornachfrage – abgesehen von dem vorgenannten Kreislauf – im Wesentlichen durch die Importe von Mineraldünger, Tierfutter und pflanzlichen Nahrungsmitteln. Damit sind sie auch mit einem Import von 14.300 Tonnen Phosphor die Hauptimporteure des Systems. Während sich im Prozess Landwirtschaft Pflanzen jährlich 1.500 Tonnen Phosphor, welche von den Pflanzen nicht aufgenommen werden, im Boden ablagern, gelangt bei der Landwirtschaft Tiere mit 3.500 tP/a ein beträchtlicher Teil direkt und ungenutzt in die Abfallwirtschaft. Der Prozess Haushalte & Gewerbe kann als Durchlaufprozess betrachtet werden, da mehr als 95 % des Inputs in den Prozess direkt nach der Nutzung als Output in die Abfallwirtschaft weiterfließt (Abbildung 2). Dennoch ist dieser Prozess durch die Nachfrage nach Nahrungsmitteln ein relevanter Treiber des Systems. Aus dem Kreislauf Landwirtschaft Pflanzen und Landwirtschaft Tiere wird ersichtlich, dass der Nachfrage nach Fleisch eine quantitativ bedeutsame

Binder, Jedelhauser, Wagner – Phosphor wege in Richtung Nachhaltigkeit

Rolle in der Phosphornachfrage und dementsprechend der Phosphorflüsse zukommt. Der Prozess Abfallwirtschaft weist mit ca. 10.550 tP/a das größte Lagerwachstum auf. Hierbei ist zu beachten, dass ca. 59 % der in die Abfallwirtschaft gelangenden Abfälle verbrannt und in Reaktordeponien gelagert werden. 36 % werden als Klärschlamm und tierische Abfälle im Zuge der Zementherstellung verbrannt. Die restlichen 5  % werden in Reststoffdeponien abgelagert. Das heißt, der derzeit so abgelagerte Phosphor steht für künftige Nutzungen nicht mehr zur Verfügung. Würde der Klärschlamm in Monoverbrennungsanlagen verbrannt und in einer speziellen Deponie gelagert werden, könnte er für künftige Auf bereitungen und Nutzungen zur Verfügung stehen. Knapp 9 % der anfallenden Abfallmenge wird in Form von Grüngutdünger für Landwirtschaft und Haushalte wiederverwertet. Der Rest (ca. 3.000 tP/a) des Prozesses Abfallwirtschaft, der nicht wiederverwertet und nicht gelagert wird, geht in Form von Abfluss in Gewässer sowie als Export von Flugasche und tierischen Abfällen verloren. Abbildung 2: Das Phosphorsystem der Schweiz für das Jahr 2011. Flüsse in tP/a; Quelle: nach: Binder und Jedelhauser, 2014.

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3.2 Geschichtliche Entwicklung der Phosphorlager und -flüsse Die starke Rolle der Abfallwirtschaft als Senke für die Phosphorflüsse war jedoch nicht immer so. Tabelle 1 veranschaulicht die Veränderungen ausgewählter Phosphorflüsse seit dem Jahr 1989. Es wird ersichtlich, dass zum einen die Einfuhr von Futtermitteln für Landwirtschaft Tiere über die Zeit konstant geblieben ist und sich zum anderen der Import von Mineraldünger zwischen den Jahren 1989 und 2011 auf weniger als ein Drittel reduziert hat. Mit dieser Entwicklung eng verknüpft ist das abnehmende Lagerwachstum in den landwirtschaftlichen Agrarböden von 18.000 tP/a im Jahr 1989 auf 1.500 tP/a im Jahr 2011. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Subventionen in der schweizerischen Landwirtschaft seit 1999 an ökologische Kriterien geknüpft sind. Eine Anforderung ist die ausgeglichene Nährstoff bilanz, die zur Folge hatte, dass die Düngerüberschüsse in den Böden reduziert werden konnten (Lamprecht 2004). Die Entwicklung wird von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Agrarökologie und Landbau (FAL) (2001: 32) wie folgt kommentiert: »Angesichts dieser Überschüsse kann der Eindruck entstehen, dass die Landwirtschaft die Mineral- und Abfalldünger bei effizienterer Verwendung der Hofdünger gar nicht benötigen würde. Das stimmt nur teilweise. Es ist zu bedenken, dass die Verluste teilweise nicht zu verhindern sind und die Nährstoff-Überschüsse erheblich durch hohe Tierdichten in gewissen Regionen verursacht werden. Braun und Prasuhn (1997) berechneten, dass […] 38 % der P-Verluste im schweizerischen Mittelland durch Maßnahmen in der Landwirtschaft verhindert werden könnten. Die Effizienz des Düngereinsatzes ist in den letzten Jahren gestiegen. Immerhin sind Mineraldüngerimporte von 1990 bis 1995 zurückgegangen, und zwar bei […] P 2O 5 von ca. 40.000 t auf 24.000 t […] (Spiess 1999). Die Überschüsse gingen in ähnlicher Grössenordnung zurück. Diese Effizienzsteigerung ist im Wesentlichen auf die Direktzahlungen für ökologischen Leistungsnachweis zurückzuführen. Dabei wird ein fast ausgeglichener Nährstoffhaushalt der beteiligten Betriebe gefordert. […] Es ist aber zu bedenken, dass die Mineraldünger-Importe von 1995 bis 2000 nach Angaben des Schweizer Bauernverbands nochmals deutlich gesunken sind: […] bei P 2O 5 um ca. 55 % auf 11.000 t.«

Was man ebenfalls beobachten kann, ist der konstante Anstieg der Phosphorlager in der Abfallwirtschaft. Zwischen 1989 und 2011 fand fast eine Verdopplung des Lagerwachstums statt. Diese Entwicklungen sind auf die BSE-Krise und das Klärschlammaustragungsverbot zurückzuführen. Bis zum Jahr 2001 wurden die tierischen Nebenprodukte (Abfälle) hauptsächlich als Futtermittel verwertet. Im Zuge der BSE-Krise wurde im Januar 2001 das Verfütterungsverbot für tierische Mehle an Nutztiere erlassen. Dementsprechend verringerte sich der Phosphorfluss von der Tierverarbeitungsindustrie in die Landwirtschaft um 98 %, von 2.700 Tonnen auf 55 Tonnen. Diese Phosphorflüsse

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werden nicht mehr in den Nährstoff kreislauf zurückgeführt, sondern in die Abfallwirtschaft. Eine weitere Folge der BSE-Krise war das Düngeverbot für tierische Mehle ab 2001 (Artikel 8 Verordnung über das Inverkehrbringen von Düngern – DüV). Danach durfte kein Fleisch- und Knochenmehl mehr zu Düngezwecken verwendet werden. Auch diese Phosphorflüsse werden seitdem nicht mehr zurück in die Landwirtschaft, sondern in die Abfallwirtschaft geführt. Ein weiterer Aspekt ist das Klärschlammaustragungsverbot, das aufgrund einer breiten wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung beschlossen wurde. Kern der Auseinandersetzung waren die möglichen Folgen wie Bodenschäden, Risiken für die Gesundheit sowie Beeinträchtigung der Qualität der Lebensmittel. Gemäß der am 1.5.2003 geänderten Stoffverordnung (StoV, SR 814.013) soll Klärschlamm, mit einer Übergangsfrist bis 2006, nicht mehr als Dünger auf Futter- und Gemüseflächen verwendet werden (Laube/Vonplon 2004). Da Klärschlamm nicht mehr als Dünger verwertet werden darf, ist er gemäß der Technischen Verordnung über Abfälle (Artikel 11 TVA, SR 814.600) in geeigneten Anlagen zu verbrennen, respektive umweltverträglich thermisch zu behandeln. Diese drei Gesetzesänderungen spiegeln sich klar in der Veränderung der Stoffflüsse wieder (Tabelle 1).

Tabelle 1: Veränderungen ausgewählter jährlicher Phosphorflüsse der Schweiz von 1989 bis 2011 (gerundete Werte in tP/a); Quellen: 1: Lamprecht et al. 2011; 2: Binder et al. 2009; 3: Binder und Jedelhauser 2014. Fluss

19891 (tP/a)

20021 (tP/a)

20062 (tP/a)

20113 (tP/a)

Import Futtermittel

6.500

6.500

5.600

6.200

Import Mineraldünger

17.400

6.400

5.900

4.600

Lagerwachstum Landwirtschaft

18.000

4.000

3.500

1.500

Lagerwachstum Abfallwirtschaft

6.500

8.000

9.000

10.600

3.3 Die Abfallwirtschaft als zentraler Prozess für die Schließung von Kreisläufen Wie bereits dargestellt wurde, spielt die Abfallwirtschaft eine zentrale Rolle für die Schließung des Phosphorkreislaufs. Gleichzeitig sind alle Flüsse, die früher aus der Abfallwirtschaft hinaus zur Kreislaufschließung beigetragen

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haben, in den letzten zwanzig Jahren umgelenkt worden. In Abbildung 3 wird das Potential der Kreislaufschließung quantitativ dargestellt. Es ist ersichtlich, dass der gesamte Mineraldüngerimport durch ein gezieltes Phosphorrecycling in der Abfallwirtschaft ersetzt und sogar Recyclingdünger exportiert werden könnte. Quantitativ haben der Klärschlamm sowie die tierischen Abfälle mit 8.300 tP/a das größte Potential. Dementsprechend steht zur Diskussion, eine Verordnung zu erlassen, die zum Recycling von Phosphor aus diesen Abfallquellen verpflichtet. Abbildung 3: Kreislaufpotentiale (in hellgrau) für Phosphorflüsse in der Schweiz im Jahr 2006. Flüsse in tP/a; Quelle: leicht verändert nach Binder et al. 2009.

4. P hosphorflüsse auf urbaner E bene : das B eispiel der S tadt M ünchen Auch in Deutschland wird ein nachhaltiges Management von Phosphor als knappe Ressource zunehmend politisch diskutiert. Dies spiegelt sich unter anderem in der deutschen Rezeption der konsultativen Mitteilung der Kommission zur nachhaltigen Verwendung von Phosphor wider, in welcher eine nach-

Binder, Jedelhauser, Wagner – Phosphor wege in Richtung Nachhaltigkeit

haltige und effiziente Verwendung, die Minimierung von Verlusten sowie die Wiederverwertung von Phosphor gefordert werden (Bundesrat 2013). Der Phosphorrückgewinnung aus Klärschlamm und Klärschlammaschen sowie Abfällen wird hierbei explizit eine zentrale Bedeutung beigemessen. Um Phosphor rentabel recyceln zu können, wird eine große Menge an Recyclingmaterial, wie beispielsweise Klärschlammasche, benötigt. Demzufolge stellt sich die Frage, in welchen Gebieten zugängliche Materialflüsse, die nennenswerte Phosphormengen beinhalten, vorhanden sind. Während bereits in zahlreichen Staaten Stoffstromanalysen von Phosphor auf nationaler Ebene durchgeführt wurden, spielt die Erhebung von Phosphorflüssen auf kommunaler Ebene bislang eine eher untergeordnete Rolle (Überblick bei Chowdhury et al. 2014). Dabei stellen insbesondere (Groß-)Städte aufgrund ihres hohen räumlich konzentrierten Aufkommens von Abfallmengen ein großes Phosphorrecyclingpotential dar. Die Erhebung von Phosphorflüssen in Städten sowie die Untersuchung der Stadt-Land-Beziehung von Phosphorflüssen könnten somit zukünftig an Bedeutung gewinnen. Hinzu kommt, dass das vorhandene Wissen über die Verteilung und Dynamik von Phosphorflüssen auf nationaler Ebene nicht pauschal auf die kommunale Ebene übertragen werden kann, da sich kommunale Wirtschafts- und Industriestrukturen oft erheblich von landesweiten Strukturen unterscheiden. Zum einen wird der Großteil an Phosphor in Deutschland in der Düngemittelindustrie verwertet (Gethke-Albinus 2012), die jedoch in den meisten Städten nicht ansässig ist und folglich keine Rolle spielt. Zum anderen sind landwirtschaftliche Tätigkeiten und somit auch der damit verbundene Phosphorumsatz in Städten erheblich geringer ausgeprägt als auf nationaler Ebene. Aus diesem Grund stellt sich die Frage, wie der gegenwärtige Umgang mit Phosphor in Großstädten, die über quantitativ relevante Stoffstrommengen verfügen, erfolgt. Dies wird im Folgenden für die Stadt München untersucht, die mit ihren knapp 1,5 Millionen Einwohnern (Landeshauptstadt München 2013) einerseits eine große Nahrungsmittel- und somit Phosphorverbraucherin sowie andererseits eine relevante, räumlich stark konzentrierte potentielle Produzentin von sekundärem Phosphor aus Abwasser und Abfällen darstellt. Anhand des Untersuchungsgebiets München können beispielhaft Steuerungsmöglichkeiten für ein nachhaltigeres Ressourcenmanagement auf urbaner Ebene akzentuiert werden. Die Ergebnisse der Analyse deuten insbesondere in den Prozessen Abwasserentsorgung und Abfallentsorgung auf Handlungsoptionen hin. Der Prozess Haushalte und Gewerbe produziert im System München Stadt mit 1.624 Tonnen Phosphor die größten Phosphorfrachten, bestehend aus Abwasser, Restmüll, Biomüll, Gartenabfall und Altholz. Zwar bieten diese Flüsse allesamt Potentiale für einen nachhaltigeren Umgang mit Phosphor, in Bezug auf ein zukünftiges Phosphorrecycling weist allerdings die Abwasserentsorgung den größten Handlungsspielraum auf. Die aus der Abwasserreinigung entstehende Klär-

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schlammasche liefert ein bisher ungenutztes jährliches Potential von ca. 760 Tonnen Phosphor (Abbildung 4). Wie viel Phosphor effektiv recycelt werden kann, hängt vom Rückgewinnungsgrad des angewendeten Recyclingverfahrens ab. Seit dem Jahr 1982 wird der Klärschlamm und die Klärschlammasche auf der Deponie Nord abgelagert, die im Untersuchungsjahr 2010 ein Phosphorlager von fast 20.000 Tonnen Phosphor darstellte. Obwohl die Deponie im Jahr 2016 schließen wird, gibt es bisher keine weitere Deponierungsmöglichkeit für die jährlich anfallende Klärschlammasche. Die Deponie ist derzeit für das Recyceln von Phosphor allerdings uninteressant, da die Aschen nicht separat gelagert werden und sich somit eine Rückgewinnung aus verfahrenstechnischer Sicht als schwierig erweist. Das Recyceln von Phosphor aus einer geschlossenen Deponie wäre nur bergmännisch umsetzbar und mit hohen Kosten verbunden. Bei einem aktuellen Preis (Stand: Oktober 2014) von ca. 100 Euro pro Tonne Phosphatgestein (Weltbank 2014) ist eine Rückgewinnung aus der Deponie nicht denkbar. Letztendlich bestimmt der Phosphorpreis die Rentabilität des Phosphorrecyclings. Sollte der Preis in den kommenden Jahrzehnten stark ansteigen, könnten gegenwärtig unrentable Rückgewinnungsverfahren zukünftig in Betracht gezogen werden. Die Münchner Stadtentwässerung arbeitet aktuell an der Frage, inwieweit zukünftig mit der anfallenden Klärschlammasche umgegangen werden soll. Möglichkeiten wie eine verlagerte Deponierung, die Etablierung eines Phosphorrecyclings oder der Verkauf der Asche werden diskutiert (Stadtwerke München 2014). Auch der Prozess der Abfallentsorgung verarbeitet relevante Phosphormengen. Es besteht im Prozess der thermischen Abfallverwertung von Restmüll und Klärschlamm des Heizkraftwerks Nord ein Phosphorpotential von etwa 660 tP/a (Abbildung 5). Die entstehende Schlacke wird anschließend zur Verwendung als Baustoff oder zur Deponierung aufbereitet. Inwieweit jedoch aus der Schlacke Phosphor recycelt werden kann, ist aus verfahrenstechnischer Sicht fraglich. Der Abfallwirtschaftsbetrieb München ist sich der steigenden Relevanz von Phosphor in Abfallströmen bewusst und befasst sich bereits mit der Thematik der Rückführung. Es liegt bisher allerdings noch kein finales Konzept vor (AWM 2014). Im Bereich der Entsorgung von biogenen Abfällen ist eine Kreislaufführung über Vergärungs- und Kompostierungsanlagen zu erkennen. Knapp 50  % der jährlich anfallenden biogenen Abfälle wie Biomüll und Gartenabfall werden über eine Trockenfermentationsanlage vergärt, anschließend kompostiert und über den Vertrieb der sogenannten »Münchner Erden« in den Systemkreislauf rückgeführt. Restliche biogene Abfälle werden an private Kompostierungs- und Vergärungsunternehmen ausgeschrieben. Die Produkte Gärrückstand und Kompost verlassen das System und werden vermutlich über den Prozess der Landwirtschaft in Form von Düngemitteln rückgeführt.

