Internal Branding im Krankenhaus: Die notwendige Suche nach dem organisationalen und professionellen Identitätskern [1. Aufl.] 9783658310714, 9783658310721

Die Autorin präsentiert einen umfassend sozial- und pflegewissenschaftlich fundierten Managementansatz für den Krankenha

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German Pages XXIX, 749 [774] Year 2020

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Internal Branding im Krankenhaus: Die notwendige Suche nach dem organisationalen und professionellen Identitätskern [1. Aufl.]
 9783658310714, 9783658310721

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XXIX
Einleitung (Bettina Karin Schottler)....Pages 1-11
Das Krankenhaus als Marke (Bettina Karin Schottler)....Pages 13-22
Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding (Bettina Karin Schottler)....Pages 23-128
Identität und Habitus – soziale Prozesse zwischen Individualisierung und Vergesellschaftlichung (Bettina Karin Schottler)....Pages 129-289
Das Krankenhauswesen und die Suche nach dem organisationalen Identitätskern (Bettina Karin Schottler)....Pages 291-427
Emergenzfaktoren der organisationalen Identität, ihre Identifikationsdispositionen und die Konsequenzen für das Management (Bettina Karin Schottler)....Pages 429-684
Schlussbemerkung/Kritische Würdigung (Bettina Karin Schottler)....Pages 685-689
Back Matter ....Pages 691-749

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Vallendarer Schriften der Pflegewissenschaft

Bettina Karin Schottler

Internal Branding im Krankenhaus Die notwendige Suche nach dem organisationalen und professionellen Identitätskern

Vallendarer Schriften der P ­ flegewissenschaft Band 6 Reihe herausgegeben von Hermann Brandenburg, Vallendar, Deutschland Sabine Ursula Nover, Vallendar, Deutschland

Fragen der Pflege sind immer auch Fragen danach, wie eine Gesellschaft mit Leben, Krankheit, Alter und Tod umgeht, wie aktuelle gesellschaftliche und politische Debatten zeigen. Pflegewissenschaft hat zum einen zur Aufgabe, die aus ihrer Perspektive bedeutsamen Themen in diese Diskurse einzubringen und auf der anderen Seite deren wissenschaftliche Bearbeitung durch Theorie- und Methodenentwicklung voranzutreiben. Die von ihr generierten wissenschaftlichen Ergebnisse sollen somit auch die (fach-)politischen und gesellschaftlichen Diskussionen befördern. Die Pflegewissenschaft in Vallendar greift diese Herausforderungen auf und weist neben der Grundlagenforschung auch einen bedeutenden Anwendungsbezug aus; in allen Themenfeldern geht es daher immer auch um Fragen von Implementie­ rung innovativer Konzepte, Dissemination neuer Erkenntnisse und nicht zuletzt auch kritischer Folgeabschätzung von Innovationen. Diese Entwicklung wird durch die Reihe „Vallendarer Schriften der Pflegewissenschaft“ der Pflegewissenschaftlichen Fakultät der Philosophisch-Theologischen Hochschule Vallendar (PTHV) abgebildet. Kontakt: Univ.-Prof. Dr. Hermann Brandenburg, [email protected] Jun.-Prof. Dr. Sabine Ursula Nover, [email protected]

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15988

Bettina Karin Schottler

Internal Branding im Krankenhaus Die notwendige Suche nach dem organisationalen und professionellen Identitätskern Mit Geleitworten von Univ.-Prof. Dr. Hermann Brandenburg und Univ.-Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt

Bettina Karin Schottler Hofheim am Taunus, Deutschland Dissertation Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar, Pflegewissenschaftliche Fakultät Originaltitel: Internal Branding in der Expertenorganisation Krankenhaus und die notwendige Suche nach dem organisationalen Identitätskern: Identitätsstiftende und identifikationsfördernde Dispositionen für Professionals fokussieren, entwickeln und fördern Erlangter akademischer Grad: Dr. rer. cur. Tag der Disputation: 10.12.2019

Vallendarer Schriften der Pflegewissenschaft ISBN 978-3-658-31071-4 ISBN 978-3-658-31072-1  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31072-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informa­ tionen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Meiner Lebenspartnerin in Dankbarkeit gewidmet!

Geleitwort

Es geht nicht nur darum den Finger in die Wunde zu legen, sondern auf Kompetenzen, Potentiale und Entwicklungsmöglichkeiten zu setzen. Und nichts anderes will „Internal Branding im Krankenhaus“. Ziel ist eine Markenbildung, die vor allem auf eine Identitäts- und Habitusentwicklung der Mitarbeiter in der Organisation setzt. Führung heißt letztlich Arbeit an der organisationalen Identität, die charakteristischen Merkmale hat die Autorin in einem „Identitäts- EmergenzModell (migIE-Modell)“ auf den Punkt gebracht. Dieser Ansatz bildet die Grundlage für eine „identifikationsfördernde Organisationsentwicklung“ und ist somit als Fundament für eine Markenentwicklung zu verstehen, die nach innen und außen wirkt. Nachdem zunächst der aktuelle Hintergrund – vor allem im Hinblick auf die Ökonomisierung der Gesundheitswirtschaft – aufgezeigt wird, werden in den weiteren Kapiteln der markentheoretische Hintergrund, die Einstellungen, Haltungen und Dispositionen der Mitarbeiter im Krankhaussetting sowie Aspekte der Organisations- und Unternehmenskultur thematisiert. Konsequent ist ein so ausgerichtetes Management an der Evozierung, Pflege und nachhaltigen Weiterentwicklung von identitätsorientierten Potentialen und der professionellen Kultur interessiert und nicht nur an Kostensenkung oder Gewinnmaximierung. Denn diese Dinge sind letztlich kein Selbstzweck, sondern dienen einem humanen Ziel. Sonst wären sie nichts anderes als jene kapitalistische Perversion (im Sinne einer Verschiebung), die wir überall sehen. Wenn man nur einige Stichworte ernst nimmt, etwa „Vertrauen und Verantwortung als kultureller Identifikationstreiber“, „wertegeleitete Beziehungs- und Kommunikationskultur“ oder „Wertschätzung des Wissens und des Expertentums“, dann wird deutlich, dass es in dem hier vorgelegten Werk nicht um eine banale PR- oder Marketingstrategie geht, sondern um einen umfassend sozialund pflegewissenschaftlich fundierten Managementansatz für den Krankenhausbereich.

VIII

Geleitwort

Die Bedeutung für die Praktiker vor Ort ist klar, denn am Ende steht ein „Leitfaden-Mix“ verschiedener emergent-wirkender Ansätze und Konzepte, welche das Management für eine identitätsfördernde und identifikationsfördernde Unternehmensentwicklung als Handlungsoptionen umsetzen kann. Durch die Kopplungen der verschiedenen Emergenzfaktoren – von individuellen über organisatorische bis hin zu umweltrelevanten Merkmalen – werden der Umfang und die Breite der notwendigen Felder der Unternehmensentwicklung in den Krankenhäusern erkennbar. Es geht um einen grundlegenden Entwurf für ein modern und nachhaltig aufgestelltes Management, welches das Unternehmen bis zu notwendige Reife entwickeln kann, um sich auf dem Markt als Marke positionieren zu können. Entfalten die unterschiedlichen Ansätze und Konzepte der Unternehmensentwicklung in der Verbindung zueinander ihre Wirkung, so ist dies ein wichtiges Fundament, um das eigene Krankenhaus am Ende als „Marke“ auf dem Markt zu positionieren und zu präsentieren. Aber es geht nicht darum die „Verbetriebswirtschaftlichung“ des Krankenhauses voranzutreiben – die Gesundheitsversorgung bleibt ein öffentliches Gut. Sie darf nicht dem Kommerz geopfert werden, denn sie ist letztlich dem Gemeinwohl verpflichtet. Selbstbewusst spricht Frau Schottler von einem „Standardwerk“, welches die Leserin und den Leser durch ein breites thematisches Terrain führt. Und nicht allein der nahezu voluminöse Umfang bestätigt diese Einschätzung, es sind vor allem die umfangreichen Literaturanalysen, das theoretisch-wissenschaftlich fundierte Modell sowie die vertieften Einblicke in eine z.T. absurde Praxis, welches das vorliegende Buch zur Pflichtlektüre jener Personen machen, für die das Wort „Innovation“ mehr ist als nur eine Inszenierung durch Hochglanz-Flyer im ‚Vier-Farben-Druck‘. Vallendar, im April 2020

Univ.-Prof. Dr. Hermann Brandenburg Lehrstuhl für Gerontologische Pflege Prodekan Pflegewissenschaft Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar

Geleitwort

Die vorliegende Dissertation ist monumental im Umfang. Länger ist nicht automatisch besser; in der Kürze liegt die Würze. Diese und ähnliche Ratschläge und Sprüche können zutreffend sein. In diesem Fall liegen die Dinge anders. Hier liegt Substanz vor, die eben ihren Platz (Raum zur Entfaltung) braucht. Und die Entfaltung der Ideen ist systematischer Natur. Und dennoch gehen die Gedanken – eben Gedankengänge – einige Umwege, in die Tiefe und in die Breite, viel Theorie aus der Literatur abholend und mitnehmend auf die Reise der Argumentation, vielem Denken Dritter Dank schuldend, aber synthetisch arbeitend und etwas Neues, wissenschaftlich Relevantes schaffend: Das liegt hier vor. Soweit zur Poetik als Methode des Schreibens. Inhaltlich, in der Sache, also forschungsthematisch gesehen, hat der Text ebenso eine verschlungene Entwicklungsgeschichte hinter sich. Frühe Verbindungen zur Marketingforschung lagen vor. Es ging um Markenbildung im wettbewerblichen System der Krankenhäuser. Die Stakeholder-Betrachtungsrichtung ging also von Innen nach Außen. Nun bleibt sie im kommunikativen Innenraum der sozialen Welt von Krankenhäuser verortet, wenngleich – wenn Krankenhäuser im Innenraum einmal gut funktionieren sollten: ein theoretisch nicht unmöglicher Fall, der empirisch allerdings recht selten ist – eine solche Erfolgsgeschichte der Kommunikationskultur im Innenraum des Krankenhauses nicht ohne Auswirkungen auf die Performance nach Außen hin bedeutsam sein kann. Es geht nun um Branding Policy als Erfolg einer Entwicklung einer Organisationskultur, die zur kollektiv geteilten Identitätsbildung führen soll: ein klassisches Problem der Soziologie der Vergemeinschaftung auch in der gesellschaftlichen Moderne. Dies Thema aufgreifend, entfaltet die Arbeit in einem komplex verschachtelten Mehr-Ebenen-System und im Zusammenhang mit dem Blick auf die Multi-Akteurslandschaft, Programmcodes und Habitusstrukturen erfassend, inter-disziplinär, weil Soziologie ohne Psychologie nicht auskommen kann, das

X

Geleitwort

Thema. Selbst dann, wenn das „Soziale durch das Soziale erklärt werden soll“, funktioniert der soziologische Blick nur, wenn das Subjekt in seinen Kontexten, die sich codierend tief einschreiben in die intra-individuellen Arbeitsapparate, verstanden wird. Was für christliche Theologien der Heilige Geist sein mag, nennen wir Sozialisation. Das soziale Geschehen in Krankenhäusern ist theatralisch als Bühne sozialer Inszenierungen zu rekonstruieren. Welcher Film nach welchem Drehbuch läuft hier ab? Die Arbeit, die anfangs noch sehr von einem systemtheoretischen Paradigma (im Lichte von Luhmann) dominiert war, sich dann aber auch u. a. der Synthese von Strukturalismus und Hermeneutik von Pierre Bourdieu öffnete, entwickelte sich weiter durch die breite Öffnung hin zur betriebswirtschaftlichen Organisationsforschung, die selbst wiederum produktiv gewildert hat in Kulturanthropologie und Sozialpsychologie. Das schafft man/frau nur durch Belesenheit. Und die liegt hier vor. Und die Fähigkeit zur kreativen Kompilation. Der Vorwurf des Eklektizismus ist erwartbar. Aber dieser Vorwurf stammt von den Spezialist*innen der Welt der tiefen Arbeitsteilung isolierter Disziplinen, eine Haltung, die, psychoanalytisch betrachtet, nicht selten auch Ausdruck von Angst ist, sich zu öffnen, weil man dann leichter verletzbar ist. Inter-Disziplinarität braucht Mut. Neuerdings ist Fachidiotie zur Voraussetzung der akademischen Karriere des sog. Nachwuchses geworden. Zur pflegewissenschaftlichen Relevanz sei noch angemerkt, dass diese naheliegend ist. Das Krankenhaus ist natürlich Ort von Pflege. Aber auch der Transfergehalt mit Blick auf andere Einrichtungen anderer Subsysteme der Versorgungslandschaft von Cure und Care ist evident. Der kreative Fleiß der vorliegenden Arbeit bedarf des Schweißes der Lektüre. Keinen Preis ohne Fleiß auf beiden Seiten der Kommunikation des Schreibens und Lesens. Aachen, im April 2020

Univ.-Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt Universität zu Köln Honorarprofessur für Sozialökonomie der Pflege an der PTHV

Dank

Eine sehr intensive, schöpferische und zugleich bereichernde Zeit in der Auseinandersetzung mit der vorliegenden Thematik geht nun zu Ende. Diese Dissertation ist bei mir in einer Lebensphase entstanden, in der auch das berufliche und private Leben nicht stillgestanden hat und seine besonderen Herausforderungen an mich und das Leben aufzeigte. Durch diese Zeit und Erfahrungen hat die erfolgreiche Verfassung und Fertigstellung der vorliegenden Dissertation vor allem für mich eine ganz besondere und persönliche Bedeutung. Zum Gelingen dieser Arbeit haben zahlreiche Personen beigetragen, indem sie mich auf unterschiedliche Weise auf dem Weg begleitet haben. Allen voran gilt mein spezieller Dank meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Frank Schulz-Nieswandt für die Bereitschaft, meine Dissertation zu betreuen und mich in der intensiven Promotionszeit zu begleiten. Ausdrücklich bedanken möchte ich mich für die Unterstützung, die nötigen Freiräume und für die wertvollen Impulse und Perspektive in den begleitenden Gesprächen, die für mich stets unterstützenden, inspirierenden und motivierenden Charakter hatten. Meinen Dank möchte ich an meine Kommilitonen richten; sowie an allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hochschule, die in den stets unterstützenden Begegnungen ihre wertschätzende Verbundenheit ausstrahlten. Danken möchte ich all meinen geschätzten und treuen Freunden und Freundinnen für ihre Unterstützung und ihr Verständnis und im Speziellen möchte ich all denen danken, die mir in den wichtigen Situationen immer wieder das Ziel vor Augen gehalten und den Rücken gestärkt haben. Beinahe zum Schluss, aber mit ganzem Herzen möchte ich mich bei meiner langjährigen Lebenspartnerin bedanken, die mir von Beginn an das Zutrauen, ihren Zuspruch und die Kraft für ein solches Dissertationsvorhaben geschenkt hat. Ganz besonders danke ich ihr für ihre beständige Anteilnahme, Zuversicht und tiefe Verbundenheit. Diese Dissertation möchte ich IHR widmen, da dieses Dissertations-Projekt im Sinne eines gemeinsamen Ziels – ein gemeinsam geteiltes Projekt war.

XII

Dank

Zu guter Letzt gilt mein besonderer Dank meiner Familie und vor allem meinen Eltern für ihre unermüdliche fürsorgliche elterliche Liebe, ihre Unterstützung und motivierende Zuversicht. Hofheim am Taunus, im Februar 2020

Bettina Karin Schottler

Inhaltsverzeichnis

1  Einleitung..................................................................................................... 1  1.1 

Hinführung zum Thema ................................................................................. 1 

1.2 

Begründung und Relevanz des Themas ......................................................... 2 

1.3 

Fragestellung und Zielsetzung der Arbeit ...................................................... 7 

1.4 

Vorgehen und Aufbau der Arbeit ................................................................... 8 

2  Das Krankenhaus als Marke.................................................................... 13  2.1 

Druck der Industrialisierung und Ökonomisierung zwingt zum Wandel ..... 14 

2.2 

Markenentwicklung als Wettbewerbschance ............................................... 18 

2.3 

Resümee des Kapitels .................................................................................. 21 

3  Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding ..... 23  3.1 

Komplexe Sichtweise des Markenbegriffs ................................................... 25 

3.2 

Die erfolgreiche Dienstleistungsmarke ........................................................ 26  3.2.1  Charakteristika und Nutzendimensionen von Dienstleistungsmarken .................................................................... 26  3.2.2  Starke Marken und ihr Markenkern ................................................. 34  3.2.3  Markenbindung – interne und externe Kundenorientierung als Erfolgsgarant ................................................................................... 38  3.2.4  Markentreue durch limitiertes, habitualisiertes und impulsives Entscheidungsverhalten ................................................................... 40  3.2.5  Herauszustellende Befunde des Teilkapitels ................................... 42 

3.3 

Die Magie der Marke als sozialpsychologisches Phänomen ........................ 45  3.3.1  Die Marke und das Tor zum Gedächtnis ......................................... 48 

XIV

Inhaltsverzeichnis

3.3.1.1  Aktivierung der Markenbindung durch Emotionen, Motivation und Einstellungen ............................................. 48  3.3.1.2  Belohnungswerte im impliziten System schaffen eine nachhaltige Differenzierung ................................................ 52  3.3.1.3  Codierte Erfahrungen und Eindrücke – Erlebniswerte und innere Bilder................................................................. 54  3.3.2  Die Marke als Persönlichkeit und sinnstiftender Beziehungspartner ........................................................................... 59  3.3.3  Herauszustellende Befunde des Teilkapitels ................................... 63  3.4 

Grundlagen der Markenführung im Krankenhaussektor .............................. 66  3.4.1  Markenarchitektur und Markenstrategie im Krankenhaussektor ..... 66  3.4.2  Unternehmensmarke als Besonderheit der Markenführung ............. 71  3.4.3  Herauszustellende Befunde des Teilkapitels ................................... 74 

3.5 

Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz des ,Corporate Branding‘ ..................................................................................................... 74  3.5.1  Identität und Image als zentrale Aufgabe der Markenführung......... 75  3.5.2  Modelle der Markenidentität ........................................................... 81  3.5.3  Grundansatz und Denkschule des ,Corporate Branding‘ ................. 87  3.5.4  Das Konzept ,Corporate-Brand-Identity‘ im Fokus ......................... 90  3.5.4.1  Begriffsklärung, Ansätze und Grundlagen .......................... 90  3.5.4.2  Elemente und Säulen des Konzepts ,Corporate-BrandIdentity‘............................................................................... 95  3.5.5  Eine Unternehmensmarke leuchtet nachhaltig von innen nach außen ............................................................................................. 102  3.5.5.1  Behavioral Branding ......................................................... 104  3.5.5.2  Internal Branding – Mitarbeiter als Markenbotschafter .... 110  3.5.5.3  Employer Branding – die Arbeitgebermarke .................... 116  3.5.6  Herauszustellende Befunde des Teilkapitels ................................. 121 

3.6 

Resümee des Kapitels ................................................................................ 126 

Inhaltsverzeichnis

XV

4  Identität und Habitus – soziale Prozesse zwischen Individualisierung und Vergesellschaftlichung .................................... 129  4.1 

Identität – elastische Deutungen aus multidisziplinärer Perspektive.......... 132  4.1.1  Erster begrifflicher Klärungsversuch und seine Besonderheiten ... 132  4.1.2  Identitätstheorien in der Tradition analytischer Ich- und Entwicklungspsychologie .............................................................. 137  4.1.2.1  Erik Homburger Erikson – ein psychoanalytischer Ansatz ............................................................................... 137  4.1.2.2  Das ,Identity-status‘-Modell nach Marcia ......................... 138  4.1.3  Identitätstheorien in der Tradition des symbolischen Interaktionismus ............................................................................ 142  4.1.3.1  George H. Mead – handlungstheoretischer Ansatz ........... 142  4.1.3.2  Erving Goffman – die Identitäts- und Stigmatheorie und die Rahmung als Perspektiven der Weltsicht .................... 146  4.1.4  Sozialpsychologische und postmoderne Identitätskonzepte .......... 153  4.1.4.1  Karl Haußer – Identität, eine Einheit aus Selbstkonzept, Selbstwertgefühl und Kontrollüberzeugung ...................... 153  4.1.4.2  Heiner Keupp – die Person als individualisierter Sinnbastler ........................................................................ 155  4.1.5  Leib- und körpertheoretischen Annäherungen an das Konstrukt der Identität ................................................................................... 159  4.1.5.1  Robert Gugutzer – ein phänomenologischsoziologisches Identitätsmodell......................................... 159  4.1.5.2  Hilarion Petzold – eine integrative Identitätstheorie ......... 160  4.1.6  Habitus zwischen Abgrenzung und geteilter Wirklichkeit ............ 166  4.1.6.1  Das Habitus-Konzept von Pierre Bourdieu – die Theorie der einverleibten sozialen Struktur .................................... 168  4.1.6.2  Habitus versus Deutungsmuster – der professionelle Habitus .............................................................................. 175  4.1.7  Herauszustellende Befunde des Teilkapitels ................................. 178 

4.2 

Die ,ausbalancierte‘ Identität ..................................................................... 180  4.2.1  Mehrdimensionalität des Identitätsbegriffs.................................... 180  4.2.2  Ich-Identität und das Verständnis der Selbstbilder ........................ 181 

XVI

Inhaltsverzeichnis

4.2.3  Soziale und kollektive Identitäten – eine Form der Teilhabe......... 186  4.2.4  Berufliche Identität – als Teil der Ich-Identität .............................. 190  4.2.5  Herauszustellende Befunde des Teilkapitels ................................. 192  4.3 

Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität und deren Entwicklung durch Sozialisationsprozesse ................................................ 193  4.3.1  Berufliche Sozialisation als Aneignungs- und Veränderungsprozesse ................................................................... 193  4.3.2  Identität und die Interdependenz zwischen Rollenperformanz, Interaktion und Kultur ................................................................... 201  4.3.3  Entstehung eines beruflich-professionellen Habitus als Teil der beruflichen Identität....................................................................... 211  4.3.3.1  Sozialisation als komplexer Prozess des Lernens.............. 216  4.3.3.2  Sozialisation als selbstreferenzielle Reproduktion des Systems ............................................................................. 221  4.3.3.3  Interaktionsprozesse, Routinen und Rituale als Wirkungsfaktoren im Sozialisationsprozess...................... 222  4.3.4  Kohärenz zwischen beruflicher professionaler Identität und beruflicher Kompetenz .................................................................. 224  4.3.5  Der Sinn der Sinnstiftung .............................................................. 225  4.3.6  Berufliche Identität in Verbindung mit dem subjektiven Lebenskonzept ............................................................................... 229  4.3.7  Mitarbeiter als Bedürfnis- und Motivträger und ihre Zufriedenheit ................................................................................. 232  4.3.7.1  Bedürfnis- und Motivations-Modelle ................................ 237  4.3.7.2  Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation ................. 242  4.3.8  Herauszustellende Befunde des Teilkapitels ................................. 245 

4.4 

Die Konstrukte der Unternehmensidentität und der organisationalen Identität – zwei Seiten einer Medaille ........................................................ 246  4.4.1  Die Unternehmensidentität – die soziale Interaktion nach Außen . 250  4.4.2  Die organisationale Identität – der Blick ins Innere ...................... 252  4.4.3  Die Organisationskultur und gemeinsame Wertebasis als Fundament ..................................................................................... 257 

Inhaltsverzeichnis

XVII

4.4.4  Identifikation mit Organisationen und organisationales Commitment .................................................................................. 269  4.4.5  Diskrepanzen, Kompatibilität und die Passung der Identitäten ..... 276  4.4.6  Herauszustellende Befunde des Teilkapitels ................................. 282  4.5 

Resümee des Kapitels ................................................................................ 284 

5  Das Krankenhauswesen und die Suche nach dem organisationalen Identitätskern ............................................................. 291  5.1 

Das Krankenhaus und seine klassische organisationale Zuordnung........... 294  5.1.1  Das Krankenhaus als organisationstheoretischer Prototyp der ,Professional Bureaucracies‘ ......................................................... 294  5.1.2  Die ,professionelle Organisation‘ als ,vorherrschende kollegiale Organisation‘ ................................................................................. 303  5.1.3  ,Professional Bureaucracies‘ versus ,Parsons Ebenenmodell‘ ....... 306  5.1.4  Der klassische Krankenhausorganisationstyp im Umbruch – ein Weg des Wandels ohne Kompass ............................................ 307  5.1.5  Herauszustellende Befunde des Teilkapitels ................................. 314 

5.2 

Professionalität, Expertentum und Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung .................................................................................................. 317  5.2.1  Konstitutive Professionsmerkmale – ein Einblick in die professionstheoretischen Ansätze .................................................. 319  5.2.1.1  Systemtheoretischer Ansatz der Professionstheorie (Luhmann/Stichweh) ......................................................... 324  5.2.1.2  Machttheoretischer Ansatz der Professionstheorie (Larson/Daheim/Rabe-Kleberg) ........................................ 326  5.2.1.3  Strukturtheoretischer Ansatz der Professionstheorie (Oevermann) ..................................................................... 328  5.2.1.4  Interaktionistischer (handlungstheoretischer) Ansatz der Professionstheorie (Schütze) ............................................. 331  5.2.1.5  Zusammenfassende Gegenüberstellung der professionstheoretischen konstitutiven Merkmale ............ 338  5.2.2  Professionalität durch Professionen, Experten und Semiprofessionen .......................................................................... 341 

XVIII

Inhaltsverzeichnis

5.2.3  Innere Professionalisierung – ein Prozess zur beruflichen Identität und des professionellen Habitus ...................................... 350  5.2.4  Professionalität als innerer Kompass der Experten........................ 356  5.2.5  Professionalität im Handeln durch professionelles Wissen und Könnerschaft ................................................................................. 358  5.2.6  Die Profession – ein besonderer Beruf .......................................... 364  5.2.7  Professionalität und Könnerschaft als Ausdruck der Verantwortung ............................................................................... 366  5.2.7.1  Verantwortungsbegriff im Blick ....................................... 370  5.2.7.2  Die Kohärenz zwischen Verantwortung – Professionalität und Identität............................................. 377  5.2.8  Professionalität und Könnerschaft als selbstverständliche Kernerwartung der Kunden ........................................................... 381  5.2.9  Herauszustellende Befunde des Teilkapitels ................................. 387  5.3 

Das Dilemma der Ungleichheit in der Reproduktion der sozialen Wirklichkeit ............................................................................................... 394  5.3.1  Die Pluralität der strukturell verankerten Ziele, Funktionen, Orientierungen und Sinnwelten ..................................................... 394  5.3.2  Rollen-Status-Konflikte durch organisatorische und ökonomische Rahmenbedingungen ............................................... 399  5.3.3  Berufskulturelle Differenzen im institutionellen sozialen Feld ..... 404  5.3.4  Phänomene und Positionen der Macht, Herrschaft und Kollegialität ................................................................................... 409  5.3.5  Deprofessionalisierung und Dequalifizierung – der prekäre Weg zum Ausverkauf .................................................................... 417  5.3.6  Herauszustellende Befunde des Teilkapitels ................................. 420 

5.4 

Resümee des Kapitels ................................................................................ 425 

6  Emergenzfaktoren der organisationalen Identität, ihre Identifikationsdispositionen und die Konsequenzen für das Management ............................................................................................ 429  6.1 

Entwicklungsweg der organisationalen Identität........................................ 434 

Inhaltsverzeichnis

XIX

6.2 

Das multifokale integrative ganzheitliche Identifikations-EmergenzModell (migIE-Modell) ............................................................................. 437 

6.3 

Kultur schafft Identität und Identität ermöglicht Identifikation ................. 440  6.3.1  Unternehmenskultur und der ,Cultural Fit‘ als identitätstreibendes Fundament .................................................................... 440  6.3.2  Die Beeinflussung der Identifikationsdisposition der Mitarbeiter . 450  6.3.3  Wertebewusstsein und Sinngeber als starke Emergenzfaktoren .... 453  6.3.4  Reflektierte kulturelle Einstellungen und emergente Bilder .......... 459  6.3.4.1  Menschenbild in reifen Organisationen als Ursprung des Vertrauen-Könnens ........................................................... 459  6.3.4.2  Einstellungsprägende Organisationsbilder im Hintergrund ....................................................................... 462  6.3.5  Herauszustellende Befunde des Teilkapitels ................................. 470 

6.4 

Vertrauen und Verantwortung als kultureller Identifikationstreiber .......... 474  6.4.1  Eine Annäherung an das Vertrauenskonstrukt nach Luhmann ...... 476  6.4.2  Vertrauen in die Organisation – eine Form des Systemvertrauens 488  6.4.3  Soziale Verantwortung des Unternehmens als Bestätigung des Vertrauens ..................................................................................... 496  6.4.4  Konzepte der sozialen gesellschaftlichen Verantwortung der Unternehmen ................................................................................. 498  6.4.5  Herauszustellende Befunde des Teilkapitels ................................. 503 

6.5 

Führungskultur ist die Basis der Vertrauenskulturen ................................. 505  6.5.1  Wert-Schöpfung durch Wert-Schätzung – Führung ist gefragt...... 506  6.5.1.1  Ein Paradigmenwechsel in der Führung tut Not ................ 506  6.5.1.2  Führungskräfte haben interne Kunden – die Mitarbeiter ... 510  6.5.1.3  Identifikation durch die Kooperationsbeziehung der beidseitigen Loyalität ........................................................ 513  6.5.1.4  Partizipation – ein nach innen gerichteter Vertrauensbeweis .............................................................. 515  6.5.1.5  Arbeitsautonomie – Empowerment – ,The Freedom to Act‘ ............................................................................... 517  6.5.1.6  Die Zugkraft der gemeinsamen Visionen .......................... 520 

XX

Inhaltsverzeichnis

6.5.1.7  Transformationale Führung – ein Führungsansatz der Vertrauenskultur ............................................................... 522  6.5.2  Professionals – vom Kostenfaktor zum Wertpotenzial und Erfolgsfaktor.................................................................................. 529  6.5.2.1  Personal-Service-Center – ein weitgreifendes wertschätzendes Signal ..................................................... 532  6.5.2.2  Strategisches Retention-Management – eine nachhaltige Investition ......................................................................... 534  6.5.2.3  Handlungsfelder eines strategischen RetentionManagements .................................................................... 537  6.5.2.4  Work-Life-Balance – aus Verantwortung und Wertschätzung für die Mitarbeiter .................................... 543  6.5.2.5  Kompetente Methodenwahl der Erfolgsmessung .............. 560  6.5.3  Herauszustellende Befunde des Teilkapitels ................................. 563  6.6 

Wertegeleitete Beziehungs- und Kommunikationskultur als zentraler Emergenzfaktor .......................................................................................... 567  6.6.1  Interaktion als Grundvoraussetzung für die Identität und Identifikation ................................................................................. 568  6.6.2  Integrierte Kommunikation als wichtiges Instrument der Markenbildung .............................................................................. 571  6.6.3  Interne Kommunikation als aktive Beziehungsgestaltung ............. 572  6.6.3.1  Die interne Kommunikation als Möglichkeit, das Sinnerlebnis der Arbeit zu erhöhen ................................... 574  6.6.3.2  Größtmögliche Transparenz durch die Methoden der internen Kommunikation .................................................. 576  6.6.4  Eine Feedbackkultur braucht eine offene Fehlerkultur .................. 580  6.6.5  Konfliktlösungskultur – eine wertschätzende proaktive Beziehungsarbeit ........................................................................... 583  6.6.5.1  ,Dicke Luft‘ im Betrieb – betriebliche Konflikte – ein komplexes System............................................................. 584  6.6.5.2  Perspektivenwechsel der Konflikt-Bewertung .................. 587  6.6.5.3  Konfliktmanagementsystem .............................................. 588  6.6.5.4  Letztlich ist alles eine Frage der Kultur ............................ 589 

Inhaltsverzeichnis

XXI

6.6.6  Herauszustellende Befunde des Teilkapitels ................................. 591  6.7 

Identitäts- und identifikationstreibende Verknüpfung von Individuum und Organisationen .................................................................................... 594  6.7.1  Das Management muss mit der Zeit gehen, sonst geht es mit der Zeit .......................................................................................... 594  6.7.2  Identitätstreibende und identifikationsfördernde Organisationsstrukturen ................................................................. 597  6.7.2.1  Rückbesinnung auf die Kernprozesse als Kernkompetenz – Prozessorganisation ..................................... 598  6.7.2.2  Empowerment wächst in einer schlanken und flexiblen Organisation ...................................................................... 601  6.7.2.3  Dezentralisierung der Steuerung von Kompetenzen und Verantwortung .................................................................. 603  6.7.2.4  Teilautonome High-Performance-Teams – eine spezielle Form der Zugehörigkeit .................................................... 605  6.7.2.5  High-Performance-Teams – die Entwicklung des WirGefühls .............................................................................. 609  6.7.3  Herauszustellende Befunde des Teilkapitels ................................. 613 

6.8 

Qualitätsgarantie als fest verankertes Versprechen durch eine gezielte Excellence-Offensive ................................................................................. 615  6.8.1  Versprochen ist versprochen – ein kulturelles Grundprinzip von Verantwortung und Vertrauen ................................................ 615  6.8.2  Kundenorientierung – die wechselseitige Kundenzufriedenheit .... 618  6.8.3  Ganzheitliches integratives Qualitätsstreben durch TQM als unternehmenskulturelle Philosophie .............................................. 625  6.8.4  EFQM-Modell – das Modell zur Business Excellence .................. 626  6.8.5  Herauszustellende Befunde des Teilkapitels ................................. 631 

6.9 

Wertschätzung des Wissens und des Expertentums als Kernidentität der wissensintensiven Expertenorganisation .................................................... 634  6.9.1  Wissen und Kompetenzen – die wertvollen intangiblen Ressourcen .................................................................................... 634  6.9.1.1  Wissen im organisationalen Kontext – die komplexe Vielfältigkeit des Wissens ................................................. 640  6.9.1.2  Die Intelligenz der Gruppe ................................................ 645 

XXII

Inhaltsverzeichnis

6.9.1.3  Die lernende Organisation und die Verbindung zur Business Excellence .......................................................... 647  6.9.2  Wissensmanagement – gewusst wie … ......................................... 653  6.9.2.1  Modelle des Wissensmanagements ................................... 655  6.9.2.2  Methoden und Instrumente des Wissensmanagements ..... 660  6.9.3  Organisationale professionelle Wissensbasis im Krankenhaus...... 663  6.9.3.1  Die Passung des Wissens – der notwendige Weg der Entfremdung ..................................................................... 663  6.9.3.2  Wissensbasierte ,Excellence-und-Professionalitätsoffensive‘ in der Organisation Krankenhaus ..................... 667  6.9.3.3  Magnetkonzept – ein verwandtes berufsspezifisches Modell ............................................................................... 670  6.9.4  Herauszustellende Befunde des Teilkapitels ................................. 676  6.10 

Resümee des Kapitels ................................................................................ 681 

7  Schlussbemerkung/Kritische Würdigung ............................................. 685  Literaturverzeichnis ..................................................................................... 691  Literatur zum 1. Kapitel ......................................................................................... 691  Literatur zum 2. Kapitel ......................................................................................... 692  Literatur zum 3. Kapitel ......................................................................................... 693  Literatur zum 4. Kapitel ......................................................................................... 700  Literatur zum 5. Kapitel ......................................................................................... 716  Literatur zum 6. Kapitel ......................................................................................... 725 



Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1:

Inhalt und Aufbau der Arbeit ............................................................. 11

Abbildung 2:

Aufbau Kapitel 3 ................................................................................ 24

Abbildung 3:

Nutzenstiftende Funktion aus zwei Perspektiven. .............................. 29

Abbildung 4:

Starke Marken durch Eigenschaften der Kerndimension ................... 36

Abbildung 5:

Basis für eine erfolgreiche Markenwahrnehmung .............................. 38

Abbildung 6:

Bestandteile der Magie der Marke ..................................................... 47

Abbildung 7:

Linsenmodell der Markenwahrnehmung ............................................ 47

Abbildung 8:

Basismodell der Markenbeziehungsqualität ....................................... 62

Abbildung 9:

Triade der Idea – Identity – Image ..................................................... 73

Abbildung 10:

Markenidentität, Positionierung und Profilierung .............................. 78

Abbildung 11:

Zusammenhang zwischen Identität – Image – Reputation ................. 80

Abbildung 12:

Modell/Ansätze zur Erklärung und Entwicklung der Markenidentität .................................................................................. 83

Abbildung 13:

Ansätze des Corporate-Identity-Konzepts .......................................... 91

Abbildung 14:

Nutzen einer ganzheitlichen Corporate-Identity-Entwicklung ........... 94

Abbildung 15:

Elemente des ganzheitlichen Corporate-Identity-Konzepts ................ 96

Abbildung 16:

Die Behavioral-Branding-Kaskade .................................................. 107

Abbildung 17:

Der Brand Behavior Funnel ............................................................. 109

Abbildung 18:

Aufbau Kapital 4 .............................................................................. 131

Abbildung 19:

Gruppenübersicht der Identitätstheorien .......................................... 135

Abbildung 20:

Identitätszustände nach Marcia und der hypothetische Identitätskrisenverlauf ...................................................................... 140

Abbildung 21:

Kennzeichen der Identitätszustände nach Marcia ............................. 141

Abbildung 22:

Drei Dimensionen des Strukturmodells der personalen Identität ..... 154

Abbildung 23:

Fünf Säulen der Identität .................................................................. 163

Abbildung 24:

Mehrdimensionalität des Identitätsbegriffs ...................................... 180

XXIV

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 25:

Vier Lebenskonzept-Typen .............................................................. 230

Abbildung 26:

Vier Typen beruflicher Identität ....................................................... 231

Abbildung 27:

Bedürfnis- und Motivationstheorien................................................. 238

Abbildung 28:

The Self-Determination Continuum ................................................. 243

Abbildung 29:

Drei Ansätze zur Unternehmensidentität – Charakteristika .............. 248

Abbildung 30:

Unternehmensidentität, organisationale Identität und Organisationskultur .......................................................................... 249

Abbildung 31:

Befürworter & Kritiker der Annahmen und Merkmale von Albert/Whetten ................................................................................. 254

Abbildung 32:

Unternehmenskultur-Modell-Schein ................................................ 258

Abbildung 33:

Unternehmenskultur-Modelle – Hatch, Hall, Plesser, Hofstede, Peters&Waterman ............................................................................ 260

Abbildung 34:

Unternehmenskultur-Modell – Handy .............................................. 264

Abbildung 35:

Schnittmengen der unterschiedlichen Identitätsformen .................... 287

Abbildung 36:

Aufbau Kapitel 5 .............................................................................. 292

Abbildung 37:

The Internal Influencers – fünf grundsätzliche OrganisationsBestandteile ...................................................................................... 295

Abbildung 38:

Das Modell der Profibürokratie ........................................................ 296

Abbildung 39:

Professionen – Gegenüberstellung der Begriffs- und Merkmalsbeschreibungen................................................................. 320

Abbildung 40:

Bestimmungsmerkmale einer Profession ......................................... 332

Abbildung 41:

Zusammenfassung der professionstheoretischen konstitutiven Merkmale ......................................................................................... 339

Abbildung 42:

Bausteine zur Handlungskompetenz ................................................ 363

Abbildung 43:

Der ,Verantwortungs-Begriff‘ im Blick verschiedener Ansätze ....... 371

Abbildung 44:

Konkretisierte Zielkomplexe im Krankenhaus ................................. 395

Abbildung 45:

Die vier Subsysteme des Gesundheitssystems und seiner Organisationen ................................................................................. 399

Abbildung 46:

Verschiedene Machtphänomene im Krankenhaus ............................ 410

Abbildung 47:

Organisationaler ,codierter‘ Identitätskern der Organisation Krankenhaus..................................................................................... 425

Abbildung 48:

Identifikationsförderer und Identifikationsblockierer ....................... 427

Abbildung 49:

Das multifokale integrative ganzheitliche IdentifikationsEmergenz-Modell ............................................................................. 438

Abbildung 50:

Organisationaler ,codierter‘ Identitätskern ....................................... 439

Abbildungsverzeichnis

XXV

Abbildung 51:

Modell der Unternehmenskultur nach Schein .................................. 443

Abbildung 52:

Lebenszyklusmodell nach Bleicher – eine Kurzskizzierung ............ 446

Abbildung 53:

Hauptkategorien der kulturassoziierenden äußerlichen Phänomene ....................................................................................... 449

Abbildung 54:

Wertesystem eines Menschen .......................................................... 455

Abbildung 55:

Organisationbild ,Organisation als Maschine‘ ................................. 464

Abbildung 56:

Organisationsbild ,Organisation als Organismus‘ ............................ 466

Abbildung 57:

Organisation als Maschine vs. Organisation als Organismus ........... 467

Abbildung 58:

Organisationsbild - ,Organisation als Gehirn‘ .................................. 468

Abbildung 59:

Organisationsbild - ,Organisation als Kultur‘ ................................... 468

Abbildung 60:

Geeignete emergente Organisationsbilder in Kombination .............. 469

Abbildung 61:

migIE-Modell – Emergenzfaktor: Unternehmenskultur/Cultural Fit ..................................................................................................... 470

Abbildung 62:

Vertrauen als grundlegender Identifikationstreiber .......................... 475

Abbildung 63:

Vertrauenkonstrukt – Definitionsverständnis verschiedener Autoren ............................................................................................ 477

Abbildung 64:

Vertrauens-Dreieck im Gesundheitswesen ....................................... 484

Abbildung 65:

Die Vertrauensbeziehungen und Vertrauensebenen im Vertrauensdreieck ............................................................................ 487

Abbildung 66:

Systemvertrauen durch Sruktur, Prozess und Beziehung ................. 493

Abbildung 67:

Vernetzung organisationales Vertrauen – Identifikation und Commitment..................................................................................... 494

Abbildung 68:

migIE-Modell – Emergenzfaktor: Vertrauenskultur......................... 503

Abbildung 69:

Führungsverhalten im Paradigma der transformationalen Führung.. 524

Abbildung 70:

Das Great-Place-to-Work-Modell .................................................... 532

Abbildung 71:

Dimensionen der Work-Life-Balance .............................................. 544

Abbildung 72:

Work-Life-Pentagramm ................................................................... 545

Abbildung 73:

Unterschiedliche Instrumentalitäten von Work-Life-Balance: ......... 547

Abbildung 74:

Betriebliche Gesundheitsförderung Verhaltens- und Verhältnisorientierung ...................................................................... 549

Abbildung 75:

Primäre Work-Life-Balance-Maßnahmen ........................................ 550

Abbildung 76:

Sekundäre Work-Life-Balance-Maßnahmen .................................... 555

Abbildung 77:

Tertiäre Work-Life-Balance-Maßnahmen ........................................ 559

Abbildung 78:

migIE-Modell – Emergenzfaktoren: Führungskultur/PersonalService-Ansatz ................................................................................. 563

XXVI

Abbildungsverzeichnis

Abbildung 79:

Kurzskizzierung der Feedbackmethoden.......................................... 582

Abbildung 80:

Chinesischen Schriftzeichen für Krise ............................................. 587

Abbildung 81:

migIE-Modell – Emergenzfaktoren: Beziehungs/Kommunikationskultur ................................................................... 591

Abbildung 82:

Kern-Prozess – Management-Prozess – Support-Prozess ................ 599

Abbildung 83:

Das 5-Stufen-Modell von High-Performance-Teams ....................... 611

Abbildung 84:

migIE-Modell – Emergenzfaktoren: Organisationsstrukturelle Konzepte .......................................................................................... 613

Abbildung 85:

Ansätze der ,Sozial Customer Economy‘ ......................................... 621

Abbildung 86:

EFQM-Modell .................................................................................. 627

Abbildung 87:

migIE-Modell – Emergenzfaktoren: TQM/Business Excellence ..... 631

Abbildung 88:

Verschiedene Definitionen zum Begriff : Wissen‘ ........................... 641

Abbildung 89:

Wissenswürfel .................................................................................. 643

Abbildung 90:

Ansätze zum Thema Wissensmanagement ....................................... 654

Abbildung 91:

Kurzbeschreibung verschiedener Wissensmanagementmodelle....... 656

Abbildung 92:

Drei operative Methoden und Instrumente des Wissensmanagements....................................................................... 662

Abbildung 93:

Wissenszentren und ihre 14 zentralen Magnetkräfte ........................ 672

Abbildung 94:

migIE-Modell – Emergenzfaktoren: Wissensmanagement/Lernende Organisation ................................... 676

Abbildung 95:

Kopplungseffekte innerhalb des migIE-Modells .............................. 682

Abbildung 96:

Die richtige Kombination von drei Konzepten ................................. 683

Abkürzungsverzeichnis

Abb.

Abbildung

Abs.

Absatz

ANN

American Academy of Nursing

ANCC

American Nurses Credentialing Center

ANP

Advanced Nursing Practice

Aufl.

Auflage

Bd.

Band

BSC

Balanced Scorecard

bspw.

beziehungsweise

BPflV

Bundespflegesatzverordnung

bzgl.

bezüglich

bzw.

beziehungsweise

CC

Corporate Citizenship

CI

Corporate Identity

CIM

Corporate Identity Management

CSR

Corporate Social Responsibility

d.h.

das heißt

DEBA

Deutsche Employer Branding Akademie

DGFP

Deutsche Gesellschaft für Personalführung e.V.

Diss.

Dissertation

DRG

Diagnosis Related Groups

ebd.

Ebenda

EbM

Evidence-based Medicine

EbN

Evidence-based Nursing

EbM-P

Evidence-based-Management-Projekte

EFQM

European Foundation for Quality Management

XXVIII

Abkürzungsverzeichnis

ebd.

ebenda

engl.

englisch

etc.

et cetera

et al.

et alii (und andere)

erw.

erweitert

e.V.

eingetragener Verein

f.

folgende

ff.

folgenden

ggf.

gegebenenfalls

GPoWM

Geschäftsprozessorientiertes Wissensmanagement

Hrsg.

Herausgeber

Hg.

Herausgeber

i.d.R.

in der Regel

IT

Informationstechnologie

i.S.

im Sinne

inkl.

inklusive

insb.

insbesondere

i.w.S.

im weitesten Sinn

Jg.

Jahrgang

KHG

Krankenhausfinanzierungsgesetz

lt.

laut

MA

Mitarbeiter

MigIE-Modell

Multifokales integratives ganzheitliches Identitäts-Emergenz-Modell

MPB-Form

managed professional business

mind.

mindestens

Nr.

Nummer

o.Ä.

oder Ähnliches

o.Jg.

ohne Jahrgang

PTHV

Philosophisch-Theologische Hochschule Vallendar

PR ROI

Public Relations Return on Investment

S.

Seite

s.

siehe

Abkürzungsverzeichnis

SECI-Modell

Socialization, Externalization, Combination, Internalization

SGB

Sozialgesetzbuch

SGE

Strategische Geschäftseinheit

s.l.

sine loco = ohne Ort

sog.

sogenannte

SOPs

Standard Operating Procedure

SVR

Sachverständigenrat

TQM

Total Quality Management

u.a.

unter anderem

UAP

Unique Advertising Proposition (kommunikative Profilierung)

überar.

überarbeitet

Univ.

Universität

USA

Vereinigte Staaten von Amerika

USP

Unique Selling Proposition (Alleinstellungsmerkmal)

UPP

Unique Passion Prospostion (Leidenschaft in der Profilierung)

usw.

und so weiter

u.U.

unter Umständen

vs.

versus

vgl.

vergleiche

Verl.

Verlag

vollst.

vollständig

www.

world wide web

z.B.

zum Beispiel

zit.n.

zitiert nach

zugl.

Zugleich

z.T.

zum Teil

XXIX

1 Einleitung

1.1 Hinführung zum Thema Kann ein Management ein Krankenhaus zu einer Marke machen, wenn Sie es anordnen und sagen: ,AB SOFORT SIND WIR EINE MARKE!‘ – reicht dies wirklich aus? Dazu ist in Krankenhäusern vielerorts das Thema Markenbildung an den Zuständigkeitsbereich der Abteilung: Öffentlichkeitsarbeit (PR) oder Marketing geknüpft. Dementsprechend begrenzen sich die Maßnahmen auf Pressearbeit, Tag der offenen Tür und mit der Produktion eines Hochglanz-Flyers im ,VierfarbenDruck‘. Auch wenn dort die Aktionen hochgefahren werden, kann man eine Marke auf dem Markt etablieren und positionieren, wenn das Unternehmen von den eigenen Mitarbeitern wenig geschätzt wird und es Unzufriedenheit mit der Arbeitssituation sowie dem Management gibt und der Arbeitgeber eine Spirale in Gang gesetzt hat, die von Demotivation, innerer Kündigung bis hin zur Fluktuation aus dem Unternehmen geht? Kann eine Markenbildung des Unternehmens gelingen, wenn es für ein Unternehmen schwierig ist, kompetente Fachkräfte für ein Unternehmen zu rekrutieren und daran zu binden? – Ist man dann wirklich auf dem Weg zur Markenbildung? Die Mitarbeiter sind es doch, die das Unternehmen mit ihrem fachlichen Know-how und ihrem Leistungsspektrum am besten kennen und beurteilen können. Und es sind auch die Mitarbeiter, die das Unternehmen in der Struktur, in den Ablaufprozessen und im Management als veraltet oder auch sogar als ,inkompetent‘ erleben und erfahren. Wie kann man eine Marke in den Köpfen der potenziellen Kunden/Patienten und in der Bevölkerung verankern, wenn selbst die Mitarbeiter nicht von dem Unternehmen überzeugt sind? Mitarbeiter sind Botschafter des Unternehmens. Sie spiegeln gewollt oder ungewollt die Situation und den Zustand des Unternehmens wider.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. K. Schottler, Internal Branding im Krankenhaus, Vallendarer Schriften der Pflegewissenschaft 6, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31072-1_1

2

1 Einleitung

Hier geht die Vorstellung über das ,Was man nach außen vorgibt, sein zu wollen‘ und über das ,Was man tatsächlich ist‘ weit auseinander. Bei dieser Widersprüchlichkeit wird den professionellen Fachkräften erst recht vor den Kopf gestoßen, was die oben erwähnte Spirale in Gang setzt. Diese erlebte Widersprüchlichkeit war Anlass für die Auswahl des Themas. 1.2 Begründung und Relevanz des Themas Durch die Ökonomisierung des Gesundheitssystems befinden sich die Krankenhäuser in einem starken Wandlungsprozess hin zu Wirtschaftsunternehmen. Wirtschaftlichkeitserwägungen und wirtschaftliche Effizienzbetrachtung1 stehen im Fokus bei der Leistungserstellung und -beurteilung. Hierdurch befinden sich die Unternehmen zunehmend in einem Spannungsfeld, das von den fachlichen (medizinisch-pflegerischen) und ethischen Notwendigkeiten in der Patientenversorgung bis hin zu der Anpassung an die marktwirtschaftlichen Bedingungen bzw. die ökonomischen Anforderungen reicht. Durch die unterschiedlichen Interessen und Perspektiven löst dieses Spannungsfeld auf der Organisationsebene durch Widerstände Konfliktfelder aus.2 Die Einführung der DRG (in den letzten 20 Jahren) hat das Krankenhaus als Organisation mit seinen Arbeitsbedingungen, seiner Zielausrichtung und seiner Kultur stark verändert. Diese Veränderungen spüren alle Professionals, gemeint sind hier die professionell agierenden Berufsgruppen in der Medizin und in der Pflege3, die innerhalb des Kernauftrags des Krankenhauses arbeiten. Sie erleben bspw. die Kostensparmaßnahmen, die zu erfüllenden Leistungsquoten in den einzelnen Abteilungen oder andere Rationierungstendenzen, die auch die Leistungsangebote für die Patienten betreffen. Von den Spar- und Rationaliserungsmaßnahmen in den Krankenhäusern ist auch insbesondere der professionelle Pflegeberuf als Teilgruppe der ,Professionals‘ betroffen. Ursachen hierfür sind, dass der Anteil der Personalkosten an den Gesamtkosten des Krankenhausbetriebs bis zu 70 % beträgt und zahlenmäßig der Pflegeberuf die stärkste vertretene Berufsgruppe darstellt. Hinzu kommt, dass

1 2 3

Vgl. Friesacher 2008, S. 119 Vgl. Slotala 2011, S.13ff. Anmerkung: Mit Professionals sind alle professionell agierenden Berufsgruppen in der Medizin und in der Pflege gemeint. Im weiteren Verlauf der Dissertation wird von Professionals gesprochen.

1.2 Begründung und Relevanz des Themas

3

der Behandlungsgrund und die Abrechnungsgrundlage sich auf die medizinischen Diagnosen beziehen und somit die medizinischen Leistungen im Vordergrund stehen. Auch fällt es dem professionellen Pflegeberuf schwer, seinen Beitrag zum Behandlungserfolg aufzuzeigen und durch fehlende Leistungs-Erfassungsnachweise nicht richtig darstellen zu können. Dies löst, um dem Kostendruck zu begegnen, ein verbreitetes Handlungsmuster der Krankenhausmanager aus, nämlich kurzfristige Kosteneinsparungen vor allem am professionellen Pflegeberuf vorzunehmen. Das bedeutet, dass vor allem der professionelle Pflegeberuf zunehmend im Krankenhaus aus Kostengründen fast ,totgespart‘ wird, durch eklatanten Stellenabbau, systematisch dequalifiziert und somit an die Seite gedrängt wird. Nach dem §2, Abs.1 des KHG4 sind Krankenhäuser Einrichtungen, in denen vor allem ärztliche und pflegerische Fachleistungen angeboten werden. Für den Kernauftrag des Krankenhauses sind die professionell Agierenden in der Medizin und in der Pflege zentral bedeutsam und bilden das Fundament für ihre organisationale Existenz. Der professionelle Pflegeberuf mit seiner charakteristischen Problemlösungskompetenz ist von großer Bedeutung in der Patientenversorgung und innerhalb der Behandlungsprozesse, da er mit dieser Ressource an den wichtigen Kernprozessen (den Leistungserstellungsprozessen) eines Krankenhauses beteiligt ist. Gemeint sind die Kernprozesse der Patientenaufnahme und Bedarfserhebung des Patienten, der verschiedenen diagnostischen Prozesse, der Behandlungsprozesse (welche wiederum die Vorbereitung, teilweise die Durchführung und die Nachsorge betreffen) sowie im wichtigen Prozess der Entlassung. Somit verantwortet der professionelle Pflegeberuf durchaus einen wichtigen Anteil am Erfolg des Genesungsprozesses und der Behandlungsqualität. Dies ist jedem klar, sobald er ein Krankenhaus betritt. Der Pflegeberuf ist die Schalt- und Koordinationszentrale im interdisziplinären therapeutischen Team, arbeitet an entscheidenden Schnittstellen innerhalb des Unternehmens und es ist der Beruf mit dem zeitintensivsten und engsten Kontakt zum Patienten. Die Bedeutung des Pflegeberufs im Krankenhaus ist groß und sehr vielschichtig. Dies belegen auch Studien, welche die Auswirkungen von zufriedenen professionellen Pflegemitarbeitern zeigten, denn sie „beeinflussen die Qualität der Patientenversorgung, 4

Anmerkung: Krankenhäuser sind „Einrichtungen, in denen durch ärztliche und pflegerische Hilfeleistung Krankheiten, Leiden oder Körperschäden festgestellt, geheilt oder gelindert werden sollen oder Geburtshilfe geleistet wird und in denen die zu versorgenden Personen untergebracht und verpflegt werden können.“ (Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz 2019)

4

1 Einleitung

welche sich z.B. auch in den geringeren Komplikations- und Mortalitätsraten zeigt (McHugh, 2013), und haben geringere Fehlerraten und kürzere Liegedauern als ihre Konkurrenten (Desmedt, 2012)“5 Die professionelle Pflege hat einen großen Einfluss auf die ,kollektiven Ziele‘ und den Unternehmenserfolg, und somit auch auf die qualitativen und ökonomischen Ziele im Krankenhaus. Es sind die Professionals, die direkten Patientenkontakt haben und am Kernauftrag des Krankenhauses arbeiten. Sie arbeiten in der sogenannten ,Kundenkontaktmembran‘ und innerhalb der ,Wertschöpfungskette‘. Damit ein Krankenhaus seinen Kernauftrag erfüllen kann, braucht es Professionals, die hoch kompetent, verantwortungsbewusst und engagiert in Teams arbeiten können. Die Qualitätsparameter innerhalb der Kernleistungen hängen in einem Krankenhaus von diesen Professionals ab. Ein Krankenhaus braucht Professionals mit hohem Empowerment, die sich an den kollektiven Zielen einer Organisation orientierten können und bereit sind, gerne ihre Arbeitskraft, ihr Wissen und Können in den Dienst der Organisation Krankenhaus stellen wollen. Und genau diesen professionellen Fachkräften, den ,Professionals‘ geht im Alltag die Luft aus, sie sehen keine Zukunft für ihr professionelles Handeln im Arbeitsalltag und ihre Profession. Die Kostendämpfungsprogramme haben mittlerweile in vielen Krankenhäusern das Expertenwesen, die für das professionelle Handeln notwendigen Rahmenbedingungen, die Kultur und das Wissen genommen. Die Fluktuation der professionellen Fachkräfte aus dem Krankenhaus und aus dem Beruf hat inzwischen dramatische Züge angenommen. Einige Krankenhäuser und Gesundheitseinrichtungen müssen ihr Leistungsangebot kürzen, weil sie keine Professionals mehr haben. Diese Entwicklung ist in manchen Krankenhäusern besorgniserregend. Die Ursache hierfür ist vielfältig, jedoch gibt es einen Zusammenhang mit den Zielen der Organisation, der Unternehmensführung und dem Management sowie der Personalführung. Wenn durch einseitige und ideenlose Kostendämpfungsprogramme diesem charakteristischen Kernauftrag der Boden genommen wird, stellt sich die Frage nach der Existenzberechtigung eines Krankenhauses. Diese können daher nicht die alleinige Antwort auf den Wandel sein. Ein nur ,billig‘ kann Krankenhäusern keine Existenz sichern. Die Konsequenzen und negativen Folgen für die Patienten in ihrem Erleben von Krankheit sowie für die Arbeitsorganisation der Pflegenden und Ärzte im

5

McHugh 2013, Desmedt 2012, zit.n. Hänel 2015 – Online-Dokument

1.2 Begründung und Relevanz des Themas

5

stationären wie ambulanten Bereich durch die wettbewerblichen Regulierungen im Gesundheitswesen sind in zahlreichen Studien belegt.6 Das Thema ,Fachkräftemangel in der Pflege‘ ist inzwischen so dramatisch, dass es eine Gegenbewegung auslöst, welche die Mitarbeiterzufriedenheit in den Einrichtungen wieder stärker fokussiert. Dabei wird die Bedeutung des professionellen Pflegeberufs mithilfe von ,Professionalitäts- und Excellence-Offensiven‘ wiederentdeckt. Mittlerweile besteht ein spezieller Handlungsdruck, der in der Wahrnehmung der Politik und vor allem auch bei den Stakeholdern angekommen ist. Mit einem aufeinander abgestimmten Aktions-Mix7 soll dem Fachkräftemangel begegnet werden. Mit diesem Aktions-Mix wird vor allem die Akquise, also der Zufluss von neuen Berufsbewerbern zur beruflichen Qualifizierung, fokussiert. Dies wird dauerhaft nicht die gewünschte Wirkung zeigen, wenn nicht gleichzeitig für den Verbleib und die Bindung innerhalb des Berufs und in den Organisationen gesorgt wird. Doch das große Problem des Fachkräftemangels ist nicht nur der Rückgang von Ausbildungsbewerbern, sondern auch der Verbleib innerhalb des Unternehmens oder gar der Verbleib innerhalb des Berufs. Die europäische NEXT-Studie aus dem Jahr 2005 zeigt auf, dass Pflegekräfte durchaus in ihrem Beruf weiter tätig bleiben wollen, wenn die Organisati-

6 7

Vgl. Manzei/Schmiede 2014, S.12 Anmerkung: Der Aktions-Mix enthält: „Verstärkte Ausbildungsanstrengungen und eine bedarfsorientierte Erhöhung der Ausbildungskapazitäten sollten durch einen frühen Kontakt zur Zielgruppe flankiert werden, der zu einer realistischen Einschätzung über die Erfordernisse und einem Überblick über die möglichen Perspektiven im Berufsfeld beiträgt. Die Erschließung des Nachqualifizierungspotenzials gelingt, wenn im Vorfeld wesentliche Rahmenbedingungen, wie die Freistellung der Teilnehmer/innen und Praxisanleiter/innen, die Unterstützung von Führungs- und Lehrkräften sowie das Herstellen lernförderlicher Bedingungen antizipiert werden. Qualifizierungsmaßnahmen für Menschen mit Migrationshintergrund gelingen leichter, wenn der Zugang aus dem gleichen kulturellen Hintergrund, u.a. auch über persönliche Kontakte, erfolgt und die Begleitung bedarfsorientiert gestaltet wird. Die Wiedereinstiegsqualifizierung für die stille Reserve gelingt eher, wenn Angebote individualisiert ausgerichtet sind. Weiterbildungsförderung und Umschulung durch die Agenturen für Arbeit, die gemeinsamen Einrichtungen nach SGB II und die zugelassenen kommunalen Träger nach SGB II sind erfolgreicher, wenn die Angebote sozialpädagogisch begleitet werden.“ (Stemmer/Mack/ Schimanski-Kahle 2017, S. 61 – Online-Dokument)

6

1 Einleitung

onen des Gesundheitswesens ihnen Unterstützung zur Verbesserung der Ausfüllung der täglichen Berufspraxis anbieten würden. Dabei belegen die Studien-Ergebnisse eindeutige Zusammenhänge von Arbeitsbedingungen bzw. gesundheitlicher Endpunkte, die durch individuelle Ressourcen, Anforderungen am Arbeitsplatz, soziale Aspekte und Arbeitsorganisation beeinflusst werden.8 „Die Tatsache, dass es den Studienergebnissen zufolge in Deutschland ,attraktive‘ und ,unattraktive‘ Einrichtungen im Gesundheitswesen gibt, ermöglicht somit eine offene Diskussion über eine Einflussnahme auf die Endpunkte und die damit verbundenen Voraussetzungen gezielter Maßnahmen, um wirksame Veränderungen einzuleiten. Auch im internationalen Kontext weisen Studienergebnisse9 einen deutlichen Zuwachs von Identifikationskonflikten nach, die sich durch eine erlebte Dissonanz des betreuenden Personals abzeichnen. Hier führen innere Konflikte zwischen den ethischen Anforderungen ihrer Profession und einer zunehmenden Orientierung des Handelns an den Sachzwängen ökonomischer Logiken zu Einbußen der Motivation und Zufriedenheit am Arbeitsplatz.“10 Viele Organisationen haben als Reaktion auf den beginnenden Ökonomisierungsdruck in den letzten beiden Jahrzehnten ihren Identitätskern verloren und tun sich sehr schwer, sich auf diesen im Management von Gesundheitseinrichtungen zu besinnen. Stattdessen brauchen Professionals nach ihrem beruflichen Verständnis Rahmenbedingungen und ein Management, das ihr professionelles Handeln als zentrale Kern-Ressource wiederentdeckt und die Ziele des Unternehmens zur Förderung der Professionalität der Fachkräfte danach ausrichtet. Es braucht ein konsequentes Umdenken, einen Paradigmenwechsel, um die Professionals (den professionell Agierenden in der Medizin und in der Pflege) für das Unternehmen begeistern und überzeugen zu können. Diese Dissertation fokussiert die ,Professionals‘, den professionell Agierenden in der Medizin und in der Pflege in der Organisation Krankenhaus. Somit ist dieses Thema für die Fakultät der Pflegewissenschaft in der PTHV von Interesse 8 9

10

Vgl. Hasselhorn et al. 2005 – Online-Dokument Anmerkung: „Eine Studie zur beruflichen Sozialisation von Pflegenden in der psychiatrischen Pflege aus dem Jahre 2011 in England untersuchte den Einfluss von Werten in ihrer Wirkung auf die Pflegepraxis der Pflegenden. Ergebnisse dieser Studie zeigen eindeutig, dass Pflegende in einen inneren Konflikt geraten, wenn sie ihre Werte durch organisatorische Sachzwänge in der Pflegepraxis nicht zum Ausdruck bringen können. Geringe Zufriedenheit am Arbeitsplatz und eine hohe Fluktuation sind die Folgen.“ (vgl. Stacy et al. 2011, zit.n. Schloeder 2017, S. 20) Schloeder 2017, S. 19

1.3 Fragestellung und Zielsetzung der Arbeit

7

und es reiht sich in die pflegewissenschaftlichen Dissertationsthemen rund um die Kultur, Ethik und Selbstverständnis sowie Wertehorizonte des Pflegeberufs ein. 1.3 Fragestellung und Zielsetzung der Arbeit Das Thema ist ein wissenschaftlich sehr breit gefächertes Thema, das über viele verschiedene wissenschaftliche Disziplinen hinweg verankert ist. Die wissenschaftliche Breite geht von der Philosophie, den klassischen sozialwissenschaftlichen Disziplinen wie Soziologie, Psychologie, Pädagogik bis hin zu den betriebswirtschaftlichen Disziplinen wie Personalwirtschaft, Human Resource Management, Marketing und Führung, Qualitätsmanagement und Organisationsentwicklung. Der Blick in die Literatur hat gezeigt, dass das Thema partiell in viele einzelne Fragmente und Unterthemen in den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen hinweg verstreut aufzufinden ist. Was nicht vorzufinden ist und daher eine wissenschaftliche Lücke darstellt, ist eine in diesem Zusammenhang dargestellte Abhandlung, die sich mit der Identifikation von Professionals mit ihrem wissensintensiven Dienstleistungsunternehmen als Voraussetzung für eine erfolgreiche organisationale Markenentwicklung von Krankenhäusern beschäftigt. Die Literatur der Markenentwicklung und des -managements betont in der Regel die Marketingperspektive und beschreibt den Prozess der Markenentwicklung, nicht aber den Prozess der Organisationsentwicklung, der eine Identifikation mit der organisationalen Identität überhaupt erst ermöglicht – also den Prozess, bevor es zur Markenentwicklung kommen kann. Doch wie geht das? Was bedeutet das für das Management, sich als Krankenhaus auf dem Markenmarkt zu befinden? – Welche Konsequenzen auf die Managementmethoden und Konzepte hat dies? Professionals sind immer Botschafter für ihr Unternehmen, ob negativ oder positiv! Immer, wenn sie am Patienten ihre Dienstleistung durchführen, kommunizieren sie indirekt oder direkt über ihr Unternehmen. Was muss geschehen, dass Fachkräfte für ein Unternehmen brennen und sich durch ihren Stolz auf das Unternehmen nach außen als selbstverständlich intrinsisch motivierte Botschafter, also als Markenbotschafter präsentieren – und zwar freiwillig. Gibt es überhaupt eine gemeinsame Schnittmenge zwischen den Fachkräften und dem Unternehmen?

8

1 Einleitung

Im Kern geht es in der Dissertation um folgende Fragestellungen: F1

Worin liegt die Notwendigkeit und die Chance der Markenentwicklung von Krankenhausmarken als Unternehmensmarke?

F2

Wie wirkt eine Dienstleistungsmarke und was sind die markentheoretischen Hintergründe und Zusammenhänge einer erfolgreichen Krankenhausmarke?

F3

Welche Identitätskonstrukte gibt es, wie erklären sie sich und welche Zusammenhänge und Bedeutungen gibt es bei der Identitätsbildung und der Identifikation von Professionals mit einem Unternehmen?

F4

Welche organisationstheoretischen Hintergründe und Zusammenhänge begründen den organisationalen Identitäts-Kern eines Krankenhauses und welche Rolle spielen dabei die professionellen Fachkräfte?

F5

Wie kann man die Identifikation der Professionals mit ihrem wissensintensiven Dienstleistungsunternehmen ,Krankenhaus‘ fördern, dass sie als intrinsisch motivierte Markenbotschafter für das Unternehmen wirken können. Welche konzeptionellen Ansätze, Zusammenhänge und Synergien wirken identitätsstiftend und identifikationsfördernd und können somit als Managementmodell in der Führung von Dienstleistungsunternehmen im Gesundheitswesen Beachtung finden?

Die Zielsetzung und zugleich der Mehrwert der wissenschaftlichen Abhandlung und Arbeit bestehen neben der Darstellung der Zusammenhänge und des Begründungsrahmens auch in einer Modell-Entwicklung. Anhand des Identitäts-Kerns werden die identitätsstiftenden Emergenzfaktoren und die identifikationsfördernden Dispositionen fokussiert und die daraus resultierenden Konsequenzen für das Management in einem entwickelten Identitäts-Emergenz-Modell (migIEModell) in Zusammenhang gebracht und dargestellt. 1.4 Vorgehen und Aufbau der Arbeit Der inhaltliche Aufbau der Literaturarbeit orientiert sich an den zentralen Fragestellungen. So beginnt das Thema mit dem 2. Kapitel, welches der Einbettung des Themas in den aktuellen Kontext der Wettbewerbssituation im Gesundheits-

1.4 Vorgehen und Aufbau der Arbeit

9

wesen und speziell für den Krankenhaussektor dient. Der Druck der Industrialisierung und Ökonomisierung im Gesundheitswesen zwingt die Krankenhäuser zum Wandel. Der Begründungsrahmen für die Notwendigkeit zur Markenentwicklung im Gesundheitswesen wird aufgezeigt und als Wettbewerbschance bergründet. Marken und Markenbildung sind sehr komplex. Im 3. Kapitel ist es daher wichtig, den markentheoretischen Hintergrund bei Dienstleitungsmarken zu beleuchten. Dabei geht es im Kern um die Klärung, was hinter einer erfolgreichen Marke (Dienstleistungsmarke) und ihrer Magie steckt. Die Darstellung der Zusammenhänge ihrer Funktionsweise, ihrer Nutzendimensionen und der sozialpsychologische Hintergrund führen zum Erklärungshintergrund für den Ansatz der ,identitätsorientierten Markenführung‘ als gültigen Markenentwicklungsansatzes für Dienstleistungsunternehmen. Die Unternehmensmarke und die dazugehörigen Konzepte stehen weiter in der thematischen Auseinandersetzung, die in der Bedeutung der Mitarbeiter für eine starke erfolgreiche Markenbildung eines Dienstleistungsunternehmens mündet und ein theoretisches Fundament für unternehmensinterne Erfolgsfaktoren für die Markenbildung liefert. Die Bedeutung und Notwendigkeit der Mitarbeiter als Markenbotschafter wird in Zusammenhang mit einer erfolgreichen Marke gebracht und herausgearbeitet. Für Organisationen ist es wichtig, an ihrer organisationalen Identität zu arbeiten, damit sie von ihren Mitarbeitern als interne Anspruchsgruppe, mit dem Ziel der Identifikation, positiv wahrgenommen wird. Hierzu muss im 4. Kapitel der Arbeit das Konstrukt der Identität im Mittelpunkt der weiteren Betrachtung stehen. Es geht um die verschiedenen Identitäten, die bei der Markenbildung im Austausch zueinander sind. Mit einer intensiven und breiten sozialwissenschaftlichen Betrachtung des Konstrukts der Identität wird eine theoretische Basis geschaffen, in welcher die Fragen der Identitätsbedeutung, der Identitätsformen, der Identitätsentwicklung und die Passungsmöglichkeiten aufgezeigt und herausgearbeitet werden. Um als Organisation eine Unternehmensmarke aufbauen zu können, ist es wichtig, den eigenen Identitätskern zu definieren. Im 5. Kapitel geht es um die Suche nach dem organisationalen Identitätskern eines Krankenhauses. Hierzu stehen die organisationstheoretische Perspektive eines Krankenhauses und die Perspektive des professionellen Expertentums im Mittelpunkt der Betrachtung. Bei der Suche eines möglicherweise ,kodierten‘ Identitätskerns des Krankenhauses wird auch die Problematik der unterschiedlichen Wirklichkeiten berücksichtigt.

10

1 Einleitung

Mit dem im Resümee des 5. Kapitels beschriebenen ,kodierten‘ Identitätskern für Krankenhäuser geht es im letzten, dem 6. Kapitel, um Management und Führungs-Grundlagen, Konzepte und Ansätze, die eine Identifikation von Professionals mit dem Krankenhausunternehmen hervorbringen und ermöglichen können. Um den ,kodierten‘ Identitätskern zur Wirkung kommen und für die professionellen Mitarbeiter erlebbar werden zu lassen, werden in einem entwickelten multifokalen integrativen ganzheitlichen Identifikations-Emergenz-Modell, dem migIE-Modell, die Emergenzfaktoren und die notwendigen Management- und Führungsgrundlagen zur Förderung der Identifikation von professionellen Mitarbeitern beschrieben. Ohne diese Grundvoraussetzung und grundsätzliche Ausrichtung des Managements und der Führung wird eine identitätsorientierte Markenbildung nicht erfolgreich sein, da die Identifikationsbasis der professionellen Mitarbeitern mit dem Unternehmen Krankenhaus nicht ausreichend existiert. Die einzelnen Kapitel beginnen jeweils mit einer näheren Beschreibung und Erläuterung bzgl. ihrer detaillierten Zielsetzung und Struktur. Auch enden die einzelnen Kapitel jeweils mit dem inhaltlichen Erkenntnisgewinn in Form von hervorzuhebenden Befunden und einem Resümee des Kapitels. Die Beschreibung des Aufbaus der Arbeit wird durch die folgende Abbildung visuell unterstützt.

1.4 Vorgehen und Aufbau der Arbeit Abbildung 1:

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Inhalt und Aufbau der Arbeit (Quelle: eigene Darstellung)

Das Krankenhaus als Marke Druck der Industrialisierung und Ökonomisierung zwingt zum Wandel

Markenentwicklung als Wettbewerbschance

Markentheoretischer Hintergrund – health care Brandings services Komplexe Die erfolgreiche Die Magie der Marke Grundlagen der Sichtweise des Dienstleistungsmarke als sozialpsychologi- Markenführung Markenbegriffs sches Phänomen im Krankenhaussektor

Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz des Konzepts Corporate Branding

Identität und Habitus – soziale Prozesse zwischen Individualisierung und Vergesellschaftlichung Identität – elastische Die ,ausbalanDeutungen aus multidis- cierte‘ Identität ziplinärer Perspektive

Berufliche Identität und professioneller Habitus und deren Entwicklung durch Sozialisationsprozesse

Die Konstrukte der Unternehmensidentität und der organisationalen Identität – zwei Seiten einer Medaille

Das Krankenhauswesen und die Suche nach dem organisationalen Identitätskern Das Krankenhaus und seine klassische organisationale Zuordnung

Professionalität, Expertentum und Das Dilemma der UngleichKönnerschaft als Ausdruck und Er- heit in der Reproduktion der wartung sozialen Wirklichkeit

Emergenzfaktoren der organisationalen Identität, ihre Identifikationsdispositionen und die Konsequenzen für das Management Das multifokale integrative ganzheitliche Identitäts-Emergenz-Modell (MIGIE-Modell) zur organisationalen Identitätsentwicklung und Identifikationsentwicklung Kultur schafft Identität und Identität ermöglicht Identifikation

Vertrauen und Verantwortung als kultureller Identifikationstreiber

Vertrauenskulturen beginnen mit der Führungskultur

Wertegeleitete Beziehungs- und Kommunikationskultur als zentraler Emergenzfaktor

Identität und Identifikationstreibende Verknüpfung von Individuum und Organisation

Qualitätsgarantie als fest verankertes Versprechen

Wertschätzung des Wissens und des Expertentum als Kernidentität der wissensintensiven Expertenorganisation

2 Das Krankenhaus als Marke

Marken haben eine starke Kraft und Macht und sie begleiten uns von Beginn unseres Lebens. Schon im Kindesalter wachsen wir mit Marken, wie z.B. ,Pampers‘ oder ,Hipp‘ auf. Spätestens wenn wir etwas älter sind und aktiv vor der Wahl eines Produkts oder auch einer Dienstleistung stehen, beeinflussen sie uns in unserer Entscheidung. Und selbst wenn wir ein Produkt nicht benutzen, hat sich doch der Markenname eingeprägt, bleibt uns dieser in Erinnerung. Die Marke hat sich in unsere Erinnerung hineingebrannt. Wenn wir an Reisen denken, ist der Name TUI nicht weit, oder auch jeder weiß beim Thema Schokolade, was hinter dem Slogan ,quadratisch-praktisch-gut‘ steckt. Auch erkennt man gleich, welche Creme gemeint ist und wie sie riecht, wenn man von der ,Creme in der blauen Dose‘ spricht. Zugegeben, die Begriffe ,Marke‘ und ,Krankenhaus‘ passen im ersten Moment nicht zusammen, denn den Begriff ,Marke‘ ist man eher aus dem Bereich der Konsumgüter gewohnt. Ist es deshalb nicht eine kulturelle Verunglimpfung, das Krankenhaus als Gesundheitsdienstleistungs-Einrichtung‘ in die Nähe des Markenbegriffs zu stellen? Also beispielsweise eine ,Gesundheitsdienstleistung‘ und das Produkt ,Coca Cola‘ gemeinsam in die Kategorie ,Marke‘ zu platzieren und zu vergleichen? Nein, denn Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen konstituieren einen Markt und verfolgen darin wirtschaftliche Interessen. Und zur Durchsetzung dieser Interessen gehört ein professionelles Marketing, welches ein professionelles Markenmanagement installiert hat. Dies ist heute zum einen notwendig, zum anderen aber auch Teil einer zeitgemäßen und vorausschauenden Unternehmensstrategie, denn der Gesundheitsdienstleistungsmarkt einschließlich des Arbeitsmarkts im Gesundheitswesen befindet sich durch eine veränderte Markt- und Wettbewerbskonstellation in einer sehr starken Umbruchsituation, die eine große Herausforderung an die Markenführung im Dienstleistungsmarkt des ,Health Care Services‘ darstellt.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. K. Schottler, Internal Branding im Krankenhaus, Vallendarer Schriften der Pflegewissenschaft 6, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31072-1_2

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2 Das Krankenhaus als Marke

Branding ist über seinen wirtschaftlichen Ursprung hinausgewachsen, dass sich sein gesellschaftlicher und kultureller Einfluss nicht mehr messen lässt. Der Aktionsspielraum der Markenbildung hat das Bildungswesen (Universitäten), den Sport, den Tourismus, die Kunst, das Theater und den Wohltätigkeitssektor erfasst und breitet sich regional, national und global aus. Branding wird ein immer beliebteres Werkzeug von gemeinnützigen (Non-Profit-) und sozialen Unternehmen, die um die Kunden konkurrieren und diese für sich gewinnen wollen.11 „Und diese Entwicklung wird die meisten Marken besser, wirkungsvoller und stärker machen.“12 Diese Wichtigkeit der Marken für den Kunden erklärt Olins Wally mit: „Wir lieben unsere Marken. Wir würden sie nicht nachfragen/wählen, wenn es nicht so wäre.“13 Das erste Kapitel dient der Einbettung des Themas in den aktuellen Kontext der Wettbewerbssituation im Gesundheitswesen und speziell für den Krankenhaussektor. Die Relevanz zeigt sich durch den Druck der Industrialisierung und Ökonomisierung im Gesundheitswesen, der Krankenhäuser zum Wandel zwingt. Im ersten Teilkapitel wird die Notwendigkeit der Markenentwicklung im Gesundheitswesen aufgezeigt und im zweiten Teilkapitel die Markenentwicklung als Wettbewerbschance bergründet. 2.1 Druck der Industrialisierung und Ökonomisierung zwingt zum Wandel Das Gesundheitswesen und somit vor allem auch die Krankenhäuser14 gehören zu den bedeutenden Wirtschaftsfaktoren und stellen einen der leistungsstärksten Jobmotoren in Deutschland dar.15 Doch die Krankenhäuser befinden sich zurzeit in einem radikalen Wandel. Die vorherige klassische traditionelle Struktur, Krankenhäuser als verwaltungsorientierte Versorgungsbetriebe zu sehen, hat seit einiger Zeit ausgedient.16 Dieser Organisationswandel im Krankenhaussektor

11 12 13 14 15 16

Vgl. Meffert 2009, S. 241 Olins 2004, S. 207 Olins zit.n. Meffert 2009, S. 242 Anmerkung: Die Zahlen des statistischen Bundesamtes belegen, dass die größte Anzahl des Gesundheitspersonals in den Krankenhäusern arbeitet. (Statistisches Bundesamt 2018) Vgl. Debatin 2006, S. 83 Vgl. Grossmann 1997, S. 39

2.1 Druck der Industrialisierung und Ökonomisierung zwingt zum Wandel

15

wurde durch die Reformen der Krankenhausvergütung ausgelöst. Mit der Einführung der diagnosebezogenen Fallpauschalen, des DRG-Systems (Diagnosis Related Groups) veränderte sich eine Umstellung der Finanzierungsstrukturen und diese wirken hierbei als zentrale Ökonomisierungs- und Industrialisierungsfaktoren.17 Krankenhäuser sind jetzt Wirtschaftsunternehmen. Sie müssen daher ökonomisch wirtschaften und in Märkten- und Wettbewerbsstrukturen agieren und sich positionieren. Verstärkt rücken Kostenbewusstsein, Qualitätskontrolle sowie Kunden- und Mitarbeiterorientierung in den Mittelpunkt des Managements.18 Durch Preistransparenz und gleichzeitige Verpflichtung der Krankenhäuser zur Leistungstransparenz in Form von Qualitätsberichten wurden durch den Gesetzgeber grundlegende Voraussetzungen für einen funktionierenden Wettbewerb (Preis- und Qualitätswettbewerb) unter den Krankenhäusern geschaffen. Dem informierten Patient ist es nun möglich, vor seiner Behandlung zwischen verschiedenen Anbietern auszuwählen und die Krankenhäuser zu vergleichen. Dabei verändern sich die Bedürfnisse der Patienten zunehmend schneller und werden anspruchsvoller.19 Gekennzeichnet ist der Gesundheitsmarkt durch die Konsolidierung von Krankenhäusern, einem zunehmenden Konzentrationsprozess und Privatisierung sowie durch veränderte Wettbewerbs-/Marktstrukturen. Charakteristische Merkmale sind ebenso die Ausweitung des Leistungsangebots, z.B. durch die Integration von Lifestyle-Anwendungen in die klassischen Krankenhausleistungen und die Zunahme der Selbstbeteiligungsfinanzierung.20 Das Spannungsfeld, in dem Krankenhäuser sich derzeit und zukünftig befinden, beschreibt Debatin (2006) wie folgt: Krankenhäuser müssen sich „bei knappen Ressourcen einem rasch an Intensität zunehmenden Qualitäts- und Leistungswettbewerb stellen. Das Unternehmen ,Krankenhaus‘ steht wie kein anderer Wirtschaftsbetrieb im Spannungsfeld medizinischer, ethischer sowie ökonomischer Herausforderungen.“21 Auch kämpften Krankenhäuser auf zwei Märkten um ihre Wettbewerbs-Positionierung. Einerseits steht der Wettbewerb um den Patienten als Kunden (Absatzmarkt) sowie andererseits der Wettbewerb um 17 18 19 20 21

Vgl. Iseringhausen/Staender 2012, S. 186 Vgl. Grossmann 1997, S. 24 Vgl. Debatin 2006, S. 83 Vgl. Debatin 2006, S. 84 Debatin 2006, S. 83

16

2 Das Krankenhaus als Marke

die besten Experten, also die besten Mediziner und die besten medizinischen und pflegerischen Fachkräfte im Fokus (Arbeitsmarkt). Der starke Kostendruck durch das DRG-System hat in den Krankenhäusern zu einem ,Kostensenkungs-Wettbewerb‘ geführt, mit zum Teil erheblichen negativen Auswirkungen. So erreichen zum Beispiel Krankenhäuser Kostenvorteile, die überproportional viele Stellen abgebaut haben. Dagegen werden Krankenhäuser durch die an den Durchschnittskosten orientierten DRG-Fallpauschalen wirtschaftlich bestraft, wenn sie eine qualitativ und quantitativ hochwertige Personalausstattung vorhalten. Richtwerte für eine angemessene oder bedarfsgerechte Personalausstattung, die dieser Entwicklung entgegenwirken und die Wettbewerbsposition qualitätsorientierter Krankenhäuser stärken, gab es im Krankenhaussektor bis 201922 nicht.23 Die früheren Vergütungsregeln dienten dazu, den Kliniken versorgungsnotwendige Mittel zuzuführen und die Einrichtungen des Gesundheitswesens konnten sich weitgehend auf eine breite Akzeptanz traditioneller medizinischer Werte stützen.24 Die ärztliche und pflegerische Personalbesetzung in Krankenhäusern zählt eigentlich zu den wichtigsten Elementen der Strukturqualität im Krankenhaus. Jedoch besonders im professionellen Expertenbereich des Pflegeberufs hat es in den letzten Jahren einen besonders starken und effektiven Abbau in den qualitativen und quantitativen Personalkapazitäten gegeben, dessen Abwärtsspirale noch kein Ende hat. Im Gegensatz zu den Pflegestellen sind im ärztlichen Berufsbereich die Stellen zwar angestiegen, jedoch können viele Kliniken die prinzipiell zu besetzenden Stellen in beiden Berufsbereichen nicht besetzen, da es auf dem Arbeitsmarkt einen Mangel an diesen beiden Berufsbereichen gibt. Zu dieser Problematik kommt hinzu, dass gleichzeitig eine Arbeitsverdichtung durch die Senkung der Verweildauer in der Realität zu verzeichnen ist. Besonders prekär ist diese Entwicklung, da es genau die Kernleistungen und die patientennahen Leitungen des Unternehmens sind und diese Entwicklung mit hoher

22

23 24

Anmerkung: Am 01.01.2019 trat eine durch das Bundesgesundheitsministerium erlassene Verordnung zu ,Personaluntergrenzen im Krankenhaus‘ von professionellen Pflegekräften in Kraft. (Bundesministerium für Gesundheit 2019) Hierzu gibt es massive Vorbehalte über die ,angemessene und bedarfsgerechte Personalausstattung‘, da es keine empirischen Messinstrumente für die ,Pflegelast‘ gibt und die Gefahr besteht, dass man sich bei den Untergrenzen an den ,Schlechtesten‘ orientiert. (Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin 2018) Vgl. Simon 2008, S. 116 Vgl. Iseringhausen/Staender 2012, S. 188

2.1 Druck der Industrialisierung und Ökonomisierung zwingt zum Wandel

17

Wahrscheinlichkeit unmittelbare Auswirkungen auf die Qualität der Patientenversorgung hat.25 „Die Ergebnisse der internationalen Forschung weisen darauf hin, dass eine Erhöhung der Arbeitsbelastung und Verschlechterung der Betreuungsrelation im Pflegedienst der Krankenhäuser negative Auswirkungen auf die Ergebnisqualität haben. Je mehr Patienten eine Pflegekraft im Krankenhaus durchschnittlich zu versorgen hat, desto höher ist das Risiko für Patienten, im Krankenhaus eine schwerwiegende Komplikation zu erleiden oder sogar zu versterben.“26 Durch die Kostensenkungsprogramme sind weitere Entwicklungen für den Krankenhaussektor charakteristisch. So wurden z.B. unter anderem in vielen Krankenhäusern die Budgets für Bildungsmaßnahmen zur Personalentwicklung und Organisationsentwicklung gekürzt bzw. ganz gestrichen. Somit haben sich sehr viele Krankenhäuser als Organisationen kaum weiterentwickelt und sind von den wichtigen Strukturen und Ansätzen zu einer ,wettbewerbsfähigen Organisation‘ weit entfernt.27 Niethammer (2007) macht hierauf bereits aufmerksam: „So weist beispielsweise der Dienstleistungssektor im Gesundheitswesen bereits heute entsprechende Indizien für den Mangel von Experten auf. […] Als Gründe des Rückgangs beziehungsweise des aktiven Abwanderns in Nachbarländer der medizinischen Expertise können Unzufriedenheit mit den Verdienstmöglichkeiten, schlechte Arbeitsatmosphäre und mangelhafte Arbeitsbedingungen in den Krankenhäusern genannt werden.“28 Die Zeit nach der DRG-Einführung wird durch die vielzähligen Kostensenkungsprogramme mit einem ,Management des Abschwungs‘ verbunden.29 Die Maßnahmen zur Kostendämpfung sind in vielen Krankenhäusern ausgeschöpft und führen alleine nicht zu einem erfolgreichen effizienten Unternehmen, das auf dem Markt bestehen kann. Die Akteure der Organisationen im Gesundheitswesen wie Management, Ärzte und Pflegende der Gesundheitseinrichtungen sind zukünftig aufgefordert, eine bedarfsgerechte Versorgung unter verstärkten betriebswirtschaftlichen As-

25 26 27 28 29

Vgl. Simon 2008, S. 113 Simon 2008, S. 115 Vgl. Kreutzer 2009, S. 36 Niethammer 2007, S. 38 Kreutzer 2009, S. 36

18

2 Das Krankenhaus als Marke

pekten sicherzustellen und diese gleichzeitig unter professionellen Gesichtspunkten zu organisieren, zu gestalten und als differenzierte Dienstleistung umzusetzen.30 Der Verdrängungswettbewerb und der zunehmende Konkurrenzdruck auf dem Gesundheitsmarkt zwingt den Krankenhaussektor zur Wandlung. Unter anderem rückt es den Kunden in den Mittelpunkt. Die Unternehmensführung der Zukunft wird hier ihre Perspektive ändern müssen, damit das Krankenhaus den Weg zum patienten-, qualitäts- und mitarbeiterorientierten Dienstleistungsunternehmen beschreiten kann.31 Debatin (2006) macht dies deutlich, indem er ausführt: „Durch Veränderungen der Rahmenbedingungen sowie ökonomische Zwänge (Primat der Effizienz) entwickelt sich der Gesundheitsmarkt zwangsläufig zum Markenmarkt mit allen seinen Ausprägungen. Markenkommunikation bedeutet dabei grundsätzlich Verdichtung und Konzentration. Wer im Gesundheitsmarkt wahrgenommen werden will, muss sich abheben“32 und Magnetkräfte aufbauen. 2.2 Markenentwicklung als Wettbewerbschance Der Begriff Markenbildung war bis vor kurzem noch ein Fremdwort im Management deutscher Kliniken.33 Ausgelöst durch die grundlegende Veränderung des Wettbewerbs (Verdrängungswettbewerb) gewinnt eine effektive und effiziente Markenführung auch im Dienstleistungsbereich des Gesundheitswesens zunehmend an Bedeutung. Das Dienstleistungsangebot der verschiedenen Anbieter ist für die Kunden schwer oder gar nicht zu unterscheiden. So wird die Marke zum wertvollsten Kapital der Unternehmen.34 Gerade in wirtschaftlich schwierigen 30 31 32 33

34

Vgl. Slotala 2011, S. 13 Vgl. Debatin 2006, S. 83 Debatin 2006, S. 91 Anmerkung: Dass Markenbildung bis vor kurzem noch ein Fremdwort im deutschen Klinikalltag zu sein scheint, macht die Studie, ,Hospital Branding 2005‘ von Haarmann-HemmelrathManagement-Beratung deutlich. Gegenstand der Studie war die Untersuchung der ,Markenstärke deutscher Krankenhäuser in ihrem jeweiligen regionalen Umfeld‘. ,Die Studie ,Hospital Branding 2005‘ konzentriert sich auf drei ,geschlossene‘ Krankenhausmärkte – München, Düsseldorf und Hamburg, die stellvertretend für andere deutsche Regionalmärkte untersucht wurden. Als zentrale Erkenntnis zeigt die Befragung, dass sich die untersuchten Krankenhäuser überwiegend durch einen noch geringen Markenwert auszeichnen. Nur wenige Anbieter sind in der Öffentlichkeit allgemein bekannt – die meisten Krankenhäuser werden nur von einem Bruchteil der befragten Personen spontan bzw. anhand ihres Namens wiedererkannt. In diesen Fällen ist ein Markenstatus auszuschließen. (Debatin 2006, S. 91 f.) Pförtsch/Schmid 2005, S. 261

2.2 Markenentwicklung als Wettbewerbschance

19

Zeiten mit schrumpfenden Märkten aufgrund einer hohen Wettbewerbsintensität sowie Patientensouveränität ist eine erfolgreiche Differenzierung vom Wettbewerb dringend nötig. „Je mehr Markt im Gesundheitswesen entsteht, umso mehr Wettbewerb gibt es und umso notwendiger wird es, auf verschiedenen Ebenen auf die Kundenbedürfnisse einzugehen.“35 Der Wandel steht an, denn die Marktstellung wird entscheidend über das Image- und Markenmanagement beeinflusst. Eine Marke ist ein entscheidender und komparativer Wettbewerbsfaktor. Das Marken-Management einer Klinik steht vor Herausforderungen, das komplexe Konstrukt einer Klinik sowohl nach außen als auch intern zu berücksichtigen und die Markenbotschaften zu kommunizieren. Eine Klinik besteht aus vielen Fachabteilungen mit heterogenen Zielgruppen wie Patienten und Fachpersonal. Dazu kommen zuweisende Ärzte und nicht zuletzt die Wissenschaft, regionale Politik und breite Öffentlichkeit, welche die Klinik aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten. Im Gegensatz zu Markenverantwortlichen aus der Wirtschaft haben Klinikmanager die komplexe Aufgabe, die zahlreichen und zugleich heterogenen Zielgruppen mit völlig verschiedenen Informationsbedürfnissen anzusprechen. Dafür gilt es, eine einheitlich widerspruchsfreie Gesamtpositionierung der Klinik als Unternehmens-Marke zu etablieren. Die „zunehmende Konkurrenz, steigende Werbeausgaben und -intensität sowie die wachsende Informationsüberlastung seitens der Konsumenten führen insbesondere bei Dienstleistungsmarken (aufgrund der Immaterialität und der zunehmenden Homogenität der Leistungen) zur Notwendigkeit der Differenzierung und Profilierung gegenüber den Wettbewerbern am Markt.“36 Die Markenpolitik von Dienstleistungsunternehmen stellt angesichts der Besonderheiten von Dienstleistungen einen wichtigen Erfolgsfaktor des Dienstleistungsmarketings dar. Für Patienten und potenzielle Patienten sind einerseits die angebotenen Dienstleistungen bis zu einem gewissen Grad austauschbar und andererseits sind die medizinischen und pflegerischen Leistungen der Krankenhäuser aufgrund des hohen Komplexitätsgrads oft schwer zu bewerten und zu vergleichen. Es fehlt ihnen hierbei an fachlicher Urteilsfähigkeit und an erlebter charakteristischer Unverwechselbarkeit und Identität.37

35 36 37

Grossmann 1997, S. 39 Bruhn 2008, S. 22 Vgl. Stoffers 2008, S. 7

20

2 Das Krankenhaus als Marke

Vor allem die Erfahrung und das Erleben z.B. von professionell handelnden Experten und die Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse tragen zur Reduzierung der erheblichen Komplexität bei. Diese wirken als individuelle erlebbare „Qualitätskernelemente“, die Rückschlüsse auf die „Primärqualität“ der medizinischen und pflegerischen Leistungen ermöglichen und werden als gesammelte Bilder im Kopf gespeichert und bei nächster Notwendigkeit oder Gelegenheit wieder abgerufen. Durch eine Weitergabe dienen die Erfahrungsberichte als Mund-zu-Mund-Propaganda, die in Medien gar zur öffentlichen Meinung werden kann. Diese Wirkung ist nicht zu unterschätzen, da sie eine anstehende persönliche Auswahlentscheidung erleichtern kann.38 Über eine vermehrte Nachfrage bei der Marke ,Krankenhaus‘ entscheidet (analog zu den Marken im Konsumgütermarkt) neben dem Basisnutzen auch der zu erwartende Zusatznutzen. Expertentum gehört als Teil des Basisnutzens, zu den tief verwurzelten ,Ur-Erwartungen‘, die sie selbstverständlich mitbringen und an ein Krankenhaus richten. Dieser Basisnutzen gehört zum existenziellen Kernelement und ist der elementare unverzichtbare Mindeststandard. Demnach ist es für ein Krankenhaus wichtig, sich zum Expertenzentrum für Gesundheitsfragen zu positionieren, die ,exzellente‘ medizinische, therapeutische und pflegerische Behandlungsleistungen anbieten und sicherstellen. Der Zusatznutzen könnte aus einem erweiterten Leistungsversprechen, dem größeren Vertrauen, der gestiegenen Sicherheit, der höheren Zuverlässigkeit, der stärkeren Serviceorientierung und einer ansprechenden situativ angepassten Atmosphäre bzw. auch eine besseren Unterhaltung bestehen. Auch die Zufriedenheit des Patienten durch eine ganzheitliche Betrachtung seiner Interessen kann als Zusatznutzen vom Patienten wahrgenommen werden, hierbei können Krankenhäuser sich zukünftig zusätzlich zum Basisnutzen als Expertenunternehmen mit ausgesprochener Problemlösungskompetenz entwickeln und positionieren.39 Für Stoffers (2008) müssen Krankenhäuser zukünftig „in Ergänzung zu ihren anspruchsvollen Kernleistungen auf ihrem Markt mit zusätzlichen Angeboten und der Darstellung ihres Selbstverständnisses […] Flagge zeigen sowie sich in der Wahrnehmung ihrer Zielgruppen als Unternehmensmarke ,Krankenhaus‘ positionieren und profilieren.“40 So brauchen auch Krankenhäuser als Dienstleistungsunternehmen eine starke Marke, um in den Köpfen der Kunden, der aktu-

38 39 40

Vgl. Stoffers 2008, S. 8 f. Vgl. Stoffers 2008, S. 7 f. Stoffers 2008, S. 8 f.

2.3 Resümee des Kapitels

21

ellen und potenziellen Mitarbeiter, anderer Stakeholder sowie der gesamten Öffentlichkeit sowie gegenüber dem Wettbewerb eine dauerhafte Position einzunehmen.41 Eine nachhaltige stabile Positionierung als Unternehmensmarke ist der Garant für den Erfolg eines Krankenhauses, da die Markenbildung, also der Aufbau eines echten Markennamens, ein nicht zu unterschätzendes Marketinginstrument sein und damit einen enormen Aufschwung in Umsatz und Profit bedeuten kann. Marken spielen in allen Einrichtungen des Gesundheitswesens eine wichtige Rolle, sind aber deutlich unterentwickelt. Eine echte Marke hat Wiedererkennungswert und eine eigene Identität, mit der sich die Kunden weitaus besser identifizieren können als mit einem No-Name-Unternehmen. In Verbindung mit guter Qualität können die Kunden auf diese Weise langfristig an ihr Unternehmen gebunden werden. „Marken bieten Möglichkeiten der Identifikation von Kunden mit einem bestimmten Unternehmen bzw. einer bestimmten Unternehmensgruppe. Gerade im Gesundheitswesen ist Identifikation für die Auswahl von Angeboten wichtig.“42 Es ist aber auch die Identifikation der Mitarbeiter mit der Unternehmensmarke. Stoffers (2008) hebt hervor: „Gelingt es dem Krankenhaus, sich als ein sympathisches, unverwechselbares und vertrauenswürdiges ,Gesicht‘ in der Vielzahl der Einrichtungen in Position zu bringen und seinen Zielgruppen kontinuierlich mehr zu bieten als herausragende Qualität der medizinischen Versorgung, sind Patienten mitunter sogar bereit, größere räumliche Distanzen zurückzulegen.“43 „If our vision is the internal compass that guides us, our brand essence denotes the position we wish to occupy in the minds of our target audience.“44 „Die Entwicklung von Marken funktioniert grundsätzlich auch im Krankenhaussektor und […] wird weiter an Bedeutung gewinnen.“45 2.3 Resümee des Kapitels Den Krankenhäusern, die sich als Markenunternehmen erfolgreich im Markt positionieren, gehört die Zukunft. Ein Unternehmen in der Gesundheitswirtschaft 41 42 43 44 45

Vgl. Haedrich/Tomczak/Kaetzke 2003, S. 152 Debatin 2006, S. 93 Stoffers 2008, S. 10 f. Anmerkung: Übersetzung: „Wenn unsere Vision der innere Kompass ist, der uns anleitet, kennzeichnet unser Markenkern die Position, die wir in den Köpfen unserer Zielgruppe einnehmen wollen.“ (Pförtsch/Schmid 2005, S. 291) Debatin 2006, S. 93

22

2 Das Krankenhaus als Marke

muss zukünftig auf dem Absatzmarkt sowie auf dem Arbeitsmarkt sichtbar, erkennbar werden und sich von anderen Konkurrenzunternehmen unterscheiden. Der Wettbewerb und der dadurch entstehende Wandel werden Krankenhäuser dazu zwingen. Somit steht zukünftig ein Wandel und Paradigmenwechsel in der Unternehmensführung von Krankenhäusern an. Eine Markenbildung mit einer impliziten konsequenteren Fokussierung auf die Kundenorientierung bzgl. der externen und internen Kunden kann dem Dilemma des ,Managements des Abschwungs‘ entgegenwirken und umkehren. Eine konsequente Markenbildung ist eine geeignete Strategie, um im Markt und im Wettbewerb langfristig, nachhaltig und erfolgreich bestehen zu können. Dies ist für Krankenhäuser von großer Bedeutung, da sie auf zwei Märkten agieren müssen, die sich gegenseitig bedingen und beeinflussen. Neben dem Absatzmarkt ist es, durch den demografischen Wandel und dem damit jetzt schon bestehenden Fachkräftemangel inzwischen auch der Arbeitsmarkt. Denn genauso schwierig, wie es ist, Kunden/Patienten zu halten und neue zu gewinnen, ist es ebenso schwierig, gutes qualifiziertes medizinisches Fachpersonal zu halten und zu gewinnen. Es braucht Strategien und Konzepte, um attraktiv für die Märkte zu sein. Attraktiv einerseits für die Patienten, die potenziellen Patienten, die Angehörigen und alle anderen Stakeholder und andererseits zugleich auch attraktiv für die professionellen Mitarbeiter. Attraktiv für die aktuellen Mitarbeiter, damit sie möglichst lange im Unternehmen ihr Know-how einbringen und attraktiv für die potenziellen Mitarbeiter, die man anziehen möchte. Denn eine Attraktivität besitzt Anziehungskraft – besitzt Magnetkräfte. Wie funktionieren diese Magnetkräfte – haben diese Magnetkräfte mit Magie, mit Identität und Identifikation zu tun?

3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

Vor dem markentheoretischen Hintergrund haben die ,Creme in der blauen Dose‘ und ein Markenkrankenhaus etwas miteinander zu tun. Beide haben sich in unser Gedächtnis eingebrannt. Um diesem spezifischen Marken-Phänomen, seinen Wirkungsfunktionen, seiner möglichen Architektur und seinen Ansätzen speziell für Dienstleistungsunternehmen auf den Grund zu gehen, thematisiert das folgende Kapitel zunächst generelle Grundlagen, indem es folgende Fragen fokussiert: Welchen Nutzen hat die Bildung einer Unternehmensmarke? Was macht Marken zu einer starken Marke? Welche Besonderheiten gibt es bei Dienstleistungsmarken? – Und wie funktionieren sie? Welche Magie haben Marken und warum sind wir so empfänglich für eine gute Marke? Welchen theoretischen Hintergrund und Besonderheiten haben die Unternehmensmarke im Krankenhaussektor? Warum können Unternehmensmarken im Dienstleistungsbereich nur über die ,identitätsorientierte Markenführung‘ entstehen? Was ist der theoretische Hintergrund der ,identitätsorientierten Markenführung‘ einer Unternehmensmarke? Welche Konzepte, Ansätze und Teilbereiche gibt es bei einer identitätsorientierten Unternehmensmarke? Was sind und welche Rolle spielen Markenbotschafter und wie werden sie zu Markenbotschaftern? Das Ziel im folgenden Kapitel ist es, den markentheoretischen Hintergrund zu fokussieren und die Beantwortung der Fragen in eine theoretische Basis einzubetten.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. K. Schottler, Internal Branding im Krankenhaus, Vallendarer Schriften der Pflegewissenschaft 6, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31072-1_3

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

Abbildung 2:

Aufbau Kapitel 3 (Quelle: eigene Darstellung)

3. Kapitel: Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding Teilkapitel: 3.1

Komplexe Sichtweise des Markenbegriffs

3.2

Die erfolgreiche Dienstleistungsmarke

3.3

Die Magie der Marke als sozialpsychologisches Phänomen

3.4

Grundlagen der Markenführung im Krankenhaussektor

3.5

Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz des Konzepts ,Corporate Branding‘

Gewählt wurde für den Aufbau in diesem Kapitel der Ansatz vom ,Generellen zum Speziellen‘. Daher gleicht der Aufbau einer umgedrehten Pyramide. Das Kapitel arbeitet sich von oben nach unten durch die Thematik bis hin zum markenspezifischen ,identitätsorientierten Ansatz‘ der Dienstleistungsmarke im Krankenhaus. 

Im ersten Teilkapitel geht es um die Herkunft und Definition des Markenbegriffs und die komplexe Sichtweise des Markenbegriffs durch die verschiedenen wirkungsbezogenen Perspektiven.



Das zweite Teilkapitel befasst sich mit der erfolgreichen Dienstleistungsmarke, indem die Charakteristika und Nutzendimensionen herausgearbeitet werden. Die Klärung, was eine Marke zur starken Marke macht, ihr dazugehöriger Markenkern und die Erfolgsgaranten für eine Markenbindung stehen im weiteren Fokus der Bearbeitung. Wie entsteht die Markentreue als Funktion im Kontext des spezifischen Entscheidungsverhaltens.



Im dritten Teilkapitel geht um die Magie der Marke als sozialpsychologisches Phänomen. Es werden Zusammenhänge aufgezeigt, die das Tor zum Gedächtnis und die Aktivierung der Markenbindung durch Emotionen, Motivationen und Einstellung, Belohnungssysteme und codierte Erfahrungswerte sowie innere Bilder prägen und beeinflussen. Die Bedeutung der Markenpersonalisierung und der sinnstiftende Beziehungsaspekt als Erfolgsgarantie der Marke werden aufgezeigt.

3.1 Komplexe Sichtweise des Markenbegriffs

25

Das vierte Teilkapitel thematisiert die mögliche Markenstrategie und -architektur im Krankenhaussektor und mündet in die Fokussierung der Unternehmensmarke als Besonderheit der Markenführung. Es werden mehrere strategische Markenarchitekturen unterschieden, die je nach Größe und Struktur des Unternehmens möglich sind. Die Unternehmensmarke bildet dabei immer die Basis. Ergänzend kann es noch z.B. einzelne Abteilungs- oder Chefarztmarken geben, welche die Unternehmensmarke unterstützen, aber nicht in Konkurrenz zu ihr stehen. Der fünfte Teil taucht in die Beschreibung der identitätsorientierten Markenführung ein und das Konzept, die Grundlagen und die Denkschule des Konzepts ,Corporate Branding‘ vor. Der Zusammenhang von Identität und Image wird beschrieben und mögliche Modelle der Markenidentität werden gegenübergestellt. Mit dem Umsetzungskonzept ,Corporate-Brand-Identity‘ werden neben dem Nutzen auch die grundlegenden Elemente und Säulen für eine mögliche Markenentwicklung aufgezeigt und näher erläutert. Der Ansatz, dass eine Unternehmensmarke von innen nach außen leuchtet, weist auf die wichtigen Teilkonzepte ,Behavioral Branding‘ und ,Internal Branding‘ sowie ,Employer Branding‘ des Konzepts Corporate Branding hin. Ohne deren Berücksichtigung ist eine nachhaltige Unternehmensmarke nicht zu entwickeln. Umgekehrt wird deutlich, dass z.B. eine Arbeitgebermarke (Employer Branding) nur in der Verbindung mit dem Gesamtkonzept (Corporate Branding) seine Wirkung nachhaltig zeigen kann. Die besondere Bedeutung der Mitarbeiter bei der Entwicklung, Sicherung und Belebung der Unternehmensmarke wird beim Teilkonzept ,Internal Branding‘ bearbeitet. Es stellt die Entwicklung der Mitarbeiter zu Markenbotschaftern heraus. 3.1 Komplexe Sichtweise des Markenbegriffs Typischerweise besteht eine Marke z.B. aus Symbolen, Worten, Sätzen, Farbgebung, einem speziellen Design oder einer Kombination dieser Elemente und wird oft als Bestandteil der Werbung oder als rechtlich geschütztes Warenzeichen begrenzt. Etymologisch herleiten lässt sich der „Begriff ,Marke‘ vom lat. Begriff ,Margo‘ und bedeutet eine Grenzlinie ziehen. Der französische Begriff ,Marque‘ kann mit Kennzeichen und zu ,marque‘ mit markieren übersetzt werden. Somit

26

3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

,markiert eine Marke etwas, d.h. sie zieht eine Grenzlinie […] zwischen sich und einem Nicht-Markierten Objekt.“46 „Die Verwendung des Markenbegriffs im angloamerikanischen Raum unter dem Namen ,Branding‘ verdeutlicht, dass unter Markierung auch ein Herkunftsnachweis zu verstehen ist: Durch das Einbrennen eines Zeichens (,Branding‘) werden Tiere eindeutig als Besitz eines bestimmten Eigentümers gekennzeichnet.“47 Eine Marke „ist eine Kennzeichnung einer Ware oder Dienstleistung eines Unternehmens, die der Unterscheidung von Waren und Dienstleistungen der Konkurrenten dienen soll.“48 Doch bei näherer Betrachtung ist der Markenbegriff komplexer. „In Abgrenzung zum gewerblichen Schutzrecht sowie zum markierten Produkt, kann die Marke als ein in der Psyche des Konsumenten und sonstiger Bezugsgruppen der Marke fest verankertes, unverwechselbares Vorstellungsbild von einem Produkt oder einer Dienstleistung definiert werden.“49 Nach dieser wirkungsbezogene Perspektive begründet sich „der Markenbegriff auf einem subjektiven, nachfragebezogenen Markenverständnis, dessen Analyse vor allem aus dem verhaltenswissenschaftlichen Kontext zu erfolgen hat und sich eher als ein sozialpsychologisches Phänomen darstellt.“50 3.2 Die erfolgreiche Dienstleistungsmarke 3.2.1 Charakteristika und Nutzendimensionen von Dienstleistungsmarken Da „Krankenhäuser dem Dienstleistungssektor zuzuordnen sind“51, stehen im Weiteren die Dienstleistungsmarken im Fokus der Betrachtung. Dabei sind es insbesondere die spezifischen Charakteristika von Dienstleistungen, die zum einen zu besonderer Notwendigkeit der Markierung von Dienstleistungen und zum anderen zur Berücksichtigung spezifischer Aspekte der Markierungspolitik von Dienstleistungsunternehmen führen. Allgemein sind Dienstleistungen intangibel bzw. immateriell, damit nicht lager- und transportfähig und häufig auch nicht ,sichtbar‘. Dies führt dazu, dass Dienstleistungen über einen überproportionalen 46 47 48 49 50 51

Göttgens 2003, S. 8 Göttgens 2003, S. 8 Geml/Lauer 2008, S. 228 Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 6 Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 6 Fleßa 2010, S. 20

3.2 Die erfolgreiche Dienstleistungsmarke

27

Anteil an Erfahrungs- und Vertrauenseigenschaften verfügen. Kunden können daher die Qualität einer Dienstleistung im Voraus nur sehr schwer beurteilen. Es existiert zum Zeitpunkt des Kaufs lediglich ein Leistungsversprechen. Dienstleistungen sind daher Vertrauensgüter. Erschwerend kommt hinzu, dass Dienstleistungen häufig nicht oder nur begrenzt umtauschbar sind oder rückgängig gemacht werden können.52 Darüber hinaus sind „Dienstleistungen Güter, die ein Bedürfnis befriedigen können.“53 Gerade bei immateriellen Leistungen ist eine Visualisierung dringend angezeigt, da der Verbraucher speziell bei Dienstleistungen noch stärker als bei Sachgütern nach Bewertungsmaßstäben sucht und diese Bewertung durch eine physische Markierung unterstützt wird.54 Doch die Visualisierung des Markenzeichens ist ein zentrales Problem, welches aus der mangelnden ,Greifbarkeit‘ einer Dienstleistung für den Leistungsnehmer resultiert. Eine Dienstleistung kann zwar im absatzpolitischen, jedoch nicht im technischen Sinne markiert werden.55 Leistungsmerkmale sind für den Kunden oft nicht objektiv nachprüfbar, daher spielen für die Kaufentscheidung Identitätsund Imagemerkmale des Unternehmens, wie z.B. Seriosität, Vertrauenswürdigkeit oder auch die ,Mund-zu-Mund‘-Kommunikation, eine große Rolle. Wenn Leistungen und Objekten in der Peripherie identifiziert und markiert werden, an denen sich die Leistungsnehmer orientieren, kann somit eine Visualisierung entlang der Kundenkontaktmembran erfolgen. Kundenkontaktmembran kennzeichnet die Bereiche eines Unternehmens, an welchen der Kunde (Stakeholder) die Organisation, die Leistungen und die Werte des Unternehmens wahrnimmt. Dabei ist gerade die persönliche Kommunikation ein expliziter Bestandteil der Dienstleistungserstellung. Die Produktion und Konsumtion von Dienstleistungen erfolgt häufig zum gleichen Zeitpunkt (Uno-actu-Prinzip) und ist in hohem Maße von den Personalressourcen abhängig. Mitarbeiter sind hierdurch am Wertschöpfungsprozess am Kunden viel intensiver eingebunden und haben gerade im Dienstleistungsbereich als zentrale Ressource im Unternehmen eine immer größere Bedeutung erlangt.56

52 53 54 55 56

Vgl. Pförtsch/Schmid 2005, S. 235 f. Fleßa 2007, S. 20 Vgl. Bruhn 2001, S. 35 f.; Kotler 2003; Meffert/Burmann/Koers 2002, zit.n. Pförtsch/Schmid 2005, S. 235 f. Vgl. Köhler 2001, S. 215 Vgl. Bruhn 2001, S. 707

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

Diese Eigenschaften betreffen auch das Leistungsangebot von Krankenhäusern. Eine Besonderheit liegt in der Voraussetzung der körperlichen Anwesenheit des Patienten und seiner Integration in den Leistungserstellungsprozess. Er muss während der gesamten Leistungserstellung anwesend sein, ggf. mitwirken oder die Leistung zumindest dulden.57 Gesundheitsdienstleistungen sind aufgrund der Kundenpräsenz und der Teilnahme am Produktionsprozess als kundenpräsenzbedingte Dienstleistungen zu bezeichnen.58 Bei dieser Kundenpräsenz erhält der Kunde einen unmittelbaren Eindruck vom Selbstbild des Unternehmens, der Marke und auch der Mitarbeiter.59 Nach Biel (2000) unterscheidet eine Marke „ein Produkt oder eine Dienstleistung von ähnlichen Angeboten auf der Basis von einzigartigen Eigenschaften, die vom Nutzer wahrgenommen werden.“60 Vor dem Hintergrund dieser Eigenschaften von Dienstleistungen bedarf es bestimmter Instrumente und Maßnahmen, die einem Kunden auf der einen Seite Sicherheit und Vertrauen in die Leistung vermitteln, auf der anderen Seite eine Differenzierung des eigenen Angebots gegenüber dem Wettbewerb ermöglichen. Zur Bewältigung dieser Problemstellungen kann eine Marke aufgrund ihrer nutzenstiftenden Eigenschaften und Funktionen einen maßgeblichen Beitrag leisten. Der Markenwert (Brand Equity) ist zurückzuführen auf die verschiedensten Funktionen der Marke und die hohen Nutzendimensionen aus Sicht der Nachfrage sowie auch der Anbieter. Eine Erhöhung der Nutzendimensionen und Funktionen von Marken sind auch zugleich die Ziele der Markenführung.61 Je nach Perspektive des Betrachters erfüllt die Marke unterschiedliche Funktionen, welche für das Krankenhaus andere sind als für die Stakeholder.62 Im Folgenden werden die Nutzenfunktionen aus beiden Perspektiven näher betrachtet.