Binder, Jedelhauser, Wagner – Phosphor wege in Richtung Nachhaltigkeit

Abbildung 4: Modellergebnisse für das Subsystem Abwasserentsorgung 2010 (in Tonnen P)

Um eine fundierte Datengrundlage für die Etablierung einer landesweiten Phosphorstrategie zu schaffen, ist die Erhebung von Phosphorflüssen und -lagern auf städtischer bzw. kommunaler Ebene notwendig. Aufgrund der massiv schwankenden Phosphorkonzentrationen in Klärschlamm und Klärschlammasche müssen regionale Messungen für die Generierung einer repräsentativen Datengrundlage durchgeführt werden. Die Stoffflussanalyse für das Untersuchungsgebiet der kreisfreien Stadt München kann als Grundlage für eine zukünftige Phosphorstrategie der Stadt betrachtet werden. Die Modellergebnisse stellen vorerst die Basis für die Erweiterung des Erhebungsgebietes sowie einen Beitrag für die landesweite Phosphorpolitik dar. Die Bundesregierung etablierte mit ihrer Initiative zur Erhöhung der Ressourceneffizienz bereits grundlegende Anreize zum Recycling von Phosphor aus Abwasser und Abfallstoffen (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 2012). Verbindliche Forderungen zu Rückgewinnungsraten könnten die Erfassung von Phosphorflüssen auf kommunaler sowie Landesebene vorantreiben. Aufgrund der hohen regionalspezifischen Recyclingvoraussetzungen ist jedoch eine Kooperation zwischen Kommunen und Ländern unabdingbar.

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Abbildung 5: Modellergebnisse des Subsystems Abfallmanagement 2010 (in Tonnen P)

Die Prozesse Abwasserentsorgung und Abfallmanagement weisen die größten Phosphorumsätze auf und sind folglich für Strategien zur Phosphorrückgewinnung von zentralem Interesse. Aufgrund seiner untergeordneten Bedeutung im urbanen Raum stellt der Prozess Landwirtschaft kein nennenswertes Recyclingpotential, jedoch ein Rückführungspotential dar. Der Bedarf an mineralischen Düngemitteln im Gebiet München Stadt könnte über eine Phosphorrückgewinnung aus Klärschlammasche zu 100  % gedeckt werden. Bei einer Untersuchung von vornehmlich rural geprägten Kommunen mit einem höheren Maß an landwirtschaftlicher Aktivität könnte der Prozess Landwirtschaft auch Potentiale für Phosphorrecyclingverfahren aufweisen. Schlussendlich gehen 124 Mg Phosphor durch den Phosphorabfluss, welcher aus Kläranlagen und landwirtschaftlichen Flächen in die Isar fließt, verloren. Dieser Verlust wird bewusst gebilligt, da Phosphor in kontrollierten Mengen einen stabilisierenden Faktor für das hydrologische Ökosystem darstellt.

5. F a zit In diesem Beitrag wurden die Wege von Phosphor auf globaler, nationaler und urbaner Ebene analysiert. Es wurde gezeigt, dass sich die drei Ebenen

Binder, Jedelhauser, Wagner – Phosphor wege in Richtung Nachhaltigkeit

bezüglich des Potentials hin zu einem nachhaltigeren Phosphormanagement voneinander unterscheiden. Auf der globalen Ebene ist ersichtlich, dass aus quantitativer Perspektive vor allem im landwirtschaftlichen Bereich großes Verbesserungspotential besteht. Länder mit Phosphatgesteinsförderung verfügen darüber hinaus im Zuge der Extraktion und Auf bereitung des Erzgesteins über Potentiale, die erheblichen Verlustmengen an Phosphor zu reduzieren. Bei genauerer Betrachtung einzelner Länder wird klar, dass diese Potentiale sich von Land zu Land unterscheiden. Dies geht zum einen auf naturräumliche Bedingungen, wie etwa die Ausstattung mit mineralischen Phosphatvorkommen, zurück. Darüber hinaus basieren regionale Disparitäten oftmals auf historisch gewachsenen und kulturell eingebetteten Praktiken im Umgang mit Abfall und Abwasser. Diese Praktiken werden wiederum durch unterschiedliche Regelungssysteme geprägt. Wie von Jedelhauser und Binder (2015) dargestellt, kann man bereits im europäischen Raum drei verschiedene Cluster von Ländern identifizieren, die sich hinsichtlich ihres Umgangs mit Phosphor und ihres Potentials für ein nachhaltiges Phosphormanagement unterscheiden. Tiefergehende Analysen des Fallbeispiels der Schweiz machen deutlich, dass sich das Land bereits seit den 1990er Jahren um ein nachhaltigeres Management der Phosphorflüsse bemüht. So konnte von 1989 bis ins Jahr 2011 die Akkumulation von Phosphor in den landwirtschaftlichen Böden um 90 % gesenkt werden. Durch das Vorsorgeprinzip hingegen wurden einige Recyclingflüsse nicht in die Landwirtschaft gelenkt, sondern in die Abfallwirtschaft, sodass hier ein neues Potential entstand. Um neben den gesetzlichen Aspekten die Nutzung dieses Potentials zu erforschen, ist die Analyse auf der kommunalen Ebene von Bedeutung. Es zeigt sich am Beispiel von München, dass Kläranalagen ein hohes Phosphorpotential aufweisen, dieses aber gegenwärtig nicht genutzt wird. Zwar verfügt die Stadt über eine Monoverbrennungsanlage, die grundsätzlich zukünftig Phosphorrecycling aus den Klärschlammaschen erlauben würde. Eine hierfür notwendige separate Lagerung der Aschen für spätere Rückgewinnungsverfahren findet jedoch gegenwärtig nicht statt. Bereits bestehende Grundlagen für die Nutzung der Phosphorpotentiale werden folglich nicht genutzt. Die Untersuchungen haben darüber hinaus gezeigt, dass für ein nachhaltiges Phosphormanagement die Normen von zentraler Bedeutung sind. Auf globaler Ebene entstehen unterschiedliche Governance-Systeme, deren Ziel es ist, Akteure für ein nachhaltigeres Phosphormanagement zusammenzuführen, Ressourcen zu bündeln und supranationale Regelungs- und Steuerungsformen zu entwickeln. Die Herausforderung dieser Systeme besteht unter anderem darin, die unterschiedlichen Normen und Kontexte der Mitgliedsstaaten, Organisationen und Einzelakteure so zu berücksichtigen, dass die Phosphorflüsse nachhaltiger gestaltet werden können. Die in europäischen Staaten diskursiv stark präsente Transition hin zu einer Kreislaufführung von

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Phosphor basierend auf technologischen Lösungen sollte jedoch nicht die globale Gesamtsituation hinsichtlich der Phosphorverteilung und -verfügbarkeit überdecken. Praktiken im Umgang mit Phosphor sind in Staaten des Globalen Südens sowohl in andere Kontexte und normative Regelsysteme eingebettet als auch mit anderen Problemstellungen und Herausforderungen konfrontiert. Ein mangelhafter Zugang zu Phosphatdüngern ist in diesen Fällen aufgrund fehlender finanzieller Ressourcen oftmals deutlich akuter und wirft Gerechtigkeitsfragen auf. Im europäischen Raum zeigt sich am Fallbeispiel der Schweiz die Bedeutung von Normen und Kontexten. Dabei werden die Phosphorflüsse vor allem in der Abfallwirtschaft von unterschiedlichen normativen Perspektiven gesteuert. Ein zentraler Aspekt ist, dass durch das Vorsorgeprinzip die Gesundheit des Menschen und eine saubere Umwelt (Boden) höher gewichtet werden als die Kreislaufführung der Ressource Phosphor. Das Potential für die Erstellung von Phosphordünger aus derzeit in der Abfallwirtschaft endgelagerten Abfällen ist höher als der derzeit importierte Phosphordünger. Die Frage, wie eine Nutzung des brachliegenden Phosphorpotentials gesetzlich geregelt und dadurch auf Unternehmensebene ein Anreiz zur Technologieentwicklung und -implementierung geschaffen werden kann, ist derzeit noch offen. Urbane Stoffstromsysteme von Phosphor sind in regionale, nationale und supranationale Regelungssysteme eingebettet. Die politische Ablehnung einer landwirtschaftlichen Verwertung von Klärschlamm auf bayerischer Ebene (Verordnung über den Abfallwirtschaftsplan 2006) schlägt sich beispielsweise auch auf kommunale und urbane Behandlungs- und Entsorgungspraktiken von Abwasser nieder. Das Fallbeispiel des Münchner Phosphorhaushalts verdeutlicht jedoch, dass urbane Phosphorflüsse darüber hinaus in erheblichem Maße von Politiken, Strategien und der Motivation einzelner lokaler Akteure abhängen. Grundlagen für eine Kreislaufführung von Phosphor wurden im Abfallbereich durch das Kompostprodukt der »Münchner Erden« ebenso gelegt wie in der Abwasserbehandlung durch die Monoverbrennung der Klärschlämme. Dass die daraus entstehenden phosphorreichen Aschen gegenwärtig nicht adäquat für ein späteres Phosphorrecycling gelagert werden, zeigt, dass die Prioritäten der Betreiber und Entsorger bislang nicht auf einem Recycling von Nährstoffen lagen. Das zunehmende Wissen um die Grenzen mineralischer Phosphatvorkommen und eine daraus resultierende gesellschaftlich-politische Debatte über die Schließung von Phosphorkreisläufen verändert jedoch gegenwärtig jene Prioritäten und kann mittelfristig Praktiken im Umgang mit Abfall und Abwasser neu formen.

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Recycling als Kulturtechnik Helmuth Trischler

Wenn Abfälle das Inwastement einer Gesellschaft bilden und als Kulturtechnik zu verstehen sind, dann ist Recycling eine spezifische Ausprägungsform dieser Kulturtechnik. Individuen und Gesellschaften wenden Recycling an, um gebrauchte Güter und Ressourcen einer Wiederverwendung zuzuführen. Recycling lässt sich dabei – so die These dieses Beitrags – einerseits als eine anthropologische Kulturtechnik bestimmen, die menschlichen Gesellschaften spätestens seit der Antike eingeschrieben ist, und dies unabhängig davon, ob es sich um Mangel- oder um Überflussgesellschaften handelt. Recycling ist andererseits nicht gleich Recycling. Vielmehr bilden die konkreten Materialisierungsformen dieser Kulturtechnik die Praxisdimensionen des Recyclings, die von der materiellen Kultur einer Gesellschaft geprägt werden. Mit anderen Worten, die Formen des Recyclings sind von den kulturellen Bedingungen, Differenzen und Zusammenhängen, kurzum vom jeweiligen historisch-gesellschaftlichen Kontext abhängig; sie variieren in Zeit und Raum. Recycling als Kulturtechnik ist zudem in individuelle und kollektive Normvorstellungen eingebettet, die den gesellschaftlichen Umgang mit Abfall bestimmen. Auch diese sind historisch spezifisch und variant, und sie ließen sich kategorial dem Kontext zuordnen. Im analytischen Dreischritt unseres Bandes bilden Normen freilich eine eigene, von Praxis und Kontext analytisch getrennte, gleichwohl komplementäre Kategorie. Wie aber lässt sich Recycling als Kulturtechnik fassen? Zieht man gängige Definitionen zurate, wird rasch deutlich, dass ein normenorientiertes Verständnis von Recycling die Komplexität und Vielfalt kultureller Praktiken nur allzu unzureichend erfassen kann. Die Ökonomie etwa versteht unter Recycling die »Rückführung von Produktions- und Konsumabfällen (auch: Abwärme) in den Wirtschaftskreislauf«, wobei diese als Ausgangsmaterialien zu Sekundärrohstoffen werden (Feess 2015). Die juristische Definition des Recyclings geht einen Schritt weiter und eskamotiert die energetische Dimension. Das geltende Kreislaufwirtschaftsgesetz versteht demnach unter Recycling »jedes Verwertungsverfahren, durch das Abfälle zu Erzeugnissen, Materialien

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oder Stoffen entweder für den ursprünglichen Zweck oder für andere Zwecke auf bereitet werden«, wobei dies die Auf bereitung organischer Materialien einschließt, »nicht aber die energetische Verwertung und die Auf bereitung zu Materialien, die für die Verwendung als Brennstoff oder zur Verfüllung bestimmt sind« (§ 3 Absatz 25 Gesetz zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und Sicherung der umweltverträglichen Bewirtschaftung von Abfällen [Kreislaufwirtschaftsgesetz – KrWG]). Hier hilft ein den zeitlichen Fokus öffnender Zugriff, um die Vielgestaltkeit von Recycling als Kulturtechnik in den Blick nehmen zu können. In einer kulturhistorisch geschärften Perspektive bezieht sich das Feld des Recyclings dann nicht nur auf die Rückführung von Abfall in den Kreislauf von Produktion und Konsum, sondern umfasst auch Praktiken der Verlängerung des Lebenszyklus von Gebrauchsgütern durch Instandhaltung und Reparieren, der Ressourcenschonung durch die Weitergabe von gebrauchten Gütern oder Gegenständen und auch der Substitution von knappen Stoffen in Kommandowirtschaften, Kriegs- und Krisenzeiten. Dieses Spannungsfeld von Praxis, Norm und Kontext von Recycling als Kulturtechnik wird im Folgenden in einem primär historisch argumentierenden Zugriff ausgeleuchtet. Ein erster, kürzerer Abschnitt nähert sich insbesondere begrifflich dem Recycling an; der zweite, längere Abschnitt analysiert den Wandel dieser Kulturtechnik seit der frühen Neuzeit, und ein abschließender Ausblick gilt dem Upcycling als Vision der Lösung aller menschlichen Ressourcen- und Abfallprobleme.