57 58 59 60 61 62

Vgl. Kotler et al. 2006, S. 731 Vgl. Fleßa 2010, S. 21 Vgl. Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 273 Biel 2000, zit.n. Esch 2000, S. 63 Vgl. Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 9 Anmerkung: „Stakeholders = Anspruchsgruppen sind alle internen und externen Personengruppen, die von den unternehmerischen Tätigkeiten gegenwärtig oder in Zukunft direkt oder indirekt betroffen sind.“ (Gabler Wirtschaftslexikon 2018) Stakeholder des Krankenhauses sind z.B. die Patienten, Angehörige, Kassen, Verbände, Politik, Einweisende Ärzte, Sozialstationen, Altenheime usw.

3.2 Die erfolgreiche Dienstleistungsmarke Abbildung 3:

29

Nutzenstiftende Funktion aus zwei Perspektiven. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Burmann/Meffert/Koers 2005, S. 11 ff.; Kiecker 2009, S. 30 ff.)

Nutzenfunktionen aus der Perspektiven der Patienten und der anderen Stakeholder *Zusatznutzenfunktion: Eine Marke bietet dem Nachfrager eine ergänzende Zusatzfunktion zu der reinen Dienstleistung. Dieser sogenannte added value beeinflusst die Auswahlentscheidung positiv, da der Mehrwert das Ergebnis eines Vergleichs mit konkurrierenden Angeboten ist.63 KH-Marken liefern dem Patienten einen psychologischen Mehrwert/Zusatznutzen.64 Die Versorgung in einem Krankenhaus ist für einen Patienten selbstverständlich. Schafft das Krankenhaus zudem noch positive emotionale Momente, so erhält die Marke ein eigenständiges emotionales Profil, welches sich von der Konkurrenz unterscheidet.65

Nutzenfunktionen aus der Perspektive des Krankenhauses *Kundenbindung/-loyalität: Aufgrund des Wettbewerbsdrucks sind Krankenhäuser gefordert, ihre Kunden an das eigene Haus zu binden, wobei damit nicht, mit Ausnahme von Präventionsmaßnahmen und Lifestyle-Angeboten, die klassische Stammkundenpflege gemeint ist.66 Das Ziel ist die Entwicklung von Kundenloyalität, die durch die Profilierung gegenüber dem Wettbewerb und der Signalisierung von Qualität Präferenzen bei den Stakeholdern schafft.67

*Vertrauensfunktion: Einer Marke wird durch Bekanntheit, Kompetenz und Identität Vertrauen entgegengebracht. Das ist besonders bei KH-Leistungen von Bedeutung, da die Leistungen einen hohen Anteil an Vertrauenseigenschaften besitzen, die auch nach der Inanspruchnahme der KH-Leistung nicht zweifelsfrei vom Patienten beurteilt werden kann. Die Marke kann somit als Signal einer bestimmten Leistungsqualität aufgefasst werden und trägt

*Verhandlungsfunktion: Die Marke ist zugleich ein Wert, der für das Krankenhaus ein wichtiges Kapital darstellt und den Stakeholdern damit einen wirtschaftlichen Vorteil vermittelt. Die Steigerung des Markenwerts verbessert die Verhandlungsposition des Krankenhauses gegenüber den Kostenträgern sowie anderen Interessensgruppen.69

63 64 65 66 67 69

Vgl. Meffert/Burmann/Kirchgeorg 2008, S. 354 Vgl. Eiff, v. 2007, S. 44 Vgl. Meffert/Burmann 2005, S. 63 Vgl. Eiff, v. 2003, S. 961 Vgl. Homburg/Krohmer 2006, S. 628 Vgl. Meffert/Burmann/Koers 2005, S. 12 f.

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

Nutzenfunktionen aus der Perspektiven der Patienten und der anderen Stakeholder dadurch zu einer Minimierung des subjektiv empfundenen Risikos bei.68

Nutzenfunktionen aus der Perspektive des Krankenhauses

*Qualitätssicherungsfunktion: Marken geben gegenüber dem Nachfrager ein Qualitätsversprechen ab und signalisieren dadurch eine konstante Qualität der Dienstleistung. Das zugleich wahrgenommene Entscheidungsrisiko wird minimiert. Der Patient verbindet somit eine bestimmte Qualität mit der Krankenhausmarke, die auch in Zukunft garantiert wird.70

*Differenzierung: Die Marke differenziert das Krankenhaus im Wettbewerb. Unterscheiden sich Krankenhäuser aufgrund ihrer Marke, so wird ihnen die Erschließung neuer Marktfelder erleichtert. Etablierte Krankenhausmarken können neuartige Leistungsangebote ausdehnen, die in Beziehung zur Ursprungsmarke stehen.71

*Orientierungs-, Informationsfunktion: Das Bedürfnis nach einer vereinfachten, sicheren und verlässlichen Informationsrecherche wird zu einem starken Bedürfnis der Stakeholder, vor allem der Patienten.72 Die Marke gibt ihnen eine Orientierungshilfe, um durch eine erhöhte Markttransparenz die gewünschte Leistung zu identifizieren. Bei der Krankenhauswahl wird der Such- und Informationsaufwand des Patienten in großen Teilen durch Krankenhausmarken substituiert.73

*Schutzfunktion: Ein Krankenhaus muss seine Nutzenvorteile gegenüber den Stakeholdern belegen, um zu zeigen, dass diese nicht bereits vom Wettbewerb vereinnahmt sind. Schafft es ein Krankenhaus, sein Leistungsangebot in der Wahrnehmung der Stakeholder eindeutig an seinen Namen zu knüpfen und mit emotionalen Mehrwerten zu belegen, wirkt dies als Markteintrittsbarriere für potenzielle Wettbewerber.74

*Entlastungsfunktion: War ein ehemaliger Patient mit der Leistung zufrieden, entlastet ihn die KH-Marke bei der Erfassung und Auswertung von Informationen über das Krankenhaus bei einer erneuten Einweisung.75

*Profilierung: Marken schaffen Präferenzen für das eigene Leistungsangebot, um sich damit gegenüber konkurrierenden Angeboten zu profilieren.76

68 70 71 72 73 74 75 76

Vgl. Meffert/Burmann/Koers 2005, S. 12 Vgl. Homburg/Krohmer 2006, S.628 Vgl. Homburg/Krohmer 2006, S. 628 Vgl. Karmasin 2012, S. 482 ff. Vgl. Homburg/Krohmer 2006, S. 628 Vgl. Schleusener 2002, S. 282 Vgl. Meffert/Burmann/Koers 2005, S. 10 f. Vgl. Meffert/Burmann/Koers 2005, S. 12

3.2 Die erfolgreiche Dienstleistungsmarke

Nutzenfunktionen aus der Perspektiven der Patienten und der anderen Stakeholder *Identifikations-, Magnetfunktion: Die (Unternehmens-)Marke fördert auch die Identifikation der MA (internen Kunden) mit den Erlebniswerten des Unternehmens, welches ein Zugehörigkeitsgefühl fördern kann. Eine Marke vermittelt neben dem funktionalen Nutzen auch emotionale Erlebniswerte. Diese emotionalen Zusatzreize tragen zur Auswahlentscheidung bei, da Marken von dem Nachfrager als Selbstdarstellung genutzt werden. Damit verleihen sie ihrem sozialen Status Ausdruck. Beispielsweise kann ein Patient durch die Wahl einer renommierten Privatklinik einen hohen Status gegenüber seiner Umwelt kommunizieren.77

31

Nutzenfunktionen aus der Perspektive des Krankenhauses *Image- bzw. Prestigefunktion: Die Image-, & Prestigefunktion der Marke kann zur Auswahl- und Bewerbungsentscheidung beitragen. Denn die emotionalen Zusatzreize können auch bei professionellen Mitarbeitern Magnetkräfte auslösen, da die Unternehmens-Marke der Selbstdarstellung dient und zusätzlich ihrem sozialen Status Ausdruck verleihen kann.

Gerade in Zeiten zunehmender Informationsüberflutung erfüllen Dienstleitungsmarken für den Kunden wichtige nutzenstiftende Funktionen: „Der Marke kommt […] eine Orientierungs- und Informationsfunktion zu. Ferner wird der Marke durch ihre Bekanntheit, Kompetenz, Identität und Vertrauen entgegengebracht (Vertrauensfunktion).“78 Eine Dienstleistungsmarke ist ein Eigenschaftsbild beim Kunden, das ein Versprechen und eine vorweggenommene Qualitätsgarantie in Form der Bereitstellung und/oder des Einsatzes von Leistungsfähigkeiten im Erstellungsprozess darstellt, welche auf eine nutzenstiftende Wirkung der Leistung im Ergebnis ausgerichtet ist.79 Der Konsument erhofft von einer Marke eine Orientierungshilfe bei der Auswahl von Leistungen. Daher sollte für den Konsumenten eine Marke den Beweis von Kompetenz, Sicherheit und somit eine Risikominderung erbringen. Diese Sicherheit ergibt sich aus der Qualitätsvermutung von Markenleistungen. Eine Marke repräsentiert die Best-in-Class-Standards innerhalb einer Klasse und ist deshalb oft auch identisch mit einer Klassenbezeichnung. Bei Dienstleistun-

77 78 79

Vgl. Homburg/Krohmer 2006, S. 628 Meffert 2009, S. 219 Vgl. Köhler 2001, S.214

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

gen, die Erfahrungs- und Vertrauensgüter sind, liefert die Marke für den potenziellen Kunden eine wichtige Surrogat-Information (Ersatz-Funktion), die die Unsicherheit reduziert. Die Marke vermittelt jedoch nicht nur ein konstantes Qualitätsniveau; sie trägt ferner auch dazu bei, dass dieses erreicht wird. Durch das Vertrauen des Kunden in die Marke steigt auch seine Integrationsfähigkeit und Integrationsbereitschaft des Kunden und dies trägt dazu bei, ein Leistungsergebnis mit hoher Qualität zu erreichen.80 Eine Marke kann somit auch eine Entlastungsfunktion für den Konsumenten bei der Kaufentscheidung erfüllen. Dienstleistungsmarken dienen dazu, ex ante empfundenes, subjektives Kaufrisiko zu reduzieren. Kaufentscheidungen finden in der Regel auf der Basis unvollkommener Informationen (Informationsfunktion der Marke) über die angebotene Leistung statt. Darüber hinaus soll die Marke für den Konsumenten eine Image- bzw. Prestigefunktion in seinem sozialen Umfeld erfüllen. Als Träger von Botschaften können Marken für verschiedene Aussagen (Qualitäts- oder Preisaussagen) und/oder von Emotionen als Zusatznutzen (Prestige, Sicherheit, Vertrauen, Kultur, Werte …) dem Kunden dienen.81 Ein starker und heftiger Konkurrenzkampf auf den Märkten führt oft zu Verwirrung der Kunden und zu Verhinderung rationeller Kaufentscheidung.82 „Vor diesem Hintergrund repräsentiert eine Marke Klarheit, Sicherheit, Bestätigung, Kontinuität, Status und Zugehörigkeit und darüber haben sich Menschen seit jeher definiert. Eine Marke repräsentiert die Persönlichkeit.“83 Die Identifikation mit einer Unternehmensmarke vermittelt das Gefühl der Unternehmenszugehörigkeit, die im Dienstleistungsbereich aufgrund der Vertrauenseigenschaften sowie der notwendigen Leistungsfähigkeit von Bedeutung ist.84 Für den Kunden sind es der Nutzen und die Erfahrungen mit einer Marke, die eine Identifikation mit der Marke ermöglichen und somit Erinnerung erzeugen. Zusammenfassend beziehen sich Pförtsch/Müller (2006) bei Marken im Wesentlichen auf die Grundfunktionen: „der Identifikations- bzw. Individualisierungsfunktion (Ideeller Nutzen, Image), der Vertrauens- und Sicherheitsfunktion (Risikoreduktion, Vertrauen) und der Nutzenfunktion (Informationseffizienz, Zeit).“85 80 81 82 83 84 85

Vgl. Meffert 2009, S. 219 ff. Vgl. Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 9 ff. Vgl. Meffert 2009, S. 245 Meffert 2009, S. 245 Vgl. Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 282 Pförtsch/Müller 2006, S. 135

3.2 Die erfolgreiche Dienstleistungsmarke

33

Nach Meffert (2009) ergeben sich aus den Nutzendimensionen für die Markenanbieter auch zahlreiche Chancen für ein Unternehmen, die daher als Zielsetzung in der Markenpolitik verfolgt werden. Eine Marke trägt zur eindeutigen Wettbewerbsdifferenzierung von Dienstleistungen gegenüber der Konkurrenz bei. Wenn sich Leistungen in ihrem Grundnutzen so sehr ähneln, dass sie für den Konsumenten austauschbar werden, so muss die Differenzierung des Angebots über den Zusatznutzen erfolgen. Dieser Zusatznutzen muss jedoch kommuniziert werden. Hier spielt die Marke eine zentrale Rolle. Sie bietet in Form der Markierung den Anker, an dem bestimmte Assoziationen, Botschaften und Werte festgemacht und dargestellt werden können. Dadurch werden über den Grundnutzen hinausgehende emotionale Zusatznutzen kommuniziert. Im Wettbewerb genießen Dienstleitungsmarken durch ihre Schutzfunktion auch einen komparativen Vorteil. Denn hinter einer Marke steht ein Markenbild mit einer eigenen Geschichte. Um solch eine Marke zu kopieren, bedarf es eines langfristigen und konsequenten Aufbaus. Nicht nur die damit verbundenen hohen Investitionen, sondern insbesondere die lange Dauer machen daher eine Imitation durch die Konkurrenz auf kurze Sicht unwahrscheinlich. Markenpolitik ermöglicht eine differenzierte Marktbearbeitung. Einzelne Marktsegmente werden dabei mit verschiedenen zielgruppenspezifischen Marken optimaler bedient werden. Eine innovative Funktion haben Marken durch die Generierung von Wettbewerbsvorteilen, da Marken generell absatzsteigernde Wirkungen erzielen sollen. Kundenzufriedenheit führt zu Markentreue und Kundenbindung, was zu einem Stammkundenpotenzial und somit zu einer erhöhten Planungssicherheit aufgebaut werden kann. Hier kommt der Marke eine stabilisierende Funktion zu. Marken dienen der Präferenzbildung und der Profilierung. Marken sind Grundlage für eine positive Bildung von Image und Identität eines Unternehmens, welche nachhaltig den Unternehmenswert steigern kann. Eine gezielte Markenführung steigert somit einerseits nachhaltig den Unternehmenswert und bewirkt andererseits den kontinuierlichen Ausbau starker Marken im Vergleich zum Wettbewerb.86 Die Marke schafft Präferenz, loyale Kundschaft und die notwendige Gewinnmarge. Daher schlägt sich im Wert der Marke nicht nur die Kundenwertschätzung für die Dienstleistung nieder, sondern auch im Unternehmenswert.87 „Marken sind zentrale immaterielle Wertschöpfer im Unternehmen.“88

86 87 88

Vgl. Meffert 2009, S. 219 ff. Vgl. Pförtsch/Schmid 2005, S. 261 Esch/Tomczak/Kernstock/Langner 2006, S. 5

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

Eiff, v. (2003) beschreibt eine Marke mit folgenden Merkmalen. „Eine Marke ist einmalig, also nicht kopierbar und hat ein unverwechselbares Erscheinungsbild; damit hebt sie sich ab und die kommunizierte Botschaft erreicht die relevanten Zielgruppen ohne Streuverlust. Eine Marke ist unverzichtbar bezüglich ihrer Kompetenz, die sie in die Lage versetzt, bestimmte Leistungen für bestimmte Zielgruppen qualifizierter zu erbringen als jeder Wettbewerber. Auch ist eine Marke nicht austauschbar, weil sie einen besonderen emotionalen Wertvorteil für einen Kunden beinhaltet, der seinem Lebensgefühl entspricht und dem der Kunde Vertrauen schenkt.“89 3.2.2 Starke Marken und ihr Markenkern Erfolgreiche Marken sind erfolgreiche Unternehmen. Denn eine erfolgreiche Marke dient dem Identifizieren, dem Differenzieren und dem Profilieren.90 Erfolgreiche Marken werden in der Fachliteratur als Alpha-Marken beschrieben. Sie sind klar erkennbar und zuzuordnen, differenzieren sich vom Wettbewerb und besitzen einen hohen Wiedererkennungseffekt. Als Markenerfolgskriterien gelten hohe Bekanntheit, Existenz über längere Zeit, Vertrauen in die Marke und Kommunikation der Marke.91 Das heutige Verständnis von den Aufgaben der Markenführung beinhaltet die Sicherstellung grundlegender Markenmerkmale, die Beobachtung des Kundenverhaltens und die entsprechende Steuerung des ,Marketinginstrumenten-Mixes‘. Darüber hinaus finden ökologische und gesellschaftliche Gesichtspunkte sowie sozialpsychologische Phänomene Beachtung. Durch die nach innen gerichtete Perspektive der Markenführung werden Aspekte der Markenorganisation integriert.92 „Der Hauptbestandteil jeder Marke ist ein eindeutiger, unverwechselbarer Markenkern, der auch als Charakter der Marke bezeichnet werden kann. Er sollte sich in allen Kontaktpunkten der Nachfrager bzw. Kunden mit dem Unternehmen (Kundenkontaktmembran) widerspiegeln. Der Markenkern ist die zentrale Assoziation, die bei jedem Kontakt mit der Marke hervorgerufen wird.“93 Denn „Dienstleistungen oder Institutionen haben Markencharakter,

89 90 91 92 93

Eiff, v. 2003, S. 824 Vgl. Herbst 2005, S. 26 Vgl. Adjouri 2004, S. 16 f. Vgl. Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 30 Pförtsch/Schmid 2005, S. 85

3.2 Die erfolgreiche Dienstleistungsmarke

35

wenn die damit verbundenen Assoziationen im Meinungsbild von relevanten Zielgruppen und Öffentlichkeit eine Monopolstellung erreicht haben.“94 Durch die zentralen Assoziationen des Markenkerns als Teil der Markenidentität werden die Kundenentscheidungsprozesse positiv beeinflusst und Präferenzen aufgebaut.95 Dabei können die Assoziationen des Markenkerns nach Herbst (2005) „sowohl einen sachlich-funktionalen Grundnutzen bieten […], der uns rational anspricht […] als auch einen emotionalen Zusatznutzen.“96 Zum sachlich-funktionalen Kundennutzen zählt vor allem auch der Qualitätsanspruch der Marke, der dem Kunden ein Qualitätsversprechen mitliefert.97 Dass diese versprochene Qualität jederzeit „in gleichartigem Auftritt und in gleich bleibender oder verbesserter Qualität angeboten“98 wird, ist entscheidend für diesen sachlich-funktionalen Kundenvorteil. Qualitätsversprechen müssen eingehalten, jederzeit gewährleistet und für den Kunden bei jedem Kontakt mit der Marke erfahrbar gemacht werden. Vertrauen wird beim Kunden aufgebaut und verdient. Es ist die Basis des emotionalen Kundennutzens, welcher die gefühlsmäßige Beziehung zwischen Marke und Nutzer bezeichnet und damit eine langfristige Markenbindung erreichen kann, die den komparativen Wettbewerbsvorteil ausmachen kann, da dies von der Konkurrenz nur schwer einzuholen ist.99 „Ein eindeutiger Markenkern sollte für die Zielgruppen relevant sein. Das erreicht man am besten, indem man die Werte der Entscheider bei der Zielgruppe ermittelt und in den Markenkern mit einfließen lässt. Es sollte eine Marktposition eingenommen werden, die noch nicht von der Konkurrenz besetzt ist, um die Marke über den Markenkern deutlich vom Wettbewerb zu differenzieren. Daneben sollte ein eindeutiger Markenkern einfach und klar sein und sich an den Kernkompetenzen des Unternehmens orientieren.“100 Pförtsch/Schmid (2005) berufen sich auf die Erkenntnis der Agentur Young&Rubicam, dass die wesentlichen Kerndimensionen von starken Marken folgende Eigenschaften besitzen:

94 95 96 97 98 99 100

Eiff, v. 2003, S. 824 Vgl. Pförtsch/Schmid 2005, S. 85, S. 262 Herbst 2005, S. 29 Vgl. Pförtsch/Schmid 2005, S. 85, S. 262 Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 6 Vgl. Pförtsch/Schmid 2005, S. 262 Pförtsch/Schmid 2005, S. 85

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

Abbildung 4:

Starke Marken durch Eigenschaften der Kerndimension. (Quelle: Agentur Young&Rubicam, zit.n. Pförtsch/Schmid 2005, S. 87)

Hat die Marke eine Daseinsberechtigung? Differenzierung

Hebt sie sich von der Konkurrenz ab?

Relevanz

Ist der Markenkern auf die Zielgruppen und ihre Bedürfnisse, Werte und Einstellungen abgestimmt?

Ansehen

Hält die Marke Versprechen (Qualitätsversprechen) und erfüllt sie ihre Aufgabe?

Vertrautheit

Wie ist die emotionale Beziehung zwischen dem Markenanbieter und dem Nachfrager?

Welchen emotionalen Kundennutzen weist sie auf?

Wie vertraut ist die Beziehung?

„Speziell bei Dienstleistungsmarken kann davon ausgegangen werden, dass Vertrauen und Ansehen bedeutender für einen starken Markenkern sind als Differenzierung und Relevanz.“101 In Bezug auf den Gesundheitsmarkt/Krankenhausmarkt, der mit einer großen Anzahl von technischen und qualitativ ähnlichen Dienstleistungen geprägt ist, ist eine echte Differenzierung nur unter Einbeziehung des emotionalen Kundennutzens erreichbar. Bei jedem Kontakt des Kunden mit einem Unternehmen ruft dieses beim Kunden emotionale Assoziationen hervor. Um diesen emotionale Kundennutzen zu einem komparativen Wettbewerbsvorteil werden zulassen, sollte eine Marke den Kunden in allen Kontaktbereichen positive Erfahrungen erleben lassen.102 „Wir lieben die Marke nicht, weil uns dies unser Kopf sagt, sondern unser Herz!“103 „Die Marke muss emotional bedeutend sein!“104 Die mit der Marke verbundenen Gefühle und Erfahrungen von Konsumenten und Kunden sind es, die eine Marke ausmachen. Es sind somit auch emotionale Charaktereigenschaften, Fähigkeiten und Kenntnisse, die es gilt, beim Aufbau einer Marke zu berücksichtigen. Eine starke Marke basiert auf einer klaren Markenidentität mit einem charaktervollen Markenkern, sowie den sachlich-funktionalen und emotionalen Assoziationen. Es ist diese Kompetenz

101 102 103 104

Pförtsch/Schmid 2005, S. 263 Vgl. Pförtsch/Schmid 2005, S. 85 Herbst 2005, S. 29 Herbst 2005, S. 28

3.2 Die erfolgreiche Dienstleistungsmarke

37

einer Marke, die das notwendige Vertrauen beim Kunden schaffen, ihm durch Sicherheit seine Wahl erleichtern und seine Markentreue unterstützen.105 Auch hängt die Stärke einer Marke von internen als auch von externen Zielund Anspruchsgruppen ab. Erst wenn sich die Anspruchsgruppen mit der Marke identifizieren und die Marke in den Köpfen dieser sind, dann spricht man von einer starken Marke. Dabei bilden die internen Zielgruppen eine wichtige Rolle.106 Daher steht die starke Marke „im Austausch mit ihren Bezugsgruppen. Nur so erfährt die Marke, was die Bezugsgruppen von ihr wünschen und erwarten […]; nur so kann sie ihren Bezugsgruppen zeigen, wer sie ist und was sie unvergleichlich und begehrenswert macht. Die Marke, die diesen engen Austausch nicht hat, läuft Gefahr, sich an den Bezugsgruppen vorbei zu entwickeln und deren Wünsche und Erwartungen nicht zu treffen.“107 Für den Erfolg der Markenbildung ist einerseits die ganzheitliche Umsetzung entscheidend, also die Ausrichtung des gesamten Unternehmens am Markenkern und andererseits die langfristige Konstanz des Markenauftritts. Der Markenkern sollte in allen Bereichen als Orientierungshilfe dienen. Dabei ist die Personalpolitik besonders gefordert, da gerade im Dienstleistungsbereich der persönliche Kontakt zwischen dem Mitarbeiter des Anbieters und dem Kunden ein zentraler Faktor ist. Um den Markenkern und damit die Werte des Unternehmens beim Kundenkontakt repräsentieren zu können, müssen die Mitarbeiter sich damit identifizieren können. Dieser Markenkern muss intern wie extern gelebt und erfahrbar gemacht werden. Dabei ist eine starke Corporate Culture unverzichtbar, die sich am Markenkern orientiert und diesen widerspiegelt.108 Für Suntook/Murphy (2008) sind es vor allem folgende Aspekte, welche die Basis für eine erfolgreiche starke Markenwahrnehmung bilden:

105 106 107 108

Vgl. Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 6 Vgl. Burghardt/Gündling/Weyers 2008, S. 1 ff. Herbst 2005, S. 114 Vgl. Pförtsch/Schmid 2005, S. 86

38 Abbildung 5:

3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding Basis für eine erfolgreiche Markenwahrnehmung. (Quelle: Suntook/Murphy 2008, S. 197)

„1. Trust =

Reliability, ethics, commitment to deliver what is promised, won't rip you off, transparency

2. Care =

Concern for customers' welfare, responsibility to Community, concern for environment

3. Reputation =

History to be proud of, longstanding presence, experience, track record, name associated with quality

4. Innovation =

Leading edge, pioneering, focused on the future, […], new products and Services, ingenious solutions, clever ways of doing things

5. Strength =

Size, financial stability, global reach, number one position in market

6. Quality =

Professionalism, best in its field, best products Services, premium brand, sound quality management procedures, Six Sigma, knowledge, expertise, competence, safe pair of hands

7. Value =

[…] justifies the cost, quality long-term cost savings long-term cost savings

8. Empathy =

Understanding of customers/other stakeholders, partnership approach, communication of values to which market can relate, personal relationships, warmth/emotional bond, ease of working with, fun/enjoyable relationship, flexibility to changing market needs

9. Enthusiasm =

Willingness to go the extra mile, fun to do business with, passion for customers' business, win-win mentality

10. Humility =

Customers king, ability to listen, recognition that others may know better, willingness to learn and improve, serving the customer is paramount“

3.2.3 Markenbindung – interne und externe Kundenorientierung als Erfolgsgarant Eine einheitliche Definition von Markenbindung ist in der Literatur nicht zu finden, auch werden Markenbindung und Markentreue oft synonym verwendet. Markentreue wird dann definiert als Markenbindung, die auf einem habituellen Kundenverhalten beruht. Ein hoher Bindungsgrad zwischen dem Kunden und

3.2 Die erfolgreiche Dienstleistungsmarke

39

der Marke zeigt sich in der wiederholten Nachfrage oder der Weiterempfehlung der angebotenen Dienstleistung oder der Auswahl des Dienstleistungsunternehmens.109 Die Markenbindung/Markentreue, welche wiederum ein Bestandteil der Kundenbindung sind110, werden unter den heutigen Konkurrenzbedingungen zu einem entscheidenden Wettbewerbsvorteil, denn es ist schwieriger und teurer neue Kunden zu gewinnen, als Maßnahmen zu ergreifen, bestehende Kunden zu binden. Somit kann Marken- bzw. Kundenbindung zur Marktsicherung beitragen und ist ein Garant für den Unternehmenserfolg.111 „Als Marke wird jedes Angebot bezeichnet (Konsumgut, Dienstleistung, Investitionsgut), das mit einem Markennamen und zusätzlich mit festen Markenelementen gekennzeichnet ist, dass den Angehörigen der Zielgruppe und weiterer Bezugsgruppen bekannt und mit einem ausgeprägten und unverwechselbaren Markenbild (Image) versehen ist.“112 Um ein gewünschtes Image einer Marke bei den ,Stakeholdern‘ erreichen zu können, ist der Aspekt der Kundenidentität (bzw. Zielgruppenorientierung) auch in der Markenidentität mitzuberücksichtigen. Eine hohe Kundenorientierung, die zum Ziel die Kunden- und Markenbindung verfolgt, gilt als zentrales Merkmal und steht somit im Fokus der Markenentwicklung. Hierbei ist ein erweiterter Kundenbegriff zu berücksichtigen, da die Führung der Unternehmensmarke sich in einem Spannungsfeld zwischen der Berücksichtigung möglichst vieler zielgruppenspezifischer Interessen und der Notwendigkeit einer zielgruppenübergreifenden Koordination befindet. Bezugsgruppen, die Ansprüche an das Unternehmen stellen oder deren Interessen und Ziele mit dem Unternehmen verbunden sind, werden als Ziel-, Anspruchsgruppen oder auch Stakeholder bezeichnet. Die Marke muss heute neben den Kundenbedürfnissen (den Patienten) auch den spezifischen Bedürfnissen des Kapitalmarkts, der Zulieferer, der Einweiser, der Dienstleister, der Politiker, der Meinungsbildner sowie der Öffentlichkeit gerecht werden. So erweitert sich der Begriff Kundenmarketing zum ,Stakeholder-Marketing‘.113 Es gibt jedoch nicht nur Stakeholder im Außenverhältnis, vielmehr steht die Position eines Unternehmens auch in enger Verbindung mit seinem Innenleben, d.h. seinen Fähigkeiten und 109 110 111 112 113

Vgl. Poth/Poth 1999, S. 244 Vgl. Köhler 2001, S. 27 Vgl. Köhler 2001, S. 23 Haedrich/Tomczak/Kaetzke 2003, S. 18 Vgl. Göttgens 2003, S. 13

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

wertschöpfenden Prozessen. Hierzu gehören beispielsweise die Mitarbeiter, die als zentrale Humanressourcen den wichtigsten Produktionsfaktor im Dienstleistungsbereich darstellen.114 Bei der Markenbildung und -führung können sich die Positionierungsziele auf emotionale oder sachorientierte Markeneigenschaften beziehen. Sie orientieren sich am sogenannten ,Involvement der Zielgruppe‘. Das Involvement bezeichnet das Engagement, mit dem sich Kunde/Nachfrager einem Angebot zuwenden. Bei geringem Involvement ist der Kunde/Nachfrager passiv, ohne inneres Engagement und dem Angebot gegenüber gleichgültig eingestellt. Im umgekehrten Fall kann man von hohem Involvement sprechen. Man unterscheidet zwischen kognitivem und emotionalem Involvement. Bei hohem kognitivem Involvement nehmen Kunden Informationen aktiv auf und verarbeiten diese mit hohem Aufwand. Bei hohem emotionalem Involvement hingegen denkt der Konsument kaum über ein Angebot nach. Vertrauen ist da und Begehrlichkeit ist geweckt, der Konsument wählt die Dienstleitung. Dies hängt oft mit persönlichen Werten, Motiven und Einstellungen zusammen. Die Auswahl der Positionierungsziele hängt demnach vom Involvement des Kunden ab.115 Dies verdeutlicht, dass Konzepte für eine hohe Kundenorientierung und bindung als unterstützende Konzepte für eine Markenführung sehr wichtig sind. Erkennbar ist die starke Beziehung zwischen der sozialpsychologischen Bedeutung der Marke und ihren ökonomischen Auswirkungen für ein Unternehmen. Denn es ist weithin bekannt, dass es finanziell vorteilhafter ist, bestehende Kunden zu halten als Neue dazuzugewinnen. 3.2.4 Markentreue durch limitiertes, habitualisiertes und impulsives Entscheidungsverhalten Patienten/Angehörige und potenzielle Bewerber (Marken sprechen beide Märkte an, den Absatzmarkt und den Arbeitsmarkt) werden, wenn sie die Auswahl in ihrem Krankenprozess beeinflussen können, genau überlegen und sich gut informieren, bevor sie ein Krankenhaus wählen. Ihre Entscheidung kann eine sogenannte limitierte Entscheidung sein, die geplant und überlegt gefällt wird und auf Informationen, Wissen bzw. Erfahrungen beruht.116 Limitierte Entscheidungen basieren auf kognitiven Prozessen, welche die Informationsaufnahme als auch 114 Vgl. Müller-Stewens/Lechner 2003, S. 28 f. 115 Vgl. Esch 2003, S. 125 ff. 116 Vgl. Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 424

3.2 Die erfolgreiche Dienstleistungsmarke

41

die Informationsverarbeitung betreffen. Bei der Informationsaufnahme unterscheidet Kroeber-Riel/Weinberg (2009) die interne und externe Informationssuche.117 „Bei der internen Informationssuche werden gespeicherte Informationen aus dem Gedächtnis abgerufen und bei der externen Informationssuche nimmt man zusätzliche Informationen aus der Umwelt auf.“118 Für eine Entscheidung werden zuerst die gespeicherten internen Informationen herangezogen. Erst wenn diese für eine Entscheidung nicht ausreichen, wird aktiv nach externen Informationen gesucht. Hierbei sind besonders externe Schlüsselinformationen und „evoked set“119 interessant. „Die externe Informationssuche konzentriert sich also auf höherwertige Informationen, die eine verdichtende, entlastende Informationsfunktion ausüben.“120 Durch limitierte Entscheidungen können im Gesundheitsbereich die Kunden eine Gesundheitseinrichtung auswählen. Kunden können ihre Entscheidung treffen, z.B. durch bereits erlebte Erfahrungen, die sie im Gedächtnis gespeichert haben, und die ihnen somit als eine Art interne Informationsbasis dienen. Die Auswahl einer Einrichtung geschieht auch immer mehr durch gezielte und geplante externe Informationssuche über z.B. Internet-Informationen und Bewertungsforen, Empfehlungen des Hausarzts, der Kollegen oder anderer Wissens-, Erlebnis- und Erfahrungsträger. Marken können für Patienten/Angehörige sowie die potenziellen Bewerber in dem schwierigen und wichtigen kognitiven limitierten Auswahlprozess eine risikoreduzierende und entlastende Wirkung haben. Ein weiteres Entscheidungsverhalten, das für eine Markentreue von Bedeutung ist, ist das habitualisierte Entscheidungsverhalten. Unter habituellem Verhalten wird auch ein verfestigtes, routinemäßiges Verhalten verstanden, das mit Gewohnheit gleichgesetzt werden kann und eine Vereinfachung im Entscheidungsprozess darstellt.121 Habitualisierte Auswahlentscheidungen sind weniger kognitiv als limitierte Entscheidungen und sie können „reaktiv gefällt werden

117 Vgl. Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 425 118 Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 425 119 Anmerkung: „Evoked Set, Begriff aus dem Konsumentenverhalten unter dem eine begrenzte Zahl akzeptierter Alternativen innerhalb einer Kategorie verstanden wird, über die der Konsument ein klar profiliertes Meinungsbild besitzt und die bei einer anstehenden Kaufentscheidung berücksichtigt werden.“ (In: Gabler Wirtschaftslexikon 2000, S. 1017), „Evoked Set und Schlüsselinformationen vereinfachen den Entscheidungsprozess und charakterisieren limitierte Kaufentscheidungen in besonderer Weise.“ (Kroeber-Riel/ Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 426) 120 Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 425 121 Vgl. Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 439

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

[…], d.h. dann, dass sie quasi eher automatisch ablaufen. Die Habitualisierung, die zu bewährten, schnellen und risikoarmen Auswahlentscheidungen führt, lässt sich […] als einen psychischen Prozess […] auffassen“.122 Eigene Erfahrungen, Lernprozesse und Identifizierung begünstigen die Entstehung der Habitualisierung. Habitualisiertes Entscheidungsverhalten dient der Markentreue insbesondere, denn sie laufen gewohnheitsmäßig ab und unterliegen einer geringen kognitiven Kontrolle.123 Ein letztes Entscheidungsverhalten ist das sogenannte ,impulsive Verhalten‘, das ein unmittelbar reizgesteuertes (reaktives) Entscheidungsverhalten ist und in der Regel stark von Emotionen begleitet wird. Die Auswahl geschieht dann eher unbewusst, und ist einfach nur reaktiv auf einen besonderen Reiz hin ausgerichtet.124 Dies kann im Gesundheitsbereich eine starke akute Notsituation sein, die mit großen existenziellen Ängsten einhergeht. In dieser Situation werden die Patienten und Angehörige von Angst geleitet und suchen akut Hilfe und Sicherheit. In dieser Situation können sich das habituelle und impulsive Entscheidungsverhalten mischen. Die Bindungsfunktion der Marken können in ihrer Wirkung auf sozialpsychologische sowie verhaltenswissenschaftliche Konstrukte zurückgeführt werden.125 Daher ist es sinnvoll, im nächsten Kapitel näher die Marke als sozialpsychologisches Phänomen zu ergründen. 3.2.5 Herauszustellende Befunde des Teilkapitels Was sind Marken – welche Funktionen haben sie? Dienstleistungen verfügen aufgrund ihrer Charakteristika über einen überproportionalen Anteil an Erfahrungs- und Vertrauenseigenschaften – sie sind Vertrauensgüter. Bei Dienstleistungen bedarf es bestimmter Instrumente und Maßnahmen, die einem Kunden auf der einen Seite Sicherheit und Vertrauen in die Leistung vermitteln, auf der anderen Seite eine Differenzierung des eigenen Angebots gegenüber dem Wettbewerb ermöglichen. Zur Bewältigung dieser

122 123 124 125

Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 439 Vgl. Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 443 Vgl. Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 447 Vgl. Köhler 2001, S. 27

3.2 Die erfolgreiche Dienstleistungsmarke

43

Problemstellungen kann eine Marke aufgrund ihrer nutzenstiftenden Eigenschaften und Funktionen einen maßgeblichen Beitrag leisten. Für den Kunden ist generell eine Marke der Beweis von Bekanntheit, Kompetenz, Identität und Vertrauen (Vertrauensfunktion), Sicherheit, Entlastungs- und Informationsfunktion und somit eine Risikominderung. Die Sicherheit ergibt sich aus der Qualitätsvermutung von Markenleistungen. Eine Dienstleistungsmarke ist ein Eigenschaftsbild beim Kunden, das ein Versprechen und eine vorweggenommene Qualitätsgarantie begründet. Marken wirken durch die Image- bzw. Prestigefunktion im sozialen Umfeld. Sie wirken als Träger von Botschaften für verschiedene Aussagen (Qualitäts- oder Preisaussagen) und/oder von Emotionen als Zusatznutzen (Prestige, Sicherheit, Vertrauen, Kultur, Werte …). Charakteristische Merkmale der Marke: einmalig, also nicht kopierbar; hat ein unverwechselbares Erscheinungsbild, hebt sich ab und die kommunizierte Botschaft erreicht die relevanten Zielgruppen ohne Streuverlust. Eine Marke ist nicht austauschbar, weil sie einen besonderen emotionalen Wertvorteil für einen Kunden beinhaltet, der seinem Lebensgefühl entspricht und dem der Kunde Vertrauen schenkt. Die Identifikation mit einer Unternehmensmarke vermittelt das Gefühl der Unternehmenszugehörigkeit, die im Dienstleistungsbereich aufgrund der Vertrauenseigenschaften sowie der notwendigen Leistungsfähigkeit von Bedeutung ist. Sie bietet in Form der Markierung den Anker, an dem bestimmte Assoziationen, Botschaften und Werte festgemacht und dargestellt werden können. Dadurch werden über den Grundnutzen hinausgehende emotionale Zusatznutzen kommuniziert. Beim Gesundheitsmarkt/Krankenhausmarkt, der mit einer großen Anzahl von technischen und qualitativ ähnlichen Dienstleistungen geprägt ist, ist eine echte Differenzierung nur unter Einbeziehung des emotionalen Kundennutzens erreichbar. Bei jedem Kontakt des Kunden mit einem Unternehmen ruft dieses beim Kunden emotionale Assoziationen hervor. Um diesen emotionalen Kundennutzen zu einem komparativen Wettbewerbsvorteil werden zu lassen, sollte eine Marke den Kunden in allen Kontaktbereichen positive Erfahrungen erleben lassen.

44

3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

Starke Marken – wodurch? Eine starke Marke basiert auf einer klaren Markenidentität mit einem charaktervollen Markenkern sowie den sachlich-funktionalen und emotionalen Assoziationen. Die Stärke einer Marke hängt von internen als auch externen Ziel- und Anspruchsgruppen ab. Erst wenn sich die Anspruchsgruppen mit der Marke identifizieren und die Marke in den Köpfen dieser ist, dann spricht man von einer starken Marke. Dabei bilden die internen Zielgruppen eine wichtige Rolle. Gerade im Dienstleistungsbereich sind der persönliche Kontakt und die Beziehung zwischen dem Mitarbeiter des Anbieters und dem Kunden ein zentraler Faktor. Um den Markenkern und damit die Werte des Unternehmens beim Kundenkontakt repräsentieren zu können, müssen die Mitarbeiter sich damit identifizieren können. Der Markenkern muss intern wie extern gelebt und erfahrbar gemacht werden. Dabei ist eine starke Corporate Culture unverzichtbar, die sich am Markenkern orientiert und diesen widerspiegelt. Markentreue/Markenbindung/Kundenbindung – wodurch? Markentreue wird definiert als Markenbindung, die auf einem habituellen Kundenverhalten beruht. Markenbindung/Markentreue ist ein Bestandteil der Kundenbindung, welches einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil und einen Garant für den Unternehmenserfolg darstellt. Beziehung zwischen Image und Identität. Um ein gewünschtes Image einer Marke bei den ,Stakeholdern‘ positionieren zu können, ist bei der Positionierung die Kundenidentität (bzw. Zielgruppenorientierung) auch in der Entwicklung der Markenidentität mitzuberücksichtigen. Ziel ist es dabei, das kognitive und emotionale Involvement zu steigern. Hohes kognitives Involvement bedeutet, dass die Kunden aktiv Informationen aufnehmen und diese mit hohem Aufwand verarbeiten. Während beim hohen emotionalen Involvement der Kunde kaum über ein Angebot nachdenkt. Sein Vertrauen ist da und die Begehrlichkeit ist geweckt, der Kunde wählt die Dienstleitung. Dies hängt oft mit persönlichen Werten, Motiven und Einstellungen zusammen.

3.3 Die Magie der Marke als sozialpsychologisches Phänomen

45

Dies zeigt, dass eine hohe Kundenorientierung bei der Markenentwicklung notwendig ist, was auch die sozialpsychologische Bedeutung der Marke aufzeigt. Marken können für Patienten und Angehörige in dem schwierigen und wichtigen kognitiven limitierten Auswahlprozess eine risikoreduzierende und entlastende Wirkung haben. Das habitualisierte Entscheidungsverhalten, ist für eine Markentreue ebenso von Bedeutung. Unter habituellem Verhalten wird auch ein verfestigtes, routinemäßiges Verhalten verstanden, das auch mit Gewohnheit gleichgesetzt werden kann und eine Vereinfachung im Entscheidungsprozess bedeutet. Eigene Erfahrungen, Lernprozesse und Identifizierung begünstigen die Entstehung der Habitualisierung. Ein letztes Entscheidungsverhalten ist das sogenannte ,impulsive Verhalten‘, das ein unmittelbar reizgesteuertes (reaktives) Entscheidungsverhalten ist und in der Regel stark von Emotionen begleitet wird. Die Bindungsfunktion der Marken lässt sich in ihrer Wirkung auf verhaltenswissenschaftliche sowie sozialpsychologische Konstrukte zurückführen. 3.3 Die Magie der Marke als sozialpsychologisches Phänomen Die Rahmenbedingungen der Märkte haben zu einem anderen Markenverständnis geführt. Ging man früher davon aus, dass eine Marke schon durch eine gezielte, gut dosierte Anwendung der richtigen Instrumente herangezüchtet werden könnte, so wird die Marke heute als sozialpsychologisches Phänomen betrachtet. Wie in Kapitel 3.2. bereits ausgeführt, gehören zu den sozio-emotionalen Vorteilen einer Marke auch die sinnstiftenden „psycho-soziale[n] Identitätsfunktionen (z.B. Bestätigung des Selbstwerts, Imageversprechen und soziale Integration) sowie auch die Belohnung durch Stimulation, Sicherheit […] und gesellschaftliche Unterstützung.“126

126 Fournier, zit.n. Esch 2005, S. 217

46

3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

Erfolgreiche Marken dienen der Identifizierung und werden durch klare Werte vermittelt, die uns wichtig sind. Die Marke entspricht unserem inneren Bild, um unsere Wünsche und Bedürfnisse zu befriedigen.127 „Starke Marken werden im Wesentlichen durch Gefühle, Emotionen, Bilder und andere nonverbale Eindrücke geprägt.“128 In diesem Zusammenhang greift Esch (2005) den von Biel (1996) zuvor geprägten Begriff der ,Markenmagie‘ auf, da für ihn Marken primär das Gehirn beeinflussen – „die Denk-, und die Schaltzentrale, da nur dort Informationen zu Marken abgelegt werden können, die dann zu entsprechenden Handlungen führen.“129 Biel (1996) war es, der beim Aufbau der Markenidentität von der Magie130 der Marke spricht.131 Dabei bringt er die Komponenten Image und Beziehung als Bestandteile der Magie einer Marke zueinander in Verbindung. Das Markenimage definiert er in Bezug auf die Markenfähigkeit und die Markenpersönlichkeit.132

127 128 129 130

Vgl. Herbst 2005, S. 26 Esch 2005, S. 63 Esch 2005, S. 63 Anmerkung: Magie ist hierbei im begrifflichen Verständnis von Bäumer (1999) zu verstehen. Er spricht von Magie als einem „Glaubenssystem und Weltbild, das Ordnung und Orientierung schafft.“ […] Nach seinem Verständnis werden in der Magie durch z.B. Symbole und Rituale „Kräfte und Mächte […], die Gegenständen und Wesenheiten zugeschrieben werden, durch verschiedene Handlungen verfügbar gemacht, […] ihre Wirksamkeit auf die Umwelt übertragen, um sowohl das eigene als auch das Wollen, Handeln […] anderer Menschen willentlich zu beeinflussen.“ (Bäumer 1999; zit.n. Auffarth, C. et al. (MLexR) S. 362) Magie wird hier „als positive Magie verstanden, die ein glückbringendes Ereignis herbeiführen […] sowie ein wohltätiger Nutzen für Einzelne oder Gruppen erzielt werden soll. […] Frei von Eigendünkel, Gewinnstreben und Machtgelüsten wird sie ausschließlich in der Ausrichtung praktiziert, Gutes und Heilung in der Welt im Allgemeinen und seinem Nächsten gegenüber im Besonderen zu bewirken.“ (Bäumer 1999; zit.n. Auffarth, C. et al. (MLexR) S. 363) 131 Vgl. Biel 1996, S. 2 132 Vgl. Esch 2000, S. 71 ff.

3.3 Die Magie der Marke als sozialpsychologisches Phänomen Abbildung 6:

47

Bestandteile der Magie der Marke. (Quelle: Esch 2000, S. 72) Magie der Marke

Image

Beziehung

Fähigkeiten

Wie sieht der Kunde die Marke

Persönlichkeit Wie sieht die Marke den Kunden

Nach Biel (2000) ist die Markenbeziehung das Verbindungsstück des Verbrauchers/Kunden zu den Elementen des Markenimages, der -persönlichkeit und -fähigkeit. Im Linsenmodell wird diese Verknüpfung verdeutlicht.133 Abbildung 7:

Linsenmodell der Markenwahrnehmung. (Quelle: Esch 2000, S. 74) Markenimage

Kunde

Markenbeziehungen

Fähigkeiten Persönlichkeit

„Starke Marken haben ihren Platz in den Köpfen der Kunden. […] Marken zielen auf das Herz und Hirn der Kunden.“134 Bei der Suche nach dem Tor zum Gedächtnis und dem Schlüssel für den Aufbau einer starken Marke stellt sich die 133 Vgl. Biel 2000, zit.n. Esch 2000, S. 74 134 Esch 2005, S. 63

48

3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

Frage: „Wie und warum wird das Markenwissen im Gehirn gespeichert.“135 Daher ist es notwendig, im kommenden Kapitel ein umfassenderes Verständnis hierfür zu gewinnen. 3.3.1 Die Marke und das Tor zum Gedächtnis 3.3.1.1 Aktivierung der Markenbindung durch Emotionen, Motivation und Einstellungen Markenbindung/Markentreue können durch Gefühle136 wie z.B. Verbundenheit, Sicherheit und Zufriedenheit entstehen. Diese wiederum gehören zu den menschlichen Antriebskräften der Motivation oder der Einstellung. So gehören z.B. nach der Bedürfnispyramide von Maslow die Verbundenheit, Sicherheit und Zufriedenheit zu den vier Grundbedürfnissen des Menschen und eine allgemeine menschliche Antriebskraft, die mit einer Handlungsorientierung verbunden ist (Motivation). In Verbindung mit der Auswahlentscheidung sind drei motivationale Einflussgrößen relevant: das wahrgenommene Auswahl- und Entscheidungsrisiko und das Anspruchsverhalten sowie die Zufriedenheit.137 Generell spielt bei den kognitiven Auswahlentscheidungsprozessen oft das sogenannte ,Preis-Leistungs-Verhältnis‘ eine Rolle. Die Qualität und der Nutzen werden gegenüber den Kosten abgewogen. Der Krankenhaus- und Gesundheitsbereich ist jedoch durch Festpreise und intransparente Kostenstrukturen (zumindest für gesetzlich-versicherte Kunden) gekennzeichnet. Daher spielt (wenn überhaupt) dieses ,Preis-Leistungs-Verhältnis‘ nur bei privatversicherten Kunden oder bei Zusatzleistungen eine Rolle. Umso höher steht bei der kognitiven limitierten Auswahl einer Einrichtung die Qualität im Fokus. Da der Kunde im Gesundheitswesen die eigentliche Kernleistung, die medizinische Leistung an sich, aus fehlender fachlicher Expertise nicht detailliert bewerten kann, sucht er 135 Esch 2005, S. 63 136 Anmerkung: Gefühle sind nach Scherer (2005): „Feelings is the total pattern of cognitive appraisal as well as motivational and somatic response patterning that underlies the subjective experience of an emotional episode“. (Scherer 2005, S. 699); Kroeber-Riel/Weinberg/ Gröppel-Klein (2009) fassen dies kurz zusammen mit: „Gefühle repräsentieren die kognitive Interpretation einer Emotion“. (Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 102) Für Trummer (2006) sind „Gefühle aktiv erlebtes Wahrnehmen und Erfahren, ausgerichtet auf bestimmte Gegenstände, Personen oder Sachverhalte. Gefühle werden zum Ausdruck gebracht, wobei zwischen zwei Ausdrucksformen (nonverbal und verbal) unterschieden werden kann. Im organisationalen Kontext spielt dies u. a. für Führungskräfte, die durch nicht-authentisches Auftreten schnell als unglaubwürdig eingestuft werden, eine Rolle“. (Trummer, M. 2006, S. 2 f.) 137 Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 434

3.3 Die Magie der Marke als sozialpsychologisches Phänomen

49

nach ersetzenden Qualitätsfaktoren (z.B. Prozessgestaltung, Verhalten des Personals, Umgebung, Ergebnisse), die ihm mögliche Hinweise auf die zu erwartende Qualität geben. Doch Gesundheitsleistungen sind Vertrauensleistungen. Sie benötigen einen Vertrauensvorschuss, um gewählt zu werden. Patienten vertrauen einer Einrichtung und dem Personal ihre Gesundheit bis hin zu ihrem Leben an. Hier kann das Ausmaß des Risikos unter Umständen existenziell sein. Das Gefühl der Sicherheit ist daher bei der Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit von großer Bedeutung. Dieses Sicherheitsbedürfnis führt unter Umständen zu einer Markentreue, die einem kognitiv und emotional wahrgenommenen Risiko bei erneuter Auswahl entgegenwirken kann.138 Der Wechsel von einer bekannten Marke zu einer neuen Marke stellt für manche Kunden ein Risiko dar, das sie ausschalten wollen, somit kann die Markenbindung auch aus risikotheoretischer Sicht als Festhalten an bewährten Entscheidungen erklärt werden.139 Eine Erfahrung, die schon zuvor als positiv gewertet wurde, erfüllt bei einer Wiederholung eine codierte Vorab-Erfahrung. Zufriedenheit des Kunden differenziert sich im Rahmen der Kunden- bzw. Markenbindung/-treue. So spielt für die Zufriedenheit des Kunden neben dem Dienstleistungsergebnis und dem Dienstleistungsprozess auch die Beziehung, die der Kunde zu dem Markenunternehmen aufgebaut hat, eine große Rolle.140 Denn „die Kunden bleiben vielmehr nur dann einer Marke treu, wenn sie auch mit dieser zufrieden sind. Es ist also unerlässlich für die Bindung der Kunden an eine Marke, die Zufriedenheit der Kunden stets im Auge zu behalten.“141 Die Zufriedenheit des Kunden basiert auf der Evaluierung der gesamten Erfahrung mit der Marke und seiner Markeneigenschaften (wie z.B. Image, Qualität und Preis).142 In einem nächsten Schritt wird die Markenzufriedenheit zur Markenloyalität in der Einstellungsdimension, der Kunde akzeptiert die Dienstleistung, das Dienstleistungsunternehmen, entwickelt Vertrauen zu der Marke und besitzt eine positive Einstellung. Am Ende dieser Kette entsteht Markenbindung.143 Insofern kann Kundenzufriedenheit als gesteuerte Markenwahrnehmung gesehen werden.144 138 139 140 141 142 143 144

Vgl. Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 438 Vgl. Köhler 2001, S. 27 Vgl. Köhler 2001, S. 26 Esch 2000, S. 1091 Vgl. Esch 2000, S. 1096 Vgl. Bruhn/Homburg 1999, S. 9 f. Vgl. Lieven 2009, S. 18

50

3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

Für Köhler (2001), der sich dabei auf empirische Untersuchungen von Weinberg (1992) stützt, können „Persönlichkeitstheorien […] ebenfalls das Zustandekommen von Markenbindung erklären. Weinberg (1992) konnte die Erkenntnis ableiten, dass das Treueverhalten mit zunehmendem Alter steigt, durch die Habitualisierungsneigung gefördert wird und mittels emotionaler Positionierung stabilisiert wird.“145 Positiv gespeicherte Erfahrungen werden als inneres Bild gespeichert und internalisiert. Eine bedeutende Rolle spielt hier die Markenidentität der Unternehmensmarke, denn eine starke Identität einer Marke ist die Voraussetzung für das Vertrauen der Konsumenten. Vertrauen führt wiederum zu Markentreue und zu langfristiger Kundenbeziehung. Alle Erklärungsansätze (Vertrauen, Identität, Sicherheit, Zufriedenheit und Verbundenheit) zur Ursache der Markentreue und Markenbindung als Bestandteil der Kundenbindung gehen letztlich auf psychologische (verhaltenswissenschaftliche) Konstrukte der Aktivierung146 zurück.147 Dabei haben „menschliche Antriebe […] für die Erklärung des Verhaltens eine zentrale Bedeutung. Sie versorgen das Individuum mit psychischer – seelischer – Energie, sie treiben das Verhalten an, sie sind dafür verantwortlich, dass überhaupt Verhalten zustande kommt.“148 „Emotionen, Motivation und Einstellung sind drei Konstrukte der Aktivierung […] welche dazu dienen, das Zustandekommen menschlicher Handlungen zu erklären. […] Es sind psychophysiologische komplexe Prozesse, die in durchaus enger Verflechtung mit den kognitiven Vorgängen entstehen und wirken können.“149 Gemeinsam haben alle drei Begriffe, dass sie sich auf „Vorgänge beziehen, die durch ihre inneren Antriebsspannungen gekennzeichnet sind.“150 „Zur Präzisierung und Differenzierung dieser drei Konstrukte lassen sich Emotionen151 als innere zentralnervöse Erregungsvorgänge verstehen, die mit einer kognitiven Interpretation gekoppelt sind. […] Motivationen hingegen sind

145 Köhler 2001, S. 27 146 Anmerkung: „Unter Aktivierung wird im Allgemeinen ein Erregungsvorgang verstanden, durch den der menschliche Organismus in einen Zustand der Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft versetzt wird.“ (Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 55) 147 Vgl. Köhler 2001, S. 27 148 Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 55 149 Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 55 150 Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 57 151 Anmerkung: „Primary emotions are represented across a wide variety of animals, and they are mediated by subcortical structures in the brain and initiated preconsciously. By contrast, sec-

3.3 Die Magie der Marke als sozialpsychologisches Phänomen

51

Emotionen (und Triebe), die mit einer kognitiven Zielorientierung in Bezug auf das Verhalten verbunden sind. […] Und Einstellungen sind wiederum Motivationen, die mit einer kognitiven Gegenstandbeurteilung verknüpft sind. Deutlich wird, dass die drei Begriffe aufeinander aufbauen: Motivation umfasst Emotion und Einstellung umfasst Motivation.“152 Unterschiede sind in der Fokussierung zu erkennen. „Emotionen sind nach innen - auf das eigene Erleben (wenn auch häufig von außen sichtbar) - gerichtet, Motivationen auf ein Handeln, und Einstellungen auf Objekte“153 oder auch Dienstleistungen. Die Verbindungen zwischen der Markenbindung und den Emotionen, Motivationen und Einstellungen als menschliche Antriebskräfte stellt Weinberg (1999) her und dahingehend wird von Köhler weiter ausgeführt. „Erweitert man den Motivationsbegriff um die kognitive Komponente der Gegenstandbeurteilung, führt dies zu dem Begriff der Einstellung. Sieht der Kunde in der Marke eine geeignete Möglichkeit (=kognitive Interpretation), seine Bedürfnisse zu befriedigen, entwickelt er eine positive Einstellung zur Marke. Einstellung bezeichnet hier also die subjektiv wahrgenommene Eignung der Marke zur Befriedigung von Motivationen. Einstellungen enthalten neben ihrer affektiven und kognitiven Komponente noch eine Verhaltenskomponente, so dass aus einer positiven Einstellung die Bereitschaft folgt, die Markenbindung zu intensivieren.“154 Es sind diese Konstrukte der Aktivierung, die im Rahmen der Markenbildung vor allem Einfluss auf den Prozess der Aktivierung selbst und auf die Informationsverarbeitungsprozesse (wie z.B. Wahrnehmung, Lernen und Gedächtnis) haben.155

152 153 154 155

ondary emotions involve the elaboration of primary emotions by the cognitive processes emanating from the neocortex. Secondary emotions develop over the lifetime of the individual so that the individual's experience of the world is a necessary component.“ (Ashkanasy/Härtel/Zerbe 2000, S. 5) Der Begriff Emotion geht etymologisch auf das lateinische emovere (= herausbewegen) und moveri (= bewegt werden) zurück. (Trummer, M. 2006, S. 2) Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 56 Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 57 Kroeber-Riel/Weinberg 1999, S. 44 f.; Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 59 f.; zit.n. Köhler 2001, S.27 Vgl. Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 55

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

3.3.1.2 Belohnungswerte im impliziten System schaffen eine nachhaltige Differenzierung „Der Hirnforscher Gerhard Roth erklärt die Bedeutung des Limbischen Systems für unsere Entscheidungen so: Das Gefühl, etwas zu wollen, kommt erst, nachdem das limbische System schon längst entschieden hat, was getan werden soll. Die Quintessenz ist, dass dieses System die letzte Entscheidung darüber hat, ob wir etwas tun oder nicht.“156 Nach der modernen Hirnforschung werden „eingehende […] Informationen zuerst danach bewertet, welche emotionale Bedeutung sie […] haben. Diese Aufgabe übernimmt der Mandelkern (Amygdala) im limbischen System, das die Gefühle steuert.“157 „Marken belohnen durch implizite Stimmungsregulationen.“158 „Der Autopilot und damit das automatisch-implizite System ist beim Kontakt mit Marken, bei der Markenwahl und bei Kaufentscheidungen insgesamt entscheidend.“159 „Die im Gehirn angelegten Belohnungswerte ermöglichen eine relevante Differenzierung von Marken. Starke Marken bieten ein differenzierendes Belohnungsmuster.“160 „Was wir mit Belohnung meinen, ist auch deutlich mehr als ein Bedürfnis, es liegt viel tiefer. Ein Bedürfnis ist explizit, vom Kunden in einer Befragung verbalisierbar, Belohnungen sind implizit und in der Regel nicht in herkömmlichen Befragungen explizierbar. Das Bedürfnis von Kunden wird nur allzu oft mit Produktleistung, mit expliziten Wünschen der Kunden gleichgesetzt.“161 „Bedürfnisse sind explizit und führen zu Austauschbarkeit. Nur die implizite Ebene der Belohnung schafft nachhaltige Differenzierung.“162 „Marken dienen über ihre impliziten Belohnungswerte der Inszenierung der eigenen Persönlichkeit. Das ist nur durch […] ein implizites Verständnis der Marken und ihrer impliziten Bedeutung möglich“163 „Unsere Neurologie und unsere Kultur geben die Leitplanken vor, welche Belohnungswerte prinzipiell vorhanden sind; diese haben wir alle gemeinsam. Aber jeder von uns hat natürlich ein ganz individuelles Persönlichkeitsprofil.“164

156 157 158 159 160 161 162 163 164

Herbst 2005, S. 29 Herbst 2005, S. 29 Scheier/Held 2007, S. 162 Scheier 2007, S. 310 Scheier/Held 2007, S. 149 Scheier/Held 2007, S. 138 Scheier/Held 2007, S. 139 Scheier/Held 2007, S. 159 Scheier/Held 2007, S. 152

3.3 Die Magie der Marke als sozialpsychologisches Phänomen

53

Daher wird „unsere Persönlichkeit […] von den gleichen Belohnungswerten bestimmt, aber jeder hat unterschiedliche Ausprägungen. […] Die Belohnungswerte bestimmen unsere Persönlichkeit und funktionieren wie Filter für unsere Wahrnehmung. Sie entdecken sofort, was uns wichtig ist - darauf sind sie spezialisiert. […] Belohnung führt zu Aufmerksamkeit.“165 „Die Bedeutung des impliziten Systems166 – des unbewussten Autopiloten im Kopf – wurde lange unterschätzt. Heute ist jedoch klar: Dieses System ist entscheidend für das reale (Kauf-) Verhalten, seine Bedeutung für das Marketing ist damit enorm. Denn über das implizite System verarbeitet das Gehirn ein Vielfaches dessen, was explizit verarbeitet wird. So kommt es, dass Kunden implizit deutlich mehr und häufig andere Dinge über Marken und Produkte lernen als explizit.“167 Nach Scheier (2007) kommen „mehrere Studien […] übereinstimmend zum Schluss, dass starke Marken im Gehirn zu einer so genannten ‚kortikalen Entlastung‘ führen. Wenn Menschen ihre Lieblingsmarke sehen, reduziert sich die Aktivierung in denjenigen Hirnarealen, die zum Nachdenken dienen.“168 „Gleichzeitig werden Hirnareale aktiviert, welche intuitive Entscheidungen regulieren und in denen kognitive und emotionale Prozesse integriert werden (speziell im so genannten unteren Stirnhirn). Mit anderen Worten: Eine starke Marke ermöglicht es dem Kunden, intuitiv und nicht-reflektiert zu entscheiden.“169

165 Scheier/Held 2007, S. 153 166 Anmerkung: Der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman nennt diese beiden Systeme ,System 1‘ und ,System 2‘. Das implizite System – der Autopilot (System 1): Dieses System arbeitet parallel, hoch effizient und weitestgehend unbewusst. Dazu gehören die Sinneswahrnehmung, viele Lernvorgänge (z.B. bei Werbung), Emotionen, Faustregeln, Stereotypen, Automatismen, Marken-Assoziationen, unbewusste Markenimages, spontanes Verhalten und intuitive Entscheidungen. Das implizite System regelt unter anderem das Lernen von Markenbotschaften und hier entfalten (starke) Marken ihre Wirkung. Um sich von älteren Konzepten des Unbewussten (z.B. von Freud) abzugrenzen, sprechen Forscher heute lieber von ,impliziten‘ Vorgängen. Letztlich bedeutet aber ,implizit‘, dass ein Vorgang vor- bzw. unbewusst und nicht reflektiert abläuft, beispielsweise in der Art, dass Menschen ihre Lieblingsmarke sehen und sich damit eine kortikale Entlastungsreaktion einstellt. Das explizite System – der Pilot (System 2): Das explizite System arbeitet seriell (,Step-by-step‘). Mit dem expliziten System denken wir nach (Arbeitsgedächtnis), verarbeiten den Satz „die Sonne scheint“, erstellen Kosten-Nutzen-Analysen und planen in die Zukunft. Dieses System gibt bei KonsumentenBefragungen beispielsweise die Antwort: „Ich habe Preise verglichen und mir das beste Angebot rausgesucht“ oder „Ich verstehe diese Werbung nicht“. (Scheier 2007, S. 308) 167 Scheier 2007, S. 308 168 Scheier 2007, S. 305 f. 169 Scheier 2007, S. 306

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

„Dabei ist zu beachten, dass das Gehirn bei solchen intuitiven Entscheidungen nur ca. 2 Prozent der gesamten Körperenergie verbraucht, während es beim Nachdenken bis zu 20 Prozent sind. […] Aufgrund des deutlich höheren Energieverbrauchs werden Menschen beim Nachdenken häufig auch kritischer. […] Dies zeigt nochmals die große Bedeutung von Marken: Sie ermöglichen nicht nur eine intuitive Kaufentscheidung, sondern im Ergebnis sind die Kunden damit auch zufriedener.“170 Hierin begründet sich der emotionale Nutzen als die Symbolkraft der Marke.171 Dieser ideelle Markennutzen kann einen intrinsischen oder extrinsischen Ursprung haben. Man kann die Marke also zur Selbstverwirklichung nutzen oder zur Selbstdarstellung.172 3.3.1.3 Codierte Erfahrungen und Eindrücke – Erlebniswerte und innere Bilder „Customers always have an experience -- good, bad or indifferent -- whenever they purchase […] service from a company.“173 Durch Eindrücke, die jeder Kunde unweigerlich beim Kontakt mit dem Unternehmen gewinnt, wird sein Erfahrungsschatz mit der Dienstleistung und dem Unternehmen und ganz allgemein mit der Marke erweitert. Daher gehört es zu einer erfolgreichen Markenführung, dass die Unternehmen ihren Kunden Eindrücke vermitteln, die zu einer Erfahrung der Zufriedenheit führt.174 Insofern kann Kundenzufriedenheit als gesteuerte Markenwahrnehmung gesehen werden. Starke emotional mitreißende Marken aktivieren den Mandelkern und öffnen das Tor zum Gedächtnis. Sie transportieren Emotionen ins Gedächtnis und werden demnach besser erinnert.175 „Rund um den Markenkern bildet der Kunde Assoziationen […]. Sie entstehen über die Kommunikationspolitik, aber auch durch immer gleiche direkte oder indirekte Erfahrungen der Kunden mit der Marke.“176

170 171 172 173

Scheier 2007, S. 306 Vgl. Esch 2005, S. 119 Vgl. Esch/Langer/Rempel 2005, S. 119, zit.n. Höpfner 2010, S. 38 Anmerkung: Übersetzung: „Kunden haben immer eine Erfahrung - gut, schlecht oder gleichgültig -, wenn sie […] Service von einem Unternehmen kaufen.“ (Barry/Carbone/Haeckel 2002, S. 5) 174 Vgl. Barry/Carbone/Haeckel 2002, S. 5 175 Vgl. Herbst 2005, S. 29 176 Pförtsch/Schmid 2005, S. 262

3.3 Die Magie der Marke als sozialpsychologisches Phänomen

55

Die Schaffung von beständigen und konsistenten Erfahrungs- und Erlebniswelten ist Basis für eine langfristig erfolgreiche Markenführung. „Erfahrungen (engl. experiences) kommen durch Eindrücke (engl. clues) zustande.“177 Innerhalb der drei Kategorien (Functionals, Mechanics und Humanics)178 können Kunden die Eindrücke wahrnehmen. Während Kunden Functionals eher rational erfassen und auch nur kurzfristig abspeichern, sprechen die Eindrücke der Mechanics und Humanics sie dagegen emotional und somit nachhaltiger an.179 Daher ist es im Wettbewerb nicht nur notwendig, sich rational relevant von vergleichbaren Angeboten zu differenzieren, sondern auch eine emotionale Bindung zu schaffen.180 „Companies compete best when they combine functional and emotional benefits in their offerings. Emotional bonds between companies and customers are difficult for competitors to sever“181,182 Zu den sozio-emotionalen Vorteilen einer Marke gehören auch die „psychosoziale Identitätsfunktionen (z.B. Bestätigung des Selbstwerts, Imageversprechen und soziale Integration) wie auch Belohnung durch Stimulation, Sicherheit, Ernährung, Hilfeleistung und gesellschaftliche Unterstützung gehören.“183 „Mit starken Marken verbinden viele Kunden klare Vorstellungen und innere Bilder.“184 Sie speichern die verschiedenen funktionalen und emotionalen Informationen als „Gesamteindruck von Marken als innere Gedächtnisbilder, so ge-

177 Lieven 2009, S. 17 178 Anmerkung: 1. Kategorie der „Functionals: diese Eindrücke beziehen sich auf die Erfassung der technische Qualität und z.B. ob ein ausreichender Service besteht. 2. Mechanics“: es sind Eindrücke, die aus dem Erleben in Verbindung mit den Objekten/Umgebung, Designs, Aussehen, Oberfläche, Geruch, Atmosphäre usw. bewertet werden. 3. „Humanics“: sie beinhaltet alle Eindrücke, die von Menschen ausgehen, wie Erscheinungsbild, Sprache und charakterliche Eigenschaften. (Lieven 2009, S. 17) 179 Vgl. Lieven 2009, S. 17 180 Vgl. Pförtsch/Schmid 2005, S. 264 181 Barry/Carbone/Haeckel 2002, S. 5 182 Anmerkung: Übersetzung: „Unternehmen bestehen im Wettbewerb am besten, wenn Sie den funktionalen und den emotionalen Nutzen in ihrem Angebot miteinander verbinden. Emotionale Bindungen zwischen Unternehmen und Kunden sind schwierig für die Wettbewerber zu durchtrennen.“ (Barry/Carbone/Haeckel 2002, S. 5) 183 Esch 2000, S. 143 184 Esch 2000, S. 235

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

nannte mental images. […] Der Prozess der Entstehung, Verarbeitung und Speicherung solcher inneren Bilder wird ,Imagery‘ genannt, sie sind Teil des Markenimages.“185 Sind diese Gedächtnisbilder erfolgreich, dann beschreiben „alles, was der (Kunde) mit der Marke verbindet, was er mit ihr assoziiert, welche Erfahrungen er gemacht hat, was er über die Marke weiß. Diese kognitiven Prozesse sind mit Emotionen und Bewertungen verknüpft, lösen sie aus. Emotionen und Bewertungen sind die Folge solcher kognitiver Prozesse. Eine Marke ist nicht an und für sich sympathisch oder wird aus sich heraus als (vertrauensvoll und glaubwürdig) erlebt, sondern diese Einschätzung begründet sich auf den mit der Marke verbundenen Vorstellungen und Bewusstseinsprozessen, die der (Kunde) als (vertrauensvoll und glaubwürdig) interpretiert.“186 Der Aufbau eines Markenbilds bedeutet für Ruge (2000), ein inneres Bild von der Marke in den Köpfen des Kunden als Gedächtnisbild zu verankern und zu positionieren.187 „Unter inneren Bildern versteht man konkrete, bildliche und quasi-sensorische Vorstellungen, die auf einem anderen Gedächtniscode als verbale Informationen basieren. […] Diese sogenannten ,inneren Bilder‘ können in ihrer Fähigkeit, Intensität und Emotionalität so empfunden werden wie reale Bilder.“188 Die Positionierung meint aus theoretischer Sicht „den Aufbau spezifischer und bedürfnisrelevanter Gedächtnisinhalte für die Marke.“189 Es ist „die Lebendigkeit eines inneren Bildes, die mit der positiven Einstellung zur Marke korreliert.“190 Dann können die „Vorstellungsbilder in den Köpfen der Anspruchsgruppen, eine Identifikations- und Differenzierungsfunktion übernehmen und das Wahlverhalten prägen.“191 Für Sommer (1998) ergibt sich „die Funktion einer Marke […] aus der Umsetzung eines Gedächtnisbildes. Eine wesentliche Basis stellt die Attributionstheorie192 der Psychologie dar.“193 Für ihn erklärt sich die „von uns beobachtete 185 186 187 188 189 190 191 192

Herbst 2005, S. 76 Sommer 1998, S. 71 Vgl. Ruge 2000, zit.n. Esch 2000, S. 168 Esch 2000, S. 168 Esch 2000, S. 235 Herbst 2005, S. 78 Esch 2008, S. 22 Anmerkung: Die Attributionstheorien der Psychologie beschreiben, welche Ursachenzuschreibungen (Attributionen) Menschen vornehmen, um sich das Verhalten von anderen Menschen oder ihr eigenes Verhalten zu erklären. (Stangl, 2019) 193 Sommer 1998, S. 79

3.3 Die Magie der Marke als sozialpsychologisches Phänomen

57

Wirklichkeit […] aufgrund von Ursachen, die wir der beobachteten Wirklichkeit zuschreiben. Da es eine objektive Wirklichkeit nicht gibt, sind wir gezwungen, unsere Wirklichkeit zu konstruieren. Dies ist nur mit Hilfe einer Struktur und somit eines erkennbaren Sinns möglich. Der Mensch ist zumindest psychologisch so angelegt, dass er immer auf der Suche nach Lebenssinn oder einem Grund für das Wahrgenommene und Erlebte ist. Diese Suche nach Sinn ist aufgrund der Konstruktion unseres Bewusstseins notwendig. Da wir nicht in der Lage sind, das Wahrgenommene und Erlebte detailgenau zu speichern - selbst das Speichervolumen unseres Gehirns wäre sehr schnell am Ende seiner Kapazität angelangt - müssen wir Regeln und Zusammenhänge speichern, die uns erlauben, das Erlebte zu rekonstruieren. Lässt sich ein solcher Grund oder Sinn nicht logisch ermitteln, dann erfolgen solche Zusammenhänge in der Regel aufgrund unserer Erfahrung und Intuition.“194 „Gibt es keine gültigen Regeln, dann greifen wir auf die Analogie der Erfahrung zurück und behandeln das Erlebte genauso wie die unserer Ansicht nach ähnlichste Situation.“195 Nach Sommer (1998) wurde „die Attributionstheorie […] insbesondere im Rahmen der individuellen Steuerung des eigenen Erfolges entwickelt. Um beispielsweise sein Verhalten möglichst so zu gestalten, dass der eigene Erfolg maximiert wird, bedarf es der Ableitung von Ursachen für Erfolg und Misserfolg. […] Jeder Erfolg wird dann die einmal formulierte subjektive Theorie im Sinne der Attribution bestätigen. […] bei diesen Attributionsprozessen handelt es sich nicht um reflektierte Bewusstseinsvorgänge, sondern sie können weitgehend unabhängig von unserem rationalen ICH, aber auch auf der Bewusstseinsebene des SELBST ablaufen. Wir können beobachten, dass die Mechanismen, die das SELBST aufgrund der Attribution von Wirkung vermutet, vom ICH vollkommen anders interpretiert. Die Interaktion von ICH und SELBST erlaubt es uns, einerseits an die Wirkung bestimmter Mechanismen zu glauben, anderseits aber auch rationale Begründungen für unser Verhalten zu finden. Wir haben selbst eine Vielzahl an Ritualen […] entwickelt, die wir permanent nutzen, und von deren Wirkung wir überzeugt sind. […] Teilweise durchschauen wir unsere Absicht, dennoch verhalten wir uns so.“196

194 Sommer 1998, S. 79 f. 195 Sommer 1998, S. 80 196 Sommer 1998, S. 79f.

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

„Solche Attributionen werden von uns selten reflektiert vorgenommen, sondern resultieren in habitualisierten Verhaltensmustern. Bestimmte Situationen sind mit bestimmten Verhaltensweisen fest verknüpft, das Verhalten ist stark ritualisiert.“197 Für Ruge (2000) treten „Marken […] uns mit ihren Gesichtern gegenüber - mit Bildern. […] Und genau wie bei Menschen gibt uns das Markengesicht die Möglichkeit, eine Marke zu identifizieren, mit ihr vertraut zu werden, sie wiederzuerkennen und uns an sie zu erinnern. Es drückt für uns den Charakter, die Stärken und Schwachen einer Marke - ihre ,inneren Werte‘ aus.“198 „Grundsätzliche Wertebereiche lassen sich […] oft nur in Form bestimmter Situationen (Erlebniswelten) oder Rollen darstellen. Gerade die sozialen Werte, wie Verantwortung, Liebe, Freundschaft und Fürsorge gibt es nicht ,an und für sich‘, sondern diese Begriffe bedürfen der konkreten Darstellung in Form spezifischer Erlebnisbereiche.“199 „Die Identifikation mit der Marke entsteht aus der Übereinstimmung zwischen der Erlebniswelt, die sie schafft, und meinen persönlichen Vorstellungen und Erwartungen. […] Die Identifikation mit den von der Marke vermittelten Bildern und Werten stellt somit die maximale Übereinstimmung zwischen dem individuellen Selbstkonzept und dem Markenbild dar.“200 „Der Erfolg von Unternehmen hängt ganz wesentlich von ihrer Identität ab. Sie bildet eine Art ‚Markierung‘ der Organisation im Wahrnehmungsfeld von Mitarbeitern und Öffentlichkeit. Die Unternehmensidentität wirkt wie eine Erinnerungsmarke für Erfahrungen, Assoziationen und Werte, die als Sinnfelder im Sediment des öffentlichen Gedächtnisses abgelagert sind. Insoweit ist Identität die Chiffre eines besonderen Erfahrungszusammenhangs, in dem Augenblickseindrücke mit der Geschichte des Unternehmens in Einklang gebracht werden und in fest umrissene Vorstellungsbilder zusammengebunden werden. Gleichzeitig bildet Identität ein Handlungsprinzip, das die Unternehmensprozesse auf eine unverwechselbare Weise nach innen und außen erkennbar macht und leitet.“201

197 198 199 200 201

Sommer 1998, S.79f. Esch 2000, S. 167 Sommer 1998, S. 66 Sommer 1998, S. 89f. Buss 2012, S. 160

3.3 Die Magie der Marke als sozialpsychologisches Phänomen

59

3.3.2 Die Marke als Persönlichkeit und sinnstiftender Beziehungspartner Beziehungen gehören zum Leben! Sie sind ein Teil der Persönlichkeit und sie tragen entscheidend zum Sinn des Lebens einer Person bei. „Nach Berscheid&Peplau (1983) und Hinde (1995) verfolgen sie im Kern die Absicht den Sinn des Lebens einer Person zu bereichern und zu strukturieren.“202 Auch Herbst (2005) betont hierzu, es ist die starke Persönlichkeit, die uns das Vertrauen ermöglicht. Sie wird für uns zum Garant und vermittelt uns das Gefühl der Zuverlässigkeit.203 „Wir wissen, was die Marke kann, welchen einzigartigen Nutzen sie erbringt und wohin sie sich entwickelt. Vertrauen in die Marke ist für uns deshalb so wichtig, weil sie unser wahrgenommenes Risiko verringert, dass uns sie Marke enttäuscht.“204 Gilmores (1919) ,Theorie des Animismus‘205 besagt, dass „Menschen grundsätzlich dazu neigen Artefakte durch die Verleihung menschlicher Eigenschaften zu ,beseelen‘. Aus dieser Perspektive verfügen auch Marken über ,menschliche Merkmale‘ im Sinne einer eigenen Persönlichkeit. Diese für Marken relevanten Persönlichkeitsmerkmale finden ihren Ausdruck im verbalen und non-verbalen Kommunikationsstil einer Marke. Der markenspezifische Kommunikationsstil wird sowohl von den typischen Repräsentanten einer Marke, als auch von der Herkunft der Marke geprägt. Nach der Markteinführung einer Marke kann die Persönlichkeit der Marke auch durch die typischen Verwender und Käufer der Marke beeinflusst werden. Diese Prägung der Markenpersönlichkeit kann bewusst geplant und in der Markenkommunikation ausgelebt werden. Vor allem über Markenpersönlichkeit und die Markenwerte kann die Beziehung zwischen der Marke und den Nachfragern emotional aufgeladen und dadurch gefestigt werden.“206 Um die Identität der Marke nicht nachhaltig zu beschädigen, sollten die essenziellen Merkmale der Markenidentität von der Markenführung nicht oder nur geringfügig verändert werden. Die Veränderung der akzidentiellen Merkmale dagegen stellt kein Problem für die Marke dar.207

202 203 204 205 206 207

Berscheid/Peplau 1983/Hinde 1995, zit.n. Esch 2000, S. 141 Vgl. Herbst 2005, S. 57 Herbst 2005, S. 57 Vgl. Kühn 2014 S. 19 Vgl. Meffert/Burmann/Koers 2005, S. 62, zit.n. Höpfner 2014 S. 32 f. Vgl. Meffert/Burmann/Koers 2005, S. 63, zit.n. Höpfner 2014 S. 33

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

Aaker (1997) definiert die Markenpersönlichkeit als die Gesamtheit der menschlichen Eigenschaften, die man einer Marke zuspricht.208 Es sind zum Beispiel Eigenschaften wie Dominanz, verantwortliches Handeln, Fürsorge, Empathie aber auch Eigenschaften des Lebensstils wie Spaß oder Abenteuerlust.209 Der positive Einfluss auf die Kundeneinstellung zur Marke durch Persönlichkeitsassoziationen und wahrnehmbare bedeutende und sinnhafte Charakterzüge wurde schon von Aaker (1999) nachgewiesen.210 Esch (2000) betont dies, indem er sagt: „Eine Markenpersönlichkeit kann die eigene Persönlichkeit reflektieren und deshalb zu einer positiven Einstellung zur Marke führen oder Idealvorstellungen der Konsumenten hinsichtlich einer wünschenswerten Persönlichkeitsstruktur umfassen und deshalb Präferenzen auslösen.“211 „Marken kommunizieren unsere Persönlichkeit, - sie sind Ausdruck unserer Persönlichkeit.“212 Marken werden durch den Kunden/Nutzer belebt, vermenschlicht oder geradezu personifiziert und für Fournier (1998) legitimiert dieses Verständnis die Marke als Beziehungspartner zu begreifen.213 Dieses Verständnis der Personifizierung der Marke versteht Biel (1993) als Magie der Marke und dies ist auch von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung einer starken Markenidentität.214 „Die Marke baut Beziehungen zu Menschen auf.“215 Marken signalisieren: Einstellungen und Werte.216 Die Markenbeziehung beinhaltet zweierlei Perspektiven, die der Markenidentität und des -images.217 Beide Konstrukte werden im Kapitel 3.4.3 näher thematisiert. Nach Fournier (1998) darf beim Aufbau der Marken und in der Markenführung „die Marke nicht als ein passives Objekt von Marketingtransaktionen betrachtet werden“218, sondern muss sich als ein aktiver und tatkräftiger Teil einer Beziehung verhalten. Das Markenverhalten steht im Mittelpunkt der Aktivitäten in der Beziehung. Interaktiv, erlebbar, erfahrbar und wahrnehmbar qualifiziert

208 209 210 211 212 213 214 215 216 217 218

Vgl. Aaker 1997, S. 347 Vgl. Esch 2000, S. 72 Vgl. Aaker 1999, S. 45 ff. Esch 2003, S. 103 Scheier/Held 2007, S. 157 Vgl. Fournier 1998, zit.n. Esch 2000, S. 139 Vgl. Biel 1993, zit.n. Esch 2000, S. 72 Herbst 2005, S. 114 Vgl. Debatin 2006, S. 93 Vgl. Esch 2000, S. 74 Vgl. Fournier 1998, zit.n. Esch 2000, S. 139

3.3 Die Magie der Marke als sozialpsychologisches Phänomen

61

sich die Marke als reziproker Beziehungspartner.219 Dabei dient die Markenbeziehungsqualität der Stärke und Dauerhaftigkeit einer Markenbeziehung. Charakteristische Kategorien einer Markenbeziehungsqualität sind z.B. Intimität, Bindung, Partnerqualität, Verknüpfung der Marke mit der eigenen Identität, Interdependenz und Liebe. Für Fournier (1998) haben Markenbeziehungen einen ganzheitlichen Charakter220 und sie unterscheiden sich in der Art der Bindung sowie in der Intensität der unterschiedlichen Ausprägung. Ihre Basis der Verbundenheit kann formale und/oder emotionale Züge haben.221 „Brand Relationship Quality zeigen hierzu wichtige Aspekte zur Aufrechterhaltung einer Beziehung auf, in der mehr als nur positive Gefühle gehören. Hierbei verbinden sich affektive und gefühlsbetonte Hinwendung (Liebe/Leidenschaft und Verknüpfung der Marke mit der eigenen Identität), Verhaltensbindungen (Interdependenz und Bindung) und unterstützende kognitive Glaubensvorstellungen (Intimität und Qualität der Marke als Partner).“222 Marken können die Rolle wirkungsvoller Bedeutungsträger einnehmen, „die bei der Begründung, Schöpfung und Schaffung der eigenen Identität […] bewusst und differenziert eingesetzt werden“223 können. Fournier erklärt den Bedeutungshintergrund der Beziehung durch die Sinnhaftigkeit, die es für die jeweiligen Beziehungspartner hat. Drei wesentliche Sinnquellen lassen sich unterscheiden, die sich wechselseitig beeinflussen können: die psychologische, die sozio-kulturelle und die relationale Sinnquelle. So kann zum Beispiel eine Sinnhaftigkeit im psychologischen Kontext einer bestehenden Beziehung durch die wahrgenommene Bedeutung der ausgewählten Marke für die eigene Persönlichkeit (als identitätsbildende Aktivität) empfunden werden.224 Biel (1996) beschreibt, „die weichere Seite des Branding - die Markenidentität - wird zunehmend als die in Wirklichkeit härtere Seite der Markendifferenzierung erkannt. Die Markenidentität spiegelt sich im Image und der Persönlichkeit einer Marke wider sowie in der Qualität der Verbindung zwischen Marke und Verbraucher. Die Markenidentität ist in den meisten Fällen tief verwurzelt in der Unternehmenskultur.“225 219 220 221 222 223 224 225

Esch 2000, S. 140 Vgl. Fournier 1998, zit.n. Esch 2000, S. 159 Vgl. Esch 2000, S. 143 Vgl. Fournier 1998, zit.n. Esch 2000, S. 155 f. Fournier 1998, zit.n. Esch 2000, S. 159 Esch 2000, S. 141 Biel 1996, zit.n. Esch 2000, S. 79

62

3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

Abbildung 8:

Basismodell der Markenbeziehungsqualität. (Quelle: Esch 2000, S. 156) Prozess der Schaffung, Entwicklung und Verstärkung von Bedeutung

Verhalten der Marke

Verhalten des Kunden

Qualität der Markenbeziehung Qualität der Marke als Partner

Verknüpfung der Marke mit der eigenen Identität Liebe und Leidenschaft

Anpassung

Bindung

Toleranz / Nachsichtigkeit

Interdependenz

Voreingenomme Wahrnehmung des Partners

Abwertung von Alternativen

Intimität

Voreingenommene Attribution

Stabilität und Dauerhaftigkeit der Beziehung

Biel (1996) versteht unter „Markenfähigkeiten […] jene vertrauten funktionalen und emotionalen Attribute, die zur Markenleistung in Beziehung stehen. […] Alle Marketingspezialisten nutzen Markenfähigkeiten als Teil der Markenstrategie, da ihr Wert eindeutig ist.“226 Sicherheit, Fachwissen, Professionalität und Qualitätsversprechen sind Beispiele für Fähigkeiten, die „zur notwendigen Bedingung werden. Man muss sie haben, aber sie reichen nicht zur Differenzierung aus.“227 Die nachhaltige Differenzierung erreicht man durch Emotionen, Erleb-

226 Biel 1996, zit.n. Esch 2000, S. 72 227 Biel 1996, zit.n. Esch 2000, S. 75

3.3 Die Magie der Marke als sozialpsychologisches Phänomen

63

niswelten und innere Bilder, welche die Markenpersönlichkeit und Markenidentität bieten. Dabei führt Hubbard (2004) aus, dass die Markenpersönlichkeit verschiedentlich mit Markenidentität gleichgesetzt wird.228 Zur Differenzierung dieser beiden sehr ähnlichen Begriffe kann man ausführen, dass die Markenidentität als das Bild eines Unternehmens bezeichnet wird, welches aktiv […] gestaltet werden kann. Die Markenpersönlichkeit hingegen ist das erfahrbare Ergebnis dieser Gestaltungsbemühungen und sie drückt sich aus durch […] Erfahrungen und Eindrücke der Kunden.229 Nach Fournier (2000) werden „Markenbeziehungen […] auf der Ebene der von den Konsumenten gelebten Erfahrungen wirksam. Konsumenten […] kaufen Marken nicht nur aus Neigung oder weil sie gut funktionieren. Sie sind Teil einer Beziehung mit einer Gesamtheit von Marken mit dem Effekt, dass die Konsumenten von der Bedeutung, die diese Marken ihrem Leben hinzufügen, profitieren. Einige dieser Bedeutungen sind funktional und praktisch, andere sind eher psychosozial und emotional. Aber alle finden bewusst statt und stellen die eigene Persönlichkeit in den Mittelpunkt. Sie sind daher von großer Bedeutung für die Personen, die diese Beziehung eingehen. Der Prozess der Sinngebung, -manipulation, -inkorporation und -artikulation verleiht dem Beziehungskonzept im Konsumenten-Markenbereich Authentizität.“230 Denn Kunden „wählen nicht Marken, sie wählen Leben.“231 3.3.3 Herauszustellende Befunde des Teilkapitels Die Magie der Marke und das Tor zum Gedächtnis Die Bindungsfunktionen der Marken lassen sich in ihrer Wirkung auf verhaltenswissenschaftliche sowie sozialpsychologische Konstrukte zurückführen. Markenbindung/Markentreue können durch Gefühle/Emotionen entstehen. Es sind die psychologischen (verhaltenswissenschaftlichen) Konstrukte wie z.B. der Verbundenheit, Vertrauen, Sicherheit und Zufriedenheit, die wiederum zu den menschlichen Antriebskräften der Motivation oder der Einstellung gehören.

228 229 230 231

Hubbard 2004, S. 112 Esch/Langner/Rempel 2005, S. 141 Fournier, zit.n. Esch 2000, S. 224 Fournier, zit.n. Esch 2000, S. 160

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

In Verbindung mit der Auswahlentscheidung sind drei motivationale Einflussgrößen relevant: das wahrgenommene Auswahl- und Entscheidungsrisiko und das Anspruchsverhalten sowie die Zufriedenheit. Das Gefühl der Sicherheit ist daher bei der Einschätzung der Vertrauenswürdigkeit von großer Bedeutung. Dieses Sicherheitsbedürfnis führt unter Umständen zu einer Markentreue, die einem kognitiv und emotional wahrgenommenen Risiko bei erneuter Auswahl entgegenwirken kann. Zufriedenheit des Kunden differenziert sich im Rahmen der Kunden- bzw. Markenbindung/-treue. So spielt für die Zufriedenheit des Kunden neben dem Dienstleistungsergebnis und dem -prozess auch die Beziehung, die der Kunde zu dem Markenunternehmen aufgebaut hat, eine große Rolle. Eine bedeutende Rolle spielt hier die Markenidentität der Unternehmensmarke, denn eine starke Identität einer Marke ist die Voraussetzung für das Vertrauen der Konsumenten. Vertrauen führt wiederum zu Markentreue und zu langfristiger Kundenbeziehung. Marken beeinflussen uns durch das implizite System. Belohnungswerte aktiveren das limbische System: Eingehende Informationen werden im Mandelkern (Amygdala) im limbischen System (welches die Gefühle steuert) zuerst danach bewertet, welche emotionale Bedeutung sie haben. Marken belohnen durch implizite Stimmungsregulationen. Durch die neurobiologische Stimulation des limbischen Systems können Marken über ihre impliziten Belohnungswerte der Inszenierung, der Bestätigung und der Entwicklung der eigenen Persönlichkeit dienen. In diesem Zusammenhang wurde auch der Begriff: ,Markenmagie‘ geprägt, da Marken primär das Gehirn beeinflussen. Die Schaffung von beständigen und konsistenten Erfahrungs- und Erlebniswelten ist Basis für eine langfristig erfolgreiche Markenführung. Mit starken Marken verbinden viele Kunden klare Vorstellungen und innere Bilder – der Gesamteindruck von Marken wird als innere Gedächtnisbilder, sogenannte ,mental images‘ (auch ,Imagery‘ genannt), gespeichert und diese sind ein Teil des Markenimages. Eine Marke stellt ein Gedächtnisbild dar, welches aus den Erfahrungen mit und dem Wissen über die Marke resultieren. Der Aufbau eines Markenbilds bedeutet, ein inneres Bild von der Marke in den Köpfen des Kunden als Gedächtnisbild zu verankern und zu positionieren, dann können Marken eine

3.3 Die Magie der Marke als sozialpsychologisches Phänomen

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Identifikations- und Differenzierungsfunktion übernehmen und das Wahlverhalten fördern. Marken treten uns mit ihren Gesichtern gegenüber – mit Bildern. Und genau wie bei Menschen gibt uns das Markengesicht die Möglichkeit, eine Marke zu identifizieren, mit ihr vertraut zu werden, sie wiederzuerkennen und uns an sie zu erinnern. Es drückt für uns den Charakter, die Stärken und Schwachen einer Marke – ihre ,inneren Werte‘ – aus. Die Identifikation mit der Marke entsteht aus der Übereinstimmung zwischen der Erlebniswelt, die sie schafft, und meinen persönlichen Vorstellungen und Erwartungen. Die Identifikation mit den von der Marke vermittelten Bildern und Werten stellt somit die maximale Übereinstimmung zwischen dem individuellen Selbstkonzept und dem Markenbild dar. Die Marke als Persönlichkeit und sinnstiftender Beziehungspartner Beim Aufbau der Markenidentität spricht Biel von der Magie der Marke. Dabei bringt er die Komponenten Image und Beziehung als Bestandteile der Magie einer Marke zueinander in Verbindung. Das Markenimage definiert er in Bezug auf die Markenfähigkeit und die -persönlichkeit. Die Markenpersönlichkeit ist die Gesamtheit der menschlichen Eigenschaften (wie z.B. Eigenschaften wie Dominanz, verantwortliches Handeln, Fürsorge, Empathie, aber auch Eigenschaften des Lebensstils wie Spaß oder Abenteuerlust), die man einer Marke zuspricht. Nachgewiesen wurde der positive Einfluss auf die Kundeneinstellung zur Marke durch die Persönlichkeitsassoziationen und die wahrnehmbaren bedeutenden und sinnhaften Charakterzüge. Markenpersönlichkeit ist das erfahrbare Ergebnis dieser Gestaltungsbemühungen und sie drückt sich durch Erfahrungen und Eindrücke aus. Hingegen wird die Markenidentität als das Bild eines Unternehmens bezeichnet, welches aktiv gestaltet werden kann. Marken kommunizieren mit unserer Persönlichkeit – sie sind Ausdruck unserer Persönlichkeit. Sie können die Rolle wirkungsvoller Bedeutungsträger einnehmen, die bei der Entwicklung der eigenen Identität bewusst und differenziert zum Einsatz kommen. Marken werden durch den Kunden/Nutzer belebt, vermenschlicht oder geradezu personifiziert; die Marke wird als Beziehungspartner begriffen. Dieses Verständnis der Personifizierung der Marke wird auch als Magie der

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

Marke verstanden und dies ist auch von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung einer starken Markenidentität. Marken signalisieren Werte sowie Einstellungen und bauen Beziehungen zu Menschen auf. Dabei dient die Markenbeziehungsqualität der Stärke und Dauerhaftigkeit einer Markenbeziehung. Charakteristische Kategorien einer Markenbeziehungsqualität sind z.B. Bindung, Partnerqualität, Interdependenz, Verknüpfung der Marke mit der eigenen Identität. Der Bedeutungshintergrund der Beziehung erklärt sich durch die Sinnhaftigkeit, die es für die jeweiligen Beziehungspartner hat. Drei wesentliche Sinnquellen lassen sich unterscheiden, die sich wechselseitig beeinflussen können: die psychologische, die sozio-kulturelle und die relationale Sinnquelle. Eine Sinnhaftigkeit (im psychologischen Kontext einer bestehenden Beziehung) durch die wahrgenommene Bedeutung der ausgewählten Marke für die eigene Persönlichkeit (als identitätsbildende Aktivität) wird empfunden. Markenfähigkeiten sind vertraute funktionale und emotionale Attribute, die zur Markenleistung in Beziehung stehen. Marketingspezialisten nutzen die Markenfähigkeiten (Sicherheit, Fachwissen, Professionalität und Qualitätsversprechen) als Teil der Markenstrategie, da ihr Wert eindeutig ist. Die zwei Perspektiven der Markenbeziehungen sind die Markenimages und die -identität. 3.4 Grundlagen der Markenführung im Krankenhaussektor 3.4.1 Markenarchitektur und Markenstrategie im Krankenhaussektor In der Vergangenheit und auch heute wird die Marke ,Krankenhaus‘ oft mit der Reputation einzelner medizinischer Abteilungen oder ihrer Chefärzte verwechselt oder gar gleichgesetzt.232 Um dies zu widerlegen, bedarf es eines differenzierten Blicks auf die Möglichkeiten für den Aufbau von Krankenhausmarken. Dazu ist es notwendig, die verschiedenen Formen der Markenarchitektur und deren -strategie näher zu beleuchten und zu unterscheiden. „Der Begriff Markenarchitektur umfasst die Anordnung sämtlicher Marken eines Unternehmens zur

232 Vgl. Stoffers 2008, S. 7

3.4 Grundlagen der Markenführung im Krankenhaussektor

67

Festlegung der Markenpositionierung aus strategischer Sicht, wobei die Beziehungen der Marken untereinander sowie die Beziehungen zu ihren Zielgruppen berücksichtigt werden müssen.“233 Die Festlegung der Markenstrategie und damit zusammenhängend der Markenarchitektur ist auch eine essenzielle Grundlage für die Bildung eines Corporate Brandings.234 Ein differenzierter Blick scheint an dieser Stelle sinnvoll zu sein, um die Möglichkeiten für den Aufbau von Krankenhausmarken anhand von Markenstrategien und -architekturformen näher zu beleuchten und zu unterscheiden. In der Literatur lassen sich auf der Grundlage von Esch (2010) drei klassische Markenstrategien zurückführen: Die Einzelmarkenstrategie – für die Produkte bzw. Dienstleistungen eines Anbieters werden jeweils eigene Marken entwickelt und auf dem Markt positioniert. Welcher Anbieter hinter dem Produkt steht, ist vom Kunden nicht gleich erkennbar. Familienmarkenstrategien – mehrere Leistungen können unter einer Marke als Markenfamilie zusammengeführt werden, wobei auch mehrere Markenfamilien nebeneinander bestehen können. Dachmarkenstrategie – sämtliche Leistungen werden einheitlich als Unternehmensmarke bzw. Dachmarke geführt. Das Unternehmen selbst und dessen Kompetenz stehen hierbei im Vordergrund der Markenführung.235 Auch die Markenstrategien von Aaker/Joachimsthaler ähneln sehr stark der zuvor beschriebenen Einteilung. Die Beschreibungen dieser Formen bestimmen die Stärke der Beziehung zwischen Corporate Brand und den Produkt- bzw. Dienstleistungsmarken: 1.

2.

Markiertes Unternehmen (,Branded House‘) oder auch ,One-FirmenStrategie‘ genannt: Hier sind Produkt und Unternehmensmarke identisch. Das Angebot selbst besitzt keine eigene Marke, sondern wird allein durch die Unternehmensmarke definiert. Diese Strategieform findet man häufig bei Dienstleistungsunternehmen. Unternehmen mit Marken (,House of Brands‘) oder auch ,HouseBranding-Strategie‘ genannt: Produkt- und Unternehmensmarke können

233 Esch 2010, S. 494 234 Vgl. Haedrich/Tomczak/Kaetzke 2003, S. 155 235 Vgl. Esch 2010, S. 350 ff.

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

unterschiedlich sein, jedoch weisen sie auf eine deutliche und klare Verknüpfung miteinander hin, welche sich auch im Markennamen bemerkbar macht. Unter einem Markendach gibt es mehrere Produkt-, Dienstleistungsmarken als Variationen. 3. ,Endorsed-Branding-Strategie‘: Die Unternehmensmarke fungiert nur als ein so genannter „Endorser‘, also nur als Hinweis auf die Herkunft des Produkts, um somit Hinweise auf Qualitätsstandards zu vermitteln. Diese Form der Strategie ermöglicht es, Marken getrennt zu führen und dabei gleichzeitig Synergieeffekte zwischen Corporate Brand und Product Brands zu erzeugen. 4. ,Separate-Branding-Strategie‘: Hier besteht offiziell keinerlei Verbindung zwischen Corporate Brand und Product Brands. Kunden wissen nichts über eine Produkt-Firmenverbindung.236 Für Gesundheitsleistungsanbieter als Dienstleistungsanbieter ist die Anwendung der Dachmarkenstrategien (Branded House, One-Firm-Strategien) typisch. Dabei werden sämtliche Gesundheitsleistungen innerhalb einer Einrichtung (Krankenhaus) unter dem Dach einer Marke zusammengefasst, die in der Regel identisch mit dem Namen der Einrichtung/Krankenhaus ist. Da bei dieser Strategie eine enge Beziehung zwischen Marke und Gesundheitseinrichtung besteht, wird der Aufbau einer unverwechselbaren Einrichtungs- und Markenidentität begünstigt.237 „Die Herausforderung für die Krankenhäuser besteht darin, durch eine optimale Kombination der unterschiedlichen Markenformen vorhandene Synergieund Marktpotentiale optimal auszunutzen. Denkbar wären hier u.a. die Führung von einzelnen Krankenhausmarken unter dem ,Dach‘ einer gemeinsamen Verbundmarke und/oder die Führung ausgewählter Abteilungsmarken unter dem Dach der Krankenhausmarke.“238 So ist unter der Ausprägung ,House-Branding-Strategie‘ z.B. die Krankenhausmarke als Verbundmarke (für Krankenhausträger mit mehreren Krankenhäusern im Verbund) und Unternehmensmarke (für einzelne Krankenhäusern) zu verstehen. Die einzelnen Krankenhausmarken teilen im Verbund die gemeinsame Kultur und die Werte, die zum Ausdruck gebracht werden.239

236 237 238 239

Vgl. Haedrich/Tomczak/Kaetzke 2003, S. 155 Vgl. Meffert/Burmann/Kirchgeorg 2008, S. 170 Storcks 2003, S. 1098 Vgl. Flach 2012, S. 60

3.4 Grundlagen der Markenführung im Krankenhaussektor

69

Die Personenmarke und/oder die Abteilungsmarke für renommierte Ärzte/Fachabteilungen sowie einzelne Servicemarken, die eine besondere Dienstleistung markieren, gelten als Leistungsmarke und mögliche Ergänzung zur Verbundmarke oder Unternehmensmarke.240 Im Rahmen der zielgruppenspezifischen Markenführung hat auch eine vertikale Markenarchitektur in Form einer Markenhierarchie, die sich an der Unternehmenshierarchie orientiert, ihre Bedeutung. Anhand einer solchen Markenhierarchie können unterschiedliche Markentypen (Strategien) den unterschiedlichen Unternehmenshierarchien zugeordnet und miteinander kombiniert werden.241 In erster Linie erfolgt der Aufbau der Krankenhausmarke in der Ausprägung einer Unternehmensmarke, wie nach der Hospital-Branding-Studie (2003) von Storcks belegt.242 Bei der Realisierung von Potenzialen, die der Profilierung des Krankenhauses förderlich sind, gilt es, die Markeninhalte mit einem konsistenten einheitlichen und unverwechselbaren visuellen Erscheinungsbild sowie dem sichtbaren und erlebbaren Firmenstil des Krankenhauses zu verbinden und an die Marktbeteiligten zu adressieren. Diese Einheitlichkeit ist bei verschiedenen ,Chefarztmarken‘ schwerer zu garantieren als bei einer dominierenden Unternehmensmarke. „Eine Unternehmensmarkenidentität ist eindeutig aus der Leistungspalette des Unternehmens bestimmt. Dieser Weg ist jedoch keine Einbahnstraße, denn auch die Unternehmensmarke, als Marke verstanden, hat Wirkung“243 auf die Dienstleistungsmarken. „Die Unternehmensmarke (Corporate Brand) wirkt in den Fällen, in denen sie mit den Dienstleistungsmarken in Verbindung steht, unterstützend in Bezug auf Bekanntheit und insbesondere auf Vertrauen. Im Gegenzug profitiert die Corporate Brand von den Dienstleistungsmarken, indem sie durch diese Visibilität erlangt und ihre zusätzlichen Werte zugerechnet werden. Je stärker die Verbindung zwischen der Dienstleistung und der Corporate Brand ist, desto größer ist deren Interdependenz.“244 Diese Tatsache ist insbesondere für Krankenhäuser von großer Bedeutung, weil sie mit ihrem Leistungsangebot ein Vertrauensgut vermarkten, dessen Qualität, durch das Problem der Immaterialität von Dienstleistungen, weder der Teilnehmer noch der Arbeitgeber vor der

240 241 242 243 244

Vgl. Flach 2012, S. 57 Vgl. Meffert/Burmann/Kirchgeorg 2008, S. 178 Vgl. Storcks 2003, S. 1098 Bickmann/Beyes 1999, S. 297 Haedrich/Tomczak/Kaetzke 2003, S. 156

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

Nutzung prüfen kann. Deshalb sind für Einrichtungen im Gesundheitswesen, so auch Krankenhäuser, glaubwürdige markierte Leistungsversprechen wesentlich. Daher besteht die Gefahr der Markenerosion, wenn der Kompetenzanspruch der Einrichtung von den Kunden bzw. den Auftraggebern nicht mehr für alle Gesundheitsleistungen akzeptiert wird. Die Gefahr der Markenerosion ist umso größer, je unterschiedlicher sich die Kompetenzfelder darstellen, in denen die Gesundheitsleistung unter der Dachmarke (Branded House) angesiedelt sind. Verschiedene Kompetenzfelder einer Einrichtung im Gesundheitswesen (Krankenhaus) können miteinander im Widerspruch stehen und sollten deshalb nicht unter einer Dachmarke (Branded House) vermarktet werden.245 Bestehen Kompetenzkonflikte zwischen den verschiedenen Geschäftsfeldern oder auch Standorten einer Einrichtung, so führt in aller Regel die Anwendung von Markenfamilienstrategien (House of Branding; oder House-BrandingStrategie) zum Ziel. Bei der Markenfamilienstrategie führt die Gesundheitseinrichtung unter einer Marke mehrere verwandte, welche aber dennoch unterschiedlichen Namen besitzen und unter Umständen auch an verschiedenen Standorten stattfinden. Dabei können auch mehrere Markenfamilien parallel von einer Einrichtung geführt werden. Bei dieser Strategie profitieren alle Leistungsangebote von dem einheitlichen Markenimage, was vor allem die Einführung neuer Maßnahmen begünstigt, da das Markenimage auf diese neuen Leistungsangebote übertragen wird. In der Regel werden dann Leistungsangebote beim Kunden schneller akzeptiert.246 ,Endorsed-Branding-Strategie‘ käme dann zur Auswahl, wenn der zu bedienende Gesundheitsmarkt sich sehr stark segmentieren, und die Einrichtung sich durch eine Diversifikationsstrategie in andere Marktsegmente einführen würde. Hier besteht jedoch die Gefahr eines sogenannten „Bauchladens“, was nicht zu empfehlen wäre, da die Kompetenzfelder der Einrichtung im Gesundheitswesen sich dabei verlieren könnten.247 In der weiteren Bearbeitung meines Themas gehe ich von der ,One-FirmStrategie‘ dem ,Branded House‘, also von einer Unternehmensmarke aus. Dennoch stellen generell auch die anderen beiden Strategieformen, die ,HouseBranding-Strategie‘ und die ,Endorsed-Branding-Strategie‘ für ein Krankenhaus denkbare Ansätze und relevante Alternativen dar, die vor allem in Anbetracht

245 Vgl. Meffert/Burmann/Kirchgeorg 2008, S. 170 ff. 246 Vgl. Meffert/Burmann/Kirchgeorg 2008, S. 170 ff. 247 Vgl. Meffert/Burmann/Kirchgeorg 2008, S. 170 ff.