1. R ecycling als K ulturtechnik – eine schwierige A nnäherung Recycling gilt heute als Pflicht eines verantwortungsbewussten Konsumenten in bürgerlichen Zivilgesellschaften. Käufer machen sich Gedanken über die Umweltauswirkungen ihres Konsumverhaltens. Sie legen Wert darauf, dass die Verpackungen der von ihnen erworbenen Waren ordentlich wiederverwertet werden, und die Produzenten beruhigen das Käufergewissen durch eine entsprechende Auszeichnung ihrer Waren. Der »Grüne Punkt« weist ein Produkt praktischerweise als grün aus und damit per definitionem als nachhaltig. In den Überflussgesellschaften Europas hat die Mehrzahl der Bürger die Sorge um Natur und Umwelt in ein routiniertes Recycling überführt, das die Ressourcen schont und zugleich psychisch entlastend wirkt (Oldenziel/Weber 2013: 347). Müll wird gesammelt, getrennt, auf bewahrt und schließlich in den Kreislauf zurückgeführt. Recycling ist zu einer ubiquitären Kulturtechnik geworden, der zugleich ein gigantischer Wirtschaftssektor zugeordnet ist. Als Beginn von Recycling als »Praxis der Nachhaltigkeit« (Oldenziel/ Trischler 2015) hat sich im kollektiven Gedächtnis westlicher Gesellschaften

Trischler – Recycling als Kultur technik

die Epochenschwelle an der Wende zu den 1970er Jahren eingeprägt, als sich die Umweltbewegung formierte und im Anschluss an den vieldiskutierten Bericht des Club of Rome von 1972 die »Grenzen des Wachstums« offenbar wurden. Umweltaktivisten sahen das Heil des Planeten nicht in neuen Technologien, sondern in der Mobilisierung tradierter Kulturtechniken des Erhaltens und Wiederverwendens. Das Plädoyer für eine Rückführung von Ressourcen in den Stoff kreislauf war zugleich ein gezielter Akt des Protests gegen das Dogma des Wirtschaftswachstums. Konsumenten forderten ein, Glasflaschen an die Produzenten rückzuführen. Fahrräder wurden als Alternative zum ausufernden Automobilverkehr propagiert. Windkraftanlagen entwickelten sich zu Alternativen für Kernkraftwerke. Lange Zeit als hoffnungslos veraltet belächelte Technologien wurden wiederbelebt, mit neuen Bedeutungen versehen und mutierten in veränderter Funktion und Konzeption zu Hoffnungsträgern für eine nachhaltigere Zukunft. Der »Schock des Alten« wie der britische Technikhistoriker David Edgerton die Kraft etablierter Technologien bezeichnet, veränderte Wirtschaft und Gesellschaft tiefer als die vielbeschworenen technischen Innovationen, die häufig an der Nachfrage des Marktes vorbei gingen (Edgerton 2006). Und es waren vor allem Konsumenten, Bastler und Rebellen, von denen Impulse des Wandels ausgingen (Oldenziel/Hård 2013: 235ff.). Rebellierende Konsumenten trugen auch die Umweltbewegung der frühen 1970er Jahre, die sich rasch transnational formierte. Europäische Umweltschützer ließen sich in einem transatlantischen Dialog von ihren Gesinnungsgenossen in den USA inspirieren und umgekehrt. Das rasche Wachstum der 1971 in Vancouver von einigen kalifornischen Aussteigern gegründeten Umweltorganisation Greenpeace zu einer globalen Bewegung, die insbesondere auch in Deutschland rasch Fuß fassen sollte (Zelko 2013, 2014), ist ebenso ein signifikantes Beispiel für die transnationale Zirkulation von Ideen für eine umweltsensitive Gesellschaft wie der visionäre kalifornische Unternehmer Stewart Brand und sein Netzwerk »Whole Earth«. Brand verfocht eine Kultur des do-it-yourself. Sein 1968 erschienenes Kompendium The Whole Earth Catalogue: Access to Tools war eine Art Werbekatalog für die Umweltbewegung, in dem sich technische Anleitungen zur Reparatur von Dingen ebenso fanden wie Schweißgeräte, Zahnradgetriebe und Gartenutensilien (Turner 2006). Die Praxis des do-it-yourself basierte auf der Philosophie einer an soziale Bedürfnisse angepassten Technik, die der Ökonom Ernst Friedrich Schumacher in seinem Buch Small is Beautiful von 1973 popularisierte (Schumacher 1973). Demselben Gedanken war auch die entstehende britische Umweltbewegung verhaftet, die mit ihrem Consumers’ Guide to the Protection of the Environment Verbraucher dazu anregte, Recycling-Vereine zu organisieren (Jamison 2001). Und ein Artikel zu Recycling in einem 1970 publizierten Umwelthandbuch hielt Nutzer zur Instandhaltung und Reparatur von Produkten an, anstatt der Logik der eingeplanten Veralterung auf den Leim zu gehen (DeBell 1970:

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217). Als im selben Jahr gar US-Präsident Richard Nixon mit Blick auf die Jahrtausendwende zum »recycling of materials« aufrief, wurde der Begriff auch außerhalb der westlichen Welt populär und entwickelte sich zum politischen Slogan (Macekura 2011). Schon ein kurzer begriffsgeschichtlicher Exkurs zeigt freilich, dass Recycling eine weit längere und komplexere Geschichte hat, als dies im kollektiven Gedächtnis westlicher Gesellschaften üblicherweise verankert ist. Der Begriff selbst stammt ursprünglich aus der Erdölindustrie der 1920er Jahre und bezieht sich auf die Veredelung von Rohöl, bei dem durch fraktionierte Destillation (Cracking) Produkte aus kurzkettigen Kohlenwasserstoffen wie Benzin, Diesel und leichtes Heizöl gewonnen werden. Rückstände werden in den Prozess rückgeführt und in einer Vakuumdestillation erneut bei niedrigem Druck fraktioniert: Sie werden recycelt. Diese ingenieurtechnische Begriffsbestimmung dehnte sich im zweiten Drittel des 20. Jahrhunderts auf technische Systeme wie das U-Boot oder die Raumfahrt aus, bei denen ein weitestgehend geschlossener Ressourcenkreislauf angestrebt werden musste. Im Verlauf der 1960er Jahre erweiterte sich der Begriff und bezeichnete schließlich eine Fülle von Formen der »Wiederverwendung und Wiedergewinnung« von Materialien (Strasser 1999: 72), der von der entstehenden Umweltbewegung aufgenommen und mit einer neuen, ökologisch orientierten Bedeutung aufgeladen wurde. Erst in diesem historischen Kontext verengten sich Norm und Praxis des Recyclings zu einer dominant »grünen« Variante dieser Kulturtechnik, die auf Umweltschutz und Ressourcenschonung abzielte. Um aber die vielfältigen Praxisdimensionen und kulturellen Bedeutungen des Recyclings in Verbindung mit den sich wandelnden Normen und Kontexten in den Blick zu bekommen, wird im Folgenden der Wandel dieser Kulturtechnik zwischen Vormoderne und Moderne beleuchtet.

2. K onturen , K onjunk turen und K ontinuitäten des R ecyclings in historischer P erspek tive Geschichte bedeutet, fragegeleitet Geschichten zu erzählen, die im besten Falle nicht nur narrativ-spannend gehalten sind, sondern auch irritieren, indem sie unerwartete Blicke auf vermeintlich Bekanntes richten und damit neue Perspektiven eröffnen. In unserem Zusammenhang heißt dies, ausgehend von der Leitfrage nach der Herausbildung und Differenzierung von Praxis, Norm und Kontext der Kulturtechnik Recycling Geschichten zu erzählen, die insbesondere die Pluralität und Alterität von Praktiken und Bedeutungen des Recyclings in Vormoderne und Moderne aufzeigen. Bereits in der Antike finden sich Praktiken der Wiederverwendung von Dingen, denen ein materieller oder kultureller Wert eingeschrieben wurde.

Trischler – Recycling als Kultur technik

Für das griechische Korinth hat die Archäologin Kathleen Slane eine stabile Kultur der Reparatur und des Recyclings nachgewiesen (Slane 2011). In Rom etwa wurden Sarkophage ebenso mehrfach verwertet wie Gebrauchsgüter aus Keramik und Glas. Da keine öffentlich organisierte Müllabfuhr existierte, breiteten sich insbesondere entlang von Flüssen Mülldeponien aus, auf denen – ähnlich wie heute in Regionen des Globalen Südens – Menschen aus verarmten Unterschichten als Müll- und Kanaltaucher (canalicolae) ihr Dasein zu fristen suchten. Auch das Spätmittelalter kannte vielfältige Praktiken des Recyclings (Reith 2003). Für große Teile der mittelalterlichen Knappheitsgesellschaften war die Rückführung von Materialien in den Stoff kreislauf eine unabdingbare Notwendigkeit der Überlebenssicherung. In frühneuzeitlichen Gesellschaften jedoch gewann die Wiederverwendung von Gütern eine neue Qualität, als sich Märkte für gebrauchte Waren herausbildeten. Da »die Mehrheit der Bevölkerung in einer Knappheitsökonomie wirtschaftete«, war die Verlängerung der Lebensdauer von Dingen durch Reparieren, Ausbessern und Wiederverwenden allgegenwärtig (Reith/Stöger 2012: 178). Recycling wurde zu einer Strategie des Überlebens. Arbeit war billig und Material teuer, sodass sich sowohl in privaten Haushalten als auch auf den Märkten eine »Ökonomie des Notbehelfs« einspielte, die Olwen Hufton am Beispiel Frankreichs im 18. Jahrhundert in ihrer Vielschichtigkeit herausgearbeitet hat (Hufton 1974). Das vorindustrielle Europa war von einer weitgespannten Zirkulation des Gebrauchten geprägt, und der Handel mit Gebrauchtwaren blühte auf allen Ebenen der materiellen Kultur von Kleidung und Geschirr bis zu Papier und Metall (Fontaine 2004, 2008; Stobart/van Damme 2010; Stöger 2011). Die Wiederverwendung und Wiederauf bereitung von Textilien war dabei besonders weit verbreitet. Kleider durchliefen einen langen Lebenszyklus. Sie wurden vielfach umgearbeitet, geflickt und weiterverkauft, ehe sie in Form von Hadern der Papierindustrie als Sekundärrohstoffe dienten. Auch Eisen war ein knappes Gut, das es dem Stoff kreislauf zu erhalten galt. Das Umschmieden von Schwertern zu Pflugscharen, das in den 1980er Jahren in Anlehnung an ein Teilzitat aus der Bibel zum Slogan für Völkerfrieden durch weltweite Abrüstung werden sollte, war in der frühen Neuzeit häufig geübte Praxis (Woodward 1985). Die von der Umwelthistorikerin Susan Strasser als »stewardship of objects« bezeichnete Norm der Wertschätzung der Dinge prägte eine vielfältige Kultur spezialisierter Dienstleitungen aus, die freilich auch von sozialen Konflikten durchzogen war (Strasser 1999). Zünftige Gewerbe wie Schuhflicker und Flickschneider blickten auf bezeichnenderweise als »Störer« oder »Pfuscher« angefeindete unzünftige Gesellen außerhalb von Meisterhaushalten herab. Vielfach ausgegrenzt wurden auch die in ihrer Erwerbstätigkeit beschränkten Juden, die ebenso auf den Handel mit Gebrauchtwaren auswichen wie Gruppen der Sinti und Roma, welche beispielsweise in Irland und Schottland als

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»Tinkers« Elemente des Wanderhandels und des Reparaturhandwerks kombinierten (Stöger 2015). Die kulturelle Wertschätzung der Dinge ging nicht mit einem hohen sozialen Status derjenigen einher, die dafür sorgten, dass Güter wiederverwendet wurden. Zudem setzte im Verlauf der Industrialisierung ein Normen- und Wertewandel ein. Lumpensammler galten in der vormodernen europäischen Gesellschaft und auch noch bis weit in das 19. Jahrhundert hinein als wichtige Berufsgruppe, die dafür sorgte, dass knappe Güter dem wirtschaftlichen Kreislauf erhalten blieben, ehe sie an den gesellschaftlichen Rand gedrängt und sozial ausgegrenzt wurden, wie das Beispiel der Pariser »chiffoniers« zeigt (Barles 2005, 2011). Wie weit verbreitet die Wiederverwertung von Gebrauchsgütern in der frühen Neuzeit war, soll hier an zwei Fallbeispielen beleuchtet werden: das wissenschaftliche Labor und die kunsthandwerkliche Herstellung von Musikinstrumenten. Sie mögen auf den ersten Blick als randständig erscheinen, erweisen sich bei näherer Betrachtung aber insofern als besonders aussagekräftig, als sie der sich formierenden bürgerlichen Gesellschaft und damit Lebensbereichen zuzuordnen sind, die weit weniger von dem Zwangsdiktat der Sparsamkeit beherrscht wurden als der Großteil der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Die neue Wissenschaft der Naturphilosophie, die in Europa zu Beginn des 17. Jahrhunderts ihren Aufstieg nahm, hatte ihren Ort nicht etwa in abgeschiedenen Laboratorien, sondern ganz überwiegend im privaten Haushalt (Werrett 2013, 2014). Das »Labor« des Experimentalwissenschaftlers befand sich neben der Küche oder dem Schlafzimmer. Die Laborpraxis fügte sich in die räumlichen und sozialen Gegebenheiten des Haushalts ein, wobei Spannungen mit der Frau des Hauses nicht ausbleiben konnten, insbesondere wenn mit Chemikalien und explosiven Stoffen hantiert wurde. Robert Boyle, der ebenso berühmte wie wohlhabende Erfinder der Luftpumpe, hätte sich gewiss den Bau eines eigenständigen Gebäudes für seine Untersuchungen leisten können. Aber auch er fand es letztlich praktischer, auf die vorhandene Infrastruktur seines Wohnhauses zurückzugreifen. Die Küche zumal bot vieles, was praktische Naturphilosophen für ihre Experimente benötigten: Essig, Salz, Zucker und viele andere Stoffe, die erforderlich waren, um chemische und physikalische Prozesse zu untersuchen. Nicht nur bei der Nutzung von Materialien, sondern auch bei der Konstruktion von Instrumenten griffen Wissenschaftler auf im Haushalt Vorhandenes zurück und bastelten sich diese mit hoher Improvisationskunst zusammen. Schrott und Müll waren Quellen wissenschaftlicher Inspiration. James Watt nutzte einen Wasserkessel für seine berühmten Wasserdampf-Experimente, und Joseph Priestley bediente sich für seine Gasuntersuchungen eines Wäschetrogs, den er nach Abschluss seiner Arbeiten an einen befreundeten Wissenschaftler weiterreichte. Geschützrohre und zerbrochene Tabakpfeifen dienten dem Begründer der modernen Chemie dazu, um

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Luft aus Feststoffen zu extrahieren. Beschädigte Instrumente wurden nicht etwa durch neue ersetzt, sondern repariert. War eine Reparatur nicht mehr möglich, wurden die Teile ausgeschlachtet und für den Bau neuer Instrumente weiterverwendet (Werrett 2013: 629ff.). Wie kein anderer verkörpert Benjamin Franklin die Recyclingkultur frühneuzeitlicher Wissenschaft. Naturphilosophie verband sich bei Franklin mit puritanischer Sparsamkeit, die seine Lebensführung ebenso prägte wie seinen Wissenschaftsstil. In seinen berühmten Experimenten zur Elektrizität betätigte er sich als »Buchhalter der Natur«, der das ihm aus der wirtschaftlichen Buchführung vertraute Plus und Minus auf die Zustände elektrischer Ladung übertrug (Sibum 1993). Die Wissenschaftskultur eines ressourcensparenden Recyclings von Materialien, Objekten und Instrumenten brach keineswegs im 18. Jahrhundert ab. Sie findet sich auch bei Charles Babbage, der in den 1840er Jahren die Wiederverwendung von Abfall als Ausweis von Fortschritt und Innovation pries, und bei seinem Zeitgenossen Michael Faraday, der in einem vielfach wiederaufgelegten Lehrbuch zur Chemie Generationen von Studenten folgenden Satz ins Stammbuch schrieb: »When an instrument is absolutely bad, and cannot be replaced or repaired, the student must compensate […] by interposing a stop-cock between it and the retort, flask, or other vessel« (Faraday 1842: 863). Heute – zu Beginn des 21. Jahrhunderts – wird allenthalben eine Kultur der Nachhaltigkeit in der Wissenschaft gefordert, und Nachhaltigkeit bezieht sich dabei nicht nur auf die Erforschung von »Nachhaltigkeit im Anthropozän«, sondern auch auf eine ressourcenschonende Forschungskultur (Töpfer 2012). Franklin und Faraday hätten diesen Appell mit Nachdruck unterstützt. Die Norm einer ressourcenschonenden Wiederverwendung von Materialien prägte auch die Praxis des Baus und der Verwendung von Musikinstrumenten. Auch auf diesem Sektor von Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft lässt sich eine »Recycling-Mentalität« nachweisen, die von der Forschung mittlerweile als markantes Element Europas in der frühen Neuzeit herausgearbeitet worden ist (Stöger/Reith 2015: 268). Der Musikwissenschaftler Panagiotis Poulopoulos hat auf der Grundlage einer akribischen Untersuchung von europäischen Museumssammlungen analysiert, dass Musikinstrumente als besonders langlebige Luxusgüter in ihrer Lebensspanne mehrfache Metamorphosen durchlaufen konnten (Poulopoulos 2015). Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für das transformative Recycling eines Instruments ist eine aus dem 13. Jahrhundert stammende Zitter, die sich im Britischen Museum erhalten hat. Die Biografie des Objekts weist es in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts im Besitz von Königin Elisabeth I. und ihres Favoriten Robert Dudley, dem Earl of Leicester, nach, wobei es nicht nur reichlich verziert, sondern auch umgebaut wurde. Um es an den veränderten Musikgeschmack anzupassen, wurde die Zitter um 1758 in eine Geige verwandelt und im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert erneut mehrfach umgebaut (Kevin et al. 2008).

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Lauten und Gitarren, aber auch Tasteninstrumente wie das Cembalo, wurden in ihrer Lebensspanne nicht selten noch weit häufiger grundlegend verändert. Aus dem 16. Jahrhundert stammende Lauten wurden so weitgehend modifiziert, dass zwei Jahrhunderte später nur noch ihre Klangkörper den historischen Originalen entsprachen. Hals, Wirbel, Saiten und Decke waren entfernt und in andere Instrumente eingebaut, in einigen Fällen gar für den Bau von Drehorgeln verwendet worden (Barclay 2005). Im Gegenzug konnten Lauten durch das Recycling von Saiteninstrumenten in Basslauten transformiert werden. Und beim im 19. und frühen 20. Jahrhundert weitverbreiteten Fälschen von Instrumenten wurde die Wiederverwertung von Bauteilen anderer Instrumente zur gängigen Praxis. Die Verflechtung von Praxis, Norm und Kontext in der Kulturtechnik Recycling kennt viele Formen, die im spezifischen Fall des Fälschens von »Originalen« die Verletzung geltender Normen zur Voraussetzung hatte. Die Industrialisierung verwandelte die Knappheitsgesellschaften der Vor­moderne in moderne Konsumgesellschaften, die sich in Anlehnung an kulturkritische Stimmen seit den 1950er Jahren als Wegwerfgesellschaften charakterisieren lassen. Die 1950er Jahre sind es auch, die eine Zäsur von globalhistorischer, gar erdgeschichtlicher Bedeutung im Zugriff der Menschheit auf die natürlichen Ressourcen brachten. In der Phase nach dem Zweiten Weltkrieg schlugen die Staaten westlicher Prägung endgültig den Weg in die Konsumgesellschaft ein, der vor allem durch einen rasanten Anstieg des Energieverbrauchs markiert wurde. Der Umwelthistoriker Christian Pfister hat den Begriff des »1950er Syndroms« geprägt, um diesen epochalen Wendepunkt zu kennzeichnen (Pfister 1995). Doch nicht nur im Energiebereich wuchs der Verbrauch an Ressourcen exponentiell an. Ob Kunstdüngereinsatz, Tourismusentwicklung, Wasserverbrauch, Bevölkerungsanstieg, Städtewachstum oder Automobilverkehr, alle Verlaufskurven zeigen das gleiche Profil einer um die Jahrhundertmitte einsetzenden »Großen Beschleunigung« (Steffen et al. 2015). In der seit einigen Jahren heftig geführten Debatte um den Beginn des »Anthropozäns« als neues erdgeschichtliches Zeitalter, das den Mensch als erdsystemischen Faktor in das Zentrum rückt, wird daher von der Mehrheit der mit dieser Frage befassten Expertenkommission – der Anthropocene Working Group – die Mitte des 20. Jahrhunderts als Zäsur favorisiert (Zalasiewicz et al. 2014). Ob »1950er Syndrom« oder »Große Beschleunigung«, in dieser Phase wirtschaftlichen Wachstums und fallender Preise für Rohstoffe und Güter wichen in den westlichen Konsumgesellschaften tradierte Kulturen der Recyclings, die durch Sparsamkeit, Reparatur und Wiederverwendung gekennzeichnet waren, einer Mentalität des Wegwerfens. Für die Produzenten, die Konsumenten und die Kommunen gleichermaßen verlor die Norm des Schließens von Stoffströmen an Bedeutung. Wie eingangs beschrieben, bedurfte es der Umweltbewegung an der Wende

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zu den 1970er Jahren, um der Kulturtechnik des Wiederverwertens von Abfall, die nun erstmals auch begrifflich als »Recycling« firmierte, zu neuer Geltung zu verhelfen. Nun wurden vielfältige Konzepte eines Managements von Stoff kreisläufen entwickelt, die als »grüne« Technologien Antworten auf die Problemlagen geben sollten, die der Übergang zur Wegwerfgesellschaft verursacht hatte. Doch greift eine solche, auf markante Wendepunkte im gesellschaftlichen Umgang mit Ressourcen, Abfall und Recycling fokussierte Betrachtung zu kurz. Sie blendet die vielfältigen Kontinuitäten in den Praktiken, Normen und Kontexten von Recycling als Kulturtechnik aus, die Vormoderne und Moderne überspannen (Stöger/Reith 2015: 270ff.). Eine auf Kontinuitäten und Scharnierphasen gerichtete Perspektive wird vor allem die Transformationsphase der im späten 19. Jahrhundert beginnenden Hochmoderne in den Blick nehmen, als sich sowohl in Europa als auch in den USA ein Regime öffentlicher Gesundheit herausbildete. Ausgangspunkt waren die Großstädte als Brennpunkte gesellschaftlicher Probleme, die aufgrund einer unzureichenden Abfallentsorgung immer wieder von verheerenden Seuchen heimgesucht wurden. Die Choleraepidemie in Hamburg, als 1892 innerhalb weniger Wochen rund 17.000 Menschen erkrankten und die Hälfte der Infizierten starb, zeigt, unter welchem massiven Handlungsdruck die kommunalen Akteure standen (Evans 1990). Noch im selben Jahr gründete die Hansestadt ein Institut für Hygiene und Umwelt, um die Ursachen der Epidemie zu erforschen, und baute die erste Müllverbrennungsanlage in Deutschland, die bereits 1894 den Betrieb aufnahm. Im Unterschied zu Hamburg blieb München von der Epidemie verschont. In der bayerischen Metropole hatte der Mediziner Max von Pettenkofer aus den Choleraepidemien der Jahre 1836/37 und 1853/54 den Schluss gezogen, die Qualität des Trinkwassers durch eine zentrale Abwasserkanalisation zu verbessern, um die Ursache der Seuche zu beseitigen. Als die sich in dieser Phase etablierenden kommunalen Leistungsverwaltungen ihre zeitgenössisch »Assanierung« genannten Anstrengungen zur Reform der öffentlichen Gesundheit in Angriff nahmen, geriet insbesondere auch die Abfallentsorgung in das Visier. Mit der Assanierung der Städte reagierte der Interventionsstaat auf die durch die Urbanisierung verursachten Probleme und schuf verhältnismäßig effektiv funktionierende Systeme der kommunalen Abwasser- und Müllentsorgung. Die Folgen dieser Durchstaatlichung und Zentralisierung der Abfallentsorgung für die historisch gewachsenen Muster der Wiederverwertung von Weggeworfenem waren gravierend. Denn als die »sanitary city« (Melosi 1999) zum neuen Leitbild der kommunalen Entscheidungsträger wurde, wandelten sich die Formen und Strukturen des Recyclings in US-amerikanischen Städten ebenso wie in europäischen Metropolen (Melosi 2005; Barles 2011; Schott 2014).

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Frankfurt a.M. ist ein instruktives Beispiel für die Komplexität dieses Wandels, bei dem sich Innovation und Tradition vermengten. Bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein war die Entsorgung des Hausmülls privat organisiert. Als die Stadt dieses neue Feld kommunaler Leistungsverwaltung in den 1860er Jahren an sich zog, vergab sie die Abfuhr des Mülls an eine Vereinigung von Bauern und Fuhrleuten, die für das Recht der Nutzung von Abfall als Dünger Gebühren zu entrichten hatten. Nur wenige Jahre später galt das Deponieren von städtischem Müll außerhalb der Stadt als untragbar, und die Bauern hatten das Interesse daran verloren, Müll als Felddünger zu verwenden. Das Verhältnis von Angebot und Nachfrage verdrehte sich in sein Gegenteil: Nun musste die Kommune für den Abtransport ihres Müll bezahlen (Bauer 1999). Und doch wäre es verfehlt, aus der Einführung eines zentralisierten Systems der Müllabfuhr auf ein völliges Verschwinden einer Kultur des Recyclings aus dem Stadtbild zu schließen. Wie in den meisten europäischen Städten hielten sich auch in Frankfurt noch bis weit in das 20. Jahrhundert hinein Traditionen des Sammelns von weggeworfenen »Wert«-Stoffen, denen ein handelbarer Marktwert zugemessen wurde. Verfehlt wäre auch der Schluss, die Durchsetzung der industriellen Konsumgesellschaft habe spätestens im 20. Jahrhundert Kulturen dezentraler Wiederinwertsetzung von Weggeworfenem die Grundlage entzogen. Das krisengeschüttelte Europa hält im »Zeitalter der Extreme« (Eric Hobsbawm) vielfältige Beispiele bereit, in denen aus Not und Mangel geboren tradierte Kulturen des Recyclings wiederbelebt wurden. Diese sollen hier anhand zweier Geschichten, der Mangel- und Ersatzstoffökonomie im Ersten und Zweiten Weltkrieg sowie der Kommandowirtschaft Osteuropas im Kalten Krieg, kurz angerissen werden. Im Ersten Weltkrieg entwickelten sich in den vom Krieg betroffenen europäischen Staaten neue Formen der Wiederverwertung von Abfall. Im Deutschen Kaiserreich, das durch die alliierten Blockaden von den Weltmärkten abgeschnitten war, wurde die staatliche Kontingentierung von Rohstoffen und die Nutzung von Abfall als Wertstoff vor allem in der Zweiten Kriegshälfte zu einem Regime der Zwangsbewirtschaftung ausgebaut. Noch bevor staatliche Akteure das Kriegswirtschaftspotential von Abfall realisierten, bildeten sich aus der Gesellschaft heraus lokale Initiativen der Wiederverwendung von Abfall. Sie wurden von Hausfrauen initiiert, die in der gesellschaftlichen Zuweisung von Geschlechterrollen für den Hausmüll verantwortlich waren. Der bereits kurz nach Kriegsbeginn gegründete Nationale Frauendienst (NFD) organisierte ein breitgefächertes Recycling von weggeworfenen Nahrungsmitteln, um die im Verlauf des Krieges immer prekärer werdende Lebensmittelversorgung zu verbessern (Weber 2013). Zwei Jahrzehnte später bereitete sich Deutschland auf den nächsten Krieg vor, und das NS-Regime zog aus den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs den

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Schluss, im Sinn einer konsequenten Autarkiepolitik die Abfallverwertung auf allen Ebenen staatlich zu lenken. Mit dem Vierjahresplan von 1936 setzte eine umfassende Mobilisierung von Mensch und Material für den »Totalen Krieg« ein, die das Prinzip des Recyclings in Industrie und Haushalt sowie Arbeit und Freizeit zur nationalen Pflicht erhob (Huchting 1981; Köstering 1997; Reagin 2001). Auch die besetzten Staaten wurden in das Abfallwirtschaftsprogramm des NS-Regimes einbezogen. Europa erlitt unter der nationalsozialistischen Diktatur eine Zwangskultur des Recyclings, und diese Erfahrung wirkte auch in der Nachkriegszeit fort (Oldenziel/Hård 2013: 251ff.). Mit der vollen Entfaltung der Konsumgesellschaft veränderten sich im Westen im Kontext des Kalten Krieges die Bewertung von Weggeworfenem und Gebrauchtem und damit die Praktiken des Recyclings grundlegend. Die Entfaltung der Wegwerfgesellschaft war nicht zuletzt eine Reaktion auf die perhorreszierte Erfahrung der Mangel- und Ersatzstoffwirtschaft im Zweiten Weltkrieg. Sparen, Reparieren und Wiederverwerten wurden als erzwungene Elemente einer totalitären Ideologie wahrgenommen, die es in einer freiheitlichen Gesellschaft abzustreifen galt. Das Sammeln von Abfall verschwand weitestgehend aus dem Horizont der Wirtschaftswunderjahre. Die großtechnischen Systeme der Entsorgung von Abfall, die nun allenthalben in Westeuropa aufgebaut wurden, waren nicht von dem Ziel getragen, Wertstoffe einer Wiederverwendung zuzuführen (Stokes/Köster/Sambrock 2013; Köster 2015). Erst als in den frühen 1970er Jahren im Kontext der Umweltbewegung die »grüne« Praxisform der Kulturtechnik Recycling »erfunden« wurde, sollten sich einige der frühen Aktivisten an die Erfahrungen der Mangelwirtschaft im Zweiten Weltkrieg erinnern und diese unter ökologischen Vorzeichen neu bewerten. Die von den niederländischen Hausfrauen Wilhelmina Kuiper-Verkuyl und Babs Riemens-Jagerman gegründete Recycling-Bewegung, die 1972 in der holländischen Kleinstadt Zeist vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen mit der nationalsozialistischen Spar- und Ersatzstoffpolitik die ersten Container zum Sammeln von Altglas in Westeuropa aufstellte, repräsentiert diese gebrochene Kontinuität zwischen dem Zweitem Weltkrieg und dem Zeitalter der Ökologie (Oldenziel/Veenis 2013). Zeitgleich etablierten sich jenseits des Eisernen Vorhangs staatssozialistische Planwirtschaften, in denen sich divergierende Kulturen des Recyclings ausprägten. Unbestritten ist, dass die ökonomische Lage des Ostblocks, der Mangel an Ressourcen und Infrastrukturen sowie latente Versorgungsengpässe vielfach eine Wiederverwertung von Weggeworfenem erzwangen. Doch ökonomische Notwendigkeiten reichen nicht hin, um die Entfaltung von Reparatur- und Instandsetzungsgesellschaften in Osteuropa zu verstehen. Die Kommandowirtschaften des Ostblocks setzten sich sehr gezielt gegenüber den Konsumgesellschaften des Westens ab und entwickelten Formen des Umgangs mit materiellen Gütern, die an tradierte Formen einer hohen Wert-