3.4 Grundlagen der Markenführung im Krankenhaussektor

71

des Problems der Markentreue des Kunden durchaus von Bedeutung sein können. 3.4.2 Unternehmensmarke als Besonderheit der Markenführung Es braucht Voraussetzungen, um Wettbewerbsvorteile dauerhaft aufbauen zu können. Hierbei nimmt die Markenidentität eine zentrale Rolle ein. Ein Unternehmen und dessen Dienstleistungen durch einen besonderen Auftritt, durch Alleinstellung (USP) und durch einen Zusatznutzen für den Kunden (Added Value) so zu platzieren, dass die Marke ,wie ein Brandzeichen eingebrannt‘ und somit zum unveränderlichen Erkennungsmerkmal wird. Dies entspricht den im Rahmen der Imagebildung erforderlichen Kriterien, nämlich ,Branding‘, klarer Auftritt, Wiedererkennung und Unterscheidbarkeit. Beim Aufbau einer Markenidentität ist es grundlegend, eine Identifikation mit den inneren Werten des Unternehmens und der Marke vorzunehmen, welche auch als strategische Erfolgspotenziale der Marke zu verstehen sind. Strategische Erfolgspotenziale sind die einzigartigen Ressourcen und Fähigkeiten eines Unternehmens, die bei der Entwicklung der Markenidentität notwendig sind und die nach Barney wertvoll, knapp, nicht vollständig imitierbar und nicht substituierbar sein sollten.248 Ziel einer identitätsorientierten Markenführung einer Unternehmensmarke ist die Gewährleistung einer starken Unternehmensmarkenidentität durch Maßnahmen zur Erlangung einer hohen Übereinstimmung der vielfältigen Selbst- und Fremdbilder. „Eine Firmenidentität entsteht aus der Beziehung zwischen Innen und Außen. Sie zeigt sich im Denken, Handeln und den Leistungen des Unternehmens.“249 Hierzu sind jene zielgruppenübergreifend akzeptierten Identitätsdimensionen als gemeinsame Klammer zu identifizieren, die das Unternehmen in den unterschiedlichen Ansatz- und Beschaffungsmärkten wettbewerbsrelevant positionieren. Eine formale Verankerung erfahren diese Inhaltsdimensionen durch ein formuliertes Markenleitbild, das als Orientierung für die Generierung von Maßnahmen fungiert. Die Berücksichtigung der unterschiedlichen Zielgruppen erfolgt im Rahmen der identitätsorientierten Markenführung und somit weniger durch ein Eingehen auf die spezifischen Interessen als vielmehr durch das Schaffen einer gemeinsamen Basis. Durch ihren konzeptionellen Rahmen und durch die Gewährleistung einer konsistenten Wahrnehmung zwischen den Zielgruppen 248 Vgl. Haedrich/Tomczak/Kaetzke 2003, S. 30 249 Herbst 1998, S. 13

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

wird bei der identitätsorientierten Markenführung eine Verhinderung für eine mögliche Verwässerung der Unternehmensmarke verhindert. Zugleich wird die Kontinuität essenzieller Identitätsmerkmale sichergestellt, was wiederum den Aufbau der Reputation für eine Unternehmensmarke fördert.250 „Eine starke Markenidentität etabliert sich nur dann, wenn sie in die Unternehmensidentität eingebettet wird und mit dieser harmoniert.“251 „Die Markenidentität dient als Ausgangspunkt für eine Markenpositionierung. Diese soll die Identität unter Berücksichtigung relevanter Markt- und Kommunikationsbedingungen durch eine klare Fokussierung auf für Kunden und Anspruchsgruppen wichtige und von der Konkurrenz differenzierende Eigenschaften wirksam umsetzen. Das Markenimage wiederum ist die Maßgröße für den mehr oder weniger erfolgreichen Transfer der Markenidentität durch die Positionierung der Marke im Markt.“252 Im letzten Jahrzehnt hat sich der Schwerpunkt der Markenführung von der Produktebene immer mehr in Richtung des Unternehmens selbst als Objekt der Markierung verlagert. Vor allem bei sich im Umbruch befindlichen Industrien und in Dienstleistungsunternehmen wird von den Entscheidenden realisiert, wie wertvoll eine Unternehmensmarke (,Corporate Brand‘) sein kann, um entweder aggressive Märkte und Marktanteile zu erobern oder umgekehrt hohe Markteintrittsbarrieren zu schaffen.253 „Eine Unternehmensmarke ist das in den Köpfen der Anspruchsgruppen fest verankerte, unverwechselbare Vorstellungsbild über eine Unternehmung. Dabei besteht ein solches Vorstellungsbild auf Individualebene. Dies kann möglicherweise zu einer Existenz vielfältiger Ausprägungen einer Unternehmensmarke führen.“254 Markenführung im Allgemeinen und Corporate Branding im Besonderen haben die konsequente und langfristig orientierte Führung der (Unternehmens-)Marke zur Aufgabe, während kurzfristige Reaktionen auf aktuelle Gegebenheiten möglichst vermieden werden sollen. Corporate Branding ist also mehr als die reine Vergabe der Unternehmensnamen, denn es beinhaltet auch die Führung einer Unternehmensmarke, zu welcher die zielgerichtete Planung, die Koordination und die Kontrolle aller Aktivitäten bzw. Gestaltungsparameter der Unternehmensmarke gehören.255 Corporate Branding 250 251 252 253 254 255

Vgl. Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 198 Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 199 Esch 2003, S. 86 Vgl. Göttgens 2003, S. 12 Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 184 Vgl. Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 185

3.4 Grundlagen der Markenführung im Krankenhaussektor

73

zeichnet sich durch den expliziten Markengedanken aus, der das Unternehmen als ein Markenprodukt versteht und alle beteiligten Aktionen von Mitarbeitern, Kunden, Investoren usw. danach ausrichtet. Dabei ist es besonders wichtig, dass die grundlegenden Elemente der Markenführung beim Unternehmen alle in gleicher Weise und mit der gleichen Konsequenz und Professionalität berücksichtigt werden. Abbildung 9:

Triade der Idea – Identity – Image. (Quelle: Haedrich/Tomczak/Kaetzke 2003, S. 153)

Business Idea

Image

Identity

„Von zentraler Bedeutung für die Stärke einer Corporate Brand ist es, dass sich die verschiedenen Elemente des Markenimages in den Köpfen der unterschiedlichen Zielpersonen nicht widersprechen, sondern, ganz im Gegenteil, ergänzen und sich zu einem in sich konsistenten Gesamtbild zusammenfügen. Vorgabe für dieses Markenimage ist die Strategie des Unternehmens, die idealtypisch als konkret formulierte Business Idea vorliegt. Die Business Idea beschreibt die konkrete Geschäftsidee eines Unternehmens. […] Die Aufgabe des Corporate Branding besteht nun darin, das externe Image und die interne Identität durch die Business Idea des Unternehmens vorzusteuern. Diese Business Idea stellt die Richtgröße dar, nach der die Entwicklung von Image und Identität geplant und geführt wird. Eine eindeutige Business Idea ist somit Anker und Ausgangspunkt für den erfolgreichen Aufbau einer Unternehmensmarke.“256

256 Haedrich/Tomczak/Kaetzke 2003, S. 154

74

3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

3.4.3 Herauszustellende Befunde des Teilkapitels Markenarchitektur und Markenstrategie im Krankenhaus Für Gesundheitsleistungsanbieter als Dienstleistungsanbieter ist die Anwendung der Dachmarkenstrategien (Branded House, One-Firm-Strategien) typisch. Dabei werden sämtliche Gesundheitsleistungen innerhalb einer Einrichtung (Krankenhaus) unter dem Dach einer Marke zusammengefasst, die in der Regel identisch mit dem Namen der Einrichtung/Krankenhaus ist. Unter der Ausprägung ,House-Branding-Strategie‘ ist z.B. die Krankenhausmarke als Verbundmarke (für Krankenhausträger mit mehreren Krankenhäusern im Verbund) und Unternehmensmarke (für einzelne Krankenhäuser) zu verstehen. Die Personenmarke und/oder die Abteilungsmarke für renommierte Ärzte/Fachabteilungen sowie einzelne Servicemarken, die eine besondere Dienstleistung markieren, gelten als Leistungsmarke und mögliche Ergänzung zur Verbundmarke oder Unternehmensmarke. Unternehmensmarke als Besonderheit der Markenführung Es braucht Voraussetzungen, um Wettbewerbsvorteile dauerhaft aufbauen zu können. Hierbei nimmt die Markenidentität eine zentrale Rolle ein. Ziel einer identitätsorientierten Markenführung einer Unternehmensmarke ist die Gewährleistung einer starken Unternehmensmarkenidentität durch Maßnahmen zur Erlangung einer hohen Übereinstimmung der vielfältigen Selbst- und Fremdbilder. Beim Aufbau einer Markenidentität ist es grundlegend, eine Identifikation mit den inneren Werten des Unternehmens und der Marke vorzunehmen. Markenführung im Allgemeinen und Corporate Branding im Besonderen haben die konsequente und langfristig orientierte Führung der (Unternehmens-)Marke zur Aufgabe. 3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz des ,Corporate Branding‘ Die „Ausrichtung der Markenführung an der Markenidentität ist als Kern jeder Marke im Dienstleistungsbereich zu sehen, da sie geeignet ist Beziehungen zum Kunden zu intensivieren. Als Grundlage für jede dauerhafte Kundenbeziehung

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

75

ist das Markenvertrauen zu sehen. Dieses basiert wiederum auf einer starken Identität der Marke. Untersuchungen bezüglich des Vertrauenskonstrukts zeigen, dass sich Kundenvertrauen als Wettbewerbsvorteil nutzen lässt und zusätzlich Transaktionskosten eingespart werden können.“257 Diese hohe Relevanz des Identitätskonstrukts für das Vertrauen lässt sich auf ein Unternehmen und seine Marke übertragen. Es ist Grundlage für das Vertrauen der Konsumenten in eine Marke. „Eine Markenführung, welche sich beim Aufbau und bei der Pflege einer Marke konstant an einem solchen, Institution ähnlichen Wertesystem orientiert, kann somit eine Identität der Marke erreichen. Die Identität, welche eine Marke glaubwürdig erscheinen lässt, und ihre faktische Kompetenz bei der Leistungserstellung sind die Basis für das Vertrauen des Kunden.“258 Daher besteht die „vorrangige Aufgabe der Markenführung darin, eine klare Markenidentität zu entwickeln und diese wirksam bei allen Anspruchsgruppen umzusetzen. Meffert/Burmann (2002) folgend, wird hier der Identitätsbegriff nach dem Gegenstand der Identitätsbeschreibung in die Ich-Identität, die Gruppenidentität (z.B. Unternehmen) und die Identität von Objekten (z.B. Marken) eingeteilt. In dieser Systematisierung wird die Komplexität der Identität einer Unternehmensmarke sichtbar.“259 3.5.1 Identität und Image als zentrale Aufgabe der Markenführung Die Markenidentität bringt zum Ausdruck, wofür eine Marke stehen soll und umfasst die wesensprägenden, essenziellen und charakteristischen Merkmale einer Marke. „Sie stellt die Interaktions- und Entwicklungsebene der Marke nach innen und nach außen dar.“260 Die Markenidentität bezeichnet somit die unverwechselbare, einzigartige Gesamtheit der Marke in ihrer Konzeption, ihrer Struktur und ihrem Auftritt. „Die Markenidentität bildet den genetischen Code der Marke.“261 Nach Adjouri (2002) ist die Identität der Marke die zentrale Position der Markenführung. Aus ihr können je nach Situation und Zielsetzung Schritte für die Ableitung der Markenstrategie, des Markenwerts, der Markenpositionierung,

257 258 259 260 261

Meffert/Burmann/Koers 2005, S. 30 Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 43 Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 47 f. Meffert/Burmann 2005, S. 53 Kapferer/Rominger-Hanauer 1992, S. 111

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

des Markenimages sowie der Markenbotschaft geplant und umgesetzt werden.262 „Die Markenidentität ist die Summe aller wichtigen Bedeutungen, die mit der Marke verbunden werden.“263 Markenidentität kann demnach definiert werden als eine „in sich widerspruchsfreie, geschlossene Ganzheit von Merkmalen einer Marke, die diese von anderen Marken dauerhaft unterscheidet.“264 „Die Identität ist das Selbstbild der Unternehmung, die das Besondere und Beständige ausdrückt.“265 Eine identitätsorientierte Markenführung wird in diesem Zusammenhang verstanden als ein „nach außen und innen gerichteter Managementprozess mit dem Ziel der funktionsübergreifenden Vernetzung aller mit dem Marketing von Leistungen zusammenhängenden Entscheidungen und Maßnahmen zum Aufbau einer starken Markenidentität.“266 „Markenidentität und Markenimage stehen in einem wechselseitigem Austauschprozess; gelingt es dem Markenmanagement, die Kernidentität der Marke (den Markenkern, geprägt durch unveränderbare innere Werte der Marke) und das Image der Marke in Übereinstimmung zu bringen und entsprechen sich auf diese Weise Selbst- und Fremdbild der Marke, so ist damit die Basis für den Aufbau einer starken Marke geschaffen.“267 Die Markenidentität bringt erst in der „wechselseitigen Beziehung zwischen internen und externen Bezugsgruppen der Marke die spezifische Persönlichkeit einer Marke zum Ausdruck. Auf Grund der Wechselseitigkeit muss bei der Markenidentität zwischen dem Selbstbild und dem Fremdbild unterschieden werden, und die Stärke der Markenidentität ist ganz wesentlich vom Ausmaß der Übereinstimmung zwischen Selbst- und Fremdbild abhängig.“268 Das Fremdbild ist das Ergebnis der subjektiven Wahrnehmung des Selbstbilds der Markenidentität durch die ,Stakeholders‘. Es stellt die Akzeptanz eines Persönlichkeitsprofils dar und ist darüber hinaus dem ,Image-Begriff‘ gleichzusetzen. Das wird in der identitätsorientierten Markenführung daher auch als Akzeptanzkonzept bezeichnet. Eine starke Marke setzt eine hohe Übereinstimmung von Selbst- und Fremdbild voraus. Darüber hinaus ist sie der Grundstein für das Vertrauen der ,Stakeholder‘ in die Marke.269 262 263 264 265 266 267 268 269

Adjouri 2002, S. 89 Adjouri 2002, S. 93 Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 47 Hinterhuber 2000, S. 153 Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 30 Haedrich/Tomczak/Kaetzke 2003, S. 30 Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 47 Vgl. Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 66 f.

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

77

Die Wahrnehmung durch Mitarbeiter und Konsumenten ist von Wechselseitigkeit und ständigem Austausch gekennzeichnet. Auch aufgrund der Subjektivität ist das Fremdbild von Stakeholder zu Stakeholder oft unterschiedlich. Einleuchtend ist dabei eine deutliche Unstimmigkeit des Fremdbilds von Verwendern und Nicht-Verwendern, bedingt durch die unterschiedliche Interaktionsaktivität. Aber auch zwischen den internen Bezugsgruppen kann die Wahrnehmung des Selbstbilds auseinandergehen. In der identitätsorientierten Markenführung werden diese Unstimmigkeiten auch Identitätslücken oder ,GAPs‘ (engl. Lücken) genannt.270 „Der Wert einer Marke hängt davon ab, ob es gelingt, eine unverwechselbare Markenidentität zu schaffen. Vor dem Hintergrund der Markenidentität erfolgt die Positionierung der Marke, die ihrerseits die Basis für die Markenprofilierung und die Entwicklung eines positives Markenimages mit Hilfe eines Programms zum systematischen Aufbau der Marke darstellt.“271 „Unter einer Markenpositionierung versteht man die Abgrenzung der eigenen Marke von Konkurrenzmarken. Die gewählten Positionierungseigenschaften müssen dabei den Wünschen und Bedürfnissen der Konsumenten entsprechen und für diese relevant sein. Die gilt als notwendige Bedingung. Abgrenzung von der Konkurrenz heißt, dass eine Marke in der subjektiven Wahrnehmung der Konsumenten ein eigenständiges und unverwechselbares Profil gewinnt. […] Mit einer Position einer Marke meint man die inneren Bilder in den Köpfen der Konsumenten. Aus theoretischer Sicht geht es bei der Positionierung also um den Aufbau spezifischer und bedürfnisrelevanter Gedächtnisinhalte für die Marke.“272 Das Markenimage gibt Aufschluss darüber, ob die gewünschte Positionierung erreicht wurde oder nicht. Lange Zeit wurde unter dem Image-Begriff alles subsumiert, was nur annähernd als nützlich erschien, um eine Marke zu beschreiben. Weiterhin wurde der Begriff des ,Markenimage‘ verwendet, was die Assoziation aufdrängt, die Marke besitze ein Image. Dem ist jedoch nicht so. ,Images‘ sind aus Sicht des Markeneigners eher passiv und entstehen erst als subjektive Reaktion auf die Botschaft der Marke bei deren Empfänger. Sie sind somit eher konsumenten- als marktbezogen. Hinzu kommt, dass es sich bei Images sowohl um das subjektive Wissen über tatsächliche Markeneigenschaften als auch um

270 Vgl. Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 66 271 Haedrich/Tomczak/Kaetzke 2003, S. 29 272 Esch 2000, S. 235

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

das Empfinden lediglich gefühlter Attribute handelt. Somit können Vorstellungen von der Marke beim Konsumenten existieren, die nicht zwingend etwas mit den objektiven Merkmalen der Marke zu tun haben.273 Abbildung 10: Markenidentität, Positionierung und Profilierung. (Quelle: Haedrich/Tomczak/Kaetzke 2003, S. 31)

Positionierung

Markenidentität = innere Werte der Marke

Position der Marke im Wettbewerb

Profilierung der Marke mittels Kommunikation feedback

Markenimage = Wertvorstellungen der Stakeholder

Die Annahme, man könne aufgrund eines ,Images‘ auf die wahre Identität der Marke schließen, ist falsch. ,Images‘ repräsentieren wandelbare, heterogene Einstellungen der Zielgruppen. Die Identität hingegen ist zielgruppenübergreifend und stabiler angelegt. Es kann viele Images geben, aber nur eine homogene Markenidentität.274 „Während die Identität ein Aussagekonstrukt verkörpert, handelt es sich beim Markenimage um ein Akzeptanzkonstrukt.“275

273 Vgl. Adjouri 2002, S. 94 f. 274 Vgl. Adjouri 2002, S. 98 f. 275 Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 274

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

79

Vielmehr ist die Markenidentität als ein aktives Konzept zu betrachten, welches durch das Kommunizieren verschiedener Schwerpunkte der Identität unterschiedliche Images bei den Zielgruppen entstehen lässt.276 „Marken, die klare Images bei den Kunden aufbauen, erlangen eine einzigartige Stellung in den Köpfen der Kunden und werden - sofern das Image die Wünsche der Kunden trifft - deshalb gegenüber Konkurrenzmarken bevorzugt.“277 Um ein gewünschtes Image einer Marke bei den ,Stakeholdern‘ (internen und externen Anspruchsgruppen) erreichen zu können, ist der Aspekt der Kundenidentität (bzw. Zielgruppenorientierung) auch in der Markenidentität mit zu berücksichtigen. Aufgrund des intensiven Kundenkontakts ist die Bedeutung des Selbstbilds in der Dienstleistungsbranche für die Markenwahrnehmung sehr hoch zu bewerten, daher sind die internen Leistungspotenziale durch das Markenmanagement besonders zu berücksichtigen. Zu unterstreichen ist die Bedeutung, die den Mitarbeitern beim Aufbau der Marke zukommt. Das Verhalten der Mitarbeiter prägt in hohem Maße das Image einer Dienstleistungsmarke. Um ein einheitliches Image bei den Kunden aufbauen zu können, ist ein konsistentes professionelles Verhalten der Mitarbeiter gefordert. Mitarbeiter müssen sich also mit den Werten und Botschaften der Marke identifizieren können. Für eine erfolgreiche Markenführung muss es dementsprechend insbesondere in Dienstleistungsunternehmen darum gehen, die Wahrnehmungen, Überzeugungen und Werte unterschiedlicher Gruppen von Mitarbeitern in geeigneter Form bei der Herausbildung des Selbstbilds der Markenidentität zu berücksichtigen, um so eine möglichst hohe Übereinstimmung zwischen Selbstbild des Unternehmens und Fremdbild des Kunden herzustellen.278 Gelingt dies nicht, werden in einem Unternehmen verschiedene voneinander abweichende Sub-Selbstbilder existieren, die dann aufgrund widersprüchlicher Signale und Handlungen zu einem diffusen und negativen Image bei dem Kunden führen können. In diesem Zusammenhang wird in der Literatur noch innerhalb des Fremdbilds zwischen Image und Reputation unterschieden, auf welches ich hier nur kurz hinweisen möchte. Während sich das Image auf die Öffentlichkeit im allerweitesten Sinn bezieht, ist die Reputation immer das Ergebnis von ,Stakeholder-Beziehungen‘. Reputation erfordert immer Involvement und formt damit auch, im Unterschied zum Image, die Einstellung zur Unternehmung. Die internen ,Stakeholder‘ (Management und Mitarbeiter) nehmen dabei 276 Vgl. Adjouri 2002, S. 95 277 Esch 2000, S. 235 278 Vgl. Hinterhuber 2000, S. 154

80

3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

eine besondere Stellung ein, da sie sowohl an der Konstruktion der Identität der Unternehmung beteiligt als auch (besonders in Brückenfunktionen) in die Reputationsprozesse eingeschaltet sind.279 „Die identitätsorientierte Markenführung bei Dienstleistungsmarken spielt aufgrund der personellen Komponente sowohl auf Mitarbeiterseite als auch im Hinblick auf das häufig notwendige Eindringen der Nachfrager eine wichtige Rolle. Durch die Einbeziehung des Kunden in den Prozess der Leistungserstellung kann er einen unmittelbaren Eindruck vom Selbstbild der Marke und damit der Mitarbeiter und des Unternehmens gewinnen. Damit wird die Marken-, und Unternehmensidentität vom Kunden als Markenimage wahrgenommen.“280 „Die Stärke der Identität ist vor allem auch vom Grad der Übereinstimmung zwischen dem Selbstbild und dem von anderen zugeschriebenen Fremdbild der Identität (Image) abhängig.“281 Abbildung 11: Zusammenhang zwischen Identität – Image – Reputation. (Quelle: Hinterhuber 2000, S. 154)

Identität Wie wir uns selbst einschätzen

Variation

Rückwirkung

Reputation Wie uns andere tatsächlich einschätzen

279 Vgl. Hinterhuber 2000, S. 155 280 Pförtsch/Schmid 2005, S. 268 281 Meffert 2009, S. 236

Selektion

Image Wie uns andere einschätzen sollen

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

81

Um ein gewünschtes Image einer Marke bei den ,Stakeholdern“ (internen und externen Anspruchsgruppen) erreichen zu können, ist der Aspekt der Kundenidentität (bzw. Zielgruppenorientierung) auch in der Markenidentität mit zu berücksichtigen. Aufgrund des intensiven Kundenkontakts ist die Bedeutung des Selbstbilds in der Dienstleistungsbranche für die Markenwahrnehmung sehr hoch zu bewerten, daher sind die internen Leistungspotenziale durch das Markenmanagement besonders zu berücksichtigen.282 Zu unterstreichen ist die Bedeutung, die den Mitarbeitern beim Aufbau der Marke zukommt. Das Verhalten der Mitarbeiter prägt in hohem Maße das Image einer Dienstleistungsmarke. Um ein einheitliches Image bei den Kunden aufbauen zu können, ist ein konsistentes professionelles Verhalten der Mitarbeiter gefordert. Mitarbeiter müssen sich also mit den Werten und Botschaften der Marke identifizieren können. Für eine erfolgreiche Markenführung muss es also insbesondere in Dienstleistungsunternehmen darum gehen, die Wahrnehmungen, Überzeugungen und Werte unterschiedlicher Gruppen von Mitarbeitern in geeigneter Form bei der Herausbildung des Selbstbilds der Markenidentität zu berücksichtigen, um so eine möglichst hohe Übereinstimmung zwischen Selbstbild des Unternehmens und Fremdbild des Kunden herzustellen.283 Der identitätsorientierte Markenansatz ist die Basis, das Fundament, die Wurzeln der Markenentwicklung und bildet den wichtigen Zugang zu den verschiedenen Konzeptansätzen zur ,Corporate Brand‘. 3.5.2 Modelle der Markenidentität „Die Hauptaufgabe des identitätsbasierten Markenmanagements liegt in der Schaffung einer eigenständigen Markenidentität durch eine aufeinander abgestimmte, im Zeitablauf und […] stabile Gestaltung und Vermittlung aller Komponenten der Markenidentität und der Durchsetzung eines gemeinsamen Vorstellungsbildes von der Marke in den Köpfen aller internen und externen Zielgruppen. Die erfordert einen Managementprozess, der sämtliche Aktivitäten zur Steuerung einer Marke erfasst und zweckmäßig strukturiert.“284

282 Vgl. Hinterhuber 2000, S. 154 f. 283 Vgl. Hinterhuber 2000, S. 155 284 Meffert 2009, S. 237

82

3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

„Die Markenidentität bildet die Richtschnur für erfolgreiche Markenführung. Die vollständige Erfassung, zeitgemäße Interpretation und zukunftsorientierte Ausrichtung dieser Identität sind das Fundament des Markenerfolges. Die Umsetzung der Maßnahmen muss sich eben an dieser Markenidentität ausrichten.“285 Neben dem im Kapitel zuvor beschriebenen Markenidentitäts-/Markenimage-Ansatz von Meffert/Burmann finden sich in der Literatur andere verschiedene Ansätze der identitätsorientierten Markenführung zur Erklärung und Entwicklung der Markenidentität. Im Folgenden werden die bekanntesten und in der Wissenschaft und Praxis relevanten Ansätze in einer jeweiligen charakteristischen Kurzbeschreibung gegenübergestellt:

285 Esch 2003, S. 24

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

83

Abbildung 12: Modell/Ansätze zur Erklärung und Entwicklung der Markenidentität. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Höpfner 2010, 8 ff. Ansätze und Modell

Das IdentitätsPrisma nach Kapferer

Die Markenidentitätskreise nach Aaker

286 287 288 289 290

Charakteristische Kurzbeschreibung „Das Prisma-Modell beschreibt einen dynamischen Prozess, in dem sich die Markenidentität in sechs Dimensionen darstellen lässt. Das Prisma zeichnet die Bilder von Sender und Empfänger in der Außen- und Innenorientierung ab. Die linke Seite des Prismas (Außen-Orientierung) stellt das Erscheinungsbild der Marke, die Reflexion der Marke durch die Nutzer und die wechselseitige Beziehung, die eine Marke mit dem Nutzer aufnimmt, dar. Dies sind alle sichtbaren Elemente einer Marke.“286 „Menschen können mit Marken u.a. miteinander in Beziehung treten und Kontakte zur Marke knüpfen, hierin sieht Kapferer in Marken positive psychosoziale Eigenschaften.“287 „Auf der rechten Seite des Prismas (Innen-Orientierung) befinden sich die Markenpersönlichkeit und die Kultur, die von den Mitarbeitern und Führungskräften gelebt wird, sowie das Selbstimage der Kunden. Die rechte Seite bildet somit die inneren Werte, den inneren Kern der Marke ab.“288 Aaker entwarf das Modell aus der Innenperspektive des Markeninhabers. „Für ihn besteht die Markenidentität aus drei Teilbereichen: die Markenessenz, die Kernidentität und die erweiterte Markenidentität. Wobei die Markenessenz, als Basis, der innersten von drei Kreisen für die Markenidentität ist. Sie kann in einem kurzen Satz formuliert werden, der ist jedoch nicht mit einem herkömmlichen Slogan zu verwechseln. In einem weiteren Kreis (mittlerer Kreis), baut die Kernidentität auf, worin dann die erweiterte Markenidentität erfolgt (äußerer Kreis).“289 „Nach ihnen ist die Markenidentität durch vier einzelne Kategorien geprägt, durch deren spezifische Ausprägung ausgewählter oder aller Merkmale die Identität der Marke für den Konsumenten wahrnehmbar und erlebbar wird. Die Markenidentität ist demnach geprägt durch die Art der Produkte bzw. Dienstleistungen, die Markenorganisation, bestimmte Symbole und spezifische Persönlichkeitsmerkmale.“290

Vgl. Esch 2005, S. 112 f., zit.n. Höpfner 2010, S. 8 Vgl. Weber 2010, S. 90 f., zit.n. Höpfner 2010, S. 8 Vgl. Esch 2005, S. 113, zit.n. Höpfner 2010, S. 8 Ringle 2006, S. 57 ff., zit.n. Höpfner, 2010, S. 16 Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 52, zit.n. Höpfner, 2010, S. 16

84

3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding Ansätze und Modell

Charakteristische Kurzbeschreibung „Der modifizierte Ansatz von Esch, der eine Weiterentwicklung des Icon Markensteuerrads darstellt, baut auf den grundlegenden Erkenntnissen auf, dass Wissensstrukturen im menschlichen Gehirn in zwei miteinander verbundenen Hemisphären gespeichert werden. Die erste auffällige Veränderung zum Markensteuerrad besteht darin, dass das Element der Markenkompetenz (Wer bin ich?) in den zentralen Mittelpunkt des Modells verschoben wurde. Sie erfasst die zentralen Markencharakteristika und beinhaltet die Historie und die Herkunft der Marke, ihre Rolle im Markt sowie die zentralen Markenassets. Diese Position soll verdeutlichen, dass der Markenkompetenz sowohl emotionale als auch rationale Aspekte zugeschrieben werden können. Im Zeitablauf ist diese hier konstant und unveränderlich. Es handelt sich um eine Art Kernidentität wie bei Aaker. Die übrigen Bestandteile der Markenidentität ordnen sich um die Kernidentität herum und sind als Konkretisierung der Markenkompetenz zu verstehen.“291

Das (von Esch) modifizierte Markensteuerrad von icon brand navigation

„Die linke Hälfte ist auch hier stark gedanklich gesteuert und arbeitet analytischsequenziell. Hier sind die rationalen und eher sachlichen Eigenschaften einer Marke zu finden. Man betrachtet die Markenattribute und den Markennutzen. Die Markenattribute (Reasons Why) werden über die Frage „Über welche Eigenschaften verfügt die Marke?“ erfasst. Sie umfassen die sachlichen Eigenschaften einer Marke bzw. ihre Angebote z.B. rasche Schadensbearbeitung oder ein gutes Preis-Leistungsverhältnis. Aus den Attributen ergibt sich der rationale Markennutzen (Benefits). Der Markennutzen beantwortet die Frage „Was biete ich an?“. Der Nutzenvorteil ist häufig ein wichtiges Kaufargument, daher ist die Trennung von „Benefit“ und „Reason Why“ von Bedeutung im Zuge der rationalen Kundenbeeinflussung. Der Markennutzen beantwortet somit auch die rationale Frage: „Was bringt mir der Erwerb der Marke?“. Man kann hier eine Ziel-Mittel-Beziehung zwischen Markenattributen und Markennutzen schlussfolgern.“292 „In der rechten Hälfte werden auch hier die emotionalen und bildlichen Eindrücke zur Marke abgebildet. Emotionen, die mit der Marke verknüpft sind, werden über die Markentonalität dargestellt. Sie werden über die Frage: „Wie bin ich?“ ermittelt. Dabei können sie Tonalitäten Persönlichkeitsmerkmale, Beziehungen zur Marke und Markenerlebnisse einbeziehen. Emotionale Eigenschaften von Marken werden durch gesättigte Märkte immer wichtiger, da rationale Produkteigenschaften austauschbar sind und die Produkte sich darüber nicht mehr differenzieren können. Das Markenbild ist geprägt durch sichtbare und modalitätsspezifische Eindrücke. Es wird durch die Frage: „Wie trete ich auf?“ gekennzeichnet. Die Kontakte zu einer Marke führen grundsätzlich zum Aufbau innerer Vorstellungsbilder, die visueller, akustischer, haptischer, taktiler, olfaktorischer oder gustatorischer Natur sein können.“293

291 Vgl. Hohenstein 2008, S. 19, zit.n. Höpfner, 2010, S. 40 292 Vgl. Hohenstein 2008, S. 19, zit.n. Höpfner, 2010, S. 40 293 Vgl. Esch 2005, S. 121, zit.n. Höpfner 2010, S. 40

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz Ansätze und Modell Der Markendiamant von Mc Kinsey

Der „Brand Mantra“Ansatz zur Markenmeinung von Keller

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Charakteristische Kurzbeschreibung „Ursprünglich als Strukturierungsinstrument zur Steuerung des Markenimages entwickelt wird der Markendiamant heute ebenso zur Erfassung von Markenidentitäten genutzt. Die Markenidentität wird in diesem Modell in vier Quadranten abgebildet. Es wird zwischen tangiblen und intangiblen Nutzen sowie darüber gelagerten emotionalen und rationalen Nutzenvorstellungen unterschieden.“294 „Das ,Brand Mantra‘ lässt sich Keller zufolge als ,a brand essence or core brand promise‘ definieren.“295 „Ein ,Brand Mantra‘ hilft genau zu klären wofür eine Marke steht und kann auch als DNA der Marke gesehen werden. Es umfasst kurze Begriffe, bestehend aus drei bis fünf Worten, die die unwiderlegbare Essenz oder den Geist der Markenposition beschreiben. Das Mantra sorgt dafür, dass sowohl alle Mitarbeiter des Unternehmens als auch externe Marketing-Partner sich mit der Aussage identifizieren und ihre Aktivitäten daran ausrichten. Es bewirkt zugleich, dass unpassende Markenaktivitäten unterlassen und alle Aktionen erkannt werden, die Einfluss auf die Konsumentensicht der Marke nehmen. Damit spiegelt ein ,Brand Mantra‘ in gewisser Weise ein Stück der Kernidentität einer Marke wider. Mantras sollen von Mitarbeitern verstanden und gelebt werden. Ein Großteil der Mitarbeiter kommt direkt oder indirekt mit dem Kunden in Kontakt. Über diesen Weg kann eine Marke gestärkt oder verletzt werden. Deshalb ist es so wichtig, dass alle Worte und Aktionen der Mitarbeiter das Markenbild stärken und dabei das Mantra als einheitliches Leitbild nutzen.“296 „Wichtig für ein starkes ,Brand Mantra‘ ist, dass sich keine andere Marke auf der Ebene der eigenen Marke positioniert. Es geht dabei um die Eroberung des sogenannten ,Point of Difference‘, der die Marke einzigartig macht und sie damit von anderen Marken unterscheidet. Hat die Marke dies erreicht, geht damit zugleich ein klarer Wettbewerbsvorteil gegenüber dem Wettbewerb einher.“297 „Die ,Brand Mantra‘ stellt die interne Sicht der Positionierung dar und ermöglicht es, diese im Unternehmen, gerade gegenüber den Mitarbeitern, verständlich zu machen und es diesen zu erleichtern, danach zu handeln. Der Kern des Markenimages hingegen, stellt die externe Sicht der Positionierung dar, die idealerweise die Sicht des Konsumenten widerspiegelt.“298 „Mantras kann man in drei Bedingungen aufspalten. Die Funktion (Function), den beschreibenden Modifikator (descriptive modifier) und den emotionalen Modifikator (emotional modifier). Die Funktion beschreibt das Wesen des Produktes oder der Dienstleistung. Sie repräsentierte die Frage: „Wer bin ich?“ und dienen der Differenzierung. Der beschreibende Modifikator kann als rationales Benefit gesehen werden. Zusammen bilden die Funktion und der beschreibende

294 295 296 297 298

Höpfner 2010, S. 37 Vgl. Keller 2008, S. 45, zit.n. Höpfner 2010, S. 12 Höpfner 2010, S. 12 Vgl. Keller 2008, S. 123, zit.n. Höpfner 2010, S. 12 Vgl. Keller 2008, S. 95, zit.n. Höpfner 2010, S. 12

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding Ansätze und Modell

Charakteristische Kurzbeschreibung Modifikator eine Markenabgrenzung. Der emotionale Modifikator repräsentiert die Frage: „Wie bin ich?“. Er stellt andere Abfragekriterien bereit und beschäftigt sich z.B. mit der Frage, wie Marken ihre Leistungen übermitteln.“299

Die Marke als Botschaft – der Identitätsansatz von Adjouri

„Adjouri sieht die Marke als Botschafter im Kommunikationsprozess, die selbständig agieren kann, ohne immer unter direktem Einfluss des Unternehmens zu stehen. Die Markenidentität soll, laut Adjouri, kurz und bündig die wichtigsten Inhalte vermitteln, da sie Bedeutungen transportiert, die für die Zielgruppe wichtig sind. Die Bedeutungen einer Markenidentität sind stabil, langfristiger als Images und bilden daher die Konstanten der Markenidentität.“300 „Bedeutungen sind nicht subjektiv auf das Individuum zurückzuführen, sondern Zielgruppen übergreifend. Um Bedeutungen festzustellen, werden Assoziationen in Form von Begriffen erhoben. Worte stellen somit das Grundinstrument dar, um die Markenidentität zu beschreiben. Die Worte müssen jedoch miteinander in Beziehung gebracht werden, erst dann entstehen daraus Bedeutungen. Die Markenidentität ist die Summe aller wichtigen Bedeutungen, die mit der Marke verbunden werden.“301 „Die Markenidentität bildet die Basis aller strategischen und operativen Markenentscheidungen. In der Markenführung werden je nach Situation und Zielsetzung auch Schritte für die Ableitung der Markenstrategie, des Markenwertes, der Markenpositionierung, des Markenimages sowie der Markenbotschaft geplant und umgesetzt werden.“302 „Die Markenidentität wird in diesem Modell durch die Ausdrucks- und Inhaltsebene beschrieben. Die Ausdrucksebene besteht aus formalen Markenkriterien wie Name und Bildzeichen. Die Inhaltsebene aus den Assoziationen, die in Wechselbeziehung zueinander bedeutungsbildend sind. Eine erfolgreiche Markenidentität bildet eine harmonische Einheit der Ausdrucks- und Inhaltsebene. Dies bedeutet, dass die formalen Markenkriterien zum Bestandteil der Inhaltsebene werden.“303

„Alle Ansätze bieten sinnvolle Zugänge und haben die Erfassung der Markenidentität“304 zum Ziel. Die Modelle weisen Überschneidungen und Unterschiede auf. Letztlich ergänzen sich die verschiedenen Modelle und sie beschreiben in ihrer Vielzahl die Komplexität in der Umsetzung. Im Vergleich eignen sich jedoch die Markenidentitätsansätze von Aaker, Meffert/Burmann, Esch sowie Kapferer in besonderem Maße zur Ableitung von wirksamen Zugängen zur

299 300 301 302 303 304

Höpfner 2010, S. 12 Vgl. Adjouri 2002, S. 99, zit.n. Höpfner 2010, S. 21 Vgl. Adjouri 2002, S. 99, zit.n. Höpfner 2010, S. 21 Vgl. Adjouri 2002, S. 90 f., zit.n. Höpfner 2010, S. 21 Vgl. Adjouri 2002, S. 21 f., zit.n. Höpfner 2010, S. 21 Esch 2003, S. 100

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

87

Markenidentität. Denn alle betrachten die Zugänge wie die Markenpersönlichkeit, die Beziehung zur Marke, Produkt/Dienstleistung und deren Nutzen. Auch ist das von Esch „modifizierte Markensteuerrad von zur Strukturierung der Markenidentität gut geeignet, weil es verhaltenswissenschaftlich fundiert abgeleitet ist und die wenigsten Überschneidungen zwischen den einzelnen Dimensionen der Markenidentität aufweist. Auffällig ist, dass bei keinem Ansatz eine so konsequente Trennung zwischen Ratio und Emotion, verbalen und nonverbalen Elementen erfolgt.“305 „Die Erfassung aller relevanten Merkmale einer Markenidentität ist grundsätzlich mit allen vorgestellten Modellen möglich. Die dargestellten Ansätze sind in der Anwendung mehr oder weniger praktikabel und betrachten mehrere Dimensionen. Wie die einzelnen Dimensionen der Markenidentität zu integrieren sind, bleibt bei allen Ansätzen im Dunkeln. Jedoch stellen die Modelle Zugänge zur Ableitung der wichtigsten Identitätsfacetten bereit. Alle Ansätze bieten sinnvolle Zugänge zur Erfassung der Markenidentität und eignen sich deshalb grundsätzlich als Steuerungsgrundlage zur identitätsorientierten Markenführung.“306 Eine Kombination in der praktischen Umsetzung und Anwendung dieser verschiedenen Modelle ist durchaus denkbar und möglich. „Kritikpunkt bei allen Modellen und somit eine gemeinsame Auffälligkeit, ist das Fehlen eines Leitfadens, der konkrete Angaben macht, wie die Markenpositionierung aus der Markenidentität abzuleiten ist. Eine Verdichtung der Identität in ein Positionierungskonzept ist unter heutigen Markt- und Kommunikationsbedingungen von großer Bedeutung. Hierbei treten häufig Probleme in der Praxis auf, so dass sich durch eine Weiterentwicklung der Modelle in diese Richtung ein großer Fortschritt ergäbe.“ 307 Hierzu kann das ,Corporate Branding‘-Konzept mit seinen Teilelementen (Behavioral Branding, Internal Branding und Employer Branding) einen ergänzenden Beitrag leisten und ein Ansatz sein. 3.5.3 Grundansatz und Denkschule des ,Corporate Branding‘ Der Begriff des Corporate Branding würde in deutscher Übersetzung in etwa ,Einbrennen einer Marke‘ lauten. Es meint den Einsatz von Marken durch ein Unternehmen, um dieselbe mitsamt dem mit der Marke verbundenen Image in 305 Esch 2003, S. 99 f. 306 Höpfner 2010, S. 47 f. 307 Vgl. Esch 2005, S. 125, zit.n. Höpfner 2010, S. 48

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

den Köpfen der Menschen – der Mitarbeiter, der Anteilseigner wie auch der Kunden und der allgemeinen Öffentlichkeit – zu etablieren. Auch unter den Begriffen ,Branded House‘ und ,Dachmarkenstrategie‘ bekannt, bildet Corporate Branding einen Ansatz zur Kommunikation zwischen dem Unternehmen/Marke und dem Kunden/Mitarbeiter. Die Strategie wird immer wichtiger und stellt in manchen Fällen bereits den Kern der Unternehmensstrategie dar. Corporate Branding geht über die reine Dienstleistungsdimension hinaus, obwohl es mit dem Dienstleistungsmarketing verwandt ist. Ziel des Corporate-Brand-Managements ist es, „ein Nebeneinander der Konzepte zu überwinden, um für das Management einen handlungsorientierten Zugang zu einer inhaltlich strategischen Führung des Unternehmens über Corporate Brand zu erlangen.“308 Esch/Tomczak/Langner (2006) zeigen auf, dass die Ansätze von drei verschiedenen Denkschulen beeinflusst sind. Dies zeigt auch auf, dass man sich dem Thema von verschiedenen Seiten nähern und die Ansätze durchaus miteinander verknüpfen kann.309 Zu den drei Denkschulen gehören: „Die strategische Denkschule: Der strategieorientierte Ansatz des Corporate Brand Management lässt sich aus drei Perspektiven erläutern: Erstens wird das Thema Markenstrategie auch für Corporate Brand relevant und fruchtbar gemacht, zweitens sind die Marken und insbesondere die Corporate Brand auch bei unternehmensstrategischen Tatbeständen zu berücksichtigen, drittens liefert die Corporate Brand einen wesentlichen Wertbeitrag zur Steigerung des Unternehmenswertes, der im Rahmen der Unternehmensstrategie zu berücksichtigen ist.“310 Diese drei Betrachtungswinkel machen deutlich, dass die Corporate Brand insbesondere einen Prozess darstellt, der bereits in der Unternehmensstrategie berücksichtigt werden muss.311 „Die verhaltensorientierte Denkschule, die dazu beigetragen hat, dass die Marke als wesentlicher Teil der Wertschöpfungskette eines Unternehmens angesehen wird.“312 „Der verhaltensorientierte Ansatz ist die Basis für das Verständnis von Wirkungszusammenhängen der Marke und den Gestaltungsmöglichkeiten der 308 309 310 311 312

Esch/Tomczak/Kernstock/Langner 2006, S. 21 Vgl. Esch/Tomczak/Kernstock/Langner 2006, S. 22 ff. Esch/Tomczak/Kernstock/Langner 2006, S. 22 ff. Vgl. Esch/Tomczak/Kernstock/Langner 2006, S. 27 ff. Esch/Tomczak/Kernstock/Langner 2006, S. 22 ff.

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

89

Markenführung. Diese Perspektive führt dazu, dass die Marke als wesentlicher Teil der Wertschöpfungskette eines Unternehmens gesehen wird. Im Mittelpunkt des Managementinteresses steht die Frage nach der Unternehmensmarke und wie diese ausgebaut werden kann, um sich im Wettbewerb zu behaupten. Dies ist die Voraussetzung für eine Unternehmensführung, in der Kreativität und Innovation erwachsen können und sich die Unternehmen im Wettbewerb langfristig und nachhaltig behaupten können.“313 „Die identitätsorientierte Denkschule, die frühzeitig den wesentlichen Nutzen in der Entwicklung einer Identität des Unternehmens erkannt hat. Das Konzept der ,Corporate Identity‘ hat sich hier z.B. zu einem breiten, übergreifenden Ansatz der identitätsorientierten Schule entwickelt. Das Verständnis die Marke als sozialpsychologisches Phänomen zu betrachten, führt zum identitätsorientierten Ansatz der Markenführung. Die ganzheitliche Betrachtung der Marke und vor allem die Wechselseitigkeit von Image und Identität rücken in den Vordergrund. Dieser identitätsorientierte Ansatz der Markenführung betont die weiche Führung von Marken, welche oftmals von subjektiven Einflüssen und emotionalen Aspekten geprägt ist. Die Identität einer Marke als Voraussetzung für die Identifikation der Kunden mit dieser ist auch deshalb in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt, da sie bei heutigen Marken anders als bei den traditionellen Unternehmensmarken nicht mehr als gegeben angesehen werden kann.“314 Der Begeisterung des Kunden ist es nicht dienlich, wenn ein entsprechendes Verhalten und Denken, spezifische Werte und Qualitäten sowie glaubwürdige und nachhaltige Wirkungen fehlen. In den Ausführungen ist deutlich geworden, dass bei Dienstleistungsmarken isolierte Marketingelemente ohne identitätsbildende Konzepte nur aufgesetzte Wirkungen und – wenn überhaupt – nur sehr kurzfristige Erfolge bringen. Beim ,Corporate Branding‘ muss eine Identität entdeckt, entwickelt und eingesetzt werden, die vom Kunden wahrgenommen und übernommen wird und mit der er sich identifizieren kann. Wenn also anstelle von nur aufgesetzten kurzfristigen Marketingeffekten eine glaubwürdige und nachhaltige Positionierung erreicht werden soll, dann ist eine Markenpositionierung mit ,Corporate Identity‘ (CI) als ,Corporate Branding‘ erforderlich.

313 Esch/Tomczak/Kernstock/Langner 2006, S. 24 f. 314 Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 29 f.

90

3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

„Das Ziel einer erfolgreichen und langfristigen Profilierung durch Markenpositionierung mit Corporate Identity als ,Corporate Branding‘ wird erreicht durch: Einfachheit und Reduktion, Alleinstellung und Besonderheit, Emotionalität und Identität, sowie Kommunikation und Image.“315 Als eine strategische und konzeptionelle Vorgehensweise dient sie auch in dieser angewandten Version als ein allgemeiner Leitfaden des CI-Prozesses. Alle Maßnahmen der Unternehmen nach innen und außen werden auf die Unternehmensgrundsätze ausgerichtet. Dieses Unternehmensprofil als Selbstdarstellung ist wie eine Unternehmensphilosophie – eine Art Verfassung als Basis für die Unternehmensentwicklung. Durch eine bewusste und strategische Selbstgestaltung und Selbstdarstellung sowie durch eine harmonische und konzeptionelle Verbindung aller Maßnahmen des Verhaltens, der Kommunikation und des Erscheinungsbildes nach innen und außen soll möglichst große Übereinstimmung von Identität, Image und Arbeitsweisen erreicht werden. Strategische Initiativen eines ,Corporate Branding‘ richten sich bei der Positionierung auf das Außenverhältnis eines Unternehmens. In einer Positionierungsstrategie geht es beispielsweise auch darum, bisher versteckte und vorteilhafte Leistungsmerkmale zu demaskieren und demgegenüber unvorteilhafte Leistungsmerkmale zu maskieren. Hierbei stellt die Kundenkontaktmembran jene Stelle dar, an der sich die Kernkompetenz des Dienstleisters (z.B. des Krankenhauses) und die Wahrnehmung der Kunden treffen. 3.5.4 Das Konzept ,Corporate-Brand-Identity‘ im Fokus 3.5.4.1 Begriffsklärung, Ansätze und Grundlagen Das Begriff ,Corporate‘ stammt aus der englischen Sprache und bedeutet Kooperation, Zusammenschluss, Gruppe, Verein, Vernetzung, Unternehmen. Es steht auch für vereint, gemeinsam, gesamt. Es geht also um eine Organisation oder eine Gemeinschaft als Ganzes. ,Identity‘ heißt übersetzt Identität und steht, wie schon ausgeführt, für das Selbstverständnis eines Unternehmens.316 In der Markendiskussion werden die Prinzipien der ,Corporate Identity‘ – in der Theorie wie in der Praxis – als zentrale Elemente für die zukünftige Entwicklung des Markenverständnisses bei komplexen Unternehmensmarken gewertet. Der Begriff ,Corporate Identity‘ wird hier gleichgesetzt mit ,Corporate 315 Regenthal 2003, S. 175 f. 316 Vgl. Herbst 1998, S. 13

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

91

Branding‘.317 Letztlich geht es um die ganzheitliche Verbindung (Integration) aller Maßnahmen und Wirkungen: Nur ein ,Corporate Branding‘, das in die ,Corporate Identity‘ des Unternehmens eingebettet und integriert ist, kann wirklich gelebt werden. „Corporate Brand Identity ist die geschaffene Identität einer Marke aus dem Unternehmensnamen. Ein Brand, eine Marke, muss einfach und klar auf Dinge und Attribute bezogen formuliert werden, die verständlich und vor allen Dingen eingängig sind. Corporate Brand Identity, das ist die Ausgestaltung der Unternehmensmarke und damit gleichzeitig ein Symbol aus Kultur und für die Kultur. Diese interdependenten Zusammenhänge verlangen die Eingliederung der Markenführung in das Management der Corporate-Identity-Gestaltung, sonst läuft man Gefahr, die unternehmenskulturelle Basis und damit die Grundlage des Unternehmenserfolges zu missachten. Mit unguten Folgen: Zum einen wirkt man nach außen schnell unglaubwürdig, zum anderen verschenkt man intern das Identifikationspotenzial der Unternehmensmarke.“318 Näher betrachtet kann das ,Corporate Identity‘ (CI)-Konzept sowohl als ein Kommunikationskonzept als auch als ein Konzept der strategischen Unternehmensplanung und Unternehmensführung definiert werden, da die Ansätze des Konzepts vielschichtig sind. Abbildung 13: Ansätze des Corporate-Identity-Konzepts.(Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Meffert 2000, S. 706 f.)

Corporate Identity Konzept Kommunikationsorientierter Ansatz

Designorientierter Ansatz

Führungsorientierter Ansatz

Strategieorientierter Ansatz

Planungsorientierter Ansatz

In Anlehnung an die in der Darstellung aufgezeigten Ansätze „wird Corporate Identity […] als ganzheitliches Strategiekonzept verstanden, das alle nach innen

317 Vgl. Schmidt 2003, S. 30 318 Bickmann/Beyes 1999, S. 305

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

beziehungsweise nach außen gerichteten Interaktionsprozesse steuert und sämtliche Kommunikationsziele, -strategien und -aktionen einer Unternehmung unter einem einheitlichen Dach integriert.“319 Der beim ,Corporate-Identity-Konzept‘ zentrale Begriff ,Ganzheitlichkeit‘ lässt sich in diesem Zusammenhang damit erklären, dass das CI-Konzept als strategische Klammer aufzufassen ist, die sämtliche (integrativen) Unternehmensaktivitäten bündelt, um einen optimalen Gesamteffekt zu erreichen. So ist das CI-Konzept, als Kommunikationskonzept gesehen, ein strategisches Konzept zur Positionierung der Identität oder auch eines klar strukturierten einheitlichen Selbstverständnisses eines Unternehmens, sowohl im eigenen Unternehmen als auch in der Unternehmenswelt (identitätsorientiertes Markenführungskonzept). „Eine strategische Verknüpfung eines solchen Konzepts impliziert, dass im Rahmen einer Positionierung dieses Selbstverständnisses und Selbstbilds auch eine Reihe zentraler strategischer Elemente wie Technologieorientierung, Produkt- und Marktfelder, strategische Grundorientierung, Beziehung zu Mitarbeitern, Abnehmern, Lieferanten und Konkurrenten, die verhaltenssteuernde Normen oder Vereinbarungen geregelt und bearbeitet werden müssen.“320 „CI wird als verwendetes Instrument zur Steuerung sämtlicher Prozesse der Willensbildung und Willensdurchsetzung innerhalb des Unternehmens verstanden. Hierdurch soll ein zielkonformes Verhalten der Mitarbeiter gewährleistet werden. Dabei kommt der CI im Rahmen der Willensbildung eine konsensbildende Aufgabe zu.“321 „Über die Entwicklung eines deutlichen ,Wir-Bewusstseins‘ soll das CIKonzept nach innen eine Unternehmenskultur als Netzwerk von gelebten Verhaltensmustern und Normen etablieren und sicherstellen, dass die Vielzahl der Entscheidungsbeteiligten auf der Basis eines einheitlichen Unternehmensbildes bzw. Firmenimages und Unternehmensleitbildes entscheidet und dementsprechend handelt. Dadurch wird eine wesentlich höhere Kompatibilität und Synergie der Unternehmensaktivitäten ermöglicht, sowie - über die Identifikation mit dem Unternehmen und deren Politik - ein erhebliches Motivationspotenzial freigesetzt.“322

319 320 321 322

Meffert 2000, S. 706 Hadeler 2000, S. 657 Meffert 2000, S. 706 Hadeler 2000, S. 657

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

93

„Nach außen hin geht es darum, dass die durch verbales und nonverbales Verhalten gesendeten Signale mit dem erarbeiteten Konzept übereinstimmen und so den Aufbau eines ,Firmen-Image‘ ermöglichen, welches dann den verschiedenen Adressatenkreisen (Öffentlichkeit, Kunden, Presse, Kapitalgeber, Lieferanten, potenzielle Arbeitnehmer) präsentiert werden kann. Damit soll das Vertrauen der ,Stakeholder‘ in die Unternehmung gesteigert werden. ,Corporate Identity‘ als Konzept ist durch die Kommunikationspolitik als Basisstrategie ein zentraler Bestandteil der strategischen Unternehmensplanung und Unternehmensführung sowie eine wesentliche Erfolgsvoraussetzung zu einer kontinuierlichen und strategiekonformen Umsetzung strategischer Konzepte ins operative Geschäft.“323 ,Corporate Identity‘ wird somit auch als ein „strategisch geplanter und operativ gesteuerter Prozess verstanden, der das Erscheinungsbild, die Verhaltensweisen und die kommunikativen Aktivitäten des Unternehmens im Innenund Außenverhältnis unter einer einheitlichen Konzeption koordiniert. Dies beinhaltet die Analyse der Ist-Identität, den Entwurf der Soll-Identität, die Festlegung und Realisation der CI-Strategie und CI-Maßnahmen sowie der CI-Kontrolle und der CI-Anpassung.“324 Das ,Corporate-Identity-Konzept‘ ist ein sehr komplexes Konzept, denn es befasst sich mit der gesamten Management-Spannbreite eines Unternehmens. Es reicht von der Unternehmens- bzw. Organisationsentwicklung, der Verbesserung der Unternehmenskultur bis hin zur Designentwicklung für das Erscheinungsbild des Unternehmens. Weiter umfasst es die Entwicklung geeigneter ManagementMethoden und Führungsstile bis hin zur Personalentwicklung. Nur eine ganzheitliche Verbindung der unterschiedlichen Maßnahmen schafft Synergieeffekte, um den vielfältigen Erwartungen einer Identitätsentwicklung zu entsprechen. Offen bleibt allerdings beim Konzept ,Corporate-Brand-Identity‘, welche genauen Methoden- und Management-Ansätze, Methoden- und ManagementTools im Management hierzu notwendig sind. Dies wird nicht konkretisiert und ist als Kritikpunkt festzuhalten. Durch einen CI-Prozess werden die spezifische Identität, die Zusammenarbeit, die Qualität der Arbeitsleistung, die Motivation sowie das Profil und das Image verbessert, da der ganzheitliche Prozess für die Vernetzung (Corporate) aller Ebenen, Abteilungen, Prozesse und Ansätze sorgt.325

323 Hadeler 2000, S. 657 324 Meffert 2000, S. 706 325 Vgl. Regenthal 2003, S. 14

94

3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

Abbildung 14: Nutzen einer ganzheitlichen Corporate-Identity-Entwicklung. (Quelle: Regenthal 2003, S. 29)

Der Nutzen einer ganzheitlichen Corporate-Identity-Entwicklung für das Unternehmen und die Organisationen umfasst:  die Gesamtheit und Abstimmung aller Denk-, Verhaltens-, Arbeits- und Kommunikationsweisen; Steigerung der Transparenz; 

ein homogenes Erscheinungsbild nach innen und außen;



strategische Führungssysteme, Grundsätze und Leitlinien;



eine effektiver Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten und Ebenen;



eine Stärkung der Identifikation und Motivation der Mitarbeiter;



eine sinnvolle Verknüpfung aller laufenden Prozesse – Synergieeffekte;



eine aktive Gestaltung der Organisationskultur und des Betriebsklimas;



Entwicklung einer lernenden Organisation;



eine Verbesserung der Dienstleistungsqualität, der Arbeits-/Produktivität;



Abstimmung aller Einzelwirkungen auf die profilbildende Gesamtwirkung;



eine Identitätsbildung aller Beteiligten und der Unternehmensprofilierung;



eine Verbesserung der Kundenzufriedenheit, der Bekanntheit und Profilierung;



ein profiliertes Image des Unternehmens und damit Wettbewerbsvorteile am enger werdenden Markt, Positionierung im Markt.

Dieses Konzept begrenzt sich also nicht mit einer theoretischen Abhandlung der Identitätsbildung, sondern es gibt durch den integrativen ganzheitlichen Ansatz eine organisatorische Grundstruktur. „Die integrative Identität beinhaltet nicht nur eine motivierende und emotionale Ausrichtung, sondern sie ist auch eine vernunftgeleitete Leitgröße zur Verbesserung realer Arbeitssituationen, zur klaren Erfolgsstrategie, zur Nutzenmaximierung und zur Profilierung.“326 Denn es ist die Identität als notwendige Größe, die das eigentliche Kapital, nämlich die Ressourcen in den Menschen selbst, freisetzt und die Identifikation der Mitarbeiter mit dem Unternehmen ermöglicht. Der CI-Ansatz als ein integriertes Strategie-Konzept verbindet die unterschiedlichsten Theorien mit den bisherigen Elementen und schafft so die synergetische Gesamtwirkung für den Erfolg. So integriert das CI-Konzept verschiedene in dieser Arbeit aufgeführte Konzepte, beispielsweise sind die Ansätze der

326 Regenthal 2003, S. 15

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

95

identitätsorientierten Markenbildung wiederzufinden. Auch der von Esch modifizierte Ansatz des Markensteuerrads von Icon mit den Fragen: Wer bin ich?; Was biete ich an?; Wie bin ich?; Womit trete ich auf? wird aufgegriffen und ergänzt mit der Frage: Ist mein Auftreten nach innen und außen auch glaubwürdig? Dies zielt auf die konsequente Umsetzung in die Arbeitsweise im Alltag nach innen und außen hin, auf ein glaubwürdiges Leben der CI-Richtlinien (Controlling) und auf das Bestreben einer langfristigen Kundenbindung, also einem nachhaltigen Erfolg gepaart mit dem Image der Sicherheit und des Vertrauens.327 3.5.4.2 Elemente und Säulen des Konzepts ,Corporate-Brand-Identity‘ „Corporate Brand Management stellt einen außen und innen gerichteten Managementprozess dar, in dessen Mittelpunkt die Markenidentität steht.“328 Das Ziel einer erfolgreichen und langfristigen Profilierung durch Markenpositionierung mit Corporate Identity als ,Corporate Branding‘ wird erreicht durch: Einfachheit und Reduktion, Alleinstellung und Besonderheit, Emotionalität und Identität sowie Kommunikation und Image.329 „Die Markenidentität kann für Unternehmen nicht losgelöst von den grundlegenden Manifesten, Auffassungen und Zielvorstellungen eines Unternehmens entwickelt werden. Sie ist entsprechend in der Unternehmens-Philosophie und die Vision des Unternehmens einzubinden, welche die Grundlage für die Ableitung von Markenidentitäten bilden.“330 Den Kern der Markenidentität bildet daher die Markenphilosophie, welche die Idee, den Inhalt und die zentralen Eigenschaften einer Marke in Form eines plastischen Markenleitbilds festlegt. Um einer Marke eine Persönlichkeit zu verleihen, muss demnach im ersten Schritt die Identität (Markenkern) bzw. die Markenphilosophie definiert werden. Das Markenleitbild vermittelt die zentralen Elemente der Markenphilosophie in Form plastischer Darstellung und dient wiederum als Instrument zur Umsetzung der Markenposition. Das Markenleitbild umfasst die gedankliche Konzeption im Sinne eines genetischen Codes der Marke und bringt die spezifische Kompetenz der Marke, die Visionen, die grundlegenden Wertevorstellungen und Ziele sowie

327 328 329 330

Regenthal 2003, S. 175 Esch/Tomczak/Kernstock/Langner 2006, S. 23 Vgl. Regenthal 2003, S. 175 f. Esch 2008, S. 83

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

das Verhältnis der Marke zu den wesentlichen internen und externen Bezugsgruppen zum Ausdruck331 Basis hierfür bilden zum einen die gelebte Unternehmenskultur, zum anderen die Wünsche und Erwartungen der Belegschaft und der externen Bezugsgruppen.332 ,Corporate Identity‘ hilft die Identität und das Image bewusst zu entwickeln und profiliert zu gestalten. Das Konzept der integrativen ganzheitlichen ,Corporate Identity‘ besteht aus verschiedenen Elementen, die in der folgenden Abbildung skizziert werden. Abbildung 15: Elemente des ganzheitlichen Corporate-Identity-Konzepts.(Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Regenthal 2003, S.30)

Image Identität Corporate Identity

Corporate Behavior

Corporate Communication

Corporate Design

Unternehmensphilosophie / Unternehmensleitsätze --------------------------------------------------------------------Unternehmenskultur

Aus der Abbildung ergibt sich folgender Zusammenhang: 

„Die Unternehmenskultur ist die Basis für die Unternehmensidentität,



die im Unternehmensleitbild (Unternehmensphilosophie) formuliert wird,



das aus der Leitidee, den Leitsätzen und dem Motto besteht,

331 Vgl. Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 221 332 Vgl. Herbst 1998, S. 29

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

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die Basis sind für Design, Kommunikation und Verhalten, die als Instrumente der Firmenidentität zum Angleichen von Unternehmenskultur, Leitbild und Corporate Image führen sollen.“333 Bestandteile des Leitbilds sind die Leitidee, die Leitsätze und das Motto. Die Leitidee nennt den Sinn des Unternehmens und vermittelt eine Vision, wie es aktuelle und künftige Probleme lösen oder wie es zur Lösung beitragen kann. Aus einer Markenvision entwickelt sich auf dem Markt eine Position der Stärke, die von Mitbewerbern nicht so einfach zu zerstören ist. Hat eine Marke keine Vision, führt sie in der Regel ein Schattendasein. Sie kann auf dem Markt sehr leicht von der Konkurrenz angegriffen werden. „Die Vision334 ist der größte Erfolgsfaktor einer Marke. […] Eine Vision ist Faszination, schafft Impulse und Innovationsfähigkeit und damit Identifikation. Dieses Identifikationspotential ist der Schlüssel zu einer erfolgreichen Markenführung, unabhängig davon, ob es sich um eine Produkt Brand oder einer Corporate Brand handelt.“335 Markenleitbild und Markenphilosophie sind demnach das Selbstbild der Markenidentität und dienen nach der identitätsorientierten Markenführung als ein Aussagekonzept der Marke. Markenleitbilder haben dabei unterschiedliche Funktionen: Entwurf einer realistischen Zukunftsvorstellung der Marke (Vision), Festigung der Markenidentität nach innen und außen, Identifikations- und Motivationsfunktion, Orientierungs- und Stabilisierungsfunktion sowie Erleichterung der Koordination.336 „Nach Collins und Porras (1996), ist die Unternehmens-Philosophie der dauerhafte Charakter eines Unternehmens. Sie überdauert Produkt- oder Marktzyklen, technologische Innovationen sowie Managementmethoden und ist der Klebstoff, der eine Organisation zusammenhält. Die Unternehmens-Philosophie soll führen und inspirieren, sie muss aber nicht notwendigerweise differenzieren.“337

333 334 335 336 337

Herbst 1998, S. 38 Literaturhinweis zum Thema: ,Visionskonzept‘ – Bickmann 1999, S. 142 ff. Bickmann/Beyes 1999, S. 304 Vgl. Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 79 Esch 2008, S. 84

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

Einerseits geht es bei der Unternehmens-Philosophie um strategische Ausrichtungen, welche das ,Innere‘ eines Unternehmens fokussieren. Entsprechend sind folgende Fragen zu klären: Warum gibt es uns? – Welche Mission haben wir? (Unternehmenszweck); Für was stehen wir ein? (Unternehmenswerte und grundsätze); Wer sind wir? (Markenidentität). Andererseits wird neben dem Unternehmen auch die Unternehmensumwelt berücksichtigt, wenn es um die Vision und die Leitsätze geht. Fragestellungen hierzu sind zu klären: Was wollen wir erreichen? (Vision); Wie fühlte es sich an, dieses Ziel zu erreichen? (‚vivid description‘); Wie wollen wir das Ziel erreichen? (Leitsätze).338 Dabei sind die Leitsätze vor allem Kernaussagen, die grundlegende Werte, Ziele und Erfolgskriterien festlegen. Grundsätzliche Aussagen zu Fragen der Positionierung (Identitätsansätze) werden festgehalten, wie z.B. Wer sind wir? Was bieten wir? Warum machen wir das? Welche Grundwerte und Ziele haben wir? Wen wollen wir ansprechen? Wie arbeiten wir? Welche Vision haben wir? Welche spezifische Profilierung haben wir? Leitsätze bestimmen das Verhältnis des Unternehmens zu zentralen Bezugsgruppen wie Mitarbeitern, Kunden, Aktionären, Medien. In den Leitsätzen werden die spezifische Kompetenz des Unternehmens, seine Leistungsfähigkeit und die Wettbewerbsvorteile formuliert. Und das Motto fasst alles in einem kurzen, prägnanten Slogan zusammen.339 Das Leitbild bestimmt somit den Kurs des Unternehmens. Es steckt den Rahmen für künftiges Handeln durch einen Katalog von Kriterien ab, der Werte und Bekenntnisse der Unternehmensführung zum unternehmerischen Handeln enthält und Normen für das Verhalten setzt. Die Formulierung eines verbindlichen Leitbilds stellt durch seine Vorteile eine sehr brauchbare Basis für die Identitätsentwicklung eines Unternehmens dar. Es schafft eine Grundlage für ein einheitliches Verhalten auf allen betrieblichen Ebenen. Es informiert die Führungskräfte und Mitarbeiter über gewünschte Werte, Normen und Grundprinzipien des Unternehmens. Geschäftsleitung und Führungskräfte finden Unterstützung bei zeitgemäßer und der Situation angepasster Führung. Ein Leitbild zeigt jedem Mitarbeiter eines Unternehmens, wie er durch persönliches Verhalten zum Erreichen der Unternehmensziele und damit zum Erfolg des Unternehmens beitragen kann. Auch wirken Leitbilder nach außen, indem sie wichtige Bezugsgruppen über die Werte und Normen des Unternehmens informieren sowie Aussagen über Wünsche und Erwartungen an eine Zusammenarbeit treffen.340 Somit ist das 338 Vgl. Esch 2008, S. 83 339 Vgl. Herbst 1998, S. 31 340 Vgl. Herbst 1998, S. 29 f.

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

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Leitbild wie eine Art Verfassung und hauptsächlich für die eigene Orientierung gedacht, muss aber auch von außen in den Grundzügen verstanden werden. Auf dieser Basis sollten alle Maßnahmen nach innen und außen ausgerichtet sein. Nur so schafft man die profilierte Positionierung. „Ist die gewachsene und gelebte Unternehmenskultur auf Vergangenheit und Gegenwart bezogen, so ist das Leitbild auf die Zukunft gerichtet. Die Sollvorgaben wirken jedoch auf die Unternehmenskultur zurück und beeinflussen Werte und Normen im Unternehmen.“341 Das Leitbild und die Unternehmenskultur sind somit das Fundament innerhalb der Corporate Identity für eine nachhaltige Entwicklung einer Unternehmensidentität und des Images. Die Verhaltensweisen aller Beteiligten (,Corporate Behavior‘), die gesamte Kommunikation (,Corporate Communication‘) und das Erscheinungsbild eines Unternehmens (,Corporate Design‘) müssen dabei ganzheitlich aufeinander abgestimmt werden, damit sich die Einzelwirkungen aller Maßnahmen nach innen und außen nicht gegenseitig behindern oder gar auflösen und die Schwerpunkte der Unternehmenskultur und des Leitbilds zur Profilierung deutlich gemacht werden. 342 ,Corporate Behavior‘ bildet die in sich schlüssige und widerspruchsfreie Übereinstimmung mit dem Wertesystem aller Verhaltensweisen der Mitarbeiter, einschließlich der Führungspersonen, im Innen- und Außenverhältnis. Hierbei spielt die Bildung einer Unternehmenskultur343 im Sinne der Corporate Culture eine wichtige Rolle. Die Identität innerhalb einer Corporate Brand ist durch alle Ebenen geprägt. Institutionen werden als zeitlich konstante Systeme von Werten und Normen verstanden, die einen Handlungsrahmen darstellen und bei Verstößen mit Sanktionen reagieren. Unterschieden wird zwischen fundamentalen Institutionen, die zwar wandelbar, nicht aber vom Menschen beeinflussbar sind und sekundäre Institutionen, die bewusst gestaltet werden können.344 Die Gruppenidentität der Mitarbeiter eines Unternehmens bzw. Corporate Identity kann vor diesem Hintergrund ebenso wie die Markenidentität als solche, 341 Herbst 1998, S. 29 342 Vgl. Regenthal 2003, S. 30 f. 343 Anmerkung: „Die Unternehmenskultur besteht aus der Gesamtheit von Normen, Wertvorstellungen Denkhaltungen, Riten, Symbolen und Umgangsformen, welche die Verhaltensweisen der Mitarbeiter und somit das Erscheinungsbild einer Unternehmung prägen. Diese Verhaltensweisen haben sich im Unternehmen so gut eingebürgert, dass sie neuen Mitgliedern als die unternehmensspezifisch geeignete Art des Denkens und Fühlen zur Lösung von Problemen vermittelt wurden und werden.“ (Bickmann/Beyes 1999, S. 56) 344 Vgl. Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 47 ff.

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

sekundäre Institution aufgefasst werden. Es sei hinzugefügt, dass die Markenidentität nur dann als Institution funktionieren kann, wenn sie harmonisch in die übergeordnete Institution der Unternehmung und weiterführend in gesellschaftlich-kulturelle Gegebenheiten eingebettet ist.345 Die identitätsorientierte Markenführung ist an die Markenidentifikation der Mitarbeiter und die Schaffung entsprechender Organisationstrukturen und Führungsstile gebunden.346 Verhaltensvereinbarungen und Spielregeln im Umgang miteinander sowie die Führungs- und Managementstile sind hierbei zu einer Einheit auszuformen. Auch das Verhalten der Mitarbeiter, insbesondere in speziellen kundensensiblen Geschäftssituationen gegenüber den Kunden, wie beispielsweise bei Kundenbeschwerden steht hierbei im Fokus. Ein nicht-konformes Verhalten ist gerade für Dienstleistungsunternehmen das größte Problemfeld einer ,Corporate Branding‘, da der Zusatznutzen des Vertrauens dadurch nachhaltig gestört werden kann. Daher ist hier zusätzlich ein modernes Personalmanagement, z.B. nach dem ,Human-Ressource-Management-Konzept (HRM)‘347 anzuraten. Mit dem ,Corporate Behavior‘ werden Spielregeln und Verhaltensaspekte in den drei unterschiedlichen (dem instrumentale Unternehmensverhalten, dem Personenverhalten dem Medienverhalten des Unternehmen) Verhaltensbereichen eines Unternehmens zu definieren und zu steuern. 348 Ein ebenso wesentlicher Bestandteil des Corporate Behavior (siehe Kapitel 3.5.6.1) ist die Corporate Language, die als einheitliche unternehmensspezifische Sprache einen erheblichen Einfluss auf die Corporate Identity (nach innen wie nach außen) und damit auf das Corporate Image ausübt.349 ,Corporate Communication‘ hat die Aufgabe, „durch eine unternehmensidentitäts-konforme Kommunikationsstrategie und durch eine ganzheitliche Betrachtung aller nach innen und außen gerichteten kommunikativen Aktivitäten eines Unternehmens ein klar strukturiertes Vorstellungsbild von der Unternehmung (Corporate Image) in der Öffentlichkeit und bei den Mitarbeitern des Unternehmens zu vermitteln.“350 „Entscheidend für Corporate Communications ist 345 Vgl. Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 47 ff. 346 Vgl. Meffert 1996, S. 31 347 Anmerkung: HRM – Planung, Realisation und Kontrolle von Prozessen, die das notwendige Humankapital im Unternehmen bereit- und sicherstellen. Das HRM setzt ein integratives ganzheitliches Personalmanagementkonzept voraus, das in die gesamte Unternehmensstrategie eingebunden ist. (vgl.: Gabler Wirtschaftslexikon 2000, S. 1461) 348 Vgl. Hadeler 2000, S. 652 349 Vgl. Hadeler 2000, S. 657 350 Meffert 2000, 706

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

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somit, dass Ziele, Maßnahmen und Botschaften aus dem Leitbild hergeleitet, aufeinander abgestimmt sowie konsequent und einheitlich eingesetzt werden.“351 ,Corporate Design‘ steht für ein gesamtes visuelles Erscheinungsbild eines Unternehmens, welches im Rahmen und zur Unterstützung der Corporate Identity deren vorgegebenen Ziele darstellt. Das Corporate Design soll das Unternehmen nach innen und außen als Einheit erscheinen lassen. Es dient der ästhetischen und symbolischen Identitätsvermittlung insbesondere durch wichtige visuelle Gestaltungsgrundelemente und deren formale Gestaltungskonstanten, welche unter Umständen in einer Gestaltungsrichtlinie schriftlich fixiert sind. Beispiele für die Gestaltungselemente sind Zeichen, Farbe, Schrift, Typografie, Firmenzeichen (Logo, Signet), Bau (Außen- und Innenarchitektur), Briefbögen, Produkt- und Verpackungsgestaltung, Anzeigen, Firmenbroschüren, Homepage und Internetauftritt.352 „Corporate Design transportiert die Unternehmensidentität, aber sie schafft sie nicht. Das Corporate Design ist Form, aber kein Inhalt.“353 Als eine strategische und konzeptionelle Vorgehensweise dient sie auch in dieser angewandten Version als ein allgemeiner Leitfaden des CI-Prozesses. Alle Maßnahmen der Unternehmen nach innen und außen werden auf die Unternehmensgrundsätze ausgerichtet. Dieses Unternehmensprofil als Selbstdarstellung ist wie eine Unternehmensphilosophie – eine Art Verfassung als Basis für die Unternehmensentwicklung. Durch eine bewusste und strategische Selbstgestaltung und Selbstdarstellung sowie durch eine harmonische und konzeptionelle Verbindung aller Maßnahmen des Verhaltens, der Kommunikation und des Erscheinungsbilds nach innen und außen soll möglichst große Übereinstimmung von Identität, Image und Arbeitsweisen erreicht werden. Ein erfolgsversprechender Ansatz ist insbesondere in der weiteren Zusammenführung von Erkenntnissen aus der ,Corporate Identity‘ (CI) und der Markenforschung zu sehen. In beiden Forschungsrichtungen hat das Konstrukt der ,Identität‘ eine zentrale Bedeutung und beide Ansätze haben ihren Ursprung in der sozialpsychologischen Identitätsforschung. Deutliche Parallelen sind zwischen dem Konstrukt der Markenidentität und dem Konzept der Unternehmensidentität bzw. der ,Corporate Identity‘ erkennbar. Die Formulierung der Markenphilosophie als Kern der angestrebten Markenidentität ist genauso Aufgabe des Top-Managements wie die Ableitung eines Soll-Bilds der ,Corporate Identity‘ aus der Unternehmensphilosophie. Unterschiede lassen sich demgegenüber bezüglich der Auffassung von 351 Herbst 1998, S. 54 352 Vgl. Meffert 2000, S. 707 353 Vgl. Herbst 1998, S. 39

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

,Identität‘ feststellen. So bezieht sich die CI-Forschung auf die ganzheitliche Betrachtung des Unternehmens, während sich die Markenforschung allein mit den Aspekten der Marke befasst. Mit der Unternehmensmarke kommt es jedoch zur Verschmelzung der Betrachtungsobjekte. Wichtig ist ferner die Tatsache, dass sich die Marken- und die Unternehmensidentität gegenseitig bedingen. Die einzelnen Elemente zum Aufbau einer Corporate Identity müssen inhaltlich und optisch verzahnt und aufeinander abgestimmt sein. Nur dann kann ein glaubhaftes und nachhaltiges ,Bild eines Unternehmens‘ in der Öffentlichkeit aufgebaut werden.354 3.5.5 Eine Unternehmensmarke leuchtet nachhaltig von innen nach außen Eine moderne Markenführung versteht sich als ganzheitliche, integrative, interdisziplinäre Aufgabe, welche sich in der Corporate Identity, bzw. in der Persönlichkeit des Unternehmens, manifestiert. Sie beinhaltet sowohl die Unternehmenskultur mit ihren Wertvorstellungen, die das Unternehmen prägen, als auch die aktuelle Unternehmenspolitik, welche von der Einstellung der Führungskräfte und Mitarbeiter zum Unternehmen geprägt ist. Ein Mitarbeiter wird in die Markenidentität integriert, sodass er die Rolle des Unternehmensrepräsentanten bzw. des Markenbotschafters übernimmt.355 Wichtig ist das Wertefundament einer Marke, auf dessen Basis Unternehmen, Kunden und andere Anspruchsgruppen miteinander in Kontakt treten. Bei personellen Dienstleistungen findet durch die Integration des Kunden im Leistungserstellungsprozess eine Interaktion der Mitarbeiter des Dienstleistungsanbieters mit dem Nachfrager statt. Im Hinblick auf die Prozess- als auch die Ergebnisdimension der Dienstleistung wird die Markenidentität somit im Auftreten und Handeln des Kundenkontaktpersonals erlebbar.356 Die Mitarbeitenden sind das Bindeglied zwischen der Identität des Kunden und der Identität des Unternehmens. Durch ihre Arbeit sollen sie einen Beitrag leisten, damit die Kunden durch die Nutzung der Dienstleistungen an ihrer Identität arbeiten können.357 Dies gilt auch für Betriebe der Gesundheitswirtschaft, z.B. den Krankenhäusern. Gerade weil es Patienten schwer fällt, die eigentliche medizinische Leis-

354 355 356 357

Vgl. Birkigt 2002, S. 23 Vgl. Heiland/Krause 2013, S. 7 Vgl. Meffert 2002, S. 275 Vgl. Kreutzer 2009, S. 37 f.

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

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tung in ihrer Qualität zu beurteilen, auch weil das Ergebnis nicht immer die Wiedererlangung der Gesundheit ist. Daher ist es für Patienten als Kunden wichtig, den Kontakt mit dem Unternehmen positiv im Gedächtnis zu behalten. Hier spielen Werte und der persönliche Kontakt zu den Mitarbeitern eine bedeutende Rolle, um für die notwendige nachgefragte Dienstleistung Vertrauen schenken zu können. Marken leuchten von innen nach außen. Insbesondere die Mitarbeiter eines Krankenhauses sind auf dem Weg der Markenbildung ein wichtiger Faktor, da diese engen Kontakt mit dem Kunden haben. Sie werden daher zwangsläufig das Image ihres Hauses repräsentieren und verbreiten, daher gilt es den Prozess der Markenbildung durch Investition in die Mitarbeiter des Krankenhauses zu unterstützen. Es zeigt sich, dass Patienten die Kontakt- und Sozialqualität der Mitarbeiter eines Krankenhauses stark gewichten. Es liegt an ihnen, das Image des Krankenhauses zu vertreten und dem Patienten durch Sachkenntnis eine spürbare Qualität aufzuzeigen. Kundenzufriedenheit als auch -loyalität werden durch eine starke Mitarbeiterzufriedenheit und ein hohes Commitment positiv beeinflusst. Erfolgreiche Marken werden demzufolge von innen nach außen gebildet. Nur wenn die Marke auch im Unternehmen gelebt wird, indem sich die Mitarbeiter mit ihr identifizieren, kann sie ihre volle Wirkung entfalten.358 Die charakteristischen Merkmalen von Dienstleistungen zeigen die besondere Notwendigkeit eines markengerechten konsistenten Mitarbeiterverhaltens. Das Ziel einer innen gerichteten Markenführung ist eine psychologische Verbundenheit der Mitarbeiter mit der Marke (,Brand Commitment‘) zu ermöglichen und ein zur Markenidentität konsistentes Mitarbeiterverhalten (,Brand Citizenship Behavior‘) zu erreichen.359 Durch Internal und Behavioral Branding lassen sich Mitarbeiter von der eigenen Marke begeistern und sie können dadurch motiviert werden, als Markenbotschafter zu agieren. Ziel der Markenbotschafter ist wiederum die Marken-Begeisterung den Stakeholdern weiterzugeben, um somit das Unternehmen und die Marke durch ihr Verhalten nachhaltig zu stärken. Das Ziel des Corporate Branding ist, den Unternehmenswert über eine Unternehmensmarke zu steigern. Im Rahmen der identitätsorientierten Markenbildung gibt es innerhalb des Corporate Branding verschiedene Konzepte, die jeweils einen spezifischen Teil des Corporate Branding fokussieren. In ihrer Wir-

358 Vgl. Burghardt/Gündling/Weyers 2008, S. 1 f. 359 Vgl. Bruhn 2008, S. 25

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

kung bedingen sie sich gegenseitig und haben eine proportionale Wirkung zueinander. Demnach sind die Teilkonzepte ,Behavioral Branding‘ und ,Internal Branding‘ sowie ,Employer Branding‘ eine konsequente Weiterentwicklung des Corporate-Brand-Managements, welches die Marke als wichtige Voraussetzung von strategischer Unternehmensführung versteht.360 ,Internal Branding‘ „beschreibt alle Maßnahmen, die darauf abzielen, die Mitarbeiter in den Prozess der Markenbildung einzubeziehen, sie über die eigene Marke zu informieren, für die Marke zu begeistern und letztendlich ihr Verhalten im Sinne der Marke zu beeinflussen.“361 Das ,Employer Branding‘ verhilft einem Unternehmen sich als (attraktiver) Arbeitgeber auf dem Arbeitsmarkt zu positionieren. Es bezieht sich hauptsächlich auf den Arbeitgeber und ist mit dem Internal Branding, welches die Maßnahmen dafür definiert, eng verknüpft.362 Diese Teilkonzepte ,Behavioral Branding‘ und ,Internal Branding‘ sowie das Konzept ,Employer Branding‘ werden im Einzelnen näher beschrieben. 3.5.5.1 Behavioral Branding Der Begriff ,Behavioral Branding‘ bezieht sich auf alle Maßnahmen, die markenkonformes Verhalten der Mitarbeiter ermöglicht und das tatsächliche, markenorientierte Verhalten der Mitarbeiter und zeichnet sich dadurch aus, dass der Mitarbeiter den Erwartungen der Marke entsprechend handelt.363 Ihr liegt die Idee zugrunde, dass die Identität eine Art unveräußerlicher Kern ist, der sich im Handeln seiner Mitarbeiter entfaltet.“364 „Angesichts der hohen Bedeutung, die bei interaktiven Dienstleistungen dem Mitarbeiterverhalten im Kundenkontakt für die Qualitätswahrnehmung, das Markenimage und die Kundenbeziehung zukommt, gehört die interne Markenführung zu den zentralen spezifischen Aufgaben des dienstleistungsbezogenen Markenmanagements.“365

360 361 362 363 364 365

Vgl. Streif 2011, S. 20 Schmidt/Kilian 2012, S. 30 Vgl. Streif 2011, S. 23 Vgl. Tomczak et al. 2012, S. 7 Tomczak et al. 2012, S. 7 Bruhn 2008, S. 25

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

105

„Ziel des erfolgreichen ,Behavioral Branding‘ ist, mit markenorientiertem Verhalten die Marke zu stärken und damit zum Unternehmenserfolg beizutragen.“366 „Die Prämisse eines markenkonsistenten Mitarbeiterverhaltens erfordert die konsequente Planung und Ausrichtung aller Unternehmensaktivitäten an den Markenwerten des Unternehmens. Um dabei dem Anspruch an Vollständigkeit und Strukturiertheit gerecht zu werden, empfiehlt sich die Entwicklung eines ,Behavioral-Branding-Konzepts‘.“367 Dieses ,Behavioral-Branding-Konzept‘ darf nicht nur als eine Teilaufgabe von verschiedenen Abteilungen verstanden werden. Es muss auf Basis eines strategisch ausgerichteten, integrativen und ganzheitlichen Management-Konzepts entwickelt und geführt werden. „In diesem müssen Markenziele definiert und in das übergeordnete Zielsystem des Unternehmens integriert werden. Auch gilt es, die Ziele segmentspezifisch zu konkretisieren, d.h. auf die Funktionsbereiche des Unternehmens und die Mitarbeiter herunter zu brechen. In gleicher Weise gilt es, im Vorfeld der Implementierung von Brand Behavior klare Entscheidungen bezüglich der Implementierungsstrategie, zu berücksichtigender Zielsegmente und Markenbotschafter zu treffen. Eine klare, schriftlich fixierte und als verbindlich angesehene Entscheidungsgrundlage hilft später bei der operativen Umsetzung von Behavioral Branding.“368 Hinzu kommen regelmäßiges Controlling und Evaluation des Behavioral-Branding-Prozesses. „Die interne Kommunikation gilt hierbei als Werttreiber für Marken und ihr kommt daher eine große Bedeutung zu. In diesem Sinne wird der menschlichen Kommunikation im Unternehmen eine wichtige Rolle zugeordnet. Das Behavioral Branding beinhaltet somit die Kunden-Mitarbeiter-Interaktion und bezieht sich auf die Gestaltung der menschlichen Kommunikation zum Aufbau und Pflege der Marke. Es vermittelt, neben anderen markenbezogenen Kommunikationsmaßnahmen, die Markenidentität des Unternehmens und beeinflusst das Markenimage bei allen Anspruchsgruppen.“369 „More positively, motivated and happy staff communicate their positive attitude to customers, and, in turn, staff find it rewarding to deal with happy customers. But there is also a considerable body of evidence, that staff motivation and customer

366 367 368 369

Tomczak et al. 2012, S. 6 Henkel et al. 2010, S. 9 Henkel et al. 2010, S. 9 Tomczak et al. 2012, S. 19

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

satisfaction are interlinked. […] A given increase in employee satisfaction had a positive impact on customer perception and, ultimately, financial Performance.“370

Eine Marke ist nur dann erfolgreich, wenn sie von einer entsprechenden markenorientierten Führung unterstützt wird. Diese muss ihr die notwendige Glaubwürdigkeit und Dringlichkeit verleihen können. In vielen großen Unternehmen wird diese bedeutende Aufgaben nicht nur der mittleren und oberen Managementebene zugeordnet, sondern auch dem Vorstandsvorsitzenden. Sie vermitteln alle die zentralen Markenwerte den Mitarbeitern nach innen. Nach außen fungieren sie als Sprachrohr für das Markenversprechen gegenüber diversen Anspruchsgruppen, wie Kunden, Lieferanten u.a. Stakeholdern. Das Top-Management eines Unternehmens hat eine Vorbildfunktion zu erfüllen. Es muss von der eigenen Marke überzeugt sein, sich damit identifizieren können, um dann ihre Werte authentisch hinaustragen zu können. Um Akzeptanz zu erzielen, muss die Markenidentität als ganzheitliches Konzept von dem Top-Management aus bis hin zur Mitarbeiterebene kaskadenförmig über das gesamte Unternehmen hinweg ausrollen. Letztendlich ist es der Akzeptanzgrad, der über den Konzepterfolg entscheidet.371 Die Voraussetzung für ein markenkonsistentes Mitarbeiterverhalten stellt eine unternehmensübergreifende Zielsetzung dar. Somit ist das Top-Management bzw. die Geschäftsleitung aufgefordert eine Markenvision als übergeordnetes Ziel zu formulieren. Dies hat eine Symbolwirkung gegenüber der Gesamtheit aller Anspruchsgruppen und dient auch der internen Durchsetzung der Marke. Auf der darunterliegenden Ebene, die der direkten Vorgesetzten, soll die Vision konkretisiert werden, wobei der Markenwert als Zieldimension angegeben wird. Auf dieser Ebene werden die Leitbilder entworfen. Die dritte Ebene ist diejenige, auf der das Mitarbeiterverhalten optimiert wird. Auf dieser Ebene ist das Engagement eines jeden Mitarbeiters gefragt. Sie ist die Ebene, auf der Mitarbeiter zu Markenbotschaftern entwickelt und motiviert werden. Um dieses Verhalten zu stärken, müssen die Ziele zum Erreichen der Vision in Absprache mit den Führungskräften in die Entwicklungspläne der Mitarbeiter integriert werden. 370 Anmerkung: Übersetzung: „Positive, motivierte und zufriedene Mitarbeiter teilen den Kunden ihre positive Einstellung mit, und die Mitarbeiter wiederum lohnen es, mit glücklichen Kunden umzugehen. Es gibt jedoch auch zahlreiche Beweise dafür, dass Mitarbeitermotivation und Kundenzufriedenheit miteinander verknüpft sind. […] Eine Erhöhung der Mitarbeiterzufriedenheit hat sich positiv auf die Kundenwahrnehmung und letztendlich auf die finanzielle Leistung ausgewirkt“. (Suntook/Murphy 2008, S. 122) 371 Vgl. Heiland/Krause 2013, S. 15 f.

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

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Auch muss den Mitarbeitern die Wichtigkeit ihrer Rolle als Markenbotschafter bewusst gemacht werden, sowohl im positiven als auch im negativen Sinne.372 „Vision, Mission und Leitbild sind Instrumente zur Gestaltung der Unternehmenspolitik, über die man der Unternehmung und den Geschäftsfeldern Orientierung geben möchte und dadurch gewissermaßen ihre Entwicklung kanalisiert.“373 In der nachfolgenden Abbildung wird die Idealstruktur einer BehavioralBranding-Kaskade visualisiert. Diese zeigt die kaskadenförmige Vorgehensweise bei der Umsetzung eines ,Behavioral-Branding-Konzepts‘ im Unternehmen auf. Sie beinhaltet auch die einzelnen Leitmotive und die sich daraus ergebenden Aufgabenfelder nach Hierarchiestufen. Abbildung 16: Die Behavioral-Branding-Kaskade. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Tomczak et al. 2009, S. 202 ff.) Symbolwirkung

Top Management

 Gegenüber der Gesamtheit der Anspruchsgruppen  Zielsetzung: interne Durchsetzung der Marke

Leitbild

mittleres Management

 Für die Gesamtheit der untergeordneten Mitarbeiter  Zielsetzung: Beeinflussung des MarkenCommitment auf operativer Ebene

Markenbotschafter

Mitarbeiter

 Gegenüber der Gesamtheit der Zielgruppen  Zielsetzung: Erfüllung des vom Unternehmen kommunizierten Markenversprechens

Die bisherige Erforschung des Brand Behavior kann in zwei Bereiche aufgeteilt werden. Der erste Bereich befasst sich mit den Interaktionen zwischen Kunden und Mitarbeitern und ergründet, auf welche Weise und mit welcher Intensität ein Mitarbeiter das Markenbild eines Kunden prägt. Der zweite Bereich bezieht sich auf die Schnittstelle zwischen Unternehmen und Mitarbeiter und untersucht, wie Mitarbeiter für die eigene Marke begeistert werden können und welche Rollen

372 Vgl. Tomczak et al. 2012, S. 202 ff. 373 Müller-Stewens/Lechner 2003, S. 234

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

die Selektion, die Ausübung und die Führung der Mitarbeiter in diesem Sinne spielen.374 Der integrierte Einsatz von formellen, informellen und strukturellen Instrumenten – im Sinne von Brand Behavior – wirkt sich verstärkt auf das Mitarbeiterverhalten aus. Formelle Instrumente hierfür sind schriftliche Anweisungen seitens des Managements, die dem Mitarbeiter über gängige Kommunikationskanäle, wie bspw. Intranet oder Internet, einseitig und unpersönlich übermittelt werden. Auch die Mitarbeiterzeitung, interne Broschüren oder das MitarbeiterInformationsblatt sind Beispiele dafür.375 Informelle Instrumente beziehen sich auf eine persönliche Interaktion zwischen Führungskräften und Mitarbeitern, wobei die Initiative dazu sowohl von der Führungskraft als auch vom Mitarbeiter ausgehen kann. Zu dieser Kategorie zählen Teamsitzungen und Team- und/oder Unternehmens-Events oder Kamingespräche zwischen Vorgesetzten und ihren Mitarbeitern. Sie werden empfohlen, um die Mitarbeiter von der Relevanz eines markenkonsistenten Verhaltens zu überzeugen und sie zur Umsetzung von Brand Behavior zu motivieren. Die dritte Kategorie sind die strukturellen bzw. organisationalen Maßnahmen. Diese sind erforderlich, um den Mitarbeitern die notwendige Handlungsfreiheit zu geben, in bestimmten Situationen flexibel und markenkonsistent zu handeln. Dieses kann über Empowerment sowie Anreiz- und Belohnungssysteme erfolgen.376 Die Förderung von Brand Behavior wird als eine psychologische Zielgröße eingeordnet. Sie kann kognitiv sein, also die Erkenntnis betreffend; affektiv, das Gefühl betreffend, und konativ, auf das Handeln bezogen sein. Der Zielinhalt leitet sich aus dem Brand Behavior Funnel ab.377 Für markenkonformes Verhalten sind drei wichtige Komponenten erforderlich 1. das Wissen, 2. das Commitment und 3. die Fähigkeit. Diese drei Komponenten stehen in einem engen, logischen Verhältnis zueinander und bauen aufeinander auf. Im ersten Schritt werden Fragen aufgestellt. Diese leiten sich aus dem Trichtermodell ab und bilden eine fundierte Grundlage, auf der Maßnahmen entwickelt werden können und dazu verhelfen, die Marke zu verankern. Der ,Brand Behavior Funnel‘ ist ein Analyse- und Steuerungsinstrument von Brand Behavior. Grafisch (siehe Abb. 16) wird er als Trichtermodell dargestellt.

374 375 376 377

Vgl. Tomczak et al. 2012, S. 83 Vgl. Henkel et al. 2010, S. 9 Vgl. Henkel et al. 2010, S.9 Vgl. Tomczak et al. 2012, S. 19

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

109

Abbildung 17: Der Brand Behavior Funnel. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Tomczak et al. 2009, S. 84) Wissen

Markenidentität

Commitment

Verhalten

Fähigkeiten Erfahrungs- & Lerneffekte aus Interaktionen

Laut diesem Modell müssen erst alle vorgelagerten Stufen genommen werden, damit anschließend die nachgelagerten Ziele erreicht werden können.378 Auf Basis der Markenidentität und der Komponenten des Brand Behavior Funnel kann ein Instrumentenmix zur gezielten Förderung von Brand Behavior entwickelt werden. Die Instrumente müssen demzufolge fähig sein, das Wissen der Mitarbeiter aufzubauen, das Commitment zu stärken, die Fähigkeiten der Mitarbeiter zu entwickeln und deren markenkonformes Verhalten zu fördern. Ein Mitarbeiter muss das richtige Grundverständnis hinsichtlich vorhandener Vorstellungen, Kenntnisse und Assoziationen haben. Er muss wissen und verstehen, wofür die Marke steht und wie er mit seinem Verhalten zur Markenbildung beitragen kann. Dennoch reicht Wissen allein nicht aus. Um sich mit der Marke identifizieren zu können, muss der Mitarbeiter auch das intrinsische Bedürfnis haben, die Marke glaubwürdig nach innen und nach außen zu tragen. Das Fundament für ein markenkonformes Verhalten ist dann geschaffen, wenn die physische und psychische Fähigkeit vorhanden ist, durch die der Mitarbeiter die Markenwerte in der Interaktion mit einem Kunden vermitteln kann.379 Der Vorteil dieses Funnels besteht darin, dass durch ihn das Fehlverhalten eines Mitarbeiters in seine einzelnen Bestandteile aufgegliedert und genau untersucht werden kann. Hierbei werden die individuellen Bedürfnisse des Mitarbei-

378 Vgl. Tomczak et al. 2012, S. 83 f. 379 Vgl. Tomczak et al. 2012, S. 83 f.

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

ters untersucht, was zu einer gezielten und systematischen Verbesserung des Behavioral Branding führen kann.380 „Eine detaillierte Analyse des Mitarbeiterverhaltens ist vor allem deswegen wichtig, weil unterschiedliche Instrumente in unterschiedlichem Ausmaß für die einzelnen Funnel-Komponenten geeignet sind.“381 Um den Funnel bei der Analyse und Steuerung von Brand Behavior im Unternehmen einsetzen zu können, müssen erst drei wichtige Schritte durchgeführt werden: die Markenidentität muss in konkreten Verhaltensweisen, die als Sollvorgaben gelten, aufgezeigt werden, da ansonsten eine sinnvolle Messung von Brand Behavior nicht möglich ist, die Messung des Ist-Zustands muss anhand der Soll-Größen erfolgen, bei bedeutenden Lücken wird eine Ursachenanalyse vorgenommen.382 3.5.5.2 Internal Branding – Mitarbeiter als Markenbotschafter „Maßnahmen zur Markenentwicklung im Krankenhaus im Rahmen eines Corporate-Identity-Management-Prozesses sollten zunächst auf der Erkenntnis beruhen, dass jeder einzelne Mitarbeiter, also nicht nur die Marketing- oder Kommunikationsabteilung eines Krankenhauses, einen Beitrag zur Markenbildung leistet. Dieser Beitrag kann positiver wie auch negativer Multiplikator sein (Behavioral Branding). Zunächst muss also das Markenbewusstsein (Marken-Commitment) bei den Mitarbeitern entwickelt werden. Ihnen muss bewusst gemacht werden, dass sie als Schnittstelle zwischen Patient und Marke bei den Kunden als Markenbotschafter auftreten. Die Verankerung einer Marke in den Köpfen der Mitarbeiter erfordert langen Atem und Durchsetzungskraft. Ein CorporateIdentity-Management-Prozess hat daher die Aufgabe, Mitarbeiter frühzeitig einzubinden, um eine Markenidentität gemeinsam zu erarbeiten.“383 „Eine innovative Kommunikationsstrategie setzt auf einen markanten Markenauftritt. Marken definieren Einzigartigkeit und garantieren langfristigen Mehrwert für das Unternehmen und seine Aktivitäten. Markenführung stellt die Frage nach der Unternehmenskultur - im Unternehmen und gegenüber seinen Interessengruppen.“384 380 381 382 383 384

Vgl. Heiland/Krause 2013, S. 20 Tomczak et al. 2012, S. 95 Vgl. Tomczak et al. 2012, S. 91 f. Debatin 2006, S. 93 f. Debatin 2006, S. 91

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

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„Der Markenerfolg eines Unternehmens hängt wesentlich davon ab, inwiefern die Mitarbeiter das Markenversprechen nach außen bzw. gegenüber dem Kunden leben. Aus diesem Grunde müssen Mitarbeiter zu Markenbotschaftern werden.“385 Besonders zu betonen ist die Bedeutung, die den Mitarbeitern beim Aufbau der Marke zukommt. Das Verhalten der Mitarbeiter prägt in hohem Maße das Image einer Dienstleistungsmarke. „Um ein einheitliches Image bei den Kunden aufbauen zu können, ist ein konsistentes professionelles Verhalten der Mitarbeiter gefordert. Mitarbeiter müssen sich also mit den Werten und Botschaften der Marke identifizieren können. So haben die Mitarbeiter eines Unternehmens und ihr Verhalten eine wichtige Einflussgröße auf die Markenidentität eines Unternehmens und seiner Dienstleistung.“386 Die Mitarbeiter sind Empfänger und Sender der Markenkommunikation. „Sie können im Zuge ihrer Kundenkontakte Markeninhalte übermitteln. Je mehr sich ein Mitarbeiter mit seiner Unternehmensmarke identifiziert, desto stärker kann er das im Gespräch mit Kunden zum Ausdruck bringen und durch ein erhöhtes Involvement eine besondere Lernwirkung bei den Adressaten erreichen.“387 Denn gerade im Krankenhäusern sind die „Mitarbeiter Botschafter der Marke 24 Stunden am Tag, sieben Tage in der Woche.“388 „It is intuitively obvious that there is a link between happy customers and happy staff: no customer wishes to deal with a grumpy member of staff and equally no staff member wishes to face an irate customer.“389

„Markenführung beginnt zu Hause – Kunden werden die Marke lieben, wenn es auch die Mitarbeiter tun – zufriedene Mitarbeiter bedeuten zufriedene Kunden.“390 Mitarbeiter, die sich mit dem Unternehmen identifizieren, werden zu Markenbotschaftern. Sie repräsentieren die Unternehmensmarke nach außen. Unter Internal Branding ist die interne Markenführung zu verstehen und damit umfasst es all diejenigen Konzepte und Maßnahmen eines Unternehmens, 385 386 387 388 389

Tomczak et al. 2012, S. 391 Meffert 2003, S. 13 f. Tomczak et al. 2012, S. 23 Tomczak et al. 2012, S. 23 Anmerkung: Übersetzung: „Es ist intuitiv offensichtlich, dass es einen Zusammenhang zwischen zufriedenen Kunden und zufriedenen Mitarbeitern gibt: Kein Kunde möchte mit einem mürrischen Mitarbeiter zu tun haben, und ebenso wenig möchte ein Mitarbeiter einen wütenden Kunden sehen.“ (Suntook/Murphy 2008, S. 122) 390 Herbst 2005, S. 110 f.

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

die darauf ausgerichtet sind, die Marke nach innen zu implementieren. Durch Internal Branding verfolgt ein Unternehmen das Ziel, bei seinen Mitarbeitern „ein Bewusstsein in Form von Zuneigung, Interesse und/oder Begeisterung für die Marke(n) seines Unternehmens zu schaffen.“391 Im Mittelpunkt der Bemühungen steht, mit allen Mitarbeiter aktive Identifikationsarbeit zu betreiben. Aufgabe des Internal Branding ist es, über Markenbegeisterung markenorientiertes Verhalten zu fördern und Mitarbeiter zu begeisterten Markenbotschaftern zu machen, um die durch das Unternehmen kommunizierten Leistungsversprechen gegenüber den Kunden und anderen Stakeholder einzuhalten.392 Der identitätsorientierte Ansatz einer Markenbildung kann diese Funktion herstellen. „Das Wortspiel ,Markenapostel‘ verdeutlicht, dass Menschen insbesondere Mitarbeiter, zu Markenbotschafter werden können, sobald sie sich mit der Marke identifizieren. Sie werden in diesem Sinn zu Anhängern einer Marke.“393 Sie „verfügen über äußerst lebendige und klare Markenbilder, bauen Beziehungen auf und werden gar zu ,Markenaposteln‘, weil sie durch die Marken anderen Menschen ihre Wertvorstellungen vermitteln können.“394 „Die gelebte Unternehmensidentität bedingt als wesentlicher Bestimmungsfaktor die Gruppenidentität der Mitarbeiter und bietet über ihre Gestaltungsmöglichkeit einen Ansatzpunkt zu deren Steuerung.“395 Durch einen ganzheitlichen Ansatz der Unternehmensführung ist sicherzustellen, dass die Markenidentität eine möglichst große Schnittmenge mit der Gruppenidentität der Mitarbeiter aufweist. Dabei ist das Selbstverständnis der Mitarbeiter mit den Vorstellungen, Zielen und der Unternehmensgeschichte in Einklang zu bringen.396 Sommer (1998) unterscheidet bei der „Nutzung der Marke generell zwei soziale Bezugsgruppen: 1.

2.

391 392 393 394 395 396

Gruppen mit definierter Zugehörigkeit, wie die Mitarbeiter eines Unternehmers. Hierbei handelt es sich um Gruppen, die objektiv bestehen und bei denen es möglich ist, festzustellen, ob jemand dieser Gruppe angehört. Gruppen, die durch gemeinsame Ansichten, Werte, Lebens- bzw. Arbeitsauffassung und Ziele bestimmt sind. Die zweite Gruppe, […] existiert im

Müller-Neuhof/Giehl 2004, S. 27 Vgl. Schmidt 2007, S. 55 Scheier/Held 2009, S. 13 f. Esch 2001, S. V Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 283 f. Vgl. Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 278

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

113

Prinzip nur in unserer Vorstellung und sie erfordert daher keine Mitgliedschaft. Die Mitgliedschaft entsteht nur aufgrund des persönlichen Gefühls der Zugehörigkeit.“397 Das Teilen von gemeinsamen Ansichten, Werten, Lebens- bzw. Arbeitsauffassung und Zielen fördert die persönliche Zugehörigkeit, sie ist Basis der gemeinsamen Identität und somit Ziel. Dies hängt „einerseits von der Markenidentität ab, andererseits wird diese auch darüber geprägt.“398 „Bei einer Dienstleistungsmarke ist das menschliche Verhalten das entscheidende Kriterium, da der Kunde keinen anderen Anhaltspunkt hat, um das Einhalten oder das Nichteinhalten des kommunizierten Versprechens zu beurteilen.“399 „Eine identitätsorientierte Markenführung im Dienstleistungserstellungsprozess und damit in der Interaktion zwischen Unternehmensmitarbeiter und Kunde ist grundsätzlich nur bei einem hohen Fit zwischen der Markenidentität und der Mitarbeiteridentität zu gewährleisten. Der Prozess der Leistungserstellung ist darüber hinaus so anzulegen, dass die zentralen Werte der Marke und die Komponenten der Markenidentität adäquat berücksichtigt werden.“400 Aufgrund des intensiven Kundenkontakts ist die Bedeutung des Selbstbilds in der Dienstleistungsbranche für die Markenwahrnehmung sehr hoch zu bewerten, daher sind die internen Leistungspotenziale durch das Markenmanagement besonders zu berücksichtigen. Für eine erfolgreiche Markenführung muss es demnach in Dienstleistungsunternehmen insbesondere darum gehen, die Wahrnehmungen, Überzeugungen und Werte unterschiedlicher Gruppen von Mitarbeitern in geeigneter Form bei der Herausbildung des Selbstbilds der Markenidentität zu berücksichtigen, um so eine möglichst hohe Übereinstimmung zwischen Selbstbild des Unternehmens und Fremdbild des Kunden herzustellen. Gelingt dies nicht, werden in einem Unternehmen verschiedene voneinander abweichende Sub-Selbstbilder existieren, welche dann aufgrund widersprüchlicher Signale und Handlungen zu einem diffusen und negativen Image bei dem Kunden führen können. Markenwerte, die den erlebten Erfolgs-, Karriere- und professionellen sowie menschlichen und ethischen Handlungsmustern widersprechen, haben ohne korrigierende Kommunikation und gezielte Perso-

397 398 399 400

Sommer 1998, S. 98 Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 282 Olins 2004, S. 72 Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 285

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

nalpolitik keine Chance auf Glaubwürdigkeit.401 Die Folge ist, dass Mitarbeiter die Marke oder ein Unternehmen innerlich ablehnen und eher ein ,formales Commitment‘ entsteht, da sie sich mit deren Zielen, Werten oder Kultur nicht identifizieren können. Dieses Phänomen wird auch „Not-invented-here-Syndrom“402 genannt.403 Dass sich die Wertschätzung der Marke durch die Mitarbeiter auch betriebswirtschaftlich niederschlägt, zeigen die Ergebnisse der Gallup-Studien404, in der jährlich durch das Marktforschungsinstitut Gallup die Arbeitsmotivation der Mitarbeiter in deutschen Unternehmen untersucht wird. Mitarbeiter zeigen eine höhere Motivation und Bindung an das Unternehmen, wenn sie emotional beteiligt werden und sich mit dem Unternehmen identifizieren können. Ein glaubwürdiger Auftritt der Marke zeigt sich nicht zuletzt durch die Mitarbeiter, welche die Marke nach außen leben und verkörpern. Dies ist gerade im Dienstleistungsbereich von großer Bedeutung. Daher gehört die interne Markenführung zur wichtigsten Aufgabe, um die Mitarbeiter für die Marke zu begeistern. Sie sind es, welche die Markenwerte leben und nach außen zum Kunden tragen. Hier zeigt sich auch, dass Markenführung eine Führungsaufgabe ist.405 Internal Branding ist ein wesentlicher Erfolgsfaktor eines Unternehmens; vor allem im konsistenten Auftritt der Mitarbeiter nach außen hin liegt ein großer Nutzen. Dies ist ein Ergebnis aus der Studie von BBDO-Consulting (Jahr 2005) in der Top-Entscheider von deutschen und schweizerischen Großunternehmen befragt wurden. Zufriedene Mitarbeiter, die sich mit dem Unternehmen und der Dienstleistung identifizieren können, sind die besten Markenbotschafter – es sind Botschafter nach außen! Dies bestätigt auch die EUCSA-Studie (Jahr 2004), in der ein Ergebnis lautet: Besonders erfolgreich sind jene Unternehmen, in denen die Mitarbeiterzufriedenheit Vorrang vor dem externen Kunde hat.406 Auf einem Markt mit sich immer ähnlicher werdenden Dienstleistungsangeboten ist es verstärkt notwendig, sich über die Dienstleistungsqualität im Wett-

401 Burghardt/Kumbartzki/Franzen 2005, S. 39 402 Anmerkung: „Phänomen der Ablehnung von externen Entwicklungen durch Mitarbeiter eines Unternehmens. Aus der Ablehnung resultieren oftmals Ineffizienzen und Doppelentwicklungen, die u.a. bei Innovationskooperationen zu schwerwiegenden Problemen führen können.“ (Gabler Wirtschaftslexikon 2016) 403 Vgl. Herbst 2005, S. 112 404 Anmerkung: Marktforschungsinstitut Gallup 405 Vgl. Herbst 2005, S. 112 406 Vgl. Herbst 2005, S. 110 f.