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schätzung von materiellen Objekten anknüpften und diese in sozialistischer Umdeutung als »Genossen« des Menschen verstanden. Die Soziologin Zsuzsa Gille hat am Beispiel Ungarns den analytischen Begriff des »Abfallregimes« (»waste regime«) geprägt, um die je spezifische Verknüpfung von Praxis, Norm und Kontext in den Staaten Osteuropas zu untersuchen (Gille 2007). So sehr die Hegemonialmacht der Sowjetunion auf ein konvergentes, sozialistisches Abfallregime drängte, so wenig vermochte sie die Herausbildung national divergierender Kulturen des Recyclings in ihrem Einflussbereich zu verhindern. Die auf den Normen der Pflege, Reparatur und Wartung auf bauende Automobilkultur in der DDR ist ein instruktives Beispiel hierfür. Das »Auto für den Kameraden« war in den Ostblockstaaten bekanntlich ein besonders knappes Gut, zu dem die Konsumenten nur unter erschwerten, ideologisch überformten Bedingungen Zugang hatten (Siegelbaum 2008). Wie der Technikhistoriker Kurt Möser herausgearbeitet hat, entstand in der DDR eine eigenständige Praxisform von Recyclingkultur, die jenseits der Hochschätzung des Reparierens als »sozialistische Arbeit« die – bezeichnenderweise dominant männlichen – Nutzer in »mono- oder polygamen Zweierbeziehungen« mit »ihren« Automobilen verband (Möser 2011, 2012). Eine intensive Pflege und Wartung bauten in dieser Beziehung dem Verlust des Partners vor, und dank eines breiten Wissens um die Eigenschaften des Partners konnte man sich im Bedarfsfall durch Reparieren helfen. Nichts wurde weggeworfen; Ersatzteile wurden gehortet, um in einer Ökonomie des Tausches auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Ohne sich in den Fallstricken einer Ostalgie verfangen zu wollen, lässt sich nach den Kontinuitäten zwischen den Reparaturkulturen sozialistischer Staaten und der Repair-Bewegung fragen, die seit einigen Jahren den Globus zu überspannen beginnt. Die von der Zeitschrift »Make« 2006 in Kalifornien ins Leben gerufene Bewegung Maker Faire und die von der niederländischen Journalistin Martine Postma 2009 gegründete Stiftung Repair Café stehen für eine neue, ebenso vielfältige wie sich dynamisch verbreitende »Kultur der Reparatur« (Heckl 2013). Gewiss, der Kontext ist ein anderer: Nicht Kommandowirtschaft und Mangelverwaltung, sondern ökologische Wertmaßstäbe prägen die neuen Praktiken Pflege, Reparatur, Wiederverwendung und Recycling. Und doch sind die Kontinuitäten unübersehbar, geht es doch auch heute noch um die gleichsam anthropologisch fundierte Wertschätzung der gebrauchten Dinge, um die Bindung des Menschen an die von ihm konstruierte materielle Kultur.

3. U pcycling als vollende tes R ecycling ? E in A usblick Die ultimative Vision des Recyclings ist »eine wunderbare vielfältige, sichere, gesunde und gerechte Welt mit sauberer Luft, sauberem Wasser, sauberem

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Boden und sauberer Energie – eine Welt, derer wir uns in vielfacher Weise und in grenzenloser Harmonie erfreuen können« (Braungart/McDonough 2013: 9). Sie wird erreicht durch das Upcycling, bei dem Abfall nicht nur – wie beim Recycling – für die Schaffung neuer Produkte verwendet wird, wobei sich die Qualität der Sekundärrohstoffe in der Verwertungskette sukzessive verschlechtert; Upcycling steigert den Wert des Weggeworfenen und ermöglicht eine Kultur der »intelligenten Verschwendung«, bei der auf der Basis des Konzepts des kreativ-intelligenten Produzierens (»Cradle to Cradle«) eine durch Gesundheit, Überfluss, Vermehrung und Freude gekennzeichnete Zukunft geschaffen werden kann (Braungart/McDonough 2002, 2013: 25). Was Michael Braungart und William McDonough mit dem Cradle-to-Cradle-Konzept und in dessen Weiterentwicklung als Upcycling-Prinzip versprechen, ist die Möglichkeit einer steten Verbesserung der Produkte und Materialien statt ihres Absinkens in immer weniger wertvolle Nutzungskaskaden. Denn das mit geschlossenen Kreisläufen verbundene Versprechen, es gebe keinen Abfall mehr, ist in der Praxis nicht einzulösen. In geschichtsphilosophischer Perspektive lässt sich ergänzen, dass Geschichte und Zukunft weder linearen noch zyklischen Mustern folgen, sondern sich stets offen und nichtlinear verhalten. Die Vorstellung einer Welt, die sich in geschlossenen Kreisläufen entwickelt, ist letztlich ahistorisch. Braungart und McDonough unterstreichen zudem die Bedeutung ökonomischer Faktoren für eine nachhaltige Kultur des Umgangs mit Ressourcen. Der Umwelthistoriker Donald Worster hat jüngst noch einmal darauf hingewiesen, dass alle Bemühungen um eine Kultur der Nachhaltigkeit letztlich zum Scheitern verurteilt sind, wenn sie dem Glauben an wirtschaftliches Wachstum als Fundament von Wirtschaft und Gesellschaft verhaftet bleiben – wie viele Flaschen wir auch immer recyclen und wieviel Fahrrad wir auch immer fahren mögen (Worster 2015). Allerdings sind die potentiellen ökonomischen Implikationen und Restriktionen einer solch umfassenden Transformation, wie es die konsequente Umsetzung des Upcycling-Prinzips bedeuten würde, noch unzureichend geklärt. Auch stellt sich in grundlegender Weise die Frage, ob und wenn ja, in welcher Form sich in liberal-demokratischen Gesellschaften angemessen über Lebensformen debattieren und verhandeln lässt (Reller/Holdinghausen 2011; Grunwald 2012). Und weitere Fragen bleiben offen, vor allem die Frage nach der Verbindung des Upcycling-Konzepts mit dem normativen Ideal der Umweltgerechtigkeit: Denn in der weltweiten Ausbreitung von Wohlstand und konsumorientierten Lebensstilen wachsen die Müllmengen schneller als die Kapazitäten von Re- und Upcycling. In der Globalisierung der Stoffströme wird Abfall eher verschoben als neuen Nutzungswegen zugeführt. In der globalen Abfallökonomie wandert insbesondere der Giftmüll vom Globalen Norden in den Globalen Süden (Clapp 2010; Brownell 2011). Die dort entstehenden »ghost acres« sind toxische Infernos, in denen Recycling unter unmenschlichen Bedin-

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gungen betrieben wird (Müller 2015). Ungeklärt ist auch, wie sich das normative Ideal des Upcyclings an historisch gewachsene lokale Recyclingkulturen im Globalen Süden wie etwa die Sozialtechniken der kreativen Wiederverwertung von Müll im Slum anpassen lassen. Jenseits solch offener Fragen ist es jedoch allemal lohnenswert, kreativ über Formen und Wege der Realisierbarkeit einer Welt nachzudenken, die saubere Luft, sauberes Wasser, sauberen Boden und saubere Energie sowie Harmonie plus globale Umweltgerechtigkeit gewährleisten könnte.

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Zeiten

Bioarchäologie des Abfalls Ein Schlüssel zur Alltagsgeschichtsforschung Gisela Grupe

»Abfall«, »Müll«, »garbage«, oder »waste« sind Begriffe, die in sehr unterschiedlichen Kontexten auftauchen. Mehrheitlich werden Dinge so bezeichnet, die nicht mehr benötigt werden, die funktionslos geworden sind, nicht wiederverwertet werden können oder sogar stören. Seit jeher hatten Menschen das Problem mit dem Abfall – nach Rathje und Murphy (2001: 33) gibt es vier basale Methoden, diesen wieder los zu werden: durch Deponieren, Verbrennen, Wiederverwerten und Minimieren seines Volumens. Unter die Methode des Verbrennens bzw. Deponierens fällt im weiteren Sinne auch das Verlagerungsprinzip nach dem Motto »Aus den Augen, aus dem Sinn«, etwa in Flüsse. Emissionsstarke Betriebe und solche, die viel Abfall erzeugten, mussten schon im europäischen Mittelalter flussabwärts an der Peripherie der Siedlung angesiedelt werden. Nicht nur die Wasserverschmutzung, sondern auch die Geruchsbelästigung durch Gerbereibetriebe war so hoch, dass die Gerbergruben z.B. der Stadt Göttingen außerhalb der Stadtbefestigung angelegt werden mussten. Dabei wurde im Übrigen das Stadtgebiet vom 12. bis zum 17. Jahrhundert mit Abfall aufgehöht, um den Niederungsbereich hochwasserfrei zu halten. Dies bezeugen bis zu vier Meter mächtige Stratigraphien aus Abfall und aufgebrachten Erdschichten (Schütte 1989) – eine Art und Weise, mit Abfall konstruktiv umzugehen, die noch immer praktiziert wird. Bis heute hält sich die Vorstellung vom »finsteren Mittealter« gerade auch in Bezug auf hygienische Zustände, die aus moderner Sicht unhaltbar wären. Tatsächlich aber war die Entsorgung von Schmutzwasser, Fäkalien und anderen Abfällen durchaus insoweit geregelt, als diesbezügliche Vorschriften auf dem Verursacherprinzip beruhten und die Beseitigung ohne Belästigung der Nachbarn überwiegend auf dem eigenen Privatgrund zu erfolgen hatte. Als vorindustrielle Gesellschaft, die aufgrund von Missernten, Unwettern etc. allzu oft Opfer der Natur war, bestand allerdings keine Schutzverpflichtung gegenüber der Natur um ihrer selbst willen (Dirlmeier 1986).

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Was nicht vernichtet wird, bleibt potentiell über lange Zeiträume sichtbar, und zwar so lange, bis der Abfall durch die Dekomposition in seine Bestandteile zerlegt wird. Bei geeigneten Umgebungsbedingungen können auch organische Abfälle, wie z.B. Schlachtabfälle, aber auch Pflanzen und Textilien, mehrere hundert oder sogar tausend Jahre überdauern. Wie langsam die natürliche Dekomposition voranschreitet, durften Rathje und Murphy (2001) im Verlauf ihres »Garbage Projektes« erfahren, in dessen Rahmen moderne Mülldeponien in einer Weise analysiert wurden, die einer archäologischen Ausgrabung analog war. Archäologische Ausgrabungen liefern häufig »Abfall« zu Tage, gewissermaßen eben das, was Menschen früherer Epochen in einer Weise entsorgt hatten, dass es im Prinzip erhalten blieb, noch heute sichtbar ist und sehr erfolgreich als empirische Quelle zur Rekonstruktion der Alltagsgeschichte historischer und prähistorischer Bevölkerungen herangezogen werden kann. In genau diesem empirischen Sinne soll dieser Beitrag einen Streifzug durch die Bioarchäologie des Abfalls bieten. Der Abfallbegriff darf nicht mit dem »waste concept« der Archäologie verwechselt werden (Dunnell 1999), das »waste« als Energiereservoir für Aktivitäten versteht, welches über den reinen Lebenserhalt und die Reproduktionsenergie hinaus für eine Bevölkerung zur Verfügung steht. »Waste« kann in Energieäquivalente umgerechnet werden, und »waster«-Populationen können dieses Reservoir in Notzeiten wieder für die Subsistenz nutzen, statt z.B. in Prachtbauten zu investieren (Dunnell/ Greenlee 1999; Aranyosi 1999). Für die längste Zeit in der Geschichte konnten Menschen ausschließlich die Solarenergie nutzen; nur diese lässt letztlich Pflanzen und Tiere wachsen und den Wind wehen, der die Mühle antreibt. Vor der Industrialisierung war Holz in Europa nahezu der ausschließliche Baustoff und Energieträger, ein nachwachsender Rohstoff zwar, der aber lange Zeit für seine Regeneration benötigt. Vorindustrielle Populationen waren daher seit jeher zu einem guten Energiemanagement gezwungen, sodass selbst der dingliche, nach der Ausgrabung wieder sichtbare Abfall mittelbar Auskunft zu den unterschiedlichen Formen effizienten (manchmal auch ineffizienten) Energiemanagements gibt. Die folgenden Überlegungen setzen den Schwerpunkt auf bioarchäologische Funde. Diese können materieller Natur sein, etwa konservierte Tier- und Pflanzenreste in Abfallgruben, Komposthaufen, Kloaken oder auf Schlachtund Zerlegungsplätzen. Schwermetalle und Aerosole akkumulieren in Böden, geraten in die Nahrungskette und damit auch in die körperlichen Relikte (Skelettfunde) von Menschen und Tieren, welche in kontaminierten Umwelten lebten. Frühe Umweltverschmutzung kann durch geeignete Spurenelementund Isotopenanalysen aus den archäologischen Skelettfunden direkt abgelesen werden. Für Archäologen und Anthropologen seit jeher alles andere als banal und auch für die Moderne durch das bereits genannte »Garbage Projekt« nachge-

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wiesen, ist die Archäologie von Abfallgruben ausgesprochen aufschlussreich in Bezug auf zahlreiche Fragen: Wer hatte sie angelegt (einzelne Haushalte, ganze Kommunen/Populationen)? Auf welche Aktivitäten lässt der Abfall Rückschlüsse zu (Hausmüll, gewerbliche Abfälle mit daran gekoppelten technikgeschichtlich relevanten Erkenntnissen)? Was wurde schlussendlich deponiert? Wurden die Abfallgruben kontinuierlich oder episodisch gefüllt? Seit prähistorischen Zeiten sind Abfallgruben somit der Schlüssel zu früher Ökonomie (Pollock 1990). Wahre Fundgruben sind die zeitlich allerdings viel jüngeren, bereits genannten Kloaken/Latrinenverfüllungen, die Inhalte privater oder kommunaler Entsorgungsgruben. In mittelalterlichen und neuzeitlichen Stadtkernen sind sie regelmäßig vorhanden, oft auch mit speziellen Institutionen, z.B. Klöstern, assoziiert. Damit stellen sie räumlich/zeitlich eng begrenzte Befunde von hohem Aussagewert dar. Nahezu jeder Abfall wanderte in diese Kloaken, nicht nur Fäkalien, sondern auch Hausmüll. Nicht selten wurden in ihnen auch Totgeburten und Kadaver entsorgt (Schmölcke 2009). Der in der Regel alkalische pH-Wert dieser Verfüllungen bedingt eine ausgezeichnete Konservierung auch des organischen Abfalles, wie Küchen- und Speisereste, die Auskunft über saisonal verfügbare Lebensmittel geben. Regelmäßig finden sich bei geeigneter Untersuchungsmethodik Dauerstadien von Endoparasiten (Untersuchungsgut der Paläoparasitologie; Aspöck 2006), zumeist die Eier von Spul- und Peitschenwürmern (Ascaris sp. bzw. Trichuris sp.), welche bis heute zu den häufigsten Darmparasiten des Menschen zählen. Die Wurmeier treten in beachtlicher Häufigkeit auf, Größenordnungen von mehreren Tausend Peitschenwurmeiern je Gramm Trockeneinwaage sind in hoch- und spätmittelalterlichen Latrinenverfüllungen nicht selten (Staskiewicz 2012). Rückschlüsse auf die reale individuelle Parasitenbelastung sind in der Regel jedoch nicht möglich, da die Nutzerzahl der Kloaken zumeist unbekannt ist. Zudem kann ein einziges Peitschenwurm-Weibchen mehrere tausend Eier am Tag produzieren, die mit dem Kot des Wirtes abgesetzte Eizahl ist aber zufällig. Moderne Parasitologen sprechen erst ab einer Anzahl von 75.000 Eiern pro Gramm Probe von einem »schweren Befall« mit starken gesundheitlichen Einschränkungen (Wilson et al. 1999). Systematische Untersuchungen von Latrinen- und Kloakenverfüllungen auf Endoparasiten (Herrmann 1982) lassen aber den Schluss zu, dass Eingeweideparasiten zu den Dauerbegleitern des historischen und prähistorischen Menschen zählten. Dauerstadien von Bandwürmern (Schweine- bzw. Rinderbandwurm) sind sehr viel seltener, bei sorgfältiger Untersuchung trotz ihrer geringen Größe aber zuverlässig zu detektieren. Ihre relative Seltenheit dürfte auf die Effizienz früher Lebensmittelhygiene zurückzuführen sein. Eier des Fischbandwurms (Diphyllobothrium sp.) sind ein Hinweis auf ungenügend gegarten Fisch und wie die oben angeführten Parasiten im Einzelfall bereits seit der Jungsteinzeit mit dem prähistorischen Menschen assoziiert nachge-

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wiesen (Le Bailly et al. 2005). Die städtischen Abortgruben mussten von Zeit zu Zeit geräumt werden, dies geschah entweder durch Henker (z.B. in Augsburg) oder Totengräber (z.B. in Basel). In anderen mittelalterlichen Städten gab es dafür einen eigenen Berufsstand (z.B. Pappenheimer in Nürnberg, Goldgrübler in München, heymelichkeit-fegere in Frankfurt; Dirlmeier 1986). Archäologischen Befunden zufolge reichten sowohl Abfallgruben als auch Latrinen nicht selten bis auf das Grundwasserniveau, sodass Grund- und Oberflächenwasser kontaminiert wurden. Laut Dirlmeier (1986) war es also gerade das bewusste Einsetzen von Methoden zur Abfallbeseitigung unter Vermeidung der Beeinträchtigung des Wohnumfeldes, was die Infektionskette Mensch – Abfallentsorgung – Wasser – Mensch bis in das 19. Jahrhundert hinein aufrecht erhielt. Seit Menschen Ackerbau betreiben, ist der Erhalt der Bodenfruchtbarkeit von herausragender Bedeutung. Mit kontinuierlichem Anbau sinkt der Nährstoffgehalt der Böden insbesondere an Stickstoff, Phosphor und Kalium, sodass Dünger zugeführt werden muss – ein Dauerproblem, welches seit der Industrialisierung mit Hilfe der chemischen Industrie gelöst werden soll. Das seit der Jungsteinzeit praktizierte Prinzip der Brandrodung und regelmäßigen örtlichen Verlagerung der Anbauflächen war sehr effizient, allerdings nur bei einer geringen Besiedlungsdichte praktikabel. Bei ortsfesten Siedlungen half die Nährstoffzufuhr durch Düngen, wobei Dünger nicht in unbegrenzter Menge zur Verfügung stand. Geeignet sind z.B. Herdasche, Küchenabfälle und Stallmist, wobei letzter in den gemäßigten Breiten im Wesentlichen nur in den Wintermonaten, in denen das Vieh aufgestallt war, in ausreichender Menge gesammelt werden konnte. Auch die Nutzung von Herdasche und Küchenabfällen als Dünger ist bereits seit der Jungsteinzeit bekannt, wobei die Praxis des Düngens in archäologischen Strata durch Phosphat- und Pollenanalysen der Böden erkennbar ist. Schon in dieser frühen Zeit wurden große Komposthaufen gezielt angelegt und ihrerseits wiederum in kultivierbare Flächen transformiert. Aufgrund des ganzjährigen Zugangs zu marinen Ressourcen waren die Menschen in vielen Küstenregionen bereits vor der Erfindung des Ackerbaus halb oder ganz sesshaft mit der Folge, dass bereits im Mesolithikum Abfallhaufen erstaunlichen Ausmaßes akkumulieren konnten. Sehr spannende Befunde aus Großbritannien zeigen, dass neolithische Ackerbauern sich an ehemaligen mesolithischen Siedlungsplätzen erneut niederließen, wobei jedoch die marinen Ressourcen zugunsten der terrestrischen aus Ackerbau und Viehzucht weitestgehend aufgegeben wurden (Schulting/Richards 2002). Auch für die frühen Ackerbauern war die reiche Vegetation über den ehemaligen mesolithischen Abfällen leicht erkennbar, ohne sie freilich ursächlich begründen zu können. Diese vor vielen Generationen durch Abfall erhöhte Bodenfruchtbarkeit dürfte der Schlüssel für die Wahl des Ortes für die ersten Ackerfluren gewesen sein. Die Tatsache, dass die frühen Ackerbauern sogar ihre Toten in diesen »Mesolithic middens« bestattet haben, mag auf die geis-

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tige Verknüpfung von Fertilität, Tod und Regeneration hinweisen (Guttmann 2005). Auf eher marginalen Böden im Binnenland gab es solche Gunstregionen jedoch nicht, und das Abholzen von Wäldern seit prähistorischen Zeiten, gekoppelt mit landwirtschaftlicher Übernutzung bei steigender Bevölkerungsdichte in historischen Zeiten führte zur dauerhaften Verheidung großer Flächen. Heutige Naturschutzgebiete wie z.B. die Lüneburger Heide sind zweifellos ästhetisch und von großem Erholungswert, aber in Bezug auf ihre Genese rein anthropogen und Zeichen ehemaligen Scheiterns (Küster 2013). Wenngleich Kompost aufgrund seiner Naturnähe und Verbesserung der Bodenfruchtbarkeit unter allen Abfallformen vielleicht noch die am meisten geschätzte ist, ist die von ihm ausgehende Geruchsbelästigung nicht zu leugnen. Seit tausenden von Jahren akkumulierten Menschen an allen Küsten weltweit die sogenannten »shell middens« (auch »kitchen middens« genannt), gewaltige Anhäufungen überwiegend von Muschelschalen, die mehrere Meter mächtig und von imposanter Länge sein können; die weltgrößten middens haben ein Volumen von mehreren zehntausend Kubikmetern (Ceci 1984; für Europa Milner et al. 2007). Per definitionem sind »shell middens« anthropogene Akkumulationen ausgewählter Muschelspezies (»cultural deposit of which the principal constituent is shell«, Waselkov 1987), welche daneben regelmäßig kulturelle Spuren wie Artefakte oder verbrannte Knochen enthalten und auch mit anderen Anzeigern als solche identifiziert und von natürlichen Muschelanhäufungen im Gezeitenbereich differenziert werden können (Rosendahl et al. 2007; Godino et al. 2011). Dabei kann die tatsächliche Häufigkeit dieser speziellen archäologischen Abfallansammlungen bestenfalls geschätzt werden, da viele Küstengebiete, welche zwischen etwa 120.000 und 15.000 Jahren vor heute besiedelt gewesen waren, nach der letzten Vereisung überflutet wurden. Zunächst bezeugen die shell middens die regelmäßige Aneignung mariner Ressourcen einschließlich der Beherrschung der Küstenseefahrt seit ca. 150.000 Jahren und damit deren Rolle in der demographischen und geographischen Expansion des prähistorischen Menschen (Erlandson 2001). Sicher waren nicht alle dieser voluminösen Abfallansammlungen auch mit dem Wohnplatz der Menschen assoziiert, da sich aus einer einfachen Kosten/Nutzen-Bilanz ergibt, welcher Fang (Muscheltyp) vor Ort verarbeitet und welcher als Ganzes in die Siedlung transportiert wird (Bird et al. 2002). Evidenz für den Abfällen unmittelbar benachbarte Siedlungsspuren sind aber häufig genug, um den Schluss zuzulassen, dass der davon ausgehende Geruch offenbar nicht negativ besetzt war – wohl wiederum aufgrund des unmittelbaren Zusammenhangs mit der gleichermaßen lebens- als auch fruchtbarkeitsspendenden Funktion des Abfalls. Bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, also bis in die jüngste Zeit, wurden – sehr zum Leidwesen der empirischen Geschichtswissenschaften – archäologische shell middens recyclet und zwar u.a. als Dünger (nicht nur für Ackerfluren, sondern auch für Golfrasen und Tennisplätze), für den Haus- und

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Straßenbau (für Fundamente, Parkplätze, Bürgersteige, aber auch Friedhöfe und Grabsteine) und für die Industrie (Kalk). Der kommerzielle Wert dieses prähistorischen Abfalls lag in seiner Chemie (Kalziumkarbonat verbessert die Bodenfruchtbarkeit und hebt den pH-Wert), seiner Textur (kompaktierbar mit guter Drainagequalität) und natürlich seiner Menge, die kostengünstig abgebaut werden konnte. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist die Abfallform der shell middens weltweit diejenige, die am meisten zur Schaffung neuer ökologischer und ökonomischer Umwelten für die Folgekulturen beigetragen hat (Ceci 1984). Tierknochenfunde aus archäologischen Grabungen sind ungeheuer zahlreich und stellen das Substrat für eine eigenständige Forschungsdisziplin – die Archäozoologie – dar. Zumeist handelt es sich um Schlachtabfälle, die entweder in Entsorgungsgruben oder -schächten deponiert wurden oder auf eigenen Schlacht- und Zerlegungsplätzen akkumulierten. Mehrheitlich spiegeln sie naturgemäß nur einen Ausschnitt der damaligen Biodiversität wider, da sie anthropogene Ensembles sind. Schlachtplätze für Großtiere werden weltweit gefunden, können sehr alt sein und detaillierte Aufschlüsse bezüglich des Jagd-, Zerlegungs- und Konsumverhaltens in der Vorzeit liefern. Ein Beispiel dafür ist der mehr als eine Million Jahre alte Zerlegungsplatz für eine heute ausgestorbene Elefantenart in Dschibuti. Neben den fossilisierten Resten des zerlegten Tieres traten auch Steinwerkzeuge zu Tage, die offensichtlich gezielt für das Enthäuten, Zerlegen des Fleisches und Abschaben der Knochen hergestellt worden waren (Berthelet 2001). Über diesen ernährungs- und technikgeschichtlichen Aspekt hinaus werden auch wertvolle Kenntnisse zur Paläobiodiversität erlangt (z.B. der mittelpleistozäne Schlachtplatz eines Elefanten der Spezies Palaeoloxodon antiquus, eines ausgestorbenen Elefanten mit geraden Stoßzähnen in England; Wenban-Smith et al. 2006). Archäozoologische Ensembles können sehr vielfältig sein und nicht nur Knochen und Zähne, sondern auch Geweih, Schnecken- und Muschelschalen enthalten. Vor allem größere Säugetiere lieferten den Menschen nicht nur Fleisch, sondern auch Rohstoffe wie Sehnen und Leder. Gebrauchsspuren an Knochenfunden belegen die Nutzung dieser »Abfälle«: Schulterblätter von Rindern oder Pferden eigneten sich als Schaufel. Die Mittelfußknochen dienten als »Schlittknochen« beim Eislaufen analog der heutigen Schlittschuhe. Aus Geweih ließen sich Spielwürfel fertigen, aus Zähnen Schmuckstücke etc. Zumeist finden sich im Zusammenhang mit prähistorischen und historischen Siedlungen unseres Kulturkreises in Abhängigkeit von der Zeitstellung die Überreste der Haustiere Schaf, Ziege, Rind, Schwein, Pferd, Hund sowie Hausgeflügel, ferner die Reste der Wildtierarten Rothirsch, Wildschwein, Braunbär, Wolf, Reh, Rotfuchs, Biber, Feldhase und Wildgeflügel. Fischreste sind vergleichsweise selten, was allerdings überwiegend ein Grabungsartefakt sein dürfte, da die kleinen Gräten beim händischen Aufsammeln oft übersehen werden (Becker/

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Grupe 2012). An küstennahen Standorten dominieren naturgemäß die marinen Ressourcen einschließlich der Meeressäuger. Die Aussagen dieser eigentlich profanen Abfälle sind vielfältig und gehen weit über den vordergründigen Aspekt des Nahrungsverhaltens hinaus. Zunächst sind sie die einzige empirische Quelle für die Rekonstruktion des Domestikationsprozesses von Tieren. »Domestikation« bedeutet weit mehr als das reine Zähmen von Wildtieren, sondern schließt die reproduktive Isolation von den wildlebenden Verwandten dieser Tiere explizit mit ein, sodass durch gezieltes Kreuzen bestimmte Eigenschaften der Haustiere, welche für den Menschen erwünscht und nützlich sind, herausgebildet wurden. Die wenigsten Wildtiere lassen sich überhaupt domestizieren, da das Verhalten der Tiere eine große Nähe mit den Menschen überhaupt erst zulassen muss. Obgleich der Rothirsch aufgrund seines Fleisches und als Rohstofflieferant fast in jedem archäozoologischen Fundgut auftritt, wurde er nie domestiziert – sein spezifisches Brunft- und Revierverhalten ließ das nicht zu (von den Driesch/Peters 2003). Übrigens sind nicht alle Nutztiere auch domestizierte Tiere. Manche sind lediglich gezähmt, wie z.B. der indische Elefant (Arbeitstier), der Gepard (Jagdgehilfe), der Kormoran (Fischfang) und die Beizvögel (Benecke 1994). Schon das Schlachtalter von domestizierten Tieren lässt Rückschlüsse auf deren Nutzung zu: Finden sich beispielsweise unter den Schafknochen viele Lämmer und jüngere Tiere, dürfte die Schafhaltung der Fleischproduktion gedient haben. Finden sich dagegen viele ältere Tiere, stand wohl die Gewinnung der Wolle im Vordergrund. Das älteste Haustier des Menschen ist zweifellos der Hund. Genetische Untersuchungen schätzen zum Teil ein sehr hohes Domestikationsalter von über 130.000 Jahren (Vilà et al. 1997). Allerdings sind diese – auf der molekularen Uhr beruhenden – Datierungen nicht unumstritten. Die frühe enge Beziehung von Menschen und Caniden belegt die berühmt gewordene Bestattung einer Frau aus »Ain Mallaha« in Israel (ca. 10.000 v.  Chr.), deren Hand auf dem Körper eines etwa fünf Monate alten Welpen ruht (Davis/Valla 1978). Die neolithische Transition – der Übergang von der aneignenden zur produzierenden Lebensweise – mit Ackerbau und Viehzucht bedeutete einen Meilenstein in der Entwicklung des anatomisch modernen Menschen. Diese hat sich auf den Kontinenten mehrfach unabhängig als de novo Innovation vollzogen, das älteste Zentrum liegt aber bekanntlich im Fruchtbaren Halbmond. In dieser Region waren auch die domestizierbaren Wildschafe (Mufflon) und Wildziegen (Bezoarziege) heimisch. Die zweitältesten Haustiere des Menschen sind also das Schaf (seit ca. 8.500 v.  Chr.), die Ziege und das Schwein (8.500 bis 8.000 v.  Chr.), gefolgt vom Rind (um 8.000 v.  Chr.; Peters et al. 1999). Die Domestikation des Pferdes erfolgte später, während der Mittel- und Jungsteinzeit lebte in der gesamten Region des heutigen Deutschland flächendeckend noch das Wildpferd (Döhle 1999). An den Tierknochenfunden lässt sich der