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

115

bewerb zu differenzieren. Zur Erreichung einer Uniqueness im Markt dienen auch folgende Ansatzpunkte: USP (Unique Selling Prospostion = Alleinstellungsmerkmal) bzw. UAP (Unique Advertising Proposition = kommunikative Profilierung) und UPP (Unique Passion Prospostion = Leidenschaft in der Profilierung.407 „Hierbei geht es die Zielsetzung, das Leistungsangebot, sei es eine Marke, ein konkretes Produkt oder eine Dienstleistung in den Augen der Kunden dadurch aufzuwerten, dass die Leidenschaft für die Dienstleistungsqualität der dahinter agierenden Menschen sicht- und erlebbar wird. Vielleicht gelingt es sogar, ein ganzes Unternehmen als ,Passion-driven‘ auszurichten. Die Abgrenzung zum USP gelingt dadurch, dass bei der UPP keine ,Facts and Figures‘ zur Dokumentation der Überlegenheit geführt werden können, sondern, dass es eher um den ,Spirit‘ geht, der hinter einem Leistungsangebot steht. Insoweit ist der UPP auch wesentlich mehr als der UAP, der einen rein kommunikativen Ansatz verfolgt.“408 „Das einzige, was auch langfristig nicht kopiert werden kann, sind die Beziehungen, die ein Unternehmen und insbesondere dessen Mitarbeiter zu Kunden aufbaut. Somit ist durch die Fokussierung auf den Faktor PASSION eine solide Grundlage geschaffen, um eine langfristige Uniqueness über die UPP zu erreichen. Dies setzt allerdings ein konsequentes Branding nach innen voraus, weil dieses erst die notwendigen Bedingungen hierfür schaffen kann. Dies hat daher im Aufbau einer Corporate Identity und insbesondere bei der Sicherstellung eines Corporate Behavior eine zentrale Bedeutung.“409 Wenn ein positiver Spirit und Leidenschaft für den Kunden sichtbar und erlebbar werden, erleichtert dies seine Unsicherheit im Auswahlprozess, da der Kunde Vertrauen aufbauen kann, gemäß dem Motto: „Da kann man Vertrauen, wenn selbst sich die Mitarbeiter für ihr Unternehmen, ihre Marke, ihre Dienstleistung so sehr engagieren“. Durch das engagierte Verhalten der Mitarbeiter (Botschafterverhalten) wird die Marke personalisiert und das schafft Vertrauen. Ein wertvoller Aspekt, um ein Branding-Excellence für das gesamte Unternehmen zu erreichen.

407 Vgl. Kreutzer 2009, S. 34 408 Kreutzer 2009, S. 34 409 Kreutzer 2009, S. 35

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

Durch internes Branding sollten „Markenbotschafter […] in der Lage sein, das Markenversprechen konsequent persönlich vorzuleben, Commitment gegenüber der Marke zeigen, und die Wirkung ihres Verhaltens regelmäßig überprüfen und es gegebenenfalls anpassen.“410 Dazu müssen sie über ein umfangreiches Markenwissen und das Bewusstsein verfügen, dass ihr Auftreten einen starken Einfluss auf die Markenwahrnehmung hat. Vor allem aber müssen sie sich mit der Marke und dem Unternehmen identifizieren können. Ein zentrales Ziel des internen Branding ist es, die Deckungsgleichheit zwischen organisationaler und personaler Identität zu erhöhen.411 Diese Wichtigkeit unterstreicht Olins (2004), indem er dazu bemerkt: „Die Marke verhält sich genauso wie die Mitarbeiter, die hinter ihr stehen. Sie sind die Marke.“412 3.5.5.3 Employer Branding – die Arbeitgebermarke „Nach dem Ansatz des Resource-Based-View wird die Fähigkeit eines Unternehmens, Mitarbeiter mit der gewünschten Qualifikation und Motivation für eine Tätigkeit gerade in diesem Unternehmen zu interessieren und sie dann an das Unternehmen zu binden, als ein entsprechend kritischer Faktor für den Unternehmenserfolg gesehen.“413 Wie schon dargestellt, hängt auch der Erfolg der Marke „so gut wie ausschließlich davon ab, gute Mitarbeiter zu gewinnen, zu halten und das Beste aus ihnen herauszuholen.“414 „Where brand recognition is related to being a market leader, the best companies want to be seen to be recruiting the best talent, as these are mutually reinforcing.“415

Doch die Besten sind auf dem Markt ein „knappes Gut“.

410 411 412 413 414 415

Henkel et al. 2010, S. 7 f. Vgl. Kreutzer 2009, S. 37 Olins 2004, S. 72 Rasche 1994, S. 35 ff. Barrow/Mosley 2006, S. 19 Anmerkung: Übersetzung: „Wo Markenbekanntheit als Marktführer gilt, wollen die besten Unternehmen die besten Talente einstellen, da sich diese gegenseitig verstärken.“ (Brown/Hesketh/Williams 2004, S. 85)

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

117

„The war for talent is presented as a rational response to the changing demands of a knowledge-driven economy. […] This has led organizations in both the public and private sector to find ways of attracting and retaining the best talent available.“416

„Hoch qualifizierte Mitarbeiter, vor allem im […] medizinischen Bereich, können somit aus mehreren attraktiven Angeboten wählen. Diese Situation hat auch für diese Arbeitnehmergruppe eine Veränderung der psychologischen Verträge und somit der Einstellungen der Arbeitnehmer hinsichtlich der Unternehmer zur Folge. Durch die Verlagerung des Machtverhältnisses in die entgegengesetzte Richtung wie bei den Arbeitnehmern mit geringer nachgefragter Qualifikation, sind die Arbeitnehmer in der Lage Forderungen an die Qualifikation zu definieren.“417 „For this professional service firm with high client contact is very important to say ‘our assets are our people.’ What a professional service firm sells to its clients is frequently less the services of the firm per se than the services of specific individuals (or teams of individuals). A primary consequence of this is that the professional service firm must compete actively in two markets simultaneously: the ‘output’ market for its services, and the ‘input’ market for its productive resources, the professional work force.“418

Gewiss, auch Mitarbeitende haben die Möglichkeit, sich für eine bestimmte Marke bzw. für einen bestimmten Arbeitgeber zu entscheiden. Auch als Arbeitnehmer kann man eine Wahl treffen. Aber der Entscheid, wo man arbeiten will, ist um einiges langfristiger und bedeutender als der Entscheid, wo man seine Lebensmittel oder Kleider einkauft. Als Mitarbeiter ist man der gewählten Marke wesentlich mehr ausgesetzt, als wenn man Kunde ist. In der Tragweite der Entscheidung und in der Macht der Marke über die Mitarbeitenden liegt die Brisanz des Verhältnisses zwischen personaler und organisationaler Identität verborgen.

416 Anmerkung: Übersetzung: „Der War for War Talent ist eine rationale Antwort auf die sich verändernden Anforderungen einer wissensbestimmten Wirtschaft. […] Dies hat Organisationen im öffentlichen und privaten Sektor dazu veranlasst, Wege zu finden, um die besten verfügbaren Talente anzuziehen und zu halten.“ (Brown/Hesketh/Williams 2004, S. 84) 417 Niethammer 2007, S. 39 418 Anmerkung: Übersetzung: Für diese professionelle Dienstleistungsfirma mit hohem Kundenkontakt ist es sehr wichtig zu sagen: „Unser Vermögen sind unsere Mitarbeiter.“ oder Teams von Einzelpersonen). Dies führt in erster Linie dazu, dass das professionelle Dienstleistungsunternehmen in zwei Märkten gleichzeitig aktiv sein muss: dem ,Output‘-Markt für seine Dienstleistungen und dem ,Input‘-Markt für seine produktiven Ressourcen, den professionellen Mitarbeitern. (Maister 1993, S. 1)

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

Einerseits hat die Marke im Management in den Organisationen in den letzten Jahrzehnten eine kontinuierliche Stärkung ihrer Bedeutung erlebt. Dies gilt auch für das Human Resource Management, das in einer Dienstleistungs- oder Wissensökonomie die organisationale Schlüsselfunktion einnimmt. Es hat die Aufgabe, die Mitarbeitenden unter Berücksichtigung der organisationalen Aufgaben und ihrer persönlichen Identitäten auszuwählen, zu binden und zu entwickeln. Daher führen erfolgreiche Marken auch dazu, dass die Anspruchsgruppen sich mit der Marke identifizieren und ihr Involvement steigern. Sie garantieren qualitative Produkte oder Dienstleistungen, die mehr nachgefragt werden. Eine erfolgreiche Markenführung führt u.a. dazu, dass das Unternehmen eine überdurchschnittliche Attraktivität auf die potenziellen Bewerber hat. Diese können in Zeiten des Fachkräftemangels High Potentials gewinnen, Fach- und Nachwuchskräfte generieren, um so das Humankapital des Unternehmens langfristig zu festigen. Andererseits ist es Ziel, als Marktteilnehmer auf allen Märkten eine optimale Wettbewerbsposition einzunehmen. Deshalb erscheint es sinnvoll, Prinzipien und Konzepte aus dem Marketing und dem strategischen Management, die sich für den Absatzmarkt bewährt haben, auf den Personalbereich zu übertragen und innerhalb des Employer Branding ,strategisches Personalmarketing‘ zu betreiben. „Employer Branding ist eine Leitidee, die sich aus dem Personalmarketing als Konzept zur marktorientierten Ausrichtung des Personalmanagements ableitet.“419 Um „Employer Branding ist aber auch die Schlüsselfunktion innerhalb des strategischen Personalmarketings.“420 Aufgabe ist es, das Personalmanagement auf die Erwartungen, Wünsche und Bedürfnisse potenzieller und aktueller Mitarbeiter auszurichten. Ein integriertes Personalmarketingkonzept muss sowohl innen- als auch außengerichtete Aktivitäten berücksichtigen. Internes Personalmarketing zielt auf die mitarbeiterbezogene Personalpolitik ab. Das bedeutet vor allem, die vorhandenen Mitarbeiter zu halten, zu motivieren, zu fördern und zu qualifizieren. Im externen Personalmarketing steht hingegen die Personalbeschaffung, Personalwerbung und Personalimagewerbung im Mittelpunkt. Eine Abstimmung dieser beiden Richtungen bezüglich der strategischen Personalmarketingziele ist dabei selbstverständlich erforderlich.421 419 Gmür 2006, S. 223 420 Gmür 2002, S. 12 421 Vgl. Sattelberger 1996, S. 4 ff.

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

119

„Beim Employer Branding muss noch einen Schritt weitergegangen werden, denn es ist eine professionelle Marke (Unternehmensmarke sowie Arbeitgebermarke), die es ermöglicht, in einem zunehmend schwieriger werdenden Umfeld bestehen zu können. Erst die Instrumente der Markenführung erlauben eine unmittelbare Einwirkung auf den Markt. Ziel des Employer Branding ist es, ein Unternehmen intern wie extern als attraktive Arbeitgebermarke zu positionieren und den Unternehmenswert und seine Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig zu steigern.“422 Um zu einem attraktiven Arbeitgeber der Magnetkraft zu werden, muss u.a. ein breites und eben attraktives Nutzenangebot für die Mitarbeitenden entwickelt werden. Darüber hinaus wird eine Deckungsgleichheit zwischen der organisationalen Identität und der Identität der Mitarbeitenden angestrebt. Dafür ist das Internal Branding zuständig. Durch Behavioral Branding soll wiederum das Verhalten der Mitarbeitenden gebrandet werden. Somit greifen die Teil-Konzepte, nämlich das ,interne Branding‘, ,Behavioral Branding‘ und das ,Employer Branding‘ ineinander! Das eine Teil-Konzept funktioniert langfristig nur mit dem anderen. „Gemäß des verhaltensorientierten und nachfragebezogenen Markenverständnisses wird die Employer Brand oder Arbeitgebermarke definiert als das in der Psyche potenzieller, aktueller und ehemaliger Mitarbeiter fest verankerte, unverwechselbare Vorstellungsbild von einem Unternehmen als Arbeitgeber.“423 „Um die Bekanntheit eines Unternehmens als attraktiver Arbeitgeber zu steigern, braucht es eine Arbeitgebermarke oder ,Employer Brand‘. Ähnlich wie bei Produktmarken wird damit versucht, eine konkrete Wahrnehmung eines Unternehmens als Arbeitgeber im Arbeitsmarkt aktiv und gezielt zu generieren. Und das sowohl zur Akquise neuer Mitarbeiter als auch zur Schaffung von Commitment und Identifikation bereits beschäftigter Mitarbeiter.“424 „Als Teil des Corporate Branding kann dem Employer Branding die klassische Markendefinition auf die von einem Arbeitgeber bereitzustellenden Leistungen (Dienstleistungen) für aktuelle und potentielle Arbeitnehmer übertragen werden. Hierbei wird bei den aktuellen und potentiellen Arbeitnehmern die Employer Branding Attraktivität und die Unternehmensattraktivität synonym betrachtet.“425 422 423 424 425

DEBA – Deutsche Employer Branding Akademie 2007, S. 20 Kirchgeorg 2006, S. 6 Streif 2011, S. 20 Kirchgeorg 2006, S. 6

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

Die Basis des Employer Branding bildet immer eine die Unternehmensmarke (Corporate Brand) spezifizierende oder adaptierende Strategie. Entwicklung, Implementierung, operative Umsetzung und Evaluation dieser Strategie zielen darauf ab, Mitarbeitergewinnung, Mitarbeiterbindung, Unternehmenskultur, Performance und Talent-Management nachhaltig zu optimieren, das Unternehmensimage zu verbessern sowie mittelbar den Markenwert und das Geschäftsergebnis zu steigern. Dieses Verständnis impliziert, dass ein strategisch fundiertes Employer Branding immer auch ein Instrument der integrierten Unternehmensführung ist.426 Dazu ist die Entwicklung einer glaubwürdigen starken Employer Brand nötig. Ebenso kommt der Identität der Unternehmensmarke eine hohe Bedeutung zu, da sie die Kultur und die Werte des Unternehmens verkörpert. Sie wird durch die internen Stakeholder (z.B. Management, Mitarbeiter, Kapitalgeber) geprägt und durch deren Verhalten an alle Anspruchsgruppen kommuniziert. Somit trägt sie sowohl zur Positionierung als auch zur Bildung eines bestimmten Employer Image bei. Grundlage dafür ist eine Arbeitgebermarkenstrategie, die aus Unternehmensstrategie und -marke erwächst.427 Die bedeutsame und wichtige strategische Dimension des Ansatzes des Employer Branding wird deutlich. Eine erfolgreiche Mitarbeiterrekrutierung, eine starke Loyalität der Arbeiternehmer zum Unternehmen und großes Engagement der Belegschaft kann durch Employer Branding erreicht werden.428 Konsequentes Employer Branding positioniert ein Unternehmen nach innen sowie nach außen als ,Employer-of-Choice‘. Ein Unternehmen wird zu einem ,Employer-of-Choice‘, wenn es der Wunscharbeitgeber in den Augen einer großen Anzahl von Arbeitnehmern ist. So wird in der angelsächsischen Literatur das Ergebnis der arbeitgeberbezogenen Präferenzentscheidung auch Employer-ofChoice genannt.429 Die Deutsche Employer Branding Akademie (DEBA) vertritt folgende Definition: „Employer Branding als die markenstrategisch fundierte interne und externe Positionierung eines Unternehmens oder einer Institution als attraktive und glaubwürdige Arbeitgebermarke und damit als Employer of Choice. Employer

426 427 428 429

Vgl. DEBA – Deutsche Employer Branding Akademie 2006/a, S. 1 f. Vgl. DEBA – Deutsche Employer Branding Akademie 2007, S. 19 Vgl. Barrow/Mosley 2006, S. 97 Vgl. Petkovic 2008, S. 10

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

121

Branding dient als Richtschnur für die Entwicklung der tatsächlichen Arbeitgeberqualität und somit für eine Verbesserung von Arbeitgeberglaubwürdigkeit und -wettbewerbsfähigkeit.“430 Als ,Employer of Choice‘ wurde ein Weg der Markenbildung des Unternehmens als auch als eine Möglichkeit der Gewinnung der besten Bewerber gesehen. „Being an ‘employer of choice’ was seen as a way of branding the company as well as a way of attracting the best applicants.“431 Aber nur glaubwürdige Arbeitgeber, die intern halten, was sie nach außen hin versprechen, werden dieses Ziel erreichen können. „Ein professionell entwickeltes und strategisch fundiertes Employer Branding verbessert nicht nur das Arbeitgeberimage, sondern auch die faktische Arbeitgeberqualität, sodass die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens als Arbeitgeber vollumfänglich und nachhaltig gesteigert wird.“432 „Employer Branding bringt die Werte, Chancen und Stärken eines Arbeitgebers methodisch auf den Punkt. Der neuartige Ansatz ,Employer Branding‘ sorgt dafür, dass das Unternehmen tatsächlich zu einem attraktiveren Arbeitgeber wird.“433 3.5.6 Herauszustellende Befunde des Teilkapitels Identität und Image als zentrale Aufgabe der Markenführung Die vorrangige Aufgabe der Markenführung besteht darin, eine klare Markenidentität zu entwickeln und diese wirksam bei allen Anspruchsgruppen umzusetzen. Diese hohe Relevanz des Identitätskonstrukts für das Vertrauen lässt sich auf ein Unternehmen und seine Marke übertragen. Es ist Grundlage für das Vertrauen in eine Marke. Die Markenidentität ist dabei als genetischer Code der Marke zu verstehen. Markenidentität definiert sich als eine in sich widerspruchsfreie, geschlossene Ganzheit von Merkmalen, die diese von anderen Marken dauerhaft unterscheidet. 430 DEBA – Deutsche Employer Branding Akademie 2006/a, S. 1 f. 431 Anmerkung: Übersetzung: „Als“ Arbeitgeber der Wahl „galt es als Markenzeichen für das Unternehmen und als Anziehungspunkt für die besten Bewerber.“ (Brown/Hesketh/Williams 2004, S. 85) 432 DEBA – Deutsche Employer Branding Akademie 2006/d, S. 5 433 DEBA – Deutsche Employer Branding Akademie 2007, S. 22

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

Die Markenidentität bringt zum Ausdruck, wofür eine Marke stehen soll und umfasst wesensprägende, essenzielle und charakteristische Merkmale. Die Markenidentität entsteht erst in der wechselseitigen Beziehung zwischen internen und externen Bezugsgruppen der Marke und bringt die spezifische Persönlichkeit einer Marke zum Ausdruck. Unter Markenpositionierung versteht man die Abgrenzung der eigenen Marke von Konkurrenzmarken. Die gewählten Positionierungseigenschaften müssen dabei den Wünschen und Bedürfnissen der Konsumenten entsprechen und für diese relevant sein. Das Markenimage gibt Aufschluss darüber, ob die gewünschte Positionierung erreicht wurde oder nicht. Das Fremdbilds wird zwischen Image und Reputation unterschieden. Während sich das Image auf die Öffentlichkeit im allerweitesten Sinn bezieht, ist die Reputation immer das Ergebnis von ,Stakeholder-Beziehungen‘. Reputation erfordert immer Involvement und formt damit auch, im Unterschied zum Image, die Einstellung zur Unternehmung. Die Stärke der Identität ist vor allem auch vom Grad der Übereinstimmung zwischen dem Selbstbild und dem von anderen zugeschriebenen Fremdbild der Identität (Image) abhängig. Zu unterstreichen ist die Bedeutung, die den Mitarbeitern beim Aufbau der Marke zukommt. Das Verhalten der Mitarbeiter prägt in hohem Maße das Image einer Dienstleistungsmarke. Um ein einheitliches Image bei den Kunden aufbauen zu können, ist ein konsistentes professionelles Verhalten der Mitarbeiter gefordert. Mitarbeiter müssen sich also mit den Werten und Botschaften der Marke identifizieren können. Für eine erfolgreiche Markenführung muss es dementsprechend insbesondere in Dienstleistungsunternehmen darum gehen, die Wahrnehmungen, Überzeugungen und Werte unterschiedlicher Gruppen von Mitarbeitern in geeigneter Form bei der Herausbildung des Selbstbilds der Markenidentität zu berücksichtigen, um so eine möglichst hohe Übereinstimmung zwischen Selbstbild des Unternehmens und Fremdbild des Kunden herzustellen. Der identitätsorientierte Markenansatz ist das Fundament der Markenentwicklung und bildet den wichtigen Zugang zu den verschiedenen Konzeptansätzen zur ,Corporate Brand‘.

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

123

Modelle zur Erklärung und Entwicklung der Markenidentität Es gibt mehrere Modell-Ansätze, die sinnvolle Zugänge aufzeigen und die Erfassung der Markenidentität zum Ziel haben. Die Modelle weisen Überschneidungen und Unterschiede auf. Letztlich ergänzen sich die verschiedenen Modelle und sie beschreiben in ihrer Vielzahl die Komplexität in der Umsetzung. Die Modelle beschreiben u.a. verschiedene Dimensionen, Markenattribute und Identitätskriterien, zeigen Beziehungen der Identitätsmerkmale auf, differenzieren zwischen emotionalen und kognitiven Identitätsfacetten und zwischen der Ausdrucksebene und Inhaltsebene sowie den tangiblen und intangiblen Assoziationen. Eine Kombination in der praktischen Umsetzung und Anwendung dieser verschiedenen Modelle ist durchaus denkbar und möglich. Eine gemeinsame Auffälligkeit und Kritikpunkt bei allen Modellen ist das Fehlen eines Leitfadens, der konkrete Angaben macht, wie die Markenpositionierung aus der Markenidentität abzuleiten ist. ,Corporate Branding‘-Konzept mit seinen Teilelementen (Behavioral Branding, Internal Branding und Employer Branding) entfalten jedoch nur ihre Wirkung in der Verbindung miteinander und innerhalb der Gesamtstrategie ein Unternehmen als Unternehmensmarke im Sinne des CorporateBranding zu entwickeln. Corporate Branding hat zum Ziel, das mit der Marke verbundene Image in den Köpfen der Menschen – der Mitarbeiter und allen Stakeholdern – zu etablieren. Drei verschiedene Denkschulen (die strategische, die verhaltensorientierte und die identitätsorientierte) haben das ,Corporate Branding‘ beeinflusst. Das Konzept ,Corporate-Brand-Identity‘ im Fokus Der Begriff ,Corporate Identity‘ wird hier gleichgesetzt mit ,Corporate Branding‘. Letztlich geht es um die ganzheitliche Verbindung (Integration) aller Maßnahmen und Wirkungen: Nur ein ,Corporate Branding‘, das in die ,Corporate Identity‘ des Unternehmens eingebettet und integriert ist, kann wirklich gelebt werden.

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

Corporate Brand Identity ist die geschaffene Identität einer Marke aus dem Unternehmensnamen. Ein Marke, muss einfach und klar auf Dinge und Attribute bezogen formuliert werden, die verständlich und vor allen Dingen eingängig sind. Corporate Brand Identity, das ist die Ausgestaltung der Unternehmensmarke und damit gleichzeitig ein Symbol aus Kultur und für die Kultur. Das Konzept ,Corporate-Brand-Identity‘ ist ein ganzheitlich-integrativer, kommunikationsorientierter, designorientierter, führungsorientierter und planungsorientierter Strategieansatz. Nach ,innen‘ hat das CI-Konzept u.a. auch die Zielsetzung: o

eine Entwicklung eines deutlichen ,Wir-Bewusstseins‘ soll […] nach innen eine Unternehmenskultur als Netzwerk von gelebten Verhaltensmustern und Normen etablieren und sichergestellt werden,

o

Schaffung von einer Vielzahl von Entscheidungsbeteiligungen,

o

Entscheidungen und Handlungen auf der Basis eines einheitlichen Unternehmensbilds bzw. Firmenimages und Unternehmensleitbilds orientieren,

o

höhere Kompatibilität und Synergie der Unternehmensaktivitäten,

o

eine Identifikation mit dem Unternehmen und dessen Politik,

o

Freisetzung von erheblichem Motivationspotenzial.

Und nach ,außen‘ geht es beim CI-Konzept um: o

Ein verbales und nonverbales Verhalten, Signale senden, die mit dem erarbeiteten Konzept übereinstimmen und so den Aufbau eines ,Firmen-Image‘ ermöglichen.

o

Damit soll das Vertrauen der ,Stakeholder‘ in die Unternehmung gesteigert werden.

o

Die Kommunikationspolitik als Basisstrategie ein zentraler Bestandteil der strategischen Unternehmensplanung und Unternehmensführung sowie eine wesentliche Erfolgsvoraussetzung zu einer kontinuierlichen und strategiekonformen Umsetzung strategischer Konzepte ins operative Geschäft.

Durch den integrativen ganzheitlichen Ansatz hat das Konzept ,CorporateBrand-Identity‘ Auswirkung auf die organisatorische Grundstruktur.

3.5 Identitätsorientierte Markenführung als Grundansatz

125

Die integrative Identität beinhaltet nicht nur eine motivierende und emotionale Ausrichtung, sondern sie ist auch eine vernunftgeleitete Leitgröße zur Verbesserung realer Arbeitssituationen, zur klaren Erfolgsstrategie, zur Nutzenmaximierung und zur Profilierung. Denn es ist die Identität als notwendige Größe, welche das eigentliche Kapital, nämlich die Ressourcen in den Menschen selbst, freisetzt und eine Identifikation der Mitarbeiter mit dem Unternehmen ermöglicht. Eine Unternehmensmarke leuchtet nachhaltig von innen nach außen Wichtig ist das Wertefundament einer Marke, auf dessen Basis Unternehmen, Kunden und andere Anspruchsgruppen miteinander in Kontakt treten. Die Mitarbeitenden sind das Bindeglied zwischen der Identität des Kunden und der Identität des Unternehmens. Durch ihre Arbeit sollen sie einen Beitrag leisten, damit die Kunden durch die Nutzung der Dienstleistungen an ihrer Identität arbeiten können. Ein Mitarbeiter wird in die Markenidentität integriert, sodass er die Rolle des Unternehmensrepräsentanten bzw. des Markenbotschafters übernimmt. Durch Internal und Behavioral Branding lassen sich Mitarbeiter von der eigenen Marke begeistern und sie können dadurch motiviert werden, als Markenbotschafter zu agieren. Ziel der Markenbotschafter ist wiederum die Marken-Begeisterung den Stakeholdern weiterzugeben, um somit das Unternehmen und die Marke durch ihr Verhalten nachhaltig zu stärken. ,Behavioral Branding‘ bezieht sich auf alle Maßnahmen, die markenkonformes Verhalten der Mitarbeiter ermöglichen und das tatsächliche, markenorientierte Verhalten der Mitarbeiter und zeichnet sich dadurch aus, dass der Mitarbeiter den Erwartungen der Marke entsprechend handelt. Ihr liegt die Idee zugrunde, dass die Identität eine Art unveräußerlicher Kern ist, der sich im Handeln seiner Mitarbeiter entfaltet. ,Internal Branding‘ beschreibt alle Maßnahmen, die darauf abzielen, die Mitarbeiter in den Prozess der Markenbildung einzubeziehen und für die Marke zu begeistern und letztlich ihr Verhalten im Sinne der Marke zu beeinflussen. Dies gelingt jedoch nur über eine starke Identifikation mit dem Unternehmen und der Marke. ,Employer Branding‘ verhilft einem Unternehmen, sich als (attraktiver) Arbeitgeber auf dem Arbeitsmarkt zu positionieren.

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

Als ,Employer of Choice‘ wurde ein Weg der Markenbildung des Unternehmens als auch eine Möglichkeit der Gewinnung der besten Bewerber gesehen. Nur glaubwürdige Arbeitgeber, die intern halten, was sie nach außen hin versprechen, werden dieses Ziel erreichen können. Ein professionell entwickeltes und strategisch fundiertes Employer Branding verbessert nicht nur das Arbeitgeberimage, sondern auch die faktische Arbeitgeberqualität, sodass die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens als Arbeitgeber vollumfänglich und nachhaltig gesteigert wird. 3.6 Resümee des Kapitels Der Nutzen der Markenbildung einer Unternehmensmarke ist vielseitig und groß. Wie beschrieben hat die Markenbildung gerade durch die charakteristischen Eigenschaften von Dienstleistungen für beide Seiten (den Kunden und das Unternehmen) eine große Bedeutung. Besonders in der Dienstleistungsbranche ist die Markenbildung sehr wichtig, da der Kunde im Kontakt mit dem Unternehmen die Marke und deren Botschaften unmittelbar erfahren kann. Vor allem im Prozess der Dienstleistungserstellung können die kommunizierten Markenwerte erlebt und erfahren werden. Marken fördern Beziehungen und Bindungen, sie vermitteln Sicherheit und Vertrauen, sie schaffen Orientierung und sind klar erkennbar. Für Unternehmen wirken Marken auch unterstützend im Bereich der Unternehmensentwicklung, dem Qualitätsmanagement und der Wettbewerbspositionierung. Marken sorgen für eine sichere und erfolgreichere Unternehmenszukunft. Starke Marken haben eine Markenidentität, welche einen klaren Markenkern erkennen lassen und als Markenpersönlichkeit wahrgenommen wird. Durch die übermittelten Assoziationen erfahren wir die Marken in ihren verschiedenen Fassetten. Die Markenpersönlichkeit spricht uns in unserer Persönlichkeit an und sie verbindet sich dabei mit unseren Werten, Emotionen, Einstellungen und Motivationen und inneren Erfahrungs-Welten. Deutlich werden die starken psychosozialen Dimensionen der Markenbildung. Marken funktionieren durch Identitäten, die kommuniziert werden können und die das implizite System in unserer Erfahrungs- und Erinnerungswelt berühren, anstimmen und belohnen lassen.

3.6 Resümee des Kapitels

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Dadurch beeinflussen starke Marken unsere Entscheidungs- und Gedankenwelt auch unbewusst – die Marke wirkt wie eine Magie. Die Unternehmensmarke, mit ihrer Markenidentität und ihrer -persönlichkeit, wird zum sinnstiftenden Beziehungspartner für interne und externe Kunden. Dies begründet den Ansatz der identitätsorientierten Markenbildung und -führung. Identitätsbildung und Image sind die zentrale Aufgabe der Markenbildung und Basis der markentheoretischen Grundlagen und Modelle für den Aufbau einer Unternehmensidentität. Dabei spielt das Corporate-Identity-Konzept, als ein strategisches ganzheitliches Konzept, das integrativ in allen Ebenen und Teilen des Unternehmens eingebettet ist, eine große Rolle. Es ist ein Gesamtkonzept zur Bildung einer Unternehmensmarke, welches neben der Positionierung auch als Kommunikationsund Unternehmensentwicklungskonzept verstanden werden kann. Wobei die Werte und der Charakter der Marke definiert und nach innen und außen durch zum Beispiel das Verhalten kommuniziert werden. Marken zeigen ,Wer wir sind‘, ,Was wir sind und tun‘ und ,Wie wir es tun‘ steht auch für Unternehmensmarken im Vordergrund. Corporate Behavior, Corporate Design, Corporate Culture und Corporate Kommunikation sind verschiedene wichtige Instrumente der Corporate Identity, die ineinander übergreifen und sich gegenseitig beeinflussen. Die Marke leuchtet von innen nach außen. Zunächst wird die Marke über eine Wertedefinition und über die Kultur gebildet, bevor sich nach außen kommuniziert wird. Es braucht Botschafter für eine Marke, welche die Werte nach außen tragen, vorleben und kommunizieren. Mitarbeiter sind immer Botschafter, da sie ein Teil des Unternehmens sind. Wichtig ist es, dass sie es im Sinne der Markenwerte tun. Dies kann man nicht anordnen, dies würde die Authentizität der Marke gefährden. Mitarbeiter sind die besten Markenbotschafter, wenn sie Begeisterung für das Unternehmen und die Unternehmensmarke empfinden, sie müssen sich mit den Markenwerten und der Markenidentität sowie der Unternehmensidentität identifizieren können, dann können sie die Markenwerte in ihr alltägliches Verhalten integrieren. Dazu braucht es eine hohe Mitarbeiterzufriedenheit, eine hohe Führungsqualität und identitätsfördernde Unternehmensführung in den Unternehmen. Corporate Branding hat mehrere Teilelemente, die erst in der Kombination die Wirkung zeigen. Die einzelnen Teilelemente entfalten ihre Wirkung auch nur, wenn sie eingebunden sind in die Gesamtstrategie, ein Unternehmen als Unternehmensmarke im Sinne des Corporate-Branding zu entwickeln.

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3 Markentheoretischer Hintergrund – healthcare services branding

Erfolgt die Markenbildung durch Behavioral Branding und Internal Branding, wird sie konsequent von innen nach außen gebildet. Employer Branding ist dann noch eine weitere Positionierung, die gezielt die Mitarbeiter der Gegenwart und der Zukunft für das Unternehmen interessieren und dann an das Unternehmen binden kann. Im Branding geht es in der Identitätsarbeit demnach um das Ziel der Übereinstimmung von verschiedenen Identitäten. Mitarbeiter können sich als die glaubwürdigsten Markenbotschafter für eine Unternehmensmarke verhalten, wenn sie sich mit ihr identifizieren können. Das heißt, wenn ihre eigene persönliche und berufliche Identität zu der Unternehmens- und Markenidentität passt und sie sich gegenseitig unterstützen. Das gesamte Konzept ,Corporate-Branding‘ mit seinen Teilelementen (Behavioral Branding, Internal Branding, Employer Branding) ist ein sehr komplexes Konzept, denn es befasst sich durch seinen ganzheitlich-integrativen Ansatz mit der gesamten Management-Spannbreite eines Unternehmens. Es reicht von der Unternehmens- bzw. Organisationsentwicklung, der Verbesserung der Unternehmenskultur bis hin zur Designentwicklung für das Erscheinungsbild des Unternehmens. Weiter umfasst es auch die Entwicklung geeigneter Management-Methoden und Führungsstile bis hin zur Personalentwicklung. Nur eine ganzheitliche Verbindung der unterschiedlichen Maßnahmen schafft Synergieeffekte, um den vielfältigen Erwartungen einer Identitätsentwicklung zu entsprechen. Offen bleibt allerdings in diesem Konzept ,Corporate-Branding‘, welche genauen Management-Ansätze, Methoden- und Management-Tools im Management hierzu notwendig sind. Es bleibt unbeantwortet, wie genau eine gemeinsam geteilte Identität zu entwickeln ist und wie die Identifikation mit dem Unternehmen der Mitarbeiter zu erreichen ist. Dies wird nicht konkretisiert und ist als Kritikpunkt festzuhalten.

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse zwischen Individualisierung und Vergesellschaftlichung

Um im Wettbewerb erfolgreich zu sein, ist es auch für Organisationen wichtig, an ihrer Identität zu arbeiten. Eine Organisation muss sich mit der Wertschöpfung auseinandersetzen, die sie für ihre Anspruchsgruppen anbietet. Damit sind in erster Linie Kunden und Mitarbeitende gemeint. Sie repräsentieren die beiden dominierenden Spielfiguren, ohne die das Organisieren wenig Sinn macht. Bleibt die Frage, welche Wertschöpfung man diesen Figuren und damit der Gesellschaft anbieten will, unscharf, verliert sich die Organisation. Kondensiert wird die Wertschöpfung in der Form der organisationalen Identität. Diese kennen die Wissenschaft, das Management und vor allem die angesprochenen Figuren als Marke. Die Rolle und Funktion der Marke ist die Bestätigung des Selbstbilds. Nach Sommer (1998) sind hierzu mehrere Prozesse bedeutend: „die Identifikation mit dem Markenbild bzw. dem Markenauftritt, der Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer vermeintlichen Gruppe, die Dominanz der Marke im eigenen sozialen Umfeld, die Gewöhnung an eine Marke als Teil meines Selbst und die Marke als Ersatzziel.“434 Dabei ist die Marke „auf kollektiv weitgehend identische Rollenvorstellungen angewiesen, die sie nicht selbst schaffen kann.“435 „Ausgangspunkt ist die Systematisierung des Identitätsverständnisses nach Gegenstand der Identität, der aus einem Individuum, einer Gruppe oder einem Objekt bestehen kann.“436

434 Sommer 1998, S. 89 435 Sommer 1998, S. 69 436 Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 270

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. K. Schottler, Internal Branding im Krankenhaus, Vallendarer Schriften der Pflegewissenschaft 6, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31072-1_4

130

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Um ein widerspruchsfreies Selbstverständnis der handelnden Mitarbeiter zu gewährleisten, muss eine Passung zwischen beruflicher Gruppenidentität, personeller Identität und Markenidentität des Unternehmens gegeben sein.437 Doch inwieweit kann diese Passung überhaupt möglich sein? Was ist hinter dem Konstrukt ,Identität‘ zu verstehen? – Welche Bedeutung hat die Identität und welche Identitäten gibt es? Gibt es hierbei eine gemeinsame Schnittmenge zwischen den einzelnen Identitäts-Konstrukten? Mit welchen Aspekten kann die Identifikation beeinflusst und gefördert werden? Woran erkennt man, dass sich die Mitarbeiter mit ihrem Beruf oder der Organisation identifizieren? Was ist die Voraussetzung für eine Identifikation mit der Organisation und was verhindert sich? Um diesen Fragen eine inhaltliche Basis zu schaffen, geht es im folgenden Kapitel in der näheren Betrachtung um die unterschiedlichen Identitätsformen. Neben der organisationalen Identität ist die Betrachtung der persönlichen und beruflichen Identität von Bedeutung, da für die Entwicklung einer Krankenhausmarke gerade die professionellen Mitarbeiter als Markenbotschafter wirken. Daher ist es das Ziel in diesem Kapitel, den unterschiedlichen Konstrukten auf den Grund zu gehen, Bedingungen für deren Entwicklung zu erfassen sowie Differenzen und mögliche Parallelitäten bzw. Schnittstellen herauszuarbeiten. Der Aufbau dieses Kapitels gleicht einer Spirale. Von innen nach außen wird sich der Thematik der ,Identität‘ angenähert, um dadurch anhand unterschiedlicher Perspektiven die Komplexität zu erfassen.

437 Vgl. Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 277

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

131

Abbildung 18: Aufbau Kapital 4. (Quelle: eigene Darstellung)

4. Kapitel: Identität und Habitus – soziale Prozesse zwischen Individualisierung und Vergellschaftlichung Teilkapitel: 4.1 Identität – elastische Deutungen aus multidisziplinärer Perspektive 4.2

Die ,ausbalancierte‘ Identität

4.3

Berufliche Identität und professioneller Habitus und deren Entwicklung durch Sozialisationsprozesse

4.4

Die Konstrukte der Unternehmensidentität und der organisationalen Identität – zwei Seiten einer Medaille

Dazu befasst sich das erste Teilkapitel mit dem Konstrukt der Identität im Allgemeinen. Das bedeutet, anhand verschiedener relevanter Identitätstheorien wird versucht, den Begriff ,Identität‘ aus unterschiedlicher Perspektive zu erfassen, um seiner facettenreichen Bedeutung auf den Grund zu gehen. Neben verschiedenen Identitätstheorien rückt insbesondere die Identitätsund Habitustheorie von Bourdieu im Mittelpunkt der Betrachtung. Der Zusammenhang der Habitustheorie und Identität steht hierbei im Fokus. Dabei ist auch eine Gegenüberstellung zwischen dem Begriff ,Habitus‘ und dem Begriff der ,Deutungsmuster‘ notwendig, um die begriffliche Trennschärfe herauszuarbeiten. Das zweite Teilkapitel befasst sich mit den Begriffen ,Ich-Identität‘, ,soziale und kollektive Identität‘ sowie der ,beruflichen Identität‘. Anhand der Ansätze aus den im ersten Kapitel aufgeführten Identitätstheorien werden die Begriffe in ihrer Bedeutung untersucht und begriffliche Zusammenhänge und Abgrenzungen herausgearbeitet. Im dritten Teilkapitel geht es um die Entwicklung der beruflichen Identität und des professionellen Habitus. Um das Konstrukt ,Identität‘ in seiner Komplexität noch stärker zu erfassen, wird das Konstrukt ,Identität‘ im Kontext der Sozialisation, der Rollentheorie und die Interdependenzen zwischen

132

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

der Interaktion und Kultur fokussiert und mit weiteren Fassetten und beeinflussenden Aspekten in Verbindung gebracht. Ziel sind hierbei mögliche fördernde und stärkende Faktoren der Identitätsentwicklung, deren Zusammenhänge und Bedingungen herauszuarbeiten, die für ein gezieltes identitätsorientiertes Management relevant sein können. Das vierte Teilkapitel rückt die Unternehmensidentität und die organisationale Identität in den Mittelpunkt der differenzierten Betrachtung. Neben der Klärung der beiden Konstrukte werden die Organisationskultur und die gemeinsame Wertebasis als Fundament und deren Zusammenhänge dargestellt sowie in Verbindung zur beruflichen Identität der Mitarbeiter gesetzt. Mit der Thematisierung der Identifikation der Mitarbeiter mit der Organisation und des organisationalen Commitment als Voraussetzung für eine mögliche Botschafterfunktion der Mitarbeiter endet das Kapitel. 4.1 Identität – elastische Deutungen aus multidisziplinärer Perspektive 4.1.1 Erster begrifflicher Klärungsversuch und seine Besonderheiten „Das Thema ,Identität‘ ist ein modernes Thema, ein Thema der Moderne.“438 Für Vertreter der modernen Soziologie wie Freud, Durkheim und Weber war es von Bedeutung und für Parsons (1968) galt der Begriff ,Identität‘ schon Ende der 1960er-Jahre als Modewort. „Damals wurde es zwar vorwiegend als ‚terminus technicus’ in der Sozialpsychologie gebraucht, aber auch breite Kreise von Intellektuellen benutzten es, was für Parsons (1968) symptomatisch für die Spannungen in den sich verändernden gesellschaftlichen Strukturen war.“439 Die etymologische Herkunft des Begriffs ,Identität‘ geht auf ,identitas‘ (spätlateinisch) und ,idem‘ (lateinisch) zurück, was mit ,derselbe/dasselbe‘ übersetzt werden kann. So bedeutet der Begriff Identität: Deckungsgleichheit, völlige Übereinstimmung, Echtheit oder Wesenseinheit.440 Psychologisch bedeutet dieser Begriff die „als ,Selbst‘ erlebte innere Einheit.“441 In der weiteren psychologischen Literatur wird der prozesshafte Charakter von Identität hervorgehoben

438 439 440 441

Petzold 2001, S. 2 Żurawska 2007, S. 23 f. Vgl. Pfeifer 2010, S. 570 Duden 2019

4.1 Identität – elastische Deutungen aus multidisziplinärer Perspektive

133

und mit dem Prozess der Selbstverwirklichung, Selbstfindung und Selbstfestigung verbunden. Eine oftmals synonyme Verwendung der verwandten Begriffe der Ich-Identität, des Selbstbilds, der Selbsteinschätzung und der Selbstwahrnehmung deutet auf ein Problem der begrifflichen Unschärfe hin. Doch die Identität ist […] „keine individuelle Konstante wie beispielsweise die Persönlichkeit oder der Charakter. Die Identität wird vielmehr durch die situativen Faktoren mitbestimmt.“442 In den soziologischen Ausführungen ist die Identität nie abgeschlossen und fertig, sondern gilt stets auch als gefährdet, da die inhaltliche Struktur der Identität in der Interaktion und Kommunikation mit anderen Personen bestimmt wird.443 Dem Soziologen Abels (2010) und den anderen Ansätzen zur Identität ist die Grundannahme gemein, dass Identität ein lebenslanger und situativ veränderlicher Prozess ist.444 Die Identität ist „dabei nicht zuletzt durch ihre Herkunft und Tradition bestimmt.“445 Zur Identität gehört also auch die Geschichte, die das Individuum über sich selbst erzählt. Daher ist „auch die Biographie ein Teil des Selbst, weil sie die historische Dimension des Individuums repräsentiert“.446 Für beide Disziplinen ist die Identität etwas, was veränderlich, wandelbar, dynamisch und nicht statisch und fest ist.447 Nach Petzold (1971) ist „Identität […] ein ,anthropologisches Strukturphänomen‘, das man nicht nur biographisch begreifen, sondern in multidisziplinären Diskursen durch die Menschheitsgeschichte verfolgen muss, um es jeweils im Kontext und Kontinuum zu begreifen“448. Identitätsarbeit ist für Petzold „immer in der Zeit stehend, also prozessual und nicht abgeschlossen. Dabei wirkt Identitätsarbeit vermittelnd zwischen allem Veränderlichen und dem, was bleibt. So ist es die Aufgabe von Identitätsarbeit: hinlängliche Konsistenz des Selbsterlebens gegen Kräfte der Veränderung in der fließenden Zeit zu setzen.“449 Bei genauerer Betrachtung der Literatur zum Identitätsbegriff sind die Mehrdimensionalität und die Komplexität des Konstrukts der Identität auffallend. Das Konstrukt der Identität ist in den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen Gegenstand des Interesses. Durch den multidisziplinären Diskurs

442 443 444 445 446 447 448 449

Sommer 1998, S. 87 Vgl. Liesch 2010, S. 77 Vgl. Abels 2010, S. 254 Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 277 Windolf 1981, S. 53 Vgl. Liesch 2010, S. 77 Petzold 2001, S. 2 Petzold 2001, S. 7

134

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

(z.B. Psychoanalyse, Soziologie, Psychologie, Sozialpsychologie, Anthropologie und Philosophie)450 wurden Theorien und Konzepte aus unterschiedlichen Perspektiven entwickelt. Nach Wilberg prägte eine durchaus „unkontrollierte Evolution […] den Identitätsbegriff“. Für Marquard (1979) hat das „Thema ‚Identität‘ […] Identitätsschwierigkeiten: die gegenwärtig inflationäre Entwicklung seiner Diskussion bringt nicht nur Ergebnisse, sondern auch Verwirrungen. In wachsendem Maße gilt gerade bei der Identität: alles fließt. So werden die Konturen des Identitätsproblems unscharf; es entwickelt sich zur Problemwolke mit Nebelwirkung: Identitätsdiskussionen werden – mit erhöhtem Kollisionsrisiko – zum Blindflug.“451 Die Schwierigkeit, eine Definition für einen über alle Identitätstheorien übergeordneten „konsensfähigen Identitätsbegriff“ zu finden, liegt für Keupp/Höfer (1997) auch darin begründet, dass Identitäten von gesellschaftlichen Dynamiken abhängig sind und sie selbst in einem dynamischen Entwicklungsprozess stehen.452 Für Krappmann (2004) zeigt sich hierbei eine ,Elastizität in der Deutung‘ des Begriffs. Eine Vielzahl divergierender Identitätsbegriffe ist die Folge, die jeweils eine andere Facette des komplexen Wesens der Identität fokussiert.453 Im Kontext zum Thema ,Identität‘ ist die Aussage von Niklas Luhmann (1992) sehr passend: „Die Möglichkeit, unbestrittene Sachverhalte mit variierenden Theoriekonzepten, mit anderen Unterscheidungen anders zu beschreiben, […] gerade diese Methode, die allerdings ein erhebliches Maß theorietechnischen Wissens voraussetzen würde, könnte aber für unser Thema die ergiebigere sein“.454 Daher ist es im Weiteren sinnvoll, einen kurzen Exkurs in die verschiedenen Identitätstheorien vorzunehmen, um den Begriff der Identität in seiner Komplexität stärker begreiflich zu machen. Im Folgenden werden Auszüge (Exzerpte) aus verschiedenen Identitätstheorien gegenübergestellt, mit dem Ziel einen kur-

450 Anmerkung: „Mit dem Identitätsthema haben sich u.a. befaßt: Soziologie (Goffman 1963; Krappmann 1969; Luckmann 1979; Marquard, Stierle 1979) – hinzu kommt dann noch die Literatur zur ,spoiled identity‘, zum ,Stigma‘ (Goffman 1963; Brusten, Hohmeier 1975; Homeier, Pohl 1978) – Sozialpsychologie (Frey 1983; Frey, Hausser 1987; Haußer 1983, 1995; Keupp 1988; Keupp, Höfer 1997; Mead 1934), weiterhin Anthropologie (Benoit 1980), experimentelle Psychologie (Metzger 1934), Philosophie (Böhme 1998), Psychoanalyse (Erikson 1959), Psychotherapietheorie (Petzold, Mathias 1983) usw.“ (Petzold 2001, S. 2) 451 Marquard/Stierle 1979, S. 347 452 Vgl. Keupp/Höfer 1997, S. 7 453 Vgl. Krappmann 2004, S. 715 454 Luhmann 1992, S. 19

4.1 Identität – elastische Deutungen aus multidisziplinärer Perspektive

135

zen Einblick in wesentliche Ansätze und in aktuelle theoretische Grundannahmen aufzuzeigen. Im Fokus der Betrachtung stehen dabei moderne und postmoderne Identitätstheorien, welche sich teilweise auf die ,älteren Identitätskonzepte‘ in ihrer Basis beziehen und die Grundgedanken weiterentwickelt haben. Herausgearbeitet werden Ansätze und Grundüberlegungen, die in Verbindung zur beruflichen und organisationalen Identität stehen. Die Identitätstheorien lassen sich nach Gugutzer (2002) in folgende übersichtliche Gruppen unterteilen: Abbildung 19:

Gruppenübersicht der Identitätstheorien. (Quelle: eigene Darstellung

in Anlehnung an Gugutzer 2002, S. 20)

1.

2.

3.

4.

Identitätstheorien in der Tradition analytischer Ichund Entwicklungspsychologie

Identitätstheorien der analytischen Entwicklungspsychologie und der Psychoanalyse mit einer deutlichen Individuum-Zentrierung Einflussreichster Vertreter: Erik H. Erikson. Weitere Autoren in dieser Tradition: James E. Marcia

Identitätstheorien in der Tradition des symbolischen Interaktionismus

Die Identitätstheorien in der Tradition des symbolischen Interaktionismus unterscheiden sich von den entwicklungspsychologischen und sozialpsychologischen Identitätskonzepten. Hier steht das Wechselverhältnis vor allem in der Sichtweise von Individuum und Umwelt im Mittelpunkt. Die Identitätsbildung wird im Kontext sozialer Interaktionen untersucht. Einflussreichster Vertreter: George H. Mead und Erving Goffman, der Forschungstradition wird mit dem Ansatz fortgesetzt. Weiterentwicklungen durch u.a. Lothar Krappmann, Jürgen Habermas

Die sozialpsychologischen Identitätstheorien gehen davon aus, dass sich die Identität des Individuums im Austausch mit seiner sozialen Umwelt entwickelt. Die Interaktion zwischen der Person und seiner sozialen Umwelt steht im Mittelpunkt. Die SozialpsychologiUmwelt wird weiter und größer gefasst als beim symbolischen sche IdentitätstheoInteraktionismus. In diesem Ansatz wird die Interaktion mit rien der Gesellschaft beforscht und beschrieben. Hier sind Heiner Keupp und Karl Haußer einflussreiche Autoren, sie verbinden aktuelle soziologische und psychologische Identitätstheorien. Ausgangspunkt postmoderner sozialwissenschaftlicher IdentiPostmoderne Iden- tätskonzepte, ist die philosophisch-soziologische Betrachtung titätskonzepte der Lebenswelt der Gegenwart. Berücksichtigt wird eine Gegenwart, in der die gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen der Menschen sich in immer schneller werdenden

136

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Wandlungsprozessen vollziehen. Sie müssen sich daher anpassen und ihre Identität anders konstruieren, als dies in der Vergangenheit der Fall gewesen ist. Schlagwörter sind z. B. Globalisierung, Pluralisierung, Individualisierung, Enttraditionalisierung oder Ästhetisierung und auch Ökonomisierung. (vgl. Gugutzer 2002, 49) Als postmodern lassen sich einige der zeitgenössischen Ansätze zur personalen Identität, aber auch identitätstheoretische Perspektive bezeichnen. Einflussreichste Vertreter: Heiner Keupp Weitere Autoren in dieser Tradition: Anthony Giddens, Wolfgang Welsch, Bernd Vaassen, Robert Spaemann, W. Kraus, Kenneth Gergen, Kathryn Woodward, Zygmunt Bauman usw.

5.

Identitätstheorien, die die Leib- und körpertheoretischen Annäherungen an das Konstrukt der Identität fokussieren, haben Leib- und körper- demnach ihren Ausgangspunkt in der leiblich-körperlichen theoretische Annä- Verfasstheit des Menschen. Hierzu gehört die Theorie von herungen an das Gugtzer dazu, aber vor allem das Habitus-Konzept von Pierre Konstrukt der Bourdieu und das Integrierte Identitätskonzept von Hilarion Identität Petzold haben (neben den Theorien von Helmuth Plessner, Maurice Merleau-Ponty, Hermann Schmitz) einen großen Einfluss auf diesen Theorieansatz.

Die Identitätstheorie von Erikson zählt zur Theorie der analytischen Entwicklungspsychologie. Daneben hat Mead seine Theorie in der Tradition des symbolischen Interaktionismus entwickelt, die mit der Goffman‘schen Identitätstheorie fortgesetzt wurde. Aufbauend darauf erfolgt wiederum eine Erweiterung dieser Theorien durch die sozialpsychologischen Konzepte von Keupp und Haußer und von den philosophisch konnotierten soziologischen Identitätskonzepten von Gugtzer. Bourdieu hat mit dem Habituskonzept eine Leib-Körper-theoretische Annäherung an das Konstrukt Identität ermöglicht. Eine weitere Identitätstheorie, die auch zugleich eine Anbindung an klinisch-psychologische Konzepte ermöglicht, ist die ,integrative Identitätstheorie‘455 von Petzold. Daher sind sie Gegenstand einer näheren Betrachtung, mit dem Ziel, dass die jeweiligen Exzerpte dieser ausgesuchten Identitätstheorien das komplexe Wesen und die verschiedenen Ansätze der Identität aufzeigen.

455 Anmerkung: Besonders die erweiterten Theorien von Keupp oder von Petzold gelten für sozialinterventive Berufe als Referenztheorien. (Chudy 2011, S. 30)

4.1 Identität – elastische Deutungen aus multidisziplinärer Perspektive

137

4.1.2 Identitätstheorien in der Tradition analytischer Ich- und Entwicklungspsychologie 4.1.2.1 Erik Homburger Erikson – ein psychoanalytischer Ansatz Der Psychoanalytiker Erikson (1956) geht davon aus, dass die Identität sich nach einem epigenetischen Prinzip456 entwickelt.457 Erikson beschreibt die Entwicklung der kindlichen bzw. der menschlichen Identität. Er konzipierte ein Phasenmodell der psychosozialen Entwicklung über die gesamte Lebensspanne (Theorie der Ich-Entwicklung), indem er die Wechselwirkung zwischen Individuum und Gesellschaft betont. Diese entfaltet sich im Spannungsfeld zwischen den Bedürfnissen und Wünschen des Kindes als Individuum und den sich im Laufe der Entwicklung permanent verändernden Anforderungen der sozialen Umwelt. Eriksons Entwicklungstheorie spricht damit den Beziehungen/der Interaktion des Kinds mit seiner personalen Umwelt eine große Bedeutung zu. Innerhalb seiner Entwicklung durchläuft der Mensch […] Krisen und Konflikte, welche durch die Konfrontation mit den gegensätzlichen Anforderungen und Bedürfnissen ausgelöst werden und deren Bewältigung Erikson als Entwicklungsaufgabe bezeichnet. Erikson betrachtete die Entwicklung psychodynamisch als sozial bedingte Abfolge von Krisen, die zu lösen sind. Nach Eriksons Stufenmodell der psychosozialen Entwicklung stellt jede der acht Stufen einen Konflikt dar, mit dem das Individuum sich aktiv auseinandersetzt. Die Stufenfolge ist dabei unumkehrbar und universal. Die erfolgreiche Bewältigung einer Entwicklungsstufe ist für die Bewältigung der nächsten zwar nicht unbedingt erforderlich, aber hilfreich. Die vorangegangenen Phasen bilden somit das Fundament für die kommenden Phasen und angesammelte Erfahrungen werden verwendet, um neue Identitätskrisen zu verarbeiten. Dabei wird ein Konflikt nie vollständig gelöst, sondern bleibt ein Leben lang aktuell. Für die Entwicklung ist es aber notwendig, dass er auf einer bestimmten Stufe ausreichend bearbeitet wird, um die nächste Stufe erfolgreich zu bewältigen.458 456 Anmerkung: Epigenetisches Prinzip – Erikson ist berühmt dafür, dass er Freuds Theorie der Entwicklungsstadien neu definiert und erweitert hat. Die Entwicklung läuft ihm zufolge nach dem epigenetischen Prinzip ab. Dieses Prinzip besagt, dass wir uns durch eine festgelegte Entwicklung unserer Persönlichkeit in acht Stadien entwickeln. Das Fortschreiten von einem Stadium zum anderen ist zum Teil durch unseren Erfolg oder durch mangelnden Erfolg in allen vorangegangenen Stadien bestimmt. (Boeree, C. G. 1997/2006, S. 6) 457 Vgl. Erikson 2010, S. 57 458 Vgl. Erikson 2010, S. 58 f.

138

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Es geht hierbei um die Suche nach der eigenen Identität und um Antworten zu finden auf z.B. die Fragen: Wer bin ich? – Was will ich mit meinem Leben anfangen? – Welche Werte sollen mein Leben bestimmen? – Und woran glaube ich? Nach Erikson ist dabei die zentrale Aufgabe der Adoleszenz, die frühen, die aktuellen und zukünftigen Lebensmöglichkeiten zu einem deutlicheren Selbstwertgefühl zu verbinden. Erikson (1968) beschreibt Identität als „ein Gefühl der Identität, d.h. der Kontinuität und Einheit mit sich selbst zu verstehen. Dieses Gefühl der Identität wird durch Interaktion mit anderen und im Kontext der eigenen Kultur geklärt und es ist als ein Prozess zu verstehen, der lebenslang dauert“459 Identität ist ein Gefühl des ,Mit sich selbst eins seins‘, ist das Ergebnis einer aktiver Suche nach der Konstruktion des Selbst. Dabei umfasst die Identität „mehrere Modelle bzw. Konstruktionen, die den verschiedenen Komponenten des Selbst entsprechen. Der eigene Körper (Geschlecht, Alter, Physiognomie), die sozialen Rollen und Beziehungen, die kognitiven Funktionen usw. sind die Objekte der Identitätskonstruktionen.“460 Das SELBST umfasst die „Gesamtheit eines lebenden Organismus […] und ist der Begriff für die Totalität der Person in all ihren Bezügen.“461 So sind es auch z.B. die „Innen- und Außenwelt, das Denken und sinnlichen Erfahrungen sowie die kognitiven und emotionalen Komponenten des Lebens“.462 „Nach Erikson (1956) und auch nach Mead (1934) werden die spezifischen Charakteristika und Eigenschaften einer Person in Beziehung zu und in Abgrenzung von anderen als Identität bezeichnet. […] Die Entwicklung einer Identität und ihre mögliche inhaltliche Anpassung erfolgt in einem sozialen Prozess. Sie ist somit immer ein Ergebnis sozialer Interaktion und Kommunikation.“463 4.1.2.2 Das ,Identity-status‘-Modell nach Marcia Der Identitäts-Ansatz von Erikson ist als ein phasenspezifischer psychosozialer Entwicklungsansatz zu verstehen, der sich in eine Richtung entwickelt. Die in der Kinder- und Jugendzeit entwickelte Selbstdefinition führt hierbei zur gültigen Identität über das ganze Erwachsenenalter. Im Kontext der sehr schnelllebigen mit hoher Flexibilität charakterisierten Berufswelt464, erweitert Marcia 459 460 461 462 463 464

Erikson 1968 Windolf 1981, S. 53 Windolf 1981, S. 53 Liesch 2010, S. 70 Mead 2005, S. 222, 244 f.; Erikson 2010: 123 f., zit.n. Boekle/Nadoll/Stahl 2000, S. 12 Vgl. Raeder/Grote (2006), S. 337 ff.

4.1 Identität – elastische Deutungen aus multidisziplinärer Perspektive

139

(1980) diesen Zugang zur Identität. Die Identitätsentwicklung ist für Marcia nicht an ein Lebensalter gebunden, sondern als ein dynamischer Anpassungsprozess über das ganze Leben notwendig und möglich. Für ihn werden unterschiedliche Identitätszustände in unterschiedlichen Lebensphasen durchlaufen und können sogar auch mehrfach und oder auch gegebenenfalls gleichzeitig entwickelt werden.465 Marcia (1966) entwickelt vor allem in Hinblick auf seine Operationalisierbarkeit, den Identitätsbegriff weiter und konzipierte ein ,Identity-status‘-Modell‘ der Identitätsentwicklung (The Ego Identity Status Approach), der einen Wechsel zwischen vier empirisch zugänglichen Identitätszuständen annimmt. In seiner Operationalisierung orientiert er sich entlang der Variablen, ,Commitment‘ (innere Verpflichtung) sowie ,Crisis‘ (Krise bzw. Exploration of alternatives).466 Während die Krise bzw. Exploration „das Durchführen von Suchbewegungen durch das Individuum“ meint, „die sich auf z.B. alternative Lebenskonzepte, Selbstdefinitionen usw. beziehen können und in der Regel durch wahrgenommene Krisen ausgelöst werden“, steht Commitment „für das erlebte Gefühl einer inneren Verpflichtung des Individuums gegenüber den für ihn gültigen Identitätsentwürfen.“467 Marcia unterscheidet in seinem Modell zwischen den Ebenen 1. der ,übernommenen Identität‘ (Fo-reclosure); 2. der ,diffusen Identität‘ (Identity Diffusion); 3. der ,kritischen Identität‘ (Moratorium) und 4. der ,erarbeiteten Identität‘ (Identity Achievement).468

465 466 467 468

Vgl. Heinzer/Reichenbach/Maiello 2013, S. 13 Vgl. Marcia 1993, S. 3 ff. Unger 2008, S. 46 Vgl. Marcia 1980, S. 160 ff.

140

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Abbildung 20: Identitätszustände nach Marcia und der hypothetische Identitätskrisenverlauf. (Quelle: Haußer 1995, S. 81)

Persönliche Entscheidung /

Krise

Keine Krise

Erarbeitete Identität

Übernommene Identität (Fo-reclosure)

Innere Verpflichtung

(Identity Achievement)

Keine persönliche Entscheidung /

Aufgeschobene Identität

Keine innere Verpflichtung

Diffuse Identität (Identity Diffusion)

Kritische Identität (Moratorium)

Der Zustand der ,übernommenen Identität‘ ist einerseits durch das Eingehen einer klaren inneren Verpflichtung und anderseits durch die starke Anlehnung und Orientierung an die Auffassungen der Eltern charakterisiert. Eine Krise bleibt hier aus.469 Eine übernommene Identität (Fo-reclosure) trifft z.B. zu, wenn eine Person Medizin studiert, weil einer der Elternteile diesen Beruf ausübt und sie ihre Praxis an die familiäre nächste Generation weitergeben wollen. Die Person fügt sich unter Umständen widerstandslos unter dem Druck der Familientradition.470 Die Berufswahl erfolgt nicht aufgrund der eigenen Auseinandersetzung mit den eigenen Interessen, Fähigkeiten, Bedürfnissen und Wünschen. Menschen mit diffuser Identität empfinden Desorientierung, Entscheidungsunfähigkeit, Desinteresse und keine innere Verpflichtung in Gegenstandsbeziehungen, wobei diffuse Identität zu einer Krise führen kann, aber nicht muss. Das Moratorium hingegen ist notwendig mit einer Krise verbunden und ist gekennzeichnet durch den Kampf der Entscheidung zwischen verschiedenen Alternativen. Für diese Alternativen kann sich innerlich verpflichtet werden, um eine klare Linie zu finden.471 Der Zustand der ,erarbeiteten Identität‘ wird über den Weg einer Krise erreicht. Voraussetzung hierfür ist die kritische Reflexion des sozialen und insbesondere des elterlichen Einflusses. Im Zuge der kritischen Prüfung gelangt das

469 Vgl. Haußer 1995, S. 81 470 Vgl. Whitbourne/Weinstock 1986, S. 193 471 Vgl. Haußer 1995, S. 81

4.1 Identität – elastische Deutungen aus multidisziplinärer Perspektive

141

Individuum in den jeweiligen Gegenstandsbereichen zu einem eigenen Standpunkt.472 Abbildung 21: Kennzeichen der Identitätszustände nach Marcia. (Quelle: Marcia 1980, S. 160 ff.)

UntersuchtesMerkmal

Diffuse Identität (keine Festlegung für Beruf oder Werte)

Selbstwertgefühl Autonomie Kognitiver Stil Intimität Soziale Interaktion

niedrig extrem kontrolliert impulsiv, extreme kognitive Komplexität stereotype Beziehung zurückgezogen, fühlen sich von Eltern nicht verstanden, hören auf Peers und Autoritäten

Moratorium (gegenwärtige Auseinandersetzungen mit beruflichen oder sonstigen Wertfragen) hoch internale Kontrolle reflexiv, kognitiv komplex fähig zu tiefen Beziehungen frei, streben intensive Beziehungen an, wetteifern

Übernommene Identität

Erarbeitete Identität

(Festlegung auf Beruf und Werte die von den Eltern ausgewählt wurden) niedrig (männl.) hoch (weibl.) autoritär

(Festlegung auf Beruf und Wertpositionen, die selbstausgewählt wurden) hoch

stereotype Beziehung ruhig, wohlerzogen, glücklich

fähig zu tiefen Beziehungen Zeigen nichtdefensive Stärke, können sich für andere ohne Eigenbutz einsetzen

internale Kontrolle impulsiv, kogni- reflexiv, kognitiv simpel tiv komplex

Die Berufswahl und Wertepositionierung im Berufsleben liegen bei Marcia im Zentrum von vier wechselnden flexiblen Ebenen der Identitätszustände. So sieht Marcia in den vier Ebenen eine unterschiedliche Ausprägung der eindeutigen Festlegung auf Beruf und Wertpositionen. Auf der Ebene der diffusen Identität gibt es keine Festlegung für Beruf oder Werte, während sich das Moratorium durch die gegenwärtige Auseinandersetzung mit beruflichen oder sonstigen Wertfragen auszeichnet. Der Zustand der übernommenen Identität kennzeichnet hingegen u.U. (aber nicht notwendigerweise) Personen, welche die Berufs- und Wertvorstellungen der Eltern übernommen haben. Erst auf der Ebene der erarbeiteten Identität besteht für Marcia eine eindeutige Festlegung auf Beruf und Wertpositionen, da diese ,selbst gewählt‘ wurde. 472 Vgl. Haußer 1995, S. 81

142

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Obwohl Marcia annimmt, dass Identität wiederholt reflektiert wird und sich transformiert, sieht er den Identitätszustand der erreichten Identität als Zielsetzung für eine gelungene Identitätsentwicklung an.473 4.1.3 Identitätstheorien in der Tradition des symbolischen Interaktionismus 4.1.3.1 George H. Mead – handlungstheoretischer Ansatz Nach George H. Mead (Soziologe und Psychologe) ist die Identität des Menschen nicht von Geburt an vorhanden, sondern entsteht innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungs- und Tätigkeitsprozesses des jeweiligen Individuums.474 Als Kind tritt man anfangs nur mit einer einzelnen Person oder mit sehr wenigen primären Bezugspersonen in Kommunikation und Interaktion. Durch den vermehrten Kontakt mit unterschiedlichen Personen lernt der Mensch sich von außen, das heißt aus der Sicht der anderen Personen, zu betrachten und deren Rollenerwartungen an die eigene Person wahrzunehmen. Er lernt also, sich selbst so wahrzunehmen, wie es andere tun werden. Mead beschreibt die Entwicklung des Selbst so: Der Einzelne erfährt sich nicht direkt, sondern nur indirekt aus der besonderen Sicht anderer Mitglieder der gleichen gesellschaftlichen Gruppe oder aus der verallgemeinerten Sicht der gesellschaftlichen Gruppe als Ganzer, zu welcher er gehört. Denn er bringt die eigene Erfahrung als eine Identität oder Persönlichkeit nicht direkt oder unmittelbar ins Spiel, nicht indem er für sich selbst zum Subjekt wird, sondern nur insoweit, als er zuerst zu einem Objekt für sich selber wird, genauso wie andere Individuen für ihn oder in seiner Erfahrung Objekte sind; er wird für sich selbst nur zum Objekt, indem er die Haltung anderer Individuen gegenüber sich selbst innerhalb einer gesellschaftlichen Umwelt oder eines Erfahrungs- und Verhaltenskontexts einnimmt, in den er ebenso wie die anderen eingeschaltet ist.475 „Der Aufbau von Identität ist für Mead ein sozialer Prozess, der aus einem komplexen Gefüge von Erwartungen, antizipierten Erwartungen, Rollenübernahmen und Selbstdefinitionen besteht.“476 Mead (1863-1931) bringt in der Veröffentlichung ,Geist, Identität und Gesellschaft‘ seine Theorie, das Konstrukt der Identität in Verbindung zur menschlichen Kommunikation und zur Sozialität. 473 474 475 476

Vgl. Marcia 1980, S. 160 ff. Vgl. Mead 2005, S. 177 Vgl. Mead 2005, S. 180 Buss 2012, S. 164

4.1 Identität – elastische Deutungen aus multidisziplinärer Perspektive

143

Bei Mead (1968) spielen die Begriffe des ,I‘, ,Me‘ und ,Self‘ eine konzertierte Rolle, wobei genau das komplexe Zusammenwirken aller drei wichtigen Komponenten eine Persönlichkeit bildet. In dieser Betrachtung wird der Mensch „als ein Wesen mit reflexivem Bewusstsein ,Self‘ verstanden, der ein individuelles ,I‘ und zugleich soziales und vergesellschaftetes Subjekt ,Me‘ darstellt.“477 Mead verwendet in seinem sozialpsychologischen Ansatz für den Begriff der ,persönlichen Identität‘ den Begriff ,Me‘. Persönlichkeit entwickelt sich als „Produkt zweier Größen, der eher sozialen Komponente des ,Me‘ (Mich) und der eher psychischen Komponente des ,I‘ (Ich). Das ,Me‘ präsentiert die Vorstellungen dessen, wie die anderen Menschen ein Individuum sehen und wie es sich nach der Interpretation ihrer Erwartungen zu verhalten hat. Es speichert gewissermaßen die intersubjektiv ausgehandelten Erwartungen und stellt handlungsleitende Strukturen und Orientierungen zur Verfügung.“478 „Die Einheit und Struktur der kompletten Identität spiegelt die Einheit und Struktur des gesellschaftlichen Prozesses als Ganzen.“479 „Das ,I‘ dringt demnach nur über die Brechung im ,Me‘ in das Bewusstsein des Einzelnen vor. Das ,Me‘ beinhaltet demgegenüber die erfahrenen Kommentierungen über eigene Gedanken, Verhaltensweisen und Handlungen und stellt so die reflexiv zugängliche Komponente von Identität dar.“480 „Die Einheit der persönlichen Identität bzw. ,Me‘ entsteht zugleich aus Selbsterfahrungen in sozialen Räumen bzw. Interaktionsbereichen, wie z.B. Erwerbsarbeit, Familie, Freizeit, welche in eine subjektive nachvollziehbare Einheit synthetisieren werden muss.“481 „Mit ,Self‘ hat Mead nicht die sich herausbildende Persönlichkeit bezeichnen, sondern eine Struktur der Selbstbeziehung der Person. Damit sind die Bezüge und Beziehungen zu den verschiedenen anderen Personen, Gruppen, Institutionen und Gegenständen bezeichnet, die eine Person im Laufe ihres Lebens kennenlernt und welche sie versucht, zu einer einheitlichen Gesamtheit (z.B. von Erfahrung und Wahrnehmung) zusammenzubringen.“482 „Die Selbstdefinition einer Person als Antwort auf die Frage ‚Wer bin ich?‘ enthält ihren Sinn erst im Austausch mit anderen. Es ist somit nie möglich, sich 477 478 479 480 481 482

Mead 1968/2005, S. 244 f. Hurrelmann 2002, S. 92 Mead 2000, S. 186 Faßauer 2008, S. 54 Faßauer 2008, S. 56 Liesch 2010, S. 72

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4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

selbst annähernd vollständig zu beschreiben, ohne auf diejenigen Bezug zu nehmen, die die Umwelt dieses Selbst bilden. Identität entwickelt sich dabei von ‚außen‘ nach ‚innen‘. Im Regelfall erfährt der Mensch sich selbst nur durch den Umweg über seine Mitmenschen. Der Prozess der Identitätsbildung ist fundamental verknüpft mit der Fähigkeit des Menschen, sich selbst mit den Augen seiner Umgebung zu betrachten. Diesen für die Identitätsbildung wesentlichen Vorgang bezeichnet Mead als Rollenübernahme (‚Role-taking‘). Identität ist damit die kreative Antwort des Individuums auf die Erwartungen der anderen.“483 „Ohne den auch als Empathie zu bezeichnenden Vorgang des ,role-taking‘, also der Fähigkeit die Erwartungen der anderen zu antizipieren, ist die Formulierung einer Ich-Identität nicht denkbar.“484

„Unter Verweis auf den Vorgang der gesellschaftlichen Differenzierung und Anleihen bei der Rollentheorie ist hinzuweisen, dass der Einzelne eher mit unterschiedlichen, nicht in einem allumfassenden gesellschaftlichen Rahmen auflösbaren, normativen Erwartungen bzw. Rollen konfrontiert ist. Diese Rollerwartungen und entsprechenden Selbsterfahrungen müssen vom Einzelnen in seiner Identitätsarbeit notwendig in eine subjektiv nachvollziehbare Einheit synthetisiert werden. Aufgrund der potentiellen Vielfalt der Selbsterfahrungen aller Mitglieder einer differenzierten Gesellschaft wird in diesem Zusammenhand auch von der Individualisierung von Identität gesprochen.“485 „Die organisierte Identität ist die Organisation der Haltungen, die einer Gruppe gemeinsam sind. Ein Mensch hat eine Persönlichkeit, weil er einer Gemeinschaft angehört, weil er die Institutionen dieser Gemeinschaft in sein eigenes Verhalten hereinnimmt. Er nimmt ihre Sprache als Medium, mit dessen Hilfe er seine Persönlichkeit entwickelt, und kommt dann dadurch, dass er die verschiedenen Rollen der anderen Mitglieder einnimmt, zur Haltung der Mitglieder dieser Gemeinschaft. Das macht in gewissen Sinn die Struktur der menschlichen Persönlichkeit aus.“486 Dabei entsteht die Subjektive Identität immer im Prozess der Selbstreflexion.487 „Selbst-Bewusstsein (Identitätsbewusstsein) ist hingegen definitiv um ein gesellschaftliches Individuum organisiert, und zwar nicht nur deshalb, weil man 483 484 485 486 487

Buss 2012, S. 163 f. Krappmann 2010, S. 143 Faßauer 2008, S.5 5 Mead 2000, S. 204 f. Vgl. Faßauer 2008, S. 56

4.1 Identität – elastische Deutungen aus multidisziplinärer Perspektive

145

Mitglied einer gesellschaftlichen Gruppe ist, von anderen beeinflusst wird und diese wiederum beeinflusst, sondern weil […] die eigene Erfahrung als eine Identität etwas ist, das man von seinen Handlungen gegenüber anderen einnimmt. Man entwickelt insoweit eine Identität, als man die Haltung anderer einnehmen und sich selbst gegenüber sowie anderen handeln kann. In dem Maße, wie die Übermittlung von Gesten Teil des Verhaltens bei der Lenkung und Kontrolle der Erfahrung werden kann, ist die Entwicklung von Identität möglich.“488 Mead lässt „auf der Basis der Sozialpsychologie […] zeigen, dass die Konstitution der selbst wahrgenommenen bzw. subjektiven Identität des Einzelnen an die soziale Interaktion mit anderen gebunden ist. Erst über die Interaktion mit anderen ist der Einzelne veranlasst und in die Lage versetzt, über sich zu reflektieren, Erfahrungen über sich zu sammeln und darüber ein Bild über sich selbst bzw. eine subjektive Identität aufzubauen. Mead konzeptualisiert diesen Prozess als ,take the role of the other‘ und Herausbildung und Zusammenspiel von zwei Identitätskomponenten.“489 „,Taking the role of the other‘ beschreibt den Prozess der wechselseitigen Perspektivübernahme zwischen Interaktionspartnern. Das heißt, der Einzelne lernt, sich aus der Perspektive seines Interaktionspartners zu betrachten bzw. dessen Sicht auf sich selbst einzunehmen. Dies geschieht, indem der Einzelne über die Reaktionen seiner Interaktionspartner Erfahrungen darüber sammelt, wie seine Verhaltens- und Handlungsweisen sozial bewertet werden. Auf diese Weise eignet er sich einen Bewertungsrahmen in Bezug auf seine vollzogenen oder intendierten Verhaltens- und Handlungsweisen an und ist damit in die Lage versetzt, sich als selbst Akteur in einem bestimmten sozialen Kontext betrachten zu können bzw. eine Identität aufzubauen.“490 „Mead geht dabei generell davon aus, dass der Einzelne erst dann eine subjektive befriedigende und stabile Identität aufbauen kann, wenn er sich als anerkanntes Mitglied eines bestimmten Interaktionsbereiches bzw. der gesamten Gesellschaft fühlen kann, also grundlegende soziale Normen akzeptiert und auf sich anwendet.“491 „Es gibt bestimmte gemeinsame Reaktionen, die jedes Individuum gegenüber bestimmten gemeinsamen Dingen hat, und insoweit diese gemeinsamen Reaktionen im Einzelnen ausgelöst werden, wenn er auf andere Personen einwirkt, entfaltet er seine eigene Identität. Die Struktur der Identität ist also eine Alle gemeinsame Reaktion, da man Mitglied einer Gemeinschaft sein muss, um 488 489 490 491

Mead 2000, S. 214 Faßauer 2008, S. 53 Faßauer 2008, S. 53 Faßauer 2008, S. 54 f.

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4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

eine Identität zu haben. Solche Reaktionen sind abstrakte Haltungen, doch formen sie den Charakter eines Menschen. Sie geben ihm seine Prinzipien, die anerkannte Haltung aller Mitglieder der Gemeinschaft gegenüber den Werten eben dieser Gemeinschaft.“492 4.1.3.2 Erving Goffman – die Identitäts- und Stigmatheorie und die Rahmung als Perspektiven der Weltsicht Goffman (1959) hat in seinem Werk ,Wir alle spielen Theater‘ skizziert „wie in normalen Arbeitssituationen der Einzelne sich selbst und seine Tätigkeit anderen darstellt, mit welchen Mitteln er den Eindruck, den er auf jene macht, kontrolliert und lenkt, welche Dinge er tun oder nicht tun darf, wenn er sich in seiner Selbstdarstellung vor ihnen behaupten will.“493 „Der Einzelne wird sich also bei seiner Selbstdarstellung vor anderen darum bemühen, die offiziell anerkannten Werte der Gesellschaft zu verkörpern und zu belegen, und zwar in stärkerem Maße als in seinem sonstigen Verhalten.“ 494 Bei Goffman geht es um die „Struktur der soziale[n] Begegnungen […] - Struktur der Einheiten im sozialen Leben, die entstehen, wann immer Personen anderen Personen unmittelbar physisch gegenwärtig werden. Der Schlüsselfaktor in dieser Struktur ist die Erhaltung einer einzigen Bestimmung der Situation, und diese Definition muss ausgedrückt, und dieser Ausdruck muss auch im Angesicht zahlreicher potentieller Störungen durchgehalten werden.“495 Auf der Grundlage, dass der Mensch ein soziales determiniertes Wesen ist, entwirft Erving Goffman ein rollentheoretisches Identitätskonzept, in dem er zwischen sozialer, persönlicher Identität und Ich-Identität unterscheidet. „Das Individuum befindet sich in einer ständigen Wechselbeziehung zwischen Anpassung und einem individuellen Wandlungsprozess. Die Frage, was das Individuum als Rollenträger an ein anderes Individuum bindet, hat Goffman aufgegriffen und den Komplex des Symbolischen Interaktionismus um den Begriff der Ich-Identität erweitert. Dass Menschen als interaktiv Handelnde, versuchen die Bedeutung ihres Handels sich gegenseitig zu symbolisieren und wiederum die

492 493 494 495

Mead 2000, S. 205 Goffman 2012a, S. 3 Goffman 2012b, S. 35 Goffman 2012b, S. 233

4.1 Identität – elastische Deutungen aus multidisziplinärer Perspektive

147

Bedeutungen der Handlungen von anderen zu deuten, ist eine Grundannahme des symbolischen Interaktionismus.“496 Goffman bezeichnet mit ,personaler Identität‘ „die Einmaligkeit eines Menschen als Ausdruck einer einzigartigen Biographie. Die personale Identität äußert sich in der Einheit einer unverwechselbaren Lebensgeschichte.“497 Die persönliche Identität bildet eine soziale Erscheinung, da es sich in der Identifizierung als einzigartiges Wesen aus der Gruppe aller anderen Individuen unterscheidet.498 Dagegen ist für Goffman die ,soziale Identität‘ „der Ausdruck von Rollenoder Perspektivenübernahme und verinnerlichten Rollenerwartungen, die von der Umgebung an eine Person adressiert werden.“499 Es sind für Goffman die zugeschriebenen Merkmale, die sich aus den sozialen Rollen einer Person in Bezug auf seine Lebensumwelt ergeben, welche ein Individuum zu verkörpern und darzustellen verpflichtet ist.500 Ebenso beschreibt die ,soziale Identität‘ die Zugehörigkeit eines Individuums zu verschiedenen Bezugsgruppen und garantiert die Erfüllbarkeit der unterschiedlichen Ansprüche, die von diesen Bezugsgruppen gehegt werden.“501 Dadurch besitzt die soziale Kategorie ,Identität‘ für die Gruppenzugehörigkeit von Menschen eine Orientierungsfunktion: z.B. Student, Körperbehinderter, Arzt. Die soziale Identität ist bei Goffman eng mit dem Rollenkonzept verbunden, da es um die Berücksichtigung von äußerlich zugeschriebenen Merkmalen geht und um die Orientierung in Gruppen. Goffman beschreibt Zuschreibungsphänomene, die im Falle einer sozialen oder körperlichen Auffälligkeit stigmatisierende Wirkung auf den Betreffenden im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung haben können.502 Diese Zuschreibungen sind unseren Erwartungen, die wir in und von Personen vermuten, indem wir bekannte Normen und Werte zugrunde gelegen: „Wenn uns ein Fremder vor Augen tritt, dürfte uns der erste Anblick befähigen, seine Kategorie und seine Eigenschaften, seine ‚soziale Identität‘ zu antizipieren – um einen Terminus zu gebrauchen, der besser ist als ‚sozialer Status‘, weil persönliche Charaktereigenschaften wie zum Beispiel ‚Ehrenhaftigkeit‘ ebenso einbezogen sind wie strukturelle Merkmale von der Art des ‚Berufs‘.“503 496 497 498 499 500 501 502 503

Goffman 2012a S. 9 f. Buss 2012, S. 164 Vgl. Goffman 2012a, S. 9 f. Buss 2012, S. 164 Goffman 2012a, S. 9 f. Buss 2012, S. 164 Vgl. Goffman 2012a, S. 9 f. Goffman 2012a, S. 10

148

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

„Die rollentheoretische Rekonstruktion von Identität nach Goffman ermöglicht die Unterscheidung zwischen tatsächlichem Verhalten eines bestimmten Individuums und einem besonderen Rollenhandeln im Rahmen der gesellschaftlich konstruierten Normen und Werte, die in die Forderungen münden, was jemand in seiner Rolle zu präsentieren hat, was von den Modellen strukturtheoretischer Rollenanalyse exploriert wird.“504 Nach Goffman werden unsere eigenen Normen und Werte in Forderungen umgewandelt, d.h., unsere normativen Erwartungen über die Eigenschaften des Andern wandeln sich in Anforderungen um, wie wir den andern sehen wollen und was der andere sein sollte.505 Nach Goffman schafft die Gesellschaft, die „Mittel zur Kategorisierung von Personen […], die man für die Mitglieder dieser Kategorien als gewöhnlich und natürlich empfindet“.506 Für Goffman gibt es bei der sozialen Identität zwei Kategorien von Zuschreibungen an eine Person: „So können die Forderungen, die wir stellen, besser ‚im Effekt‘ gestellte Forderungen genannt werden, und der Charakter, dem wir dem Individuum zuschreiben, sollte besser gesehen werden als eine Zuschreibung, die in latenter Rückschau gemacht ist – eine Charakterisierung ‚im Effekt‘, eine virtuale507 soziale Identität. Die Kategorie und die Attribute, deren Besitz dem Individuum tatsächlich bewiesen werden konnte, werden wir seine aktuale soziale Identität nennen.“508 Der Mensch, als Individuum, muss sowohl den Innenaspekt des ,Ich‘ berücksichtigen und gleichzeitig anzeigen, dass er auch am sozialen Leben teilhaben möchte. Dabei ist der Mensch jedoch auch ein Wesen, das sich vom Rollenhandeln aktiv und bewusst distanzieren kann. In seinem Werk ,Stigma‘ versteht Goffman den Menschen als sozial stigmatisiert, d.h., der Mensch befindet sich in einem Prozess permanenter Abwehr sozialer Zuschreibungen, die mit der Vorstellung über die eigene Person nicht übereinstimmen. Für Goffman besteht in diesem Prozess aber auch eine Chance für das Individuum, indem es sich seiner Wirklichkeit bewusst wird.

504 505 506 507

Goffman 2012a, S. 10 Vgl. Goffman 2012a, S. 10 Goffman 2012a, S. 9 f. Anmerkung: In seinen Abhandlungen wird deutlich dass die Zuschreibungen Anderer für ein betroffenes Individuum zu einer Diskrepanz zwischen der sog. ,virtualen sozialen Identität‘ (d.h., den normativen Erwartungen der Umwelt), dessen sog. ,aktualer sozialer Identität‘ (d.h. seiner tatsächlichen Wirkung auf andere) und seiner eigenen ,Ich-Identität‘ führt. (Goffman 2010, S. 10) 508 Goffman 2012a, S. 10

4.1 Identität – elastische Deutungen aus multidisziplinärer Perspektive

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„Der Begriff der sozialen Identität erlaubt uns, Stigmatisierung zu betrachten. Der Begriff persönliche Identität erlaubt uns, die Rolle der Informationskontrolle im Stigma-Management zu betrachten. Die Idee der Ich-Identität erlaubt uns, zu betrachten, was das Individuum über das Stigma und sein Management empfinden mag, und führt uns dazu, den Verhaltensregeln, die ihm hinsichtlich dieser Dinge gegeben werden, besondere Aufmerksamkeit zu widmen.“509

Um seine Individualität gegen die Vereinnahmung der sozialen Welt zu bewahren, muss sich das Individuum zwischen Konformität und Abweichung bewegen. Einerseits ist das Individuum bemüht, den Erwartungen seiner sozialen Umwelt gerecht zu werden und andererseits sich von dieser Normalität zu distanzieren. Dieses Dilemma des Individuums führt bei Goffman zu jener Individualität, die er nicht nur dem Prozess der Interaktion zuschreibt, sondern der er einen individuellen Wert beimisst.510 „Der Terminus Stigma wird also in Bezug auf eine Eigenschaft gebraucht werden, die zutiefst diskreditierend ist, aber es sollte gesehen werden, dass es einer Begriffssprache von Relationen, nicht von Eigenschaften bedarf. Ein und dieselbe Eigenschaft vermag den einen Typus zu stigmatisieren, während sie die Normalität eines anderen bestätigt, und ist daher als ein Ding weder kreditierend noch diskreditierend.“511

„Dem einen gilt Identität als positiv und ihr Verlust ist gleichbedeutend mit dem Ich-Verlust oder dem Selbstvergessen; anderen gilt sie als Verhängnis, als Fixierung […] in vorab institutionell vorgeprägte oder soziale konditionierte Rollenschemata.“512 „Eine Identitätsbeschädigung ist i.d.R. ein Ergebnis von Stigmatisierungen, die eine Bedrohung des Selbst (Selbstbild) darstellen und dadurch Identitätsprobleme auslösen und dann wiederum Identitätsstrategien versagen. Signale einer beschädigten Identität können z.B. sein, wenn eine zu starke Anpassung des Selbst an die Bewertungen durch die Außenwelt erfolgt, und wenn die Fremdbestimmung statt Selbstbestimmung im Vordergrund ist. Auch Rückzug in der Be-

509 510 511 512

Goffman 2012a, S. 133 Vgl. Goffman 1972/2014, S. 304 Goffman 2012a, S. 11 Zirfas/Jörissen 2007, S. 7

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4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

zugsgruppe oder eine Fügung in eine Randgruppenexistenz, Isolation, Ausgliederung, Kontaktverlust, Desintegration können Signale einer beschädigten Identität sein.“513 „Wenn Identitätsprobleme bestehen, können Identitätsstrategien in ihrer identitätsstützenden Ausprägung versagen. Erkennbar sind diese Strategien, in dem z.B. Zuschreibungen selektiv bzw. verzerrt wahrgenommen, überspielt, heruntergespielt, ihnen widersprochen wird, geleugnet, für unwahr und/oder unwichtig erklären und/oder die Kompetenz der Zuschreibenden anzweifelt wird. Ein Ausweichen und oder die Mängel durch stärkere Gewichtung anderer Qualitäten kompensiert, Entschuldigungen für das ,Versagen‘ und/oder das ,abweichende Verhalten‘ anführt, unangenehme Interaktionen abgebrochen und/oder andere Bezugsgruppe(n) gesucht und hineingewechselt wird.“514 Goffman widmet sich in seinen identitätstheoretischen Betrachtungen ebenfalls der Thematik von totalen Institutionen, die u.a. auch in der Mehrheit der psychosozialen Arbeitsfelder (beispielsweise Altenpflege, Behindertenheime) vorzufinden sind. Er spannt dabei immer wieder den Bogen zur Identitätsbeschädigungen. „Bemerkenswert ist, dass seine Beobachtungen und Studien zeigen, dass selbst die Insassen in totalen Institutionen versuchen, sich nicht vollkommen von der Institution vereinnahmen zu lassen und ihre Individualität nach außen hin zu entfalten. Selbst die winzigen institutionellen Spielräume der totalen Institutionen werden ausgenutzt, um sie individuell auszufüllen bzw. sich von anderen abzuheben.“515 Aus dem sich hieraus ableitenden Problem der Kontextualisierung von Verhalten und Äußerungen entwickelte Goffman seine Rahmenanalyse.516 „Rahmen bedeuten dabei eine bestimmte Perspektive von Weltsicht, aus der heraus Probleme als Probleme erkannt und in deren Sinne gelöst werden. Somit organisieren Rahmen die Wahrnehmung und Einordnung von Erfahrungen und Erlebnissen. In der Erkenntnis von Welt spielen dabei primäre Rahmen eine wichtige Rolle.“517 „Zusammengenommen bilden die primären Rahmen einer sozialen Gruppe einen Hauptbestandteil von deren Kultur, vor allem insofern, als sich ein Verstehen bezüglich wichtiger Klassen von Schemata entwickelt, bezüglich de-

513 514 515 516 517

Goffman 1980, S. 10 ff. Goffman 1980, S. 10 ff. Faßauer 2008, S. 64 Vgl. Vogd 2004, S. 1 Reimann 2012, S. 294

4.1 Identität – elastische Deutungen aus multidisziplinärer Perspektive

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ren Verhältnissen zueinander und bezüglich der Gesamtheit der Kräfte und Wesen, die von Schemata entwickelt, bezüglich deren Verhältnissen zueinander nach diesen Deutungsmustern in der Welt vorhanden sind.“518 Ein Rahmen entspricht dabei einer Wirklichkeitssicht, einer Perspektive, in der ein gegebenes Problem gesehen und verstanden werden kann. Rahmen stellen gewissermaßen das Organisationsprinzip der menschlichen Erfahrung und Interaktion dar. Die Rahmenanalyse dient dabei im Wesentlichen der Klärung „dessen, was in Interaktionen und Aktivitäten eigentlich vor sich geht.“519 Goffman interessiert die gemischten Kontakte und die Momente, wenn Stigmatisierte und Normale in der gleichen sozialen Situation sind und sich begegnen, das heißt, in gegenseitiger, unmittelbarer physischer Gegenwart.520 Ihn interessiert das, „was in sozialen Situationen im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht und um das, was scheinbar so nebenbei mitläuf. Goffman versteht unter dem Begriff ,Rahmen‘ komplexe Sinnstrukturen, die es ermöglichen, Situationen und Handlungen jeglicher Art zu identifizieren. Goffman differenziert zwischen sozialen und natürlichen primären Rahmen. In jeweiligen Situationen diese Differenzierung zu entschlüsseln, erfolgt mithilfe von Deutungsmusteranalysen und weist auf das Wesentliche hin.“521 Sie fokussiert die Interaktionsordnungen und die soziale Situationen selbst, in denen „sich Menschen nicht nur sprachlich, sondern auch leiblich begegnen.“522 „Situationsdeutungen statten soziale Interaktionen mit Sinn aus. Sie gehen dem Handeln voraus und sind mit ablaufenden (gemeinsamen) Handlungen verwoben, fragen ganz allgemein nach der Situation, nach Verantwortlichkeiten, Bedingungen und Konsequenzen. Diese wiederum können aktiven, (inter-)agierenden Menschen, welche die materiellen Dinge und die sozialen Situationen beeinflussen, die ihren Körper bewegen, zum Einsatz bringen (soziale Rahmung), oder äußeren, unbeeinflussbaren, natürlichen Umständen (natürliche primäre Rahmung) zugeschrieben werden.“523 Das Problem, dem das Individuum ausgesetzt ist, offenbart sich in den Anforderungen, weil es im Rahmen gesellschaftlicher Kommunikation ständig mehreren sozialen Identitäten gerecht werden muss. Diese Erwartungen, die an 518 519 520 521 522 523

Goffman 1997, S. 36 Knoblauch 2000, S. 172 Vgl. Goffman 1997, S. 22 Griese 2008, S. 7 Griese 2008, S. 7 Griese 2008, S. 8 f.

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das Individuum gestellt werden, müssen vom Einzelnen, der sich vor der gesellschaftlichen Vereinnahmung durch diese Erwartungen schützen muss, kontrolliert werden, damit er das Bild von sich selbst, also von seiner Einmaligkeit in Abgrenzung zu anderen Einzelnen, bewahren kann. Das Individuum bedarf für die Ich-Identität neben der sozialen Identität eine persönliche Identität, d.h., es benötigt Merkmale, die es von anderen unterscheidet und somit einzigartig macht. „Unterschiedliche Rahmen führen zu verschiedenen Problemsichten, wobei jedoch der konkret Handelnde, wenn er ,ein bestimmtes Ereignis erkennt‘, dazu neigt, ,seine Reaktion faktisch von einem oder mehreren Rahmen oder Interpretationsschemata bestimmen zu lassen, und zwar von solchen, die man primäre nennen könnte. […] Ein primärer Rahmen wird eben so gesehen, dass er einen sonst sinnlosen Aspekt der Szene zu etwas Sinnvollem macht.“524 Für die Übertragung und Anwendung der primären Rahmen auf das medizinische Feld führt Reimann (2012) Folgendes aus: „Die primären Rahmen, die im medizinischen Feld wirksam werden, Situationen strukturieren und Handlungsräume ermöglichen, beziehen sich in erster Linie auf die Deutung von Krankheit, Versehrtheit und Störung als Problem und infolgedessen auf die Konstruktion von Behandlungsnotwendigkeit als Lösung des Problems. Diese medizinische Rahmung lässt sich der Basistypik eines medizinischen Habitus zuordnen, da sie sowohl in der ärztlichen als auch der medizinalen Orientierung bedeutsam ist. Damit beschreibt eine solche Rahmung den Kern der medizinischen Profession oder Expertise überhaupt; nur dadurch rechtfertigen sich jegliche Formen von Eingriffen in die private und körperliche Intimsphäre eines Patienten. Beide Seiten einer Arzt-Patienten-Beziehung müssen diesen Rahmen als solchen verstehen und akzeptieren. Jedoch weisen beide rekonstruierten Formen der Basistypik Modulierungen dieser Rahmen in unterschiedlicher Form auf. In der medizinalen Orientierung fokussiert der Rahmen auf die symptomale Behandlung der diagnostizierten Störung, während soziale wie emotionale Erlebniskomponenten des Patienten nicht mehr in diesen ärztlichen Behandlungsrahmen fallen. Eindrucksvoll wird diese primäre Rahmung in der Beschreibung des Assistenzarztes deutlich, der nach dem Tod eines behandelten Kindes die Trauer der Eltern dem pflegerischen Rahmen überlässt und dies dem eigenen medizinisch-professionellen Verständnis nicht mehr zuschreibt. In der ärztlichen Perspektive wäre

524 Goffman 1997, S. 31

4.1 Identität – elastische Deutungen aus multidisziplinärer Perspektive

153

die Grenze des Rahmens damit nicht beschrieben, sondern verortet auch die Lösung von Beziehungsproblemen in einen ärztlichen Rahmen und ordnet sie somit der Professionalität zu.“525 4.1.4 Sozialpsychologische und postmoderne Identitätskonzepte 4.1.4.1 Karl Haußer – Identität, eine Einheit aus Selbstkonzept, Selbstwertgefühl und Kontrollüberzeugung Der Psychologe Karl Haußer (1995) definiert Identität als „die Einheit aus Selbstkonzept, Selbstwertgefühl und Kontrollüberzeugung eines Menschen, die er aus subjektiv bedeutsamen und betroffen machenden Erfahrungen über Selbstwahrnehmung, Selbstbewertung und persönliche Kontrolle entwickelt und fortentwickelt und die ihn zur Verwirklichung von Selbstansprüchen, zu Realitätsprüfung und zur Selbstwertherstellung im Verhalten motivieren.“526 Den psychologischen Identitätsbegriff verbindet Haußer mit der sogenannten „Selbstkonstruktion“. Er geht davon aus, dass das Individuum seine Identität selbstkonstruiert und präsentiert. Haußer benutzt den Begriff in Abgrenzung zu den Begriffen der Rolle und der Persönlichkeit.527 „Identität ist weder das Bündel gesellschaftlicher Verhaltenserwartungen in der Lebenswelt eines Menschen (d.h. Rolle), noch die Gesamtheit seiner psychischen Merkmale (d.h. Persönlichkeit). ,Selbstkonstruiert‘ bedeutet, dass Identität im Gegensatz zu Rolle und Persönlichkeit ursprünglich im Bewusstsein des Individuums existiert.“528 Haußer (1995) entwickelte ein Strukturmodell der personalen Identität, welches eingebettet in ein Prozessmodell ist und das die Identitätsentwicklung als fortlaufende Prozesse der Generalisierung und Spezifizierung von Identitätsinhalten versteht. Als zentraler Ansatz von Haußers Theorie gilt, dass das Selbstkonzept und das Selbstwertgefühl durch Generalisierung von erfahrungsabhängigen Selbstbewertungen entstehen. Für Haußer ist die Identität sowohl Ergebnis wie Bedingung.

525 526 527 528

Reimann 2012, S. 294 Haußer 1995, S. 66 Vgl. Haußer 1995, S. 3 van Wijnen/Petzold 2003, S. 6

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Abbildung 22: Drei Dimensionen des Strukturmodells der personalen Identität. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Haußer 1995/BBT_Projekt)

Drei Dimensionen des Strukturmodells der personalen Identität und die dazu gehörigen Komponenten  Biographische Kontinuität  Ökologische Konsistenz 1. Selbstkonzept mit den Integri-  Konsequenz in der Einstellungs-Verhaltens-Relation tätsaspekten  Echtheit in der Gefühls-Verhaltens-Relation  Individualität  Gleichwertigkeit  Wohlbefinden und Selbstzufriedenheit 2. Selbstwertgefühl  Selbstakzeptierung und Selbstachtung  Erleben von Sinn und Erfüllung  Selbstständigkeit und Unabhängigkeit  Erklärbarkeit 3. Kontrollüberzeugung(en)  Vorhersehbarkeit  Beeinflussbarkeit

Nach „Haußer gibt es zur Identitätskonstruktion drei wesentliche Komponenten: die Identität als situative Erfahrung (die subjektive Bedeutsamkeit und Betroffenheit, die Selbstwahrnehmung, die Selbstwertung, die personale Kontrolle), die Identität als übersituative Verarbeitung (Integrität des Selbstkonzepts, Dynamik des Selbstwertgefühls, Identität durch den sozialen Spiegel und die Kontrollüberzeugungen) und die Identität als motivationale Quelle (innere Verpflichtung, Selbstanspruch in Bedürfnissen und Interessen, Kontrollmotivation, Selbstwertherstellung, Realitätsprüfung und Modell der Identitätsregulation).“529 Identität, die in einer bewussten Selbstreflexion entwickelt wurde, ist immer nur eine Momentaufnahme, die prinzipiell eine fluide Konsistenz aufweist. Sie kann daher nie vollständig und ohne endgültig sein. Daher ist der Theorieansatz von Haußer auf Veränderbarkeit und Modifizierbarkeit angelegt. Für ihn ist seine Theorie auch als Grundlage für weitere empirische Identitätsforschungen zu verstehen. Denn da der Gegenstand der Betrachtung nicht starr ist, kann es auch die dazugehörige Theorie nicht sein.

529 Haußer 1995, S. 8 ff.

4.1 Identität – elastische Deutungen aus multidisziplinärer Perspektive

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Haußer sieht den „Ansatz für eine empirische Identitätsforschung in der Verknüpfung persönlicher Identität mit ganz bestimmten identitätskritischen Lebenslagen, in der empirischen Beschreibung von Identität anhand ausgewählter Definitionsräume, in der Analyse des dynamischen Prozesses der Herstellung und Darstellung von Identität selbst und in der Klärung der Identitätsstruktur im Sinne kognitiver, emotionaler und motivationaler Aspekte.“530 4.1.4.2 Heiner Keupp – die Person als individualisierter Sinnbastler Heiner Keupp hat in 80er-Jahren seine identitätstheoretischen Überlegungen in Verbindung und vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Kontexts erstellt. Die individuellen und kollektiven Lebensbezüge sind geprägt durch gesellschaftliche Strukturveränderungen sowie damit verbundene Dynamiken und Instabilitäten.531 Hierzu reichen für ihn durch eine Labilisierung der bisherigen Identitätsparameter diese nicht mehr aus. 532 Keupp (2003) baut zwar auf den bisherigen modernen Modellen auf, hält dieses jedoch für erweiterungsbedürftig. Hierzu formuliert er ein „Verständnis von Identitätsentwicklung, das den gesellschaftlichen Strukturveränderungen Rechnung tragen kann.“533 Keupp (2003) versteht Identität „als ein Bedeutungsrahmen, innerhalb dessen eine Person ihre Erfahrungen interpretiert und die jeweils die Basis bildet für aktuelle Identitätsprojekte. Die alltägliche Identitätsarbeit sucht in spezifischen Identitätsprojekten situativ stimmige Passungen im Verhältnis von inneren und äußeren Erfahrungen zu entwickeln. Durch diese Passungen sucht sich das Subjekt seine gesellschaftliche Handlungsfähigkeit zu sichern. Dazu werden Identitätsstrategien eingesetzt. Identitätsarbeit zielt darauf, ein individuell gewünschtes oder notwendiges ,Gefühl von Identität‘ zu erzeugen. Basale Voraussetzungen für dieses Gefühl sind soziale Anerkennung und Zugehörigkeit. Auf dem Hintergrund von Pluralisierungs-, Individualisierungs- und Entstandardisierungsprozessen ist das Inventar übernehmbarer Identitätsmuster ausgezehrt. Alltägliche Identitätsarbeit hat die Aufgabe, die Passungen, die Verknüpfungen unterschiedlicher Teilidentitäten vorzunehmen.“534

530 531 532 533 534

van Wijnen/Petzold 2003, S. 11 Vgl.van Wijnen/Petzold 2003, S. 17 Vgl. Chudy 2011, S. 24 Keupp 2003, S. 28 Keupp 2003, S. 28

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Für Keupp (2003) hat die Identitätsarbeit „eine innere und äußere Dimension. Eher nach außen gerichtet ist die Dimension der Passungsarbeit. Unumgänglich ist hier die Aufrechterhaltung von Handlungsfähigkeit und von Anerkennung und Integration. Eher nach ,innen‘ auf das Subjekt bezogen ist Synthesearbeit zu leisten, hier geht es um die subjektive Verknüpfung der verschiedenen Bezüge, um die Konstruktion und Aufrechterhaltung von Kohärenz und Selbstanerkennung, um das Gefühl von Authentizität und Sinnhaftigkeit. […] Kohärenz und Authentizität, Anerkennung und Handlungsfähigkeit sind […] nicht verzichtbare Modi alltäglicher Identitätsarbeit, sie sind existenziell. Sie können als wichtige Indizien für eine ,gelungene Identität‘ bezeichnet werden.“535 Unter gesellschaftliche Strukturveränderungen sind z.B. die Entwicklung hin zur Wissens-, Risiko-, Ungleichheits-, Zivil-, Einwanderungs-, Erlebnis- und Netzwerkgesellschaft gemeint. Auch die zunehmende Enttraditionalisierung, Pluralisierung und Individualisierung sowie eine steigende Flexibilität und Mobilität sind zu beachten.536 Da liegt es auf der Hand, dass die gesellschaftlichen Strukturveränderungen auch verstärkt mit einem Wertewandel einhergehen. Für Keupp sind diese Werte- und Sinnwelten zentrale Orientierungs- und Bezugspunkte für eine Identitätsentwicklung, insofern ist die Identitätsentwicklung vom Wertewandel auch unmittelbar betroffen.537 Dieser Wertewandel kann zwei unterschiedliche Folgen haben. Zum einen kann der Verlust der Orientierungshilfen als Verlust der Sicherheit erlebt werden und/oder kann auch als eine subjektiver ,Freiheitsgewinn‘ empfunden werden. Beides ist mit der Notwendigkeit verbunden, sich selbst neu zu orientieren und eine Sinnperspektive neu zu entwickeln, was nur mit hohem Ressourcenaufwand bewältigt werden kann.538 Für Keupp (2004) ist die Identitätsarbeit ein Projekt, in dem die einzelne Person zum ,individualisierten Sinnbastler‘ auf der Suche nach Stimmigkeit und nach Authentizität in einer sogenannten fluiden Gesellschaft wird.539 „Diese Identitätsarbeit ist ein kreativer, souveräner Prozess, indem durch partikularisierte Lebenssituationen eine ,multiple Identität‘ entsteht – es gleicht einem Flickenteppich, indem die Auflösung der Ganzheit nicht mehr als Verlust erfahren wird. Keupp thematisiert die Entstehung von Teilidentitäten, die sich wiederum 535 536 537 538 539

Keupp 2003, S. 10 f. Vgl. Keupp 2003, S. 6 ff. Vgl. Keupp 2003, S. 8 Vgl. Keupp 2003, S. 7 Vgl. Keupp 2004, S. 29

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aus Identitätsfragmenten zusammensetzen, und sieht diese Patchwork-Identität als alltägliche Identitätsarbeit, wobei materielle und soziale Ressourcen die Voraussetzung für ein offenes Identitätsprojekt und die sozialen Netzwerke Grundlage von Identitätsarbeit sind.“540 Grundlage für eine gelungene Identitätsarbeit ist nach Keupp das Vorhandensein individueller Gestaltungskompetenzen sowie Urvertrauen zum Leben. Für Keupp (2004) geht es „um das Erfahren von Zugehörigkeiten und darum, eigene Lebenserzählungen (Narrative) zu finden.“541 Hierbei enthält Keupps Theorie anknüpfungsfähiges Potenzial zu anderen sozialpsychologischen Theorien und Teilkonzepten (Ressourcentheorie, zur Theorie von Kontrollmeinung und Selbstwirksamkeit sowie auch zu Attributionskonzepten, Teilkonzepte der Affiliation542), die zur Geltung kommen können. Zu den weiteren Verknüpfungskomponenten zählen die Salutogenese von Aron Antonovsky543 und Konzepte von interaktiven Kommunikationsmustern im Rahmen zwischenmenschlicher Beziehungen.544 Keupp (2003/2004) benennt in seinem Modell folgende Determinanten, die die Identitätsarbeit bedingen: Lebenskohärenz, Sinnhaftigkeit als Ressource und Ziel. Die Lebensbewältigung gelingt durch Fähigkeiten zur Selbstorganisation und durch die Ver-

540 Keupp 2003, S. 28 541 Keupp 2004, zit.n. Chudy 2003, S. 27 542 Anmerkung: Affiliation ist das intrinsische Bedürfnis des Menschen nach Nähe zu anderen Menschen in geteiltem Nahraum, zu Menschengruppen mit Vertrautheitsqualität, denn die wechselseitige Zugehörigkeit ist für das Überleben der Affilierten, aber auch der Affiliationsgemeinschaft insgesamt, grundlegend: für die Sicherung des Lebensunterhalts, für den Schutz gegenüber Feinden und bei Gefahren, für die Entwicklung von Wissensständen und Praxen, die Selektionsvorteile bieten konnten (Petzold, 2007, S. 375). 543 Anmerkung: Keupp (2002) beschreibt das Herzstück der Salutogenese von Antonovskys, das Kohärenzgefühl (Kohärenzsinn) und die drei Komponenten wie folgt: „Kohärenz ist das Gefühl, dass es Zusammenhang und Sinn im Leben gibt, dass das Leben nicht einem unbeeinflussbaren Schicksal unterworfen ist. Meine Welt ist verständlich, stimmig, geordnet; auch Probleme/Belastungen, die ich erlebe, kann ich in einem größeren Zusammenhang sehen (Verstehensebene). Das Leben stellt mir Aufgaben, die ich lösen kann. Ich verfüge über Ressourcen, die ich zur Meisterung meines Lebens, meiner aktuellen Probleme mobilisieren kann (Bewältigungsebene). Für meine Lebensführung ist jede Anstrengung sinnvoll. Es gibt Ziele und Projekte, für die es sich zu engagieren lohnt (Sinnebene).“ (Keupp 2002, S. 10) 544 Vgl. Keupp 2003, S. 8 ff.