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Domestikationsprozess gut nachverfolgen, da Haustiere sich in Größe und Proportion von den Wildtieren unterscheiden. Früh domestizierte Tiere sind in der Regel zunächst kleiner als ihre wildlebenden Verwandten, vermutlich weil die Haltungsbedingungen noch suboptimal waren (Grupe/Peters 2011), und weil sie gezwungenermaßen in relativer genetischer Isolation lebten (Vigne 1999). Werden potentiell domestizierbare Tiere kleiner bei gleichbleibender Größe der zeitgleichen Wildtiere, können naturräumliche Umweltverhältnisse nicht mehr für die Größenreduktion verantwortlich gemacht werden, und die Knochenfunde stammen sehr wahrscheinlich von frühen Domestikationsformen. Die moderne Palette der Haustiere zeigt die ungeheure Variabilität in Erscheinungsbild und Verhalten, welche im Zuge Jahrtausende langer Domestikation erzeugt wurde. Man vergleiche beispielsweise ein Shetland-Pony mit einem Shire-Horse oder einen Pekinesen mit einer Bulldogge. Degenerative Gelenkerkrankungen an den Skelettresten von Pferden und Rindern zeugen nicht selten von den Folgen schwerer (Zug)Arbeit für ihren Besitzer, oder auch von unsachgemäßer Haltung (von den Driesch/Peters 2003). Ein ganz neues Licht auf den Ursprung der Haustierwerdung werfen die monumentalen Tempelanlagen vom Göbekli Tepe in Südost-Anatolien, die im 10. vorchristlichen Jahrtausend errichtet wurden und damit die ältesten bekannten Tempel der Welt sind (Schmidt 2006). Erbaut von Jägern und Sammlern – Ackerbau und Viehzucht waren damals noch nicht erfunden – sind diese Tempel mit gewaltigen, bis zu 5,5 Meter hohen T-Pfeilern ausgestattet, welche mit ausgesprochen naturalistischen Tiermotiven dekoriert sind. Dieser Befund belegt zunächst, dass monumentale Bauwerke vor die Neolithisierung datieren und schon zu dieser Zeit eine komplexe Gesellschaft mit zentralen, lenkenden Institutionen existiert haben muss. Die Ausmaße der Bauten machen eine profane Nutzung denkbar unwahrscheinlich. Es dürfte sich tatsächlich um religiöse Heiligtümer/Kultstätten handeln, die eine überaus enge Verbindung zwischen ihren Erbauern und der Tierwelt bezeugen. Damit ist nicht auszuschließen, dass die Domestikation von Tieren im Fruchtbaren Halbmond auch religiös motiviert war. Offenbar wurden die Tempel nach einer gewissen Nutzungszeit intendiert wieder zugeschüttet und eine neue Anlage darauf errichtet. Die bislang gefundenen Tierreste stammen mehrheitlich aus diesen Verfüllungen – dem Abfall. Tierknochenfunde sind ferner herausragende ökologische Anzeiger. Spätestens seit der neolithischen Transition haben die Menschen anthropogene Landschaften geschaffen, teils intendiert wie beispielsweise durch Rodungen für die Anlegung von Siedlungen und Ackerfluren, teils als Nebenprodukt mit Langzeitwirkung (Verheidung). Der ungeheure Holzbedarf der vorindustriellen Epochen hat zu einer gewaltigen Auflichtung der mitteleuropäischen Landschaften geführt, die in der Holzkrise um 1300 n. Chr. offenkundig wurde (Küster 2013). Im archäozoologischen Fundgut mittelalterlicher Städte fin-

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den sich regelmäßig Hasenknochen (Schmölcke 2009) – und dies nicht nur, weil Hasen nicht unter das adelige Jagdprivileg fielen und damit einen kostengünstigen Braten für jedermann abgaben, sondern weil Hasen im offenen Gelände leben und damit den Rückgang der Wälder anzeigen. Unterschiedliche Mengenanteile von Haus- und Wildtieren in den Schlachtabfällen im Laufe der Zeit sind nicht nur ein Monitor für den Domestikationsprozess an sich, sondern bezeugen die große Flexibilität von Menschen bezüglich der Subsistenzökonomie in der Prähistorie. In einer beachtenswerten vergleichenden Studie über die Jungsteinzeit in der Schweiz, Südwest-Deutschlands und Bayerns wurde eine Relation der Zusammensetzung des archäozoologischen Fundgutes mit dem Klima dahingehend festgestellt, dass bei einer Klimaverschlechterung der Anteil des Jagdwildes stieg. Offenbar waren die Haltungsbedingungen für die Haustiere beeinträchtigt und die frühen Ackerbauern verließen sich wieder verstärkt auf die Jagd. Gegen Ende des Neolithikums wurde aber nie wieder ein so hoher Wildanteil im Fundgut festgestellt wie in den frühen Phasen als Zeichen dafür, dass die Ackerbauern nunmehr auch in Krisenzeiten weniger von den »wilden« Ressourcen abhängig waren (Hüster-Plogmann et al. 1999). Mit diesen wenigen Beispielen sei gezeigt, wie »Abfall« über seine Identifikation hinaus den Zugang zu der Verhaltensebene früher Bevölkerungen ermöglicht. Das vergleichsweise junge Forschungsgebiet der Paläogenetik eröffnet seit einigen Jahren ganz neue Perspektiven bei der Untersuchung archäologischer Skelettfunde von Mensch und Tier. Zwar ist die in den Skelettelementen konservierte DNA zumeist stark fragmentiert. Moderne Techniken gestatten aber zwischenzeitlich das Zusammenfügen und die Sequenzierung ganzer Genome oder zumindest großer Teile davon. Für die Haustierforschung lässt sich auf diese Weise beispielsweise die Fellfarbe früher Haustiere erschließen (Ludwig et al. 2009). In Bezug auf Menschenfunde können anderweitig nicht zu beantwortende Fragen nach Genealogien, Verwandtschaften und Infektionskrankheiten, welche sich nicht an den Knochen manifestieren, erfolgreich beantwortet werden (z.B. Identifikation von Yersinia pestis als Erreger der »Pest des Justinian«, Wagner et al. 2014). Archäologische menschliche Skelettfunde fallen aus naheliegenden Gründen selbstverständlich nicht unter den Begriff des »Abfalls«, selbst wenn sie nicht im Kontext einer intendierten Bestattung aufgefunden wurden; sie sind aber – wie noch zu zeigen sein wird – sehr gute Anzeiger für Umweltverschmutzung. Tierknochenfunde sind aber auch in Bezug auf das Krankheitsgeschehen von Menschen von hoher Bedeutung für die Alltagsgeschichte. Ein Beispiel aus der Paläopathologie sei der Nachweis von Mycobacterium tuberculosis in den Resten eines eisenzeitlichen Rindes (Seifert et al. 2010). Rindertuberkulose wird üblicherweise durch Mycobacterium bovis hervorgerufen, wogegen M. tuberculosis der Erreger der Tuberkulose des Menschen ist. Da Menschen aber auch durch das Trinken roher Milch tuberkulö-

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ser Rinder an TBC erkranken können, wird nicht zu Unrecht eine Zunahme der TBC-Erkrankungen seit dem europäischen Mittelalter durch die städtische Milchviehhaltung angenommen. Das genannte Beispiel zeigt, dass auch Rinder sich ihrerseits von ihrem Besitzern anstecken konnten, was für einen Anstieg der TBC-Erkrankungsrate nur förderlich gewesen sein konnte. Damit ist bereits die über die makroskopische Ebene hinausgehende Analyse bioarchäologischer Funde angesprochen, und zwar jene der Untersuchung der stofflichen Bestandteile von Knochen und Zähnen. Aus Biomolekülen und Biomineralien können ganze Kapitel individueller und kollektiver Lebensgeschichte erschlossen werden, sofern man sich darauf versteht, die in Molekülen und Kristallen verschlüsselte Information korrekt zu dechiffrieren. Zu den Routineanwendungen in diesem Spezialgebiet der Bioarchäologie – der Archäometrie – zählt die Analyse stabiler Isotope aus konservierten Proteinen (zumeist aus Kollagen, dem Strukturprotein von Knochen) und Mineralen (Kalziumphosphat im Fall von Knochen und Zähnen). Als Isotope werden verschiedene Zustandsformen chemischer Elemente bezeichnet, welche dieselbe Ordnungszahl, aber eine unterschiedliche Anzahl von Neutronen im Kern haben. Im Gegensatz zu radioaktiven Isotopen zerfallen stabile Isotope nicht und haben eine unendliche Lebensdauer. In der Ökologie dienen sie als natürliche Biomarker für den Stofftransport, in der Anthropologie als Marker für die Ernährungsweise und das ökogeographische Einzugsgebiet prähistorischer und historischer Individuen und Populationen. Dabei ist das Nahrungsverhalten früher Menschen per se eigentlich uninteressant. Nutzt man dessen Rekonstruktion aber als Vehikel für das Erschließen der zeit- und ortstypischen Subsistenzökonomie, wird wiederum ein wichtiger Aspekt der Verhaltensebene für die Alltagsgeschichtsforschung transparent. Die Detektion und Provenienzbestimmung ortsfremder Individuen auf einem Bestattungsareal ist eine Schlüsselkategorie für die Rekonstruktion von Mobilität, Migration, Handel und Kulturtransfer. Die stabilen Isotope leichter Elemente mit einer Massenzahl unter 50 unterscheiden sich zumeist lediglich um eine oder zwei Masseeinheiten; damit ist die Massedifferenz der jeweiligen Isotope relativ zum Atomgewicht groß. In der Folge verhalten sich Moleküle, welche ein schweres oder leichtes Isotop enthalten, während des Stofftransports durch die Hydro- und Biosphäre thermodynamisch unterschiedlich. Moleküle aus leichten Isotopen sind z.B. leichter flüchtig, Moleküle aus schweren Isotopen sind insgesamt reaktionsträger. Vergleicht man beispielsweise das thermische Verhalten zweier Wassermoleküle, eines mit dem leichten Sauerstoffisotop 16O und eines mit dem schweren Sauerstoffisotop 18O, so wird H216O leichter verdampfen als H218O. Bei der Verdunstung von Meerwasser gelangt daher mehr H216O in die Dampfphase als H218O, welches aber als schwereres Molekül aus den Wolken später wieder bevorzugt abregnen wird. Beide Moleküle mischen sich dann wieder in den Wasserreservoiren der Erde. Dieses

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ständige Aufspalten stabiler Isotope (»Isotopenfraktionierung«) und deren anschließendes Mischen führt zur Bildung ökologischer und ökogeographischer Kompartimente, welche eine charakteristische Isotopen-Variabilität aufweisen und üblicherweise als »isotopic landscapes« oder auch nur »isoscapes« bezeichnet werden (West et al. 2010; Bowen 2010) und mittels geeigneter Modelle vorhergesagt werden können.1 Bleiben wir beim Thema Ernährung und Subsistenzökonomie, denn in diesem Kontext ist die Analyse stabiler Kohlenstoff- und Stickstoffisotope aus dem Knochenkollagen (bzw. der Kohlenstoffisotope aus der Karbonatfraktion des Skelettes) zwischenzeitlich unverzichtbar. Das leichte Kohlenstoffisotop hat die Masse 12 (12C) und ist mit 98,89 % in der Natur bei Weitem häufiger als das schwere Kohlenstoffisotop mit der Masse 13 (13C; 1,11 %). Noch ausgeprägter ist das unterschiedliche Vorkommen bei den stabilen Stickstoffisotopen, unter denen das leichte Isotop mit der Masse 14 (14N) sogar 99,633 % aller Stickstoffisotope ausmacht, das schwere Isotop mit der Masse 15 (15N) lediglich 0,366 % (Grupe et al. 2015). Um das Verhältnis beider Isotope in einer Probe mit einer handlichen Zahl ausdrücken zu können, wird nach internationaler Konvention das gemessene Isotopenverhältnis auf einen Standard bezogen und in der d-Notation ausgedrückt: z.B. d15N = [(15N/14NProbe -15N/14NStandard) : 15N/14NStandard] x 1000 [‰]. Je positiver also der d15N- bzw. d13C-Wert ist, desto stärker ist das jeweils schwere Isotop in der untersuchten Probe angereichert. Grundsätzlich gilt, dass diese d-Werte in den Skelettfunden auf die Hauptnahrungsquellen des Individuums bezogen sind. In der terrestrischen Nahrungskette bilden sich die wichtigsten, isotopisch voneinander unterscheidbaren Kompartimente für stabile Kohlenstoffisotope auf der Ebene der Primärproduzenten aufgrund der unterschiedlichen Diskriminierungsfähigkeit gegen 13C durch die sogenannten »C3- und C4 -Pflanzen«, welche durch verschiedene Photosynthesewege bedingt sind. Die meisten heimischen Pflanzenarten in den gemäßigten Breiten sind C3-Pflanzen mit einem d13C-Wert um -27‰; zu diesen zählen z.B. alle Getreidearten. C4 -Pflanzen bevorzugen unbewaldete, warme und trockene Standorte; zu ihnen zählen Zuckerrohr, Mais, und vor allem viele Gräser. Aufgrund der weniger ausgeprägten Diskriminierung sind sie mit 13C angereichert und haben zumeist d13C-Werte um -14‰ (Ben-David/Flaherty 2012). Diese Unterschiede pflanzen sich in die Konsumenten fort, sodass die stabilen Kohlenstoffisotope in den Knochenkomponenten der Konsumenten zweifelsfrei erkennen lassen, ob sich diese von C3- oder C4 -Pflanzen ernährt haben. Die Frühphase der Neolithisierung im Fruchtbaren Halbmond war von einer Klimaveränderung begleitet, welche die Ausbreitung von C4 -Gräsern begünstigte. Für die Zeit zwischen 1 |  Vgl. eine ausführliche Darstellung der anthropologischen und archäologischen Relevanz bei Grupe et al. 2015.

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etwa 9.500 und 7.500 v.  Chr., in welcher sich der Übergang vom Wildbeutertum zur etablierten Agrikultur vollzogen hatte, konnten Grupe und Peters (2011) für Südostanatolien – der Region, in der sich der schon genannte Göbekli Tepe befindet – anhand der Schlachtabfälle nachweisen, dass die Wildtiere (Kropfgazelle, Halbesel) beständig Konsumenten von C3-Pflanzen blieben. Im Gegensatz dazu mussten die frühen Haustiere (Ziege, Schaf, Rind) ausnahmslos einen beträchtlichen und quantifizierbaren Anteil von C4 -Gräsern gefressen haben, da sie signifikant angereicherte d13C-Werte aufwiesen. Dieser Befund ist von großer Tragweite bezüglich der menschlichen Subsistenzökonomie: C4 -Pflanzen der fraglichen Region spielen für die menschliche Ernährung keine oder bestenfalls eine untergeordnete Rolle. Das frühe domestizierte Getreide war bekanntlich Weizen (Emmer und Einkorn), mithin also eine C3-Pflanze. Die gefundenen isotopischen Unterschiede zwischen Wild- und Haustieren lassen sich zwanglos damit erklären, dass Haustiere intendiert mit den für ihre Besitzer unbedeutenden C4 -Pflanzen gefüttert wurden, um so eine bestehende Nahrungskonkurrenz um die begehrten C3-Getreide (wilder und domestizierter Weizen) zu minimieren. Aus den Schlachtabfällen ist damit zu entnehmen, dass bereits die sehr frühen Ackerbauern offenkundig ein gezieltes Weidemanagement betrieben haben – eine Aussage, die weit über die reine Tatsache der vollzogenen Neolithisierung hinausgeht. Im Konsumenten mischen sich also die Isotopien diverser Nahrungsquellen, deren jeweiliger Beitrag zu der im Konsumenten ermittelten Isotopie rechnerisch aufgelöst werden muss. Da üblicherweise sowohl d13C als auch d15N aus dem konservierten Kollagen archäologischer Skelettfunde gemessen werden, lassen sich bereits die Anteile von drei Hauptnahrungsquellen zur Grundnahrung leicht ermitteln, gilt es doch lediglich, eine Gleichung mit zwei Bekannten und drei Unbekannten zu lösen. Zwischenzeitlich können Computerprogramme auch die Beiträge von weit mehr potentiellen Nahrungsquellen zur Mischisotopie berechnen, auch wenn diese sehr unterschiedliche Gehalte an Stickstoff und Kohlenstoff aufweisen. Für omnivore Menschen und Tiere ist aber jeweils eine Reduktion auf die wichtigsten Nahrungskomponenten zu empfehlen, um zu realistischen Ergebnissen zu kommen. Menschen sind bezüglich ihres Nahrungsverhaltens ausgesprochen flexibel und auch opportunistisch. Es ist üblich, jeweils die Eckdaten der Isotopien z.B. für Wildtiere, Haustiere, Süßwasserfische und marine Fische und Säugetiere für die Hauptnahrungskomponenten einzusetzen, um die wesentlichen Wirtschaftsweisen von Jägern/Sammlern, Ackerbauern und Fischern über das grundsätzliche kollektive Nahrungsverhalten voneinander zu differenzieren (Grupe 2014). Diese notwendigen Eckdaten sind ausschließlich aus dem Schlachtabfall zu gewinnen. Dass dabei gleichzeitig Erkenntnisse über die Ernährung der analysierten Tierarten gewonnen werden, wurde im vorangegangenen Beispiel gezeigt. Die Nahrungspräferenz von Wildtieren ist darüber hinaus von außerordentlichem

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Wert für die Biodiversitätsforschung und den modernen Artenschutz, da heute viele Wildtiere aus ihren angestammten Habitaten vertrieben und in kleinere Refugialgebiete abgedrängt worden sind. Für das historisch bedeutsame Siedlungskontinuum des wikingerzeitlichen Haithabu und seine mittelalterliche Nachfolgesiedlung Schleswig auf Jütland (10.-13. Jahrhundert n.  Chr., beides bedeutende Fernhandelszentren zu dieser Zeit), liegt ein gewaltiges archäozoologisches Ensemble vor, und mehrere tausend Isotopiedaten wurden im Laufe der vergangenen Jahre erstellt. Die Region ist ökologisch außerordentlich komplex, da das Binnenland mit Süßgewässern dem offenen Meer (Nordsee) und einem großen Brackwasserhabitat (Ostsee) unmittelbar benachbart ist. Dies bietet flexiblen Tierarten ein großes und diverses Verbreitungsgebiet. So konnten beispielsweise den als Süßwasserfische bekannten Arten Flussbarsch und Hecht, die aber durchaus auch einen höheren Salinitätsgrad tolerieren, aufgrund ihrer Isotopien sowohl Süßwasser- als auch Brackwasserstandorte nachgewiesen werden, was weiterführend die Fischgründe der Menschen definiert. Auch einige Fischotter zeigten eindeutig marine Isotopensignaturen – an den Meeresküsten lebende Fischotter waren einst in Europa weit verbreitet, heute sind sie auf wenige Standorte in Skandinavien und Schottland reduziert. Die Seeadlerpopulationen konnten in solche unterschieden werden, welche an der Küste und in den Süßgewässern des Binnenlands jagten (Becker/Grupe 2012). Seeadler waren ehemals ebenfalls viel weiter verbreitet als heute und horsteten während des Mittelalters z.B. auch über Berlin (Müller 1999). Sie sind lediglich an die Nähe größerer Gewässer gebunden. In einem letzten Abschnitt soll aufgezeigt werden, wie menschliche Skelettfunde über prähistorische und historische Umweltverschmutzung unmittelbar Auskunft geben können, da die Menschen in kontaminierten Umwelten lebten und Schadstoffe in ihren Skeletten speicherten. Erhöhte Konzentrationen potentiell gesundheitsschädlicher oder sogar toxischer Elemente in pathologisch veränderten Skeletten können darüber hinaus Rückschlüsse auf frühe Berufskrankheiten zulassen (Grupe 1988). Im Wesentlichen betrifft dies aber die Schwermetalle, also alle Metalle, deren Dichte den Grenzwert von 5g pro cm3 überschreitet. Allen voran ist hier das Blei zu nennen, da es nach Inkorporierung gezielt im Skelett stillgelegt wird, und zwar an den Kalziumgitterplätzen des Knochenminerals. Seit es Metallverarbeitung gab – also seit der Bronzezeit – wurde Blei als Beiprodukt bei der Kupfergewinnung, später bei der Silbergewinnung freigesetzt. Seit der Bronzezeit werden entsprechend signifikant erhöhte Schwermetallkonzentrationen nicht nur in der Umwelt (Veselý 2000), sondern konsequent auch in den Skelettfunden von Menschen und Haustieren aus den Abbaugebieten im Vergleich zu kontemporären Kontrollgruppen festgestellt (für Kupfer und Blei Pyatt et al. 2005). Man darf dabei nicht davon ausgehen, dass die Umweltbelastung durch prähistorische Erzverhüttung lediglich lokaler Natur war. Für die Schmelzen waren gewaltige Holzmengen

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erforderlich, wobei das Abholzen der Wälder die Bodenerosion durch das fehlende Wurzelwerk förderte und Schwermetalle daher nicht nur als Aerosole verbreitet wurden, sondern auch gemeinsam mit den abgetragenen Böden und dem Wasser. Eine Bleiintoxikation äußert sich zunächst in einer eher allgemeinen Beeinträchtigung der Befindlichkeit wie Appetitlosigkeit, Müdigkeit, Muskel- und Gelenkschmerzen. Bei höheren Dosen kommt es zu charakteristischen Koliken, Fertilitätsstörungen, Nierenschädigungen und Gicht, und schlussendlich zu Schädigungen des Zentralnervensystems. Da Blei plazentagängig ist, kann bereits das Ungeborene geschädigt werden. Spricht man von historischer Bleiintoxikation, denkt so mancher vielleicht automatisch an das Römische Weltreich, dessen Untergang durch flächendeckende Bleivergiftung befördert worden sein sollte (Gilfillan 1965, 1990). Tatsächlich ist kaum ein anderes Metall so charakteristisch für das antike Rom, da kein anderes in solchen Mengen gefördert, importiert und verarbeitet wurde. Blei war zunächst ein Nebenprodukt des Silberbergbaus und stammte aus silberhaltigen sulfidischen Bleierzen. Auch das Interesse der Römer an Großbritannien dürfte mit den dortigen reichhaltigen Bleigruben im Zusammenhang gestanden haben, da sehr ergiebige bleiführende Erzgänge in so geringer Tiefe vorkamen, dass sie teilweise im Tagebau abgebaut werden konnten. Wie schon in Spanien die phönizischen, konnten die Römer in Großbritannien die keltischen Gruben einfach übernehmen (Projektgruppe Plinius 1989). Zu Spitzenzeiten soll der Pro-Kopf-Verbrauch des römischen Reiches an Blei in verschiedenster Form mit jenem der USA in den frühen 1980er Jahren nahegekommen sein (Nriagu 1983), jedoch sind diese Schätzungen nicht unbedingt sehr verlässlich. Allerdings war dieses Schwermetall wohl wirklich ubiquitär: Aus Blei bestanden die berühmten Wasserleitungen, welche sich einfacher als solche aus Ton herstellen ließen, sowie häusliches und gewerbliches Geschirr, Schmuckstücke, Spinnwirtel und andere Haushaltsgegenstände. Bleiverbindungen wie der Bleiglanz (Galena) oder Bleiweiß (Cerussa) wurden in der Kosmetik und Medizin verwendet, durch Rösten des giftigen Blei(II)oxids »lithargyrum« gewann man den roten Farbstoff Mennige. An sich waren die »Dämpfe«, welche bei der Erzverhüttung entstanden, früh durch Gelehrte wie z.B. Vitruv als gesundheitsschädlich erkannt worden. Auch Plinius wusste bereits zu berichten, dass die Blei- und Silberverhüttungsanlagen stets frei von Fliegen und Mückenplagen seien. Doch die Gesundheitsprobleme der nicht unmittelbar bei der Verhüttung tätigen Menschen waren zwar bekannt, aber offenbar nicht ursächlich erfasst. Ein Beispiel hierfür sind die seit der Regierung des Kaisers Tiberius endemisch in weiten Teilen des Imperiums auftretenden Koliken (Nriagu 1983; Projektgruppe Plinius 1989). Die von dem römischen Architekten und Ingenieur Vitruvius in seinem wohl um 25 v. Chr. entstandenen Hauptwerk De architectura libri decem ausgesprochene Ablehnung bleierner Wasserleitungen aufgrund der Gesundheits-

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schädlichkeit des Bleis wurde bereits vor Jahren durch Hodge (1981) in Frage gestellt, da karbonathaltiges (»hartes«) Wasser rasch zur Auskleidung der Röhren mit einer dicken, schützenden Kalkschicht führt. Allerdings ist überliefert, dass man die Aquädukte im Rahmen der Wartungsarbeiten vom abgesetzten Kalk befreite, welcher nicht selten sogar recycelt wurde und als Marmorersatz herhalten musste, sodass Vitruv wohl doch im Recht gewesen ist. Es macht allerdings einen großen Unterschied, ob es sich um stehendes Wasser (z.B. in den ebenfalls oft mit Blei ausgekleideten Zisternen) oder fließendes Wasser handelt. Experimentell wurde festgestellt, dass über Nacht in einer Bleileitung stehendes Wasser bis zu 3 mg Blei pro Liter aufnehmen kann. Nach Abfluss von zehn Litern war die Belastung bereits auf 0,1 mg Blei pro Liter gesunken (Fiedler/Rösler 1993). Nach heutiger Auffassung dürften es eher die als Süßungs- und Konservierungsmittel nahezu überall verwendeten eingedickten Fruchtsäfte gewesen sein, die eine erhöhte Bleibelastung auf Populationsebene hervorgerufen haben. Das geläufigste Ausgangsmaterial soll frisch gepresster Traubenmost gewesen sein, der – je nachdem, bis zu welchem Volumen er eingekocht wurde – sapa, defrutum, hapsema etc. genannt wurde. Im bekannten Kochbuch des Apicius (Alföldi-Rosenbaum 1984) wurden sapa und ähnliche Konzentrate für ein Fünftel aller Rezepte benötigt, auch Obst wurde in sapa konserviert. Um ein Anbrennen zu verhindern, mussten die Säfte beim Einkochen in ständiger Bewegung sein, wobei die Fruchtsäuren die Bildung gelöster Metallsalze begünstigten. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass die Fruchtsäfte auf keinen Fall in Kupferkesseln gekocht werden sollten, da sie dann bitter werden und sogar zu Erbrechen führen können. Ein Bleikessel oder zumindest mit Blei ausgekleidetes Geschirr wurde ausdrücklich empfohlen. Es bildete sich Bleiacetat, das nicht von ungefähr den Trivialnamen »Bleizucker« hat und den Geschmack des Sirups noch verbesserte. Experimentelle sapa-Herstellung führte zu einem Bleigehalt zwischen 237 und 1.000 mg Blei pro Liter (Hofmann 1883; Nriagu 1983). Aus heutiger Sicht kurios ist die Erwähnung von Plinius, dass sapa abortiv wirke und verwendet werden kann, um tote Embryonen abzutreiben – allerdings nur, sofern in ihm eine Zwiebel gekocht wurde (Projektgruppe Plinius 1989). Letzte dürfte jedoch kaum für die abortive Wirkung verantwortlich gewesen sein. Auch dem Wein wurde sapa oder defrutum zur besseren Haltbarkeit und zur Geschmacksverbesserung zugesetzt. Das damalige noch rein empirische Wissen ist auf die inhibierende Wirkung der Bleiionen auf die Enzymaktivitäten zurückzuführen. Experimentell nach Rezepten von Columella hergestellte Gemische enthielten Bleikonzentrationen zwischen 15 und 30 mg Blei pro Liter (Hofmann 1883), wobei noch nicht berücksichtigt ist, dass der Most bereits in Bleifässern oder -amphoren vergoren war. Wein wurde offenbar regelmäßig konsumiert. In Pompeji fand man beispielsweise zahlreiche »thermopolia«, eher einfache Garküchen mit Weinausschank.

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Die Bleilässigkeit von bleihaltigen Geschirren ist allgemein bekannt. Dies betraf nicht nur das antike Rom, sondern ebenso das berühmte englische Schüsselzinn mit seinem Bleigehalt zwischen 20 und 30  %. Rohre aus Blei waren bis weit in das 20. Jahrhundert noch in Altbauten verlegt. Die ganze industrialisierte Welt hatte ständigen Kontakt mit Blei in Form von Rostschutzmitteln, verbleitem Benzin sowie anderen Schwermetallen, z.B. in der Farbindustrie. Deshalb scheint es recht fraglich, ob der Zerfall des Römischen Reiches durch eine kommunale Bleivergiftung befördert wurde. Die bekannten politischen Umstände sprechen ganz klar die deutlichere Sprache. Dennoch ist die Verbindung von »Blei und Rom« zu einem fast mythischen Topos geworden, der immer noch Tradition hat. Wie viel Schwermetall verträgt der Mensch also? Bereits in den 1980er Jahren wurde damit begonnen, archäologische mensch­ liche Skelettreste systematisch auf deren Bleikonzentrationen zu untersuchen. Wirbeltiere diskriminieren während des Stoffwechsels gegen aufgenommenes Blei zugunsten von Kalzium, sodass der natürliche Bleigehalt mineralisierter Gewebe um Größenordnungen kleiner ist als jener der Umgebung. Durch den flächendeckenden Schwermetalleintrag seit der Industrialisierung gilt dies so nicht mehr; eine Annäherung der Bleigehalte in den Geweben an jene der Umgebung konnte festgestellt werden (Elias et al. 1982). Die körperlichen Relikte vorindustrieller Bevölkerungen haben sich als hervorragender Monitor für die steigende Umweltverschmutzung seit Beginn der Metallverarbeitung erwiesen (Patterson et al. 1987; Waldron 1988), und diese Umweltverschmutzung war sehr nachhaltig: Antike Metallverarbeitung – insbesondere seit der Römerzeit – hat zu sogenannten anthropogenen »geochemischen hot-spots« geführt – also zu Regionen, die zum Teil bis heute landwirtschaftlich nicht mehr nutzbar sind (Thornton/Abrahams 1984). Bodenbildung durch Verwitterung von Gesteinen und Sedimenten ist ein sehr langwieriger Prozess, und Böden zählen zu den nicht erneuerbaren Ressourcen unserer Erde. Die Erschließung von potentiellen Schäden an den Böden einschließlich der anthropogenen Eingriffe in den Mineralhaushalt gehören aus diesem Grund heute zu den vordringlichen Aufgaben des Umweltschutzes (Reimann et al. 2012). Steinzeitliche menschliche Skelettfunde haben Bleikonzentrationen zwischen