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knüpfung von Ansprüchen mit den real gegebenen Ressourcen des soziokulturellen Rahmens. Identitätsarbeit ist die Selbstschöpfung von Lebenssinn, mit dem Ziel ein authentisches Leben führen zu wollen; boundary management, die notwendige Grenzsetzung durch das Subjekt auf der Ebene der Identität, sozialen Beziehung und kollektiven Einbettung dort, wo Grenzen traditioneller Moralvorstellungen nicht mehr stehen (unter anderem zwischen Arbeit und Freizeit, zwischen Generationen, zwischen nationaler Souveränität); soziale Ressourcen, die Bedeutung familiärer und außerfamiliärer Netzwerke für gelingende Identitätsarbeit aufgrund von Rückmeldungspotenzialen zu eigenen Identitätsstrategien und der Filterwirkung für mediale und kulturelle Botschaften, Bewältigung von Krisen und Belastungen sowie Verinnerlichen der Notwendigkeit zur Beziehungsarbeit und Ausbau sozialer Kompetenzen zur souveränen Lebensgestaltung; materielle Ressourcen (Armutsforschung), als Schlüssel zur Gesundheits-, Bildungs-, und Kulturressource mit skeptischem Blick auf die ausschließliche Regulation der Gesellschaft durch den Markt, was zur Infragestellung der Erprobung von Selbstorganisation führt und damit auch zur Gefährdung von Autonomie und Lebenssouveränität; Zugehörigkeit und Anerkennung, bedrohte kollektive Identität bei frustrierten Integrationswünschen („Wir-Schicht“ der Identität nach Norbert Elias), aus soziologischer Sicht: Inklusions- und Exklusionserfahrungen bei Zunahme von Migration und Rassismus, fehlende Anerkennung oder Verkennung der Person und der individuellen Kompetenzen im persönlichen und öffentlichen Kontext mit Deformationsschäden für Identität; interkulturelle und zivilgesellschaftliche Kompetenzen, Migrationshintergründe in zukunftsfähiger demokratischer Alltagskultur, bürgerschaftliches Engagement bei vernünftiger Selbstfürsorge für die Schaffung autonomer Lebensprojekte, soziale Empfindsamkeit und Einmischungsbereitschaft.545 Mit der Theorie von Keupp ist die ,einzige Identität‘ als Konzept also zu verabschieden. Das ,ich bin‘ der Identität wird in der täglichen Identitätsarbeit in einem dialogischen Prozess nach innen und nach außen geformt und verändert sich so auch im Laufe der Zeit durch die Interaktionen im Innen und im Außen, da sie 545 Vgl. Keupp 2003, S. 14 ff.; Keupp 2004, S. 39 ff.

4.1 Identität – elastische Deutungen aus multidisziplinärer Perspektive

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sich gegenseitig beeinflussen.546 Für Keupp (1997/2009) besteht die Gesamtidentität aus mehreren Teilidentitäten, die er als ,Patchwork-Identität‘ bezeichnet, welche sich ergänzen oder auch miteinander konkurrieren können, dabei jedoch in der fortlaufenden Identitätsarbeit immer flexibel zusammengesetzt werden müssen.547 Dabei liegt „die Betonung bei ihm auf dem situativen Bezug zu den verschiedenen Sozialwelten und konkreten Interaktionspartnern. Als Schlüsselfelder der aktuellen Entwicklung gelten die Erwerbsarbeit, soziale Netzwerke, das Feld der Intimität und das der Kultur. Identitätsarbeit muss dabei über die Integration von Teilidentitäten, über das daraus entstehende Identitätsgefühl und aufbauend auf biografische Kernnarrationen geleistet werden, damit Handlungsfähigkeit entsteht.“548 4.1.5 Leib- und körpertheoretischen Annäherungen an das Konstrukt der Identität 4.1.5.1 Robert Gugutzer – ein phänomenologisch-soziologisches Identitätsmodell Robert Gugutzer (2002) hat einen weiteren ergänzenden Ansatz für ein Identitätsmodell entwickelt. In seinem phänomenologisch-soziologischen Identitätsmodell bezieht er sich in der Auseinandersetzung auf die verschiedenen Leibtheorien von Plessner, Merleau-Ponty, Schmitz und Bourdieu. Gugutzer zeigt in seiner identitätstheoretischen Betrachtung verschiedene Teilaspekte auf, unter denen Leib und Körper für die Identität eines Individuums von Bedeutung sein können.549 Nach Gugutzer umfasst die personale Identität die leiblich-körperlichen Dimensionen (Körperbild, die leiblich-körperliche Grenzerfahrung, die Leib-Körper-Kontrolle, die Körperbiografie) und die verschiedenen Identitätsdimensionen (Selbstbild, die Selbsterfahrung, die Selbstkontrolle, die Selbstbiografie), die beide als zentrale Kategorien Gugutzers Identitätstheorie bezeichnet werden können. So vertritt er die These, dass sich die Leib-Körper-Dimension und die Identitätsdimension gegenseitig beeinflussen.550

546 547 548 549 550

Vgl. Keupp 1997, 2009, S. 11 f. Vgl. Keupp 1997, 2009, S. 10 ff. Chudy 2003, S. 27 Vgl. Gugutzer 2002, zit.n. vgl. Chudy 2011 S. 30 Vgl. Chudy 2011 S. 30

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4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

„Er sieht die Leiblichkeit als Bedingung für jegliche Interaktion, also soziales Handeln in Reflexion, was weit über die körperliche Phänomenologie hinausgeht. Auf der Grundlage des Leibes also, welcher der Mensch selbst ist, sind Sprache, Denken und Interaktion mit anderen möglich, sodass hier die Grundlage personaler und sozialer Identität liegt, welche im gesellschaftlich-kulturellen Rahmen Nahrung findet.“551 „Das Modell basiert auf dem Dreischritt: dem anthropologischen Ausgangspunkt, der phänomenologischen Konkretisierung und der soziologischen Rahmensetzung.“552 4.1.5.2 Hilarion Petzold – eine integrative Identitätstheorie Das Konzept von Hilarion Petzold (2001p) stellt eine Integration von einigen o.g. Identitätstheorien dar und fokussiert gerade die Dialektik von ,Leiblichkeit und Sozialität‘. Bei der Sicht auf das Wechselverhältnis von Umwelt und Individuum sind die Belange der Umwelt inzwischen wesentlich weiter gefasst worden. Die Bedeutung von Interaktionen und sozialer Kontextualisierung wächst und wird als Einflussgröße der Identitätsbildung deklariert, die selbst als ein lebenslanger Prozess aufgefasst ist und sich von ausschließlichen Konsistenzansprüchen loszusagen weiß. Für die integrative Identitätstheorie wesentlich ist die anteilige Berücksichtigung sämtlicher dieser Ansätze auf dem Fundament einer leiblichkörperlichen Basis mit Betonung der gegenseitigen Bedingtheit von Leiblichkeit und Sozialität.553 Die Aussage, dass der Mensch ein Körper-Seele-Geist-Organismus und damit ein Leibsubjekt ist, welcher durch Sinn als ultimative Kategorie gesteuert wird, bildet für Petzold das Fundament für folgende Annahmen: Der Mensch steht in seinem Umfeld in sozialen Beziehungen, in denen er durch wahrnehmende Begegnungen seine Identität entwickelt und zu einer personalen Identität gelangt, die durch Selbstheit und Selbigkeit gleichermaßen einzigartig wird.554 Leiblichkeit, soziale Netzwerke, sozialisatorische Faktoren und kulturelle Einflüsse wirken auf persönliche und soziale Handlungsweisen.555

551 552 553 554 555

Chudy 2011 S. 30 Wijnen, van 2003, S. 26 Vgl. Petzold 2001p, 10 Vgl. Petzold 2001p, 10 Vgl. Petzold 2001p, 22

4.1 Identität – elastische Deutungen aus multidisziplinärer Perspektive

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Identität als Persönlichkeitsfacette, also als Teil der Persönlichkeit, verweist hier auf die Notwendigkeit, persönlichkeitstheoretische Aspekte einzubeziehen. Wahrnehmung und Kommunikation sind im entwicklungstheoretischen Sinne grundlegend, ebenso wie die Annahme der andauernden Entwicklung der Identität über die gesamte Lebensspanne.556 Hierüber geschieht die Anbindung an rollentheoretische Konzepte und neurowissenschaftliche Erkenntnisse, sodass ein recht komplexes Erklärungsmodell emergiert.557 Der mehrperspektivische Blick findet seinen Fokus schließlich an der Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft, weshalb sowohl soziologische, ethnologische, anthropologische als auch sozialpsychologische Denkweisen Berücksichtigung finden.558 Das Ko-respondenz-Konzept559, als Ansatz der Identitätsarbeit bei Petzold, kann in herakliteischer Tradition als das In-Verbindung-Setzen von Unterschiedlichem, ja Gegensätzlichem gesehen werden.560 Ein wesentliches Element der integrativen Identitätstheorie ist das der Narrationen, welche im gesellschaftlich-historischen Rahmen eine narrative Identität ermöglichen, die niemals nur des Einzelnen Privatsache sein kann, da ganze Erzählstränge zur Bildung der persönlichen Identität beitragen, welche durch die Mitmenschen im sogenannten sozialen Konvoi ermöglicht werden.561 Hier greift Petzold auf das Konzept „,narrativer Identität‘ zurück, wie es sein Lehrer Paul Ricoeur aus philosophischer sowie erzähltheoretischer Sicht, er selbst schließlich aus psychologischer Sicht entwickelt hat.“562

556 557 558 559

Vgl. Petzold 2001p, 22 Vgl. Petzold 2001p, 15 Vgl. Petzold 2001p, 2 Anmerkung: „Ko-respondenz gründet in Prozessen grundsätzlichen In-Beziehung-Seins, InBeziehung-Tretens oder In-Beziehung Setzens unterschiedlicher Realitäten: z.B. von Menschen und Gruppen, Wissensdisziplinen und -feldern, ein Konnektivieren mit hoher Vernetzungsdichte, das die Chance bietet, zu ,starken Integrationen‘ als intentional erarbeiteten Überschreitungen (Typ I) oder spontan emergierenden Transgressionen (Typ II) zu kommen – oft ist es eine Synergie von beidem -, zu einer innovativen Transzendierung des Bisherigen im Entstehen von übergeordneter Novität, fundamental neuen Formen, Strukturen, Qualitäten als ,starken Synergemen‘.“ (Petzold 2002b, S. 39) 560 Vgl. Petzold 2002b, S. 38 561 Vgl. Petzold 2001p, 14 ff. 562 Petzold 2001p, 14 ff.

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Für Petzold ist die „Identität Element der Integrativen Persönlichkeitstheorie, die Selbst, Ich, Identität differenziert. Das Selbst wird als ,Leibselbst‘ verstanden, gründet in der biologischen und physiologischen Realität des Menschen. Das Selbst als ein Synergem aller somatomotorischen, emotionalen, motivationalen, voltiven, kognitiven und sozialkommunikativen Schemata oder Stile bildet in diesem Entwicklungsprozess das Ich aus. Das Ich wird gesehen als Summe aller primären und sekundären Ich-Funktionen bzw. Ich-Prozesse. Eine der wichtigsten Ich-Leistungen ist die Konstituierung von Identität. Identität signalisiert, dass in einer Vielheit von Menschen die Besonderheit eines Einzelnen gegeben ist, der sich von vielen anderen Einzelnen unterscheidet, eben weil er eine ,Identität‘ mit ganz besonderen Merkmalen hat, welche ihn erkennbar machen. „Sie wird durch Selbst- und Fremdzuschreibungen und deren kogitiver (appraisal) und emotionaler (valuation) Bewertung in sozialen Netzwerken und sozialen Welten als Synergie kollektiver und subjektiver mentaler Repräsentationen konstituiert in fortlaufenden Prozessen des Aushandelns von Identität über die Lebensspanne.“563 „In differenzierten Identitätsprozessen des ,Aushandelns‘ emanzipiert sich Identität, und ist, indem sie sich wieder und wieder selbst überschreitet, als eine ,transversale Identität‘ zu sehen.“564 So ist auch für Petzold die Identität, „wie bisher aufgezeigt wurde, nichts Starres, sondern etwas Bewegliches, sich Entwickelndes. Identität geschieht prozesshaft, aus Sicht des Integrativen Ansatzes ,konstituiert‘ sie sich.“565 Für Petzold (1994d) kann „Identität […] definiert werden als das Ergebnis der Syntheseleistung des Ichs in der Verarbeitung von reziproken Identifizierungen aus vielfältigen sozialen bzw. kulturellen Kontexten (Fremdattributionen, Fremdbilder), ihrer emotionalen Bewertung (valuation), kognitiven Einschätzung (appraisal) aufgrund soziokultureller Normen und ihrer Verbindung mit Identifikationen (Selbstattributionen, Selbstbilder) in einem permanenten, transversalen Prozess der ,Identitätsarbeit‘, der eine hinlängliche Konsistenz des Identitätserlebens und zugleich eine Flexibilität von Identitätsstilen über die Zeit hin gewährleistet sowie eine variable, vielfacettige Identitätsrepräsentation im sozialen bzw. kulturellen Kontext/Kontinuum ermöglicht.“566

563 564 565 566

Petzold 2001p, 57 Petzold 2001p, 57 Petzold 2001p, 2 Petzold 1994d, zit.n. Petzold 2001p, 40

4.1 Identität – elastische Deutungen aus multidisziplinärer Perspektive

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In der integrativen Identitätstheorie gibt es fünf wesentliche Identitätsbereiche, die auch als fünf Säulen der Identität bezeichnet werden: Abbildung 23:

Fünf Säulen der Identität.

(Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung Petzold (2001p), S. 51 ff.)

 Körperliche und psychische Integrität Leib /  Sexualität Leiblichkeit  Selbstliebe  Sinne  Genussfähigkeit

In diesem Bereich gehört alles, was mit meinem Leib zu tun hat., ,in mir drin‘ ist, mit seiner Gesundheit seinem Kranksein, seiner Leistungsfähigkeit, seinem Aussehen, mit der Art und Weise wie sich der Mensch mag und ;in seiner Haut‘ wohl oder eben auch unwohl fühlt. Auch wie der Mensch von anderen in seiner Leiblichkeit wahrgenommen wird, ob sie ihn anziehend finden oder ablehnend, schön finden oder hässlich, als gesund – vital oder las krank – gebrechlich erleben, etc.

Persönlichkeit und Identität werden nachhaltig bestimmt von sozialen Beziehungen, dem sozialen Netzwerk, also den Menschen, die für jemanden wichtig sind, mit denen er zusammen lebt und arbeitet, auf die er sich verlassen kann und denen er etwas bedeutet. Aber es gehören auch Leute zum sozialen Netzwerk, die ihm nicht wohlgesonnen sind, feindselig gegenüberstehen oder auch schaden. Tätigkeiten, Arbeit, mein ,Tätig-sein‘, mit der ich mich iden Kontrolle tifiziere und mit der ich identifiziert werde. Ein weiterer Beüber die eigreich der Identität kann unter die Überschrift Arbeit, Leistung, nen LebensArbeit / ,tätig-sein‘ gestellt werden. Arbeitsleistungen, Arbeitszufriebedingungen Leistung / denheit, Erfolgserlebnisse, Freude an der eigenen Leistung, Freizeit  Selbstbestimaber auch entfremdete Arbeit. Arbeitsüberlastung, überformung dernde sowie erfüllte oder fehlende Leistungsansprüche be Autonomie stimmen die Identität nachhaltig. Die Identität wird weiterhin beeinflusst von den materiellen  Allgemeine Sicherheiten, dem Einkommen, Geld, materielles wie Nahsoziale Absirung, Kleidung, Lebensbedarf, Weiterbildungsmöglichkeiten, cherung Materielle den Dingen, die jemand besitzt, seiner Wohnung oder Haus, Sicherheiten  Arbeitsplatz aber auch dem ökologischen Raum, dem er sich zugehörig  Wohnung fühlt, dem Stadtteil in sich beheimatet fühlt oder wo er ein  finanzielle Fremder ist. Fehlende materielle Sicherheiten belasten das Sicherheit Identitätserleben schwer.  Lebensziele Persönlichen Werte und Normen, sie sind der fünfte Bereich, welcher meine Persönlichkeit und Identität trägt.  Wünsche  Sinn des Le- Das, was jemand für richtig hält, von dem er überzeugt ist, wofür er eintritt und von dem er glaubt, dass es auch für anbens Werte / dere Menschen wichtig sei. Normen  Glaube  Spiritualität Das können religiöse oder politische Überzeugungen sein, die ,persönliche Lebensphilosophie‘, wichtige Grundprinzipien.  Moral  Erziehung  Partnerschaft Soziales  Familie Netzwerk /  Soziale BeBeziehunziehungen gen / soziale  FreundschafBezüge ten

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Eine zentrale Säule ist der Bereich Arbeit und Leistung, da oftmals die materielle Sicherheit, aber auch das soziale Netzwerk damit zusammenhängen. Petzold/Orth (1994) beschreiben für die Säule Arbeit und Leistung folgende Charakteristiken: Leistungen, die wir im Arbeitsbereich erbringen, Arbeitszufriedenheit, Erfolgserlebnisse, Freude an der eigenen Leistung, entfremdende Arbeit, Arbeitsbelastung, überfordernde Leistungsansprüche, erfüllte Leistungsansprüche, fehlende Leistungsansprüche, Bereich der Freizeit.567 Zur Identitätskrise kann es kommen, wenn eine oder mehrere Säulen ,wegbrechen‘ oder sich plötzlich stark verändern und die anderen Säulen die Identität nicht ausreichend stabilisieren können.568 Für jeden einzelnen Identitätsbereich gelten in den Identitätsprozessen folgende Elemente, die über das Erkennen der Besonderheiten und der Vielfalt überhaupt erst eine Unterscheidbarkeit ermöglichen.569 1. Fremdzuschreibungen (auch Fremdattributionen oder Identifizierungen genannt) 2.

Selbstzuschreibungen (auch Selbstattributionen oder Identifikationen genannt) – aufgrund der Bewertungen wird es möglich, sich mit den Attributionen insgesamt oder partiell zu identifizieren, sie mit einer Identifikation zu belegen.

3.

Bewertung dieser eingehenden Attribution/Information auf verschiedenen Ebenen:  Marking: Markierungsprozesse auf psychophysiologischem Niveau aufgrund evolutionärer Programme im limbischen System  Valuationen: emotionale Bewertung auf psychischem Niveau  Appraisal: kognitive Einschätzung auf rationalem Niveau

4.

Internalisierung – sind die Identifikationen erfolgt, können sie dauerhaft mit den zur Identifikation führenden Prozessen internalisiert, im Langzeitspeicher archiviert werden.570

Petzold greift in seinem Ansatz der ,Integrativen Identitätstheorie‘ u.a. auch das Konzept der ,représentations sociales‘ von Moscovici auf, das sich wiederum an 567 568 569 570

Vgl. Petzold/Orth 1994a, S. 375 ff. Vgl. Petzold/Orth 1994a, S. 374 Vgl. Petzold 2000h, zit.n. Orth 2002, S. 3 Vgl. Petzold 2001p, S. 49 ff.

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dem Denken von […] Mead orientiert: „Entwicklungspsychologie kann ohne die Berücksichtigung der sozialen Realität, in der Entwicklung stattfindet, nicht betrieben werden. […] Der Mensch ist in soziale Kontexte eingebettet und bildet in ihnen seine Persönlichkeit aus, beeinflusst durch die umgebende Kultur und Sozialwelt mit ihren kollektiven Repräsentationen, die die individuellen prägen.“571 Moscovici (1976): „Soziale Repräsentationen sind ein System von Werten, Ideen und Praktiken mit einer zweifachen Funktion: einmal, um eine Ordnung herzustellen, die Individuen in die Lage versetzt, sich in ihrer materiellen und sozialen Welt zu orientieren und sie zu beherrschen, zum anderen um zu ermöglichen, dass zwischen den Menschen einer Gemeinschaft Kommunikation stattfinden kann, indem ihnen ein Code zur Verfügung gestellt wird für sozialen Austausch und ein Code für ein unzweifelhaftes Benennen und Klassifizieren der verschiedenen Aspekte ihrer Welt und individuellen Gruppengeschichte.“572 „Wo solche Codes nicht bestehen oder keine hinreichende ,Passung‘ zwischen ihnen vorliegt, kommt es zu Konflikten – in der Außen- wie in der Innenwelt.“573 Eine Identifikation findet so nicht statt. Petzold (1973) hat ein Konzept eingeführt, welches auf einer ,social-worldperspective‘ beruht: das Konzept der ,professional communities‘, die er definiert: ,als eine „Makro- oder Mesogruppierung‘ von Menschen, die einerseits im gesellschaftlichen Kontext als Ausübende einer bestimmten Profession mit einer gemeinsamen Interessenlage und Interessenvertretung identifiziert werden und die sich andererseits mit ihrer Profession identifizieren, berufsständische Normen, Regeln und Organisationsformen herausbilden und ein ,professionelles Bewusstsein entwickeln‘. Das Maß der ,professionellen Identität‘ des einzelnen wie der Gesamtgruppierung hängt von der Prägnanz der Gruppenbildung, also dem Grad ihrer Organisiertheit, Kohärenz, Interessenverfolgung ab, weiterhin von verbindenden Zielen, Werten und Konzepten sowie der gesellschaftlichen, durch Wissen, Kapital, Einfluss, Tradition gesicherten Macht, d.h. von ihrer Präsenz als ,commercial community‘ im Markt“.574

571 572 573 574

Petzold 2001p, S. 27 Moscovici (1976), S. 3, zit.n. Petzold 2001p, S. 27 Petzold 2003b, zit.n. Petzold 2001p, S. 27 Petzold 1998, S. 113

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4.1.6 Habitus zwischen Abgrenzung und geteilter Wirklichkeit „Das Konzept der Identität ist konzentriert auf die Prozesse der Reflexion und Interaktion, mittels derer Individuen Selbstbilder und Gruppenbilder herstellen. Identitäten werden über soziale Benennungs- und Bezeichnungspraktiken gebildet. Sie sind ein kommunikatives Prinzip, das in Abhängigkeit vom zeitlichen und kulturellen Wandel der Gesellschaft und der Individuen wirksam wird.“575 Der Habitus eines Menschen ist wiederum ein Teil der Identität. Mead (2005) deutet hierauf hin, indem er ausführt: „Wir würden nur allzu gern gewisse Dinge vergessen, gewisse Aspekte der Identität loswerden, die mit unseren vergangenen Erfahrungen verbunden sind“.576 „Die selbstverständlichen und den Einzelnen oft nicht bewussten Gewohnheiten und Routinen ihres Handelns werden in der Soziologie als Habitus bezeichnet.“577 Der Begriff des Habitus wird im Lateinischen mit ,Gehabe‘, ,Beschaffenheit‘, ,erworbene Eigentümlichkeit‘ oder auch ,an sich tragen‘ übersetzt. […] Neben der allgemeinen Definition, die mit dem Habitus das äußere Erscheinungsbild einer Person beschreibt, gibt es noch weitere Definitionen auf Spezialgebieten wie z.B. der Medizin und Psychologie. In diesen Bereichen wird der Habitus als ein ,gesamtes Erscheinungsbild‘ verstanden, das sowohl das Aussehen als auch das Verhalten von Personen einbezieht. Die individuellen Besonderheiten einzelner Personen werden genutzt, um fachliche Erkenntnisse zu gewinnen.578 Die Soziologie versteht unter dem Begriff des Habitus die Besonderheiten des persönlichen Verhaltensstils, die sich durch das äußere Erscheinungsbild ausdrücken und Rückschlüsse auf Klassenzugehörigkeiten einer Person und die damit verbundenen Einstellungen und Prägungen ermöglichen.579 „Typen und Besonderheiten von Menschen in bestimmten Gesellschaften zu einer bestimmten Zeit werden als Identität und als Habitus sichtbar. […] Identitäten und Habitus entstehen aufgrund vermittelnder Prozesse zwischen Kultur, Gesellschaft und Individuen.“580 Die Begriffe Identität und Habitus werden bezeichnet als „Verhaltensdispositionen, die Menschen im Verlauf ihres Lebens entwickeln. Individuen statten 575 576 577 578 579 580

Liesch 2010, S. 83 Mead 2005, S. 185 Scherr 2010, S. 54 Vgl. Brockhaus Enzyklopädie in 30. Bänden 2006, S. 662 Vgl. Brockhaus Enzyklopädie in 30. Bänden 2006, S. 662 Liesch 2010, S. 70

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sich selbst mit bestimmten sozialen Merkmalen aus und ordnen sich sozialen Gruppen zu. Auch werden sie von anderen zugeordnet und sozial typisiert.“581 „Sie stehen zum einen in Bezug zu den Strukturen und den sozialen Regeln und Normen der Gesellschaft und/oder Gemeinschaft, in der sie sich ausbilden. Zum anderen sind sie an ein handelndes Individuum gebunden, das die sozialen Muster und Typisierungen darstellt und repräsentiert.“582 „Der Habitus ist die Grundhaltung eines Menschen zur Welt und zu sich selbst. Der Habitus besteht aus den Denk-, und Verhaltensstrukturen, die die Möglichkeiten und Grenzen des Denkens und Handelns eines Menschen bestimmen. Der Habitus legt fest, was ein Mensch sich zutraut, welche Wahrnehmungskategorien er besitzt, was für ihn denkbar ist, welches Verhalten für ihn so selbstverständlich ist, dass er nicht darüber nachdenkt, welches schwer vorstellbar und durchführbar ist und welches vollkommen unmöglich für ihn erscheint. Die Unterschiede der verschiedenen Habitus' verschiedener Menschen zeigen sich in unterschiedlichen Arten zu essen, sich zu kleiden, sich zu bewegen (z.B. aufrechter Gang oder gebeugter Gang), aber auch in unterschiedlicher Lebensführung und Lebenszielen, Selbstverständnis, Weltsicht und Selbstbewusstsein bzw. Selbstsicherheit.“583 „Man kann also den Habitus einer Person an deren Handlungen erkennen und rekonstruieren. Das ist insbesondere für die Soziologie bedeutsam, kommt sie doch damit ohne den Blick in das ,Innere‘, auf die subjektiven Beweggründe, geheimen Wünsche, offenen und verdeckten Motive, Triebe o.Ä. des Menschen aus, und das heißt: ohne Psychologie.“584 „Die Begriffe Identität und Habitus machen deutlich, dass handelnde Menschen und die Bedingungen und Ergebnisse ihres Handelns als soziale Formen und Strukturen und als soziale Prozesse beschrieben werden müssen. Identitäten und Habitus sind Ausdruck von sozialen Verhältnissen, Situationen und Beziehungen, die einmal schnell, einmal langsam, einmal vorstrukturiert und ein anderes Mal selbst gestaltet worden sind. Sie machen Aussagen zu zentralen Fragen der Soziologie, indem sie das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft als wechselseitig, das Verhältnis von Struktur und Handlung als prozesshaft und das Verhältnis von Normierung und Wandel

581 582 583 584

Liesch 2010, S. 70 Liesch 2010, S. 70 Reimann 2012, S. 298 Krais/Gebauer 2010, S. 26

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4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

als dialektisch beschreiben.“585 Identität und Habitus, beide verbinden „die mikrosoziologische Ebene des Handelns von Individuen mit der makrosoziologischen Ebene der gesellschaftlichen Strukturen.“586 4.1.6.1 Das Habitus-Konzept von Pierre Bourdieu – die Theorie der einverleibten sozialen Struktur Der Begriff Habitus wurde von Bourdieu eingeführt. In ,Die feinen Unterschiede‘ beschreibt er auf empirischer Basis, dass der Habitus zwischen den gesellschaftlichen Gruppierungen gleichzeitig Unterschiede erzeugt und stabilisiert. Es geht hier um einen soziologischen Begriff, der im Grunde genommen auch entwicklungspsychologische Inhalte aufgreift. In seinem Habitus-Konzept greift Bourdieu den von Elias zuvor benutzten Begriff des ,sozialen Habitus‘ auf, modifiziert und entwickelt diesen bedeutsam weiter. Elias (1897-1990) bezeichnet den sozialen Habitus als das „Gepräge, das er mit allen anderen Mitgliedern der Gesellschaft teilt“.587 Bei Bourdieu wird der ,Habitus‘ als Verbindung „zwischen Gesellschaftsstruktur und individueller Praxis gesehen, welche als empirische Essenz von ,Kultur‘ begriffen wird. ,Kultur‘ sei damit das, was die Menschen an gesellschaftlichen Strukturen inkorporiert haben.“588 Die ,Individuum gewordene Gestalt von Gesellschaft‘ wird im Habitus rekonstruiert.589 „Der Habitus fungiert als Schnittstelle zwischen Körper und Gesellschaft, ist als Brücke zwischen ,Struktur und Handlung, sozialer Wirklichkeit und Repräsentation‘ sowie zwischen ,Individuum und Gesellschaft‘ wirksam.“590 Ziel des Konzepts ist es, die Konstitution, Handlungsbedingungen, aber auch Handlungsmöglichkeiten des Menschen als vergesellschaftetes Subjekt zu analysieren. Der analytische Ansatz des Habitus-Konzepts wird herangezogen, um zu klären, welche individuellen Voraussetzungen für ein professionelles Handeln erforderlich sind. Der Habitus ist als eine unerlässliche Bedingung des Handelns definiert.591 Bourdieu versteht Habitus als „ein Zusammenspiel bereits im Voraus assimilierter Grundmuster. Diese bringen ähnlich wie die Regeln einer ars inveniendi 585 586 587 588 589 590 591

Liesch 2010, S. 84 Liesch 2010, S. 70 Elias 2003, S. 244 Matys 2005, S. 5 f. Liebau 1987, S. 61 Barlösius 2006, 46 f., zit.n. Baar 2010, S. 34 ff. Bourdieu 2003, S. 143

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(vom lat. ars ,Kunst‘ und invenire ,erfinden‘), die sich mit der musikalischen Kompositionsweise vergleichen ließe, eine Unzahl einzelner Schemata hervor, die sich ohne weiteres auf den Einzelfall anwenden lassen.“592 Liebau (1987) und Bourdieu (1997) analysieren das Individuum nicht als normatives Einzelwesen, sondern als sozialen Akteur par excellance, in dessen individuellen Dispositionen die kollektive menschliche Geschichte eingelagert ist.593 Wenn von Habitus die Rede ist, so ist immer ein gruppenspezifischer Habitus, ein „subjektives, nicht individuelles System verinnerlichter Strukturen“594 gemeint, welches die Mitglieder einer sozialen Gruppe „durch ein Verhältnis der Homologie vereinheitlicht, d.h. durch ein Verhältnis der Vielfältigkeit in der charakteristischen Homogenität ihrer gesellschaftlichen Produktionsbedingungen widerspiegelt: Jedes System individueller Dispositionen ist eine strukturale Variante der anderen Systeme. […] Der eigene Stil, d. h. das besondere Markenzeichen, das alle Hervorbringungen desselben Habitus tragen, seien es nun Praktiken oder Werke, ist im Vergleich zum Stil einer Epoche oder Klasse immer nur Abwandlung.“595 So lässt sich phänomenologisch „Habitus begreifen als Etwas für eine bestimmte Gruppe Spezifisches bzw. Typisches, welches sich als spezifisch/typisch identifizieren lässt, und von den Einzelindividuen dieser Gruppe stark verinnerlicht ist“.596 Bourdieu definiert den Habitus „als ein System verinnerlichter Muster (Inkorporationen) bzw. dauerhafter Dispositionen die die typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen in einer Gesellschaft bzw. einer Kultur erzeugen.“597 Der Habitus samt seiner habituellen Lebensstile ist ein vielschichtiges System von inkorporierten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmustern598, das die Ausführungen und Gestaltung individueller Handlungen und

592 593 594 595 596 597 598

Bourdieu 2003, S. 143 Vgl. Liebau 1987, S. 60 f.; Bourdieu 1997, S. 61 f.; Fuchs-Heinritz/König 2005, S. 114 f. Bourdieu 1989 Bourdieu 1987 Schämann 2005, S. 48 Bourdieu 2003, S. 143 Anmerkung: Wahrnehmungsschemata: Sie strukturieren die alltägliche Wahrnehmung der sozialen Welt (sensueller Aspekt der praktischen Erkenntnis); Denkschemata: zu ihnen sind (a) die Alltags-,Theorie‘ und Klassifikationsmuster zu zählen, mit deren Hilfe die Akteure die soziale Welt interpretieren und kognitiv ordnen, (b) ihre impliziten ethischen Normen zur Beurteilung gesellschaftlicher Handlungen, d.h. ihr ,Ethos‘ und (c) ihre ästhetischen Maßstäbe zur Bewertung kultureller Objekte und Praktiken, kurz ihr ,Geschmack‘; Handlungsschemata: Sie bringen die (individuellen und kollektiven) Praktiken der Akteure hervor. (vgl. Schwingel 1998, S. 56).

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Verhalten mitbestimmt.599 So können z.B. Geschmack, Stil, Neigungen, Vorlieben, Einstellungen, Fähigkeiten, Werte, Normen und Grundüberzeugungen als Handlungskompetenzen und als vorreflexive Orientierungen betrachtet werden, die im Habitus sichtbar werden.600 „Diese gelten als kollektive interiorisierte ,generative Handlungsgrammatik‘601 und können prinzipiell eine unbegrenzte Zahl von Handlungen, symbolischen Darstellungen und Strategien hervorbringen.“602 Für Bourdieu bildet „der Habitus ,körperliche Dispositionen‘, er ist ,Leib gewordene und Ding gewordene Geschichte‘, gleichsam in den Körper eingeschrieben.“603 Er „zielt auf die Benennung von wiederkehrenden und charakteristischen Verhaltensweisen, die leiblich gebunden und größtenteils unbewusst vollzogen werden.“604 Die ,Unterbewußtheit‘ gehört offenbar zum Habitus. So betont Bourdieu (1976:200) etwa: „Das derart Einverleibte findet sich jenseits des Bewußtseinsprozesses angesiedelt, also geschützt vor absichtlichen und überlegten Transformationen, geschützt selbst noch davor, explizit gemacht zu werden: Nichts erscheint unaussprechlicher, unkommunizierbarer, unersetzlicher, unnachahmlicher und dadurch kostbarer als die einverleibten, zu Körpern gemachten Werte“. Zentral scheint für Bourdieu (1976:190) die Nachahmung von Handlungen anderer zu sein „ohne im Bewußtsein thematisiert oder erklärt werden zu müssen.“605 Wichtig für das Verständnis des Habitus ist, dass er sich durch eine „praktische Reflexionstätigkeit“ auszeichnet, die wir, so Bourdieu, „mit den üblichen Begriffen von Denken, Bewusstsein und Erkenntnis nicht adäquat wirklich fassen können.“606 Er umfasst demnach mehr als die kognitive Ebene. Die soziale Welt wird unmittelbar vertraut, spricht direkt die körperliche Motorik an, wird ,einverleibt‘ und ,verinnerlicht‘. Das praktisch-körperliche Wissen ist in gewisser Weise reflexiv unverfügbar.607 599 Vgl. Liesch 2010, S. 74 600 Vgl. Becker-Lenz/Müller 2009, S. 14 601 Anmerkung: „In der Terminologie der generativen Grammatik von Noam Chomskys ließe sich der Habitus als ein System verinnerlichter Muster definieren, die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen und nur diese.“ (Bourdieu 2003, S. 143) 602 Bourdieu 1974, S. 180 603 Bourdieu 1995, S. 69 604 Liesch 2010, S. 83 605 Bourdieu 1976, S. 190 f., zit.n. Knoblauch 2003, S. 191 f. 606 Bourdieu/Wacquant 1996, S. 154 607 Vgl. Krais/Gebauer 2002, S. 74 ff., zit.n. Bremer 2005, S. 56

4.1 Identität – elastische Deutungen aus multidisziplinärer Perspektive

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Im Habituskonzept nach Bourdieu ist der ,modus operandi‘608 ein zentraler Aspekt. Nach Bourdieu hat der Habitus in der Sozialisation eine Doppelfunktion, indem er Praxisformen generiert ,modus operandi‘ und als Praxisform erscheint ,modus operatum‘.609 „Der ,modus operandi‘ produziere sowohl Praxisformen wie auch Wahrnehmungs-, Bewertungs-, und Denkschemata, die als fertige Produkte, dem ,mopus operatum‘, empirisch analysierbar seien.“610 „Von daher wird verständlich, dass sich der ,modus operandi‘ im ,mopus operatum‘ zu erkennen gibt, und nur da.“611 Dazu skizziert Bourdieu den Habitus als „ein sozial konstituiertes System von strukturierten und strukturierenden Dispositionen, das durch Praxis erworben wird und konstant auf praktische Funktionen ausgerichtet ist.“612 Bourdieu (1987) drückt dies so aus: „Über den Habitus regiert die Struktur, die ihn erzeugt hat, die Praxis.“613 Die Theorie des „Habitus bleibt unvollständig ohne einen Strukturbegriff.“614 „Da der Habitus die (Sozial-) Struktur615 (Feld) reproduziert, aus der er hervorgegangen ist, verkörpert er gleichzeitig strukturierte und strukturierende Struktur.“616 Die „Schemata wirken dabei als Dispositionssystem zusammen, bedingen sich wechselseitig, sind dem Akteur/der Akteurin zwar nur peripher bewusst und entziehen sich weitgehend einer Reflexion, dienen gleichwohl aber als Orientierungssinn und Grundlage für die angemessene Interaktion innerhalb der sozialen Welt.“617 Liebau (1987) und Bourdieu (1997) betonen, dass der Habitus inkorporiert fest verankert ist und dieser zusammen mit Alltagserkenntnissen nach dem Muster einer self-fulfilling-prophecy funktioniert. Demnach sind Veränderungen nur

608 609 610 611 612 613 614 615

Bourdieu 1976, S. 164 Vgl. Hurrelmann 2008, S. 241 Barlösius 2006, S. 58 Bourdieu 2003, S. 151 Bourdieu/Wacquant 1996, S. 154 Bourdieu 1987, S. 102 Bourdieu/Wacquant 1996, S. 40 Anmerkung: „Die Sozialstruktur bezeichnet ein Muster von Beziehungen, Positionen und Mengen von Individuen. Dieses Muster bildet das ,Grundgerüst‘ der sozialen Organisation einer Population, gleichgültig ob es sich um kleine Gruppe oder eine ganze Gesellschaft handelt. Beziehungen entstehen, sobald Menschen in relativ stabile, kontinuierliche Muster spezifischer Interaktionen und/oder gegenseitiger Abhängigkeiten eintreten - beispielsweise Ehen oder Beschäftigungs-verhältnisse auf der interpersonalen Ebene oder Institutionen wie das […] Gesundheitswesen auf einer umfassenderen, mehr abstrakten Ebene.“ (Joas 2007, S. 16) 616 Matys 2005, S. 5 f. 617 Baar 2010, S. 35

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möglich, wenn dieser Zirkel durch (individuelle oder kollektive) Krisen oder durch kulturelle Kontakte erschüttert wird.618 Zu dem Werk von Bourdieu gehört der Begriff Feld mit Habitus und Kapital zu den zentralen Begriffen. Die beiden Begriffe ,Habitus‘ und ,Feld‘ sind auch in dem Sinne relational, dass sie nur in Verbindung miteinander richtig funktionieren.619 „Das Feld strukturiert den Habitus, der das Produkt der Inkorporierung der immanenten Notwendigkeit dieses Felds ist (Konditionierung) und andererseits trägt der Habitus dazu bei, das Feld als signifikante, sinn- und werthaltige Welt zu schaffen, in die sich die Investition von Energie lohnt (Erkenntnis bzw. kognitiver Konstruktion).“620 „Da der Habitus das inkorporierte Soziale ist, ist er auch in dem Feld zu Hause, in dem er ich bewegt und das er unmittelbar als sinnund interessenhaltig wahrnimmt.“621 „Ein Feld besteht aus einem Ensemble objektiver historischer Relationen zwischen Positionen, die auf bestimmten Formen von Macht (oder Kapital) beruhen, während der Habitus ein Ensemble historischer Relationen darstellt, die sich in Gestalt der geistigen und körperlichen Wahrnehmungs-, Bewertungs-, und Handlungsschemata in den individuellen Körpern niedergeschlagen haben.“622 Bourdieus Begriff des sozialen Felds meint differenzierte gesellschaftliche Bereiche, mit eigenen Ressourcen und eigenen Spielregeln für das soziale Verhalten innerhalb dieses Felds.623 „Innerhalb von Feldern geht man davon aus, dass die Akteure um soziale Positionen konkurrieren, das führt dazu, dass sich soziale Strukturen etablieren. Soziale Strukturen im Sinne sozialer Räume in denen die AkteurInnen unterschiedliche relative Positionen zueinander einnehmen, je nach dem in welchem Ausmaß diese verschiedene Ressourcen besitzen.“624

618 619 620 621 622 623 624

Vgl. Liebau 1987, S. 63 ff.; Bourdieu 1997, 62 f. Vgl. Bourdieu/Wacquant 1996, S. 40 Bourdieu/Wacquant 1996, S. 160 f. Bourdieu/Wacquant 1996, S. 161 f. Bourdieu/Wacquant 1996, S. 36 f. Vgl. Müller, H.P. 1992, S. 263 Vgl. Anheier et al. 1995, S. 860; zitiert in Rehbein 2003, S. 84 f.

4.1 Identität – elastische Deutungen aus multidisziplinärer Perspektive

173

„Wiederum besteht der Unterschied zwischen Feld und sozialem Raum625 darin, dass auf einem Feld jeweils spezifische Formen des Kapitals und des Handelns (bzw. von Dispositionen) relevant sind. Das soziale Feld bildet die Handlungsebene, das ,Spielfeld‘, innerhalb des sozialen Raumes.“626 Der dritte zentrale Begriff von Pierre Bourdieu ist das Kapital. Hierbei unterscheidet er zwischen vier Kapitalsorten (Ökonomisches, Kulturelles, Soziales und Symbolisches Kapital), welche die Position der Person in der Klassengesellschaft und die Platzierung im sozialen Raum beeinflussen. Während das ökonomische Kapital z.B. Finanzen, Geld und Besitz usw. umfasst, gehören zum sozialen Kapital z.B. Beziehungsnetzwerke und die Zugehörigkeit – wobei der Umfang und Ausprägung von der Größe und Qualität und auch mit der Verbindung zum ökonomischen und kulturellen Kapital abhängen. Da die Beziehungen beim sozialen Kapital im Zentrum stehen, basiert das soziale Kapital auf Vertrauen, Kooperation und gegenseitiger Unterstützung. Zum kulturellen Kapital zählen einerseits das objektive Kulturkapital (gemeint sind hier kulturelle Güter wie z.B. Musik, Bücher, Gemälde, Wissen, Zugang zur Bildung); anderseits das inkorporierte Kulturkapital (welches von Einzelpersonen internalisiert und angeeignet wurde) und weiter das institutionalisierte Kulturkapital (wie z.B. die Beachtung und Anerkennung von Normen und Regeln innerhalb der Netzwerke). Das symbolische Kapital besteht aus z.B. Adels-, Bildungs- und Berufstiteln, Prestige, Renommee, aber auch Habitus, Lifestyle, Körpersprache, Umgangsformen, Kleidung. Es sind Merkmale, welche die anderen Kapitalsorten wahrnehmbar machen und eine gesellschaftliche Aufmerksamkeit und Anerkennung durchzusetzen können. Zu erkennen ist, dass die Kapitalsorten untereinander in Verbindung stehen und sich gegenseitig beeinflussen.627 Dazu führen Krais/Gebauer (2002) aus: „die Ausstattung mit Kapital, die Art des Kapitals und die Kombination einzelner Kapitalsorten werden zu Unterscheidungsmerkmalen der Individuen und bestimmen gleichzeitig ihre Positionen im sozialen Raum.“628 „Die soziale Stellung eines Akteurs ist folglich zu 625 Anmerkung: Die Verteilungsstrukturen des gesamtgesellschaftlichen und des individuellen Kapitals, d. h. Vermögens im umgreifenden Sinn, zeichnet Bourdieu in einem konstruierten dreidimensionalen sozialen Raum nach. Er untersucht die Kapitalausstattung von Individuen und Gruppen anhand von Merkmalen wie Beruf, Einkommen und Ausbildungsniveau als wichtigste Lebensbedingungen, erweitert durch für ihn sekundäre Merkmale wie Geschlecht, Alter, Ethnie, Nationalität. (Bordieu et al. 2001, S. 107 f.; deacademic.com 2018) 626 Rehbein 2003, S. 84 f. 627 Vgl. Bourdieu 1995, S. 10 f. 628 Krais/Gebauer 2002, S. 36

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4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

definieren anhand seiner Stellung innerhalb der einzelnen Felder, das heißt innerhalb der Verteilungsstruktur der in ihnen wirksamen Machtmitte (Kapitalsorten/Kapitalvolumen).“629 „Die Struktur des Feldes gibt den Stand der Machtverhältnisse zwischen den am Kampf beteiligten Akteuren oder Institutionen wieder, bzw., wenn man so will, den Stand der Verteilung des spezifischen Kapitals, das im Verlauf früherer Kämpfe akkumuliert wurde und den Verlauf späterer Kämpfe bestimmt.“630 Grundsätzlicher Inhalt der Auseinandersetzung sind immer die Macht und die Anteile am jeweils feldspezifischen symbolischen Kapital. Dieser Grundkonsens über die Existenz eines feldspezifischen symbolischen Kapitals und damit über die Basis der Spielregeln für die Auseinandersetzung bezeichnet Bourdieu als ,Doxa‘ bzw. ,Feldspezifische Illusio‘ eines Praxisfelds. Für AkteurInnen außerhalb des Felds ist sowohl die Doxa als auch das Spiel nicht nachvollziehbar – die Wirkung der Illusio ist daher auch die Wirkung des Felds, mit dem Ende dieser Feldeffekte sind auch die Grenzen des Felds erreicht.631 „Am anschaulichsten jedoch, zeigt sich die Logik der offiziellen Nomination am Titel, der als Adels-, Bildungs- wie Berufstitel gesellschaftlich verbürgtes, im Weiteren sogar juristisch abgesichertes symbolisches Kapital verkörpert.“632 Mitglieder einer Gesellschaft weisen milieuspezifische Unterschiede im Habitus auf. „Der Erfahrungshorizont des Subjekts bezieht sich nicht auf die Gesellschaft im Ganzen. Alle Akteure gehören einem sozialen Raum an. Dieser soziale Raum kann einerseits als Raum von sozialen Unterschieden und Abgrenzungen, andererseits als Raum sozialer Beziehungen betrachtet werden. Die Unterscheidungen und Abgrenzungen zwischen den Individuen und Gruppen basieren auf der unterschiedlichen Verfügung über ökonomisches und kulturelles Kapital.“633 „Die Distanz zwischen den Positionen im sozialen Raum spiegelt sich in der Art und Weise der Lebensführung wider. Die Unterschiede äußern sich in divergierenden Geschmacksvorstellungen, voneinander abweichenden Sichtweisen

629 Bourdieu 1995, S. 10 630 Bourdieu et al. 2001, S. 108 631 Vgl. Bourdieu et al. 2001, S. 109; Hillebrandt 1999, S. 16; Fuchs-Heinritz, König 2005, S. 146 f.; Bohn 2005, S. 64 632 Bourdieu 1995, S. 26 633 Vgl. Krais/Gebauer 2002, 36, zit.n. Ebert 2011, S. 14 f.

4.1 Identität – elastische Deutungen aus multidisziplinärer Perspektive

175

der Welt und einer andersgearteten Lebenspraxis. Individuen, die die gleiche Position im sozialen Raum einnehmen, bilden eine soziale Gruppe. Sie haben ähnliche Haltungen, Wert- und Normvorstellungen.“634 „Die unterschiedlichen Praktiken, Besitztümer, Meinungsäußerungen erhalten ihren sozialen Sinn also dadurch, dass sie etwas anzeigen, soziale Unterschiede nämlich, die Zugehörigkeit zu der einen oder zu der anderen sozialen Gruppe oder Klasse.“635 Hieraus folgt, dass Individuen, welche dem gleichen Milieu entstammen, weniger Probleme haben, sich zu verstehen, da sie sich auf eine ähnliche Lebensführung bzw. eine gemeinsame soziale Lage beziehen. Diese soziale Lage findet ihre Entsprechung im Klassenhabitus, der wiederum in Körperhaltung, Gestik und Sprechweise, aber auch in den abstrakten Vorstellungen von Ethik und Kultur, dem ästhetischen und moralischen Empfinden zum Ausdruck kommt.636 „Soziale Milieus können nach diesem Ansatz verstanden werden als eine Gruppe von Menschen, die aufgrund eines bestimmten Habitus über eine ähnliche Lebensweise verfügen. Über den Habitus tragen die Akteure quasi den ‚inneren Bauplan‘ des Milieus in sich; das Milieu ist nicht einfach die ‚äußere prägende Umwelt‘.“637 Bourdieu unterscheidet an dieser Stelle zwischen Individualhabitus und Klassenhabitus.638 Beim Klassenhabitus geht es um durchschnittliche, typische Wahrnehmungs-, Denk-, Urteils- und Handlungsmuster einer Klasse und beim Individualhabitus um individuelle Stilvarianten dieser kollektiven Muster.639 „Jeder soziale Akteur hat einen Habitus ausgebildet, der es ihm erlaubt, in einem sozialen Feld sinnvoll zu agieren. Seiner Position im sozialen Feld entsprechend verfügt er hierbei über mehr oder weniger Handlungsmöglichkeiten.“640 4.1.6.2 Habitus versus Deutungsmuster – der professionelle Habitus Ulrich Oevermann (1973) stützt sich in seinem Deutungsmusterkonzept auch auf den Bourdieu‘schen Habitusbegriff, indem er die Habitusformation beschreibt

634 635 636 637 638 639 640

Ebert 2011, S. 15 Krais/Gebauer 2002, S. 37 Vgl. Krais/Gebauer 2002, S. 41 Bremer 2005, S. 57 Vgl. Liebau 1987, S. 61 f.; Schwingel 2005: 115, zit.n. Fuchs-Heinritz/König 2005, S. 114 f. Vgl. Liebau 1987, S. 66 ff. Ebert 2011, S. 16

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als „[…] jene tieflegenden, als Automatismus außerhalb der bewussten Kontrollierbarkeit operierenden und ablaufenden Handlungsprogrammierungen zusammen, die wie eine Charakterformation das Verhalten und Handeln von Individuen kennzeichnen und bestimmen.“641 Strukturell unterscheiden sich nach Oevermann die Habitusformationen und Deutungsmuster kaum642, sondern der „Unterschied zwischen ihnen ist insofern eher als gradueller anzusetzen auf einem Kontinuum der Tiefe der biographischontogenetischen Verankerung, mit der der Grad des Automatismus in ihrer Operationsweise variiert und entsprechend die Chance ihrer biographischen Veränderung durch neue Erfahrungen. Deutungsmuster lassen sich eher bewusst machen und durch bewusste Klärung und durch Konfrontation mit widersprechender Realität verändern.“643 Die Motive und Strebungen des Habitus sind bereits in den frühen psychischen Entwicklungen verwurzelt und sind daher eher unbewusst und emotional und affektiv aufgeladen. Anders die Deutungsmuster, deren Konzeption durch spezifische kognitive Entwicklungen erfolgte und denen eine emotionale und affektive Aufladung fehlen. Daher erfolgen die Bewertungen der Deutungsmuster auch auf der Ebene von kognitiven Sachurteilen.644 Zwei Komponenten bilden für Oevermann die Grundlage seines Deutungsmusterbegriffs: Zum einen die Konstruktion eines objektiven Sinns praktischer Handlungen und zum anderen die Versprachlichungsstrategien dieses objektiven Sinns im kollektiven oder individuellen Gedächtnis der Subjekte.645 Oevermann (2001a) versteht unter „Deutungsmustern […] in erster Annäherung das ‚ensemble‘ von Wissensbeständen, Normen, Wertorientierungen und Interpretationsmustern, das in einem inneren Zusammenhang stehend einen epochenähnlichen Zeitabschnitt in der Entwicklung einer Gesellschaft oder eines für die Formation einer Gesellschaft wesentlichen Segments prägt. In zweiter Annäherung soll von einem Deutungsmuster nur dann gesprochen werden, wenn dieses ‚ensemble‘ durch eine Struktur gekennzeichnet ist, die als ‚innere Logik‘ eines Deutungsmusters nach impliziten Regeln der Konsistenz von Urteilen, Argumenten und Interpretationen rekonstruiert werden kann.“646

641 642 643 644 645 646

Oevermann 2001b, S. 45 Vgl. Oevermann 2001b, S. 46 Oevermann 2001b, S. 46 f. Vgl. Oevermann 2001b, S. 46 ff. Vgl. Oevermann 2001a, S. 18 Oevermann 2001a, S. 9

4.1 Identität – elastische Deutungen aus multidisziplinärer Perspektive

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Ein weiterer Unterschied liegt in der Wandlungsfähigkeit. Während das Habituskonzept sowohl auf der Struktur- als auch auf der Praxisebene als ein beharrendes, reproduzierendes Modell erscheint, welches gegenüber wandelnden Realitäten resistenter ist, können Deutungsmuster bei Krisen in beiden Ebenen einen individuellen wie gesellschaftlichen Wandel zur Folge haben.647 Bei Oevermann geht es bei der Struktur der sozialen Deutungsmuster um „die Rekonstruktion mentaler Strukturen, die er als Rekonstruktion von Sinnzusammenhängen648 und Interpretationsmustern, die dem konkreten Handlungssubjekt als objektive Strukturen gegenübertreten“649, versteht. Für Oevermann bilden sich diese Deutungsmuster als Antworten auf immer wieder von neuem auftauchende objektive, krisenträchtige Problemstellungen, wie z.B. „Aufrechterhaltung von Gerechtigkeit“ und die „Sicherung des nackten Lebens.“650 Die Deutungsmuster werden in der Sozialisation bei Handlungsproblemen nicht von jedem neu entwickelt und bewältigt, sondern der Einzelne bedient sich u.a. auch von ,kollektiv verbürgte(n)‘ und ,in konkreten Milieus oder Lebenswelten verankerte(n) Muster ihrer routinierten Deutung‘.651 Deutungsmuster ermöglichen demnach dem Einzelnen seine Handlungsfähigkeit zu bewahren, indem sie sich als Deutungsroutinen einschleifen und so mehr oder weniger als verselbstständigte Theorien operieren. Um diese Funktion erfüllen zu können, müssen sie, nach Oevermann, einen „hohen Grad der situationsübergreifenden Verallgemeinerungsfähigkeit besitzen, […] sich in der Unterdrückung bzw. Auflösung potentieller Krisen bewahrt haben und […] angesichts der von daher erforderlichen Anwendbarkeit auf eine große Bandbreite konkret verschiedener Handlungssituationen eine hohen Grad von Kohäsion und innerer Konsistenz aufweisen.“652 Es gibt in der Literatur durchaus konkurrierende Sichtweisen über Deutungsmusteransätze. In seiner Arbeit über ,Kulturelle Deutungsmuster‘ knüpfte Meuser (1998) sehr stark am Bourdieu‘schen Habituskonzept an.653 Auch Müller/Becker-Lenz (2008) sehen diese enge Verbindung zwischen Oevermanns 647 Vgl. Oevermann 2001b, S. 47 648 Anmerkung: Die „Kategorie des Sinns gehört zu einer Grundkategorie der Soziologie“. Die Deutungsmusteranalyse von Oevermann hat als theoretischer, methodologischer und methodischer Ansatz große Bedeutung, um das Sinnverstehen als ein prominentes Ziel der Soziologie zu verfolgen. (Oevermann 2001a, S. 4) 649 Oevermann 2001a, S. 4 650 Oevermann 2001b, S. 38 651 Oevermann 2001b, S. 37 652 Oevermann 2001b, S. 38 653 Vgl. Müller, M. 2009, S. 28

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4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Deutungsmuster und dem Bourdieu‘schen Habituskonzept. Oevermanns (2001b) Ausführungen interpretieren sie, „dass spezifische berufliche Kompetenzen auf einer habituellen Ebene verinnerlicht werden müssen und sehen in Oevermanns Konzept eine berufliche Habitusformation durchschimmern“. Für Müller/Becker-Lenz (2008) stützt Oevermann sein Deutungsmusterkonzept nicht nur an Bourdieus Habituskonzeption, sondern „geht darüber hinaus, in dem er sich aus professionssoziologischer Perspektive mit der Bestimmung eines ,professionellen Habitus‘ beschäftigt.“654 4.1.7 Herauszustellende Befunde des Teilkapitels Identitätstheorien in der Tradition analytischer Ich- und Entwicklungspsychologie Identitätsbegriff sind die Mehrdimensionalität und die Komplexität des Konstrukts der Identität. Identität als lebenslanger dynamischer Prozess (kein starres System) – Beständigkeit des Wandels. Identität als selbstreflexiver Prozess. Identität als Selbstkonstruktion innerhalb des sozialen Umfelds (Selbstbild/Fremdbild). Bedeutung der Innenperspektive und Selbstrelevanz. Bedeutung der Integration des Selbst bzw. der Identität (Kontinuität und Konsistenz). Bedeutung der Interpretation der Möglichkeit von Selbstbestimmung. Identitätstheorien in der Tradition des symbolischen Interaktionismus Selbstdefinition braucht den Austausch mit anderen – kontinuierliche Wechselwirkung. Rollen geben den Rahmen für das Selbst. Identität als lebenslanger, situativ veränderlicher Prozess, wandelbar und dynamisch, nichts Statisches. Vorhandensein von Teilidentitäten. Bereichsspezifität der Identitätszustände. 654 Müller/Becker-Lenz 2008, S. 26

4.1 Identität – elastische Deutungen aus multidisziplinärer Perspektive

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Identität als sozialer Prozess besteht aus einem komplexen Gefüge von Erwartungen, antizipierten Erwartungen, Rollenübernahmen und Selbstdefinitionen. Identität ist ein anthropologisches Strukturphänomen, das eine multidisziplinäre Erklärbarbeit erfordert. Eine beruflich „erarbeitete Identität“ hat eine eindeutige Festlegung auf den Beruf mit eigenen Wertepositionen und führt zum Commitment. Werte- und Sinnwelten sind zentrale Orientierungs- und Bezugspunkte für eine Identitätsentwicklung. Sozialpsychologische und postmoderne Identitätskonzepte Verhaltens- und Handlungsweisen, Normen und Werte und deren Bewertung im sozialen Kontext gehören zum Aufbau der Identität durch Perspektivübernahme und Interaktion. Die Struktur der Identität ist eine allen gemeinsame Reaktion – Identität braucht das Soziale, die Gesellschaft. Soziale Identität ist eine verinnerlichte Rollenerwartung. Die Bedrohung des Selbstbilds von außen kann Identitätsbeschädigungen auslösen. Deutungen der Identität können über die Entschlüsselung des primären Rahmens erfolgen. Rahmen sind komplexe Sinnstrukturen – die Verbindung von Sinn und Identität. Identität wirkt als motivationale Quelle. Leib- und körpertheoretische Annäherungen an das Konstrukt der Identität Die leiborientierte Bedeutung der Identität. Soziale Beziehungen und wahrnehmbare Begegnungen gehören zur Identitätsentwicklung. Bedeutung der narrativen Identitätsentwicklung. Die Identität besteht aus mehreren Identitätsbereichen, die zusammen die Stabilität der Identität ausmachen.

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4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Habitus zwischen Abgrenzung und geteilter Wirklichkeit Habitus ist ein Teil der Identität – er ist eine Grundhaltung des Menschen zur Welt und zu sich selbst. Identität und Habitus sind Denk- und Verhaltensdispositionen, die sich im Laufe des Lebens entwickeln und Ausdruck von sozialen Verhältnissen, Situationen und Beziehungen sind. Die ,Individuum gewordene Gestalt von Gesellschaft‘ wird im Habitus widergespiegelt – Habitus ist ein Zusammenspiel bereits im Voraus assimilierter Grundmuster, ein System verinnerlichter Muster (Inkorporationen). Bedeutung des Einflusses des sozialen Raums, Felder und verschiedener Kapitalsorten auf die Identität und den Habitus. Habitusformationen und Deutungsmuster unterscheiden sich nur in der Tiefe – Deutungsmuster lassen sich bewusstmachen und sind leichter veränderbar. Die Bedeutung der strukturierten strukturierenden Struktur. 4.2 Die ,ausbalancierte‘ Identität 4.2.1 Mehrdimensionalität des Identitätsbegriffs Die Mehrdimensionalität und zugleich die Differenzierung des Identitätsbegriffs zeigen sich auch in den Beschreibungen der Bedeutungskontexte und Perspektiven. Abbildung 24: Mehrdimensionalität des Identitätsbegriffs. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Frey/Haußer 1987, S.4 und Zirfas/Jörissen 2007, S.14f.)

Der sozialwissenschaftliche Identitätsbegriff zeigt sich nach Frey/Haußer in mehreren Bedeutungskontexten:  „Identität wird als ,selbstreflexiver Prozess‘ eines Individuums verstanden.  Eine Person stellt Identität über sich her, indem sie ihr Wissen, ihre Erfahrungen über sich selbst verarbeitet.  Entsprechend wird von persönlicher, personaler, individueller oder subjektiver Identität gesprochen, ebenso von subjek-

Auch das Identitätsverständnis nach Zirfas/Jörissen besteht aus mehreren Perspektiven:  „Identität als subjektives Zugehörigkeitsgefühl oder als individuelles Selbstbild verstanden.

4.2 Die ,ausbalancierte‘ Identität

181

Der sozialwissenschaftliche Identitätsbegriff Auch das Identitätsverständnis nach Zirzeigt sich nach Frey/Haußer in mehreren Befas/Jörissen besteht aus mehreren Perspekdeutungskontexten: tiven: tiver Identitätserfahrung, Identitätsgefühl, Ich-Identität und Selbst-Identität gesprochen.  Identität als ein von außen zugeschriebe-  Identität wird auch als Thematisierung ner Merkmalszusammenhang (wenn z.B. sowie Reflexion von Persönlichkeitsvon ,sozialer‘, ,öffentlicher‘, ,situierter‘ formen unter bestimmten Aspekten Identität die Rede ist und Überschnei(z.B. als soziale Rolle) verstanden dungen zu Konzepten wie ,Typisierung‘, werden. ,Fremdbild‘, ,Rollenzuschreibung‘ festgestellt werden können).  Identität als Merkmalszusammenhang  Identität zeigt sich im Verständnis, sozialer Systeme (nationale, kulturelle Identität als eine objektive ZugehörigIdentität, ethnische oder corporate idenkeit zu sozial institutionalisierten bzw. tity).“ konstruierten Gruppen und Kategorien zu sehen, welches sich als einen objektivierbaren Lebenslauf abbilden kann.“

4.2.2 Ich-Identität und das Verständnis der Selbstbilder „Identität ist ein Konzept zum Verständnis von Selbstbildern.“655 „Die Identität kommt […] in verschiedenen Lebensbereichen, Lebensaltern und Personengruppen als eine Konstruktion aus Symbolen, Zeichen und Deutungsmustern zur Anwendung.“656 Vernunft und Selbstreflexion gelten nach Liesch (2010) als Voraussetzung der Identität.657 Einerseits ist die Identität „ein kognitives System, mit Hilfe dessen ich mir eine Theorie über mich selbst bilde, anderseits aber auch ein aktives System, das mein Handeln bestimmt.“658 „Identität ist […] das Ergebnis eines selbstreflexiven Prozesses und der Synthese zwischen äußeren und inneren Selbst-Beschreibungen, die durch subjektive Auswahl, Interpretation und Gewichtung mitbestimmt wird.“659 „Eine Person stellt Identität über sich her, indem sie ihr Wissen, ihre Erfahrungen über sich selbst verarbeitet.“660 655 656 657 658 659 660

Liesch 2010, S. 74 Liesch 2010, S. 79 Vgl. Liesch 2010, S. 71 Sommer 1998, S. 84 Hutter 1992, S. 62 Frey/Haußer 1987, S. 4

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4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

„Die individuelle Selbst-Erfahrung setzt sich aus Erfahrungen in Umwelten, die interpretativ verarbeitet werden zusammen. Wer ich bin, […] hängt davon ab, was ich bislang aus meiner Umwelt erfahren habe über mich und wie ich diese Erfahrung über mich selbst zu einem Bild über mich selbst zusammenfüge, von dem ich sage: ,Das bin ich!‘„661 „Somit kann auch von einem individuellen Konzept der eigenen Person gesprochen werden.“662 Aus sozialwissenschaftlicher Sicht sind die Entwicklung, Erhaltung und Transformation personaler Identität eine Leistung des Individuums, die auf sozialen und individuellen Handlungs- und Deutungspraktiken beruht. Für die Entwicklung eines Identitätsgefühls sind nach Raeder&Grote (2006) zwei Komponenten wichtig: Einerseits eine Herstellung von Kohärenz der Erfahrungen aus den verschiedenen Lebensbereichen, die für das Individuum von Bedeutung sind und andererseits die Herstellung von biografischer Kontinuität, d.h. die Möglichkeit, sich als über die Zeitachse hinweg gleiche Person zu fühlen und verstehen.663 Identität kann auch als ein selbstreflexiver Prozess eines Individuums gesehen werden, auf welchem der Mensch eine Struktur aus eigenen Erfahrungen aufbauen kann. In diesem selbstreflexiven Prozess der Identifizierung bildet das Erleben des eigenen Selbst und Sein, das eigene Handeln sowie die Erfahrungen mit sich und mit anderen die Basis. Das Ziel dieses selbstreflexiven Prozesses ist ein ,Mit-Sich-Selbst-Identisch-Sein‘. Das Selbstbild verfolgt aber auch den „Zweck der Orientierung und der gegenseitigen Verständigung. […] Damit wird das eigene Handeln entweder bestätigt und oder auch korrigiert bzw. verändert.“664 „Persönlichkeit oder Individualität entsteht erst dann, wenn innere Bilder mit äußeren Bildern der eigenen Person zusammenwirken und im Ergebnis daraus eine Art Selbstbild hervorgeht.“665 Das Selbstkonzept ist auch als „individuelle moralische Instanz etabliert. In je geringerem Maß die Gesellschaft Moral definiert, desto stärker ist der einzelne auf seine persönliche Erfahrung angewiesen. Die persönliche Erfahrung und Intuition wird zum Bestimmungsfaktor der Moral.“666

661 662 663 664 665 666

Frey/Haußer 1987, S. 6 Frey/Haußer 1987, S. 5 f. Vgl. Raeder/Grote 2006, S. 338 Liesch 2010, S. 70 Reimann 2012, S. 288 Sommer 1998, S. 85

4.2 Die ,ausbalancierte‘ Identität

183

Das Selbstbild, das ein Individuum besitzt, wird als persönliche Identität oder Ich-Identität bezeichnet.667 Im Terminus der Ich-Identität, „wie er von Erikson auf psychoanalytischem Hintergrund eingeführt wurde, ist die Spannung zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und Angeboten auf der einen Seite und individuellen Wünschen, Bedürfnissen und Zielen, innerhalb welcher sich das Individuum verorten muss, auf der andern Seite, ein zentraler Topos“.668 Erikson spricht in diesem Zusammenhang von ,klarer Bewusstheit innerer Identität‘669 und dabei weist er auf die Ungenauigkeit der Begriffsbildung hin. Erikson selbst verwendet verschiedene Bedeutungen, diese sind: bewusstes Gefühl der individuellen Identität, unbewusstes Streben nach einer Kontinuität des persönlichen Charakters, stillschweigende Akte der Ich-Synthese und das Festhalten an einer inneren Solidarität mit den Idealen und der Identität einer Gruppe.670 Erikson (1956) „differenziert […] zwischen ,ICH‘ und ,Selbst (Ich)‘, wobei das ,ICH‘ als ,organisierende Zentralinstanz‘ für die Regulierung der Wahrnehmungen verantwortlich ist. Das ,Selbst (Ich)‘ hingegen wird, als ein im Laufe des Lebens […] veränderliches Selbst […] mit allen zurückliegenden und in Aussicht stehenden Selbst in Übereinstimmung gebracht. Identität nach Erikson kennzeichnet sich demnach in ein tatsächliches, jedoch immer wieder zu revidierendes Realitätsgefühls des Selbst und ein ,Ideal-Ich‘ von anzustrebenden, „aber nie ganz erreichbare[n] Idealziele[n] des Selbst.“671 Goffman folgt hierbei Erikson: „Beide Identitätstypen können besser verstanden werden, wenn man sie gleichstellt und sie mit dem kontrastiert, was Erikson und andere ,empfundene Identität‘ oder Ich-Identität genannt haben, nämlich das subjektive Empfinden seiner eigenen Situation und seiner eigenen Kontinuität und Eigenart, das ein Individuum allmählich als ein Resultat seiner verschiedenen sozialen Erfahrungen erwirbt. […] Ich-Identität ist zuallererst eine subjektive und reflexive Angelegenheit, die notwendig von dem Individuum empfunden werden muss, dessen Identität zur Diskussion steht.“672 Persönliche und soziale Identität sind soziale Produkte, die der Einzelne im Interaktionsprozess mit anderen erwirbt. 667 668 669 670 671 672

Vgl. Epstein 1993, S. 313 f. Erikson 2010, S. 124 Vgl. Erikson 2010, S. 124 Vgl. Erikson 2010, S. 125 Erikson 2010, S. 191 Goffman 1975/2012, S. 132

184

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Das „subjektive Empfinden seiner eigenen Situation und seiner eigenen Kontinuität und Eigenart, das ein Individuum allmählich als ein Resultat seiner verschiedenen sozialen Erfahrungen erwirbt“673, kann (nach Goffmann) als ,IchIdentität‘ verstanden werden. Windolf (1981) führt hierzu weiter aus, dass die Identität ein internes Modell bezeichnet, „welches das ,ICH‘ von seinem Selbst (Ich) konstituiert. Dieses Bild ist affektiv bedeutsam und daher kann die Identität nicht ausschließlich in kognitiver Hinsicht analysiert werden.“674 Bei näherer Betrachtung wird entweder die Selbstzuschreibung (Selbstattribution) oder aber die Fremdzuschreibung (Fremdattribution) identitätsbildender Elemente in den Vordergrund gestellt.675 Das eine „,Ich‘ bedeutet das ‚unverfälschte Selbst‘, das undomestizierte So-und-nicht-anders-Sein des Individuums, die Einmaligkeit des individuellen Charakters, des Temperaments, der Bedürfnisse.“676 Hier steht die Selbstreflexion eines Individuums über seine Wesenszüge, seine Erfahrungen und deren Bewertungen im Vordergrund, die es von anderen unterscheiden und unverwechselbar machen. Bei dieser Konstruktion von Identität wird von individueller Identität gesprochen.677 Im Gegensatz wird bei dem anderen ,ICH‘ von personaler Identität gesprochen. Dieses ,ICH‘ der personalen Identität meint hingegen diejenigen Rollen und Eigenschaften, die ein Individuum als kulturelles Wesen im Prozess seiner Sozialisierung in ein soziales Umfeld internalisiert.678 Beide, das ,Ich‘ und das ,ICH‘ (die individuelle und die personale Identität) sind miteinander verknüpft und gegenseitig verwoben und bilden zusammen die Identität des Individuums.679 „Notwendig ist die Fähigkeit des Individuums, eine ausgewogene und gelungene Idenitäts-Balance zwischen der personalen und sozialen Identität herzustellen, um eine stabile und ausgeprägte Ich-Identität zu entwickeln.“680 Das ICH ist ein theoretisches Konstrukt, unter das verschiedene psychische Funktionen subsumiert werden. Es ist ein psychisches System mit regulativen Funktionen. Die Vermittlung zwischen individuellen Bedürfnissen und externer

673 674 675 676 677 678 679 680

Goffman 2012a, S. 132 Windolf 1981, S. 53 Vgl. Pollak 1998, S. 46 Buss 2012, S. 164 Boekle/Nadoll/Stahl 2000, S. 13, zit.n. vgl. Pollak 1998, S. 46 Boekle/Nadoll/Stahl 2000, S. 13, zit.n. vgl. Pollak 1998, S. 46 Vgl. Buss 2012, S. 164 Schäfers/Kopp 2006, S. 244

4.2 Die ,ausbalancierte‘ Identität

185

Umwelt, die reflektierende Abstraktion und die Überwindung des Egozentrismus werden als die wichtigsten Funktionen des ,ICH‘ angesehen.681 Goffman (1975) versteht unter persönlicher Identität alle jene „positive[n] Kennzeichen oder Identitätsaufhänger und die einzigartige Kombination von Daten der Lebensgeschichte, die mit Hilfe dieser Identitätsaufhänger an dem Individuum festgemacht wird. Persönliche Identität hat folglich mit der Annahme zu tun, dass das Individuum von allen anderen differenziert werden kann und dass rings um dies Mittel der Differenzierung eine einzige kontinuierliche Liste sozialer Fakten festgemacht werden kann […].“682 Als persönliche Kennzeichen führt Goffman u.a. die Eigenarten der Sprache, die Handschrift, eine fotografisch attestierte Erscheinung und Charakteristika des Verhaltens. Daneben stehen auch unveränderbare Lebensdaten wie zum Beispiel Geburtsurkunde, Ausweisdaten, Daten aus dem Lebenslauf oder Lebensrhythmus im Repertoire der persönlichen Identität.683 „Eine Identitätskrise wird ausgelöst, wenn eine affektiv bedeutsame SelbstKonstruktion ihre soziale Relevanz verliert oder durch eine andere ersetzt werden muss, die mit der aktuellen Identität nicht kompatibel ist.“684 Denn nach Frey/Haußer (1987) ist die „Identität als Selbst-Erfahrung […] auf die von der Außenwelt vorgenommenen Verortungen angewiesen.“685 Das bedeutet, dass der Sinn, die Bedeutung und Struktur der Selbstbilder und Identitäten in immer wiederkehrenden reflexiven Prozessen durch die soziale Kommunikation und Interaktion mit anderen Personen jeweils ausgehandelt und stets wandelbar somit nur vorübergehend festgelegt werden. Daher sind sie nie statisch und fest, sondern veränderbar.686 Identität wird in diesem Zusammenhang nicht als eine Eigenschaft verstanden, welche man besitzt, sondern als ein sich veränderbarer Zustand, welcher selbstreflexiv erarbeitet werden muss.687 Für Liesch (2010) werden Identitäten „deshalb durch soziale Vorgaben strukturiert und in kommunikativen Handlungen zum Ausdruck gebracht. SelbstBilder und Identitäten basieren auf einer Art innerer Konversation, in die Verba-

681 682 683 684 685 686 687

Vgl. Windolf 1981, S. 52 Goffman 2012a, S. 74 Vgl. Goffman 2012a, S. 75 Windolf 1981, S. 53 Frey/Haußer 1987, S. 4 Vgl. Liesch 2010, S. 77 Vgl. Frey/Haußer 1987, S. 11

186

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

lität, Gefühle, habituelle Tätigkeiten und körpersprachliche Aktivitäten eingebunden sind.“688 Liesch (2010) sieht in der Identität „ein kommunikatives Prinzip, eine bestimmte Art, Individualität zu entwerfen, die wiederum selbst Wirkungen entfaltet und Bedeutungen hervorbringt. Nach ihrem Verständnis wird Identität als interpretierbare Form von Wissen und als Selbstreflexion begriffen.“689 4.2.3 Soziale und kollektive Identitäten – eine Form der Teilhabe Erikson sieht ,Identität‘ in dieser Interdependenz […], zwischen einem „dauernden inneren Sich-Selbst-Gleichsein und einem dauernder Teilhaben an bestimmten gruppenspezifischen Charakterzügen“.690 Auch Geulen (1989), der auf den Erkenntnissen von Mead aufbaut, sieht in der Selbstreflexion eine Synthese der gegebenen Mannigfaltigkeit in der biografischen Zeit (persönliche Identität) und des sozialen Raums (Rollen).691 So betrachtet auch die Psychologie die Identität als ein im Rahmen der sozialen Umwelt veränderliches, sich anpassendes und entwickelndes Selbstkonzept.692 Und Faßauer (2008) betont dabei den Aspekt der notwendigen Funktion der Interaktion bzw. der Auseinandersetzung mit dem sozialen Umfeld und damit auch auf die Funktion der wechselseitigen Anerkennung für die Entstehung von Identität.693 Menschliche Individuen sind soziale Wesen und haben durch ihre Sozialität ein emotionales Grundbedürfnis, sich mit anderen menschlichen Individuen und sozialen Gruppen zu identifizieren. Sie haben ein natürliches Zugehörigkeitsbedürfnis. Daher erfolgt neben der Entwicklung ihrer individuellen bzw. personalen Identität parallel und im Zusammenhang die soziale Identität.694 Mit sozialer Identität werden jene Aspekte des Selbstbilds eines Individuums bezeichnet, die sich aus den sozialen Kategorisierungen ergeben, zu welchen es sich zugehörig wahrnimmt.695 Ein Mensch hat viele soziale Gruppen, zu denen er gehört, wie z.B. der Familie, einem Freundeskreis, Sportverein, einer Region, einem Land oder auch einem Beruf oder gegebenenfalls einem Unternehmen. Die soziale Identität eines Menschen besteht aus all diesen Teilidentitäten, die 688 689 690 691 692 693 694 695

Liesch 2010, S. 79 Liesch 2010, S. 79 Erikson 2010, S. 124 Vgl. Geulen 1989, S. 133 Vgl. Krappmann 2004, S. 715 Vgl. Faßauer 2008, S. 57 Vgl. Boekle/Nadoll/Stahl 2000, S.12 Vgl. Tajfel 1978, S. 63; Tajfel/Turner 1986, S. 16

4.2 Die ,ausbalancierte‘ Identität

187

im Sozialen begründet sind. Der sozialen und personalen Identität ist begrifflich übergeordnet die Ich-Identität. Wiederum ist die soziale Identität eine Teilidentität der Ich-Identität.696 So ist ein Mensch beispielsweise stolz ein Europäer zu sein und auch stolz einer bestimmten Berufsgruppe anzugehören. Er identifiziert sich damit und somit wird er ein Teil davon. Jörissen (2000), der sich auf die Arbeiten von Geulen (1989), Krappmann (1969) und Habermas (1973)697 bezieht, greift den Begriff der ‚ausbalancierten Identität‘ auf. Mit der ,ausbalancierten Identität‘ ist die komplexeste Form der Identität gemeint, nämlich jene, die aus der einer synthetisierenden Balance zwischen sozialer Identität und personaler Identität entsteht und somit zu einem ,ICH‘ wird, deren Kontinuität auch von der Konstanz der inhaltlichen Aspekte abhängt.698 In dieser Tradition definiert Abels (2010) Identität als „das Bewusstsein, ein unverwechselbares Individuum mit einer eigenen Lebensgeschichte zu sein, in seinem Handeln eine gewisse Konsequenz zu zeigen und in der Auseinandersetzung mit Anderen eine Balance zwischen Ansprüchen und sozialen Erwartungen gefunden zu haben.“699 Turner (1982) betont: „Thus, social and personal identity are conceptualized as hypothetical, cognitive structures which together account for most of the self-concept.“700

696 Vgl. Ohling 2015, S. 15 697 Anmerkung: Habermas beschreibt dies wie folgt: „Die persönliche Identität kommt zum Ausdruck in einer unverwechselbaren Biographie, die soziale Identität in der Zugehörigkeit ein und derselben Person zu verschiedenen, oft inkompatiblen Bezugsgruppen. Während persönliche Identität so etwas wie die Kontinuität des Ich in der Folge der wechselnden Zustande der Lebensgeschichte garantiert, wahrt soziale Identität die Einheit in der Mannigfaltigkeit verschiedener Rollensysteme, die zur gleichen Zeit ,gekonnt‘ sein müssen. Beide ,Identitäten‘ können als Ergebnis einer ,Synthesis‘ aufgefasst werden, die sich auf eine Folge von Zuständen in der Dimension der sozialen Zeit (Lebensgeschichte) bzw. auf eine Mannigfaltigkeit gleichzeitiger Erwartungen in der Dimension des sozialen Raums (Rolen) erstreckt. Ich-Identität kann dann als die Balance zwischen der Aufrechterhaltung beider Identitäten, der persönlichen und der sozialen, aufgefasst werden.“ (Habermas 1968/1973, S. 131) 698 Vgl. Jörissen 2000, S. 25 699 Abels 2004, S. 258 700 Anmerkung: Übersetzung: „So werden soziale und persönliche Identität als hypothetische kognitive Strukturen verstanden, die zusammen den größten Teil des Selbstverständnisses ausmachen.“ (Turner 1982, S. 18)

188

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Der Prozess der Identitätsbildung kann durch die Selbstdefinition des Ich nur in sozialen Kategorien erfolgen.701 Sie ermöglichen die Beziehungen und Zusammenhänge in der sozialen Umwelt zu strukturieren, um Orientierung für soziales Handeln zu schaffen. Zugleich liefert diese soziale Kategorisierung aber auch das Orientierungssystem für das Selbstbild, mit welchem der eigene Platz in der Gesellschaft bestimmt wird. Die aus der Selbstwahrnehmung in einem sozialen Kontext702 resultierende soziale Identität bildet die Grundlage kollektiver Identität, die dann entsteht, wenn die Mitglieder eines Kollektivs übereinstimmende soziale Identitäten ausbilden. Dem geht die Kategorisierung bei der Wahrnehmung voraus, die in Fällen einer kollektiven Identität innerhalb einer Gruppe weitgehend übereinstimmen muss. Kollektive Identität entsteht also immer dann, wenn die Mitglieder eines Kollektivs sich selbst primär als Mitglieder dieses Kollektivs wahrnehmen und damit eine Entpersonalisierung sowohl der Wahrnehmung als auch des Verhaltens stattfindet. So bilden in der Entstehung von ,kollektiven Identitäten‘ individuelle Wahrnehmungsprozesse einen wichtigen sozialpsychologischen Hintergrund.703 So führen Meffert/Burmann/Koers (2002) aus: Eine Gruppenidentität bezieht sich „auf ein Kollektiv an Subjekten, die neben ihrer jeweiligen persönlichen Identität eine gemeinsame Identität als Gruppe aufweisen, die auch in dieser Weise von den Gruppenmitgliedern empfunden wird.“704 Tajfel (1978) verbindet die kollektive Identität mit „…that part of an individual’s self-concept which derives from his knowledge of his membership in a social group […] together with the value and emotional significance attached to that membership.“705

„Der soziale Zusammenhalt solcher Segmente beruht auf der allen Mitgliedern gemeinsamen Gesamtheit von Werten, Verhaltensnormen, Wissensgehalten und Meinungen und basiert somit auf der Ähnlichkeit der Wahrnehmungs-, und Deutungsmuster der Mitglieder. Die soziale Integration des Einzelnen beruht damit auf der mit den anderen Segmentmitgliedern geteilten, gleichen kulturellen Ori-

701 702 703 704 705

Vgl.Windolf 1981, S. 55 Vgl. Tajfel 1978, S. 61 f. Vgl. Weller 2000, S. 64 f. Meffert/Burmann/Koers 2002, S. 270 Anmerkung: Übersetzung: „… der Teil des Selbstverständnisses eines Individuums, der sich aus seiner Kenntnis seiner Mitgliedschaft in einer sozialen Gruppe […] zusammen mit dem Wert und der emotionalen Bedeutung dieser Mitgliedschaft ergibt.“ (Tajfel 1978, S. 63)

4.2 Die ,ausbalancierte‘ Identität

189

entierung, welche sich über die soziale Nähe entwickelt und durch die entsprechende soziale Kontrolle innerhalb des Segmentes aufrechterhalten wird.“706 Diese Integrationsform wird von Durkheim (1992 orig. 1893) als ,mechanische Solidarität‘ bezeichnet.707 „Die Teilhabe an einer Gemeinschaft bestimmt sich über die Teilnahme an gruppenspezifischen Ritualen. Diese Rituale bringen eine Gleichförmigkeit des Handelns hervor. Auch müssen die Handelnden ein Bewusstsein von der Gleichförmigkeit ihrer Handlungen ausbilden.“708 Boekle/Nadoll/Stahl (2000) erklären hierzu: „Gemeinsames Handeln – was sich aus der Sicht des Individuums auch als gruppenspezifisches Einzelhandeln in bestimmten Situationen darstellen kann – ist eine notwendige Bedingung sozialer Identität.709 Identität ist eine sicherheits- und sinngebende Konstante; sie dient der Reduktion von Komplexität, da sie Orientierungshilfe in einer komplexen Umwelt leistet. Ein Verhalten im Sinne der eigenen sozialen Identität dient ihrer festigenden Bestätigung. Die Bestätigung sozialer Identität durch ihr angemessenes Handeln wiederum reproduziert und festigt die kollektive Identität der Gruppe als solcher […], da sie einheitliches Gruppenhandeln fördert.“710 „Dazu verwenden die Gruppenmitglieder Bilder, Symbole, Ziele, Werthaltungen und kulturelle Weltbilder als Selbstüberzeugungen. Sie betten ihre Selbstbilder ein in ein kulturelles Feld von Unterscheidungen und Mustererzählungen. Das Ergebnis ist dann eine kulturelle Symbolisierung und Codierung kollektiver Identität.“711 Damit sich das Individuum in verschiedensten sozialen Interaktionsbereichen bzw. sozialen Institutionen einordnen kann, „ist es notwendig, dass es lernt, die Perspektive der jeweiligen Bezugsgruppen auf sich selbst einzunehmen. Nur auf diese Weise schafft es für sich einerseits die Möglichkeit, in dem sozialen Kontext koordiniert zu handeln und andererseits sein eigenes Verhalten zu bewerten und damit eine subjektive Identität zu entwickeln.“712

706 707 708 709

Faßauer 2008, S. 47 Vgl. Faßauer 2008, S. 47 Liesch 2000, S. 78 f. Anmerkung: Die Theorie der sozialen Identität geht auf die Erkenntnisse von Tajfel 1978 und Tajfel/Turner 1986 zurück und wurde unter einer konstruktivistischen Perspektive zur SelfCategorization Theory (Oakes et al. 1994) weiterentwickelt. Zur Anwendung dieser Theorien auf Gruppenverhalten (vgl. auch Monroe et al. 2000) 710 Boekle/Nadoll/Stahl 2000, S. 21 711 Liesch 2000, S. 78 f. 712 Faßauer 2008, S. 35

190

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Durch die Kommunikation und Interaktion wird sich die kollektive Identität innerhalb (ingroup) der sozialen Gruppe mit mehr oder minder objektivierbaren Gemeinsamkeiten offenbaren, während sie zu anderen Individuen und Gruppen (outgroup) außerhalb der sozialen Gruppe abgrenzend wirkt.713 Mit ,kollektiver Identität‘ wird dann das Selbstbild und Wir-Bewusstsein einer Gruppe von Individuen bezeichnet, die sich durch bestimmte Gemeinsamkeiten von ihrer Umwelt abgrenzen.714 Kollektive Identitäten liefern gewissermaßen ein Identifikationsangebot, dem auf der individuellen Ebene ein starkes Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit gegenübersteht, weil der Einzelne über eine Gruppenzugehörigkeit einen Teil seiner sozialen Identität ausbildet.715 Nach Tajfel/Turner (1986) besteht ein sehr enger Zusammenhang zwischen dem Zustandekommen von kollektiven und individuellen Identitäten, denn die soziale Identität der Individuen wird durch die Mitgliedschaft in bestimmten Kollektiven gebildet.716 4.2.4 Berufliche Identität – als Teil der Ich-Identität Für Erikson und auch für Keupp ist die berufliche Identität eine Teilidentität der Gesamtidentität, der sogenannten Ich-Identität einer Person.717 „Die Ich-Identität entwickelt sich also aus einer gestuften Integration aller Identifikationen; aber auch hier hat das Ganze eine andere Qualität als die Summe seiner Teile.“718 Die berufliche Identität ist einer der wichtigsten Teilidentitäten, daher kommt dem Aufbau dieser Teilidentität im Rahmen einer stabilen Ich-Identität eine wichtige Bedeutung zu und damit eines sicheren Selbst.719 Identitäten beinhalten stets den Bezug zu dem ,Anderen‘. Übertragen auf die berufliche Identität wird die Person gegenüber dem Beruf in Relation gesetzt.720 Das Zustandekommen der beruflichen Identität lässt sich als sozialer Prozess verstehen, in dem Mitarbeiter miteinander interagieren und dabei gewissermaßen zu ihrer beruflichen ,Ich-Identität‘ finden.721 Nach der Social Identity

713 714 715 716 717 718 719 720 721

Vgl. Weller 1999, S. 256 Weller 2004, S. 224 Vgl. Estel 1991, S. 35 Vgl. Taifel/Turner 1996, S. 7 f. Vgl. Ohling 2015, S. 18 Erikson 1956, S. 108 Keupp 1997, 2009, S. 11 f. Vgl. Haußer 1995, S. 3 Vgl. Wendt, A. 1992, S. 393

4.2 Die ,ausbalancierte‘ Identität

191

Theory verstehen Van Dick&Wagner (2002) die berufliche Identität als Identifikation mit einem Berufsfeld oder als Zugehörigkeit zu einer sozialen, berufsdefinierten Gruppe.722 Die berufliche Identität weist sich aus und macht sich von anderen Berufen unterscheidbar. „Für diese ‚Kennung‘ sind die Angehörigen eines Berufes selbst zuständig, denn Identität ist etwas, das konstruiert, reflektiert, nach außen vertreten, dem Lauf der Zeiten angepasst werden muss.“723 Ein Beruf zeichnet sich durch eine „kollektive Identität“ aus, die sich aus der Selbstzuschreibung seiner Angehörigen sowie aus Fremdzuschreibungen (soziologischer Zuschreibungsprozess) und einem reflexiven Wechselwirkungsprozess zusammensetzt.724 Die Beantwortung der Frage „wer ich bin, […] hängt davon ab, was ich bislang aus meiner Umwelt erfahren habe über mich und wie ich diese Erfahrung über mich selbst zu einem Bild über mich selbst zusammenfüge, von dem ich sage: ,Das bin ich!‘„725 Raeder/Grote (2006) & Hoff (1994) definieren in Anlehnung an die modernen Identitätstheorien die berufliche Identität als: „Produkt eines sich lebenslang vollziehenden Prozesses der Wechselwirkung zwischen Arbeit und Beruf einerseits und der Person andererseits.“726 Für Heinemann/Rauner (2008), die sich in ihren Überlegungen wiederum auf Keupp beziehen, ist die Interdependenz zwischen Person und Beruf, die sich in der beruflichen Identität widerspiegelt, von verschiedenen Faktoren abhängig. Zu diesen Faktoren gehören nach ihren Ausführungen die Auswirkungen der Arbeitssituation auf den Beschäftigten und die Reaktion des Beschäftigten auf seine Arbeitssituation, sowie die subjektiven Ansprüche des Beschäftigten an seine Arbeit (z.B. Sinngebung) und wie diese in der Arbeitssituation verwirklicht werden, aber auch die generelle Einstellung zur Arbeit in der Gesellschaft bzw. in Gruppen der Gesellschaft.727 „Identität ist ein Projekt, das zum Ziel hat, ein individuell gewünschtes oder notwendiges ‚Gefühl von Identität‘ (sense of identity) zu erzeugen. Basale

722 723 724 725 726 727

Vgl. Raeder/Grote 2006, S. 337 f. Wendt, W.R. 1995, S. 11 Vgl. Wendt, W.R. 1995, S. 11 Frey/Hausser 1987, S. 6 Raeder/Grote 2006, S. 337 Vgl. Fischer 2013, S. 107

192

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Voraussetzungen für dieses Gefühl sind soziale Anerkennung und Zugehörigkeit.“728 „Eine klare berufliche Identität erleichtert die Bewältigung der Arbeitsanforderungen, leistet einen Beitrag zur Zufriedenheit mit dem Leben, da sie die Wahrnehmung leitet und dem Handeln eine Richtung gibt. […] Hier wären wir wieder bei Erikson, der die Identitätsentwicklung für gelungen hält, wenn der Einzelne seinen Platz in den verschiedenen Lebensbereichen gefunden hat.“729 Die Identität (berufliche Identität) einer Person führt zu einer Stabilisierung des Selbstwertgefühls (affektive Komponente730) und zum Erleben von subjektiver Autonomie (konative Komponente731). Diese beiden Komponenten sind den menschlichen Grundbedürfnissen zuzuordnen und führen bei Erfüllung zur Motivationssteigerung und zum Wohlbefinden einer Person.732 4.2.5 Herauszustellende Befunde des Teilkapitels Identität wird als ,selbstreflexiver Prozess‘ eines Individuums verstanden. Identität hat ein ,kommunikatives-Prinzip‘ – die Interaktion hat eine zentrale wechselseitige Funktion bei der Entwicklung der Identität. Die subjektive, soziale und objektive Zugehörigkeit ist ein zentrales Motiv der Identität. o

Identität als subjektives Zugehörigkeitsgefühl oder als individuelles Selbstbild verstanden.

o

Berufliche Identität wird als Identifikation mit einem Berufsfeld oder als Zugehörigkeit zu einer sozialen, berufsdefinierten Gruppe verstanden.

o

Identität ist als eine objektive Zugehörigkeit zu sozial institutionalisierten bzw. konstruierten Gruppen und Kategorien zu sehen.

728 Keupp 1997, 2009, S. 34 729 Ohling 2015, S. 20 730 Anmerkung: Die affektive Komponente beinhaltet nach Hutter (1992) u.a. eine Bewertung der Selbstwahrnehmung: „Was ist das wert, was ich bin, was ich in der Lage bin zu tun und zu bewirken? Dabei können sowohl selbstgesetzte Werte, Ziele und Ideale als auch identifikatorisch übernommene externe Werte als Bezugspunkte dienen“. (Hutter 1992, S. 65) 731 Anmerkung: Die kontative Komponente von Identität ist mit dem Konzept der Handlungskompetenz (sensu Chomsky) verwandt: „Während im Handlungskompetenzkonzept mentale Strukturen beleuchtet werden, die eine tatsächliche Kontrolle beruflichen Handelns erlauben, zielt der Identitätsbegriff in seiner konativen Komponente auf die subjektive Einschätzung des eigenen Handelns auf dem Kontinuum selbst- versus fremdbestimmt, ohne eine reale Entsprechung der Selbsteinschätzung in der Realität vorauszusetzen“. (Hutter 1992, S. 65) 732 Vgl. Hutter 1992, S. 67

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

193

Identität hat verschiedene Bedeutungskontexte und mehrere Perspektiven. Identität wird auch als Thematisierung sowie Reflexion von Persönlichkeitsformen unter bestimmten Aspekten (z.B. als soziale Rolle) verstanden. Die berufliche Identität besteht aus Selbstzuschreibungen und Fremdzuschreibungen seiner Angehörigen sowie aus einem Wechselwirkungsprozess. Identität kann als Merkmalszusammenhang sozialer Systeme (z.B. national, kulturelle Identität, corporate identity) verstanden werden. Die Identität besteht aus mehreren Teilidentitäten. Berufliche Identität ist eine Teilidentität und somit wesentlicher Bestandteil sowohl der personalen als auch der sozialen Identität und voneinander nicht zu trennen. Es findet ein Wandel hin zu flexiblen Formen der beruflichen Identität statt. Gelungene Identität besteht aus einer ,ausbalancierten‘ Form der Identität und ist ein Gesundheitsmerkmal des Wohlbefindens (Stabilisierung des Selbstwertgefühls; Erleben einer subjektiven Autonomie) und ist ein menschliches Grundbedürfnis. Eine Identitätskrise wird ausgelöst, wenn ein affektiv bedeutsames Selbstbild keine soziale Relevanz vorfindet. 4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität und deren Entwicklung durch Sozialisationsprozesse 4.3.1 Berufliche Sozialisation als Aneignungs- und Veränderungsprozesse Die Übernahme und das Erlernen der Berufsrolle gehören innerhalb des Sozialisationsprozesses zur Entwicklung der beruflichen Identität. Nach Mead (1968) ist die Identität ist bei der Geburt anfänglich nicht vorhanden, sie entsteht durch die Sozialisation innerhalb des gesellschaftlichen Erfahrungs- und Tätigkeitsprozesses.733 „Sozialisation lässt sich als lebenslanger Prozess der Auseinandersetzung des Menschen mit einer ihn umgebenden Umwelt begreifen.“734 Zum Ende

733 Vgl. Mead 2000, S. 177 734 Reimann 2012, S. 274

194

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

des 19.Jahrhunderts bezeichnet Emile Durkheim (der als Begründer des Konzepts der Sozialisation gilt) den Sozialisationsprozess als eine Verinnerlichung gesellschaftlich gültiger Werte und Normen.735 Während der Sozialisation entsteht eine verinnerlichte Instanz im Individuum, die gesellschaftliche Wirklichkeit repräsentiert und der er einen Zwangscharakter zuschreibt.736 Talcott Parsons baut auf den Ansätzen von Durkheim auf und entwickelt in den 40er-Jahren des 20.Jahrhunderts sein strukturfunktionalistisches Sozialisationskonzept. Er beschreibt Mechanismen, durch die Angehörige der nachwachsenden Generation die Anforderungen gesellschaftlicher Rollen verinnerlichen und in die Lage versetzt werden, diese auszufüllen.737 Gemeinsam mit Durkheim vertritt Parsons die Ausfassung, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse relativ statisch sind und die Sozialisierenden sich innerhalb des Sozialisationsprozesses in der Rolle des passiven und unkritischen Empfängers an die sozialen Werte und geltenden Normen gewöhnen. Parsons stellt Mechanismen dar, wie die Sozialisierenden durch das soziale Umfeld der vorherigen Generation die Anforderungen der gesellschaftlichen Rollen verinnerlichen können. Er folgt dem Ansatz der funktionalen Anpassung an soziale Systeme (Ansatz des Strukturfunktionalismus).738 1950 legte Erik H. Erikson den Entwurf einer Sozialisationstheorie vor, in der er gesellschaftliche Bedingungen und die Persönlichkeitsentwicklung aufeinander bezogen ausgehend von psychoanalytischen Annahmen beschreibt.739 Eine grundlegende Änderung erfährt das Konzept der Sozialisation in den 60er- und 70er-Jahren des 20.Jahrhunderts. Der Sozialisationsprozess wird nicht mehr als ein Prozess der ausschließlichen Verinnerlichung von Werten und Normen, sondern als eine permanente Auseinandersetzung mit diesen betrachtet. Die Entscheidung für oder gegen die Übernahme von Werten und Normen wird zunehmend dem Individuum zugebilligt. Hurrelmann und Geulen sehen die Sozialisation als den „Prozess der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt.“740

735 736 737 738 739 740

Vgl. Hurrelmann 2006, S. 11 Vgl. Geulen 2005, S. 41 Vgl. Hurrelmann 2006, S. 84 f. Vgl. Hurrelmann 2006, S. 82 ff. Vgl. Geulen 2005, S. 41 Hurrelmann 1991, S. 51

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

195

Hier wird deutlich, dass sich im Prozess der Sozialisation sowohl die daran beteiligten Personen als auch deren Umwelt verändern. Das Hauptaugenmerk der Sozialisationsforschung galt nunmehr der Spannung zwischen der Individualisierung und der Vergesellschaftung der menschlichen Persönlichkeit.741 Um den Anteil der Sozialisierenden am Sozialisationsprozess besonders deutlich zu machen, führt Jürgen Zinnecker den Begriff der ,Selbstsozialisation‘ ein und subsumiert darunter den „Eigenanteil […], den eine Person zu ihrer Sozialisation leistet.“742 Sozialisation ist der ,Prozess der Einordnung des Einzelnen in die Gesellschaft bzw. Gemeinschaft‘, „wonach sich Menschen in ihrem Verhalten, in ihren Denk- und Wahrnehmungsschemata, ihren Werturteilen und normativen Annahmen, in ihrer Weltsicht als soziale Wesen bilden und verändern können.“743 So definiert Hurrelmann (2006) Sozialisation als einen Prozess, „in dessen Verlauf sich der mit einer biologischen Ausstattung versehene menschliche Organismus zu einer sozial handlungsfähigen Persönlichkeit bildet, die sich über den Lebenslauf hinweg in Auseinandersetzung mit den Lebensbedingungen weiterentwickelt. Sozialisation ist die lebenslange Aneignung von und Auseinandersetzung mit den natürlichen Anlagen, insbesondere den körperlichen und psychischen Grundmerkmalen, die für den Menschen die ,innere Realität‘ bilden, und der sozialen und physikalischen Umwelt, die für den Menschen die ,äußere Realität‘ bilden.“744 Dieses prozessuale Geschehen der Sozialisation beginnt als primäre Sozialisation innerhalb und durch die Familie im Kindesalter. Im Jugendalter schließt sich in Form der schulischen Bildung die sekundäre Sozialisation an. Der tertiären Sozialisation werden dann die beruflichen Entwicklungen und die beruflichen Lernprozesse zu geordnet.745 „Das Individuum durchläuft in seiner Lebensgeschichte eine Reihe von Sozialisationsinstanzen, die am Aufbau kognitiver Strukturen beteiligt sind (diachrone Sozialisation). Zu einem gegebenen Zeitpunkt ist der einzelne in verschiedene soziale Systeme gleichzeitig integriert, die die Transformation dieser Strukturen bewirken: Familie, Arbeitsorganisation, Massenmedien, Alltagsbeziehungen usw. (synchrone Sozialisation).“746 741 742 743 744 745 746

Vgl. Hurrelmann 2002, S. 38 Zinnecker 2000, S. 281 Reimann, S. 297 Hurrelmann 2006, S. 15 f. Vgl. Reimann 2012, S. 273 Windolf 1981, S. 12

196

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

„Mead beschreibt diesen Prozess als Sozialisationsvorgang, in dem der Einzelne schrittweise in einen immer größeren Kreis von Interaktionspartnern, bzw. in soziale Interaktionsbereiche, wie Familie, Schule, Beruf, Freizeit hineinwächst, um schließlich ein Bild von sich als Mitglied einer Gesellschaft zu entwickeln. Der Einzelne lernt sich also aus normativen Perspektiven eines immer größer werdenden sozialen Umfeldes zu betrachten bzw. sich selbst in ein größer werdendes soziales Gefüge sinnhaft einzuordnen.“747 Der Eintritt in das Berufsleben markiert eine wichtige Statuspassage innerhalb der Erwachsenensozialisation und ist durch die Auseinandersetzung mit den Anforderungen und Bedingungen des Arbeitslebens und der Arbeitsprozesse für die Persönlichkeitsentwicklung von großer Bedeutung. Der Handelnde versucht seine eigenen subjektiven Interessen mit den beruflichen bzw. betrieblichen Erwartungen und objektiven Zielen in Einklang zu bringen und auszubalancieren. Dies setzt eine unverwechselbare und stabile Ich-Identität voraus.748 Die wichtige Bedeutung der Erwerbsarbeit für die Identitätsentwicklung wird von Keupp aufgezeigt. Die Chance, innerhalb einer Gesellschaft Anerkennung zu finden, basiert auf Erwerbsarbeit und der Realisierung des damit verbundenen Einkommens. Erwerbsarbeit und Einkommen üben dementsprechend einen wesentlichen Einfluss auf die soziale Position aus, die ein Individuum in der Gesellschaft einnimmt. Aber nicht nur durch die vorgenannten Aspekte entfaltet die Erwerbsarbeit eine zentrale Bedeutung für die Identitätsarbeit. Neben dem sozialen Status, den der Beruf vermittelt, bietet sie auch die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung und zur Erweiterung der Handlungsfähigkeit. Die identitäts- und sinnstiftende Funktion von Erwerbsarbeit in unserer Gesellschaft steht außer Frage.749 „Status, Identität und soziale Anerkennung werden noch immer über Erwerbsarbeit vermittelt. Die Stellung innerhalb der Gruppe der Erwerbstätigen ist weiterhin der Schlüssel zur sozialen Zugehörigkeit und dient der Einbindung in die Gesellschaft.“750 Die berufliche Sozialisation besteht aus drei Phasenabschnitten: Erstens die Sozialisation für den Beruf, die schon in der Kinderzeit durch Eltern, Schule usw. erfolgt. Zweitens die Phasen der Sozialisation in den Beruf, der mit der beruflichen Ausbildung gemeint ist. In dieser Phase werden für den Beruf typische Fä-

747 748 749 750

Faßauer 2008, S. 60 Vgl. Heinz 1995, S. 57 Vgl. Keupp 2008, S. 128 f. Biermann 2000, S. 261

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

197

higkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten, Einstellungen und Verhaltensmuster vermittelt. Diese Persönlichkeitsmerkmale sind als charakteristisch für einen bestimmten beruflichen Habitus anzusehen und als Distinktionsmerkmale im Vergleich zu anderen Berufsgruppen erkennbar. Die Sozialisation im Beruf ist die dritte Phase, die wiederum von den Organisationsstrukturen, den Anforderungen durch die Arbeit, den Zielen sowie den individuellen Möglichkeiten der einzelnen Berufsrolleninhaber beeinflusst ist.751 Die „berufliche Sozialisation wird als Aneignungs- und Veränderungsprozess von Kenntnissen, Fähigkeiten, Motiven, Orientierungen und Deutungsmustern […] verstanden“752, die einerseits der Eingliederung in die Arbeitsorganisation und der Arbeitstätigkeit dienen und andererseits die Übernahme berufsspezifischer Handlungsstile753 zum Ziel haben. „Sozialisation heißt auch […] Veränderungen von Einstellungen im Zeitverlauf.“754 Sozialisationsprozesse in der Berufsarbeit beeinflussen die Persönlichkeitsentwicklung, wiederum wird die Arbeitstätigkeit aber auch von der Persönlichkeit strukturiert.755 Nach Heinz (1995) kommt es beim Verlauf dieser Sozialisation zu einem Normenkonflikt, in dem der Arbeiter seine bisherige Identität an die Berufsidentität anpassen muss. Dabei können einige Schwierigkeiten auftreten.756 Die berufliche Identität nach Heinz (1995) entwickelt sich aus der Synthese von beruflichen Vorstellungen und Arbeitsanforderungen im Betrieb und fließt in den Sozialisationsprozess mit ein. Um diese berufsbezogene und meist untergeordnete Identität zu kompensieren, muss sie durch inner- oder außerbetriebliche Interaktionsprozesse stabilisiert werden. Da Arbeit eine ,aufgezwungene‘ Identität ist, entsteht durch die Anpassung an den Arbeitsprozess eine Bedrohung der individuellen Identität, wenn diese nicht durch obengenannte Faktoren oder durch eine Steigerung des Selbstwertgefühls aufgefangen wird. Selbstwertgefühl ist eine der wichtigsten Komponenten innerhalb der betrieblichen Sozialisation. Wird es vermindert, so sinkt die Motivation, er fügt sich resigniert in die Routine und wird dadurch weniger effektiv, was in einen Kreislauf mündet, der ihm schließlich seine Identität nimmt. Ohne das Selbstbewusstsein, das heutzutage

751 752 753 754 755 756

Vgl. Arnold 1983 Heinz 1998, S. 397 f. Heinz 1998, S. 400 Burkart 1983, S. 26 Vgl. Heinz 1998, S. 412 Vgl. Heinz 1995, S. 137

198

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

nötig ist, um auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen, wird die Arbeitsbereitschaft abnehmen und das Ansehen sinkt, was wiederum einen Verlust an Selbstwertgefühl verursacht.757 „Die beruflichen Entwicklungsprogramme und die Handlungskompetenzen des Individuums gehen im beruflichen Sozialisationsprozess eine identitätsbestimmende Verbindung ein, die durch den Spielraum für Entwicklung, Anwendung und Erweiterung subjektiver Fähigkeiten und Interessen definiert und durch inner- und außerbetriebliche Interaktionsbeziehungen stabilisiert wird.“758 „Für die Sozialisation durch die Berufsarbeit im Betrieb sind inhaltliche Arbeitsaufgaben zentral; sie liefern Bezüge für die Selbstdefinition und die Entwicklungschancen der Persönlichkeit.“759 Berufliche Ausbildung und Berufsarbeit sind heute objektiv wichtiger und zumeist subjektiv bedeutsamer als andere Definitionsräume von Identität wie z.B. regionale oder familiäre Herkunft. Dies hat mit der gesellschaftlichen Individualisierung des Einzelnen und mit dem einhergehenden vermehrten Angewiesensein des Einzelnen auf ein eigenes Einkommen, meist durch Erwerbsarbeit, zu tun, aber auch mit dem damit verknüpften Statusgewinn.760 Nach Lempert (1998) umfasst die berufliche Sozialisation drei unterschiedliche Ebenen, die sich gegenseitig beeinflussen bzw. Wechselwirkungen aufweisen. Die Bedingungen der sozialen Strukturen dieser Ebenen beeinflussen die berufliche Sozialisation. Während die Makroebene die Bedingungen der Profession (der Beruf) selbst sowie die Bedingungen des regionalen und branchenspezifischen Arbeitsmarkts kennzeichnet. Charakterisiert die Mesoebene die Bedingungen der konkreten Institution, die Einfluss auf die berufliche Sozialisation haben. Und die Mikroebene fokussiert wiederum die Bedingungen, die durch die jeweiligen Interaktionspartner und ihre Interaktionsbeziehungen entstehen sowie die gegenständlichen Bezüge.761 Diese Bedingungen der unterschiedlichen Ebenen haben großen Einfluss auf eine mögliche Identifizierung mit der Arbeit. Denn um „sich mit seinem Beruf, mit seiner Arbeit zu identifizieren, setzt voraus, dass man ihn/sie attraktiv

757 758 759 760 761

Vgl. Heinz 1995, S. 137 ff. Heinz 1998, S. 402 Heinz 1998, S. 412 Vgl. Haußer 1995, S. 163 Vgl. Lempert 1998, S. 33 ff.

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

199

findet.“762 Für Heinz (1988) sind „Arbeitsbedingungen und Berufsverlaufsmuster in einer Wechselbeziehung mit Arbeitserfahrungen und Berufsbiographien zu betrachten. Berufliche Sozialisation ist nach dieser Perspektive kein Determinationsprozess der Persönlichkeit durch Arbeit, sondern ein Prozess der aktiven Auseinandersetzung der Individuen mit ihrer Berufsrealität.“763 „Dieser kategoriale Bezugsrahmen zur Analyse beruflicher Sozialisation in emanzipatorischer Absicht trägt deutlich entwicklungspsychologisch-kognitivistische Züge, die eine enge Beziehung zwischen der Ausübung selbständiger und anspruchsvoller Tätigkeit und dem erreichbaren Niveau autonomer Handlungsfähigkeit postulieren.“764 Zum Beispiel begrenzen „partialisierte Arbeitsaufgaben und restriktive Arbeitsbedingungen […] die Entwicklungs- und Beteiligungschancen der Beschäftigten und beeinträchtigen ihr psychisches Wohlbefinden.“765 Hurrelmann (2006) betont die Bedeutung, die u.a. Freundschaften, Beziehungen sowie die berufliche Ausbildung und die Bedingungen des Berufs auf die berufliche Situation haben.766 „Identitätsstile entstehen in der Identitätsarbeit des Ich in sozialen Mikro- und Mesowelten. Sie sind Prozesse der Selbst- und Identitätskonstitution mit dem Ziel bestimmter Identitätsbilder. Sie führen zu habitualisierten und ritualisierten Formen des Selbst und der Identitätspräsentation, welche wiederum in den Gemeinschaften (Lifestylecommunities) stattfinden. Sie zeigen sich als Selbstinszenierung in Gruppen, wobei Persönlichkeiten mit einer prägnanten und flexiblen Identität über ein ganzes Spektrum von Identitätsstilen verfügen.“767

„Berufliche Sozialisation lässt sich nach dem Verständnis der rollentheoretischen Ansätze, als ein Übereinkommen zwischen Individuum und Organisation begreifen. Ein Berufsanfänger erlebt und internalisiert neben verbindlichen Werten und Normen auch spezifische Verhaltensweisen, die zur kompetenten Durchführung der berufsbezogenen Aufgaben in seiner Organisation erforderlich sind. Eine Befolgung macht ihn gleichzeitig zu einem Mitglied der Organisation.“768

762 763 764 765 766 767 768

Haußer 1995, S. 167 Heinz 1988, S. 198 ff. Heinz 1998, S. 401 Heinz 1998, S. 402 Vgl. Hurrelmann 2006, S. 234 ff. Petzold 2001p, S. 40 f. Heinz 1998, S. 399

200

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Als Merkmale der Arbeit betrachtet Heinz (1998) die im betrieblichen Arbeitsprozess gemachte Summe von Erfahrungen. Diese sind geprägt durch das Verhältnis der Arbeitenden zu ihrer Arbeit, zu den Arbeitsbedingungen im jeweiligen Betrieb und zur gesellschaftlichen Bewertung der Arbeitsresultate. Diese Arbeitserfahrungen wirken sich auf den gesamten Lebenszusammenhang des Einzelnen aus und eröffnen ihm bewusstseinsbildende und persönlichkeitsfördernde Lernchancen. Sie können aber auch persönlichkeitsdeformierende Folgen zeitigen. Die im Rahmen der beruflichen Sozialisation erfolgenden Lernund Entwicklungsprozesse dienen nicht nur der Qualifizierung für bestimmte Arbeitstätigkeiten, sondern haben Auswirkungen auf die ganze Persönlichkeitsentwicklung.769 „Arbeitsrelevante Persönlichkeitsmerkmale werden als Bindeglieder zwischen Arbeiten und Lernen betrachtet, nämlich Qualifikationen (technische Fertigkeiten und Fähigkeiten) und Orientierungen (soziale Normen und Wertvorstellungen). Diese Grunddimensionen beruflicher Sozialisation müssen sowohl auf Merkmale der Arbeitstätigkeit als auch auf die Persönlichkeitsstrukturierung bezogen werden. Berufliches Lernen wird dann als Interaktionsprozess zwischen Arbeits- und Persönlichkeitsstrukturen konzeptualisiert, der zur Entwicklung und Veränderung von Handlungskompetenzen der Individuen beiträgt.“770 „Neben der inhaltlich bestimmten Arbeitstätigkeit sind die Kontextbedingungen, in denen Arbeit verrichtet wird, von Bedeutung für die subjektive Einschätzung der betrieblichen und gesellschaftlichen Relevanz der eigenen Tätigkeit. Dazu zählen das Ausmaß an Autonomie bei der Aufgabenerfüllung, die Verantwortlichkeit, der Bezug zu den ausgebildeten Fähigkeiten sowie die Möglichkeit, einen Überblick über den Arbeitsprozess und die Verwendung des Produkts zu besitzen.“771 Der soziale Status bildet sich in Abhängigkeit vom Grad der gesellschaftlichen Anerkennung eines Berufs. Durch eine starke Übereinstimmung der gesellschaftlichen Leistungsstandards und der Wertvorstellungen wird dem Berufsgruppenangehörigen ein Platz innerhalb der gesellschaftlichen Rangordnung zugewiesen.772 „Die Bedeutung des Berufs für die Arbeitstätigen setzt bei der gesellschaftlichen Bewertung an, der ihnen zugänglichen Kombination von Fähigkeiten und 769 770 771 772

Vgl. Heinz 1998, S. 398 Heinz 1998, S. 401 Heinz 1998, S. 412 Vgl. Heinz 1998, S. 400

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

201

den mit der Berufsarbeit gegebenen Chancen und Grenzen der Persönlichkeitsentwicklung.“773 „Berufliche Anforderungen und Arbeitssituationen prägen […] das Arbeitshandeln nicht direkt, sie sind durch berufliche Sozialisationsprozesse vermittelt und werden von den Beteiligten interpretiert.“774 Die berufsspezifischen Werte und Normen werden zwar durch die Sozialisationsprozesse vermittelt. Sie werden aber von den sozialen Akteuren in individuelle Handlungsmuster übertragen.775 „Berufliche Sozialisation wird mit der Aneignung und Veränderung arbeitsbezogener Qualifikationen identisch, unter Hervorhebung der planend-strategischen Fähigkeiten der Individuen und unter Vernachlässigung der kommunikativen, sozial-emotionalen und selbstreflexiven Handlungsorientierungen sowie der lebensgeschichtlich gebildeten Deutungsmuster. Gerade diesen Kompetenzen misst die […] Konzeption (psychologische Handlungstheorien) der beruflichen Sozialisation besondere Bedeutung zu, da sie die Art und Weise bestimmen, wie die Individuen ihr Verhältnis zur jeweiligen Arbeitssituation aufbauen. Damit soll hervorgehoben werden, dass sich das Verhältnis der Subjekte zur Arbeitstätigkeit nicht adäquat fassen lässt, wenn die Komplexität der Arbeits- und Lebenssituation auf die Bedingungen am Arbeitsplatz reduziert wird.“776 4.3.2 Identität und die Interdependenz zwischen Rollenperformanz, Interaktion und Kultur Die meisten Identitätskonzepte wurden auf der Grundlage von rollentheoretischen Überlegungen entwickelt, dies verdeutlicht die Nähe und Verbindung der Konzepte ,Identität‘ und ,Rolle‘. Die enge Verbindung zwischen Identität und Rolle erklärt Krappmann (1973/2010) durch: Die Leistung der Identitätsarbeit ist, die verschiedenen Rollen-Identitäten samt ihren Widersprüchen in einem Gleichgewicht zu halten und dabei keiner völlig zu verfallen und so eine Konsistenz und Dauerhaftigkeit der eigenen Person zu erhalten.777 Beispielsweise zeigt sich die große Interdependenz zwischen dem Identitätsbegriff und dem Rollenbegriff an dem Identitäts- und Rollenkonzept von Moreno: 773 774 775 776 777

Heinz 1998, S. 402 Heinz 1998, S. 399 Vgl. Heinz 1998, S. 399 Heinz 1998, S. 403 Vgl. Krappmann 1973/2010, S. 155 f.

202

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

„So wird die Identität des Individuums durch die entsprechende Kultur778 bzw. Gesellschaft geprägt. Dabei handelt das Individuum in seiner Rollenperformanz779 innerhalb von verschiedenen kategorialen Rollen, die auf dem Hintergrund von ,kulturellen Mustern‘ entstanden sind. Dabei ist die Identität als Gesamtheit der vom Individuum spezifisch eingegangenen Rollenkonfigurationen zu verstehen. Zugleich ist die Identität abhängig von der Anzahl der Rollen und der Lebendigkeit des Rollenhandelns. Je mehr Rollen ein Individuum spielen kann, desto reicher ist sein Selbst. Zentrale Bedeutung kommt dabei auch der Möglichkeit der persönlichen Gestaltung der Rolle durch das Individuum zu, das damit gegenüber den gesellschaftlichen Determinationen seinen eigenen Freiraum erhalten kann. Vom Individuum wird die Identität dann als kohärent erlebt, wenn es ihm im Verlaufe seines Lebens immer wieder gelingt, ausreichend neue Handlungs- und Kontaktbindungen zwischen den einzelnen, sich ständig verändernden Rollenbündeln zu entwickeln. Für Moreno ist die Identität zugleich auch abhängig von dem Anderen. Das Handeln und das Erleben der anderen und von sich selbst in der Interaktion und in diesem Sinne die Beziehungen zu anderen Personen sind konstitutiv für die Herausbildung und Entwicklung von Identität.“780

Mead hat diesen Zusammenhang in seiner Theorie mit der Fähigkeit des roletaking aufgegriffen. „Damit Handeln subjektiv sinnvoll für einen Menschen wird, muss er Perspektiven des Anderen und somit bestimmte Rollen übernehmen können. Nach Mead bezeichnet Sozialisation das Erlernen der Fähigkeit des role-taking, welche darin zum Ausdruck kommt, dass der Einzelne in der Lage ist, sich in die Rolle anderer Personen hineinzuversetzen. Durch die Übernahme der Perspektive des Gegenübers werden dessen Erwartungen antizipiert und das eigene Handeln781 auf diesen ausgerichtet. Eine wesentliche Entwicklungsaufgabe im Verlauf der Sozialisation besteht hierbei darin, das Gegenüber nicht (län-

778 Anmerkung: „Eine Kultur ist ein Gesamt von archivierten und tradierten kollektiven Wissensständen, Kenntnissen, Erfahrungen, Techniken und ihrer aktual vollzogenen Umsetzung in kollektiven bzw. kollektiv imprägnierten Kognitionen, übergreifenden emotionalen und volitiven Lagen und Lebenspraxen von Gruppen und Einzelpersonen.“ (Petzold 2001p, 36). 779 Anmerkung: Rollen-„Performanz heißt, in Rollen handeln, durch Rollenhandeln Lernen“. (Petzold 2001, S. 5) 780 Oetliker 2003, S. 12 f. 781 Anmerkung: „Handeln ist in diesem Verständnis als eine durch Beziehungen zwischen Akteuren geregelte Folge von Aktionen definiert, die in sozialen Situationen stattfindet, normativer Regelung unterliegt und der Motivation der Akteure folgt.“ (Hurrelmann 2002, S. 92)

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

203

ger) als konkreten Einzelmenschen, sondern als ,generalisierten Anderen‘ zu betrachten, in welchem sich die allgemeinen gesellschaftlichen Normen und Werte bündeln.“782 „Durch die Verkörperung des Anderen erfährt er radikal dessen Lage, d.h. dessen Sichtweise des Geschehens. Ferner spürt er in der Rolle des Anderen die Wirkungen, die von ihm selbst ausgehen. Er hat mit sich selbst als einem Fremden zu tun und muss als der Andere damit fertig werden. Dadurch bildet er aktiv ein neues me von sich selbst im Sinne Meads. Indem er die Rolle zurücktauscht, fließen die gemachten Erfahrungen mit seinem bisherigen Erfahrungsstrom zusammen“ 783 „R.H.Turner (1962) hat dem Mead’schen Konzept des role-taking das role-making beigestellt, das die individuelle Ausformung der Rolle durch die Interpretation unklarer und inkonsistenter Erwartungen beinhaltet.“784 „Geulen spricht an dieser Stelle von einer notwendigen Synthese der unterschiedlichen Rollenerwartungen, die an den Einzelnen herangetragen werden.“785 Bei den Rollentheorien unterscheidet Schäfers (2010) „einerseits zwischen den Ansätzen, die eher rigide Rollenauffassung aufweisen, also von den Anforderungen ,der‘ Gesellschaft bzw. der sozialen Systeme aus die Ansprüche an eine Rolle formulieren und andererseits den Ansätzen, die Rollenauffassung aus der Sicht des handelnden Individuums, das aus der […] Fremdrolle eine Eigenrolle machen will, um so seine personale Identität gegenüber der rollenspezifischen sozialen Identitäten zu behaupten (Goffman).“ 786 Für Goffman wird die Identität als Individualitätsdefinition stets in der Verbindung von persönlicher und sozialer Identität hergestellt. Demnach wird die Identität im Rahmen von vorgegebener Rollen und Rollenbindungen sowie durch gleichzeitige Rollenübernahme und Rollendistanz aufgezeigt und gestaltet.787 Um seine eigenen Interessen ins Spiel zu bringen, benötigt der soziale Akteur die Fähigkeit zur Rollendistanz. Goffman, der diesen Begriff geprägt hat, versteht hierunter die Fähigkeit, Normen (Rollenerwartungen) interpretierend wahrzunehmen und mit ihnen reflektierend so umzugehen, dass eigene Bedürfnisse in die Interaktion eingebracht werden können.788

782 783 784 785 786 787 788

Reimann 2012, S. 289 Buer 1999, S. 68 Krappmann 2010, S. 143 Faßauer 2008, S. 56 Schäfers 2010, S. 35 Vgl. Krappmann 2010, S. 135 f. Vgl. Goffman 1973/2014, S. 271 ff.

204

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Für Krappmann ist die Ich-Identität bereits Voraussetzung dafür, dass sich das Individuum um Rollendistanz bemühen kann: „Ohne den Rückgriff auf eine zu etablierende Ich-Identität fehlt dem Individuum der Bezugspunkt, vom dem aus es den Anforderungen einer Rolle Widerstand entgegensetzen oder sie modifizieren kann. Rollendistanz ist ein Korrelat der Bemühung um Ich-Identität.“789 „Ein sozialer Akteur wird mit einer Vielzahl von ambivalenten Erwartungen konfrontiert, die sowohl innerhalb einer Rollenbeziehung auftreten können als auch durch Konflikte zwischen den verschiedenen Rollen, die er einnimmt, hervorgerufen werden können. Um die Ich-Identität aufrechterhalten zu können, muss ein sozialer Akteur die Fähigkeit entwickeln, unterschiedliche Erwartungshaltungen der jeweiligen Interaktionspartner und die unvollständige Befriedigung eigener Bedürfnisse in der Handlungssituation zu ertragen. Diese Fähigkeit wird als Ambiguitätstoleranz bezeichnet.“790 Krappmann verdeutlicht, dass die Ambiguitätstoleranz sowohl eine die IchIdentität-stiftende als auch eine die Ich-Identität-stabilisierende Funktion hat. Durch diese Fähigkeit erschließt sich dem sozialen Akteur die Möglichkeit, seine Ich-Identität in der Interaktion zum Ausdruck zu bringen und sie gleichzeitig zu behaupten. Kann der Akteur Mehrdeutigkeiten, Widersprüchlichkeiten, ungewisse und unstrukturierte Situationen oder unterschiedliche Erwartungen und Rollen, die an die eigene Person gerichtet sind, ertragen, wird hierdurch seine Ich-Identität gestärkt.791 „Unter Identifikation mit der Rolle sind komplexe Anpassungsmechanismen zu verstehen, die sich vorübergehend oder dauerhaft im Ich etablieren, ihm damit eine größere Stabilität verleihen.“792 „Zu jeder Stellung, die ein Mensch einnimmt, gehören gewisse Verhaltensweisen, die man von dem Träger dieser Position erwartet; zu allem, was er ist, gehören Dinge, die er tut und hat; zu jeder sozialen Position gehört eine soziale Rolle.“793

789 790 791 792 793

Krappmann 2010, S. 138 Krappmann 2010, S. 155 Vgl. Krappmann 2010, S. 155 Maxeiner 2015, S. 3 Dahrendorf 2006, S. 32

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

205

Dahrendorf (2006) betrachtet demnach „soziale Rollen als Bündel von Verhaltenserwartungen, die innerhalb eines sozialen Systems an einen sozialen Akteur gerichtet werden.“794 Soziale Rollen bezeichnen Ansprüche der Gesellschaft an die Träger von Positionen, die von zweierlei Art sein können: einmal Ansprüche an das Verhalten der Träger von Positionen (Rollenverhalten), zum anderen Ansprüche an sein Aussehen und seinen ,Charakter‘ (Rollenattribute).“795 „Spezifische soziale Rollen stellen nach Biermann die Berufe dar. Demnach wird die Berufsrolle durch alle sozialen Erwartungen, mit denen ein sozialer Akteur typischerweise in seinem Beruf konfrontiert wird, geprägt.“796 „Die soziologische Rollentheorie konzipiert Berufe aus der Sicht gesellschaftlicher Normen und betrieblicher Handlungsanforderungen. Berufsrollen verweisen über ihren innerbetrieblichen Bezug hinaus auf gesamtgesellschaftliche Leistungsstandards und Wertvorstellungen, die sich auch im sozialen Status der Berufstätigen niederschlagen.“797 Dabei entwickelt sich eine Rollendifferenzierung aus der wachsenden Arbeitsteilung und beruflichen Spezialisierung innerhalb und zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Teilbereichen bzw. deren Organisationen. Die auf der Arbeitsteilung basierende Rollendifferenzierung impliziert eine Pluralisierung individueller Wahrnehmungs- und Deutungsmuster.798 Aus Sicht der soziologischen Rollentheorie ist die Aneignung der Berufsrolle mit einer Vielzahl von einzelnen Rollenlernprozessen verbunden. Diese sind auf die spezifischen Rollenerwartungen im jeweiligen Beruf hin ausgerichtet und beinhalten primär das Einüben bestimmter Verhaltensstrategien sowie das Erlernen von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die für die Ausübung der jeweiligen Berufsrollen erforderlich sind.799 Brim/Wheeler (1974) „formulieren in Rückgriff auf rollentheoretische Annahmen und die Identitätstheorie des symbolischen Interaktionismus die Persönlichkeitsentwicklung als eine erfolgreiche Serie von Rollenlernprozessen, die durch Veränderungen im Sozialgefüge und im Lebenszyklus notwendig werden.

794 795 796 797 798 799

Dahrendorf 2006, S. 32 Dahrendorf 2006, S. 33 Biermann 2000, S. 261 Heinz 1998, S. 400 Vgl. Faßauer 2008, S. 47 Vgl. Heinz 1998, S. 400

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4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Der Zweck der Sozialisation liegt in der Förderung von Motivation, Fähigkeiten und Kenntnissen, die für die Ausübung definierter Berufsrollen nützlich sind.“800 Dem strukturfunktionalistischen Rollenmodell nach bildet die Internalisierung von Normen und Werten den Kern der (beruflichen) Sozialisation. Dieses deterministische Verständnis der Aneignung von sozialen Rollen wurde insbesondere von Vertretern des interaktionistischen Rollenmodells kritisiert. Sie legen ein stärkeres Gewicht auf die Gestaltungsmöglichkeiten des Handelnden und betonen, dass dem sozialen Akteur bei der Interpretation und Aktualisierung von Rollen ein aktiver Part zukommt. Hierbei hat die Ich-Identität eine besondere Funktion. Der Akteur ist bestrebt, sie in jeder Interaktionssituation herzustellen bzw. aufrechtzuerhalten. Die Ich-Identität bildet dem symbolischen Interaktionismus nach die Voraussetzung für ein gelungenes Rollenhandeln.801 Heinz (1998) hebt hervor, dass die rollentheoretische Konzeption primär die Interaktionsprozesse innerhalb der Arbeitsorganisation sowie die Übereinstimmung der Persönlichkeitsstrukturen der Mitarbeiter mit der Unternehmenskultur in den Vordergrund rückt. Konflikte zwischen unterschiedlichen Dispositionen, insbesondere die Dominanz ökonomischer Orientierungen gegenüber anderen möglichen Werthaltungen, werden von diesem Ansatz eher vernachlässigt. Die ökonomische Ausrichtung der Organisationen findet ihre Entsprechung in klar abgegrenzten betrieblichen Hierarchien. Sie schränkt die Möglichkeiten zur Identitäts- und Kompetenzentwicklung in der Berufsarbeit ein.802 Berufliche Sozialisation lässt sich nach dem Verständnis der rollentheoretischen Ansätze, als ein ,psychischer Kontrakt‘ zwischen Individuum und Organisation (modus vivendi) begreifen.803 „Die rollentheoretische Konzeption betont vor allem die sozialen Interaktionsprozesse in der Arbeitsorganisation und die Passung zwischen Persönlichkeit der Mitarbeiter und Organisationskultur. Sie vernachlässigt sowohl die Konflikte zwischen unterschiedlichen Wertstandpunkten als auch die durch ökonomische Rationalitätskriterien und betriebliche Herrschaftsstrukturen eingeschränkten Chancen zur Identitäts- und Fähigkeitsentwicklung in der Berufsarbeit.“804

800 801 802 803 804

Vgl. Brim/Wheeler 1974, zit.n. Heinz 1998, S. 400 Vgl. Krappmann 2010, S. 97 Vgl. Heinz 1998, S. 400 f. Vgl. van Maanen 1976, S. 67 Heinz 1998, S. 400 f.

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

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Für Petzold (2001p) ist das Rollenkonzept eng mit dem Identitätskonzept verknüpft. Für ihn haben „Rollen einen konfigurierenden Charakter für die Identitätsbildung und die Identitätsarbeit.“805 „Im Laufe der Entwicklung der Persönlichkeit wird aus dem archaischen Leibselbst und dem archaischen Ich durch Förderung und Wachstum ein reifes Ich und ein emanzipiertes Leibselbst, auch Rollenselbst genannt. Das reife Ich schafft über Identifizierungsprozesse (ich sehe mich wie mich die anderen sehen - also Fremdattribution) und Identifikationsprozesse (ich sehe mich als die, die ich bin - also Selbstattribution), als höchste Ich-Leistung die Konstituierung von Identität. Indem Identifizierungen kognitiv (appraisel) und emotional, limbisch (valuation) bewertet werden, können sie auch verinnerlicht werden (Internalisierung). Das gleiche gilt für Zuschreibungen von Rollen, die nach gründlicher Prüfung/Bewertung angenommen oder abgelehnt werden können.“806 Durch das Rolleninventar807 und Rollenrepertoire808 einer Person sind alle Rollen dieser Person verkörpert und wirken deshalb leibhaftig in Verhaltenserwartungen und Identitätsattributionen konfigurierend. Dies stellt eine wesentliche Säule der Identitätsentwicklung (externale Identifizierung) dar, die dann zu einer internalen Überprüfung und Bewertung gelangt (appraisal, valuation).809 „Das wechselseitige Zusammenwirken von kollektiven und gesellschaftlichen Einflüssen mit ganz persönlichen und individuellen Ansätzen zeichnet sich durchgängig auf den ,Bühnen‘ des Lebens und somit auch auf den ,Schauplätzen‘ der Arbeitswelt ab. […] In sozialen Bezügen, in Teams und über Hierarchieebenen existieren hinweg unterschiedliche Perspektiven, sodass aus einer jeden 805 Petzold 2012, S. 91 806 Petzold 2001p, S. 22; S. 46 807 Anmerkung: Das Rolleninventar bezeichnet die nicht gespielten, beispielsweise erstarrten Rollen eines Menschen, die jedoch gegebenenfalls als aktualisierbar, also wiederbelebbar gelten. Hier sind alle jeweils da gewesenen, alle ,gespielten‘ Rollen zu finden. Die Verfügbarkeit einer Rolle gilt dann als gegeben, wenn die aktuelle soziale Situation diese Rolle erneut bestätigt. So können diese Rollen auch unwiderruflich ,verloren gehen‘ im Sinne des ,Nicht-Mehr-GespieltWerdens‘, wenn Kontexte, auslösende Interaktionspartner oder notwendiges Verkörperungspotenzial fehlen. Unter anderem an diesem Punkt wird deutlich, wie schwerwiegend der Einfluss von beispielweise Arbeitslosigkeit oder Degradierung sein kann (Arbeitsentwöhnung). (Petzold 2012, S. 101) 808 Anmerkung: Das sogenannte Rollenrepertoire bezeichnet dabei die aktuell spielbaren und gespielten Rollen eines Menschen, wobei der soziokulturelle Kontext zum jeweiligen Zeitpunkt maßgeblich für die Konstitution des Rollenrepertoires ist. Entsprechend ist die Festigkeit oder Veränderlichkeit der gespielten Rollen stets im Zusammenhang mit äußeren Einflüssen zu sehen. (Petzold 2012, S. 100) 809 Vgl. Chudy 2011, S. 94

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Rolle, in welche wir wechseln können, eine andere Perspektive für uns entsteht, obwohl wir auf dieselbe Situation schauen. Das bezieht sich sowohl auf die eigenen Rollen, die wir einnehmen und verkörpern, als auch auf die des Gegenübers. […] So zeugt der Rollenbegriff nicht nur davon, was wir selbst darstellen, sondern dass wir etwas darstellen, was in äußeren Erwartungen an uns herangetragen wurde. Dies ist ein wesentlicher Anteil des Menschen in seinem Handeln als soziales Wesen – auch in der Arbeitswelt.“810 „Rollen werden uns als symbolisches Konstrukt kognitiv präsent. Sie sind jedoch auch verkörpert und regelrecht angelegt in uns. Es besteht eine Art Rollenarchiv, unterstützt durch ein szenisches Gedächtnis, sodass ihre Repräsentation zusätzlich durch die corticale Speicherung geschieht. Der Leib wirkt mit seinen Fähigkeiten des Wahrnehmens und Speicherns konstitutiv, er ermöglicht Erinnerungen ebenso wie Antizipationen. Bei der Betrachtung des Rollenbegriffes wird deutlich, wie verwoben er in theoretischer und sozialpsychologischer Aufarbeitung doch mit dem Wesen von Identität ist. Schließlich wird im Zuge seiner Definition versucht, das Verhältnis von Individualität und Sozialität zu skizzieren.“811 „Es ist für ein eingehendes Verständnis dessen notwendig, das Wesen der Rolle aus diversen Perspektiven zu betrachten. a.

Soziologische Sicht: von dieser Makroperspektive werden Verhaltenserwartungen erfasst, die mit einem gesellschaftlich festgelegten Profil einhergehen, das einer Typisierung gleicht. Diese Erwartungen gehen häufig mit bestimmten Positionen oder einem Status einher und müssen in konkretem Verhalten verkörpert werden, zum Beispiel im Berufsalltag. So muss ein Arzt der Schwester in Absprache Anweisungen erteilen.

b.

Sozialpsychologische Sicht: von dieser Meso- und Mikroperspektive aus kommt es zur Attribution von Verhaltensweisen an eine Person in Interaktion mit anderen Personen. Es ist eine sozialbehaviorale Perspektive, die ihren Fokus auf konkrete Verhaltensweisen, also das entsprechende Rollenverhalten richtet.

c.

Integrativtheoretische Sicht: aufbauend auf vorstehende Konzepte sind Rollen als Verkörperung und Verleiblichung von gesellschaftlich typifizierten Mustern zu verstehen, die als kollektive mentale Repräsentationen fixiert

810 Chudy 2011, S. 94 f. 811 Chudy 2011, S. 94 f.

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

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sind. Die Verleiblichung zeigt sich in geistiger, seelischer und somatomotorischer Art. Die Inszenierung dieser Rollen auf den Bühnen des Lebens findet ihre Zuschreibungsstrukturen immer in Kontext und Kontinuum.“812 „Die kognitive Präsentation der Rolle ist nicht zu trennen von ihrem Ausdruck im Verhalten und Handeln eines Menschen. Mit Blick auf die Leiblichkeit beschreibt Petzold hier einen Rollenkörper, der vielfältige Rollen in sich oder auf sich trägt. Diese Betrachtung fordert unwillkürlich, den Blick auf persönlichkeitstheoretische Ansätze zu richten, wobei Petzold von der Ausbildung eines Rollenselbst ausgeht. Bereits Moreno hat den Diskurs persönlichkeitstheoretischer Ansätze in Verbindung mit dem Rollenkonzept angeregt.“813 „Für das Rollenselbst, das sich auf der Grundlage des Leibselbst durch Sozialisation entwickelt, werden öffentlicher und privater Bereich unterschieden, wobei a.

kategoriale Rollen, die als Rollenkompetenzen leiblich verinnerlicht sind (Rollenwissen um Eigenschaften und Inszenierungsbedingungen von Rollen)

b.

aktionale Rollen, die in der Rollenperformanz vollzogen werden (inszenatorische Umsetzung des Rollenwissens/Rollenkompetenz in Handeln) getrennt betrachtet werden.“814

„Dabei können Rollenkompetenz und Rollenperformanz als Manifestationen der sozialisatorischen und kulturellen Einflüsse gesehen werden, die Verkörperung finden.“815 „Der Mensch wird in seinem Handeln als auf andere ausgerichtet beschrieben, wobei stets das Wissen bezüglich kategorialer Rollen als bekannt vorausgesetzt werden muss, da ansonsten eine sinnvolle Handlung nicht möglich wird. Es könnte also der wesentliche Inhalt von Erwartungen beispielsweise nicht antizipiert werden, wenn der Hintergrund sozialer Szenen und die Wechselseitigkeit von Perspektiven nicht erkannt würden. Die enge Verbindung zu den Begriffen

812 813 814 815

Petzold 1974a, zit.n. Chudy 2011, S. 96 Chudy 2011, S. 98 Chudy 2011, S. 98 Chudy 2011, S. 98

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4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

der kollektiven sozialen Repräsentationen ist überdeutlich und betont die Notwendigkeit des Einbezugs dieses Konzeptes.“816 „Sollten die Rollenerwartungen, welche an uns herangetragen werden, widersprüchlich sein oder dem eigenen Rollenrepertoire nicht entsprechen, kommt es zu Rollenkonflikten, die sich auch leiblich zeigen und auswirken.“817 Rollenkonflikte lassen sich in „,Intra-Rollenkonflikte‘ und ,Inter-Rollenkonflikten‘ unterscheiden: a.

Im Intra-Rollenkonflikt wirken widersprüchliche Erwartungen innerhalb ein und derselben Rolle.

b.

Im Inter-Rollenkonflikt bestehen Erwartungen, welche die Passung zwischen verschiedenen Rollen infrage stellen, sodass die Rollenkonfiguration als inkonsistent empfunden wird. Hier divergieren innere Rollenerwartungen und äußere Rollenkonflikte.“818

„Im Arbeitsalltag kommt es oft zu einer Vermischung beider Kategorien, weshalb die Szenen sich häufig komplexer und verwobener darstellen, als sie auf den ersten Blick erscheinen.“819 Nach Petzold (1974a) ist es „wesentlich zu wissen, dass ein hohes Konfliktpotenzial innerhalb beruflicher Welten in sogenannten Rollen-Status-Konflikten gibt. Der Arzt in der Rolle als Mediziner würde unter Umständen gern mehr und länger Visite machen und forschen wollen, muss jedoch gegenüber einem Leistungsberechtigten, also einem Patienten, angemessen den Verwaltungsaufwand bewältigen, was zu Spannungen führen kann.“820 „Wendepunkte und Brüche (oder auch Diskontinuitäten nach Lempert 1998:33) im beruflichen Leben verdeutlichen die enge Vernetzung von beruflicher Identität und Sozialisation. Diese Brüche oder auch Dissonanzen müssen durch das Individuum im Sinne einer Anpassungsleistung ausgeglichen werden, um der neuen Rolle gerecht werden zu können, bzw. sich mit ihr identifizieren zu können. Hierzu gehört die Adaptation und/oder Integration an/in die neue Situation, ohne dass es zu Rollenkonflikten oder zur Unglaubwürdigkeit in der neuen ,Rollenidentität‘ führt. […] Zum Sozialisationsprozess zur Entwicklung 816 817 818 819 820

Chudy 2011, S. 98 Chudy 2011, S. 99 Chudy 2011, S. 99 Chudy 2011, S. 99 Petzold 1974a, zit.n. Chudy 2011, S. 100

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

211

der beruflichen Identität gehört auch die Übernahme und das Erlernen der Berufsrolle.“821 4.3.3 Entstehung eines beruflich-professionellen Habitus als Teil der beruflichen Identität Wie im Kapitel 4.1.6 dargestellt, steht die Identität in einem engen Bezug zum Begriff des Habitus. Die Entwicklung einer professionellen Berufsidentität wird über die Entwicklung eines professionellen Habitus erreicht.822 Der „Habitus enthält […] ein Konzept von Identität, in welchem Verhaltens-, Denk-, Wahrnehmungs-, Emotionsmuster etc. zusammen gehalten und als kohärent über die Zeit und über Situationen hinweg betrachtet werden können.“823 Die Identitätsentwicklung hängt mit der Sozialisation zusammen, wie ein Mensch seine Wirklichkeit deutet und sich in ihr verhält, welche Identitätsentwicklungen eine Person überhaupt in Betracht zieht, welchen Beruf sie wählt und wie sie sich im Beruf verhält. „Der berufliche Habitus ist ein idealtypisches Konstrukt, ein Bezugsrahmen für individualisierende Sozialisationsprozesse.“824 Hierbei werden „Individualisierung und Sozialisierung […] als Gemeinsames gedacht, nicht als wechselseitig um Einflussnahme kämpfend. Gesellschaft oder eben das Soziale ist ohne Individuen und deren Praxis jedweder Art nicht vorstellbar; es gibt keine Gesellschaft unabhängig von praktizierenden, denkenden, wahrnehmenden und fühlenden Menschen. Somit kann die Gesellschaft auch keinen objektiven Einfluss ausüben, ein Mensch sich ihr also nicht gänzlich ausgesetzt fühlen.825 Gesellschaft ist das, was und wie es Menschen tun.“826 „Während Habitus die sozialstrukturellen Aspekte menschlichen Handelns in den Vordergrund stellen, erlaubt es der Begriff der Habitualisierung827, die subjektive 821 822 823 824 825

Schämann 2005, S. 48 Vgl. Fröhlich/Kündig 2007, S. 199 ff. Reimann 2012, S. 281 ff. Heinz 1998, S. 403 Anmerkung: „Dennoch sind die Bedingungen (der Verfügbarkeit ökonomischen und kulturellen Kapitals) für die Ausbildung des Habitus entscheidend wichtig; sie stellen einen Raum von Möglichkeiten dar, Freiheitsgrade wahrzunehmen, Vorlieben auszuprägen, Notwendigkeiten zu erleben, normative Urteile zu bilden etc. und haben demnach sehr wohl Einfluss auf die individuelle Ausprägung eines Habitus.“ (Reimann 2012, S. 282) 826 Reimann 2012, S. 282 827 Anmerkung: „Habitualisierung beschreibt den Sozialisationsprozess, in dem man Gewohnheiten annimmt. Nach Pierre Bourdieu umfasst dies auch den Habitus derjenigen Klasse, in der ein Kind aufwächst. Hierdurch wird der Heranwachsende also mit der jeweils klassenspezifischen Art wahrzunehmen, zu denken und zu handeln ausgestattet.“ (Universal Lexikon Deutsche Academic 2019)

212

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Genese des Habitus zu skizzieren. Damit eröffnet er auch eine Möglichkeit, die bei Bourdieu häufig vernachlässigte Dimension des Subjektiven bzw. des Bewußtseins in den Blick zu bekommen.“828 Im Gegensatz zur Rollentheorie lässt sich mit dem Habituskonzept die Einheit der Person oder die Identität des Individuums fassen. Mit der Idee des Habitus entwickelt Bourdieu einen Begriff, der den verschiedenen Handlungen des Individuums eine Systematik verleiht. Mit ihm ist es möglich, die Kohärenz des Handelns, die unhintergehbar mit der Identität des sozialen Akteurs verknüpft ist, abzubilden.829 Unter dem Konstrukt „Person als Werkzeug“ versteht Spiegel (2004) die Fähigkeit der Fachkräfte, Können, Wissen und Haltung im beruflichen Alltag den jeweiligen Situationen bzw. Personen entsprechend einsetzen zu können.830 Dem Verständnis der Rollentheorie nach werden Individuum und Gesellschaft als antagonistische Konzepte einander gegenübergestellt, wobei die Gesellschaft die Normen und Werte vorgibt, die das Individuum zu befolgen hat. Mit dem Habituskonzept formuliert Bourdieu das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft neu. Gesellschaft und Individuum stehen in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander und erschaffen sich gegenseitig. […] Der Begriff des Habitus ermöglicht es zu erfassen, auf welche Weise die Gesellschaft von den sozialen Subjekten inkorporiert wird. Bourdieu bezeichnet den Habitus auch als ,Körper gewordenes Soziales‘, der unsere Praxis anleitet und strukturiert.831 Windolf (1981) diskutiert in „Anlehnung an den französischen Bildungsund Kultursoziologen Bourdieu den Begriff des beruflichen Habitus als Resultat der Verknüpfung von Sozialisation und Familie, Schule und Erwerbstätigkeit, die allesamt durch gesellschaftliche Reproduktionen durch Arbeit geprägt sind.“832 Dabei bezeichnet er den beruflichen Habitus als „jene theoretischen und praktischen Schemata, die in lebensgeschichtlichen Bildungsprozessen aufgebaut und in wechselnde Situationen funktionalisiert werden können - vor allem auch in der Arbeitsorganisation.“833 „Die verschiedenen Formen, die eine Gesellschaft für ihre Mitglieder als Optionen bereithält, eine bestimmte Haltung zur Welt einzunehmen, manifestieren sich sowohl in den Individuen als auch in den Institutionen.“834 828 829 830 831 832 833 834

Knobloch 2003, S. 188 Vgl. Krais/Gebauer 2002, S. 70; zit.n. Ebert 2011, S. 18 Vgl. Spiegel 2004, S. 84 Vgl. Krais/Gebauer 2002, S. 78; zit.n. Ebert 2011, S. 19 Heinz 1998, S. 403 Windolf 1981, S. 13 Ebert 2011, S. 14

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

213

„Es gibt […] zwei Formen, in denen sich Geschichte objektiviert, die Objektivierung in den Institutionen und die Objektivierung im menschlichen Organismus, eben als Habitus.“835 Die Unterscheidungen und Abgrenzungen zwischen den Individuen und Gruppen basieren auf der unterschiedlichen Verfügung über ökonomisches und kulturelles Kapital. Dabei sind die „Bedingungen (der Verfügbarkeit ökonomischen und kulturellen Kapitals) für die Ausbildung des Habitus entscheidend wichtig; sie stellen einen Raum von Möglichkeiten dar, Freiheitsgrade wahrzunehmen, Vorlieben auszuprägen, Notwendigkeiten zu erleben, normative Urteile zu bilden etc. und haben demnach sehr wohl Einfluss auf die individuelle Ausprägung eines Habitus.“836 Dies bedeutet, „dass eine Analyse der beruflichen Sozialisation sich nicht auf den Einfluss der Arbeitsorganisation beschränken kann, sondern die kulturelle Reproduktion […] insgesamt thematisieren muss. Der Wissensbestand (,Kultur‘) einer Gesellschaft wird hier nicht als abstraktes System von Begriffen, Sätzen und Symbolen verstanden, sondern als internalisierte Schemata, die praktisch in Handlung wirksam werden.“837 Dazu beschreibt Heinz (1998) den beruflichen Habitus als „ein stabiles System verinnerlichter interner Handlungsregeln, die nicht nur der Anpassung an die Arbeitsanforderungen, sondern auch der Selbstinterpretation und der Deutung gesellschaftlicher Verhältnisse dienen. Die sozialen Anforderungen, die beim Erlernen und Ausüben eines Berufs erfüllt werden, führen zu Akteuren mit einem gleichen Habitus, d.h. gemeinsamen Denk- und Beurteilungsmustern sowie Handlungsschemata.“838 Demnach müssten Ärzte auch an ihrem Habitus zu erkennen sein. Ihre Muster zu denken, zu beurteilen und zu handeln wären nach außen erkennbar an ihrem Verhalten, das sie von anderen Berufsgruppen unterscheidbar macht.839 Dabei konkretisiert sich der berufliche Habitus „durch die Beteiligung am betrieblichen Arbeitsprozess, wodurch die Erwerbstätigen in den jeweiligen kulturellen Code der Organisation eingefügt werden; dies geschieht durch Initiationsprozesse und Statuspassagen, nachdem Selektionskriterien über-

835 836 837 838 839

Bourdieu 1987, S. 95 Reimann 2012, S. 282 f. Windolf 1981, S. 13 Heinz 1998, S. 403 Ohling 2015, S. 20

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4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

wunden sind. […] Dabei geht es darum, die impliziten Spielregeln oder den ,geheimen Lehrplan‘ der Arbeitsorganisation zu entschlüsseln, […] um das für den beruflichen Habitus konstitutive ,Betriebswissen‘ aufzuzeigen.“840 „Habituelle Schemata wirken nicht nur in der Art, zu denken und zu urteilen, sie lassen sich auch erkennen und sind praktisch sichtbar in der Art, sein Leben zu gestalten. Dabei kommt bestimmten Objekten, Gegenständen, Materialien (z.B. dem weißen Kittel) und Aktivitäten (z.B. der Position in der Rangfolge einer Visite) die Funktion eines ,Zeichens für‘ oder eines ,Zeichens für nicht‘ zu. Durch diese Zeichendeutung und -verwendung dienen sie als Symbole von Zugehörigkeit und Abgrenzung.“841 Der Habitus eines Menschen ist das Ergebnis eines lebenslangen Sozialisations- und Lernprozesses, in welchem sich der Mensch die Welt aktiv aneignet und die sozialen Regeln und das für ihn relevante gesellschaftliche Wissen verinnerlicht. Der Habitus wird im Rahmen von „Sozialisationserfahrungen erworben, die von Erziehungs- und Bildungsinstanzen vermittelt werden; nicht die eigenen Erfahrungen sind dabei prägend, sondern berufsbezogene Denk- und Lebensweisen der Erziehungsautoritäten.“842 Gemäß Knoblauch (2003), der sich auf Bourdieu bezieht, besteht der „Habitus […] vor allen Dingen aus praktischem Wissen.“843 „Bourdieu bezeichnet diesen Aneignungsprozess als Inkorporation, also als eine Form der Verinnerlichung der Denk- und Sichtweisen, Wahrnehmungsschemata und Prinzipen des Urteilens und Bewertens einer Gesellschaft, die sich in einem als identitär wahrgenommenen Habitus niederschlagen.“844 Fröhlich (1994) erläutert den Erwerb eines Habitus durch die „Kondensation von früheren Erfahrungen in den Menschenkörpern, die als Wahrnehmungs-, Denk und Handlungsschemata“ 845 durch drei unterschiedliche Einprägungsformen entstehen: „Erstens Lernen als einfaches, unmerkliches Vertraut werden, zweitens ausdrückliche Überlieferung kraft Anordnung und Vorschrift, drittens strukturale Übungen in Spielform.“846 „Die für die Zulassung zu dem Spiel und den Erwerb des spezifischen Habitus erforderliche, je nach Ausgangspunkt mehr oder weniger radikale Umwandlung des ursprünglichen Habitus vollzieht sich unauffällig, 840 841 842 843 844 845 846

Heinz 1998, S. 403 Bourdieu 1982; vgl. Krais/Gebauer 2010, S. 37, zit.n. Reimann 2012, S. 278 Janning 1991, S. 39 Knobloch 2003, S. 191 Krais/Gebauer 2010, S. 5 Fröhlich 1994, S. 39, zit.n. vgl. Knobloch 2003, S. 193 Fröhlich 1994, S. 39, zit.n. vgl. Knobloch 2003, S. 193

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

215

das heißt graduell, allmählich und unmerklich, so dass sie im Wesentlichen gar nicht wahrgenommen wird.“847 So beschreibt auch Reimann (2012) die Entwicklung des medizinischen Habitus als Umwandlungsprozess, der gerade in seiner „,Allmählichkeit‘848 […] in dem Vergleich der Orientierungsschemata vorklinischer, klinischer und assistenzärztlicher Bedingungen prägnant hervortritt. […] Es findet eine allmähliche Anpassung zwischen einem als individuell wahrgenommenen und einem erforderlichen Habitus statt, was vor allem durch die verstärkte Einsicht in das medizinische Feld in Form von Praktika, Unterricht am Krankenbett etc. hervorgerufen wird. In den assistenzärztlichen Orientierungen erfährt diese Verinnerlichung eine erhöhte Ausprägung, da nicht mehr das Spiel im als ob, sondern das medizinische Spiel als solches realisiert wird. Eine Einpassung in die Spielregeln zeigt sich an den Stellen, wo unterschiedliche Rahmen der Realisierung aufgesucht werden, die kongruent zu Eigenem wahrgenommen werden; wobei auch innerhalb eines solchen Rahmens ein spezifischer Habitus entäußert wird: der der Verausgabung für das Spiel und vor allem der Annahme der Sinnhaftigkeit, der Glaube an das Spiel.“849 „Durch die einverleibte Praxis der Teilnahme am Spiel werden feldspezifische Aspekte zu etwas Natürlichem, was der Grund für die Unbekanntheit der Spielregeln bzw. deren immanente Logik zu sein scheint. Bestimmte Verhaltensformen, Stile, Vorlieben, Denkweisen, Argumentationslinien, Kategorien, Konstrukte, aber auch Emotionen z.B. bei Regelverstößen, etc. geraten gerade durch die Einverleibung oder Verinnerlichung der Spielregeln zu etwas, was die jeweiligen Akteure als individuellen Ausdruck oder als persönliche Vorliebe, jedoch nicht als einen feldspezifischen Habitus deuten.“850 Dem Habituskonzept nach lassen sich die heilenden Berufe (z.B. Ärzte/Pflegedienst) einem sozialen Feld zuordnen. „Die Akteure in diesem sozialen Feld handeln nach den in ihrem Feld geltenden Regeln. Kritisch zu hinterfragen ist, ob diese Regeln auf allgemein akzeptierten Handlungsregeln und 847 Bourdieu 2001, S. 20 848 Anmerkung: „Anfänglich finden sich neben sehr vereinfachenden Wahrnehmungsmodi (Arzt als Dienstleister und eine moralische Orientierung) schon Annäherungen an zwei Formen einer Basistypik des medizinischen Habitus, die jedoch weniger elaboriert erscheinen und aus der Position der Studierenden zwangsläufig zunächst nur antizipiert werden. Über eine Ambivalenz hinweg erfahren diese in dem klinischen Erlebnis- und Erfahrungsraum schon eine merkliche Verinnerlichung, wobei die Frage bedeutsam scheint, wie eine Kohärenz zwischen aktuellem und anzustrebendem Habitus möglich werden kann.“ (Reimann 2012, S. 282) 849 Reimann 2012, S. 282 850 Reimann 2012, S. 281

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Standards der Profession basieren und wissenschaftlichen Begründungsanforderungen entsprechen. Im Rahmen der Ausbildung ist es aus diesem Grund erforderlich, die Grundvoraussetzungen für die Annahme eines professionellen Habitus zu legen.“851 Becker-Lenz/Müller (2008) heben hervor, dass hierfür „zwei Aspekte ausschlaggebend sind. Es geht sowohl um die Auseinandersetzung mit den zentralen Werten als auch um die berufsspezifischen ethischen Grundhaltungen in den Handlungspraxen […]. Dies erfordert die Bewusstmachung und ggf. auch die Modifikation bestehender eigener Haltungen. Aus diesem Spannungsverhältnis entsteht im Idealfall ein professioneller Habitus, der Handelnde […] in die Lage versetzt, die von der Praxis gestellten Handlungsanforderungen adäquat zu bewältigen.“852 „Um den Prozess der Aneignung eines Habitus nachzuvollziehen, stellen lerntheoretische Überlegungen geeignete Modelle dar, zumal sie dem Konzept des Habitus schon implizit zu Grunde liegen. […] Auch die Idee der Entwicklung oder Formung eines Habitus gelingt nur in Auseinandersetzung des speziellen Menschen mit seinem, ihn umgebenden spezifischen sozialen Raum.“853 „Weiterhin sind für den Erwerb eines spezifischen Habitus verschiedene Lernmechanismen, Rahmen, Interaktionen, systemische Eigenwerte, motivationale, volitionale und emotionale Elemente, sowie strukturierte Strukturen und sozialisatorische Institutionen (wie Rituale) besonders bedeutsam.“854 4.3.3.1 Sozialisation als komplexer Prozess des Lernens „Leben ist Lernen, ist Verhalten in Lebensraum und Lebenszeit.“855 Die Bedeutsamkeit des Lernens liegt in ihrer prozesshaften Begleitung für die Identitätsentwicklung. Innerhalb des Sozialisationsprozesses werden durch den komplexen Lernprozess generalisierte Verhaltensdispositionen erworben, die aufgrund von Beziehungserfahrungen im Sozialsystem durch Bestätigungs- und Ablehnungsprozesse internalisiert werden. Für Nummer-Winkler (2011) wirken auf die „Sozialisation als komplexer Prozess des Lernens unterschiedliche Mechanismen in Abhängigkeit von In-

851 852 853 854 855

Ebert 2011, S. 20 Vgl. Becker-Lenz/Müller 2008, S. 25; zit.n. Ebert 2011, S. 20 Reimann 2012, S. 285 Reimann 2012, S. 298 f. Petzold 1996c; zitiert in Sieper/Petzold 2002, S. 1

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

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haltsdomänen, Persönlichkeitsmerkmalen und Kontextbedingungen je unterschiedlich zusammen.“856 Erst durch Person-Umwelt-Interaktionen, die Lernprozesse darstellen, werden Verhaltensweisen und Handlungskompetenzen ausgebildet. „In Lerntheorien kommt der Umwelt eine entscheidende Bedeutung im Sozialisationsprozess eines Individuums zu. Lernen kann dabei einerseits intentional, andererseits auch implizit erfolgen, also in Form einer Übernahme oder einer gesteuerten Konstruktion. Die Ergebnisse von Lernprozessen können unbewusst und als reflexiv nicht einholbare Wissenssysteme und Dispositionen Gestalt annehmen, aber auch bewusst oder bewusstseinsfähig sein.“857 Petzold (1969c) konkretisiert das Lernen als ein „Differenzieren, Konnektivieren, Integrieren von Wahrnehmungs-, Erfahrungs-, Wissens-, und Metawissensbeständen […] im Erfassen, Verarbeiten und kreativen Nutzen der Komplexität dieser Prozesse selbst wird es Metalernen.“858 „Lernmechanismen, wie klassisches, operantes oder instrumentelles Konditionieren, Nachahmungslernen und soziales Lernen beziehen sich auf das Erlernen von Verhalten, Motiven und auf kognitives Lernen.“859 „Lernen wird durch die Wirkungen der sozialen Umwelt über Prozesse der Aneignung von Verhaltensformen und Wissensbeständen erklärt.“860 Lefrancois (2006) definiert soziales Lernen als „das Lernen von Verhaltensweisen, die sozial anerkannt sind (wie auch solche, die nicht anerkannt sind).“861 Für Hurrelmann (2006) ist das ,Lernen als ein lebenslanger Prozess‘862 und bezieht sich dabei auf Bandura (1979), wenn er ausführt: „Soziales Lernen ist in dieser Theorie die Aneignung und Verarbeitung von Normen, Erwartungen und Regeln der sozialen und kulturellen Umwelt.“863 Nach Bandura (1979) „verarbeitet jeder Mensch das, was er am Verhalten anderer Menschen in Modellfunktionen wahrnimmt, in einer solchen Weise, dass er über Wahrnehmung, Bedeutungszuschreibung, kognitive Strukturierung, Gewichtung und Selektion von Informationen eine Konstruktion von Regelsystemen aus dem Verhalten anderer vornimmt.“864 Dabei versucht das Individuum beim Prozess des Modellernens,

856 857 858 859 860 861 862 863 864

Nummer-Winkler 2011, S. 188 Reimann 2012, S. 285 Petzold 1996c; zit.n. Sieper/Petzold 2002, S. 1 Reimann 2012, S. 285 Hurrelmann 2006, S. 65 Lefrancois 2006, S. 193 Vgl. Hurrelmann 2006, S. 65 Bandura 1979, zit.n. Hurrelmann 2006, S. 65 Bandrua 1979, zit.n. Hurrelmann 2006, S. 65

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das beim „anderen wahrgenommene Verhalten bewusst oder unbewusst zu übernehmen. […] Der ,sozialen Lerntheorie‘ zufolge (Bandura 1977) kann ein neues Verhalten durch ,Sehen‘ übernommen werden.“865 „Das Lernen am sozialen Modell geschieht überwiegend durch Nachahmung und Identifikation des Beobachters mit dem durch eine andere Person vorgeführten Verhalten.“866 „Das Erlernen dieser „Prinzipien von Sichtung und Ordnung“ geschieht vornehmlich als nachahmendes Lernen, also durch den körperlichen Nachvollzug von Verhaltensweisen, Sprechakten, Reaktionsmustern etc., was den Begriff der Einverleibung oder Inkorporation äußerer Strukturen verdeutlicht.“867 „Gerade durch die Unmittelbarkeit der Erfahrung von Normalität innerhalb der Familie (als die den Habitus konstituierende Instanz) zeigt sich prägnant, dass die Entwicklung eines bestimmten Habitus nicht über rationale Entscheidungsprozesse der Wahl bestimmter Handlungen vollzogen wird, sondern durch die Aneignung des Gewohnten, Vertrauten, als normal Wahrgenommenen als Eigenes oder Persönliches. Alternativen zu gewohnten Lebensführungen und Ordnungsschemata können zwangsläufig nicht im Habitus repräsentiert sein.“868 Das Konzept der Selbstwirksamkeit (von Bandura in den 80er-Jahren eingeführt), „bezeichnet die Überzeugung eines Menschen, ein bestimmtes Verhalten auszuführen und dabei auftretende Hindernisse oder Schwierigkeiten überwinden zu können.“869 Die „Selbstwirksamkeit ist eine wichtige Bedingung für jede Form der Verhaltensänderung, weil sie Einfluss darauf hat, wie viel Anstrengung in ein bestimmtes Vorhaben investiert und inwieweit das gewünschte Ziel erreicht wird.“870 Da das Konzept ,Selbstwirksamkeit‘ eine Ähnlichkeit mit dem salutogenetischen ,Kohärenzsinn‘ hat, „hat Bandura ein reflektives Element in die Lerntheorien eingezogen, das eine Brücke zu den Persönlichkeits- und Stresstheorien baut. Damit hat die Lerntheorie ihre Leistungsfähigkeit für die Analyse von Sozialisationsprozessen deutlich erhöht.“871 Petzold macht deutlich, dass „ein breit gefasstes Lernkonzept, das diese Transformationsvorgänge berücksichtigt, auch die Leiblichkeit des lernenden Subjektes einbeziehen muss, sodass neben den kognitiven Leistungen emotionale, motivationale und volitive sowie die interaktiv-kommunikativen Muster 865 866 867 868 869 870 871

Bandrua 1977, zit.n. Mönks/Knoers 1996, S. 95 Hurrelmann 2006, S. 66 Bourdieu 2001, S. 178, Hervorhebung im Original, zit.n. Reimann 2012, S. 284 Reimann 2012, S. 284 Hurrelmann 2006, S. 66 Hurrelmann 2006, S. 66 Hurrelmann 2006, S. 67

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

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einzufassen sind. Für Petzold/Sieper (2002) ist Lernen […] ein kollektives Ereignis (in Korrespondenz) im Kontext unzähliger individueller Lernvorgänge, wobei die Verbindung zwischen den Komponenten Wahrnehmung, Verarbeitung und Handlung untrennbar ist. Dieser Dreischritt verbindet leibliches Erleben, emotionale Erfahrung und kognitive Einsicht gleichermaßen.“872 „Dabei ist Selbsterkenntnis aus sozialer Praxis vermittelt, sodass Identität aus Interaktion gewonnen wird. Im Ergebnis steht das Erleben vitaler Evidenz, wobei Lernen stets an Verhaltensmöglichkeiten und Begrenzung geknüpft wird. Da individuell und auf kollektiver Ebene gelernt wird, sprechen Sieper/Petzold auch vom Polyloglernen.“873 „Daneben ist Kollektives Lernen durch seine Interaktionsdimension immer auch ein Handlungslernen, wobei Sprache als Handlung aufgefasst werden muss.“874 „Dabei ist die Zwischenleiblichkeit in Gruppen oder Teams ein besonderes Phänomen, welches sich auf die Synchronisationsleistung von Spiegelneuronen im Gehirn stützt. Wichtig für das Begreifen der Komplexität von Lernprozessen ist das Wissen, dass ein gruppaler Abgleich immer in emotionaler, motivationaler, volitiver und neuromotorischer Hinsicht verläuft, sodass auch Stimmungslagen und Atmosphären beeinflusst werden und beeinflussend sind.“875 Hier kann auch die Fähigkeit von Menschen verortet werden, sich atmosphärisch auf andere Menschen einzustimmen, zu kooperieren (Teamarbeit), wobei sich dies stets in die cerebrale Gesamtleistung einfügt. „Für die Ebene der Reflexion, welche in medizinischen Handlungsprozessen eine große Rolle spielt, ist ein wesentlicher Bestandteil das Wissen über sich selbst, die eigenen Vorgänge und Wissensstände. Daher wird auch das Reflektieren des eigenen Lernprozesses und seiner Determinanten als Metalernen verstanden, was wiederum zu einer Qualitätsverbesserung beruflicher und sozialer Kompetenzen und Performanzen führen kann. Die Reflexion eigener Wissensstände kann ergeben, dass Wissensstände existieren, die nicht genutzt werden, da eine angemessene Anwendung dieser nicht erreicht werden kann. Das kann durch die fehlende Anbindung des Wissens an Sinn, Erfolg oder Kontext geschehen, sodass die Vermittlung von neuen Inhalten in der medizinischen Behandlung nach Möglichkeit einen individuellen Sinn für die Patienten ergeben sollte.

872 873 874 875

Petzold/Sieper 2002, S. 12 Petzold/Sieper 2002, S. 23 Petzold/Sieper 2002, S. 6 Petzold/Sieper 2002, S. 23 f.

220

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Sie sollten das erworbene Wissen in Zusammenhang stellen und zuordnen oder passend cerebral ablegen können, um davon auch tatsächlich zu profitieren.“876 Nach Petzold/Sieper (2002) findet „Lernen […] grundsätzlich dann statt, wenn die Umwelt, also die Lernumgebung eine Veränderung bietet, die auch als Herausforderung verstanden werden kann. Das Wesen dieser Herausforderung ist, dass die Möglichkeit zu einer oder mehreren Handlungsvarianten bereitgestellt wird, sodass ein Handlungsanreiz entsteht. Der Lernende kann dies als Performanzangebot begreifen und handelnd reagieren. So kann die Möglichkeit zu performanzorientiertem Lernen entstehen.“877 „Für Ärzte ist es ein wesentlicher Faktor der eigenen beruflichen Performanz die Wirkung auf den anderen, also die Vorbildwirkung. Daher soll hier kurz auf die Unterscheidung des Wesens von explizitem und implizitem Lernen hingewiesen werden, welches nicht nur für die Beziehung Arzt/Patient, sondern auch in Gruppen und Teams überhaupt eine Rolle spielt. Während das explizite Lernen mit dem Bewusstsein darüber einhergeht, dass ich gerade etwas lerne, ist das implizite Lernen eher hintergründig im Sinne dessen, dass es beiläufig, jedoch mit voller Wirkung geschieht, zum Beispiel durch die Beobachtung der Sozialpartner. Diese zweitgenannte Form des Lernens findet andauernd und ab dem frühen Kindesalter statt, sie wird verbunden mit dem sogenannten impliziten Wissen. Das ist das Wissen, welches in unserem Können liegt, jedoch nicht explizit zur Verfügung steht. Darunter fallen dann auch Wissensstrukturen, die nicht umfassend expliziert, also verbal ausgedrückt werden können; es ist das Wissen, ,wie etwas geht‘ (Schnürsenkelbinden ohne hinsehen). Dieses Wissen unterscheidet sich vom expliziten Wissen, also ,dass etwas so ist‘ (beispielsweise: Schnürsenkel gebunden, Schuh hält).“878 „Die Wahrnehmung des anderen trägt zum Lernen ebenso bei wie das Wahrnehmen von veränderten Anforderungen oder Handlungsmöglichkeiten, da wahrgenommene Inhalte neuronale Spuren in uns hinterlassen. Hier wird im neurowissenschaftlichen Bereich von neuronalen Repräsentationen gesprochen.“879 „Die Verknüpfung mit dem Konzept der mentalen Repräsentationen, die eben diese neuronalen Prozesse einschließen, verdeutlicht einmal mehr die komplexe Herangehensweise der Integrativen Theorie an das Wesen von Identität.“880 876 877 878 879 880

Petzold/Sieper 2002, S. 8 f. Petzold/Sieper 2002, S. 8 f. Petzold/Sieper 2002, S. 14 Vgl. Spitzer 2003, S. 27, 44 f., 80 f., zit.n. Petzold/Sieper 2002, S. 14 Petzold/Sieper 2002, S. 14

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4.3.3.2 Sozialisation als selbstreferenzielle Reproduktion des Systems Die Sozialisation als selbstreferenzielle Reproduktion des Systems „weist auf die Frage nach der generellen Strukturierung moderner Gesellschaften hin, die nach Bourdieu mit den zentralen Prinzipien der sozialen Klasse, dem sozialen Feld (das Ähnlichkeiten zu Konstrukten wie System im Sinne Luhmanns oder Rahmen im Sinne Goffmans aufweist) und den Kategorien des Geschlechts als soziale Ordnung beantwortet wird. Um Gesellschaft jedoch auch strukturieren zu können, müssen sie sich einerseits in den Individuen repräsentieren und durch deren Verhalten (oder eben ihren Habitus) wirksam werden; d.h. der darin enthaltene ,objektive Sinn‘ muss durch das Verhalten der Individuen am Leben erhalten werden.“881 „Für die Komplexität, in der das Individuum seine Identität in Wechselwirkungen von Selbstkonzept und Umwelt erwirbt, kann die systemische Sichtweise weitere Erkenntnisse beitragen. Vor allem auch die lebensweltliche Betrachtungsweise wird durch dieses Modell unterstützt. Menschen werden darin sowohl als Selbst-Handelnde, aber auch in viele Systeme eingebundene und damit mehr oder weniger einer Sozialisation von außen unterworfene Individuen verstanden. Es werden hier unterschiedliche Systeme miteinander in Korrelation gebracht: Innerhalb systemtheoretischer Ansätze882 wird die Eigenständigkeit von Systemen betont und nicht explizit eine wechselwirkende Beeinflussung angenommen.“883 In der systemtheoretischen Konzeption von Luhmann wird ,Sozialisation‘ als ,Selbstsozialisation‘ verstanden; „Sie erfolgt nicht durch Übertragung eines Sinnmusters von einem System aufs andere, sondern ihr Grundvorgang ist die selbstreferenzielle Reproduktion des Systems, das sie Sozialisation an sich selbst bewirkt und erfährt.“884 „Das bedeutet, dass die Persönlichkeitsentwicklung zwar abhängig von der sozialen Umwelt scheint, dennoch wird der Mensch durch den Prozess der Sozialisation nicht Teil des sozialen Systems, wie auch dieses durch eine Sozialisation nicht Teil der Psyche wird; es findet zwar Interaktion statt, aber die Systeme bleiben jeweils nur Umwelten füreinander. Im sozialen System wird die innere

881 Krais/Gebauer 2010, S. 35, zit.n. Reimann 2012, S. 278 882 Anmerkung: Vertreter systemtheoretischer Ansätze sind u.a. Luhmann 1984; Parsons 1951, 2003; Stichweh 1988 883 Reimann 2012, S. 292 884 Luhmann 1984, S. 327, zit.n. Hurrelmann 2006, S. 89

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Struktur durch selbstreferenzielle Prozessierung erzeugt; dabei wird die Reduktion von Komplexität und Kontingenz885 als die eigentlich systemerhaltende Funktion und Leistung des Systems verstanden; diese eignet sich an und übersetzt Strukturen, Prozesse und Komponenten aus der Umwelt in das eigene Innere.“886 4.3.3.3 Interaktionsprozesse, Routinen und Rituale als Wirkungsfaktoren im Sozialisationsprozess Im Verlauf der Sozialisation erfolgt nach Bourdieu die Konstruktion des Habitus durch die prägende Interaktion zwischen der Umwelt und dem Subjekt. „In Erweiterung, aber auch Abgrenzung zu persönlichkeitstheoretischen Ansätzen wird hierbei die Sozialisation als Prozess begriffen, der über die Annahme einer individuellen Reifung bestimmter und spezifischer Anlagen in Auseinandersetzung mit sogenannten objektiven Realitäten hinausgeht. Sozialisation wird auch hier verstanden als ein Interaktionsprozess887 des Individuums mit seinen spezifischen Anlagen, Motiven und Dynamiken und bestimmten Bedingungen des Außens. Dabei handelt es sich vor allem um kommunikative Abläufe und Anpassungen an dingliche und strukturelle Gegebenheiten der das Individuum umgebenden Umwelt(en).“888 „Grundlage des Alltagshandelns ist das Vertrauen aller Interaktionspartner in die Bekanntheit bestimmter Handlungsregeln, welches diese wiederum bestätigt und aufrechterhält und sie somit durch das Handeln reproduziert. Diese Regeln müssen nicht expliziert werden, sondern werden als gegenseitig ,gewusst‘ vorausgesetzt und somit als gemeinsam geltend unterstellt. Dies bietet die Grundlage für geteilte Überzeugungen, die wiederum Handlungsvollzüge ohne 885 Anmerkung: „Kontingent ist etwas, was weder notwendig ist noch unmöglich ist; was also so, wie es ist (war, sein wird), sein kann, aber auch anders möglich ist. Der Begriff bezeichnet mithin Gegebenes (zu Erfahrenes, Erwartetes, Gedachtes, Phantasiertes) im Hinblick auf mögliches Anderssein; er bezeichnet Gegenstände im Horizont möglicher Abwandlungen.“ (Luhmann 1984, 150). 886 Hurrelmann 2006, S. 89, zit.n. Reimann 2012, S. 292 887 Anmerkung: Oevermann (1976) entwickelt, abgeleitet aus der Theorie der Kommunikation „einen theoretischen Ansatz der sozialisatorischen Interaktion […]. Innerhalb dieser Annahmen sind nachträgliche Bearbeitungen einer erlernten Art der Interaktion möglich; hier transportieren frühe Interaktionsszenen objektive Sinngehalte, die die Motive und Intentionen der Sozialisationsagenten wie auch die kindlichen Verstehensmöglichkeiten transzendieren, gleichzeitig aber das Erleben späterer Interaktionen einfärben und das Handeln mitbestimmen; diese können nachträglich ausgedeutet und reflexiv eingeholt werden“. (Oevermann 1976, S. 387, zit.n. Reimann 2012, S. 291) 888 van Maanen 1976, S. 67, zit.n. Reimann 2012, S. 290

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

223

größere Störungen erst möglich machen. Dieser Interaktionsraum der Selbstverständlichkeiten des Alltags bildet die Welt ab, in der man genau ,weiß‘, woran man ist, und in der man daher kompetent und routiniert handelt.“889 „Wichtiges Merkmal des Alltagshandelns ist die Beseitigung möglicher Störvariablen, indem Unbekanntes so behandelt wird, als sei es bekannt oder zumindest ein Teil der bekannten Normalität.“890 Nach Nag et al. (2007) besitzen organisationale Routinen die Eigenschaft, „in Handlungsmuster eingelagertes Wissen zur Anwendung zu bringen und somit eine rekursive Konstitutionsbeziehung zwischen Wissen und Identität zu etablieren.“891 Die Konstruktion der Normalität eine bestimmte kognitive Praxis zu schaffen wird durch Erfahrung, Handeln und Wissen geschaffen. Soeffner (1992) verweist hierbei auf die ,strukturierende Struktur‘ von Goffman (1996), da von einer Wechselwirkung ausgegangen wird, wonach auf die erzeugenden Strukturen, im Sinne eines Rahmens durch die Anerkennung und das Befolgen von Regeln wiederum strukturierend Einfluss genommen werden kann.892 „Sichtbarer Ausdruck der Normalitätskonstruktion im Alltag ist die Wiederholung erprobter und bekannter Handlungsmuster in der Interaktion. Sie demonstrieren das Vertrauen auf einen gesicherten gemeinsamen Wissensbestand sowie auf einen gemeinsamen Erfahrungs- und Handlungsraum, innerhalb dessen man nichts falsch machen kann und in dem Problemsituationen im Rekurs auf bekannte Problemlösungen (wie wenig effektiv diese auch im Einzelnen sein mögen) bewältigt und damit in den Bereich funktionierenden Normalität eingegliedert werden. […] Dieser spezifische Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstil erst ermöglicht ein Handeln im Alltag. Dem gegenüber jedoch bietet alltägliches Handeln wenig Raum, tatsächlich neue Verhaltensweisen, Denkschemata und Werturteile durch kreative, also neuartige, Lösungsversuche hervorzubringen.“893 Soeffner (1992) merkt hierzu an „Routinen dienen zwar einerseits der Entlastung, andererseits aber auch dazu, Brüche in der Deutung zu überbrücken, um erneut handlungsfähig zu werden.“894

889 890 891 892 893 894

Soeffner 2000, S. 284, zit.n. Reimann 2012, S. 295 Reimann 2012, S. 295 Nag et al. 2007, zit.n. Vogel/Hansen 2010, S. 14 f. Vgl. Soeffner 1992/Goffman 1996, zit.n. Reimann 2012, S. 295 Soeffner 2000 S. 284, zit.n. Reimann 2012, S. 294 f. Soeffner 1992, zit.n. Reimann 2012, S. 296

224

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

„Neben den Routinen spielen Rituale vor allem in Prozessen der Sozialisation eine bedeutsame Rolle. Rituale können dabei als selbstverständlich wirkende soziale Mächte sowie als institutionalisierte, kollektiv geteilte und anerkannte Normen betrachtet werden; sie sind eine Form, nicht nur ein Symbol kollektiver Überzeugungen, die nach Aktion verlangt und Ordnungen repräsentiert, die immer erst und immer wieder hergestellt werden müssen. Dabei formen und disziplinieren sie Verhalten und ermöglichen eine Vertrautheit mit dem Handeln. Routinen ermöglichen zwar gleichfalls eine Vertrautheit, eben eine Normalität, jedoch beziehen sich Rituale auf eine Grenzsetzung zwischen Individuen oder zwischen verschiedenen Gruppen oder Stadien und implizieren damit auch eine Aura des Heiligen, die deutlich oder verdeckt wahrgenommen wird.“895 4.3.4 Kohärenz zwischen beruflicher professionaler Identität und beruflicher Kompetenz Der Begriff der Professionalität gilt als bedeutsamer Teil der beruflichen Identität. Von Vertretern der Berufspraxis wird er in der Regel als gekonnte Beruflichkeit, als Indikator für qualitativ hochwertige Arbeit verwendet und hebt damit Professionelle von Laien ab.896 Im Selbstverständnis der Mitglieder eines Berufsstands wird er auch interessengeleitet genutzt, um vermeintlich richtiges von vermeintlich falschem beruflichem Handeln abzugrenzen und den eigenen beruflichen Interaktionsstil zu etikettieren. Berufliche professionale Identität hat auch die Funktion der Abgrenzung, um „Abstand zu einer als profan geltenden Praxis herzustellen.“897 Für Heinemann/Rauner (2008) ist die „Berufliche Identität […] das Ergebnis eines Entwicklungsprozesses, der auf das Engste mit der Entwicklung beruflicher Kompetenz verknüpft ist. Genau genommen ist die Entwicklung beruflicher Identität eine Dimension der beruflichen Kompetenzentwicklung. […] Entwicklung beruflicher Kompetenz und die Entwicklung beruflicher Identität als untrennbar miteinander verbunden angesehen.“898 Unter anderem führt auch Blankertz (1983) aus, dass für die Kompetenzentwicklung eine Identifikation mit der Berufsrolle unabdingbar ist.899 „Zur Beschreibung seiner beruflichen Identität zieht ein Individuum einen bestimmten ‚Ausschnitt‘ seiner Kompetenz heran 895 896 897 898 899

Vgl. Soeffner 1992, zit.n. Reimann 2012, S. 296 Vgl. Nittel 2000, S. 15 Nittel 2000, S. 15 Heinemann/Rauner 2008, S. 10 Vgl. Blankertz 1983, S. 139

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

225

[…]“900, so die zentrale Aussage von Baitsch und Schilling (1990), welche die berufliche Identität mit der beruflichen Kompetenzentwicklung und der Selbstdefinition in ihren Arbeiten Verbindung bringen. Diese Kohärenz wird auch von der Studie von Bergmann (2000) unterstützt901, welche die „berufliche[…] Identität mit der subjektiv wahrgenommenen beruflichen Kompetenzentwicklung gleichgesetzt.“902 „Die berufliche Identität mit beruflicher Kompetenz bzw. mit der Kenntnis von berufsspezifischen Aufgaben gleichzusetzen, bestätigen auch Bremer (2002) und Bremer/Haasler (2004).“903 In ihren Arbeiten begründen Sie dies damit, dass die Identität sich vorwiegend in der sogenannten Praxisgemeinschaft entwickelt, weil diese ,the state of the art‘ bezüglich der Lösung von berufsspezifischen Aufgaben liefert.904 Und Lempert (2009) unterstreicht den direkten Zusammenhang zwischen Kompetenzentwicklung und berufsbezogener Persönlichkeitsentwicklung.905 Die berufliche Kompetenz ist die wichtigste Grundlage der Selbst- und Fremdzuschreibung und somit Basis und Fundament der beruflichen Identität. 4.3.5 Der Sinn der Sinnstiftung Die Wissenschaft der Soziologie setzt von Beginn an auf die Sinnhaftigkeit von ,Sinn‘, „angefangen bei dem ,subjektiv gemeinten Sinn‘, durch welchen nach Weber sich das menschliche Handeln überhaupt konstituiert, dem ,sozialen Sinn‘, welcher es erlaubt, dass wir uns überhaupt im Denken, Fühlen und Handeln aufeinander beziehen können, bis - um nur diese zu nennen - hin zu solchen Formen wie dem ,praktischen Sinn‘ oder dem ,kulturellen Sinn‘, welche bestimmte Formen unseres Tuns und Denkens auszeichnen.“906 Nach den Argumentationen von Max Weber und Alfred Schütz ist die Sinnstiftung ein sozialer Prozess. Hierbei wird ein Individuum als ein Sinnurheber verstanden.907 Weber (1976) definiert Handeln als ein Verhalten, mit dem die Handelnden einen subjektiven Sinn verbinden.908 Er verbindet den Begriff ,Sinn‘ mit dem Begriff ,Motiv‘. Für ihn stellt das Motiv einen „Sinnzusammenhang dar, 900 901 902 903 904 905 906 907 908

Baitsch/Schilling 1990, S. 26 ff. Vgl. Bergmann, B. 2000, S. 11 ff. Heinzer/Reichenbach/Maicello 2013, S. 19 Bremer 2002, S. 2 ff.; Bremer/Haasler 2004, S. 162 ff. Heinzer/Reichenbach/Maicello 2013, S. 19 f. Vgl. Lempert 2009, S. 120 f. Ebertz/Schützeichel 2010, S. 7 Vgl. Svetlova 2010, S. 167 Vgl. Weber 1976, S. 1

226

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

welcher dem Handelnden selbst oder dem Beobachtenden als sinnhafter Grund eines Verhaltens erscheint“.909 „Für die Erklärung des Handelns ist es deshalb zentral, den subjektiv gemeinten Sinn als einen Zweck-Mittel-Zusammenhang zu rekonstruieren.“910 „Zweck-rational handelt, wer sein Handeln nach Zweck, Mitteln und Nebenfolgen orientiert und dabei sowohl die Mittel gegen die Zwecke und die Nachfolgen, sowie […] auch die verschiedenen möglichen Zwecke gegeneinander rational abwägt.“911 „,Sinn‘ ist ein komplexer, schwieriger Begriff.“912 Führt man sich „die Verwendungsweisen dieses Begriffs in der Soziologie vor Augen, so lassen sich grob drei Dimensionen unterscheiden. In einer konstativen Dimension geht es darum, dass wir uns in unseren Gedanken, Meinungen, Überzeugungen oder Wahrnehmungen mit unterschiedlichen Interpretationsrahmen, Deutungsmustern oder Kategorien auf die uns umgebende Welt beziehen und auf sie referieren. Hier weist der Ausdruck ,Sinn‘ auf zwei verschiedene Aspekte. Zum einen darauf, dass diese Interpretationsrahmen oder Deutungsmuster selektiver Natur sind. Es handelt sich um selektive symbolische Formen und der Sinn dieser Rahmen und Muster ergibt sich zum einen aus dem Umstand ihrer Selektivität. Mit ,Sinn‘ ist aber in diesem Zusammenhang auch ein Phänomen gemeint, welches man als ein solches der Kohärenz, der Ganzheit bezeichnen kann. Sinnhaft sind solche Interpretationsrahmen und Deutungsmuster nicht nur deshalb, weil sie selektiver Natur sind, sondern auch deshalb, weil sie unseren Bezugsrahmen auf die Welt eine Kohärenz verleihen. In einer konativen Dimension geht es darum, dass unser Handeln in einer spezifischen Weise ausgezeichnet ist – es verfolgt bestimmte Ziele, es ist mitunter mit bestimmten Gründen versehen, es findet in einem bestimmten Kontext statt und hat von daher eine bestimmte Bedeutung. All das kann damit gemeint sein, dass unser Handeln einen Sinn aufweist – und es hat einen subjektiven Sinn, wenn die Ziele, Gründe und Kontexte subjektiver Deliberationen entspringen. Auch hier finden wir wieder die beiden Aspekte der Selektivität und der Kohärenz. Ziele und Gründe sind sinnhaft, weil sie 909 910 911 912

Weber 1976, S. 5 Svetlova 2010, S. 167 Weber 1976, S. 13 Ebertz/Schützeichel 2010, S. 7

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

227

auf vorbewusst mitgeführten Selektionen oder bewusst vollzogene Wahlakten, Entscheidungen etc. beruhen. Und wir bezeichnen sie zweitens dann als sinnhaft, wenn sie kohärent sind und Kohärenz heißt in diesem Zusammenhang, wenn sie ,rational‘ sind, nachvollziehbar, evident, begründbar. Es gibt schließlich eine dritte Dimension, in welcher wir im Alltag und auch in der Soziologie den Ausdruck ,Sinn‘ benutzen und dieser ,Sinn‘ ist vielleicht in semantischer und pragmatischer Hinsicht der ursprüngliche Sinn. ,Sinn‘ ist eine bewertende Kategorie. Sinn hat eine evaluative Dimension. Auch dies verweist uns wiederum auf die beiden Aspekte der Selektivität und einer holistischen Ganzheit. ,Sinn‘ sprechen wir solchen intellektuellen Ordnungen zu, wenn sie im Unterschied zu anderen in Bezug auf ein Problem kohärenter, rationaler oder funktionaler ist. Und wir sprechen ,Sinn‘ ab, wenn bestimmte Ordnungen sich nicht als mögliche Lösungen für unsere Probleme aufweisen. Aber im Unterschied zu den konstativen oder den konativen Problemen geht es in der dritten Kategorie nicht um die ,kleinen‘ Probleme der Anpassung von Überzeugungen oder der Zielsetzung von Handlungen, sondern um ,große‘ Probleme, die mit unserer Identität, unserer Haltung zu der Welt, unserer letzten Lebensfragen verbunden sind, um Probleme also, die mit den Prinzipien und ,Gesetzen‘ unseres Selbst- und Weltverständnisses verbunden sind und von daher mitunter als ,nomische‘ Probleme bezeichnet werden.“913 „Berufs-, und Professionsgruppen gehören in modernen Gesellschaften wohl zu den Institutionen, die in besonderer Weise mit Problemen der Sinnsetzung und Sinnfindung konfrontiert sind wie auch in besonderer Weise Sinnstifter ersten Ranges sind. Sie werfen in konstativer Hinsicht eine jeweils eigene, sinnhafte Deutung der Welt und ihrer Probleme, sie setzen in ihrem Handeln jeweils eine eigene ,subjektive Sinnhaftigkeit‘ voraus und sie befassen sich in ihrem Handeln mit den nomischen Problemen unserer individuellen wie unserer sozialen Existenz. Berufe und Professionen sind also sowohl in konstativer, in konativer wie in evaluativer Hinsicht ,Sinnstifter‘.“914 Berger/Luckmann (2004) sprechen von ‚symbolischen Sinnwelten‘, welchen eine identitätsstabilisierende (nomische) Funktion zukommt: „Diese ,nomi-

913 Ebertz/Schützeichel 2010, S. 7 f. 914 Ebertz/Schützeichel 2010, S. 8

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4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

sche‘ Funktion, die symbolische Sinnwelten für das individuelle Bewusstsein erfüllen, kann ganz einfach als diejenige bezeichnet werden, die ,jedes Ding an seinen rechten Platz rückt‘.“915 „Widersprüchlichkeiten des (beruflichen) Alltags können auf diese Weise aufgehoben werden, und - was vor allem in Bezug auf den Selbstwertaspekt von Identität von Bedeutung ist - das (berufliche) Alltagshandeln kann als sinn- und wertvoll erlebt werden: ,Wenn jedoch erst einmal eine symbolische Sinnwelt da ist, so können widersprüchliche Ausschnitte des Alltagslebens durch direkten Bezug auf die symbolische Sinnwelt integriert werden. […] Innerhalb eines solchen [Sinn-] Zusammenhanges erhält noch das trivialste Geschäft der Alltagswelt tiefere Bedeutung.“916 Das symbolische Sinnwelten auch Interaktionsprozesse fördern können, ist für Giesen (1983) eine weitere Funktion der symbolischen Sinnwelten.917 Wie schon im Kapitel 4.1.6. dargestellt, weist der Habitus „zwei einander bedingende Seiten auf, die nicht losgelöst voneinander betrachtet werden können und das dynamische Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt bezeichnen: So ist dies einerseits die ,strukturierte Struktur‘ als inkorporierte Geschichte oder Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart und andererseits die ,strukturierende Struktur‘ als generierendes Prinzip, welches durch die Praxis der Akteure die Struktur immer wieder formt, bildet und auf sich verändernde Weise am Leben erhält. Geschichte objektiviert sich demnach in Form der Institutionen und im menschlichen Organismus, als außerhalb und innerhalb der Akteure. […] Wenn gesellschaftliche Strukturen strukturieren, also verinnerlicht werden, wirken sie demnach weiter als strukturierendes Prinzip durch die Handlungspraxis der Agierenden selbst.“918 Beides erst erlaubt es den Agierenden, sich Sinn zu erschließen und „die Institutionen zu bewohnen, sie sich praktisch anzueignen, um sie dadurch in Aktion, am Leben, bei Kräften zu erhalten, […] den in ihnen niedergelegten Sinn wieder mit Leben zu erfüllen“919 „Das Konzept der beruflichen Identität umschreibt die Art und Weise sowie den Grad, in denen es Personen gelingt, sich in Übereinstimmung mit ihrem Beruf zu befinden, d.h. es beschreibt u.a., wie sie

915 916 917 918 919

Berger/Luckmann 2004, S. 105 Berger/Luckmann 2004, S. 106 Vgl. Giesen 1983, S. 251 Reimann 2012, S. 276 f. Krais/Gebauer 2010, 34

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

229

zu ihrer Berufsgattung als Ganzes stehen und wie sie Lebenssinn und Selbstachtung durch die berufliche Tätigkeit, die von Erfolgen und Misserfolgen geprägt ist, finden und aufrechterhalten können.“920 4.3.6 Berufliche Identität in Verbindung mit dem subjektiven Lebenskonzept Unter Berufe verstehen Bergmann/Eder (1995) „eine auf Eignung und Neigung gegründete, auf Selbstverwirklichung gerichtete und in einem gesellschaftlich definierten Rahmen längerdauernd ausgeübte, qualifizierte und bezahlte Arbeit.“921 Dabei ist der Beruf von der privaten Lebenswelt des Individuums nicht abgekoppelt zu verstehen, da berufliche Identität ein Teil der personalen Identität ist.922 Daher kann die Berufstätigkeit auch als ein wesentliches identitätsstiftendes Merkmal für die Persönlichkeit gelten. Durch die „strukturierte […] Interaktion im alltäglichen Arbeitsbereich mit ihren festgelegten Abläufen und der Existenz einer Berufskultur verleiht es dem Individuum ein erhebliches Maß an Verhaltenssicherheit. Gleichzeitig stellt der Beruf das zentrale Medium für eine gesellschaftliche Integration dar. Der Beruf ist somit mehr als ein Lebensbereich neben anderen; er erfüllt eine hervorragende Funktion für die Identität und die Identitätsentwicklung des Einzelnen“923 Im Rahmen seiner berufsbezogenen Persönlichkeitstheorie924 beschreibt Holland (1997): „Eine Person hat eine berufliche Identität, wenn sie ein klares und stabiles Bild der eigenen Ziele, Interessen, Persönlichkeit und Fähigkeiten aufweist (,the possession of a clear and stable picture of one's goals, interests, personality, and talents‘)“925. „So unterstreichen die angestrebten Ziele und Werte und der subjektive Stellenwert von Beruf und Arbeit, „dass die berufliche Arbeit zentral in der Persönlichkeit verankert ist, ihre Interessen, Fähigkeiten und Werthaltungen repräsentiert und ihre Identität bestimmt“926

920 921 922 923 924 925 926

Heinzer/Reichenbach/Maiello 2013, S. 38 Bergmann/Eder 1995, S. 1 Vgl. Schaemann 2005, S. 44 Arnold 1983, zit.n. Schaemann 2005, S. 44 Vgl. Holland 1997, S. 7 f. Holland/Draiger/Power 1980, S. 1 Bergmann, Ch. 2004, S. 348

230

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Für Holland (1997) zählt die Entwicklung einer beruflichen Identität zu den Faktoren einer stabilen Persönlichkeit, die wiederum eine wichtige Voraussetzung für eine psychische Gesundheit ist. Doch muss die berufliche Identität als Teil der personalen Identität auch zum restlichen Lebenskonzept passen.927 Auch für Haußer (1995) ist „die Vereinbarkeit der unterschiedlichen Lebensbereiche identitätsstiftend. In seinem Identitätskonzept bezeichnet er dies als ökologische Konsistenz in der Identitätsentwicklung.“928 So spielt der Beruf für die Lebensgestaltung bzw. -konzepte und für die Identität von Menschen eine zentrale Rolle. In einer Studie von Baethge/Hantsche/Pelull und Voskamp (1989) können Lebenskonzepte in vier Typen unterschieden werden, welche die Beziehung von Arbeit, Beruf und Lebenskonzept charakterisieren:929 „Die Lebenskonzepte beschreiben einen bedeutsamen Hintergrund, vor welchem konkret erfahrene Diskrepanzen und Kongruenzen von Sein und Sollensforderungen, beruflichen Anforderungen und beruflichem Können sowie external vorgegebenen und selbst gesetzten Zielen besser verstanden werden können.“930 Abbildung 25: Vier Lebenskonzept-Typen. (Quelle: Baethge/Hantsche/Pelull/Voskamp 1989, S. 190 ff.)

Typ I „Arbeitsorientiertes Lebenskonzept“ (S. 190-205)

Typ II „Ausbalanciertes Lebenskonzept“ (S. 206-216)

Typ III „Familienorientiertes Lebenskonzept“ (S. 217-227)

Typ IV „Freizeitorientiertes Lebenskonzept“ (S. 228-237)

Hierbei ist die berufliche Karriere das wichtigste persönliche Ziel.

Die Balance (WorkLife-Balance) und der Verträglichkeit von Arbeit und Privatleben ist das wichtigste persönliche Ziel.

In diesem Konzept stehen an oberster Stelle die Familie und ihre Bedürfnisse und dann erst die Arbeit und der Beruf.

Die Freizeitgestaltung hat hier Priorität vor der Arbeit und generell ist eine große Distanz zu erkennen.

927 928 929 930

Vgl. Holland 1997, S. 7 f. Haußer 1995 Vgl. Baethge/Hantsche/Pelull/Voskamp1989, S. 190 ff. Heinzer/Reichenbach/Maiello 2013, S. 85 ff.

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

231

Die Studie von Bühler (2007) hat unter anderem gezeigt, dass eine starke Bindung und ein starker Wille zum Beruf nur dann aufgebaut werden können, wenn der erlernte Beruf den persönlichen Wünschen und Vorstellungen gerecht wird. Dementsprechend ist die Bindung an den Beruf weniger stark, wenn familiäre, strategische oder wirtschaftliche Faktoren weniger berücksichtigt werden.931 Bühler (2007) identifiziert und beschreibt vier Typen beruflicher Identität: Abbildung 26: Vier Typen beruflicher Identität. (Quelle: Bühler 2007, S. 33 ff.)

Typ I

Typ II

Der erste Typus lässt sich durch die Begriffe Autonomie und Pragmatismus charakterisieren und wird auch so benannt. Er zeichnet sich durch ein positives berufliches Selbstverständnis aus. Betrieblichen und technologischen Neuerungen passt er sich pragmatisch an.

    

Der zweite Typus lässt  sich durch die Begriffe Berufsstolz und Verunsicherung charakterisieren und wird auch so benannt. Merkmale  sind hierbei: Der Wille, stets qualitativ hochwertige Arbeit zu leisten und die Identifikation mit den beruf-  lichen Anforderungen. Dabei Umbrüche krisenhaft erlebt und versichern den zweiten Typen in seinem Berufsstolz.

931 Vgl. Bühler 2007, S. 40 ff.

Seine Vertreter kennzeichnet eine oftmals seit der Kindheit bestehende Faszination und Begeisterung für eine bestimmte berufliche Tätigkeit. Die Verwirklichung dieses Traumberufes wird hartnäckig verfolgt und Umwege werden in Kauf genommen. Ein großes Arbeitsethos sind ebenso bezeichnend, wie ein ausgeprägter Wille zum ,richtigen‘ Beruf. Diesem Typus zugehörige Personen haben zwar eine Neigung zu Berufslehren, wählen ihren Beruf jedoch ausgesprochen autonom. Durch die Herkunftsfamilie vorbestimmte (vererbte) Berufsentscheide sind dementsprechend selten. Die klassisch-konservative Vorstellung vom beruflichen Werdegang äußert sich beim Vertreter des zweiten Typus darin, dass er sich gemäß Eignung, Begabung und innerer Berufung für einen Beruf entscheidet und diesem dann ein Leben lang verpflichtet ist. Damit gehen ein Bedürfnis nach Sicherheit und eine ausgeprägte Loyalität gegenüber dem Betrieb einher, aber auch Mangel an Flexibilität und eine Skepsis gegenüber Weiterbildungen. Von den Männer und den Frauen dieses Typus werden fast ausschließlich geschlechterkonforme Berufe gewählt.

232

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse 

Typ III

Der dritte Typus setzt  vor allem auf Erfolg und Flexibilität. Der optimale Einsatz seines Kompetenzprofils und die Eigenverant wortung sind für ihn wichtiger als die Identifikation mit einer Organisation oder dem Beruf. 

Typ IV

Begriffe wie Anpassung und Distanzierung charakterisieren den vierten Typus der beruflichen Identität. Er reagiert passiv und gleichgültig auf die Umbrüche im Berufsfeld. Die außerberufliche Tätigkeit steht für ihn stärker im Zentrum.



  

Er reagiert nicht nur äußerst flexibel auf Veränderungen und Umstrukturierungen, sondern vermag in beruflichen Belangen auch ein hohes Maß an Unsicherheit auszuhalten. Es besteht eine schwache Bindung an den Betrieb und den Beruf. Zwar definiert sich dieser Typus ausgesprochen stark über die Arbeit, eine Identifikation mit den inhaltlichen Aspekten der ausgeübten Tätigkeit findet jedoch nicht statt. Im Vordergrund steht der Wunsch die eigene Persönlichkeit in einem bestimmten Bereich entfalten zu können. Vertreter des Typus ,Flexibilität und Erfolg‘ streben nach Verantwortung und orientieren sich an einem leistungsorientierten Karrieredenken. Aus Kindertagen stammende Berufswünsche werden selten verwirklicht. Das Selbstverständnis dieser Personen beruht nicht in erster Linie auf der Erwerbsarbeit, sondern auf einem Engagement in einem alternativen Bereich, wie Sport, Kultur oder Politik. Insbesondere bei Frauen geht es oftmals um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Das Verhältnis zum Beruf ist eindeutig instrumenteller Natur. Vertreter dieses Typus orientieren sich bei der Berufswahl besonders oft an den Erwartungen und Traditionen ihrer Familien.

4.3.7 Mitarbeiter als Bedürfnis- und Motivträger und ihre Zufriedenheit Mitarbeiter sind Bedürfnis- und Motivträger und ihre Erwartungen, Bedürfnisse und Motivationen haben in Organisationen einen großen Einfluss. Während sich ,Motivation‘ stärker auf spezielle Situationen mit ihren jeweiligen Ergebnissen oder Zielen bezieht, ist ein ,Motiv‘ eher eine personenspezifische Disposition, also etwas, das das Verhalten einer Person in verschiedenen Situationen und

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

233

Lebenslagen prägen kann.932 Für Murray (1938) ist es die Bereitschaft, unter bestimmten Umständen in spezifischer Weise zu reagieren.933 Rheinberg (2000) bezeichnet ein Motiv als „intraindividuell konstante, interindividuell variierende Personenmerkmale, […] die durch Anreize in einer Situation angeregt werden“.934 Motive werden so zu ,inneren Antriebskräften‘. Typische Motive sind z.B. das Leistungsmotiv, also ein im Menschen grundsätzlich verankerter Wunsch, Leistung zu erbringen, das Machtmotiv oder das (soziale) Anschlussmotiv.935 „Jedes Motiv enthält einen Bedürfniskern, der meldet, wie sehr der aktuelle Istwert vom Sollwert abweicht. Im Unterschied zu ,reinen‘ Bedürfnissen sind Motive mit Erfahrungswissen verknüpft, das für eine Vielzahl von Situationen kontextangemessene Handlungsmöglichkeiten anbietet.“936 „Motive werden auch als Komponenten der Selbststeuerung angesehen, da sie kreative und flexible (sich an neue Situationen anpassende) Bedürfnisbefriedigung ermöglichen, und darüber hinaus das Bestreben unterstützen, Selbstbild, selbstdefinierten Zielen, individuellen und kulturellen Werten, sozialen Rollen u.a. gerecht zu werden. Sie organisieren und repräsentieren kognitiv, welche Erfahrungen im Leben im Zusammenhang mit Bedürfnissen gemacht wurden, insbesondere implizit wahrgenommene Handlungsmöglichkeiten und deren Folgen. Sie sind nicht zwingend bewusst. […] Die Motivationspsychologie hat eine Vielzahl von Motiven vorgeschlagen. Die Mehrheit der Forschung befasste sich mit dem Leistungsmotiv, dem (sozialen) Anschlussmotiv und dem Machtmotiv. Die klärungsorientierte Psychotherapie geht davon aus, dass interaktionelles Verhalten durch Beziehungsmotive gesteuert wird. Einzelne Ziele werden unter die Motive nach Anerkennung […], Wichtigkeit, verlässlicher Beziehung, Solidarität, Autonomie und Grenzen zusammengefasst.“937 Eine hohe Leistungsbereitschaft und Leistungsmöglichkeit von Mitarbeitern wird sehr stark mit dem professionsgebundenen Werte- und Motivsystem seiner beruflichen Identität verbunden. Um diese hohe Leistung abrufen zu können, muss der Mitarbeiter sich zugleich mit den relevanten Wert-, Motiv- und

932 933 934 935 936 937

Vgl. Hartinger/Fölling-Albers, 2002, S. 17 Murray 1938 Rheinberg 2002 Hartinger/Fölling-Albers 2002, S. 16 ff. Kuhl 2010, S. 28 Heckhausen&Heckhausen 2018

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4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Sozialsystemen der Organisation identifizieren. In der BBT-Studie von Castelli Dransart et al. (2008), wurde modellhaft eine Verbindung zwischen den sozialen Repräsentationen (z.B. dem Prestige) des Berufes und der Identifikation mit konkreten beruflichen Aktivitäten bzw. Tätigkeiten aufgezeigt.938 „Motive sind Beweggründe des Handelns, die meist von bestimmten Zielvorstellungen geprägt sind, z.B. von dem Drang, Bedürfnisse zu befriedigen. Motive können bewusst oder unbewusst sein, im Menschen selbst oder aus seiner Umwelt auf ihn wirken.“939 „Motiv - heißt ein Sinnzusammenhang, welcher dem Handelnden selbst oder dem Beobachtenden als sinnhafter Grund eines Verhaltens erscheint.“940 „Im Gegensatz zu den angeborenen Instinkten und Trieben (primäre Motive) sind (Arbeits-)Motive zum großen Teil gelernt und durch kulturelle Einflüsse sozial ausgeformt und gestaltet. Durch gezielte Förderung bzw. Unterdrückung bestimmter Bedürfnisse in Lern- und Sozialisationsprozessen entstehen sog. sekundäre Motive (z.B. Streben nach Leistung, Macht, Status oder sozialem Anschluss).“941 „Berufliche Zufriedenheit ist die Basis für berufliche Identität. Dabei können subjektiv im Prinzip dieselben Variablen eine Rolle spielen, wie sie die Betriebspsychologie zur Arbeitsanalyse heranzieht: Verhältnis von Kopf- und Handarbeit; Verhältnis des Umgang mit Menschen, Sachen und Symbolen; Komplexität versus Repetitivität, Vielfalt versus Monotonie; Qualifikationsvoraussetzungen; motivationale Anforderungen; Verantwortungsgrad für sich, andere Personen und Sachen; zeitliche und räumliche Freiheit versus Restriktivität; Einräumung informeller sozialer Kontakte, Ausmaß der Überwachung derselben; schließlich Arbeitsbelastungen körperlicher und psychischer Art.“942 Strukturierende Faktoren beruflicher Identität (Kohärenz und Kontinuität) scheinen in einem positiven Zusammenhang zu den persönlichen Zielsetzungen hinsichtlich der beruflichen Tätigkeiten einerseits und den sozialen Repräsentationen des Berufs andererseits zu stehen. Vermutet wird auch, dass beruflich relevante persönliche Ziele in einem positiven Zusammenhang mit den wahrgenommenen Möglichkeiten und Wünschen der Motivbefriedigung in den und durch die beruflichen Tätigkeiten selbst stehen. „Wer ,höhere‘ Bedürfnisse im Beruf befriedigen kann bzw. diese Erwartung hegt, dem oder der fällt es leichter, 938 939 940 941 942

Vgl. Castelli Dransart et al. 2008 Laske/Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 58 Weber 1976, S. 5 Laske/Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 58 Hoff 1990, S. 9 f.

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

235

sich mit dem Beruf bzw. mit den Anforderungen der beruflichen Bildung zu identifizieren. Allerdings können diese Erwartungen enttäuscht werden, so dass gerade die Personen mit hoher Motivbefriedigungserwartung tendenziell gefährdeter sind, sich mit den Anforderungen und Tätigkeiten des Berufes nicht (mehr) identifizieren zu können.“943 Nach Root (1970) lassen sich ,höhere‘ Bedürfnisse (manchmal auch ,Seinsund Werdensmotive‘ genannt) von elementaren Bedürfnissen (auch ,Mangel- oder Erhaltungsmotive‘ genannt) dadurch unterscheiden, dass die ersteren stärker werden, wenn sie erfüllt werden, während die Letzteren, meist wiederkehrenden Bedürfnisse, stärker werden, wenn sie nicht erfüllt werden. Insbesondere Leistungsbedürfnisse und intellektuelle Bedürfnisse (Wissen, Verständnis, Ästhetik) werden stärker, wenn sie befriedigt werden können, während dies für physische Bedürfnisse und soziale Bedürfnisse (Geltung, Zugehörigkeit, Sicherheit) eher umgekehrt ist.944 Bei der Motivation geht es allgemein um „die Antriebskraft und Bereitschaft zu einem bestimmten Verhalten und die Wahrscheinlichkeit seines Auftretens. […] Motivation wird üblicherweise definiert als psychische Kraft (i.S. eines Verhaltenspotenzials), die hinter der Intensität, Dauerhaftigkeit und Zielrichtung von Verhalten liegt. […] Motivation kann […] als mobilisierende Antriebsbereitschaft von integrierten Denk-, Fühl-, und Verhaltensprogrammen aufgefasst werden. Diese Programme sind jedoch nicht völlig festgelegt, sondern haben dynamische Variationsmöglichkeiten mit spontanen Freiheitsgraden.“945 Die „Stärke der Motivation bzw. der Motivierung ist abhängig vom Wert der Wünschbarkeit einer Bedürfnisbestimmung, den Erwartungen sowie von kognitiven und emotionalen Bedingungen des Verhaltens. […] Dabei sind Ansprüche, Erwartungshaltungen und Umsetzungsmöglichkeiten durch allgemeine und organisationskulturelle Vorgaben, soziale Normen und situative Rahmenbedingungen mitbestimmt.“946 Haußer (1995) untersuchte, wie sich die Arbeitserfahrungen auf Fähigkeiten, Überzeugungen, Interaktionsstile, Motivationen des betreffenden Menschen auswirken. Als relevante Merkmale der Arbeitsplatzsituation gelten: Zeitstruktur, Bewegungsspielraum, soziale Beziehungen, Verantwortung/Überwachung,

943 944 945 946

Heinzer/Reichenbach/Maiello 2013, S. 29 Vgl. Root 1970, S. 722 ff. Laske/Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 59 Laske/Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 60

236

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Qualifikationsanforderungen und Belastung/Anspruch.947 Er hat ein Modell der Identitätsprozesse entwickelt (ausgehend von Whitbourne/Weinstock): Alltägliche Arbeits- und Berufserfahrung wirkt auf die Identität einer Person in der Regel als Akkomodation. Die Person kann jedoch bei Arbeitsunzufriedenheit mit ihrer Arbeitserfahrung assimilieren – bis zu offensiven Handlungskonsequenzen wie Firmenwechsel, Umschulung und Aussteigen oder defensiven Handlungskonsequenzen wie Krankfeiern oder Burnout.948 Die Steuerung der Motivation kann über die Eigensteuerung (intrinsische Selbststeuerung) erfolgen und über eine Fremdsteuerung, indem von extern eine Verhaltensbereitschaft gesteuert wird.949 Unterschieden wird daher zwischen der äußeren (extrinsischen) und inneren (intrinsischen) Motivation. Die extrinsische Motivation ist eine fremdbestimmte Motivierung, da sie durch Anreize aus der Umwelt und Mitwelt, also extern entsteht.950 Angewendet auf den beruflichen Kontext geht es um „die attraktive Gestaltung, Präsentation, Kommunikation und Interpretation von bedürfnisbefriedigenden Optionen der Arbeitswelt (z.B. Anreize, Einkommen, Verantwortung, Sicherheit), die auf der Grundlage von bestimmten (Leistungs-)Werten und Identifikationsobjekten“ von Führungskräften bestimmt werden.“951 Die extrinsische Motivation wird also von außen angetrieben, d.h. z.B., die Führungskräfte treiben ihre Mitarbeiter an und zugleich locken sie auch mit Belohnungen. Die Gefahr ist hierbei, dass die Erwartungen der Mitarbeiter nach immer größeren Belohnungen ständig anwachsen. D.h., dass die Belohnungen zeitgleich mit den Erwartungen gesteigert werden müssen, bis diese nicht mehr zu erfüllen sind. Dieses führt zu einer vorprogrammierten Enttäuschung. Im Gegensatz dazu entsteht die innere (intrinsische) Motivation in dem Individuum selbst, wenn es sich mit der Tätigkeit, der Arbeit und seiner Aufgabe identifizieren kann, es dadurch für sinnvoll erachtet und es somit kompatibel mit der eigenen Identität fest verankert ist.952 Sie wird von einem inneren Generator angetrieben, welches das Individuum mit Energie versorgt. Die innere Motivation funktioniert wie ein Perpetuum Mobile und setzt ungeahnte Kräfte frei. Zwei

947 948 949 950 951 952

Vgl. Haußer 1995, S. 165 Vgl. Haußer 1995, S. 167 Vgl. Laske/Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 59 Vgl. Jost 2008, S. 98 Laske/Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 60 Vgl. Jost 2008, S. 98

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

237

wichtige Voraussetzungen für innere (intrinsische) Motivation sind ein funktionierendes Wertesystem im Unternehmen und die Tatsache, dass der Mitarbeiter sich selbst über die eigenen Werte im Klaren ist.953 Hierzu lässt sich Motivation als Zustand und als Prozess zu unterscheiden. Die Motivation als Zustand ist die innere Erregung, mit dem ein bestimmtes Ziel erreicht werden kann.954 „Motivation als aktueller Zustand innerer Steuerung verweist auf vorgängige Entscheidungen über allgemeine Lebens- und Berufswerte sowie eine Orientierung an Aufgaben, Personen oder Institutionen.“955 Die Motivation als Prozess bezieht sich auf den Prozess, bei dem Methoden und passende Aktionen zur Beeinflussung der Motivation angesetzt werden. Dieser Prozess kann durch die Person selbst als Eigenmotivation ausgelöst werden, aber auch als Fremdmotivation, durch eine andere Person oder durch eine Situation.956 Idealerweise passen die Werte- und Zielsysteme der beiden Motivationsansätze zusammen. Eine mögliche „Differenz zwischen selbstgesetzten bzw. selbstdefinierten und fremddefinierten bzw. external vorgegebenen Zielen und Anforderungen an den und im Beruf, ist nicht dichotomisch zu verstehen.“957 Somit ist zum Verständnis einer Identität einer Person immer notwendig, „das Wertsystem (berufliches Wertsystem), das Motivsystem (berufliches Motivsystem) und die Verortung im Sozialsystem (soziale berufliche Anerkennung) dieser Person zu verstehen“.958 Krappmann (2000) führt aus, „eine günstige Entwicklung der Identität – sei sie beruflich, sei sie personal fokussiert - hat mit der Möglichkeit und Leistung des Individuums zu tun, die eigenen Bedürfnisse, Motive und Ziele mit den gesellschaftlichen und beruflichen Anforderungen in Einklang oder zumindest in eine relativ stabile Balance zu bringen.“959 4.3.7.1 Bedürfnis- und Motivations-Modelle In der Literatur werden die Motivationstheorien nach der inhaltsorientierten Motivationstheorie und den Prozessmodellen der Motivation unterschieden.

953 954 955 956 957 958 959

Vgl. Boethius/Ehdin 1997, S. 28 f. Vgl. Wunder 2003, S. 105 Laske/Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 59 Vgl. Scholz 2014, S. 286 Heinzer/Reichenbach/Maicello 2013, S. 27 Taylor 1996, 2002, zit.n. Heinzer/Reichenbach/Maiello 2013, S. 38 Krappmann 2000, zit.n. Heinzer/Reichenbach/Maiello 2013, S. 40

238

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

„Inhaltsorientierte Theorien960 der Motivation beschäftigen sich besonders mit sinn-und bedürfnisrelevanten Einflussgrößen, die bei Menschen ein bestimmtes (Motivations-)Verhalten auslösen oder einschränken. Als inhalts- und bedürfnisorientierte Konzepte versuchen sie aufzudecken, was im Individuum oder seiner Umwelt ein Verhalten erzeugt und aufrechterhält. Sie folgen der Leitfrage: Wonach strebt der Mensch, und was muss dazu inhaltlich erfüllt sein bzw. was hindert ihn?“961 „Unabhängig von jeweiligen Motivationsinhalten konzentrieren sich diese Prozessorientierten Motivationstheorien962 auf den Entscheidungs- und Handlungsprozess des Einzelnen. Der Fokus liegt dabei auf der individuellen Auswahl und Bewertung attraktiver Motive sowie auf deren Bedeutung für ein zielorientiertes Leistungsverhalten. Zudem werden dabei sozialer Vergleich, Ungleichheitsaspekte und Zuschreibungsmechanismen systematisch einbezogen.“963 Abbildung 27: Bedürfnis- und Motivationstheorien. (Quelle: eigene Darstellung)

Modelle

Charakteristische Kurzbeschreibung

„Maslow (1954), oft als Vater der ,Humanistischen Psychologie‘ bezeichnet, betrachtete Bedürfnisse als Motive des Handelns. Diese wurden hierarchisch in Bezug auf Kultur und Zeit beschrieben und in diesem Zusammenhang entwickelte Maslow eine Bedürfnispyramide.964 Das BedürfDie Maslowpyramide stellt die bekannteste Klassifikation von Bedürfnissen nispyramiden- dar. Nach Maslow existieren fünf wesentliche, aufeinander aufgebaute BeModell nach dürfnisse, darunter die so genannten Defizitbedürfnissen und die so genannten A.A. Maslow Wachstumsbedürfnisse. Nach Maslow gelangt der Mensch zum nächsten Bedürfnis, das sich auf der nächsthöheren Stufe befindet, wenn ein Bedürfnis erfüllt wird.965 Nach Maslow gibt es primäre und sekundäre Bedürfnisse von Menschen: Ein primäres Bedürfnis ist z.B. wenn jemand Sport treibt, um sein inneres Bedürf-

960 Anmerkung: Zu den inhaltsorientierten Theorien zählen das Bedürfnismodell von Maslow und das erweiterte Bedürfnismodell von Alderfer oder auch das einflussreiche 2-Faktoren-Modell von Herzberg, sowie McClellands Konzept der differenzierten Motivdimensionen. (vgl. Wunderer/Küpers 2003, S. 100 ff.) 961 Laske/Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 60 962 Anmerkung: Verschiedene Konzepte wie das Erwartungs-Valenz-Modell, die Gleichheitstheorie und Attributionstheorien oder Zielsetzungstheorien untersuchen dazu spezifische Prozessdimensionen der Motivation. (vgl. Wunderer/Küpers 2003, S. 112) 963 Laske/Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 62 f. 964 Vgl. Maslow 1981, S. 41 965 Vgl. Maslow 1981, S. 41

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

Modelle

239

Charakteristische Kurzbeschreibung nis nach Bewegung und Anstrengung zu befriedigen, ein sekundäres Bedürfnis wäre es, wenn jemand Sport treibt, um Gewicht zu verlieren. Maslow (1954) betont jedoch, dass aus einem sekundären Bedürfnis auch eine primäre Motivation entwickelt werden kann.966 Maslow (1954) beschreibt, dass die menschlichen Bedürfnisse im Ganzen auf fünf Ebenen zu gliedern sind: zu den Defizitbedürfnissen gehören:  Physiologische Bedürfnisse, dazu gehören elementare Bedürfnisse wie Essen, Trinken, Schlaf und Sexualität.  Sicherheitsbedürfnisse wie Krankenversicherung, Sicherheit am Arbeitsplatz, Rentenversorgung, bzw. Bedürfnisse nach einem sicheren Leben, also Geborgenheit;  Soziale Bedürfnisse, dazu gehören Freundschaft, Liebe, Zugehörigkeit;  Ich-Bedürfnisse, damit sind Bedürfnisse nach Wertschätzung, Prestige etc. gemeint;  Selbstverwirklichung bedeutet Wachstum, Entfaltung, Gerechtigkeit und Sinn.967 Zu den Wachstumsbedürfnissen nach Maslow gehört die Selbstverwirklichung, diese ist dabei als eine geistige Zielsetzung zu sehen. In diesem Sinne wird die Befriedigung niedriger Bedürfnisse, z. B. wenn der Mitarbeiter sein gewünschtes Gehalt erreicht hat, durch die Befriedigung höherer Bedürfnisse erfolgen z. B. verdient der Mitarbeiter zwar schon gut, braucht jedoch eigentlich mehr Verantwortung oder zusätzliche Aufgaben. Die Maslowpyramide ist die älteste der vorgestellten Motivationstheorien und wurde von vielen Wissenschaftlern kritisiert, aber sie kann bei Startups als eine Grundlage dienen, um die Bedürfnisse der Mitarbeiter besser konzipieren zu können. In großen Unternehmen, bzw. Konzernen wäre es unmöglich, nach der Maslowpyramide zu arbeiten, aber bei Startups und kleinen Unternehmen kann diese Pyramide einen Beitrag leisten, weil dadurch, dass bei Startups nicht viele Mitarbeiter eingesetzt werden, es besonders wichtig ist, auf die Bedürfnisse der Mitarbeiter zu achten, damit sie lange gehalten werden können.

Die ZweiFaktoren Theorie nach Herzberg, Mausner und Snyderman

Eine weitere bekannte Theorie, die sogenannte Zwei-Faktoren-Theorie, geht auf Herzberg Mausner und Snyderman (1959) zurück. Im Rahmen ihrer empirischen Studien unterschieden sie zwischen zwei verschiedenen Arten von Einflussfaktoren, den Motivatoren ,satisfiers‘ und den Hygienefaktoren ,dis-

966 Vgl. Maslow 1981, S. 40 967 Vgl. Maslow 1981, S. 41

240

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Modelle

Charakteristische Kurzbeschreibung satisfiers‘. Herzberg, Mausner und Snydermans Zwei-Faktoren-Theorie postuliert, dass allen Individuen eine bestimmte Menge von Bedürfnissen zuzuordnen ist, die befriedigt werden müssen. 968 Sie betrachteten Zufriedenheit und Unzufriedenheit auf zwei verschiedenen Skalen: 1.: nicht zufrieden - zufrieden und 2.: nicht unzufrieden – unzufrieden. Diese Faktoren beeinflussen das Verhalten der Mitarbeiter im Unternehmen. Die Zufriedenheit wird also von Satisfaktoren beeinflusst und dabei werden bestimmte Arbeitsmotive, wie z. B. Verantwortung, Entwicklungsmöglichkeiten und Perspektive befriedigt. Diese Befriedigungsgrößen werden Motivatoren genannt und die Unzufriedenheit wie z. B. aufgrund eines strengen Führungsstils oder unmöglicher Arbeitsbedingungen, Überwachung oder starker Kontrolle werden von den Mitarbeitern als Dissatisfaktoren wahrgenommen. Diese Werte bezeichneten Herzberg, Mausner und Snyderman als Hygienefaktoren, weil dadurch Unzufriedenheit erzeugt wird und somit die Zufriedenheit nicht mehr abgesichert werden kann.969 In diesem Zusammenhang betonten Herzberg, Mausner und Snyderman, dass die Erzeugung von Motivation dazu führt, dass die Mitarbeiter zufrieden werden und dadurch die Ergebnisse in allen Geschäftsprozessen gesteigert werden können. Im Gegenteil dazu bewirkt die Positionierung von Hygienefaktoren wie z. B. starker Machtverhältnisse, Überwachung und starker Kontrolle Mitarbeiterunzufriedenheit und führt somit auch zu einer Senkung der Geschäftsergebnisse.970 Hervorzuheben ist bei diesem Modell, dass Hygienefaktoren bei Befriedigung keinen zusätzlichen Mehrwert mehr darstellen, Satisfaktoren hingegen immer gesteigert werden können.

Das ,Job Characteristics Das ,Job Characteristics Modell‘ nach Hackman/Oldham (1976) stellt einen Modell‘ nach Hackman und wesentlichen Beitrag für die Praxis dar, denn das Modell versucht die Beziehung zwischen Tätigkeiten und persönlichen Reaktionen bezogen auf die ArOldham beit zu systematisieren. Im Zentrum steht die Frage nach der Arbeitsgestaltung, damit die intrinsische Motivation gesteigert werden kann.971 Diese Situation nimmt folgende Perspektive ein: Wenn die Tätigkeit zu dem Mitarbeiter passt, der Mitarbeiter motiviert ist und gute Ergebnisse für Betrieb erbringt, wird dies als Belohnung wahrgenommen. Wenn der Mitarbeiter unzufrieden mit seiner Tätigkeit ist, kommt es durchaus zu schlechten Ergebnis-

968 969 970 971

Vgl. Weinert 1981, S. 268 Vgl. Weinert 1981, S. 268 Vgl. Weinert 1981, S. 268 f. Vgl. Hackman/Oldham 1976, S. 255 f.

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

Modelle

241

Charakteristische Kurzbeschreibung

sen, der Mitarbeiter fühlt sich unwohl und versucht durch starke Anstrengungen die Leistungen zu verbessern.972 Das Modell von Hackman/Oldham (1980) kann dazu beitragen, die Arbeit so zu gestalten, dass die psychische Seite beachtet wird und die Mitarbeiter positiv auf ihre Tätigkeit reagieren. So kommt es zu einer Steigerung der Motivation. Das ,Job Cha- Das Modell liefert weitere Erklärungen: Das Modell besteht aus fünf Kernarbeitscharakteristika, die durch drei psychologische Konditionen geprägt sind. racteristics Modell‘ nach Diese führen zu positiven persönlichen und tätigkeitsbezogenen Erfolgen. Die Hackman und drei Konditionen verantwortlich für die Bildung von intrinsischer Motivation Oldham und werden als Critical Psychological States bezeichnet:  Knowledge of the actual results of the work activities (Einsicht der Tätigkeitsergebnisse) Damit das Potenzial der Mitarbeiter geprägt werden kann, soll ständiges Feedback stattfinden, damit die Ergebnisse unabhängig von einer Bewertung (positiv oder negativ) besprochen werden können. 



Experienced responsibility for outcomes of the work (Verpflichtung für die erbrachten Ergebnisse der Tätigkeit) Hier geht es darum, dass die Mitarbeiter in der Lage sein sollen, für die erbrachten Leistungen Verantwortung zu tragen. Experienced meaningfulness of the work (Die Wichtigkeit der Tätigkeit) Die Tätigkeit der Mitarbeiter soll als etwas Wertvolles und Wichtiges wahrgenommen werden.

Hackman/Oldham (1980) betonen, dass wenn diese drei Critical Psychological States erfüllt sind, auch die intrinsische Motivation entsteht, denn dies sind ihre Kernpunkte.973 Hackman/Oldham (1980) nennen als fünf Kernarbeitscharakteristika Skill variety, Task identity, Task significance, Autonomy und Feedback. Die Skill variety (Anforderungsvielfalt) bedeutet, dass die Aufgaben gut erledigt werden, wenn unterschiedliche Fähigkeiten und Fertigkeiten beansprucht werden. Bei der Task Identity (Identifizierung mit der Aufgabe) geht es darum, dass die Tätigkeit als Ganzes betrachtet werden soll. Die Task significance (Bedeutsamkeit der Aufgabe) zeigt die Wichtigkeit der Tätigkeit an. Sie wird von Personen aus der Privatsphäre und den Tätigkeiten anderer Personen beeinflusst. Autonomy (Autonomie) deutet auf Entscheidungsmöglichkeiten

972 Vgl. Hackman/Oldham 1980, S. 71 ff. 973 Vgl. Hackman/Oldham 1980, S. 77 ff.

242

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Modelle Das ,Job Characteristics Modell‘ nach Hackman und Oldham

Charakteristische Kurzbeschreibung bzw. freie Handlungsräume hin, sowie auf freie Zeitgestaltung und auch Unabhängigkeit. Feedback (Rückmeldung) stellt Folgendes dar: Die erbrachten Ergebnisse werden zurückgemeldet oder es besteht auch die Möglichkeit Feedback anzufordern und zu bekommen. Skill Variety, Task Identity und Task Significance sind für die ,experienced meaningfulness of the work‘ verantwortlich.974 Die fünf Kernarbeitscharakteristika gehen den Critical Psychological States voraus und dementsprechend haben sie eine starke Auswirkung auf die Faktoren bzw. Ergebnisse:  high internal work motivation (intrinsische Motivation),  high quality work performance (hohe Qualität der Arbeit),  high satification with work (hohe Zufriedenheit der Arbeit),  sowie auch auf low absentism and turnover (geringere Fehlzeiten und Fluktuationrate)975 Nach Hackman/Oldham (1980) kann man dieses Modell auch aus algebraischer Sicht betrachten und zwar: MSP = 1/3 x (Anforderung+Identität+Bedeutung) x Autonomie x Rückmeldung. 976 Das ,Job Characteristics Model‘ nach Hackman&Oldham gibt wichtige Hinweise, wie die Mitarbeiterzufriedenheit zu erhöht und intrinsische Motivation erzeugt werden kann.977

4.3.7.2 Die Selbstbestimmungstheorie der Motivation Für die Arbeitsmotivation ist daher die Selbstbestimmungstheorie der Motivation (Self-determination theory, SDT) von Deci/Ryan (1985) bedeutend und gilt als Grundlage.978

974 Vgl. Hackman/Oldham 1980, S. 77 ff. 975 Vgl. Hackman/Oldham 1980, S. 77 ff. 976 Vgl. Hackman/Oldham 1980, S. 77 ff. 977 Vgl. Hackman/Oldham 1980, S. 77 ff. 978 Vgl. Deci/Ryan 1985

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

243

Abbildung 28: The Self-Determination Continuum. (Quelle: Gagné/Deci 2005, S. 336)

244

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

„SDT [self- determination theory] posits a controlled-to-autonomous continuum to describe the degree to which an external regulation has been internalized. The more fully it has been internalized, the more autonomous will be the subsequent, extrinsically motivated behavior.“979 Die Gefühle der Kompetenz und der Autonomie sind nach der kognitiven Evaluationstheorie als zentral für die intrinsische Motivation betrachtet worden, doch die Selbstbestimmtheit einer Handlung ist nach der Selbstbestimmungstheorie der Motivation auch im Hinblick auf extrinsische Motive möglich, sodass die extrinsische Motivation auf einem Kontinuum der Autonomie variieren kann.980 Lewalter/Wild/Krapp (2001) betonen981 drei grundlegende psychologische Bedürfnisse, die bei der Entstehung und Veränderung von Interesse bedeutungsvoll sind. Neben dem Bedürfnis nach Kompetenz (das Erleben eigener Handlungsfähigkeit), sind es die sozialen Bedürfnisse nach Autonomie (das Erleben von Handlungsfreiheit) und nach sozialer Eingebundenheit (das Erleben von Anerkennung und Akzeptanz in der Bezugsgruppe; engl. ,Relatedness‘)982, die eine Erlebnisqualität prägen.983 So besteht auch für Puurula/Lofstrom (2003) die berufliche Identität aus den Identitätenkomponenten: Self as a self-directed, active human being (Autonomie), Self as a skilled professional (Kompetenz), Self as a member of the working community (Soziale Zugehörigkeit, Committment).984 Die genannten drei Identitätskomponenten sind eine wesentliche Voraussetzung für Entwicklungsmotivation. Sie sind entscheidende Variablen der Identifika-

979 Anmerkung: Übersetzung: „SDT (Selbstbestimmungstheorie) enthält ein kontrolliertes autonomes Kontinuum, in dem beschrieben wird, bis zu welchem Grad eine externe Regulation internalisiert wurde. Je vollständiger es verinnerlicht wurde, desto autonomer wird das nachfolgende, extrinsisch motivierte Verhalten sein.“ (Gagné/Deci 2005, S. 334) 980 Vgl. Gagné/Deci 2005, S. 334 981 Vgl. Lewalter/Wild/Krapp 2001, S. 11 ff. 982 Vgl. Heinzer/Reichenbach/Maicello 2013, S. 27 983 Vgl. Heinzer/Reichenbach/Maicello 2013, S. 19 984 Vgl. Puurula/Lofstorm 2003, S. 4

4.3 Professioneller Habitus als Teil der beruflichen Identität

245

tion. Ein Mangel an Kohärenz zeigt einen Zusammenhang mit der Frustrationsentwicklung im und durch den Beruf. 985 4.3.8 Herauszustellende Befunde des Teilkapitels Die Entwicklung der Identität erfolgt über Sozialisationsprozesse. Das Erlernen der Berufsrolle gehört im Rahmen der Sozialisationsprozesses zur Identitätsentwicklung. Berufliche Sozialisation wird als Aneignungs- und Veränderungsprozess von Kenntnissen, Fähigkeiten, Motiven, Werten, Normen, Verhaltensweisen, Orientierung und Deutungsmustern verstanden. Lernprozesse, Interaktionsprozesse und Reflexionsprozesse gehören zur beruflichen Sozialisation. In der berufliche Sozialisation und der Identitätsentwicklung geht es um ein Aushandeln, Reflektieren der Gemeinsamkeiten zwischen Individuum und Organisation. Das Erleben von Kompetenz, Autonomie und sozialer Zugehörigkeit im Beruf hat einen zentralen Stellenwert für die berufliche Identität und die Identifikation mit den beruflichen Tätigkeiten. Rollenkonflikte sind Identitätskonflikte. Habitus ist das Ergebnis eines lebenslangen Sozialisations- und Lern- und Interaktionsprozesses, in welchem sich der Mensch die Welt aktiv aneignet und die sozialen Regeln und das für ihn relevante gesellschaftliche Wissen inkorporiert, also als eine Form der Verinnerlichung der Denk- und Sichtweisen, Wahrnehmungsschemata und Prinzipen des Urteilens und Bewertens einer Gesellschaft. Zum Erwerb eines spezifischen Habitus sind verschiedene Lernmechanismen, Rahmen, Interaktionen, systemische Eigenwerte, motivationale, volitionale und emotionale Elemente, sowie strukturierte Strukturen und sozialisatorische Institutionen (wie Rituale) besonders bedeutsam. Sozialisation als selbstreferenzielle Reproduktion des Systems.

985 Vgl. Heinzer/Reichenbach/Maiello 2013, S. 20

246

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Organisationale Routinen besitzen die Eigenschaft, in Handlungsmuster eingelagertes Wissen zur Anwendung zu bringen und somit eine rekursive Konstitutionsbeziehung zwischen Wissen und Identität zu etablieren. Berufliche Identität ist mit beruflicher Kompetenz bzw. mit der Kenntnis von berufsspezifischen Aufgaben gleichzusetzen. Sinnstiftung ist die Grundlage von Identität und Habitus. Der Zustand der beruflichen Identität kann wesentlich in Funktion der Internalisierung von extrinsischen Motiven und beruflichen Sollenansprüchen verstanden werden. Entscheidend ist die Passung bzw. der Umgang der Differenzen des berufsgebundenen Wert- und Motivsystems der Person mit den externalen Anforderungen des Berufs und/oder der Arbeitssituation. Die berufliche Identität und Identifikationsmöglichkeiten sind (auch) in Abhängigkeit der allgemeinen Lebenskonzepte und Zielvorstellungen der Person zu sehen. Von Bedeutung sind die konkreten Möglichkeiten der Passung von subjektiven Zielen (Bedürfnissen, Motiven) und äußeren Gegebenheiten (Anforderungen, Wahlfreiheiten). 4.4 Die Konstrukte der Unternehmensidentität und der organisationalen Identität – zwei Seiten einer Medaille „Identität entsteht aus der Beziehung eines Unternehmens zu seiner Umwelt und entwickelt sich in einem kontinuierlichen Prozess über die gesamte ‚Lebenszeit‘ des Unternehmens. Sie ermöglicht es, sich mit dem Unternehmen zu identifizieren (Mitarbeiter, Kunden, Öffentlichkeit) und Identität ermöglicht, das Unternehmen zu identifizieren (Markt). Eine Organisation besitzt eine eigene Identität von Anfang an, ob sie sich damit systematisch befasst oder nicht, ob sie es so will oder nicht.“986 Nach Praus (2007) lassen sich „im Wesentlichen drei theoretische Ansätze für die Konstitution von Organisationsidentität“ 987 unterscheiden.

986 Buss 2012, S. 160 987 Praus 2007, S. 55

4.4 Die Konstrukte der Unternehmens- und der organisationalen Identität

247

„Der sozialpsychologisch geprägte Ansatz verortet Organisationsidentität in den geteilten Vorstellungen der Organisationsmitglieder und untersucht Narrationen und Diskurse auf die Auffassungen des Zentralen, Unverwechselbaren und Beständigen einer Organisation. Organisationsidentität ist hier eine gemeinsam konstruierte Selbstbeschreibung und Sinnkonstruktion, die als gemeinsamer kognitiver Filter der Realität dient. Qualitativ wird sie in Narrationen über die Organisation verortet, die in ihrer Gesamtheit Kerndiskurse und die multiplen Charakteristika der Organisationsidentität beschreiben. Verschiedene Identitäten sind dabei möglich.“988 Das Einheitliche, Unverwechselbare und Beständige dient auch für die kommunikative Führung von Marken und Organisationen aus der marketingorientierten Perspektive. Im Unterschied zum sozialpsychologischen Ansatz geht man hier von einer Mono-Identität aus, die mit symbolhaften Kommunikationshandlungen und Kommunikations-Instrumenten zu vermitteln ist. Ein wichtiges Ziel ist dabei das Prägen von Images bei Bezugsgruppen, spezifischen Vorstellungen über die Identität einer Organisation. Der Beitrag zur Erreichung von organisationalen Zielen steht dabei als Leiterwartung im Vordergrund.“989 „Der systemtheoretische Ansatz verortet die Organisationsidentität formell in der Autopoiesis der Organisation. Diese sorgt für die Einheit aller Operationen, die sich in einem fortwährenden Prozess aneinander anschließen und sich dabei aufeinander beziehen müssen. Aus dieser Geschichte von Entscheidungsereignissen entsteht die Individualität und Einzigartigkeit einer Organisation, da jede Organisation ihre unverwechselbare Geschichte hat. Qualitativ äußert sich Organisationsidentität in den Selbstbeschreibungen, die sich aus den Selbstbeobachtungen formieren. […] Selbstbeschreibungen können sich ergänzen und sich widersprechen. Wird der Widerspruch manifest, muss das System entscheiden, wie es auf darauf reagiert.“990

988 Praus 2007, S. 55 989 Praus 2007, S. 55 f. 990 Praus 2007, S. 56

248

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Abbildung 29: Drei Ansätze zur Unternehmensidentität – Charakteristika. (Quelle: Praus 2007, S. 57)

Perspektive Dimension

sozialpsychologisch geprägter Ansatz

ENTSTEHUNG

Emergent, durch Diskurs und Identifikation

Gesteuert, symbolisch vermittelt

Emergent, selbstgesteuert

VERORTUNG

Geteilte Vorstellung

Symbolische Kommunikation

Formell: Autopoiesis Qualitativ: Selbstbeschreibung

AUSPRÄGUNG

Multiple Identitäten sind möglich

Mono-Identität

Mono- (Einheit durch Autopoiesis) und Multiple Identität (Selbstbeschreibungen)

FOKUS

Eher innen

Eher außen

innen und außen

VERMITTLUNG

Gespräche

Kommunikationsinstrumente

Selbstbeschreibung

FUNKTIONEN

Sinnschaffung, kollektiver, kognitiver Filter

Imagebildung, Beitrag zur Zielerreichung

Integration und Operation von Entscheidungen

Marketing-orientierter Ansatz

systemtheoretischer Ansatz

„Identifikation der Mitglieder mit der Organisation nimmt in den ersten beiden Ansätzen eine wichtige Rolle ein. Für den sozialpsychologischen Ansatz ist sie eine lebenserhaltende Funktion, da die Identität von geteilten Vorstellungen und Werten lebt, die nur über die Identifikation in die Organisation gelangen. Für den marketingorientierten Ansatz ist sie eine Zielgröße, die eine stärkere Bindung und Motivation der Mitarbeiter verspricht.“991 Doch genauer betrachtet unterscheiden sich die beiden Konstrukte ,Unternehmensidentität‘ und ,Organisationale Identität‘ nach Hatch/Schultz (2000) durch ihre Bezugsperspektive. So orientiert sich die Unternehmensidentität nach ,außen‘ und richtet sich in ihre Perspektive auf den Kunden, während die Orientierung der organisationalen Identität sich nach ,innen‘ und auf die Organisationsmitglieder richtet.992

991 Praus 2007, S. 56 992 Vgl. Hatch/Schultz 2000, S. 13 ff.

4.4 Die Konstrukte der Unternehmens- und der organisationalen Identität

249

Auch Balmer/Wilson (1998) führen zur Unterscheidung aus, dass es bei der organisationalen Identität insbesondere um eine verhaltenswissenschaftliche Fokussierung auf alle Angehörigen einer Organisation und deren Verständnis von organisationaler Identität geht, stehen bei der Unternehmensidentität das Marketing und das erlebbare Design, das Erscheinungsbild von Unternehmen im Mittelpunkt.993 Dabei werden die Begriffe Unternehmensidentität und Corporate Identity synonym verwendet.994 In der Differenzierung zwischen der Unternehmensidentität und der organisationalen Identität ergänzt Schröder (2009) ein weiteres Konstrukt, die Organisationskultur. Die Differenzierung verdeutlicht die unterschiedlichen Orte der Verankerungen von Identität, deren handlungsleitende Wirkungen und das Grundverständnis der Akteure in Organisationen.995 Abbildung 30: Unternehmensidentität, organisationale Identität und Organisationskultur (Quelle: Schröder 2009, S. 244, zit.n. Bleuß 06/10, S. 8)

Verankerung der Organisation

Offizielle Kommunikation der Strategie aus der Perspektive des Managements

Geteilte Werte

Corporate Identity

Handlungsleitende

Grundverständnis der Akteure

Wirksamkeit

Kommunikation Handeln für die Organisation

Unternehmensidentität

Organizational Identity

Partizipation Interaktion

Organizational Culture

993 Vgl. Balmer/Wilson 1998, S. 12 994 Vgl. Balmer/Wilson 1998, S. 12 995 Vgl. Schröder 2009, S. 241 ff., zit.n. Bleuß 06/10, S. 8

sense Making

Geteilte Wahrnehmung der Organisation, Gefühle, Meinungen zur Organisation

Konzepte

Handeln als Organisation

Nur indirekt handlungsleitend

250

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

4.4.1 Die Unternehmensidentität – die soziale Interaktion nach Außen „Die Unternehmens-, oder Organisationsidentität ist die allgemeine Form einer Selbstdefinition.“996 „Identität wird immer dann wichtig, wenn Differenz aufscheint.“997 Buss (2012) bezeichnet die Unternehmens- und Organisationsidentität als „das tiefere kollektive Selbstverständnis und die Selbstgewissheit einer Organisation im Hinblick auf die eigene Besonderheit. Sie ist die in ihren Merkmalen unverwechselbare Eigenheit, die jede Organisation auszeichnet, für jeden erkennbar und wiedererkennbar macht und von anderen unterscheidet. Sie zeigt sich zudem darin, dass die Eigenschaften des Unternehmens miteinander stimmig und schlüssig sind. Was die Identität einer Organisation ausmacht, ist wesentlich durch die Art und Weise definiert, in der ihr die Dinge, die Probleme, die Ereignisse bedeutsam erscheinen. Konstitutiv dafür ist die Selbstdeutung, Selbstbewertung und Selbstreflexion“.998 Die Ansätze der soziologischen Identitätstheorien von Mead und Goffman lassen sich auf den Charakter und die Besonderheiten einer Unternehmensidentität übertragen. Der Terminologie von Goffman zufolge kann zwischen zwei Identitätsformen eines Unternehmen unterschieden werden: einerseits die personale Identität eines Unternehmens, die als das spezifische Selbstverständnis und die besondere unverwechselbare ‚Lebensgeschichte‘ eines Unternehmens zu bezeichnen ist, sowie andererseits die soziale Identität eines Unternehmens als Ausdruck der verinnerlichten Erwartungen und Ansprüche der Öffentlichkeit sowie seine Antwort darauf.999 Auch die Identitätsbildung des Unternehmens „ist zunächst ein reflexiver Prozess. Das bedeutet: Sie ist stets auf die von der Außenwelt vorgenommenen Erwartungen und Wahrnehmungen rückgekoppelt“.1000 Die Unternehmensidentität „entwickelt sich demnach nur in und durch soziale Interaktion mit der Öffentlichkeit. Unternehmensidentität ist grundsätzlich Ausdruck eines gesellschaftlichen Prozesses. Sie […] ist das Ergebnis eines kontinuierlichen Austauschprozesses mit den ‚Anderen‘. Das sind für die Unternehmen nicht nur alle öffentlichen Zielgruppen, sondern auch die eigenen Mitarbeiter, somit alle Anspruchsgruppen (Stakeholder).“1001 996 997 998 999 1000 1001

Buss 2012, S. 160 Zirfas/Jörissen 2007, S. 12 Buss 2012, S. 160 Vgl. Buss 2012, S. 165 Buss 2012, S. 162 Buss 2012, S. 165

4.4 Die Konstrukte der Unternehmens- und der organisationalen Identität

251

„In Anlehnung an Goffman charakterisiert Krappmann (2000) Identität als einen kreativen, balancierenden Prozess. Es bedeutet - übertragen auf die Situation eines Unternehmens - bestimmte öffentliche Wertansprüche zu antizipieren und sie kreativ mit dem einen historisch gefärbten Selbstverständnis auszubalancieren. Die Identität eines Unternehmens lässt sich demnach von der Kultur, den Wertansprüchen und Themenentwicklungen der Umgebung nicht ablösen. Jede aktuelle gesellschaftliche Fassung, jede Augenblicksversion einer Kultur stellt Identitätsofferten dar, in die sich ein Unternehmen einfädeln muss, will es seine Identität kreativ weiterentwickeln. Damit entsteht Unternehmensidentität aus einem Verbindungsprozess von historisch gefärbter Eigenidentität und der Adaption eines aktuellen gesellschaftlichen Wert- und Kulturrahmens.“1002 „Ein Unternehmen, das wiedererkannt und identifiziert werden will, muss demnach eine eigene, unverwechselbare Antwort auf die ,Identitätsnormen‘ (Goffman) der Öffentlichkeit finden. Diese kreative Leistung ist ein zentrales Moment der Identitätsbildung und erfordert einen permanenten Balanceakt: Das Management muss die Erwartungen von außen akzeptieren und sich bei Bedarf gleichzeitig von ihnen distanzieren.“1003 Kontinuität und Konsistenz sind zentralen Eckpfeiler im sozialen Prozess der Identitätsbildung eines Unternehmens. Auch „der Prozess der Identitätsbildung eines Unternehmens ist nie wirklich abgeschlossen. Er ist ein offener Prozess, der von unterschiedlichen Interpretationen der Manager, Mitarbeiter, aber auch der Öffentlichkeit in Nuancen immer wieder neu geprägt wird. […] Hinzu kommt: Als offenen Prozess erstreckt sich Krappmann zufolge die Identitätsbildung über die ganze ‚Lebenszeit‘ - mit unterschiedlichen biographischen Etappen. Das lässt sich auch auf die Identität von Unternehmen übertragen. […] Jede Identität besitzt eine biographische Komponente. Um zu wissen, wer ein Unternehmen heute ist, muss es sich auch vergegenwärtigen, wer es gestern war. Gedächtnisstörungen gegenüber der Vergangenheit führen unweigerlich zu einem Verlust an Identität und damit an öffentlichem Ansehen. Identität, die eine Bindungswirkung entfaltet, koppelt die Gegenwart an die Vergangenheit“1004 und gestaltet damit die Zukunft. Demnach entwickelt sich die Identität eines Unternehmens aus drei Zeitbezügen: zum einen durch die Vergangenheit, wodurch die Identität das Ergebnis einer Selbstdeutung vergangenen Handelns ist – Ge-

1002 Krappmann 2000, S. 52; zit.n. Bruhn 2008, S. 162 1003 Bruhn 2008, S. 163 1004 Buss 2012, S. 164

252

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

schichte begründet Identität. Zum anderen wird Identität gestiftet, durch die gesellschaftliche und wirtschaftliche Ortsbestimmung eines Unternehmens in der Gegenwart. Und zum Weiteren wird Identität in der Zukunft durch die Projektion von Ansichten, Zielen und Visionen sowie die Antizipation künftiger Entwicklungen geformt.1005 4.4.2 Die organisationale Identität – der Blick ins Innere „Der Begriff der organisationalen Identität wurde ursprünglich von Albert/Whetten (1985) eingeführt und als jene Charakteristika einer Organisation definiert, die zentral, unverwechselbar und dauerhaft sind. Solche einzigartigen, organisationsspezifischen Merkmale geben eine Antwort auf die Frage, wie sich die Organisationsmitglieder als Gemeinschaft bzw. als Organisation definieren.“1006 Das Konstrukt der organisationalen Identität ist mit anderen Konstrukten der verhaltenswissenschaftlichen Organisationsforschung sehr eng verknüpft und wird seit den 1980er-Jahren im Rahmen der Management- und Organisationswissenschaften thematisiert. „Wesentliche gemeinsame Grundlage der Konstrukte liegt in ihrem Ursprung als Ergebnis umfassender Wahrnehmungs- und Kognitionsprozesse.“1007 „Organisationale Identität ist die (individuell oder kollektiv) wahrgenommene Identität einer Organisation.“1008 Für Albert/Whetten (2004) „stellt sich organisationale Identität als Summe eine (scheinbar) unbegrenzten Zahl von Fragen dar, die Organisationen beziehungsweise die an den Organisationen beteiligten Personen (-gruppen) stellen. Diese Frage sind in den Organisationen ständig implizit und bei den Beteiligten unbewusst vorhanden; in Zeiten tiefgreifender Krisen und Veränderungen werden die Fragen zur organisationalen Identität explizit und geraten in das Bewusstsein der beteiligten Akteure.“1009 Zur Beantwortung der Identitätsfragen durch die Organisationen bringen Albert/Whetten (2004) verschiedene Arten zur Unterscheidung der organisationalen Identität in Verbindung. Einerseits gibt es die ,Single Identity‘, das heißt, eine Organisation hat eine einzige, herrschende Identität. Andererseits existiert die ,Hybrid Composed of Multiple Types (‚Dual Identity‘, ‚Multiple Identity‘)‘, welche davon ausgehen, dass „Organisationen eine Identität haben, die aus zwei 1005 1006 1007 1008 1009

Vgl. Buss 2012, S. 169 Vogel/Hansen 2010, S. 3 Bleuß 06/10, S. 1 Vogel/Hansen 2010, S. 14 Albert/Whetten 2004, S. 90; zit.n. Bleuß 06/10, S. 2

4.4 Die Konstrukte der Unternehmens- und der organisationalen Identität

253

oder mehreren Komponenten beziehungsweisen Typen zusammengesetzt ist. Diese mehrfachen Identitäten können wiederum simultan oder alternativ in Erscheinung treten und wirksam werden.“1010 Auch „unterscheiden Albert/Whetten (2004) zwischen diesen multiplen Identitäten zwei Formen, wobei jede dieser Formen zu einer spezifischen Ausprägung von organisationaler Identität beiträgt. Während bei der ,Holographic Form‘ der organisationalen Identität jeder Teilbereich einer Organisation alle Komponenten einer organisationalen Identität besitzt, repräsentieren in der ,Ideographic/Specialized Form‘ die unterschiedlichen Teilbereiche einer Organisation jeweils nur einzelne Komponenten der organisationalen Identität (z.B. bilden an einem Krankenhaus der Verwaltungsbereich und der akademische professionelle medizinische Bereich zwei unterschiedliche Komponenten der organisationalen Identität ab).“1011 Albert/Whetten (1985) führen drei zentrale Merkmale zur Bestimmung der Konzeption von organisationaler Identität aus, die zugleich die Grundlage eines weiteren fachlichen Diskurses bilden. 1.

2.

„Organisationen besitzen einen ,zentralen Wesenskern‘, der die ,Essenz‘ der Organisationen zentriert und der das Resultat organisationalen Verhaltens darstellt. Er ergibt sich aus der (Selbst-)Reflexion aller an einer Organisation beteiligten Akteure (Vorstand, Führungskräfte, Mitarbeiter, Kunden etc.), kann homogene und damit kompatible Überlegungen oder auch heterogene Inhalte und damit auch widersprüchliche Überlegungen umfassen. (Criterion of Claimed Central Character) Organisationen haben charakteristische und einzigartige Eigenschaften, durch die sie sich von anderen Organisationen unterscheiden beziehungsweise abgrenzen lassen. (Criterion of Claimed Distinctiveness) Die zentralen Eigenschaften von Organisationen sind zeitlich überdauernd. Gleichheit und Kontinuität der organisationalen Identität sind wesentlich. Albert/Whetten heben dabei die Bedeutung von ‚Life Cycle Events‘ (‚Birth‘, ‚Growth‘, ‚Maturity‘, ‚Retrenchment‘) hervor, zu denen organisationale Identität explizit wahrgenommen wird und ins Bewusstsein der Beteiligten tritt, zum Zeitpunkt dieser besonderen Ereignisse sind Veränderungen der organisationalen Identität möglich. (Criterion of Claimed Temporal Continuity)“1012

1010 Albert/Whetten 2004, S. 92 ff.; zit.n. Bleuß 06/10, S. 3 1011 Vgl. Albert/Whetten 2004, S. 96, zit.n. Bleuß 06/10, S. 3 1012 Albert/Whetten 2004, S. 90 ff., zit.n. Bleuß 06/10, S. 3

254

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Abbildung 31: Befürworter & Kritiker der Annahmen und Merkmale von Albert/Whetten. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Bleuß 06/10, S. 3 f.)

Bleuß (2006) setzt sich in der Literatur mit Befürwortern und Kritikern dieser Annahmen und Merkmalen von Albert/Whetten (1985) auseinander und fasst sie wie folgt zusammen: Während sich einige Autoren den Ausführungen von Albert/Whetten anschlossen,1013 wird das erste Merkmal des ,Central Character‘, also ob Organisationen jeweils eine allgemeine/übergeordnete Identität vs. mehrere/unterschiedliche Identitäten besitzen, durchaus kritisch bewertet. „Kernaussagen einiger Autoren ist, dass Organisationen keine übergeordnete Identität, sondern ‚multiple‘ Wesenskerne besitzen. Philips und Hardy (2009) behandeln beispielsweise die Chancen und Risiken des Managements multipler Identitäten. So untersuchten auch Pratt und Rafaeli (1997) die Identitätsvorstellungen unterschiedlicher Subgruppe in einem Krankenhaus und betonen die Bedeutung von deren Berücksichtigung bei Managemententscheidungen (vgl. auch Ashford/Mael 1989; Elstak/van Riel 2005; Foremann/Whetten 2002; Pratt/Foreman 2000).“1014 Auch das dritte Merkmal organisationaler Identität, das ‚Temporal Continuity‘, also die Frage ob die Identität von Organisationen beständig/stabil vs. dynamisch/instabil ist, wird in der Fachliteratur unterschiedlich bewertet. „Neben einer Reihe von Befürwortern dieser Annahme (vgl. z.B. Cheney/Christensen 2001) lassen sich auch hierzu zahlreiche Kritiker ausmachen. Diese gehen davon aus, dass sich organisationale Identität ständig verändern kann. Ursachen für Veränderungen werden unter anderem in dem Wandel von Organisationen selbst oder in dem der Organisationsumwelt gesehen. (vgl. Corley/Gioia/Fabbri 2000; Empson 2004; Gioia/Schultz/Corley 2000; Glynn 2000; Illia 2009; Margolis/Hasen 2002).“1015 So wird inzwischen in der Fachliteratur davon ausgegangen, „dass die Identität einer Organisation ein dynamisches Phänomen ist, das von den Organisationsmitgliedern beständig revidiert und redefiniert wird (Clegg, Rhodes&Kornberger, 2007; Corley&Gioia, 2004; Empson, 2004; Gioia, Schultz,&Corley, 2000; Gioia&Thomas, 1996; Martins, 2005).“1016

Die grundsätzliche Wandlungsfähigkeit der organisationalen Identität wird durch eine Dissonanz zwischen Image und Identität einer Organisation ausgelöst, da die Abweichung zwischen ihrem Fremd- und Selbstbild eine wichtige Rolle spielt. „Image und Identität sind eng verwandte Konzepte, die beide auf Wahrnehmungen essenzieller Eigenschaften der Organisation abstellen, welche im ersten Fall jedoch von einem externen und im zweiten Fall von einem internen Publikum geteilt werden.“1017 Hatch/Schultz (2002) sprechen in diesem Zusammenhang von „organisationale[r] Identität als ein[em] relationale[n] Konstrukt, 1013 1014 1015 1016 1017

Vgl. Gioia/Schulz/Corley 2000, S. 63 Vgl. Bleuß 06/10, S. 4 Bleuß 06/10, S. 4 Vogel/Hansen 2010, S. 8 Vogel/Hansen 2010, S. 8 f.

4.4 Die Konstrukte der Unternehmens- und der organisationalen Identität

255

welches sich in Interaktionen mit anderen formt.“1018 Sie versuchen beim Modell der konzeptionellen Verbindung von Kultur, Identität und Image die persönlichkeits-psychologischen Identitätskonstrukte analog auf die organisationale Ebene zu überragen und orientieren sich dabei auf die von Mead (1934) unterscheidbaren strukturellen Bestandteile des Selbst, dem ,I‘ und dem ,Me‘.1019 „The ,I‘ is the response of the organism to the attitudes of others; the ,me‘ ist the organized set of attitudes of others which one himself assumes.“1020 Hatch/Schultz (2002) gehen dabei davon aus, „dass sich das organisationale ,I‘ in der Verbindung von Kultur und Identität bildet, während das ,me‘ aus der Relation zwischen Identität und Image hervorgeht.“1021 Und so ist ,Kultur‘ (neben Image) das zweite Konzept, welches sehr eng mit der der organisationalen Identität verbunden ist.1022 „Während Kultur die häufig unbewusste Wertannahmen und Glaubensüberzeugungen in der Tiefenstruktur einer Organisation umfasst (Schein,1985), bezeichnet Identität nur ihre selbstreflexive Entäußerung in Eigenschaften der Organisation, die von ihren Mitgliedern als konstitutiv wahrgenommen werden. Damit kommt neben dem Image auch der Organisationskultur eine wichtige identitätsstiftende Rolle zu.“1023 So wird die Organisationskultur einerseits als identitätsstiftende Grundlage interpretiert (vgl. Fiol 1991; Fiol/Hatch/Golden-Biddle 1998) und anderseits als Teilaspekt oder Resultat von organisationaler Identität verstanden (vgl. Elsbach/Kramer 1996; Moingeon 1999).1024 Nach Rometsch (2008) bedingen, begründen sich die beiden Konstrukte wechselseitig und überscheiden sich teilweise in ihrer Ausprägung.1025 Die Wechselseitigkeit lässt sich knapp erklären mit: ,Wer wir sind‘ wird deutlich durch das Verhalten, also ,wie wir Dinge tun‘. Und ,wie wir Dinge tun‘, sagt viel über uns aus, also ,wer wir sind‘. Für Hatch/Schultz (2002) ist die „Organisationale Identität ein Bindeglied zweier Reproduktionsschleifen: Kultur und Identität reproduzieren sich wechselseitig, indem kulturelle Orientierungen in der Identität Ausdruck finden, sich organisationale Selbstdefinitionen aber wiederum in kulturellen Mustern einlagern. Andererseits prägt die Identität das Image der Organisation, welches wiederum 1018 1019 1020 1021 1022 1023 1024 1025

Hatch/Schultz 2002, zit.n. Vogel/Hansen 2010, S. 8 f. Vgl. Vogel/Hansen 2010, S. 10 Mead 2000, S. 175 Vgl. Vogel/Hansen 2010, S. 10 Hatch/Schultz, 2002; Ravasi/Schultz, 2006, zit.n. Vogel/Hansen 2010, S. 9 Vogel/Hansen 2010, S. 9 f. Vgl. Bleuß 06/10, S. 8 Vgl. Rometsch 2008, S. 97

256

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

in ihrer Identität reflektiert wird. In dieser intermediären Rolle zwischen Kultur und Image ist Identität auch ein Ausgleichsmechanismus zwischen Stabilität und Wandel der Organisation.“1026 Wenn diese Ausgewogenheit des Ausgleichmechanismus in der Identitätsbildung einer Organisation nicht gegeben ist, also entweder einseitig übermäßig sich auf die Kultur (,organizational narcissism‘) oder auf das Image (,hyper-adaption‘) konzentriert wird, ruft es nach Hatch/Schultz (2002) eine Diskrepanz und Störung in der Erscheinung hervor.1027 „In der bisherigen Diskussion deuten rollentheoretische Überlegungen dieses Potenzial noch am deutlichsten an, nach denen die Identität einer Organisation Rollen ihrer Mitglieder definiert. Die Erfüllung dieser Rollenerwartungen trägt dann durch Prozesse der Selbstkategorisierung einerseits zur individuellen Identitätsbildung bei, reproduziert andererseits aber auch die organisationale Identität (Golden-Biddle&Rao, 1997; Li et al., 2002).“1028 Dass in Organisationen von einer Pluralität von organisationalen Identitäten ausgegangen werden kann, zeigt sich insbesondere in den „Identitätskonflikten zum Beispiel im Gesundheitswesen, in der soziales Handeln und ökonomische Nützlichkeit im Wettstreit liegen und zu Paradoxien des Managements führen (DeFillippi, Grabber,&Jones, 2007; Glynn, 2000).“1029 Dieses Problem zeigt zum Beispiel auch in dem Ansatz einer Studie von Beil-Hildebrand (2003), in der der Versuch des Managements eines deutschen Krankenhauses im Fokus der Untersuchung stand, die Kultur der Organisation gezielt zu verändern. „Beil-Hildebrands Studie demonstriert die begrenzte Verfügbarkeit der Organisationskultur für Management-Zwecke. Die Leitung des Hauses wollte Wertorientierungen der Mitarbeiter(innen) im Hinblick auf Qualitäts-, und Kostenziele stärken. Obwohl ihre Beteiligungsmöglichkeiten erweitert werden sollten, sahen die Pflegekräfte in der Initiative jedoch zuvorderst einen Versuch, sie stärker zu kontrollieren und ihre Arbeitslast zu erhöhen. Sie entwickelten die Tendenz, der Initiative rhetorisch zu entsprechen, ihre Arbeitsvollzüge aber davon zu ,entkoppeln‘, und zeigten damit ein Verhalten, das auch mit Blick auf die Außenbeziehungen von Kliniken beobachtet worden ist.“1030 Die Studie offenbart neben ihrem veröffentlichten Ergebnis auch die Problematik der Pluralität von beruflichen und organisationalen Identitäten. Die Perspektive, 1026 1027 1028 1029 1030

Vogel/Hansen 2010, S. 10 Vgl. Vogel/Hansen 2010, S. 9 f. Vogel/Hansen 2010, S. 15 Vogel/Hansen 2010, S. 7 Iseringhausen/Staender 2012, S. 193

4.4 Die Konstrukte der Unternehmens- und der organisationalen Identität

257

die aus der Alltagssituation geprägt ist und Werte der beruflichen Identität verbinden mit Organisationskultur eher das soziale Handeln in der Patientenversorgung als die Wertorientierungen im Hinblick auf Qualitäts- und Kostenziele. „In diesem Fall der Identitätsambiguität, gibt es auf die Frage nach dem organisationalen Selbst zwar klare, aber mehrere voneinander abweichende Antworten. Solche multiplen Identitäten einer Organisation können untereinander nur begrenzt vertraglich sein (Corley, 2004; Golden-Biddle&Rao, 1997; Pratt&Foreman, 2000).“1031 4.4.3 Die Organisationskultur und gemeinsame Wertebasis als Fundament Ein Unternehmen besteht in erster Linie aus Mitarbeitern. Diese sind Menschen, die miteinander in Wechselwirkung stehen und auch miteinander kommunizieren. Die große Herausforderung unseres Jahrhunderts ist u.a. die Befähigung der Mitarbeiter eines Unternehmens, wobei großen Wert auf deren Ermutigung und Ermächtigung gelegt wird. Dieses soll dazu führen, dass sie gewollt sind, die anstehenden Veränderungen aktiv mitzugestalten. Auch muss die Kreativität im Team entfaltet werden, damit eine bereichsübergreifende Zusammenarbeit erzielt werden kann und die Mitarbeiter Spaß an ihrer Arbeit haben.1032 „Die Dienstleistungserstellung basiert auf einer Interaktion zwischen Kunden und Mitarbeitern. Die Dienstleistungsmarke wird aus Kundensicht durch die Austauschbeziehung mit den Unternehmensmitarbeitern geprägt. Die Markenleistung entwickelt sich aus einer bestimmten Unternehmenskultur und verkörpert sie gleichzeitig. Die Marken-, und Unternehmenskultur bedingen sich gegenseitig.“1033 Unternehmenskultur wird von vielen Autoren unterschiedlich beschrieben. Für Franzpötter (1997) besteht die Organisationskultur als Grundgesamtheit aus spezifischen, in einer Organisation gemeinsamen, geltenden und geteilten Denkund Verhaltensmustern, Werten und Normen1034, die das Verhalten, die Hand1031 1032 1033 1034

Vogel/Hansen 2010, S. 7 Vgl. Kostka/Mönch 2009, S. 30 Pförtsch/Schmid 2005, S. 268 Anmerkung: „The profession may have a significant influence on the firm, especially through the norms or code of conduct which is considered acceptable both by the surrounding society and by the employees.“ (Løwendahl 2005, S. 21) Übersetzung: „Der Beruf kann einen erheblichen Einfluss auf das Unternehmen haben, insbesondere durch die Normen oder den Verhaltenskodex, der sowohl von der umgebenden Gesellschaft als auch von den Arbeitnehmern als akzeptabel angesehen wird.“

258

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

lungen und Aktivitäten der Organisationsmitglieder prägen.1035 „Sie umfasst Orientierungsmuster, die von den Organisationsmitgliedern als fraglos gültig akzeptiert werden, und strukturiert damit die Mechanismen vor, mit denen Erfahrungen geordnet und die Organisation und ihre Umwelt wahrgenommen und interpretiert werden.“1036 „Das Bedürfnis nach klugem Kräftehaushalt, Folgerichtigkeit und Sinn formt die gemeinsamen Elemente zu festen Mustern, die man schließlich als Kultur bezeichnen kann.“1037 „Kultur setzt […] voraus, dass sich Rituale, Klima, Werte und Verhaltensmuster zu einem einheitlichen Ganzen fügen.“1038 In diesem Zusammenhang wird oft die Vorstellung betont, „dass bestimmte Dinge in Gruppen von ihren Mitgliedern geteilt oder gemeinsam vertreten werden.“1039 Um die Ansätze, Bestandteile und Zusammenhänge des komplexen Phänomens der ,Unternehmenskultur‘ genauer aufzuzeigen, werden die in diesem Zusammenhang wichtigsten Modelle der Unternehmenskultur in Form einer Kurzskizzierung gegenübergestellt. Abbildung 32: Unternehmenskultur-Modell-Schein. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Wien/Franzke 2014, S. 29 ff.)

Modelle

Kurzskizzierung Nach Schein, E. besteht die Unternehmenskultur aus drei Ebenen:1040

1. Die erste Ebene ist die Ebene der Artefakte, der sichtbaren Organisationsstrukturen und -prozesse. Diese Ebene ist leicht zu beobachten, aber schwer zu entschlüsseln. „Sie schließt alle Phänomene ein, die man sieht, hört und fühlt, wenn Modell man einer neuen Gruppe mit einer noch unbekannten Kultur begegnet. […] Auf nach dieser Ebene der Artefakte ist die Kultur sehr klar und hat unmittelbare emotioSCHEIN nale Auswirkungen.“1041 Zu diesen Artefakten gehören sichtbare Symbole und (EbenenVerhaltensweisen, Handlungsmuster und andere physische Manifestationen. Modell) Dazu gehören zum Beispiel offenkundige Zeugnisse der Gruppe, Kommunikationsverhalten, Sprechweise, Kleidung, Atmosphäre, Gefühlsäußerungen, Logo, Parkplätze, Bürolayout, verwendete Technologie, das Leitbild, Formen der Sanktionierung und Belohnung aber auch „de[r] Legenden und Geschichten über 1035 1036 1037 1038 1039 1040 1041

Vgl. Franzpötter 1997, S. 235 Minssen 2006, S. 76 Schein 1995, S. 23 Schein 1995, S. 22 Schein 1995, S. 21 Schein 1995, S. 30 ff.; 2003, S. 31 ff. Schein 1995, S. 30 ff.

4.4 Die Konstrukte der Unternehmens- und der organisationalen Identität

Modelle

259

Kurzskizzierung das Unternehmen, de[r] Verlautbarungen über Unternehmenswerte und de[r] beobachtbaren Rituale[…] und Zeremonien zum Ausdruck kommt.“1042

2. Die zweite Ebene nach Schein (1995) ist die Ebene der öffentlich propagierten oder bekundeten Werte und Normen.1043 Hier wird „das offene Verhalten von einer tieferen Denk- und Wahrnehmungsebene gesteuert.“1044 Unter dieser Ebene liegt das Gefühl, wie die Dinge sein sollen. Es sind kollektive Werte, die ihren (oft unbewussten) Ursprung in Prozessen der Problemlösung haben, die Modell dann als Reaktionsmuster sich bewähren und somit sich allmählich zum Genach meingut und damit zu Werten des Unternehmens entwickeln. Sie bilden einen SCHEIN spezifischen eigenen Charakter des Unternehmens, der in der Selbstdarstellung (Ebenenzum Ausdruck kommt. Das bedeutet „abgeleitete Weltanschauung aus den Modell) Grundannahmen findet sich hier aufbauend […] in den Werten und Normen wider.“1045 3. In „dieser dritten und tiefsten Ebene lässt sich Kultur als gemeinsames mentales, ethisches Modell verstehen, welches die Mitarbeiter eines Unternehmens vertreten und für selbstverständlich halten.“1046 Sie beinhaltet Überzeugungen und Einstellungen bzw. Annahmen über die Beziehungen zur Umwelt, zur menschlichen Natur und im sozialen Bereich. Es ist die Ebene der Grundprämissen und der nicht sichtbaren und ,unausgesprochene gemeinsame Annahmen‘.1047 Diese Grundannahmen, die so tief im Denken verwurzelt, dass sie von Mitgliedern der Organisation nicht bewusst wahrgenommen werden. Da sie nicht mehr bewusst reflektiert werden, sind sie nur sehr schwer aufzudecken. Ohne ihre Kenntnis ist jedoch ein Verständnis der darüber liegenden Ebenen nur bedingt möglich. „Der wirkliche Motor der Kultur - ihr Wesen - sind die gemeinsam, unausgesprochenen Annahmen (Grundprämissen), auf die sich das alltägliche Verhalten stützt.“1048

1042 Schein 1995, S. 30 1043 Anmerkung: Werte (legen fest, was als ,gut‘ und ,nicht gut‘ gilt) und Normen (legen fest, was ,erlaubt‘ bzw. ,nicht erlaubt‘ ist, was ,belohnt‘ und was ,bestraft‘ wird). Sie schaffen einen Rahmen durch Klarheit, Orientierung für alle Mitglieder der Organisation und haben daher einen starken Einfluss auf ihr Verhalten. 1044 Schein 2010, S. 34 1045 Wien/Franzke 2014, S. 29 f. 1046 Schein 2010, S. 36 1047 Vgl. Schein 1995, S. 32 1048 Schein 2010, S. 39

260

Modelle

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Kurzskizzierung „Ihnen werden die grundlegenden Orientierungs-, und Verhaltensmuster zugeordnet, welche die Wahrnehmung und nicht zuletzt auch das Handeln von Menschen einer Kultur beeinflussen. Diese Grundannahmen kann man auch als Weltanschauung verstehen. Derartige Einflüsse finden unbewusst statt und erfordern keine direkte Reflexion. Die erlernten sozialen Grundnormen werden nicht in Frage gestellt, sondern sie werden als normal empfunden. Ein konkretes Nachdenken über solche verinnerlichten Normen und Regeln wird als nicht erforderlich angesehen. Im Speziellen beziehen sich diese Grundannahmen auf die Umwelt, das menschliche Handeln sowie auf zwischenmenschliche Beziehungen und auch auf das Verständnis von Wahrheit und Zeit.“1049

Das Ebenen-Modell von Schein ist als das Grundlagen-Modell zu bezeichnen, da sich die Modelle HATCH (Elemente der kulturellen Dynamik), PLESSER (Aspekte der Grundannahmen), HALL (Eisberg-Modell), HOFSTEDE (Vier Kategorien-Modell) und letztlich auch das 7-S-Modell nach PETERS und WATERMAN (McKinsey 7-S) an diesem Modell orientiert haben. Sie sind aber dennoch in ihrer Beschreibung zu berücksichtigen, da sie sich in den Perspektiven durchaus ergänzen. Abbildung 33: Unternehmenskultur-Modelle – Hatch, Hall, Plesser, Hofstede, Peters&Waterman. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Wien/Franzke 2014, S. 29 ff.)

Modelle

Kurzskizzierung

„HATCH beschreibt die kulturelle Dynamik basierend auf dem Ebenen-Modell nach SCHEIN. Er betrachtet vorranging nicht die einzelnen Ebenen, sondern deren Verbindungen zueinander. Die Elemente der Artefakte, Werte und Normen, Modell sowie die Grundannahmen wurden von HATCH durch die Symbole ergänzt.[…] nach Die Prozesse, welche die einzelnen Elemente verbinden und welche die Kultur einer Organisation bestimmen, sind Manifestation, Realisation, Interpretation HATCH (Elemente und Symbolisierung.“1050 „Bei der Manifestation werden als Prozess alle Erwartungen beschrieben. Sie der kulturellen beeinflussen die Grundannahmen und spezifizieren die Werte. Eine ManifestaDynamik) tion erfolgt durch: Sinneswahrnehmungen, Kognitionen und Emotionen. Visionen und Bilder für eine Handlungsunterstützung werden durch die Entstandenen Erwartungen bestimmt. Parallel hierzu werden Artefakte produziert, welche aus 1049 Vgl. Kerpen 2007, S. 35, zit.n. Wien/Franzke 2014, S. 29 1050 Wien/Franzke 2014, S. 32

4.4 Die Konstrukte der Unternehmens- und der organisationalen Identität

Modelle

261

Kurzskizzierung den Bildern und Werten resultieren. Mit der Produktion von Artefakten wird der Prozess der Realisation beschrieben. Die Werte werden wiederum durch die realisierten Artefakte beeinflusst, aus denen sie entstanden sind. Ebenso werden die Werte der Kultur durch die Artefakte anderer Kulturen bewusst oder unbewusst beeinflusst. Die entstehenden Artefakte werden durch die Mitglieder der Organisation oder der Kultur in eine Art Symbolhaushalt aufgenommen. Dieser Prozess der Symbolisierung wird von den Mitgliedern zur Unterstützung von Aussagen oder Handlungen herangezogen, welche durch Artefakte zusätzlich verdeutlicht werden. Die verwendeten Symbole werden durch die Mitglieder vor dem Hintergrund des entsprechenden Kontexts interpretiert. Der Prozess der Interpretation beeinflusst wiederum die Grundannahmen, auf denen sie einwirken. Auch die Grundannahmen unterstützen die Interpretation der Symbole.“1051 „Das Modell nach HATCH beschreibt eine aktive Gestaltung der Unternehmenskultur. Des Weiteren wird deren reflexive Veränderung betrachtet. Durch die Prozesse der Manifestation und Realisation werden die Aspekte der Aktivität dargelegt. Mit den Prozessen der Interpretation und Symbolisierung erfolgt eine Reflexivität. Die Betrachtung der Zusammenhänge zwischen den einzelnen Elementen lässt eine dynamische Sichtweise zu. Die Prozesse müssen stets im Zusammenhang betrachtet werden. Sie stehen nicht isoliert für sich alleine. Der Kreis der Elemente und Prozesse kann sowohl im Uhrzeigersinn als auch entgegengesetzt betrachtet werden. Der Kreis im Uhrzeigersinn gibt die Erzeugung der menschlichen Welten, insbesondere die Erzeugung von Artefakten einer Unternehmenskultur wieder. Der entgegengesetzte Verlauf reproduziert einen entsprechenden historischen Kontext, aus dem die Mitglieder die Bedeutung der Artefakte, Werte und Symbole herleiten. Beide Richtungen dürfen aber nicht unabhängig voneinander betrachtet werden. Beide beeinflussen sich gegenseitig und verlaufen theoretisch simultan fortlaufend in beide Richtungen.“1052

Modell nach HALL (EisbergModell)

1051 1052 1053 1054

„Das Eisberg-Modell geht von sichtbaren und nicht sichtbaren Elementen aus. Als sichtbare Elemente der Unternehmenskultur können die grundlegenden Werte in Form von: • Leitbildern, • Philosophien, • Strategien und • diverse Zielsetzungen verstanden werden.“1053 „Als nicht sichtbare Elemente können die: • verdeckten Regeln, • Beziehungen, • Status, • Einstellungen und • Denkhaltungen beschrieben werden. Sie sind das Fundament des Eisberges, welches nicht sofort sichtbar ist.“1054 Die Elemente (Teil) des Eisberges, den wir sehen, beschreiben die Elemente, die nicht gesehen

Wien/Franzke 2014, S. 32 Wien/Franzke 2014, S. 32 Vgl. Motschnig/Nykl 2009, S. 46 f., zit.n. Wien/Franzke 2014, S. 41 Vgl. Balz/Arlinghaus 2007, S. 165 ff.; vgl. Kreuser/Robrecht 2010, S. 31, zit.n. Wien/Franzke 2014, S. 41

262

Modelle

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Kurzskizzierung werden. Grund für diese Annahme ist, dass die nicht sichtbaren Elemente die sichtbaren Elemente leiten. „Dabei geht er davon aus, dass die Unternehmenskultur dabei als ein gemeinsames Muster von Grundannahmen zur Lösung von internen und externen Problemen verstanden wird.“1055

Das Modell von PFLESSER (orientiert sich am Modell von Schein) stützt sich auf vier Grundannahmen: Werte, Normen, Artefakte und Verhaltensweisen  „PFLESSER versteht die Werte in seinem Modell als Grundlage der Unternehmenskultur. Die Werte finden sich sowohl in einer sozialen Gemeinschaft als auch in abstrakten Zielsetzungen einer Organisation wieder. Als Werte können hier z. B. die Kundenorientierung, die Innovation, die Qualität und der Erfolg verstanden werden. Durch die Unternehmensführung werden meist die benannten Werte in Unternehmensgrundsätzen dargestellt. Werte für Unternehmen bzw. Organisationen sind nicht von selbst gegeben. Sie unterliegen einem Lernprozess, welcher geprägt ist von den Erfahrungen der Mitglieder einer Unternehmung.“  Im Gegensatz zu den Werten werden die Normen durch das Unternehmen vorgegeben. Sie bilden im Kern somit die geforderten Verhaltensweisen, welche vom Arbeitgeber gewünscht und gefordert werden. Diese Vorgaben Modell werden direkt und indirekt im Unternehmen kommuniziert. […] In Abgrennach zung zu den Werten unterliegen die Normen einem höheren KonkretisiePLESSER rungsgrad und weisen einen stärkeren Verhaltensbezug auf. (Aspekte  Die Artefakte nehmen im Modell von PFLESSER in Anlehnung an das der GrundModell von SCHEIN einen hohen Stellenwert ein. Die verschiedensten annahmen) Symbolsysteme beziehen sich auf eine innere und äußere Darstellung und Präsentation einer Unternehmung. Rituale, Sprache und auch das Design, im Sinne eines Wiedererkennungswertes, sind hierbei die Schwerpunkte. Nicht betrachtet wird hierbei, dass durch die herrschenden Werte und Normen die Artefakte ihre eigentliche Bedeutung erlangen. Somit können die Artefakte als Ergebnis der Unternehmenskultur verstanden werden. Ohne die Basis für Werte und Normen ist eine Interpretation der Artefakte nur unzureichend möglich.  Der Aspekt der Verhaltensweisen im Modell der Unternehmenskultur nach PFLESSER zeigt nur einen geringen Symbolcharakter auf. Dementsprechend sind die zugrundeliegenden Verhaltensweisen nicht direkt einer entsprechenden Unternehmenskultur zuzuordnen. Sie ist vielmehr ein Ergebnis der vorherrschenden Rahmenbedingungen und der aktuellen Situation in einer Unternehmung.“1056 1055 Vgl. Kreuser/Robrecht 2012, S. 31, zit.n. Wien/Franzke 2014, S. 40 1056 Vgl. Kerpen 2007, S. 35, zit.n. Wien/Franzke 2014, S. 36

4.4 Die Konstrukte der Unternehmens- und der organisationalen Identität

Modelle

263

Kurzskizzierung

„Die Symbole beschreiben bestimmte Bilder, Objekte, Wörter und Gesten. Unter Helden können verstorbene oder lebende, imaginäre oder reale Personen, welche sich in einer Organisation aufgrund bestimmter Fähigkeiten oder Fertigkeiten hervorgetan haben, verstanden werden. Sie werden durch eine Mehrheit der Organisationsmitglieder geschätzt und anerkannt. Als Rituale sind hier gemeinsame Aktivitäten der Organisationsmitglieder zu verstehen. Die Rituale sind vorModell rangig für die Förderung der sozialen Beziehungen zu verstehen.“1057 In dem nach Zwiebelmodell werden die Symbole, Helden und Rituale werden als Praktiken HOFbezeichnet. STEDE „Die Werte nehmen im Modell nach HOFSTEDE eine besondere und zentrale (Vier Kate- Rolle ein. Um diese Bedeutung hervorzuheben, werden die Werte im Zwiebelgorienmodell als Kern der Kultur dargestellt. Die Werte der Unternehmenskultur bilden sich in den oberen Schichten, also in den Praktiken. Sie sind nicht direkt zu erModell) fassen. Ihre Wirkung wird unbewusst in den verankerten Normen entfaltet.“1058 Nach Hofstede ist die Kultur ein kollektives Phänomen und besteht aus indirekten Regeln der sozialen Interaktion verschiedener Personen miteinander, da die Gruppe von Menschen aus einem gleichen sozialen Umfeld angehören, ebenso eine regelmäßige soziale Interaktion stattfinden kann. Die zugrunde liegende Kultur unterliegt dabei einem ständigen Anpassungsprozess.“1059 Ausgangspunkt sind Werte, Fähigkeiten und Kulturen, die einem ständigen Anpassungsprozess im Unternehmen unterliegen und sich kontinuierlich fortentwickeln. Grundlage des 7-S-Modells sind sieben Elemente, die sich in weiche und harte Faktoren differenzieren und sich gegenseitig beeinflussen. Während die Elemente • Strategy, • Structure und • Systems durch ihre Greifbarkeit und Nach7-S-Movollziehbarkeit (z. B. in Form von Plänen, Strategiepapieren, Dokumentationen dell nach der Aufbau- und Ablauforganisation) zu den harten Faktoren zählen, gelten die PETERS weiteren Elemente • Shared Values, • Skills, • Staff und • Style als weiche Fakund WAtoren, die nicht greifbar und nachvollziehbar sind. Die weichen Faktoren können TERMAN aber nur bedingt geplant und beeinflusst werden, da sie sehr stark von den Mit(McKinsey gliedern der Organisation geprägt werden. Das Handeln der Mitarbeiter hat einen 7-S) direkten Einfluss auf die weichen Faktoren. Obwohl sie eher im Verborgenen liegen, haben sie, im Vergleich zu den harten Faktoren einen stärkeren Einfluss auf die Unternehmenskultur. Die weichen Faktoren wirken auf die harten Faktoren ein, wodurch u. a. ein bestimmtes Verhalten und Handeln ausgelöst wird. Somit formen die weichen Faktoren die harten Faktoren.1060

1057 1058 1059 1060

Wien/Franzke 2014, S. 38 f. Wien/Franzke 2014, S. 38 f. Vgl. Broßmann/Mödinger 2011, S. 412, zit.n. Wien/Franzke 2014, S. 38 Vgl. Waterman et al. 1980, S. 14–26, zit.n. Wien/Franzke 2014, S. 42 f.

264

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Modelle

Kurzskizzierung „Unternehmen, welche effektiv arbeiten, weisen eine ausgeglichene Balance zwischen den 7 Faktoren auf. Aufgrund der Verzahnung der einzelnen Faktoren wird das 7-S-Modell auch als Diagnosemodell zur Steigerung der Organisationseffektivität herangezogen. Jede noch so kleine Änderung in einem Faktor hat Einfluss auf das ganze Modell bzw. auf jeden einzelnen Faktor.“1061 „PETERS und WATERMAN vertreten die Auffassung, dass Unternehmen, welche sich auf den Märkten etabliert haben und erfolgreich sind, sich diese weichen Faktoren zu Eigen gemacht haben. Sie wurden optimal nach den harten Faktoren ausgerichtet, so dass das ganze 7-S-Modell wie ein feines Getriebe ineinandergreift. Ohne Beachtung der weichen Faktoren wird ein Veränderungsprozess oftmals scheitern. Strukturen und Strategien dürfen nicht im Widerspruch zu der Kultur und den Werten stehen. […] Das 7-S-Modell kann im Veränderungsprozess die Richtung vorgeben. Durch die Beschreibung des IST-Zustandes im Vergleich zu dem SOLL-Zustand können die verschiedenen Wechselwirkungen betrachtet und entsprechende Maßnahmen identifiziert werden.“1062

Im Gegensatz zu den vorherigen Modellen unterscheidet sich das weitere Modell von Handy durch einen weiteren Ansatz. Der Ansatz von HANDY (1978) umfasst eine Typologisierung der verschiedenen Organisationskulturen. Dabei versteht HANDY den Begriff der Organisationskultur als ein Normengefüge einer Unternehmung, welches sich im Verhalten, in den Überzeugungen und Werten der Personen einer Unternehmung widerspiegelt.1063 Abbildung 34: Unternehmenskultur-Modell – Handy. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Wien/Franzke 2014, S. 29 ff.)

Modelle

Modell nach HANDY (Kulturtypologien)

Kurzskizzierung Charles Handy legt unter Rückgriff auf die griechische Mythologie vier Arten von Unternehmenskultur fest: 

Die Machtkultur (Zeus-Kultur) = In einer patriarchischen, zentralistischen und stark hierarchischen Organisation gibt es eine zentrale Führungspersönlichkeit, von der alle Macht ausgeht. Die Entscheidungen werden autokratisch von der obersten Managementebene getroffen, demokratische Entscheidungsfindungen finden nicht statt. Die Mitarbeiter ordnen sich dieser Hierarchie unter und handeln wie ihr Vorgesetzter.

1061 Wien/Franzke 2014, S. 43 f. 1062 Pascale/Athos 1982, S. 83 f.; zit.n. Wien/Franzke 2014, S. 44 1063 Vgl. Kerpen 2007, S. 35, zit.n. Wien/Franzke 2014, S. 37

4.4 Die Konstrukte der Unternehmens- und der organisationalen Identität

Modelle

265

Kurzskizzierung 

Die Rollenkultur (Apollon Kultur) = Diese Kultur ist oft in bürokratisch organisierten Unternehmen anzutreffen und zeichnet sich dadurch aus, dass die Aufgaben klar und genau beschrieben sind und die Kompetenzen und Verantwortlichkeiten von der Unternehmensspitze aus festgelegt wurden. Die charakteristische Mangel an Flexibilität wirkt sich nachteilig auf eine Kundenorientierung und Marktanpassung.



Die Aufgabenkultur (Athena-Kultur) = Dies beschreibt ein Netzwerk, welches aus kleinen Organisationseinheiten und Teams (die die Hierarchie vernachlässigen) besteht, die ein gemeinsames Ziel anstreben. Die Selbstverantwortung den Mitarbeitern steht im Mittelpunkt. Die Aufgabenkultur lässt eine schnelle Marktanpassung zu und weist demzufolge einen dienstleistungsorientierten Charakter auf. Diese Kultur ist bspw. für innovative und wissensintensive hochspezialisierte Vorhaben geeignet. Die ausgeprägte Flexibilität, die hohe Ergebnisorientierung und die Anpassungsfähigkeit der Mitglieder sind klassische Kulturkennzeichen solcher Organisationen. Die Personenkultur (Dionysus-Kultur) = die in Organisationen wie bspw. Praxisgemeinschaften und Universitäten anzutreffen ist. Im Mittelpunkt steht das Individuum, welches ihr eigenes Ziel erreicht. Dies macht eine zielorientierte Führung sowie eine Verhaltenskanalisation entsprechend der gesetzten Unternehmensziele problematisch. Die große Möglichkeit der Autonomie und der Selbstverwirklichung wirken sich positiv auf die Motivation und auf die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter aus.1064 Dies macht eine zielorientierte Führung sowie eine Verhaltenskanalisation entsprechend der gesetzten Unternehmensziele problematisch.1065



HANDY ordnet den vier Kulturtypen entsprechende unternehmerische Aktivitäten zu. Für Routinetätigkeiten empfiehlt er die Rollenkultur, für Krisensituationen die Machtkultur, für innovative Vorhaben die Aufgabenkultur. Für eine erfolgreiche allgemeine Unternehmensführung empfiehlt HANDY eine Mischung aller vier Kulturtypen. Jedoch kommen für eine erfolgreiche Entwicklung eines ,Brand Behavior‘ nur die beiden letztgenannten Kulturtypen in Frage.

Auch in der Definition von Heinen/Dill (1990) wird das identitätstreibende Fundament der Unternehmenskultur erkennbar: Die „Unternehmenskultur lässt sich als Grundgesamtheit gemeinsamer Werte- und Normenvorstellungen1066 sowie 1064 Vgl. Meifert, M. T. 2010, S. 316 ff. 1065 Vgl. Brandstätter/Otto 2009, S. 356 ff. 1066 Anmerkung: „Combined with a profession, norms are reinforced even more firmly when the majority of the employees are educated in the same tradition and share the same student experiences.“ (Løwendahl 2005, S. 29)

266

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

geteilter Denk- und Verhaltensmuster beschreiben, die Entscheidungen, Handlungen und Aktivitäten der Organisationsmitglieder prägen.“1067 Für das gemeinsame Verständnis werden die Begriffe Unternehmen und Kultur definiert. „Ein Unternehmen ist ein soziales […] System. Es ist offen, vernetzt, visionsorientiert, stetig lernend und im Wandel. Sinn und Zweck des Unternehmens ist es, langfristig erhaltende Werte zu schaffen.“1068 „Entwickelt das Unternehmen […] erfolgreiche […] Dienstleistungen, die vom Markt angenommen werden, dann werden diese Überzeugungen und Werte nach und nach allgemein und selbstverständlich. Sie werden zu unausgesprochenen Annahmen über das Wesen der Welt und des Erfolgs.“1069 Das bedeutet wiederum, dass über die professionellen Leistungen auch Werte des Unternehmens transportiert werden. Die organisationale Identität wird für die Stakeholder erfahrbar und erlebbar und zugleich das Image des Unternehmens prägen. „Kultur ist Teil des Wertesystems eines Unternehmens. Kultur zeigt wie eine Gemeinschaft von Menschen seine Normen lebt. […] Kulturbausteine sind alle Maßnahmen die eine Umsetzung der Normen fordern und fördern.“1070 Für die Unternehmenspraxis bedeutet dies: Unternehmen sind Kultursysteme, in denen sich Wert- und Denkmuster bilden, die das Verhalten der Mitglieder nachhaltig prägen. Ebenso drückt dies aus, dass ein Unternehmen, in dem die Mitarbeiter die Kultur nicht leben, erfolglos ist.1071 Somit ist sie „die zentrale Schlüsselgröße bei der Strategieumsetzung, da sie als verinnerlichtes System von Werten und Normen1072 einerseits eine gravierende Erfolgsbarriere darstellen kann. Andererseits können die gelebten Werte einer aktiv gestalteten Unternehmenskultur eine verfolgte Strategie aber auch sehr wirkungsvoll zur Entfaltung bringen.“1073 Steimann/Schreyögg (2005) beschreiben anhand von sieben Vorteile die ökonomische Bedeutung von Unternehmenskulturen:

1067 1068 1069 1070 1071 1072 1073

Übersetzung: „In Verbindung mit einem Beruf werden die Normen noch stärker gestärkt, wenn die Mehrheit der Beschäftigten in der gleichen Tradition ausgebildet wird und die gleichen Erfahrungen der Schüler hat.“ Heinen/Dill 1990, S.17 Vgl. Sackmann 2008, S. 295 Schein 2010, S. 35 Sackmann 2008, S. 295 Vgl. Bleis/Lütjen/Zoike 2010, S. 31 Anmerkung: „Demgegenüber sind Normen konkreter gefasst im Sinne von spezifischen Regeln und Verhaltensvorschriften, beispielsweise im Umgang mit Mitarbeitern und Kunden.“ (Heinen/Dill 1990) Bleis/Lütjen/Zoike 2010, S. 30

4.4 Die Konstrukte der Unternehmens- und der organisationalen Identität

267

Zunächst wird die Handlungsorientierung als bedeutender Vorteil angesehen. Kulturen werden als stark bezeichnet, wenn es ihnen gelingt, das Weltbild für die einzelnen Organisationsmitglieder verständlich zu machen. Dadurch ermöglichen die Unternehmen ihren Mitarbeitern eine klare Handlungsbasis in ihrem Alltag. Eine reibungslose Kommunikation gehört ebenfalls zu einer starken Unternehmenskultur. In erster Linie beinhaltet dies klar definierte Kommunikationswege, sodass Signale und Abstimmungen schnell transportiert und interpretiert werden können. Eine einheitliche Kommunikation sowie eine akzeptierte Vision des Unternehmens führen bei Entscheidungs- und Problemlösungsprozessen zu einer raschen Entscheidungsfindung.1074 Gemeinsame Überzeugungen, die Projekte, Entscheidungen und Pläne vorantreiben und von den Organisationsmitgliedern akzeptiert werden, sprechen für eine zügige Umsetzung. Durch die vorgegebenen Orientierungsmuster wird wenig kontrolliert. Dies führt zu einer hohen Selbstkontrolle der einzelnen Unternehmensmitglieder. Unternehmenskulturen sind geprägt durch Motivation und Teamgeist. Dies entsteht durch die gelebten Werte und führt zu einer Identifikation der Mitglieder mit dem Unternehmen, sodass dies nach außen repräsentiert wird. Weiterhin führen die geteilten Orientierungsmuster zum Abbau von Ängsten und zur Erhöhung von Sicherheit und Stabilität. Dadurch weisen solche Unternehmen geringe Fluktuationsraten und Fehlzeiten auf. Die Mitarbeiter entwickeln eine hohe Loyalität gegenüber ihrem Arbeitgeber.1075 Nicht unerwähnt soll an dieser Stelle sein, dass es bei einer zu starken und mächtigen Unternehmenskultur auch Nachteile geben kann. Und Organisationen können auch zu „mächtige Kulturen entwickeln, die das Denken und das Verhalten aller Mitarbeiter bestimmen.“1076 Nachteile dieser zu starken Unternehmenskulturen sind z.B., dass sie den organisatorischen Wandel nicht zulassen und sind

1074 Vgl. Steinmann/Schreyögg 2005, S. 728 1075 Vgl. Steinmann/Schreyögg 2005, S. 728 f. 1076 Schein 2010, S. 13

268

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

daher nicht innovativ sind.1077 Solche Organisationen sind damit nicht zukunftsfähig, da sich Unternehmen einem ständigen Wandel aussetzen.1078 Doch sind Kulturen wichtig, „weil individuelle Überzeugungen, Werte und Verhaltensweisen oft nur im Kontext kultureller Identitäten verständlich werden. Um das individuelle Verhalten zu erklären, muss man über die Persönlichkeit hinaus nach der Zugehörigkeit zu Gruppen und nach der Kultur dieser Gruppe fragen.“1079 „Kultur ist wichtig, denn die starken, latenten und oft unbewussten kulturellen Kräfte bestimmen, individuell wie kollektiv, Verhalten, Denkmuster und Werte.“1080 Im Außenverhältnis bestimmt die Unternehmenskultur die Handlungen zwischen Unternehmen und Umwelt und grenzt das Unternehmen systemisch von seiner Umwelt ab. Eine gemeinsame Kultur ist ein Attribut kollektiver Identität.1081 Die „größtenteils unsichtbaren Elemente der Unternehmenskultur spiegeln sich in den nach außen wirkenden aktiven Ausdrucksformen im Verhalten der Unternehmensmitglieder und in der externen Kommunikation sowie als passive Ausdrucksformen in der Gestaltung der materiellen Attribute eines Unternehmens wider. Diese drei Teilbereiche der Unternehmenskultur haben einen entscheidenden den Einfluss auf das Image des Unternehmens.“1082 „Die Unternehmenskultur hat einen besonderen Einfluss auf das Image eines Unternehmens. Die kulturellen Aspekte eines Unternehmens liefern Mitarbeitern u.a. auch die Antwort auf Fragen, wie bspw.: Warum soll ich mich gerade für dieses Unternehmen entscheiden? oder Warum soll ich gerade in diesem Unternehmen bleiben? Kann sich der Mitarbeiter diese Fragen leicht beantworten, so entfalten sich 1077 Anmerkung: Ausgereifte Wertesysteme und die daraus resultierende Orientierungsmuster können dazu führen, dass Signale überhört oder verdrängt werden. Verstärkt wird dieser Faktor durch gelebte Traditionen und Rituale. Unternehmen können so zu geschlossenen Systemen werden. Starke Unternehmenskulturen wehren sich gegen Veränderungsprozesse, die ihre Identität bedrohen können. Sie lassen wenige Innovationen zu, da die vorgegebenen Orientierungsmuster sich bewährt haben. Neues wird abgestoßen. Die hohe Stabilität wird zum Nachteil, sobald neue Ideen akzeptiert wurden und sich in der Umsetzungsphase befinden. Handelt es sich um Ideen, die mit den bisherigen Interessen übereinstimmen, so werden diese schnell umgesetzt. Geht es aber um strategische Neuausrichtungen, führt es zu Blockaden. Es handelt sich um einen Mechanismus zur Abwehr von Unsicherheiten. (vgl. Steinmann/Schreyögg 2005, S. 730 ff.) 1078 Vgl. Steinmann/Schreyögg 2005, S. 732 f. 1079 Schein 2010, S. 29 1080 Schein 2010, S. 29 1081 Vgl. Krüger, 2000, S. 240 f. 1082 Meffert/Bruhn 2006, S. 704

4.4 Die Konstrukte der Unternehmens- und der organisationalen Identität

269

bspw. Selbstmotivation, Verantwortungsübernahme, unternehmerisches Denken und eine kooperierende Zusammenarbeit.“1083 Nach innen betrachtet, zeichnet sie sich durch Gemeinsamkeiten im Denken, Treffen von Entscheidungen und Verhaltensweisen. Beleuchtet man die Unternehmenskultur aus dem Blickwinkel der Organisationspsychologie, so ist das kollektive Rollenverhalten dem individuellen Verhalten übergeordnet.1084 4.4.4 Identifikation mit Organisationen und organisationales Commitment Synonym zu beruflicher Identität werden vielfach die Begriffe Identifikation oder Commitment verwendet, durch welche die Beziehung von Person zu Beruf beschrieben werden kann. So gilt es im Folgenden die beiden Begriffe näher zu ergründen. „Identifikation wird als Vemittlungsmodus zwischen individueller und organisationaler Identität thematisiert. Sie bezeichnet die Wahrnehmung einer Zugehörigkeit zu und die Einheit mit der Organisation (Ashforth/Mael, 1989) bzw. das Ausmaß, in dem ein Mitglied von sich selbst annimmt, die gleichen Eigenschaften zu besitzen, die es auch der Organisation schreibt (Dutton/Dukerich/Harquail, 1994).“1085 „Über Identifikationsprozesse bilden sich soziale Identitäten, wobei das Identifikationsobjekt in diesem Fall die Organisation ist. Damit ist eine Identität in Organisationen (auf individueller Ebene) von einer Identität von Organisationen (auf kollektiver Ebene) zu unterscheiden.“1086 Auch wenn nach Elsbach (1999) die „Prozesse der Identifikation […] diese Identitäten nur partiell zur Deckung kommen“1087, hat die Identifikation einen so wichtigen Nutzen, da Individuen dadurch ihre Selbstdefinition rekurrieren, also auch Organisationsmitgliedschaften und darüber psychologische Grundbedürfnisse wie Zugehörigkeit, Ordnung, Sicherheit und Unterscheidbarkeit (Pratt, 1998) befriedigen.1088 Zur Erfüllung der Bedürfnisse der Selbstaufwertung und

1083 1084 1085 1086 1087 1088

Vgl. Meifert 2010, S. 315 Vgl. Krüger, 2000, S. 240 f. Ashforth/Meal 1998, Dutton/Dukerich/Harquail 1994, zit.n. Vogel/Hansen 2010, S. 11 He/Balmer 2007; Whetten 2006, zit.n. Vogel/Hansen 2010, S. 11 Elsbach 1999, zit.n. Vogel/Hansen 2010, S. 12 Pratt 1998, zit.n. Vogel/Hansen 2010, S. 12

270

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

der Ganzheitlichkeit, dient die Identifikation auch dem Selbstwert und trägt zur Sinnfindung (Sensemaking1089) bei.1090 „Eine starke und attraktive Identität fördert die Identifikation mit der Organisation, wovon diese wiederum (z.B. durch pro-soziales Verhalten, geringere Fluktuation, häufigere Weiterempfehlung) profitiert (Elsbach, 1999).“1091 Die Identifikation besteht aus mehreren Komponenten, die wie folgt zu unterscheiden sind: erstens die ,kognitive Dimension‘, die Selbstkategorisierung, d.h. die Wahrnehmung und Feststellung der Person zu einer Mitgliedschaft zu einer sozialen Kategorie, und zweitens die ,evaluative Dimension‘, in welcher die Gruppenmitgliedschaft durch eine kognitive Einschätzung und eine affektive Bewertung ,affektive Dimension‘ evaluiert wird, d.h., welche Attribute der Gruppe von außen zugeschrieben werden. Die ,konativen Aspekte‘ beschreiben, wie aktiv das Verhalten die Werte und Ziele der Gruppe unterstützt.1092 „In der wissenschaftlichen Literatur wird das organisationale Commitment seit mehreren Jahrzehnten erforscht. Commitment oder organisationales Commitment ist dabei mit Mitarbeiterbindung gleichzusetzen.“1093 Sämtlichen Definitionen zum organisatorischen Commitment gemein ist das Verständnis als eine Verbindung des Individuums zum Unternehmen.1094 Die DGFP (2004) definiert Commitment als „Einstellung des Mitarbeiters zum Unternehmen, die sich im Bleiben, Leisten und Loyalität zeigt.“1095 Meyer/Allen (1991) verstehen Commitment als einen psychologischen Zustand, der die Gefühle und Meinungen des Mitarbeiters gegenüber dem Unternehmen sowie den Wunsch, im Unternehmen zu verbleiben, ausdrückt.1096 O’Reilly/ Chatman (1986) ergänzen, dass mittels Commitment die Ausprägung ausgedrückt werden kann, mit der der Mitarbeiter die Charakteristika der Organisation übernimmt und internalisiert.1097 1089 Anmerkung: Sensemaking (engl.) bzw. Sinnstiftung beschreibt den Prozess, mit dem Menschen den über die Sinne ungegliedert aufgenommenen Erlebnisstrom in sinnvolle Einheiten einordnen. Je nach Einordnung der Erfahrung kann sich ein unterschiedlicher Sinn und damit eine andere Erklärung für die aufgenommenen Erlebnisse ergeben. Sensemaking ist in der Identität begründet. Wie kann ich wissen, wer ich bin, bis ich sehe, was ich tue? (Weick 1995, S. 2) 1090 Vgl. van Dick 2004, S. 11 f. 1091 Elsbach 1999, zit.n. Vogel/Hansen 2010, S. 12 1092 Vgl. van Dick 2004, S. 15 f. 1093 DGFP 2004, S. 19, zit.n. Felfe 2008, S. 25 1094 Vgl. Mathieu/Zajac 1990, S. 171 1095 Deutsche Gesellschaft für Personalführung 2004, S. 14 1096 Vgl. Meyer/Allen 1991, S. 62 1097 Vgl. O´Reilly/Chatman 1986, S. 493

4.4 Die Konstrukte der Unternehmens- und der organisationalen Identität

271

Ähnlich lautet eine der einflussreichsten Definitionen von Mowday/Steers/ Porter aus dem Jahr 1982, bei der unter Commitment zu verstehen ist: „The relative strength of identification and involvement of a person in a particular organization. Conceptually, it can be characterized by at least three factors: a.

strong belief in and acceptance of the organization`s goals and values

b.

a willingness to exert considerable effort on behalf of the organization; and

c.

a strong desire to maintain membership in the Organization“.1098

Nach Stachel (2008) bezeichnet Commitment „das Ausmaß, in dem sich eine Person mit einer Organisation identifiziert.“1099 Grundsätzlich erfasst das Commitment-Konzept also die Identifikation mit und das Engagement für eine Organisation, genau wie die Verpflichtung, die ein Mitarbeiter dem Unternehmen gegenüber empfindet. Das Konzept beinhaltet dabei sowohl kognitive als auch emotionale Dimensionen, bei denen die Befriedigung individueller Bedürfnisse der Person eine Rolle spielt.1100 „Die Organisationskultur und kollektive Identität ,lagern‘ sich ,ab‘ im Habitus von Beschäftigten. Starkes Commitment kann sich im Sinne symbolischen Kapitals positiv auf andere vorteilsrelevante Konfigurationen von Mitarbeitern auswirken.“1101 Das beschriebene Gefühl der Verbundenheit und Verpflichtung gegenüber dem Unternehmen stellt eine wichtige Voraussetzung für die individuelle Leistungsbereitschaft und insbesondere für die Bereitschaft, dem Unternehmen treu zu bleiben, dar.1102 In der Forschung zum organisationalen Commitment wird zwischen verschiedenen Grundmodellen unterschieden. Sie sehen Commitment entweder als eindimensionales oder als multidimensionales Konstrukt. Außerdem unterschei-

1098 Anmerkung: Übersetzung: „Die relative Stärke der Identifizierung und Beteiligung einer Person an einer bestimmten Organisation. Konzeptionell kann es durch mindestens drei Faktoren charakterisiert werden: a) starkes Vertrauen in die Ziele und Werte der Organisation; b) die Bereitschaft, beträchtliche Anstrengungen für die Organisation zu unternehmen; und c) ein starkes Bestreben, die Mitgliedschaft in der Organisation aufrechtzuerhalten.“ (Mowday/Porter/Steers 1982, S. 27) 1099 Stachel 2008, S. 168 1100 Vgl. Felfe 2008, S. 60 1101 Matys 2005, S. 15 1102 Vgl. Felfe 2008, S. 60

272

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

den sie zwischen verschiedenen Bezugsgrößen. Fokusse des Commitment bestehen gegenüber dem Unternehmen, den Arbeitsaufgaben, den Kollegen und den Vorgesetzten.1103 Ein mulitdimensionales Modell, das in der Forschung die größte Zustimmung gefunden hat, ist das Drei-Komponenten-Modell nach Meyer und Allen. Es gliedert Commitment in die drei Aspekte normatives Commiment (normative commitment), kalkulative Verbundenheit (continuance commitment) sowie emotionale Verbundenheit (affektives commitment).1104 Eine normative Bindung ist das Commitment aufgrund von Normen und moralischen Verpflichtungen. Es kann z.B. allein aufgrund des Arbeitsvertrags vorliegen.1105 Diese Form der Bindung entsteht, wenn Normen aufgrund von betrieblichen oder außerbetrieblichen Sozialisationsprozessen verinnerlicht und das Handeln von ethischen Wertvorstellungen und moralischen Verpflichtungen bestimmt wird. Dabei können die Einflüsse bereits vor dem Eintritt in das Unternehmen beispielsweise durch familiären oder kulturellen Druck wirken, aber auch durch gezielte Leistungen des Unternehmens zu Beginn des Arbeitsverhältnisses. Diesem Bewusstsein der persönlichen Verpflichtung gegenüber der eigenen Aufgabe, den Arbeitskollegen, einem ganzen Team oder dem Unternehmen und der daraus resultierenden Treue zum Unternehmen setzen sich die Mitarbeiter selbst aus.1106 Voraussetzung der normativen Bindung ist das Vorhandensein langfristig geltender Normen und Werte im Unternehmen.1107 Kalkulatives Commitment entsteht durch das Abwägen der Anreize, die man aufgrund der Beschäftigung im Unternehmen erhält, im Verhältnis zu den Beiträgen, die man selbst zu leisten verpflichtet ist. Es handelt sich also um eine Kosten-Nutzen-Analyse zur Bewertung der Verluste, die mit dem Austritt aus dem Unternehmen einhergehen würden. In dieser Analyse werden vor allem die persönlich getätigten Investitionen in das Unternehmen einbezogen, die individuell empfundene Arbeitsmarktmobilität sowie die Abhängigkeit von der Gehaltszahlung.1108 Außerdem spielen mit dem Unternehmen verbundene Nebenbedingungen, wie z.B. eine betriebliche Altersvorsorge eine bedeutende Rolle. Wurden über einen längeren Zeitraum Investitionen getätigt, können Verluste 1103 1104 1105 1106 1107 1108

Vgl. Meyer/Herscovitch 2001, S. 299 f. Vgl. Felfe 2008, S. 164 ff. Vgl. Kolb/Burkart/Zundel 2008, S. 138 Vgl. Felfe 2008, S. 35 Vgl. Gmür/Klimecki, 2001, S. 30 Vgl. Kolb/Burkart/Zundel 2008, S. 138

4.4 Die Konstrukte der Unternehmens- und der organisationalen Identität

273

(sogenannte sunk costs) entstehen, wenn ein Mitarbeiter das Unternehmen verlässt. Dementsprechend basiert die Bindung an das Unternehmen auf wirtschaftlichen Faktoren.1109 Gleiches gilt für den persönlichen Status, den sich ein Mitarbeiter während seiner Betriebszugehörigkeit geschaffen haben mag und der bei einem Ausscheiden zunächst entfällt.1110 Das affektive bzw. emotionale Commitment beschreibt eine Zuneigung sowie emotionale Verbundenheit, die aufgrund der Begeisterung des Mitarbeiters für die Organisation entsteht.1111 Affektiv gebundene Mitarbeiter verbleiben demnach im Unternehmen, weil sie es wirklich möchten. Folglich hat affektives Commitment einen starken Einfluss auf die Bleibemotivation des Mitarbeiters und wird wiederum von zahlreichen Faktoren beeinflusst.1112 Affektives Commitment bezieht sich auf die emotionale Bindung an eine, die Identifikation mit einer und das Involvement in eine Organisation.1113 Mitarbeiter mit starkem affektiven Commitment bleiben im Unternehmen, weil sie es möchten. Sie engagieren sich für das Unternehmen und reden in der Öffentlichkeit und in ihrem privaten und beruflichen Kontext positiv über das Unternehmen, da sie eine hohe Zufriedenheit verspüren und sich mit der Organisation identifizieren. Sie und die Organisation verschmelzen. „Die organisationspsychologische Forschung hat gezeigt, dass Commitment, d.h. die Bindung von Individuen an ihre Organisation, eine wichtige Determinante zur Aufklärung von verschiedenen Variablen wie Zufriedenheit der Mitarbeiter, Fehlzeiten oder Fluktuation, sowie Arbeitseffektivität darstellt.“1114 Ein vergleichsweise junges und bisher weniger erforschtes Phänomen ist die organisationale Identifikation. Das Konzept hat sich aus der sozialen Identitätstheorie entwickelt1115 und stellt damit eine besondere Form der sozialen Identifikation dar.1116 Die Inhalte der organisationalen Identifikation weisen große Ähnlichkeit zu dem Konzept des organisationalen Commitment auf, aufgrund von Überschneidungen werden die Begriffe häufig auch synonym verwendet1117 bzw. es wird 1109 1110 1111 1112 1113 1114 1115 1116 1117

Vgl. Mathieu/Zajac 1990, S. 172 Vgl. Gmür/Klimecki 2001, S. 30 Vgl. Gmür/Klimecki 2001, S. 30 Vgl. Becker 2010, S. 239 Vgl. Allen/Meyer 1990, S. 1 van Dick/Wagner/Gautam 2002, S. 147 Felfe 2008, S. 54 Vgl. Ashforth/Meal 1989, S. 22 Vgl. Riketta 2005, S. 358 ff.

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4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

zur Definition eines Begriffs der jeweils andere Begriff herangezogen.1118 In der Forschung besteht demnach keine vollständige Einigkeit darüber, ob die organisationale Identifikation ein eigenständiges Konstrukt darstellt oder einen Teil des organisationalen Commitment bildet.1119 Meal/Tetrick (1992) führen aus, Organizational Commitment „is conceptually distinct from the related concept of organizational commitment“1120 und Riketta (2005) definiert „Organizational Identification is empirically distinct from its closest conceptual neighbor, attitudinal organizational commitment.“1121 Vertreter des eigenständigen Identitätskonzepts sind unter anderen Ashforth/Meal: „The reformulated conception of identification as perceived oneness with a group, […], offers a fresh perspective on a number of critical organization issues.“1122

Hall/Schneider/Nygren (1970) beziehen die Einheit vornehmlich auf Ziele, indem sie in der organisationalen Identifikation einen Prozess sehen, welcher die zunehmende Kongruenz von individuellen und organisationalen Zielen beschreibt „Organizational Identification ist the prozess by wich the goals of the organization and those of the individual become increasingly integrated or congruent.“1123 Nach der Definition von Ashforth/Meal ist unter organisationaler Identifikation, die Wahrnehmung einer Einheit mit oder Zugehörigkeit zu einer Gruppe zu verstehen.1124 Patchen (1970) versteht organisationale Identifikation etwas umfassender als ein „variety of separate, though related phenomena […] (1) feelings of soli-

1118 Vgl. van Dick 2004, S. 2 1119 Vgl. Riketta 2005, S. 358 ff. 1120 Anmerkung: Übersetzung: „Unterscheidet sich konzeptionell vom verwandten Konzept des organisatorischen Engagements.“ (Meal/Tetrick 1992, S. 813) 1121 Anmerkung: Übersetzung: „Organisational Identification unterscheidet sich empirisch von seinem nächsten konzeptionellen Nachbarn, dem einstellungsbezogenen organisatorischen Engagement.“ (Riketta 2005, S. 358) 1122 Anmerkung: Übersetzung: „Das neu formulierte Konzept der Identifikation als wahrgenommene Einheit mit einer Gruppe […] bietet eine neue Perspektive auf eine Reihe kritischer organisatorischer Fragen.“ (Ashforth /Meal 1989, S. 35) 1123 Hall/Schneider/Nygren, 1970, S. 176 f. 1124 Anmerkung:”Identificational ist the perception of oneness with or belongingness to a group“ (Ashforth/Meal 1989, S. 34)

4.4 Die Konstrukte der Unternehmens- und der organisationalen Identität

275

darity with the organization; (2) (attitudinal and behavioral) support fort the organization; and (3) perception of shared characteristics with other organizational members.“1125 Von Commitment gar nicht abgedeckt ist das Empfinden einer Einheit mit der Organisation, welches wesentlicher Bestandteil des Identifikationsansatzes ist.1126 Das Wissen einer Person über die Zugehörigkeit zu einer Organisation korreliert mit Gefühlen wie Stolz und Freude.1127 Im Gegensatz zum Commitment-Ansatz, der Commitment als individuelle Einstellung der Person gegenüber dem Unternehmen versteht, nimmt die organisationale Identifikation eine Gruppenperspektive ein. Sie sieht Organisationen als soziale Gruppen an, in denen Interaktion, aber auch Konkurrenz und Kooperation stattfinden. Organisationale Identität entsteht durch die Zugehörigkeit zu derartigen Gruppen, durch wahrgenommene Ähnlichkeiten und die gemeinsamen Überzeugungen mit der Gruppe und ihren Mitgliedern.1128 Diese Einstellung gegenüber der Gruppe kann sich relativ schnell verändern, ist also eher kurzfristig, während Commitment ein konstanteres Konstrukt darstellt.1129 Ihre Ansichten bezüglich der Organisation werden gemäß Pratt (1998) zu einer Selbstdefinition („an individual`s beliefs about his or her organization become self-referential or self-defining“)1130 und nehmen damit Einfluss auf die Identität von Organisationsmitgliedern, auf ihr Selbstkonzept und ihren Selbstwert.1131 Diese Einstellung korreliert mit positiven Verhaltensweisen der Mitarbeiter, beispielsweise das Unternehmen positiv nach außen zu vertreten. Außerdem verinnerlichen sie die Werte und Ziele des Unternehmens und verfolgen somit ehrgeizig die Zielerreichung.1132 Kroebel-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein (2009) unterscheiden „drei verschiedene Commitment-Niveaus voneinander […]:

1125 Anmerkung: Übersetzung: „Vielfalt von getrennten, wenn auch verwandten Phänomenen… (1) Solidaritätsgefühl mit der Organisation; (2) (Einstellung und Verhalten) Unterstützung der Organisation; und (3) Wahrnehmung gemeinsamer Merkmale mit anderen Organisationsmitgliedern.“ (Patchen 1970, S. 155) 1126 Vgl. Christ/van Dick/Wagner/Stellmacher 2003, S. 331 1127 Vgl. van Dick 2004, S. 2 1128 Vgl. Felfe 2008, S. 53 1129 van Dick 2004, S. 5 1130 Pratt 1998, S. 172 1131 Vgl. Tajfel 1978, S. 63 1132 Vgl. van Dick 2004, S. 14

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4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Compliance: Einverständnis mit einer Marke […]. Hierbei handelt es sich um die niedrigste Stufe des Commitments. Die Einstellung ist eher oberflächlich und wurde i.d.R. nach dem Low-Involvement-Einstellungsprinzip gebildet. Entfallen die Belohnungen aus der Sozialen Umwelt des Konsumenten, ist dieser auch gerne bereit, eine andere Alternative zu wählen. Identifikation: Ein Identifikationsprozess kann einsetzen, wenn ein Konsument eine Präferenz für eine bestimmte Marke entwickelt, um damit den Normen seiner Bezugsgruppe gerecht zu werden. Internalisierung: Höchste Stufe des Commitments. Diese ,tief sitzenden‘ Einstellungen sind verinnerlicht und gehören zum Wertesystem eines Individuums. Diese Einstellungen sind nur schwer zu ändern, da die Konsumenten davon kognitiv überzeugt sind und eine tiefe emotionale Veränderung stattgefunden hat.“1133 Das Erreichen von organisationaler Identifikation oder gar die Internalisierung des Wertesystems hat für Unternehmen also Leistungsauswirkungen, Marketingauswirkungen und sie induziert darüber hinaus eine Bindungswirkung der Mitarbeiter an das Unternehmen. Daher ist die Identifikation von Mitarbeitern mit dem Unternehmen eine wesentliche Zielgröße des Retention Managements und der Markenbildung.1134 4.4.5 Diskrepanzen, Kompatibilität und die Passung der Identitäten Wie im Kapitel 4.2.2 beschrieben, wird die Identität als ein „selbstreflexiver Prozess eines Individuums verstanden, in welchem eine Person Identität über sich herstellt, indem sie ihr Wissen, ihre Erfahrungen über sich selbst verarbeitet und sich selbst, ihr Selbst bzw. Aspekte davon aus der Innenperspektive identifiziert“.1135 „Es handelt sich also nicht um ein starres Konstrukt, sondern um einen Prozess, welcher ständig von Änderungen und Entwicklungen bestimmt wird. Identitätsentwicklung ist geprägt von einer kontinuierlichen Wechselwirkung zwischen der vorhandenen Identität eines Individuums und neuer Realitätserfahrung.“1136 Dabei geht es um die „Personale (berufliche) Identität, die dann gegeben ist, wenn eine Person über klare Vorstellungen hinsichtlich der eigenen beruflichen Ziele, Interessen und Fähigkeiten verfügt. Und die Umweltidentität 1133 1134 1135 1136

Kroeber-Riel/Weinberg/Gröppel-Klein 2009, S. 227 Vgl. van Dick 2004, S. 2 Frey/Haußer 1987, S. 4 Haußer 1995, S. 62

4.4 Die Konstrukte der Unternehmens- und der organisationalen Identität

277

liegt vor, wenn eine Umwelt bzw. Organisation durch klare und über einen längeren Zeitraum stabile Ziele und Aufgaben bestimmt wird. Das Konzept der Identität weist enge Bezüge zu jenem der Konsistenz und Differenziertheit auf.“1137 Innerhalb dieses sozialen, interaktiven reflexiven Prozesses geht es um eine möglichst große Passung zwischen der personalen, beruflichen und organisationalen Identität, damit Mitarbeiter sich mit der Organisation identifizieren können und durch die Form des affektiven emotionalen Commitment eine Markenbotschafterfunktion zu ermöglichen. „Die Modalitäten und Perspektiven, in denen Identität inter-, und intrapersonal ausgehandelt werden, haben deshalb für eine Person immer sowohl einen deskriptiv-evaluativen als auch einen normativen Aspekt. Es geht um „die Diskrepanzen und Kompatibilitäten von mindestens vier Repräsentationsformen des Selbst, wie sie schon Fend (1994) in Anschluss an Marcia (1980) untersucht hat: ,ideal self‘: wie ich (beruflich) sein möchte, was ich (beruflich) können möchte; ,real self‘: was ich (beruflich) bin, was ich (beruflich) kann; ,presented self‘: was ihr (beruflich) von mir denken sollt, hinsichtlich meiner Person; meinem (beruflichen) Können; ,appearing self‘: wie ihr (beruflich) von mir denkt.“1138 Wenn diese notwendige Passung nicht gelingt, sind Identitätsambiguitäten in Organisationen häufig die Folge und zu beobachten. Hierauf machen schon Corley/ Gioia (2004) aufmerksam. Das Krankenhaus ist eine Organisation, in der verschiedene Gruppen mit ihrer eigenen kulturellen beruflichen Sozialisation nebeneinander existieren. Dieses Nebeneinander der kulturellen Elemente bietet Konfliktpotenzial und bereitet eine kulturelle Desorientierung. Eine integrierte Kultur für eine Organisation wird durch folgende Gründe schwierig: „mangelnde Stabilität der Mitgliedschaft, unzureichender gemeinsamer Erfahrungshintergrund oder die Existenz zu vieler Untergruppen mit verschiedenen eigenen Erfahrungen.“1139 Vor allem aber in Situationen mangelnder Kommunikation, 1137 Bergmann, Ch. 2004, S. 358 1138 Vgl. Fend 1991, 1994, 2008, zit.n. Heinzer/Reichenbach/Maiello 2013, S. 38 f. 1139 Schein 1995, S. 23

278

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Übergangsphasen strategischer Neuausrichtung oder machtindizierter Konflikte, divergierender Ziele, mangelnden Führungshandelns oder intransparenter überholter Organisationsstrukturen können die Identitäten undurchsichtig sein, „und somit die Organisationsmitglieder im Zweifel darüber lassen, wer sie als Organisation eigentlich sind.“1140 Auch „wenn es zwar klare, jedoch voneinander divergierende multiple organisationale Identitäten gibt, können diese untereinander nur begrenzt verträglich sein und Identitätskonflikte können die Folge sein.“1141 Es sind vor allem die nicht mehr nachvollziehbaren und nicht identifikationsbaren Änderungen der Anerkennungsmuster (Werte, Normen usw.), die eine Infragestellung der eigenen Identität und somit Identitätskrisen auslösen können. Vor allem, wenn sie plötzlich und in starkem Gegensatz zum Selbstbild auftreten. Dies bestätigen „Untersuchungen […] über die Bedrohung von Identität durch […] die Infragestellung beruflicher oder professioneller Identitäten, z.B. durch Einführung betriebswirtschaftlicher Managementmethoden in öffentlichen Organisationen (z.B. Hutter 1992; Henkel 2000; von Engelhardt el al. 2001; Doolin 2002).“1142 Die Identitätskrise hat zur Folge, dass die bisherigen, subjektiv empfundenen identitätsstiftenden Erfahrungen nicht mehr einen positiven Selbstbezug gewährleisten.1143 „Dieser positive Selbstbezug […] kann auch nicht aufgebaut werden, wenn neue soziale Anerkennungs- und entsprechende Identitätsmuster zwanghaft übernommen werden. Hier ist die Notwendigkeit der Wechselseitigkeit im Anerkennungsprozess nicht gegeben, d.h. der Einzelne kann keine befriedigende Anerkennung erfahren, wenn er die anerkennende Instanz bzw. die neuen Inhalte der Anerkennung aufgrund seiner bisherigen identitätsstiftenden Erfahrungen selbst nicht anerkennt. Handlungsfähigkeit ist in dieser Situation zwar gegeben, es ist jedoch fraglich, wie lange der Einzelne einen solchen Konflikt ertragen kann.“1144 Eine zentrale Aussage in einer Diskrepanz-Modell-Studie von Heinzer/Reichenbach/Maicello (2013) ist, dass „die Einschätzung der eigenen Kompetenz, das berufliche Wollen sowie die erlebten beruflichen Anforderungen (Sollen) be-

1140 1141 1142 1143 1144

Corley/Gioia 2004, zit.n. Vogel/Hansen 2010, S.7 Vgl. Corley 2004 und Pratt/Foreman 2000, zit.n. Vogel/Hansen 2010, S. 7 Faßauer 2008, S. 59 Vgl. Frey/Haußer 1987, S. 13 Frey/Haußer 1987, S. 13

4.4 Die Konstrukte der Unternehmens- und der organisationalen Identität

279

deutsam für die Identifikation mit dem Beruf und das Selbstwirksamkeitsempfinden sowie den Selbstwert sind.“1145 Das Erleben der Diskrepanzen basiert dabei auf den Grundannahmen aus folgenden Korrelationsbereichen: Identifikation mit dem Beruf in Funktion der Interaktion zwischen beruflichen Anforderungen (Sollen) und persönlichen beruflichen Zielen (Wollen) (vgl. Holland 1997). Kompetenz bzw. berufliche Selbstwirksamkeit in Funktion der Interaktion zwischen beruflichen Anforderungen (Sollen), beruflichen Zielen (Wollen) und dem eigenen Können (vgl.dazu Schwarzer&Schmitz 1999). Beruflicher Selbstwert in Funktion des Zusammenhangs zwischen selbstdefiniertem Wollen (Autonomieerleben) und dem eigenen Können (vgl. Scheller&Heil 1979; Scheller&Filipp 1996).1146 Allerdings ist das Ausmaß des Diskrepanz-Erlebens – für das erwartete Veränderungspotenzial – von Bedeutung, so können geringere (quasi ,positive‘) von größeren (quasi ,negativen‘) Diskrepanzen unterschieden werden.1147 „Während die größeren erlebten ,negativen‘ Diskrepanzen stärkere Identitätskrisen auslösen und eine Identifikation mit der Organisation verhindern (inkl. der Folgen der Ablehnung und Distanzierung), können die geringer erlebten ,positiven‘ Diskrepanzen stimulierend wirken. Diskrepanzen können z.B. auch zwischen Image und Kultur, ebenso im Kompetenz-, Autonomieerleben und dem soziales Zugehörigkeitsgefühl auftreten. Da sie zentrale Variablen der Identifikation mit den beruflichen Tätigkeiten und der Arbeitsmotivation (Gagné/Deci 2005) sind, haben diese Diskrepanzen einen negativen Einfluss auf die Identität.“1148 „Beim Kompetenzerleben geht es um die Erfahrungen der Wirksamkeit bzw. der Über- oder Unterforderung, beim Autonomieerleben um die beruflichen Selbstbestimmungsmöglichkeiten bzw. den Grad der Internalisierung extrinsischer Motivationen und bei der sozialen Zugehörigkeit (,relatedness‘) letztlich um Erfahrungen der Anerkennung und des Sinns der eigenen beruflichen Tätigkeiten.“1149

1145 1146 1147 1148 1149

Heinzer/Reichenbach/Maiello 2013, S. 131 Heinzer/Reichenbach/Maiello 2013, S. 131 Vgl. Heinzer/Reichenbach/Maiello 2013, S. 131 Heinzer/Reichenbach/Maiello 2013, S. 38 Heinzer/Reichenbach/Maiello 2013, S. 38

280

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

„Geringere Diskrepanzen zwischen Sein und Sollen, zwischen Kompetenz und Anforderungen und zwischen selbstdefinierten und fremddefinierten Zielen führen […] zu einer motivationale Aktivierung, was für die Identitätsentwicklung förderlich oder stimulierend sein kann, während ausbalancierte Zustände zwischen diesen Dimensionen u.U. weniger oder kaum förderlich für die Entwicklung der beruflichen Identität sein mögen.“1150 Für Krappmann (1969) haben die dazugehörigen Fähigkeiten der Distanzierung und der Dezentrierung des Denkens identitätsfördernde Bedeutung. Die Verbindung mit der ,erarbeiteten Berufsidentität‘ von Marcia (1980) ist hierbei erkennbar.1151 Dieses Diskrepanz-Erleben ist demnach ein Ergebnis des ,selbstreflexiven‘ Prozesses der eigenen Motivation (Wollen), der eigenen Kompetenz (Können) und der beruflichen Anforderungen (Sollen). Einerseits ergibt sich das berufliche Sollen z.B. aus externen Norm- oder Regelsystemen, beruflichen Standards, Berufsklassifikationen, sozialen Erwartungen, Berufsethos, Berufsbedingungen, Organisationszielen und beruflichen Aufträgen, Rahmenbedingungen usw. Andererseits ist es das „Ergebnis einer Selbstbestimmung und ergibt sich aus dem personalen Wertesystem (wie ,ich‘ meinen Beruf sehe und/oder ausüben möchte, welche Motive und Bedürfnisse ich in der beruflichen Tätigkeit befriedigen möchte […].“1152 Diese zwei Perspektiven können allein ein Diskrepanz-Erleben in sich tragen.1153 „Darauf aufbauend fassten Frey/Haußer die Bestimmungsmerkmale von Identität als situative Erfahrung, als übersituative Verarbeitung sowie als motivationale Quelle in einem Prozessmodell zusammen. Bevor situative Erfahrungen durchlaufen werden, das Individuum sich also mit jenen intensiv beschäftigt und dadurch die eigene Identität aufbaut, werden diese durch subjektive Bedeutsamkeit und Betroffenheit gefiltert – erst dann werden diese Erfahrungen identitätsrelevant.“1154 „Subjektive Bedeutsamkeit ist nichts anderes als die wahrgenommene Wichtigkeit, die ein Gegenstand für einen Menschen hat […] und ein kognitives Ordnungsinstrument des Subjekts, das die

1150 1151 1152 1153 1154

Heinzer/Reichenbach/Maiello 2013, S. 131 Vgl. Heinzer/Reichenbach/Maiello 2013, S. 43 f. Vgl. Heinzer/Reichenbach/Maiello 2013, S. 40 Heinzer/Reichenbach/Maiello 2013, S. 40 Bergmann, D. 2016, S. 9

4.4 Die Konstrukte der Unternehmens- und der organisationalen Identität

281

Identitätsrelevanz von Erfahrungen einerseits und Motivationen andererseits bestimmt […]. Das emotionale Pendant liegt in der Betroffenheit.“1155 „Während die situative Erfahrung in diesem Zusammenhang durch die Variablen Selbstwahrnehmung, Selbstbewertung sowie personale Kontrolle bestimmt ist, zeichnet sich deren übersituative Verarbeitung durch die Kriterien des Selbstkonzepts, des Selbstwertgefühls sowie der Kontrollüberzeugung aus. Erst wenn die situativen Erfahrungen unter dem Einfluss von Fremdwahrnehmungen und -bewertungen generalisiert und spezifiziert werden, erfolgt deren übersituative Verarbeitung, also eine aktive und bewusste Auseinandersetzung, bei der es zu eigenen Überzeugungen, Emotionen und Werthaltungen kommt.“1156 „In diesem Zusammenhang ist es vor allem in Bezug auf krisenhafte Erfahrung bedeutsam, dass die Verarbeitung eine subjektive Leistung darstellt. Die gemachten Erfahrungen haben Auswirkungen auf das indirekt-übersituative Verhalten, welches Identität zudem als motivationale Quelle bestimmt und durch Merkmale wie innere Verpflichtung, Selbstanspruch in Bedürfnissen und Interessen, Kontrollmotivation, Selbstwertherstellung und Realitätsprüfung geprägt ist.“1157 Identität lässt sich durch – positiv erfahrene Kohärenz und Kontinuität – entwickeln, wenn Diskrepanzen und somit instabile Zustände vorwiegend in der Ausbildung und den Berufseinstiegsphasen erlebt werden. Mitarbeiter (in beruflichen späteren Phasen) mit bereits ,erarbeiteten‘ beruflichen Identitäten erleben starke Diskrepanzen negativ und demotivierend und distanzierend. Daher ist es das Ziel, „extern gegebene Norm- und Regelsysteme und das personale Wertsystem in eine Balance oder gar in Übereinstimmung zu bringen und sie darin zu halten, scheint uns für jeden Beruf bzw. jede berufliche Tätigkeit und nicht nur für die typischen Professionen (z.B. Mediziner) von elementarer Bedeutung zu sein und zu einem großen Teil gerade das auszumachen, was Berufsidentität bzw. Identifikation mit dem Beruf genannt wird.“1158 Bergmann/Eder (1995) merken dazu an: „Je besser die personalen Merkmale und die beruflichen Anforderungen bzw. Realisierungsmöglichkeiten übereinstimmen, desto wahrscheinlicher ist eine erfolgreiche berufliche Anpassung (beruflicher Erfolg und Zufriedenheit).“1159

1155 1156 1157 1158 1159

Haußer 1995, S. 8 ff.; zit.n. Bergmann, D. 2016, S. 9 Frey/Haußer 1987, S. 55 ff.; zit.n. Bergmann, D. 2016, S. 9 Bergmann, D. 2016, S. 9 Heinzer/Reichenbach/Maiello 2013, S. 41 Bergmann, Ch. 2004, S. 350

282

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Zudem ist die Ausprägung des ,Commitments‘ bedeutsam, welches gemäß Marcia die innere Verpflichtung des gültigen Identitätsentwurfs betrachtet. Daher ist es bedeutend und sinnvoll, den ,subjektiven Sinn des Berufs‘ zu entwickeln, zu schützen und zu forcieren.1160 4.4.6 Herauszustellende Befunde des Teilkapitels Die Unternehmensidentität richtet sich nach außen und richtet sich in ihrer Perspektive auf die Kunden (Fokussierung auf Marketing, erlebbares Design und Erscheinungsbild). Unternehmensidentität ist ein tieferes kollektives Selbstverständnis/Selbstbild, bestehend einerseits aus einer personalen Identitätskomponente mit einer unverwechselbaren Unternehmensgeschichte, sowie andererseits einer sozialen Identität als Ausdruck und Antwort der verinnerlichten Erwartung und Ansprüche der Öffentlichkeit. Auch die Unternehmensidentität entwickelt sich im Rahmen eines reflexiven Prozesses und in der Wechselwirkung und sozialen Interaktion mit der Öffentlichkeit. Die Unternehmensidentität besteht aus der historisch gefärbten Eigenidentität und der Adaption des aktuellen gesellschaftlichen Wert- und Kulturrahmens und hat somit eine eigene unverwechselbare Antwort auf die gesellschaftlichen Identitätsnormen. Der Unternehmens-Identitätsbildungsprozess ist ein vorlaufender, nie endender und offener Prozess, in dem die Kontinuität und Konsistenz zentrale Eckpfeiler sind. Die organisationale Identität richtet sich nach innen auf die Organisationsmitglieder (Fokussierung auf verhaltenswissenschaftliche Aspekte). Die organisationale Identität sind die Charakteristika der Organisation, die beantwortet, wie sich die Organisationsmitglieder definieren und sind somit Ergebnis umfassender Wahrnehmungs- und Kognitionsprozesse. Die organisationale Identität hat einen Wesenskern und mögliche einzigartige charakteristische Eigenschaften und ist ebenso veränderbar und gilt als ein dynamisches Phänomen.

1160 Vgl. Unger 2008, S. 47

4.4 Die Konstrukte der Unternehmens- und der organisationalen Identität

283

Organisationale Identität ist ein relationales Konstrukt, das sich in der Interaktion mit anderen formt (die Dissonanz zwischen Image und Identität löst die Wandlungsfähigkeit aus). Organisationale Identität wird im Zusammenhang mit Image, Identität und Kultur begriffen. Diskrepanzen der organisationalen Identität ergeben sich aus einer Unausgewogenheit zwischen Image und Kultur. Die Unternehmens-, Organisationskultur ist die gelebte Unternehmenswirklichkeit und Grundgesamtheit aus spezifischen, in einer Organisation gemeinsamen, geltenden und geteilten Denk- und Verhaltensmustern, Werten und Normen, die das Verhalten, die Handlungen und Aktivitäten der Organisationsmitglieder prägen. Unternehmenskultur bestehen aus drei Ebenen, die von den ohne Weiteres sichtbaren, spürbaren und offenkundigen Erscheinungsformen reichen bis hin zu den tief verwurzelten, unbewussten Grundprämissen, die als Essenz der Kultur bezeichnet werden. Dazwischen trifft man auf diverse bekundete Werte, Normen und Verhaltensregeln, welche die Mitglieder als Mittel zur Darstellung ihrer Kultur für sich selbst und gegenüber anderen verwenden. Die Organisationskultur ist in habitualisierten Mustern erkennbar und grundlegende Basis für die organisationale Identität und die Unternehmensidentität; - sie sind Sinn- und Ordnungssysteme und sind durch die ,unbewusste Ebenen‘ und das gespeicherte kollektive Gedächtnis/Wissen kurzfristig nicht und langfristig nur schwer veränderbar. Mitarbeiter können einen organisationalen Habitus entwickeln, der als emergenter Effekt der Praktiken von Organisationsmitgliedern zu verstehen ist. Dieser umfasst das Bündel aller formellen und informellen Organisationsstrukturen, -kulturen, -identitäten und -traditionen institutionalisierter Dispositionen, welche die Praxis einer in einem sozialen Feld als Akteur involvierten Organisation prägen. Eine Identitätsbildung erfolgt durch gemeinsam geteilte kulturelle Werte, Normen und Narration. Es gibt in Organisationen verschiedene Arten der Unternehmenskultur. Identifikation mit Organisationen und organisationales Commitment als Elemente der beruflichen Identität.

284

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Identifikation wird als Vemittlungsmodus zwischen individueller und organisationaler Identität thematisiert. Grundsätzlich erfasst das Commitment-Konzept die Identifikation mit und das Engagement für eine Organisation, genau wie die Verpflichtung, die ein Mitarbeiter dem Unternehmen gegenüber empfindet. Das Konzept beinhaltet dabei sowohl kognitive als auch emotionale Dimension, bei denen die Befriedigung individueller Bedürfnisse der Person eine Rolle spielt. Für eine Markenbotschafterfunktion benötigt es das affektive bzw. emotionale Commitment. Das Erreichen von organisationaler Identifikation oder gar die Internalisierung des Wertesystems hat für Unternehmen also Leistungsauswirkungen, Marketingauswirkungen und sie induziert darüber hinaus eine Bindungswirkung der Mitarbeiter an das Unternehmen. Diskrepanzen-Erleben ist abhängig von der Einschätzung der eigenen Kompetenz, das berufliche Wollen sowie die erlebten beruflichen Anforderungen (Sollen) sind bedeutsam für die Identifikation mit dem Beruf und das Selbstwirksamkeitsempfinden sowie den Selbstwert. Das Ausmaß des Diskrepanz-Erlebens und die innere Bewertung dieser sind für die Folgen der Identitätsentwicklung sehr wichtig; da sie darüber entscheiden, ob sie stimulierend für die Entwicklung der Identität oder ob sie entzweiend und distanzierend wirken. Kompatibilitäten werden durch die Übereinstimmung von Können, Sollen und Wollen geschaffen. 4.5 Resümee des Kapitels Will man das Konstrukt ,Identität‘ verstehen, ist eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Identitätstheorien notwendig. Nur durch die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Ansätze, Perspektiven und beeinflussenden Aspekte der Identität lässt sich das Konstrukt in der Gesamtheit und der Komplexität erfassen. Es ist deutlich geworden, dass die Identität als Konstruktion des Selbst ein anthropologisches Strukturphänomen zu verstehen ist, welches eine multidisziplinäre Erklärbarkeit erfordert. Die Identität ist kein starres Konstrukt, sondern ein

4.5 Resümee des Kapitels

285

lebenslanger dynamischer und selbstreflexiver Prozess, inneren Selbstverständnisses bzw. das Selbstbild, welches nach außen kommuniziert und wechselseitig verhandelt wird. So wird das ,Ich‘ zum ,ICH‘. Diese Wechselwirkung zwischen dem Individuum und der Umwelt/der Organisation wird durch die Interaktion ermöglicht. Identität besteht aus mehreren Identitätsbereichen, die zusammen die Stabilität der Identität ausmachen. So besteht die (Gesamt-)Identität eines Menschen aus mehreren Teilidentitäten, d.h., die berufliche Identität ist eine Teilidentität der personalen Identität und der sozialen Identität. Wird ein Mitarbeiter durch Rahmenbedingungen im Arbeitsfeld in seiner Identität gestört oder bekommt sie z.B. durch Strukturen einer Deprofessionalisierung aberkannt, wird er es als massive Identitätsbedrohung erleben, die ihn in seiner Gesamtidentität sozusagen ins Mark trifft. Eine gelungene Identität besteht aus eine ,ausbalancierten‘ Form der Identität und ist ein Gesundheitsmerkmal des Wohlbefindens (Stabilisierung des Selbstwertgefühls; Erleben einer subjektiven Autonomie) und ist ein menschliches Grundbedürfnis. Eine Identitätskrise wird ausgelöst, wenn ein affektiv bedeutsames Selbstbild keine soziale Relevanz vorfindet. Sozialisationsprozesse führen durch differenzierte Lern-, Interaktions- und Reflexionsprozesse zur beruflichen Identitätsentwicklung. Berufliche Sozialisation als selbstreferenzielle Reproduktion des Systems wird als Aneignungs- und Veränderungsprozess von Kenntnissen, Fähigkeiten, Motiven, Werten, Normen, Verhaltensweisen, Orientierungs- und Deutungsmustern verstanden, dabei geht es um ein Aushandeln, Reflektieren der Gemeinsamkeiten zwischen Individuum und Organisation. Das Erleben von Kompetenz, Autonomie und sozialer Zugehörigkeit im Beruf hat einen zentralen Stellenwert für die berufliche Identität und die Identifikation mit den beruflichen Tätigkeiten. Die Identitätsentwicklung benötigt Werte und Sinnwelten als zentrale Orientierungs- und Bezugspunkte. Daher sind Kompetenz und die betriebliche Kompetenzentwicklung, sinnstiftende Erfahrungen, Auseinandersetzung mit Werten und Normen, Aspekte der Motivationsförderung, Lebensbedürfnisse und Vorstellungen über Lebenskonzepte in der Entwicklung der beruflichen Identität von großer Bedeutung. Kontinuität und Konsistenz begünstigen dabei die Identitätsentwicklung. So wird Identität als sozialer wechselseitiger reflexiver Prozess (mit sozialen Beziehungen und wahrnehmbaren Begegnungen) verstanden, der aus einem komplexen Gefüge von antizipierten Erwartungen, verinnerlichter Rollenerwartung und Rollenübernahmen beeinflusst wird.

286

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Eine beruflich ,erarbeitete Identität‘ mit einer eindeutige Festlegung auf den Beruf mit einer eigenen Wertepositionen führt im Idealfall zum Commitment mit einer Organisation, wenn der Organisationsrahmen (Rahmen komplexer Sinnstrukturen) und die Arbeitsumwelt eine größtmögliche Übereinstimmung (also eine Passung) bietet. Die Passung kann zwischen der personalen, beruflichen Identität der Mitarbeiter und der organisationalen Identität nie 100%ig möglich sein, da dies einem Verlust an Individualisierung bedeuten würde. Die Gemeinsamkeit zwischen der personalen, beruflichen Identität der Mitarbeiter und der organisationalen Identität sind die gemeinsam geteilten Werte, Normen und Sinnwelten (als Orientierungs- und Bezugspunkte), die in der Organisationskultur zu tragen kommen. Entscheidend ist die Passung bzw. der Umgang der Differenzen des berufsgebundenen Wert- und Motivsystems der Person mit den externalen Anforderungen des Berufs und/oder der Arbeitssituation. Die berufliche Identität und Identifikationsmöglichkeiten sind (auch) in Abhängigkeit der allgemeinen Lebenskonzepte und Zielvorstellungen der Person zu sehen. Dabei sind die konkreten Möglichkeiten der Passung von subjektiven Zielen (Bedürfnissen, Motiven) und äußeren Gegebenheiten (Anforderungen, Wahlfreiheiten) von Bedeutung. Mitarbeiter können sich mit der Organisation identifizieren und ein Commitment entwickeln, wenn sie sich in der Organisation wiedererkennen können. Ihr Selbstbild muss mit dem Bild der Organisation passen und sie müssen ihre berufliche Rolle spielen können, denn Rollenkonflikte sind auch Identitätskonflikte. Dazu braucht es Rahmenbedingungen, in denen sie die Rolle ausleben und erleben können. Dann kann Identität als motivationale Quelle wirken. Auch ist die Erlebniswelt für die Entwicklung der Identität sehr wichtig. Das ,Erlebte‘, was sich durch reflexive Prozesse in einer Lebensgeschichte einordnen lässt, ist prägend für das Selbstbild. Daher ist die Narration bei der Identitätsentwicklung bedeutsam.

4.5 Resümee des Kapitels

287

Abbildung 35: Schnittmengen der unterschiedlichen Identitätsformen. (Quelle: eigene Darstellung)

Berufliche Identität

Ich-Identität

Organisationale Identität

Der Habitus ist ein Teil der Identität – er ist eine Grundhaltung des Menschen zur Welt und zu sich selbst. Habitus ist das Ergebnis eines lebenslangen Sozialisations- und Lern- und Interaktionsprozesses, in welchem sich der Mensch die Welt aktiv aneignet und die sozialen Regeln und das für ihn relevante gesellschaftliche Wissen inkorporiert, also als eine Form der Verinnerlichung der Denk- und Sichtweisen, Wahrnehmungsschemata und Prinzipen des Urteilens sowie Bewertens einer Gesellschaft. Identität und Habitus sind Denk- und Verhaltensdispositionen, die Ausdruck von sozialen Verhältnissen, Situationen und Beziehungen sind. Im Habitus spiegelt sich das ,Individuum als gewordene Gestalt von Gesellschaft‘ wider, er ist ein Zusammenspiel bereits im Voraus assimilierter Grundmuster, ein System verinnerlichter Muster (Inkorporationen). Der soziale Raum, die Felder und verschiedenen Kapitalsorten haben nach Bourdieu auf die Identität und die Entwicklung des Habitus einen elementaren Einfluss. Zum Erwerb eines spezifischen Habitus sind verschiedene Lernmechanismen, Rahmen, Interaktionen, systemische Eigenwerte, motivationale, volitionale und emotionale Elemente sowie strukturierte Strukturen und sozialisatorische Institutionen (wie Rituale) besonders bedeutsam. Habitusformationen und die Deutungsmuster unterscheiden sich nur in der Tiefe, d.h., die Deutungsmuster lassen sich bewusst machen und sind leichter veränderbar.

288

4 Identität und Habitus – soziale Prozesse

Die Unternehmens-/Organisationskultur ist die gelebte Unternehmenswirklichkeit und Grundgesamtheit aus spezifischen, in einer Organisation gemeinsamen, geltenden und geteilten Denk- und Verhaltensmustern, Werten und Normen, welche das Verhalten, die Handlungen und Aktivitäten der Organisationsmitglieder prägen. Dabei besteht die Unternehmenskultur aus drei Ebenen, die von den ohne Weiteres sichtbaren, spürbaren und offenkundigen Erscheinungsformen reichen bis hin zu den tief verwurzelten, unbewussten Grundprämissen, die als Essenz der Kultur bezeichnet werden. Dazwischen trifft man auf diverse bekundete Werte, Normen und Verhaltensregeln, welche die Mitglieder als Mittel zur Darstellung ihrer Kultur für sich selbst und gegenüber anderen verwenden. Die Organisationskultur ist in habitualisierten Mustern erkennbar und grundlegende Basis für die organisationale Identität und die Unternehmensidentität; sie gilt als Sinn- und Ordnungssystem und ist durch die ,unbewussten Ebenen‘ und das gespeicherte kollektive Gedächtnis/Wissen kurzfristig nicht und langfristig nur schwer veränderbar. Während die Unternehmensidentität sich nach außen und ihre Perspektive auf die Kunden ausrichtet (Fokussierung auf Marketing, erlebbares Design und Erscheinungsbild), fokussiert die organisationale Identität ihre Perspektive nach innen auf die Organisationsmitglieder (Fokussierung auf verhaltenswissenschaftliche Aspekte) – dies sind zwei Seiten von einer Medaille. Die eine Seite ist die Unternehmensidentität, die als ein tieferes kollektives Selbstverständnis/Selbstbild mit einer personalen Identitätskomponente und mit einer unverwechselbaren Unternehmensgeschichte verstanden wird. Wie die personale und berufliche Identität entwickelt sich auch die Unternehmensidentität einerseits im Rahmen eines reflexiven Prozesses und in der Wechselwirkung und sozialen Interaktion mit der Öffentlichkeit. Andererseits ist auch der Prozess der Unternehmensidentitätsentwicklung ein vorlaufender, nie endender und offener Prozess, in dem die Kontinuität und Konsistenz zentrale Eckpfeiler sind. Die zweite Seite der Medaille ist die organisationale Identität – die als Charakteristikum der Organisation zu begreifen ist und beantwortet, wie sich die Organisationsmitglieder definierten. Somit ist sie Ergebnis umfassender Wahrnehmungs- und Kognitionsprozesse. Die organisationale Identität hat einen Wesenskern und mögliche einzigartige charakteristische Eigenschaften und ist ebenso veränderbar und gilt als ein dynamisches Phänomen.

4.5 Resümee des Kapitels

289

Die organisationale Identität wird im Zusammenhang mit Image, Identität und Kultur begriffen und ist ein relationales Konstrukt, welches sich in der Interaktion mit anderen formt (die Dissonanz zwischen Image und Identität löst die Wandlungsfähigkeit aus). Diskrepanzen der organisationalen Identität ergeben sich aus einer Unausgewogenheit zwischen Image und Kultur. Zu den Elementen der beruflichen Identität gehören die Identifikation (als Vermittlermodus zwischen individueller und organisationaler Identität) mit der Organisation und das organisationale Commitment. Dabei besteht das Commitment-Konzept aus der Identifikation mit, dem Engagement für eine Organisation und aus der Verpflichtung, die ein Mitarbeiter dem Unternehmen gegenüber empfindet. Das Konzept beinhaltet dabei sowohl kognitive als auch emotionale Dimensionen, bei denen die Befriedigung individueller Bedürfnisse der Person eine Rolle spielt. Das Erleben von Diskrepanzen ist von der Einschätzung der eigenen Kompetenz, dem beruflichen Wollen sowie den erlebten beruflichen Anforderungen (Sollen) abhängig und bedeutsam für die Identifikation mit dem Beruf und dem Selbstwirksamkeitsempfinden sowie dem Selbstwert. Das Ausmaß des Diskrepanz-Erlebens und die innere Bewertung dieser sind für die Folgen der Identitätsentwicklung sehr wichtig; da sie darüber entscheiden, ob sie stimulierend für die Entwicklung der Identität oder ob sie entzweiend und distanzierend wirken. Die Identitätsirritationen und erlebten Diskrepanzen durch außen können identitätsbedrohend wirken. Je nach der Stärke und Größe der erlebten Diskrepanzen wirken sie entweder als Stimulation oder als Schädigung. Neben der Autonomie, Kompetenz und Zugehörigkeit sind maßgeblich auch die persönlichen und beruflichen Werte und Normen des Berufsstands notwendige Faktoren für eine gute Entwicklung der beruflichen Identität und Identifikation. Rahmenbedingungen eines Betriebs, die diese Faktoren den Mitarbeitern nicht ermöglichen, werden Probleme haben, dass sich die Mitarbeiter mit der Organisation identifizieren und ein Commitment entwickeln können. Das Ziel ist es somit, extern gegebene Norm- und Regelsysteme und das personale Wertsystem in eine Balance oder gar in Übereinstimmung zu bringen. Es braucht eine möglichst große Passung zwischen der personalen, beruflichen und organisationalen Identität, damit Mitarbeiter sich identifizieren können und durch die Form des affektiven emotionalen Commitment eine Markenbotschafterfunktion zu ermöglichen.

5 Das Krankenhauswesen und die Suche nach dem organisationalen Identitätskern

Um als Organisation eine Unternehmensmarke aufbauen zu können, ist es wichtig den eignen Identitätskern zu suchen, zu definieren und sich gegebenenfalls rückzubesinnen. Dies kann einerseits mithilfe der Identitätsmodelle geschehen. Insbesondere eignen sich hier z.B. das ,Prisma-Modell von Kapferer‘, das ,Modell der Identitätskreise von Aaker‘ oder das von ,Esch modifizierte Modell des Markensteuerrads von icon brand navigation‘ (siehe Kapitel 3.5.2.). Ziel dieses Kapitels ist es, bei der Suche nach dem ,kodierten Identitätskern‘ eines Krankenhauses die organisationstheoretische Perspektive und die Perspektive des professionellen Expertentums zu betrachten. In der thematischen Bearbeitung stehen die folgenden Fragen im Fokus: Welchen organisationstheoretischen Hintergrund haben Krankenhäuser? – Wo sind sie zuzuordnen? – Was bedeutet das für die innere Struktur? – Gibt es Veränderungen bzw. Alternativen und welche Auswirkungen haben die? Gibt es einen ,codierten‘ Identitätskern für Krankenhäuser. Welche Bedeutung hat das professionelle Expertentum und Könnerschaft für die Krankenhäuser? – Sind diese noch geschützt? Kann man ein Krankenhaus ohne diese professionelle Expertentum und Könnerschaft denken? – Was und wie hat dies mit der Identität zu tun? Welche Grundproblematik steckt hinter der komplexen Struktur und der Vielfalt in der Mitarbeiterstruktur? Was verbirgt sich in der Organisation des Krankenhauses hinter dem Dilemmata der Ungleichheit in der

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 B. K. Schottler, Internal Branding im Krankenhaus, Vallendarer Schriften der Pflegewissenschaft 6, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31072-1_5

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5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

Reproduktion der sozialen Wirklichkeit? – Was macht die Suche nach dem Identitätskern so komplex? – Wo liegen die Herausforderungen, Gefahren aber auch die Möglichkeiten? Kann man einen ,kodierten‘ Identitätskern für Krankenhäuser identifizieren? Gibt es organisationsspezifische identifikationsfördernde und identifikationshemmende Faktoren? Der Aufbau dieses Kapitels ähnelt einer Raute. Auf der Suche nach dem Identitätskern beginnt die inhaltliche Bearbeitung mit der organisationstheoretischen Zuordnung. Im weiteren Verlauf ist durch die verschiedenen Perspektiven der Professionalität, des Expertentums und der Könnerschaft die thematische Bearbeitung breiter werdend angelegt, wobei die Auseinandersetzung mit dem professionellen Expertentum die breiteste Struktur ausweist. Danach verschlankt sich die Thematik wieder, indem das Dilemma der Ungleichheit charakterisiert wird, um im Resümee in einer Modell-Entwicklung zu den zentralen Elementen des ,kodierten Identitätskerns‘ eines Krankenhauses zu münden. Abbildung 36: Aufbau Kapitel 5. (Quelle: eigene Darstellung)

5.

Kapitel: Das Krankenhauswesen und die Suche nach dem organisationalen Identitätskern Teilkapitel: 5.1 Das Krankenhaus und seine klassische organisationale Zuordnung 5.2 Professionalität, Expertentum und Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung 5.3 Das Dilemma der Ungleichheit in der Reproduktion der sozialen Wirklichkeit

Dazu befasst sich das erste Teilkapitel mit der klassischen organisationstheoretischen Zuordnung. Der Prototyp der ,Professional Bureaucracies‘ wird charakterisiert und auf das Krankenhaus übertragen. Die ,professionelle Organisation‘ wird organisationssoziologisch in die ,vorherrschende kollegiale Organisation‘ eingeordnet und mit dem Ebenenmodell von Parson ergänzt und auf das Krankenhaus übertragen.

5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

293

Im Weiteren werden die identitäts- und identifikationshemmende Auswirkung der Strukturveränderung des klassischen Organisationstyps Krankenhaus, die Schwierigkeiten und problematische Folgen aufgezeigt. Das zweite Teilkapitel befasst sich mit dem Thema Professionalität, Expertentum und Könnerschaft, die identitäts- und identifikationssensible Wirkungen haben. Neben der Begriffsklärung und Einblicken in verschiedene professionstheoretische Ansätze, die Verdeutlichung der konstitutiven Professionsmerkmale und Charakteristika, werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Professionen, Experten und Semiprofessionen als Vertreter der Professionalität thematisiert. Im Weiteren stehen die Bedeutung der inneren Professionalisierung als ein Prozess zur beruflichen Identität und des professionellen Habitus, sowie die Entstehung und Bedeutung des inneren Kompass im Fokus. Begründet wird die Aussage, dass die Professionalität im Handeln Ausdruck der Verantwortung ist, sich durch professionelles Wissen und Könnerschaft zeigt und somit wichtige Grundelemente des Identitätskerns sind. Anschließend wird die Professionalität und Könnerschaft im Zusammenhang mit einer selbstverständliche Kernerwartung der Kunden und Bewerber aufgezeigt. Das dritte Teilkapitel befasst sich mit der Problematik, dass die Ungleichheit in der Reproduktion der sozialen Wirklichkeit identitäts- und identifikationshemmende Faktoren mit sich bringt. Zunächst geht es um die Pluralität der strukturell verankerten Ziele, Funktionen, Orientierungen und Sinnwelten. Auch Rollen-Status-Konflikte führen zur Ungleichheit und wirken als identifikationshemmende Faktoren. Ein weiterer identifikationshemmender Faktor sind die berufskulturellen Differenzen im institutionellen sozialen Feld, welche in den Hintergründen thematisiert werden. Weitere Faktoren werden miteinander in Verbindung gesetzt, die Einfluss auf die Identitätsentwicklung und den Identifizierungsprozess nehmen. Es sind einerseits die Phänomene und Positionen der Macht, Herrschaft und andererseits die Kollegialität. Auch die Deprofessionalisierung und Dequalifizierung als Antwort auf das Spardiktat im Gesundheitswesen haben prekäre Auswirkungen und blockieren die Identifikation und Identitätsentwicklung.

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5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

5.1 Das Krankenhaus und seine klassische organisationale Zuordnung 5.1.1 Das Krankenhaus als organisationstheoretischer Prototyp der ,Professional Bureaucracies‘ Kliniken bzw. Krankenhäuser1161 gelten nach den organisationstheoretischen Ausführungen von Mintzberg (1991) zu den Prototypen einer „professional bureaucracy“.1162 In seinem Konzept der Organisationsformen1163 bezeichnet Henry Mintzberg synonym1164 die „Professionelle Organisation bzw. Expertenorganisation“ auch als „Profibürokratie“.1165 Organisationstheoretisch lassen sich nach Mintzberg in jeder Organisation grundsätzlich fünf Bestandteile identifizieren, die als interne Einflussgruppen für die Leistungserstellung unmittelbar oder mittelbar Verantwortung tragen.1166 Auch die Struktur der Krankenhäuser lässt sich anhand dieser organisationssystemischen Analyse von Mintzberg passend darstellen. An der Spitze (Strategic Apex) steht die Unternehmensleitung, der die Strategieformulierung und umsetzung obliegt. Unterstützt wird sie dabei vom mittleren Linien-Management (Middle Line), der zweiten Einflussgruppe. Diese stellt mit ihren Führungskräften (typischerweise sind es Bereichsleitungen, Pflegedienstleitungen und Chefärzte) die Verbindung zwischen der strategischen Spitze und dem betrieblichen Kern dar, im Sinne einer planenden und koordinierenden kommunikativen Verbindung. Den betrieblichen Kern (Operating Core) bilden nach Mintzberg (1979)

1161 Anmerkung: Definition der Krankenhäuser nach dem Krankenhausgesetz: „Im Sinne dieses Gesetzes sind 1. Krankenhäuser Einrichtungen, in denen durch ärztliche und pflegerische Hilfeleistung Krankheiten, Leiden oder Körperschäden festgestellt, geheilt oder gelindert werden sollen oder Geburtshilfe geleistet wird und in denen die zu versorgenden Personen untergebracht und verpflegt werden können, 1a. mit den Krankenhäusern notwendigerweise verbundene Ausbildungsstätten staatlich anerkannte Einrichtungen an Krankenhäusern zur Ausbildung für die Berufe.“ (KHG § 2 Abs.1) 1162 Grossmann 1997, S. 41 1163 Anmerkung: Mintzberg (1991) unterscheidet in seinem Konzept der fünf Organisationsformen zwischen der Maschinen Organisation, der unternehmerischen Organisation, der professionellen Organisation, der zweckgebundenen Organisation, sowie der diversifizierten Organisation. (Mintzberg 1991, S. 120 ff.) 1164 Anmerkung: Die Begriffe ,Expertenorganisation‘ und ,Profibürokratie‘ sowie ,Experte‘ und ,Professional‘ werden von Mintzberg in diesem Zusammenhang synonym verwendet und nicht differenziert. Für Mintzberg geht es um wissensintensive Berufe, die im betrieblichen Kern arbeiten. 1165 Mintzberg 1992, S. 255 1166 Mintzberg 1992, S. 15

5.1 Das Krankenhaus und seine klassische organisationale Zuordnung

295

Abbildung 37: The Internal Influencers – fünf grundsätzliche OrganisationsBestandteile. (Quelle: Mintzberg 1983; 116; Mintzberg, 1992, S. 28) „Diese fünf Bestandteile lassen sich wie folgt näher beschreiben: 





die strategische Spitze: diese ist verantwortlich, dass die Organisation ihre Aufgaben effektiv erfüllt die Mittellinie: diese stellt mit ihren Führungskräften die Verbindung zwischen der strategischen Spitze und dem betrieblichen Kern dar den betrieblichen Kern: dieser umfasst jene Mitarbeiter, deren Arbeit direkt mit der Fertigung von Produkten und der Bereitstellung von Dienstleistungen verbunden ist



die Technostruktur: ihre Mitarbeiter sind mit der Standardisierung von Abläufen in der Organisation beauftragt



den Hilfsstab: diese Einheiten unterstützen die Organisation außerhalb des betrieblichen Arbeitsablaufes.“ (Mintzberg, 1992, S. 15)

die Stationen, der Operationssaal, der Behandlungsraum, die Krankenzimmer, also dort wo der Patient die medizinischen und pflegerischen Kernleistungen erhält. Es ist der betriebliche Kern, in dem die eigentliche (Dienst-)Leistungserstellung (Wertschöpfung) der Organisation erfolgt. Klassisch besteht diese im Krankenhaus als Expertenorganisation aus Akademikern und spezialisierten (examinierten) Mitarbeitern. Zwei weitere, etwas neben dieser unmittelbaren Hierarchie stehende Gruppen sind einerseits die Analysten (Techno structure), die das organisationseigene Planungs- und Kontrollsystem (z.B. Buchhaltung, Controlling, Personalabteilung) betreiben und mit der Standardisierung von Abläufen in der Organisation beauftragt sind. Andererseits die Support-Mitarbeiter (Support Staff), die mit unterschiedlichen Kompetenzen den reibungslosen Ablauf der Organisation (z. B. Haustechnik, Kantine, Raumpflege) gewährleisten.

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5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

Die strukturelle Integration erfolgt in Krankenhäusern über lose Kopplungen.1167,1168 „Die Profibürokratie ist sowohl in vertikaler als auch in horizontaler Richtung eine stark dezentralisierte Struktur.“1169 Die Profibürokratie ist jedoch „gekennzeichnet durch ihren Schwerpunkt auf den betrieblichen Kern sowie einer relativ schwach entwickelten Technostruktur. Da für die Arbeit der ExpertInnen kaum Koordination, Planung und Formalisierung notwendig ist, ist im Normalfall auch die Mittellinie nur schwach ausgeprägt. Zumeist gibt es einen gut ausgebauten Hilfsstab, der in erster Linie die ExpertInnen unterstützen soll.“1170 Abbildung 38: Das Modell der Profibürokratie. (Quelle: Mintzberg 1992, S. 263)

„Alle […] Gestaltungsparameter – insbesondere die Ausbildung der Mitarbeiter im betrieblichen Kern, ihre vertikale erweiterte Aufgaben und der geringe Einsatz von Verhaltensformalisierung sowie Planungs- und Kontrollsystemen – lassen darauf schließen, dass der betriebliche Kern der wichtigste Organisationsteil der Profibürokratie ist.“1171

1167 Anmerkung: „Lose Kopplung ist eine Organisationsform, bei der nicht - wie in der klassischen Organisations-Vorstellungen idealtypischerweise unterstellt - alle Teilbereiche eng miteinander verzahnt zusammenwirken und aufeinander abgestimmt sind. Lose gekoppelte Organisationen sind vielmehr ein Geflecht relativ autonomer Subeinheiten, die nur gelegentlich miteinander in Verbindung treten. Aus der losen Koppelung resultieren oft entsprechende Probleme für die Steuerung und Identität der Gesamtorganisation.“ (Laske/ Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 157) 1168 Vgl. Laske/Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 105 1169 Mintzberg 1992, S. 263 1170 Mintzberg 1992, S. 262 1171 Mintzberg 1992, S. 262

5.1 Das Krankenhaus und seine klassische organisationale Zuordnung

297

„Insbesondere setzt die Profibürokratie zur Erreichung von Koordination1172 die Standardisierung von Qualifikationen und den damit verbundenen Gestaltungsparametern der Ausbildung und Indoktrination ein. Sie beschäftigt für die Ausführung der Arbeiten im betrieblichen Kern professionelle Mitarbeiter mit entsprechender Ausbildung und Indoktrination und gesteht ihnen dann ein erhebliches Maß an Kontrolle über die eigene Arbeit zu.“1173 „Die faktische Gestaltungsmacht, wie die Dienstleistung konkret erbracht wird, ist in Expertenorganisationen weitestgehend im betrieblichen Kern lokalisiert, also bei den Experten selbst. Dieser Kern bleibt durch Führungskräfte schwer zu kontrollieren, was mit den komplexen Aufgaben zusammenhängt, die in den Kernen wahrgenommen werden. Gleichzeitig ist die dort angebotene Dienstleistung genau das, was von den Kunden nachgefragt wird. Das bringt die Experten in eine gewisse autonome Situation.“1174 „Expertenorganisationen als ,professional bureaucracies‘ folgen zwar generell einer bürokratischen Grundorientierung […], deren Entscheidungsprozesse allerdings durch die ,professionals‘, die Experten gestaltet, bzw. erheblich beeinflusst werden. Unter diesen Organisationstypus fallen alle Unternehmen mit einer spezifischen Wissensbasis, die für die betrieblichen Kernprozesse von konstituierender Bedeutung ist.“1175

1172 Anmerkung: „Die notwendige Koordination zwischen den Experten erfolgt nach Mintzberg (1979) prinzipiell durch: die Standardisierung der Ausbildung und professionelle ,Indoktrination‘. Professionelle Indoktrination meint hier die Vermittlung professioneller Werte, Normen und Standards im Rahmen der von den späteren Experten zu durchlaufenden Ausbildungen. Als gutes Beispiel dazu mag hier etwa die Organisation einer ,Visite‘ in einer Universitätsklinik dienen. die Standardisierung und Kategorisierung jener Aufgaben, die den Mitarbeitern zugewiesen werden, in Stellenplänen, Funktions- und Stellenbeschreibungen und -bewertungen, sowie durch Standardverfahren für bestimmte zu koordinierende Situationen, wie etwa die Belegung der Betten auf einer Station und die Belegung der Operationssäle in einem Krankenhaus, die Zimmeraufteilung unter dem Pflegepersonal.“ (Mintzberg 1979, S. 349) 1173 Mintzberg 1992, S. 256 1174 Mintzberg 1979, S. 349 1175 Laske/Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 104

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5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

Wie der Name ,Expertenorganisation‘ schon andeutet, „steht im Zentrum dieses Organisationstyps der Experte mit seinem Wissen.“1176 Dabei hat der Experte seinen hohen Spezialisierungsgrad durch einen hohen zeitlichen und finanziellen Qualifizierungsprozess erreicht.1177 „Professional Bureaucracies zeichnen sich dadurch aus, dass Autorität in der Organisation von den Professionellen ausgeht, ,the power of expertice‘, nennt das Mintzberg.“1178 Der Experte ist das Kapital der Organisation, da er der wichtigste Produktionsfaktor ist, weil das professionelle Wissen sich in seinem Kopf und das professionelle Handeln in seiner Hand befindet.1179 Dabei sind „die Leistungsfähigkeit (und Leistungsbereitschaft) des Experten von zentraler Bedeutung in den jeweiligen organisationsspezifischen Dienstleistungsprozessen.“1180 „Ein wesentliches Charakteristikum von Expertenorganisationen ist […] die professionelle (Selbst-)kontrolle (Autonomie). Da die Arbeit der Experten hoch spezialisiert, komplex und vielgestaltig ist, kann sie in der Regel nur durch ebenfalls spezialisierte Personen und durch die Abnehmer der Leistung gemessen und bewertet werden.“1181 „Die ,professionelle Bürokratie‘ bezieht sich nicht exklusiv auf personenbezogene Dienstleistungen, sondern generell auf wissensintensive Berufe.“1182 In der klassischen organisationssoziologischen Charakterisierung des Krankenhauses wird hierbei dennoch traditionell der Professionellen-Status des Arztes fokussiert.1183 Der Experte hat „durch seine hohe individuelle Autonomie eine relativ starke Stellung in der Organisation1184 inne. Diese Autonomie wird als Voraussetzung für die Ausübung der Expertentätigkeit gesehen und sie ist notwendig,

1176 1177 1178 1179 1180 1181 1182 1183 1184

Laske/Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 106 Vgl. Laske/Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 106 Grossmann 1997, S. 41 Vgl. Grossmann 1997, S. 25 Laske/Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 106 Laske/Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 109 Iseringhausen/Staender 2012, S. 187 Iseringhausen/Staender 2012, S. 185 Anmerkung: „Um die Besonderheit von Organisationen in der modernen Gesellschaft zu verdeutlichen nutzt Luhmann folgende Merkmale der Organisation: Mitgliedschaft, Zweck und Hierarchien.“ (Luhmann 1995, S. 16 ff., Luhmann 1997, S. 826 ff. zit.n. Kühl 2010, S. 7) „Wenn eine Organisation über Zwecke nicht selbst entscheiden kann, sondern diese von außen verordnet bekommt, dann hat sie nur begrenzte Möglichkeiten, eine eigene Identität zu pflegen. Sie wird dann nur als Handlanger einer anderen mächtigeren Organisation wahrgenommen und

5.1 Das Krankenhaus und seine klassische organisationale Zuordnung

299

damit die Expertenorganisation ihren […] Leistungsauftrag überhaupt erfüllen kann.“1185 „Kontrolle über die eigene Arbeit bedeutet, dass der professionelle Mitarbeiter relativ unabhängig von seinen Kollegen, aber in engem Kontakt zu den von ihm betreuten Klienten arbeitet.“1186 „Entscheidend für die Funktionslogik der professionellen Organisation ist das Geschehen im ,betrieblichen Kern‘. Hier werden die professionellen Tätigkeiten verrichtet, die die Kernprozesse der Organisation bilden – im Krankenhaus also die Klienten nahen diagnostischen, therapeutischen und pflegerischen Arbeiten. Diese Leistungen sind die Domäne professioneller Akteure, denen damit eine Schlüsselrolle in der Organisation zukommt. Die kollegiale Koordination der Tätigkeiten beruht auf der professionell (selbst-)bestimmten Normierung von Aufgaben, Qualifikationen und Ausbildungsinhalten, während die Leistungserstellung selbst nur schwach standardisiert ist.“1187 „Ein weiteres wesentliches Charakteristikum von Expertenorganisationen ist die Trennung von dem Fachsystem der Profession und den anderen Sub-Systemen der Organisation (z.B. Support-Mitarbeiter, Analysten).“1188 Dies ist für den Ansatz der Prozessorganisation bedeutsam, die die Kernprozesse klarer von den Supportprozessen trennen und zuordnen und die Professionals wieder stärker in ihrer eigentlichen berufsfachlichen Funktion einsetzt. „Expertenorganisationen werden traditionellerweise von der Verwaltung ,zusammengehalten‘. Das administrative Personal ist in diesen Organisationen oftmals die einzige Gruppe, die ein Interesse an der Gestaltung der Gesamtorganisation hat. Von Experten allerdings werden Handlungen der Administration meist als Störung der eigenen Arbeit und als Einengung der persönlichen Freiheit empfunden.“1189 „Während auf der Fachebene häufig Impulse für Innovation und Fortschritt vorzufinden sind, gilt dies für die Praktiken auf der Organisationsebene, also für die Gestaltung der internen Abläufe eher nicht, […] dies hat mit der […] strukturellen konfliktären Beziehung zwischen Administration und Experten zu

1185 1186 1187 1188 1189

wird kaum verhindern können, dass der Eindruck entsteht, dass sie lediglich die Abteilung einer größeren Organisation ist.“ (Kühl, 2010, S. 11) Laske/Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 106 Mintzberg 1992, S. 257 Iseringhausen/Staender 2012, S. 187 Laske/Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 107 Laske/Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 109

300

5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

tun.“1190 „Die Organisation als ganze hingegen verhält sich in ihrer Struktur und Innovationsfähigkeit sehr träge.“1191 „Die Entscheidungsstruktur der professionellen Bürokratie reflektiert die auf Konsens zielenden Prozeduren des Kollegiums, so dass Partizipation und Konsultation einen hohen Stellenwert besitzen. Prinzipiell versuchen Professionelle dabei, administrative Entscheidungen, d.h. die das professionelle Handeln betreffende Arbeit der Hilfskräfte, zu beeinflussen und zu kontrollieren. Da Professionelle für ihre Arbeit in großen, komplexen Organisationen allerdings auf eine nicht geringe Anzahl unterstützenden Personals angewiesen sind, hat die professionelle Bürokratie eine ausgeprägte Verwaltungsstruktur. Weil die Professionellen in der Organisation zentrale Rollen einnehmen und somit die dominante Berufsgruppe sind, ist es der Verwaltung nicht möglich, organisatorische Strategien autonom zu entwickeln. Vielmehr muss sie zu diesem Zweck professionelle Führer gewinnen, die die Vorhaben und Initiativen der Administration unterstützen.“1192 Auch ist die Administration, im Gegensatz zu den Experten, in den Krankenhäusern kulturell sehr stark durch eine Verwaltungsorientierung geprägt. Ein weiteres, auch in Krankenhäusern bestehendes Merkmal von Expertenorganisationen ist das Vorhandensein verschiedener Spezialdisziplinen und Einheiten (Kernkompetenzbereiche).1193 „Die Kerneinheiten stehen zueinander und zur Gesamtorganisation in einer losen Kopplung. Die Gesamtorganisation stellt sich in Bezug auf die Verknüpfung der Subeinheiten als Netzwerk ziemlich autonomer Teilsysteme dar. Die verschiedenen Spezialdisziplinen und Einheiten verfügen über jeweils unterschiedliche Arbeitsformen und Kulturen“1194 und oft gibt es sogar innerhalb der Einheiten selbst schon große Unterschiede (z.B. zwischen sozial- und naturwissenschaftlichen Bereichen).1195 „Auf der Ebene der Gesamtorganisation wirkt das zusätzlich abgrenzend statt integrierend.“1196 Auch werden „im Krankenhaus ,Arbeitsprozesse in den Kerneinheiten zusätzlich durch die parallelen Hierarchien der Berufsgruppen Medizin und Pflege‘ sowie zwischen Verwaltung und Technik zerteilt. Zusätzlich weisen die Organisationen auch noch ein deutliches Hierarchiegefälle zwischen den Berufsgruppen 1190 1191 1192 1193 1194 1195 1196

Laske/Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 107 Grossmann 1997, S. 26 Klatetzki 2012, S. 175 Vgl. Grossmann 1997, S. 24 Grossmann 1997, S. 28 Vgl. Grossmann 1997, S. 24 Grossmann 1997, S. 28

5.1 Das Krankenhaus und seine klassische organisationale Zuordnung

301

auf, zwischen den ,eigentlichen‘ Experten und den anderen, […] also den Medizinern und den medizinischen Hilfsberufen.“1197 „Expertenorganisationen weisen ein charakteristisches Management- und Führungsdefizit auf. […] Zur meist fehlenden Ausbildung in Management, Organisation und Leistung kommt noch das Prinzip der Kollegialität gleichrangiger Experten. Das bislang praktizierte Management- und Leitungsverständnis erscheint allein schon durch die Größe von Expertenorganisationen, vor allem aber angesichts der verstärkten Außenanforderungen immer problematischer.“1198 Experten lehnen Hierarchien bzw. hierarchische Führung zugunsten eines kollegialen Führungsverständnisses eher ab. Experten, die vorübergehend Führungspositionen innehaben, beschreiben daher ihre Rolle auch sehr häufig als ,primus inter pares‘ (lateinisch ,Erster unter Gleichen‘) und nicht in klassischen Managementrollen.1199 „Die strategische Spitze und das mittlere Management haben in der professionellen Organisation signifikant weniger Einflussmöglichkeiten als in anderen Organisationstypen.“1200 „Die Reputation des einzelnen Experten ist zudem von großer Bedeutung für die Reputation der Gesamtorganisation. Gleichzeitig haben Expertenorganisationen aber oft Schwierigkeiten im Umgang mit Experten, die die Standards der eigenen Profession missachten oder wenig eigenes Engagement und Motivation in ihre Arbeit einbringen.“1201 Dennoch hat laut Mintzberg (1992) die Profibürokratie als Organisationsform für professionelle Mitarbeiter einige Vorteile. Zum einen können professionelle Mitarbeiter „in einer gemeinsamen Organisation bestimmte Ressourcen, einschließlich Hilfsdienste, gemeinsam in Anspruch nehmen. […] Durch den Zusammenschluss in Organisationen ist auch die Möglichkeit gegeben, dass die professionellen Mitarbeiter voneinander lernen und professionellen Nachwuchs heranziehen. Manche Vertreter der professionellen Berufe müssen sich auch einer Organisation anschließen, um Kunden oder Klienten zu bekommen. […] Ein weiterer Grund, warum sich professionelle Mitarbeiter zu Organisationen zusammenschließen, besteht darin, dass die Klienten häufig die Dienste von mehr als Einem […] in Anspruch nehmen müssen.“1202 1197 1198 1199 1200 1201 1202

Grossmann 1997, S. 29 Grossmann 1997, S. 29 Laske/Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 109 Iseringhausen/Staender 2012, S. 187 Grossmann 1997, S. 26 Mintzberg 1992, S. 265

302

5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

„Der professionelle Mitarbeiter findet somit einen optimalen Arbeitsplatz vor: Er ist einer Organisation angeschlossen, aber dennoch frei, seine Kunden oder Klienten in eigener Verantwortung zu betreuen, wobei er lediglich an die für seinen Beruf festgelegten Standards gebunden ist.“1203 Die „Profibürokratie ist eine ausgesprochen zeitgemäße Struktur – und dies aus gutem Grund, zumal sie weitgehend demokratisch strukturiert ist […] So gereicht es jedem Mitarbeiter zum Vorteil, seinen Arbeitsplatz zu ,professionalisieren‘ - die erforderlichen Qualifikationen zu verbessern, die Analytiker der Technostruktur von der Rationalisierung dieser Qualifikationen abzuhalten sowie Berufsverbände einzurichten, die industrieweite Standards zum Schutz der Qualifikationen aufstellen. Auf diese Weise erreicht der Mitarbeiter im betrieblichen Kern, was ihm in der Maschinenbürokratie versagt bleibt – die Kontrolle über seine Arbeit und über die diesbezüglichen Entscheidungen.“1204 Zusammenfassende Kennzeichen von ,professionellen Bürokratien‘ nach Mintzberg, sind dezentralisierte Entscheidungsstrukturen, plurale Berufsgruppeninteressen, lose gekoppelte Arbeitseinheiten, professionelle Autonomie bei der Fallbearbeitung und kollegiale Koordination.1205 Weitere Charakteristika der „Expertenorganisationen sind: hohe fachliche Qualifikation, Wissen als Produktionsmittel, Erstellung komplexer, nicht-trivialer Produkte bzw. Dienstleistungen, Identifikation mit der Profession, nicht mit der Organisation, Orientierung am professionellen Reputationssystem, geringes Interesse an Koordinationsaufgaben […]“.1206 Experten entscheiden über Dienstleistungen und deren Durchführung. Die Kerntätigkeit ist eine individuelle, personale Dienstleistung. Sie ist daher wenig aufteilbar, ebenso ist sie wenig automatisierbar und standardisierbar. Daher ist die Arbeitsteilung oft unscharf. Kontrolle erfolgt intern durch eine Selbstkontrolle und extern durch Berufsorganisationen und Gerichte. Auch Standards (Leitlinien usw.) werden extern festgelegt. Durch die dezentrale Organisation des Gesamtbetriebs ist eine zentrale Steuerungsmöglichkeit gering. Strategische Entscheidungen dauern lange, sind zögerlich oder finden oft nicht statt. Zentrale Strategien sind nur mit Zustimmung der dezentralen Leiter effektiv umsetzbar, da die Legitimationsbasis durch gesellschaftliche Werte und politische Entscheidung entsteht. 1203 1204 1205 1206

Mintzberg 1992, S. 276 Mintzberg 1992, S. 276 Mintzberg 1992, S. 255 Grossmann 1997, S. 24

5.1 Das Krankenhaus und seine klassische organisationale Zuordnung

303

Es werden hier die grundsätzlichen Probleme dieser Organisationsform deutlich, die auch Mintzberg (1992) betont: Profibürokratien haben Koordinationsprobleme, Entscheidungsprobleme, Innovationsprobleme, Strategieprobleme, Finanzierungs- und Controlling-Probleme. 5.1.2 Die ,professionelle Organisation‘ als ,vorherrschende kollegiale Organisation‘ Der Typus der professionellen Organisation wird in der Organisationssoziologie auch mit Max Weber und Talcott Parsons verbunden, die einerseits strukturfunktionalistisch und anderseits herrschaftstheoretisch die soziologische Diskussion der professionellen Organisation im Gesellschaftsverständnis prägten.1207 „Aufgrund der Macht der Mitarbeiter im betrieblichen Kern werden Profibürokratien zuweilen auch als ,kollegiale‘ Organisationen bezeichnet.“1208 Da das Handeln des einzelnen Professionellen durch die organisatorische Form des Kollegiums koordiniert und kontrolliert wird.1209 Professionelle „beziehen ihre Einflussmöglichkeiten vor allem aus ihrem Spezialwissen, ihrer Expertenmacht, die ihnen eine relativ starke Verhandlungsposition gegenüber der formalen Hierarchie gibt“.1210 „Die vorherrschend kollegiale Organisation1211: Zu dieser Kategorie gehören große und komplexe Organisationen (wie z.B. das klassische Krankenhaus), in denen das professionelle Handeln den operativen Kern bildet und die administrativen Belange der professionellen Arbeit untergeordnet sind. Scott (1992) bezeichnet diese Variante daher auch als autonome professionelle Organisation, Mintzberg (1983, 1989) spricht von einer professionellen Bürokratie.“1212 Die kollegiale Organisation skizziert Max Weber einerseits mit einer „mehrfachen Besetzung des gleichen Amtes nebeneinander, mit gegenseitigem Vetorecht; es handelt sich dann um technische Gewaltenteilung zum Zwecke der

1207 1208 1209 1210 1211

Vgl. Klatetzki 2012, S. 165 Mintzberg 1992, S. 266 Klatetzki 2012, S. 170 Laske/Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 155 Anmerkung: „Auf der Basis der idealtypischen Beschreibung des Kollegiums lassen sich drei Kategorien von Organisation (die ausschließlich kollegiale Organisation, die vorherrschend kollegiale Organisation und die intermediäre kollegiale Organisation) identifizieren (Waters 1989, 1993), die sich in dem Ausmaß und/oder der Art und Weise unterscheiden, wie sie kollegiale und bürokratische Strukturen kombinieren.“ (Klatetzki 2012, S. 175) 1212 Klatetzki 2012, S. 175 f.

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Minimisierung von Herrschaft“; und anderseits als die „kollegiale Willensbildung: legitimes Zustandekommen eines Befehls nur durch Zusammenwirken mehrerer entweder nach dem Einstimmigkeits- oder nach dem Mehrheitsprinzip.“1213 Der Soziologe Malcolm Waters (1989, 1993) bezeichnet eine „Organisationsform als kollegial, wenn eine Gruppe von Experten, die sich in unterschiedlichen Wissensbereichen spezialisiert haben, sich als Gleiche anerkennen und ihre bindenden Entscheidungen auf Konsens beruhen.“1214 Für Waters gibt es sechs Charakteristika, die eine solche Organisationsform kennzeichnen: theoretisches Wissen, professionelle Karriere, formale Gleichheit, formale Autonomie, selbststeuernde Überprüfung professioneller Leistungen und kollektives Entscheiden.1215 Das Kollegium ist „in den meisten Fällen nicht die einzige Organisationsform für Entscheidungen, vielmehr koexistiert es mit der Bürokratie. Dabei haben die Bürokratie und die kollegiale Organisation durchaus gemeinsame Merkmale: Beide Typen betonen die technische bzw. normative Kompetenz ihres Fachpersonals sowie die damit verbundene Rationalität der Zielerreichung. Und beide Organisationsformen sind durch Karrieren und Dauerstell(ung)en charakterisiert. Die wesentliche Differenz bildet die Autoritätsstruktur. Im Kollegium werden Gleichheit, Konsens und Autonomie gesichert und Entscheidungen sind moralisch bindende kollektive Produkte. Die Bürokratie realisiert Hierarchie, Regelkonformität und die Pflicht zur Rechenschaftslegung. Entscheidungen sind hier Angelegenheit der Vorgesetzten, die Untergebenen haben sich diesen Entscheidungen zu fügen. Diese Differenz der Autoritäten kann sich als professionell-bürokratischer Konflikt institutionalisieren (Gouldner 1957).“1216 „Neben der auf Amtsautorität beruhenden bürokratischen, hierarchischen Form gibt es eine auf der Autorität von Wissen basierende egalitäre Organisationsform der Professionellen.“ […] So ist „das Kollegium eine Assoziation von Gleichen, das im Gegensatz zur hierarchisch gestaffelten Bürokratie eine egalitäre Struktur aufweist“.1217 Parsons beschreibt dies wie folgt: „Instead of a rigid hierarchy of status and authority there tends to be what is roughly, in formal status, a ‚company of equals‘, an equalization of status which ignores the 1213 1214 1215 1216 1217

Weber 1972, S. 163, zit.n. vgl. Klatetzki 2012, S. 165 Waters (1989/1993), zit.n. Klatetzki 2012, S. 170 f. Vgl. Klatetzki 2012, S. 171 f. Klatetzki 2012, S. 177 Klatetzki 2012, S. 166

5.1 Das Krankenhaus und seine klassische organisationale Zuordnung

305

inevitable gradation of distinction and achievement to be found in any considerable group of technically competent persons.“1218

Der Einsatz von Professionellen und ihre besondere Form der nicht-hierarchischen, egalitären Assoziation in Bürokratien hat folglich drastische Auswirkungen auf die Strukturen dieser Organisationsform: „The involvement of high level professional personnel in most types of modern organization has been the occasion of major changes in the character of the organizations themselves.“1219

„Für Parsons bestehen diese ,major changes‘ besonders in zweierlei Hinsicht: Zum einen bewirkt die professionelle Organisationsform, dass vor die Orientierung des Handelns an ökonomischer (,Effizienz‘) und/oder politischer (,Herrschaft‘) Rationalität eine Orientierung des Handelns an wissenschaftlicher, kognitiver Rationalität tritt. Führung stützt sich nicht auf politische Macht und/oder ökonomischen Erfolg, sondern auf kulturelle Kriterien der Legitimität. (,The new leadership element is based on cultural legitimacy‘). Zum anderen geht mit der Form des Kollegiums eine auf Deliberation beruhende Form der Sozialintegration einher, da es sich um eine Organisation von Gleichen handelt, die mittels Beratschlagung, Überlegung und Argumentation Entschlüsse fassen.“1220 Doch aus der herrschaftssoziologischen Perspektive argumentierte Weber kritisch, dass solche kollegialen Organisationstypen sich ablösen und verändern würden, „zugunsten der faktisch und meist auch formal monokratischen Leitung“.1221 Weber (1972) begründete dies mit den Nachteilen der Kollegialität, denn diese kollegiale Organisationsform „vermindert unvermeidlich: 1. 2. 3.

die Promptheit der Beschlüsse, die Einheitlichkeit der Führung, die eindeutige Verantwortlichkeit des Einzelnen,

1218 Anmerkung: Übersetzung: „Anstelle einer strengen Hierarchie von Status und Autorität gibt es tendenziell etwas, das im formalen Status eine ,Company of Equals‘ ist, ein Statusausgleich, der die unvermeidliche Abstufung von Unterscheidung und Leistung ignoriert, die in einer beträchtlichen Gruppe von Unternehmen zu finden ist, technisch kompetente Personen.“ (Parsons 1947, S. 60, zit.n. Klatetzki 2012, S. 166) 1219 Anmerkung: Übersetzung: „Die Einbeziehung von hochqualifiziertem Fachpersonal in die meisten modernen Organisationsformen war Anlass für bedeutende Veränderungen im Charakter der Organisationen selbst.“ (Parsons 1968, S. 542, zit.n. Klatetzki 2012, S. 166 f.) 1220 Klatetzki 2012, S. 167 1221 Weber 1972, S. 163, zit.n. Klatetzki 2012, S. 165

306

4.

5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

die Rücksichtslosigkeit nach außen und die Aufrechterhaltung der Disziplin im Innern.“1222

5.1.3 ,Professional Bureaucracies‘ versus ,Parsons Ebenenmodell‘ Auch Talcott Parsons (1960) differenziert in seinem Konzept ähnlich wie Mintzberg mehrere unterschiedliche Struktur-, bzw. Organisationsebenen, die für ihn jedoch nicht das ,professionelle Handeln typisieren‘, sondern vielmehr ,die Integration der professioneller Arbeitszusammenhänge‘ in Organisationen darstellen können.1223 Kieserling (1998) und Iseringhausen/Staender (2012) beschreiben die drei Ebenen wie folgt: 1.

2.

3.

„Auf der ersten Ebene, dem „technical1224 level“ werden die Kernleistungen einer Organisation erbracht, da hier die individuellen Klientenprobleme gelöst oder bearbeitet werden. In professionellen Dienstleistungsorganisationen findet hier die Interaktionsarbeit zwischen Professionellen und Klienten statt (vgl. Schütze 1996), im Krankenhaus also der Kernprozess – nämlich die Patientenversorgung. Auf der zweiten Ebene, dem „managerial level“, geht es darum, die für die Problembearbeitung erforderlichen Ressourcen zu beschaffen. In dieser Ebene beziehen sich die Professionen auf die Organisation. Hier wird für professionelle Akteure das Wissenssystem relevant, in dem sich ihre Berufsgruppe bewegt. Es handelt sich um eine ,Lernebene‘, auf der das Wissensreservoir, das die technische Ebene nutzt, gepflegt, angepasst und erweitert wird. Eine dritte Ebene, der ,institutional level‘ bzw. die Reflexionsebene, ist auf die Sicherung der Legitimität professionellen Handelns durch Rekurs auf gesellschaftliche Werte gerichtet. Auf dieser Ebene werden die ,Sinnfragen‘ und Abschlussprobleme der Professionen behandelt.“1225

„Für diese Aufgabe sind wieder andere Umweltausschnitte wichtig als auf der manageriellen Ebene. Parsons‘ Ebenen-Konzept kann direkt mit der neo-institutionalistischen These verknüpft werden, dass sich Organisationen zur Legitimi-

1222 Weber 1972, S. 164, zit.n. Klatetzki 2012, S. 165 1223 Kieserling 1998, S. 67, zit.n. Iseringhausen/Staender 2012, S. 194 1224 Anmerkung: Der Begriff ,technical‘ kommt von ,techno‘, welches im bekannten Sinne ,Technik‘ als aber auch ,Kunst‘ bedeutet: In diesem Zusammenhang meint es wohl beides, nämlich die Technik und die Kunst der Interaktionsarbeit. (vgl. Kieserling 1998, S. 67) 1225 Kieserling 1998; S. 67 f., zit.n. Iseringhausen/Staender 2012, S. 194

5.1 Das Krankenhaus und seine klassische organisationale Zuordnung

307

tätssicherung der symbolischen Form des ,organizational talk‘ bedienen, während sie ihrem operativen Kern – oder in Parsons‘ Ebenen-Modell den ,technical level‘ – gegenüber Umwelteinflüssen abschirmen und stabil halten (vgl. Brunsson 1989).“1226 So sind nach Kieserling „die Beziehungen zwischen den Ebenen mit ihren je eigenen Funktionen und Umweltbezügen nicht eindeutig, also relativ offen strukturiert sind, was innerhalb von Organisationen auch für deren Spitze gilt.“1227 „Wenn das verkannt wird, entsteht einerseits Bürokratie und andererseits ,loose coupling‘. Die Vorschriften wuchern, aber ihr Zusammenhang mit der Interaktionsebene reißt ab, […] die ,strategische Spitze‘ im Kontext einer professionellen Organisation mit einer dezentraler Struktur und lose gekoppelten Elementen ist dann kaum in der Lage, eine kohärente, organisationsweit verbindliche Strategie zu formulieren, die die Organisation orientieren oder verändern könnte.“1228 Werden Managemententscheidungen aus den Ebenen ,managerial level‘ und ,institutional level‘ getroffen, die dem Kernauftrag der Professionellen, dem professionellen Anspruch und ihrer rechtlich verankerten Behandlungsverantwortung widersprechen, werden die Professionellen versuchen, sich den Interventionen des Managements zu widersetzen oder sie werden ein opportunistischen Verhalten zeigen. Beides verhindert eine Identifikation mit der Organisation. 5.1.4 Der klassische Krankenhausorganisationstyp im Umbruch – ein Weg des Wandels ohne Kompass „Das deutsche Krankenhauswesen befindet sich seit längerem im Umbruch.“1229 Die Industrialisierung und Ökonomisierung löst daher innerhalb der Krankenhausorganisationen zunehmend eine Strukturveränderung der Organisationsform aus. Durch die gesundheitspolitischen Veränderungen in der Gesetzgebung (z.B. Wettbewerbsförderung, Privatisierung und Qualitätssicherung) sind seit einigen Jahren Entwicklungen in den Krankenhäusern zu beobachten. „Mit dem Aufkommen einer neuen markt- und anbieterorientierten Wirtschaftspolitik (,Neoliberalismus‘) gerät das klassische autonome professionelle Organisationsmodell (Verwaltungsorientierte und staatliche Bürokratie) zunehmend unter Druck und 1226 1227 1228 1229

Kieserling 1998; S 67 f., zit.n. Iseringhausen/Staender 2012, S. 195 Iseringhausen/Staender 2012, S. 195 Klatez ki/Tacke 2005, S. 17, zit.n. Iseringhausen/Staender 2012, S. 195 Bode/Vogd 2016, S. 1

308

5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

ist einer zunehmenden Kritik ausgesetzt. Kern der Kritik ist: Der vorherrschend kollegialen Expertenorganisation mangelt es an Effizienz und Effektivität.“1230 Auch durch Aufzeigen und Skandalisierung der organisatorischen Mängel und moralischen Fehlverhaltens geraten die Organisationen zusätzlich unter Stress.1231 „Die Entwicklungsdynamik des Krankenhauswesens zeigt eine Eigendynamik, Vielseitigkeit und Widersprüchlichkeit. Wenn sich gesellschaftliche Rahmenbedingungen und hiermit auch die gesellschaftliche Semantiken verändern, vollziehen sich die hieran anschließenden Veränderungen nicht in einer einzigen Dimension oder in einer einzigen Richtung. Vielmehr zeigen sich solche Veränderungen in der Regel als Mutationen, nämlich als mehr oder weniger chaotische und in verschiedener Hinsicht unbestimmte Suchbewegungen.“1232 „Von zentraler Bedeutung für die Perspektiven des Krankenhauses als professionelle Organisation ist der Aspekt der klinischen Autonomie.“1233 Der vermehrte Rückzug des Staats zwingt die Krankenhäuser zu einem modernen und effizienten Management. Durch die wirtschaftliche Situation und ökonomischen Zwänge in den Krankenhäusern werden die Gesundheitsbetriebe zukünftig mehr und mehr zu markt- und wettbewerbsorientierten Unternehmen umgebaut. Im deutschen Krankenhauswesen ist in den letzten Jahren eine fundamentale paradigmatische Veränderung erkennbar. Sie mutieren immer mehr zu einem „Organisationsmodell des ,Managerialismus‘ (= Managerherrschaft), welches als neounternehmerische Organisation oder auch als MPB-Form, als ,managed professional business‘1234 bezeichnet wird, welches zugleich auch ein postprofessionelles und postbürokratisches Modell ist“.1235 „Den Kern dieses Modells bildet die ökonomische Grundannahme, dass Akteure ihren individuellen Nutzen zu maximieren suchen (homo oeconomicus1236). Da Organisationen in dieser Perspektive als Aggregat individueller Handlungen verstanden werden, sind die Handlungsbedingungen des Personals strikt unter

1230 1231 1232 1233 1234 1235 1236

Klatetzki 2012, S. 177 f. Vgl. Bode/Vogd 2016, S. 1 f. Bode/Vogd 2016, S. 2 Iseringhausen/Staender 2012, S. 198 Brock et al. 1999, zit.n. Klatetzki 2012, S. 178 Heckscher 1994; Leicht/Fennell 2001, zit.n. Klatetzki 2012, S. 178 Anmerkung: homo oeconomicus = „Wissenschaftstheorie: Modell eines ausschließlich ,wirtschaftlich‘ denkenden Menschen, das den Analysen der klassischen und neoklassischen Wirtschaftstheorie zugrunde liegt.“ (Li-Hi, Nick 2019)

5.1 Das Krankenhaus und seine klassische organisationale Zuordnung

309

Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten zu strukturieren. Eine solche Strukturierung gelingt durch die Einführung einer neuen Form organisatorischer Kontrolle, die die in der Bürokratie übliche Überprüfung von Regelkonformität durch Vorgesetzte und die in der kollegialen Form praktizierte professionelle Selbstregulation ersetzt.“1237 „Diese Kontrollform wird befördert durch die Entwicklung von Informationstechnologien, die es erlauben, die Leistungsdaten über die operative Performanz der Organisation zeitnah zu erfassen. Diese Daten werden dann in einer Weise gehandhabt, die das professionelle Personal zu einer ökonomischen Orientierung nötigt. Das neue Kontrollmodell kombiniert zu diesem Zweck eine Dezentralisation administrativer Tätigkeiten mit einer Zentralisierung der strategischen Ausrichtung der Dienstleistungsorganisation.“1238 Dabei hat die ,oberste Leitungsinstanz‘, das ,Topmanagement‘, im Rahmen dieser neuen Kontrollform vor allem drei Aufgaben. Erstens muss sie die ,Vision‘, ,Mission‘ oder ,corporate culture‘ der Dienstleistungsorganisation kreieren, artikulieren, verbreiten und unterstützen. Sie muss, zweitens, dafür sorgen, dass für die professionellen Abteilungen klare Vorgaben hinsichtlich anzustrebender Resultate festgelegt werden. Und drittens muss die oberste Leitungsinstanz Formen der quantifizierenden Evaluation und des Monitorings entwickeln und deren Einsatz unterstützen.1239 „Durch eine Stärkung und Ausweitung der Strategischen Spitze, dem Mittleren Management und der Technostruktur wird in diesen Expertenbereich massiv eingegriffen. Dies geschieht z.B. durch verstärkte Versuche der Standardisierung, Ziel-, und Planungsvorgaben (z.B. DRGs), verstärkte Kontrolle (z.B. Controlling/Qualitätsmanagement), zunehmende Spezialisierung der Abteilungen und Flexibilität der Arbeitseinsätze, sowie einer Zentralisierung und einem damit verbundenen Transparenzverlust.“1240 Diese Merkmale der Veränderung lassen eine Veränderung der Organisationsform zu einer weiteren nach Mintzberg beschriebenen Organisationsform der Maschinenorganisation1241 erkennen.

1237 1238 1239 1240 1241

Klatetzki 2012, S. 178 Hoggett 1991, 1996, zit.n. Klatetzki 2012, S. 178 f. Klatetzki 2012, S. 179 f. Iseringhausen/Staender 2012, S. 190 Anmerkung: In den einzelnen Organisationsformen sind die 5 Teile unterschiedlich ausgeprägt und unterliegen verschiedenen Koordinationsmechanismen. Je nach Konfiguration benennt Mintzberg folgende Organisationsstrukturen:

310

5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

„Die Maschinenbürokratie ist durch spezialisierte und standardisierte Arbeitsprozesse, formalisierte Verfahren, enge Kontrolle, durch Regeln und Vorschriften, eine klare Autoritätshierarchie, formalisierte Planung zur Strategieformulierung vor der Implementation usw. charakterisiert.“1242 Jedoch wie „die Profibürokratie ist auch die Maschinenbürokratie eine inflexible Struktur.“1243 „Die Maschinenbürokratie erzeugt ihre eigenen Standards – ihre Technostruktur gestaltet die Arbeitsstandards für die ausführenden Mitarbeiter, und die Linienführungskräfte setzen sie durch; dagegen werden die Standards der Profibürokratie weitgehend außerhalb der eigenen Struktur entwickelt – in den sich selbst verwaltenden Berufsverbänden, denen ihre professionellen Mitarbeiter im betrieblichen Kern ebenso wie deren Kollege aus anderen Profibürokratien angehören.“1244 Und während „die Maschinenbürokratie ihre Existenzgrundlage in der hierarchischen Autorität von Führungskräften ,kraft ihres Amtes‘ sieht, betont die Profibürokratie die professionelle Autorität der Mitarbeiter ,kraft ihrer Fachkompetenz‘.“1245 Der professionelle Mitarbeiter widersetzt sich der Rationalisierung seiner Qualifikation – ihre Aufteilung in einfach auszuführende Schritte – in der berechtigten Annahme, dass diese seine Arbeit im Sinne der Technostruktur programmierbar machen, die Grundlage seiner Autonomie zerstören und die Struktur maschinenbürokratisch gestalten würde.1246 Komplexe Arbeitsprozesse lassen sich nicht mit Regeln und Vorschriften formalisieren und vage Arbeitsprodukte können nicht durch Planungs- und Kontrollsysteme standardisiert werden. Solche Maßnahmen können nur Schaden anrichten – falsche Verhaltensweisen die Einfachstruktur (Koordinationsmechanismus: persönliche Weisung; Schlüsselrolle: strategische Spitze) die Maschinenbürokratie (Koordinationsmechanismus: Standardisierung von Arbeitsprozessen; Schlüsselrolle: Technostruktur) die Profibürokratie (Koordinationsmechanismus: Standardisierung von Qualifikationen; Schlüsselrolle: betrieblicher Kern) die Spartenstruktur (Koordinationsmechanismus: Standardisierung von Arbeitsprodukten; Schlüsselrolle: Mittellinie) die Adhokratie (Koordinationsmechanismus: gegenseitige Abstimmung; Schlüsselrolle: Hilfsstab, manchmal gemeinsam mit dem betrieblichen Kern)“ (Mintzberg 1992, S. 28 f.) 1242 Mintzberg 1991, S. 345 1243 Mintzberg 1992, S. 281 1244 Mintzberg 1992, S. 259 1245 Mintzberg 1992, S. 259 1246 Vgl. Mintzberg 1992, S. 273

5.1 Das Krankenhaus und seine klassische organisationale Zuordnung

311

programmieren und falsche Ergebnisse messen, die professionelle Mitarbeiter zwingen, das maschinenbürokratische Spiel mitzumachen und Standards zu erfüllen, anstatt Kunden und Klienten zu betreuen.1247 Von den Administratoren der Organisation werden die mangelnde Effizienz und Effektivität oftmals als Folge fehlender externer Kontrolle gesehen und es wird versucht, durch persönliche Weisung und Standardisierung der Arbeitsprozesse und Arbeitsprodukte Abhilfe zu schaffen. Doch die Arbeit von professionellen Mitarbeitern von oben nach unten zu kontrollieren hat sich lt. Mintzberg (1992) immer wieder als Fehlschluss erwiesen und führt oft lediglich dazu, die ExpertInnen in ihrer Arbeit zu behindern und zu frustrieren.1248 Durch das Qualitätsmanagement und deren zunehmend standardisierte Arbeitsprozesse und die Vorherrschaft der ökonomischen Ziele zeigt die ehemals professionelle Bürokratie immer mehr maschinenbürokratische Züge. Dadurch verlieren die Experten an Einfluss, Primärmacht, was zu Identitätsverlust führt. Professionelle Mitarbeiter sind meist verantwortungsbewusste und hochmotivierte Individuen, die sich ihrer Arbeit und den von ihnen betreuten Kunden und Klienten verpflichtet wissen. Im Gegensatz zur Profibürokratie, die Barrieren zwischen dem ausführenden Mitarbeiter und dem Klienten abbaut, baut die Maschinenbürokratie solche Schranken eher auf und verhindert so die Entwicklung einer persönlichen Beziehung. Das technische System und das soziale System stehen hierbei in Schieflage.1249 Durch die Industrialisierung des Krankenhaussektors wird der traditionelle Rahmen verändert, der einen Wandel in der Beziehung zwischen den professionellen Berufen und dem Krankenhaus-Management auslöst. „Konflikte eskalieren und nehmen Formen eines Stellungskrieges an, wo es nur Sieger oder Verlierer gibt […] oder der Wertewandel im Krankenhaus löst einen Machtwechsel aus, alte Traditionen werden gekippt. König wird das Geld (Verwaltung), der bisherige König (Chefarzt) wird entthront und mit seinen Prinzen (Ärzten) zum Bauern gemacht (in die Pflicht genommen), Knechte und Mägde sind dann das Pflegepersonal.“1250

1247 Vgl. Mintzberg 1992, S. 283 1248 Vgl. Mintzberg 1992, S. 282 1249 Vgl. Mintzberg 1992, S. 276 1250 Becker-Kontio 2004, S. 45

312

5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

Auch wenn nach Iseringhausen/Staender (2012) sicher scheint, „dass es mit der beruflichen Autonomie1251 des Krankenhausarztes nicht einfach zu Ende geht. Denn Entscheidungsspielräume werden angesichts variierender Fallumstände, technologisch unterdeterminierter Handlungssituationen und Aufwandsgrenzen bei der Formalisierung von Behandlungsabläufen funktional unabdingbar bleiben. Und auch in Zukunft wird die Verantwortung für die Behandlungsentscheidungen bei Ärzten liegen. […] Ärzte verfügen nach wie vor über eine beträchtliche Obstruktionsmacht, mit der sie Zugriffsversuche konterkarieren können. Überdies wächst mit der Komplexität regulativer Strukturen auch die Zahl der Ansatzpunkte für einen ,kreativen‘ Umgang mit ihnen.“1252 Zeigen jedoch die Ausführungen, dass das Krankenhaus sich in einer sehr unsicheren und dynamischen Organisationssituation befindet, in der es in der Zukunft an den Grundmauern der Organisationsform rüttelt. Dies hat für die Professionellen durchaus Auswirkungen. Durch diesen tiefgreifenden Organisationswandel verändert sich auch die Position ihrer professionellen Experten.1253 So müssen sie sich stärker als bisher in ihrer Rolle behaupten und positionieren, sowie um ihren Stand als Professionelle kämpfen. Unter Umständen tendieren einige Krankenhäuser auch durch die große Anzahl von Projekten zu einer Mischung der Organisationsformen: z.B. aus Expertenorganisation, Maschinenorganisation und Adhokratie bzw. innovativer Organisation.1254 Innovationen sind meist auf Kooperation und interdisziplinäre Zusammenarbeit angewiesen, was gerade in Expertenorganisationen und Maschinenorganisationen, die noch dazu in der Regel konservative Institutionen sind, die einge-

1251 Anmerkung: „Auch ist es wichtig, die individuelle und die kollektive Ebene professioneller Autonomie zu unterscheiden. […] Soweit es sich […] um medizinische Kriterien handelt, kann der Autonomieverlust des einzelnen Arztes zugleich ein (Be-)Kräftigung kollektiver Autonomie bedeuten. Schließlich muss man sich vergegenwärtigen, dass Gestaltungsfragen der Krankenhausorganisation nicht im Wege rein sachlogischer Designfindung entschieden werden. Politische Kräfteverhältnisse außerhalb wie innerhalb der Organisation spielen eine wichtige Rolle.“ (Iseringhausen/Staender 2012, S. 198) 1252 Iseringhausen/Staender 2012, S. 198 1253 Vgl. Iseringhausen/Staender 2012, S. 185 1254 Vgl. Mintzberg 1991, S. 207 f.

5.1 Das Krankenhaus und seine klassische organisationale Zuordnung

313

fahrene Gleise nur zögernd aufgeben, zu Problemen führen kann. „Für Innovationen ist eher die Struktur der Adhokratie1255 geeignet: Die Adhokratie1256 verlangt von ihrem Experten, dass er seine individuellen Ziele und professionellen Standards den Erfordernissen der Gruppe unterordnet, trotz der Tatsache, dass er – wie sein Kollege in der Profibürokratie – zumindest potentiell ein ausgeprägter Individualist bleibt.“1257 „In der Adhokratie müssen Experten verschiedener Berufsrichtungen in multidisziplinären Teams zusammenarbeiten, und aufgrund der organischen Strukturierung entstehen zwangsläufig politische ,Machtspiele‘, bei denen nur wenige Regeln eingehalten werden.“1258 Im Bereich der Krankenhäuser betrifft dies vor allem die Bereiche der Abstimmung der interdisziplinären Behandlungskonzepte und der einzelnen medizinischen Fachbereiche untereinander sowie die gemeinsame Arbeit an Projekten, wo nicht Standardisierung sondern Innovation benötigt wird.1259 Das Krankenhauswesen befindet sich in einer krisenhaften oftmals orientierungslosen Veränderungsdynamik und in einem permanenten Dauerstress,1260 was sich auf die externen und internen Kunden extrem stark auswirkt. „Verbreitet herrscht der Eindruck, das ökonomische Anreize sowie das Bestreben zur Distinktion auf einem ,Quasi-Markt‘ wirtschaftlich eigenständiger Leistungsanbieter dazu führten, dass die in Deutschland recht eindeutigen ethischen Erwartungen an das Krankenhauswesen nicht mehr die alleinige Referenz für das Handeln in den Kliniken darstellt.“1261 Vogd (2014a) führt aus, dass „das 1255 Anmerkung: „Die Adhokratie ist lt. Mintzberg (1992) vor allem durch das Fehlen starrer bürokratischer Strukturen und strenger Arbeitsteilung sowie durch starke Flexibilität geprägt. Da zentrale Kontrolle auf Grund der Komplexität der Projekte nicht möglich ist, muss die Koordination durch die beteiligten Professionals selbst erfolgen – dies lässt nur einen Koordinationsmechanismus zu, nämlich die gegenseitige Abstimmung. Da in den Projekten meist hochqualifizierte ExpertInnen arbeiten, sind auch die Entscheidungskompetenzen häufig auf unterschiedliche Ebenen und Stellen verteilt. Die Aufgabe des Managements in Adhokratien ist vor allem, die Arbeit der verschiedenen Teams und Einheiten lateral zu koordinieren.“ (Mintzberg 1992, S. 336) 1256 Anmerkung: Zunächst ist „die Adhokratie […] keine effiziente Struktur. […] Ursache derartiger adhokratischer Ineffizienzen sind vor allem die hohen Kommunikationskosten. In Adhokratien verbringen die Mitarbeiter viel Zeit mit Reden; nur so erreichen sie ihr Ziel, mit vereinten Kräften und Kenntnissen neue Ideen zu entwickeln. Doch dies braucht Zeit, viel Zeit“. (Mintzberg 1992, S. 366) 1257 Mintzberg 1992, S. 366 1258 Mintzberg 1992, S. 366 1259 Mintzberg 1992, S. 278 1260 Vgl. Bode/Vogd 2016, S. 2 1261 Bode/Vogd 2016, S. 1

314

5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

Krankenhaus nicht nur ökonomischem Druck ausgesetzt ist, sondern auch unter moralischen Stress steht. Es scheint, dass man der Institution Krankenhaus unter den gegebenen Verhältnissen nicht mehr so recht trauen kann, was wiederum die Belastungen für alle Beteiligten noch zu erhöhen scheint“.1262 5.1.5 Herauszustellende Befunde des Teilkapitels Das Krankenhaus als organisationstheoretischer Prototyp der ,Professional Bureaucracies‘ Kliniken bzw. Krankenhäuser zählen zu den Prototypen einer ,professional bureaucracy‘ und werden synonym als ,professionelle Organisation‘ bzw. ,Expertenorganisation‘ auch als ,Profibürokratie‘ bezeichnet mit folgenden Kennzeichen und Charakteristika: o

Mintzberg beschreibt fünf Bestandteile und im Zentrum dieses Organisationstyps steht der Experte/Professionelle mit seinem Wissen.

o

Der Schwerpunkt liegt auf dem betrieblichen Kern, in dem die eigentliche Leistung am Patienten vollzogen wird.

o

Eine generell bürokratischen Grundorientierung – Entscheidungsprozesse werden allerdings durch die ,professionals‘, die Experten gestaltet.

o

Zu diesem Organisationstypus gehören alle Unternehmen mit einer spezifischen Wissensbasis, die für die betrieblichen Kernprozesse von konstituierender Bedeutung sind.

o

Autorität in der Organisation geht von den Professionellen aus und er ist das eigentliche Kernversprechen an den Kunden und somit das Kapital des Unternehmens.

o

Weitere Charakteristika der Expertenorganisationen sind: dezentralisierte Entscheidungsstrukturen, plurale Berufsgruppeninteressen, lose gekoppelte Arbeitseinheiten, die professionelle (Selbst-)kontrolle und Autonomie bei der Fallbearbeitung und weite Freiräume bezüglich der Arbeitsweise, kollegiale Koordination und Kontrolle in den Entscheidungsstrukturen - Experten entscheiden über Dienstleistungen und deren Durchführung, hohe fachliche Qualifikation, Wissen als Produktionsmittel, Erstellung komplexer, nicht-triviale Dienstleistungen.

1262 Bode/Vogd 2016, S. 2

5.1 Das Krankenhaus und seine klassische organisationale Zuordnung

315

o

Identifikation mit der Profession, nicht mit der Organisation, Orientierung am professionellen Reputationssystem, geringes Interesse an Koordinationsaufgaben.

o

Auch die Trennung von Fachsystem der Profession und den anderen Subsystemen der Organisation, die klassisch sehr verwaltungsorientiert sind, zählt zu den Charakteristika.

o

Die Kerntätigkeit ist eine individuelle, personale Dienstleistung – wenig aufteilbar, ebenso ist sie wenig automatisierbar und standardisierbar, die Arbeitsteilung oft unscharf.

o

Kontrolle erfolgt intern durch eine Selbstkontrolle und extern durch Berufsorganisationen und Gerichte. Auch Standards (Leitlinien usw.) werden extern festgelegt.

o

Strategische Entscheidungen dauern lange, sind zögerlich oder finden oft nicht statt.

o

Grundsätzliche Probleme dieser Organisationsform sind: Koordinationsprobleme, Entscheidungsprobleme, Innovationsprobleme, Strategieprobleme, Finanzierungs- und Controlling-Probleme.

o

Aber dieser Organisationstyp fand Anerkennung von den Experten/Professionellen als unterstützende Organisation der Profession und des professionellen Handelns durch Ressourcen-Organisation und als ein Ort des kollegialen Handels.

Die ,professionelle Organisation‘ als ,vorherrschend kollegiale Organisation‘ Aufgrund der Macht der Mitarbeiter im betrieblichen Kern und der kollegialen Struktur werden Profibürokratien zuweilen auch als ,kollegiale‘ Organisationen bezeichnet – mit sechs Charakteristika, die eine solche Organisationsform kennzeichnen: theoretisches Wissen, professionelle Karriere, formale Gleichheit, formale Autonomie, selbststeuernde Überprüfung professioneller Leistungen und kollektives Entscheiden. Die ,professionelle Organisation‘ – Parsons‘ Organisationsebenen Ähnlich wie Mintzberg beschreibt auch Parson drei Organisations-Ebenen, ,technical level‘, ,institutional level‘ und ,institutional level‘.

316

5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

Harmonieren diese drei Ebenen in den Zielen, der Kultur und den Werten nicht miteinander, ist Widerstand, opportunistisches Verhalten der Experten/Professionellen die Folge, welches letztlich eine Identifikation mit der Organisation verhindert. Der klassische Krankenhausorganisationstypus im Umbruch – ein Wandel ohne Kompass Das klassische autonome professionelle Organisationsmodell ist in den letzten 20 Jahren zunehmend unter Druck geraten. Kern der Kritik ist: o

Der vorherrschend kollegialen Expertenorganisation mangelt es an Effizienz und Effektivität.

o

Durch organisatorische Mängel und moralisches Fehlverhalten geraten die Organisationen zusätzlich unter Stress.

Weitere Entwicklungen haben Konsequenzen für die klinische Autonomie: o

vermehrter Rückzug des Staats zwingt die Krankenhäuser zu einem modernen und effizienten Management.

o

durch die wirtschaftliche Situation und ökonomische Zwänge werden die Gesundheitsbetriebe zukünftig mehr und mehr zu markt- und wettbewerbsorientierten Unternehmen umgebaut.

Die Entwicklungsdynamik des Krankenhauswesens zeigt eine Eigendynamik, Vielseitigkeit und Widersprüchlichkeit – die Veränderungen sind mehr oder weniger chaotische und in verschiedener Hinsicht unbestimmte Suchbewegungen. Folge ist eine fundamentale paradigmatische Veränderung, hin zu einem Organisationsmodell des ,Managerialismus‘ (= Managerherrschaft), welches als neounternehmerische Organisation bezeichnet wird – wird zugleich auch als postprofessionelles und postbürokratisches Modell bezeichnet. o

Den Kern dieses Modells bildet die ökonomische Grundannahme, dass Akteure ihren individuellen Nutzen zu maximieren suchen (,homo oeconomicus‘).

o

Handlungsbedingungen des Personals sind strikt unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten zu strukturieren – dies gelingt nur durch die Einführung einer neuen Form organisatorischer Kontrolle. Diese „bürokratie-übliche“ Überprüfung von Regelkonformität durch Vorgesetzte, ersetzt die professionelle Selbstregulation. Durch die Stärkung

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

317

und Ausweitung der strategischen Spitze, des mittleren Managements und der Technostruktur wird in den Expertenbereich massiv eingegriffen. In Krankenhäusern sind zunehmend Merkmale zu finden, die eine Veränderung hin zur Organisationsform der Maschinenorganisation erkennen lassen: spezialisierte und standardisierte Arbeitsprozesse, formalisierte Verfahren, enge Kontrolle durch Regeln und Vorschriften, eine klare Autoritätshierarchie, formalisierte Planung zur Strategieformulierung vor der Implementation, eine unflexible Struktur. Professionelle Mitarbeiter versuchen sich gegen die zunehmende Standardisierung der Arbeitsprozesse (durch ein eindimensionales QM-Verständnis) und die Vorherrschaft der ökonomischen Ziele, welche Rationalisierung der Qualifikation bedeutet, zu widersetzen – Grund des Widerstands liegt in der berechtigten Annahme, dass die Grundlage der Autonomie zerstört wird und die ExpertInnen in ihrer Arbeit behindert und frustriert werden. Das Krankenhauswesen befindet sich in einer krisenhaften oftmals orientierungslosen Veränderungsdynamik und in einem permanenten Dauerstress – starke Auswirkung auf die externen und internen Kunden, das Krankenhaus ist ökonomischem Druck ausgesetzt und steht unter moralischem Stress – unter den gegebenen Verhältnissen kann die Institution Krankenhaus das Vertrauen verlieren – was wiederum die Belastungen für alle Beteiligten noch erhöht. Ausführungen zeigen, dass das Krankenhaus sich in einer sehr unsicheren und dynamischen Organisationssituation befindet, in der es in der Zukunft an den Grundmauern der Organisationsform rüttelt Durch diesen tiefgreifenden Organisationswandel verändert sich auch die Position der Professionals – sie müssen sich in ihrer Rolle behaupten und positionieren und um ihren Stand als Professionals kämpfen. Das Expertentum verliert zunehmend an Einfluss und Macht, was zum Identitätsverlust führt. 5.2 Professionalität, Expertentum und Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung In Krankenhäusern werden Menschen in gesundheitlich existenziellen Krisensituationen behandelt. Um als Krankenhäuser zugelassen zu werden, benötigen sie

318

5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

nach dem fünften Sozialgesetzbuch (SGB V) einen Versorgungsauftrag1263 des jeweiligen Bundeslands. Der Versorgungsauftrag eines Krankenhauses beruht auf der Krankenhausplanung des Bundeslands und er ist wesentliches Element für eine bedarfsgerechte Versorgung der Bevölkerung mit stationären Leistungen und vor allem Gesundheitsdienstleistungen. Grundlage der Gesundheitsdienstleitungen sind fachlich hochkomplexe individuelle Diagnosen- und Behandlungsprozesse, die vor allem von professionellen Berufen und Fachexperten angeboten werden. Krankenhäuser sind also spezielle Einrichtungen, die im Auftrag des Bundeslands/Staats für die Gesundheit der Bevölkerung zuständig sind und diese mit professionellen Gesundheitsdienstleitungen versorgen. Krankenhäuser gehören zu den Organisationen der sogenannten ,professionel services‘, deren Eigenschaften Lowendahl (2005) wie folgt charakterisiert hat, als: 1.

2. 3. 4.

„It is highly knowledge intensive, delivered by people with higher education, and frequently closely linked to scientific knowledge development within the relevant area of expertise. It involves a high degree of customization. It involves a high degree of discretionary effort and personal judgment by the expert(s). It typically requires substantial interaction with the client firm representatives involved.“1264

1263 Anmerkung: Mit einem Versorgungsvertrag wird das Krankenhaus für die Dauer des Vertrags zur Krankenhausbehandlung der Versicherten zugelassen und zur Krankenhausbehandlung der Versicherten verpflichtet. Rechtsgrundlagen für die Krankenhausplanung und damit die Versorgungsverträge/-aufträge sind die §§ 1 Abs. 1, 6 KHG, § 8 Abs. 1 Satz 4 KHEntgG, § 1 BPflV und die Krankenhausgesetze der Bundesländer. Die Versorgungsverträge beruhen auf den §§ 107-110 sowie 112 SGB V. Nach dem § 108 SGB V dürfen die Krankenkassen Krankenhausbehandlung nur durch folgende Krankenhäuser (zugelassene Krankenhäuser) erbringen lassen: 1. Krankenhäuser, die nach den landesrechtlichen Vorschriften als Hochschulklinik anerkannt sind, 2. Krankenhäuser, die in den Krankenhausplan eines Landes aufgenommen sind (Plankrankenhäuser), oder 3. Krankenhäuser, die einen Versorgungsvertrag mit den Landesverbänden der Krankenkassen und den Verbänden der Ersatzkassen abgeschlossen haben. 1264 Anmerkung: Übersetzung: Nach Lowendahl (2005) hat ein professoneller Service folgende Eigenschaften: „1. Es ist sehr wissensintensiv, wird von Menschen mit höherer Bildung und häufig eng in Verbindung mit der Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnisse im jeweiligen Fachgebiet vermittelt. 2. Es ist ein hohes Maß an Anpassung erforderlich. 3. Es erfordert einen hohen Ermessensspielraum und ein persönliches Urteil des/der Sachverständigen,

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

319

Professionelle Gesundheitsfachexperten sind die Kernbeauftragten in diesen Einrichtungen. Hierzu zählen im Krankenhaus der Arztberuf und die Fachberufe des examinierten Pflegeberufs sowie der verschiedenen Therapeuten. 5.2.1 Konstitutive Professionsmerkmale – ein Einblick in die professionstheoretischen Ansätze ,Professionen‘ sind „eine bestimmte Klasse von Berufen, das heißt sie lassen sich durch bestimmte typische Merkmale von anderen Berufen unterscheiden, die keine Professionen sind“.1265 Terhard (1997) führt aus, dass „der Begriff Profession in der Berufssoziologie ursprünglich nur für besonders herausgehobene, am Gemeinwohl orientierte, […] selbstständige oder freie Berufe reserviert (wurde)“.1266 Für Nittel (2000) weisen Professionen „ein bestimmtes Verhältnis nach innen (Korpsgeist) auf und erbringen Dienstleistungen für ihnen anempfohlene Menschen, wenden systematisch erzeugtes Wissen auf außeralltägliche Probleme an und ihr Handeln ist dem Gemeinwohl untergeordnet“.1267 Historisch sind die Professionen in den beruflichen Bereichen wie Gesundheit, Gerechtigkeit und Erziehung zu finden. Daher gelten Mediziner, Juristen und Theologen als klassische Professionen.1268 Im weitesten Sinne ist eine Profession das Ergebnis eines gesellschaftlichen Verberuflichungsprozesses. In der Literatur ist eine Vielfalt der Begriffsdeutung und Konzeptualisierung auffällig. In der Literatur sind von einzelnen Autoren verschiedene Merkmalsbeschreibungen zu finden. Um sich der Bedeutung der Professionen zu nähern, sind in der folgenden tabellarischen Gegenüberstellung Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Begriffsbeschreibungen aufgezeigt:

4. In der Regel erfordert dies eine umfassende Interaktion mit den beteiligten Kunden.“ (Løwendahl 2005, S. 22) 1265 Horster et al. 2005, S. 9 zit.n. Dlugosch 2009, S. 252 1266 Terhard 1997, S. 448 f. 1267 Nittel 2000, S. 23 1268 Vgl. Nittel 2000, S. 23

320

5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

Abbildung 39: Professionen – Gegenüberstellung der Begriffs- und Merkmalsbeschreibungen. (Quelle: eigene Darstellung)

Bedeutung der Professionen

Begriffs- und Merkmalsbeschreibung „A profession is an occupation which performs a crucial social function. The exercise of this function requires a considerable degree of skill. This skill is exercised in situations which are not wholly routine but in which new problems and situations have to be handled. Because knowledge-based skills are exercised in non-routine situations, it is essential for the professional to have the freedom to make his own judgements with regard to appropriate practice.

Einen stärkere Ausdifferenzierung des Professionsbegriffs findet sich bei Hoyle (1982):

Thus, although knowledge gained through experience is important this recipe knowledge is insufficient to meet professional demands and the practitioner has to draw on a body of systematic knowledge. The acquisition of this body of knowledge and the new development of specific skills require a lengthy period of higher education. Because professional practice is so specialized the organized profession should have a strong voice in the shaping of relevant public policy, a large degree of control over the exercise of professional responsibilities, and a high degree of autonomy in relation to the state. This period of education and training also involves the process of socialization into professional values. These values tend to centre on the preeminence of clients ́ interests and to some degree are made explicit in a code of ethics. Lengthy training, responsibility and client-centredness are necessarily rewarded by high prestige and a high level of remuneration.“1269,1270

1269 Hoyle 1982, S. 162 1270 Anmerkung: Übersetzung: „Ein Beruf ist ein Beruf, der eine entscheidende soziale Funktion erfüllt. Die Ausübung dieser Funktion erfordert ein erhebliches Maß an Geschicklichkeit. Diese Fähigkeit wird in Situationen ausgeübt, die nicht völlig routinemäßig sind, sondern in denen neue Probleme und Situationen behandelt werden müssen. Da wissensbasierte Fähigkeiten in nicht routinemäßigen Situationen ausgeübt werden, ist es für den Fachmann unabdingbar, dass er die Freiheit hat, seine eigenen Urteile über die angemessene Praxis zu fällen. Obwohl das durch Erfahrung gewonnene Wissen wichtig ist, reicht dieses Rezeptwissen nicht aus, um die professionellen Anforderungen zu erfüllen, und der Praktiker muss auf ein systematisches Wissen zurückgreifen. Der Erwerb dieses Wissens und die Entwicklung spezifischer Fähigkeiten erfordern eine längere Hochschulausbildung. Aufgrund der Spezialisierung der Berufspraxis sollte der organisierte Beruf ein starkes Mitspracherecht bei der Gestaltung der relevanten öffentlichen Ordnung, ein hohes Maß an Kontrolle über die Ausübung seiner beruflichen Verantwortung und ein hohes Maß an Autonomie gegenüber dem Staat haben. Diese Zeit der allgemeinen und beruflichen Bildung beinhaltet auch die Sozialisierung in berufliche Werte.

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

Bedeutung der Professionen

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Begriffs- und Merkmalsbeschreibung

„Sie erbringen zentralwertbezogene Leistungen, d.h., professionelles Handeln ist am Gemeinwohl orientiert und ist der Aufrechterhaltung relevanter Wertuniversalien (Gesundheit, Konsens, Moral, Wahrheit, Recht) verpflichFür Schaeffer tet. (1994) zeich- Sie besitzen spezialisiertes Wissen, das auf die Lösung gesellschaftlicher Probleme angewandt wird. nen drei Charakteristika die Ihre Wissensbasis ist dabei sowohl in der Wissenschaft wie auch in der Alltagspraxis verankert. Erst diese ,doppelte Wissensbasis‘ ermöglicht den ZuProfessionen gang zum Verständnis der spezifischen Probleme ihrer Klientel. aus: Sie besitzen Autonomie der Kontrolle über die eigene Tätigkeit, d.h., ,wirkliche‘ Professionen sind dadurch definiert, dass ihnen als Gruppe sowohl von den KlientInnen wie auch von den beschäftigenden Organisationen in der Festlegung und Ausführung ihrer Arbeit Autonomie zuerkannt wird.“1271 Eine Profes„Zuständig für gesellschaftliche relevante und gesellschaftlich ethisch norsion verfügt mierten Bereiche wie z.B.: Gesundheit, Recht, auch Erziehung. Wissenschaftliche Fundierung der Tätigkeit. nach Radke Besonders lizenziertes Interventions- und Eingriffsrecht in die Lebenspraxis (2000) über 1272 drei Hauptei- von Individuen.“ genschaften:

Ein Verständnis von Professionen formuliert Peters (2004):

„Die professionelle Dienstleistung ist zugleich von hoher gesellschaftlicher Bedeutung, weil die bearbeiteten wesentlichen Belange wie Gesundheit, Gerechtigkeit oder Bildung zugleich gesellschaftlich zentrale Werte darstellen. Aus dem Zentralwertbezug professioneller Arbeit ergibt sich die jeweilige professionelle Aufgabe von Professionen, zu deren Realisierung sie durch ihre Leistung in spezifischer Weise beizutragen haben. Sie gewährleisten und erweitern durch spezifische Berufsvorbereitung und berufliche Weiterbildung ständig das für die Wahrnehmung ihrer Aufgabe notwendige komplexe, allgemeine und spezifische Wissen und Können. Im Interesse eines adäquaten, in erster Linie an der Professions-Aufgabe orientierten professionellen Handelns verfügen Professionen über eine relative Autonomie gegenüber ihrer Klientel und gegenüber ihren Auftrag-, Arbeitund Geldgebern. Eine Profession bearbeitet in spezifischer Weise wesentliche und komplexe Belange von Personen, oft gemeinsam mit ihnen und in direkter Interaktion.

Diese Werte konzentrieren sich in der Regel auf die Vorrangstellung der Interessen der Kunden und werden teilweise in einem Ethik-Kodex explizit gemacht. Langes Training, Verantwortungsbewusstsein und Kundenorientierung werden notwendigerweise mit hohem Ansehen und hoher Vergütung belohnt“. (Hoyle 1982, S. 162) 1271 Schaeffer 1994, S. 105 f. 1272 Radtke 2000, S. 1

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Bedeutung der Professionen

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Begriffs- und Merkmalsbeschreibung Als für Personen und die Gesellschaft zugleich wichtige Dienste Leistende, die sich demokratischer Kontrolle teilweise entziehen, verfügen Professionen über eine je aufgabenspezifische Handlungs-Ethik, an der sie ihr Handeln orientieren. Professionen nehmen ihre jeweiligen Aufgaben und daraus resultierende Rollen- und Machtverhältnisse bewusst wahr und kontrollieren die Art der Aufgaben und Rollenwahrnehmung kollegial.“1273

„Es gibt einen gesellschaftlich relevanten Problembereich und Bezug zu einem ,gesellschaftlichen Zentralwert‘1274, wie es zum Beispiel in der Medizin der Fall ist, die in Beziehung zum Zentralwert ,Gesundheit‘ als einem die Gesamtgesellschaft betreffenden Wert steht. Für Mieg (2006) gibt es Es gibt zum Problembereich ein eigenes dazugehöriges Handlungs- und Erklärungswissen. Voraussetzungskriterien Die Ausbildung ist weitgehend akademisiert. Bei etablierten Professionen wie z.B. Mediziner/inne/n ist ein Universitätsstudium Voraussetzung, in dem für eine Prodas für die Ausübung einer Profession nötige abstrakte Wissen erworben werfessionen: den kann. Es gibt einen Berufsverband oder eine berufsständische Vertretung, die es der Berufsgruppe ermöglichen, als ein wirtschaftsregulierender Verband aufzutreten.“1275 „Herausbildung einer breit geteilten Wissensbasis – spezifizierte Wissensbasis, theoretisch-abstraktes Expertenwissen und Erfahrungswissen (Herausbildung eines exklusiven Handlungs- und Kompetenzmodells, das auf einer spezifischen Wissensbasis basiert und sich von anderen Expertisen abgrenzen lässt.). Standardisierte Ausbildung, Akademisierungstendenzen, Zugangskontrolle Kalkowski/Pa zum Feld. ul (2011) he- Berufspolitische Kanalisierung des Zugangs zu Tätigkeitsfeldern (Monopoliben folgende sierung, Hierarchisierung und Segmentierung von Berufs- und ErwerbsfelMerkmale der dern; Autonomie, Selbststeuerung, Abgrenzung gegen Laien/Nicht-ProfessiProfessionsbil- onelle), ,Marktschließung‘: die Profession selbst entscheidet darüber, wer als Anbieter auf dem Markt auftreten darf oder aufgrund fehlender Standards dadung heraus: von ausgeschlossen ist. Organisatorischer Zusammenschluss der im Feld tätigen Akteure – Verbandsbildung und Berufspolitik zur Verfolgung und Sicherung berufsständischer Ziele sowie zur Artikulierung des Selbstverständnisses (Sicherung des Berufsstandes z.B. durch fachliche und ethische Standards professionellen Handelns.“1276

1273 Peters 2004, S. 74 zit.n. Schicke 2011, S. 64 f. 1274 Mieg 2006, S. 344 1275 Vgl. Mieg 2006, S. 344 1276 Vgl. Kalkowski/Paul 2011, S. 38

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

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Professionen weisen zusammengefasst nach dem Attributionsmodell von Kurtz (2014) folgende äußere Merkmale auf: wissenschaftlich fundiertes Sonderwissen, spezielle Fachterminologie, langandauernde, theoretisch fundierte Ausbildungsgänge auf akademischem Niveau (staatl. Lizenz), berufsständische Normen (code of ethics), Eigeninteressen gesetzlich beschränkt (non-profit), exklusives Handlungskompetenzmonopol, Tätigkeitsbereich besteht aus gemeinnützigen Funktionen, Aufgaben von grundlegender Bedeutung, Autonomie bei der Berufsausübung (Fach- und Sachautorität), Selbstkontrolle durch Berufsverbände, Interessenvertretung.1277 Die wissenschaftliche Diskussion und berufspolitische Debatten hinterlassen unterschiedliche professionstheoretische Ansätze, die weitere einzelne fragmentierte Charakteristika und Merkmale aufzeigen. Erst in der Gesamtheit lässt sich die Bedeutung des Begriffs ,Profession‘ in die Tiefe deutlicher skizzieren. Das historisch auffällige Merkmal der Professionen ist die Entwicklung einer institutionellen Erscheinungsform im Verbund mit einem gesellschaftlichen Mandat zur relativ autonomen Berufsausübung, die zum Gegenstand der klassischen Berufssoziologie wurde. Verbunden sind die frühen Anfänge der professionstheoretischen Diskussion mit den Namen Weber, Marshall, Hughes und Parsons.1278 Um die ,Merkmale der Profession‘ und die Logik des ,professionellen Handelns‘ zu präzisieren, sind im sozialwissenschaftlichen Diskurs vor allem strukturtheoretische, interaktionistische, systemtheoretische und machttheoretische Zugänge der Professionstheorien von Bedeutung.1279 Nach Blömeke (2002) gibt es zwei verschiedene theoretische Perspektiven, die in wechselseitiger Ergänzung und Abhängigkeit zueinander stehen. Sie orientieren sich an den unterschiedlichen Erkenntnisinteressen „der klassischen sozialwissenschaftlichen Aufteilung von Theorien nach makrosoziologischer Herangehensweise – mit der Frage nach den Strukturzusammenhängen […] und sei-

1277 Kurtz 2014, S. 36 1278 Vgl. Helsper/Krüger/Rabe-Kleberg 2000, S. 5 f. 1279 Vgl. Helsper/Krüger/Rabe-Kleberg 2000, S. 5f./Vgl. Helsper 2004, S. 303 f.

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5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

nen Funktionen aus der Perspektive des sozialen Systems – und mikrosoziologischer Herangehensweise – mit der Frage nach den Strukturen des Handels aus der Perspektive des Individuums.“1280 5.2.1.1 Systemtheoretischer Ansatz der Professionstheorie (Luhmann/Stichweh) Aus systemtheoretischer Perspektive (makrosoziologischer Ansatz) ist unter Profession der Beruf als ein Teilsystem zu verstehen. Nach Luhmann (1997) reklamiert der „systemtheoretische Ansatz […] die professionelle Tätigkeit im Rahmen der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft für jene Teilsysteme, denen es nicht gelingt, ihr Operieren in binären Codierungen (am Beispiel der Gesundheit krank/gesund) weitgehend zu formalisieren und zu technisieren, die also ein Technologiedefizit aufweisen“.1281 Dabei handelt es sich „um Teilsysteme, die für ihr Operieren in besonderer Weise auf Interaktionssysteme angewiesen bleiben, die besonders anspruchsvolle und voraussetzungsreiche Kommunikationsmodi entwickelt haben.“1282 Die Interaktionsebene ist bei der Professionalisierung besonders ausgeprägt aufgrund der Tatsache, dass die Probleme in den Funktionssystemen bearbeitet werden müssen. Professionen bilden dabei symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien heraus, um die Wahrscheinlichkeit gelingender Kommunikation zu erhöhen, d.h. die Kommunikation innerhalb eines Teilsystems zu vereinfachen. Stichweh (1996) differenziert den Ansatz von Luhmann weiter aus. Für ihn sind Professionen ein Prinzip gesellschaftlicher Differenzierung. Die Beziehung der Profession zur Gesamtgesellschaft, d.h. die Statusklärung der Profession in einer funktional differenzierten Gesellschaft steht bei Stichweh im Vordergrund. Dabei ist der zentrale Auftrag der Profession der Strukturaufbau, die Strukturerhaltung und die Strukturveränderung menschlicher Identität.1283 Leitprofessionen spielen eine bedeutende Rolle für das Funktionssystem. Sie verwalten das Wissen auf der Handlungsebene, kontrollieren und delegieren zugleich. Stichweh benutzt den Begriff des monoberuflichen Funktionssystems, das heißt, dass nur eine Berufsgruppe die Einheit eines Systems darstellt. Die Professionen sind dabei immer mit der Aufgabe konfrontiert, Wissen zu verwalten. Professionen 1280 Blömeke 2002, S. 11, zit.n. Schwarz 2013, S. 10 f. 1281 Luhmann/Schorr 1979,1982, zit.n. Helsper/Krüger/Rabe-Kleberg 2000, S. 6 1282 Luhman, 1997; Stichweh 1996, zit.n. Helsper/Krüger/Rabe-Kleberg 2000, S. 6 1283 Vgl. Stichweh 1996, S. 49

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

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verfügen im Unterschied zu anderen Berufen über einen umfangreichen, akademischen und spezifischen ,Wissenskorpus‘1284 bzw. über ,professionelle Wissenssysteme‘, die für die systemtheoretische Professionstheorie wesentlich sind.1285 Dabei handelt es sich nicht nur um wissenschaftliches Wissen, sondern um das Wissen in den Systemen. „Professionelle Wissenssysteme beanspruchen hohe Allgemeinheit, sind also auf viele situative Kontexte professionellen Handelns hin spezifizierbar; sie sind außerdem universalistisch, im Sinne einer Unabhängigkeit ihrer Geltung von lokalen Indizes.“1286 Professionen unterstehen einer Leitdisziplin, so Stichweh, die das Reflexions-, Fach- und Orientierungswissen vorgibt. Das Wissenssystem zeigt sich in „professionellen Selbstbeschreibungen, Theorien und Ideologien“1287, die dazu führen, ein professionelles Selbstverständnis der Profession zu elaborieren. Nach Stichweh (1996) wird die Tätigkeit einer Profession wahrgenommen, weil die Berufsidee reflexiv weiterentwickelt und das Berufsethos kultiviert wird. Professionen sind besondere Berufe, die sich dadurch auszeichnen, dass das Wissen und die Kompetenzen akademisch erworben werden; dass innerhalb der Profession eine Reflexionskultur gepflegt wird und die Professionellen ein Berufsethos entwickeln und einen Anspruch auf eine gesellschaftliche Position erheben.1288 Innerhalb einer Profession entwickelt sich ein Leistungsethos, welches sich in der Berufskultur widerspiegelt. Die Rolle der Profession steht im Verhältnis zu den übrigen Funktionssystemen. Professionen beruhen auf einer gefestigten ,Berufskultur‘1289, die eine Einbindung der Berufsangehörigen ermöglicht. Unter den Angehörigen entsteht ein auf Werten und Interessen gegründetes Wir-Gefühl, das auch eine Abgrenzung gegenüber der Umwelt erzeugt. Professionalisierung ist ein typisches Muster der Genese von Berufen.1290 Die Professionalisierung beschreibt ein bestimmtes Verhältnis zwischen der ,Etablierung der System/Umweltbeziehung eines Funktionssystems‘ und der ,Institutionalisierung von Beruflichkeit in diesem System‘.1291 Anstelle des Vergleichs von Berufen tritt der Vergleich von Funktionssystemen mit dem Ziel, 1284 Stichweh 1996, S. 53 1285 Stichweh 1996, S. 54 1286 Stichweh 1996, S. 54 1287 Stichweh 1996, S. 66 1288 Vgl. Stichweh 1996, S. 51 1289 Nittel 2000, S. 45 1290 Vgl. Nittel 2000, S. 50 1291 Nittel 2000, S. 58

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5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

„deutlicher herauszuarbeiten, dass Professionalisierung nur ein bestimmtes Lösungsmuster für spezifische Probleme in einigen Funktionssystemen ist.“1292 Von Professionalisierung kann überall dort die Rede sein, wo eine „signifikante kulturelle Tradition (ein Wissenszusammenhang), die in der Moderne in der Form der Problemperspektive eines Funktionssystems ausdifferenziert worden ist, in Interaktionssystemen handlungsmäßig und interpretativ durch eine auf diese Aufgabe spezialisierte Berufsgruppe für die Bearbeitung von Problemen der Strukturänderung, des Strukturaufbaus und der Identitätserhaltung von Personen eingesetzt wird“.1293 Aufgrund der Professionalisierung erhält die Profession in ausdifferenzierten Funktionssystemen einen „kulturell-semantischen Schwerpunkt“1294 und darum einen gesamtgesellschaftlichen Bezug. 5.2.1.2 Machttheoretischer Ansatz der Professionstheorie (Larson/Daheim/Rabe-Kleberg) Der machttheoretische Ansatz (makrosoziologischer Ansatz) wird vor allem mit den Namen Larson (1977), Daheim (1992) und Rabe-Kleberg (1996) verbunden. Aus dieser professionstheoretischen Perspektive geht es um die zentrale Frage, „inwieweit und unter welchen Bedingungen Professions-Mitglieder aufgrund der Stellung oder Bedeutung ihrer Tätigkeit Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern und sozialen Aufstiegsmöglichkeiten haben. Den Professionsinhabenden wie auch den Professionen wird in diesem Modell das Charakteristikum eines ,ehrenhaften Status‘ zugesprochen.“1295 In diesem Ansatz wurde den Professionen von der Gesellschaft die Erlaubnis erteilt, in bestimmte Bereiche der Privatsphäre ihrer Mitglieder einzugreifen. Da die Gesellschaft auf die Leistungen der Professionen (Heilen, Recht sprechen …) angewiesen ist, werden den entsprechenden Berufsgruppen besondere Privilegien zugesprochen. Neben den klientenorientierten Fähigkeiten spielt bei den Professionen der Erhalt der ihnen gewährten Privilegien eine wichtige Rolle. Hierzu üben sie auch eine Kontrolle über ihren jeweiligen Markt aus. „Im Zentrum dieser Modelle und ihrer späteren Fortentwicklungen stehen Überlegungen zur makrosoziologischen Zugänglichkeit zu berufsbedingten Sozialprivilegien einer Profession, also Überlegungen zu der Frage, wann und unter welchen Bedingungen ein Berufsbereich den Status einer Profession erlangt. 1292 Stichweh 1996, S. 57 f. 1293 Stichweh 1994, S. 372 f. 1294 Stichweh 1996, S. 66 1295 Schwarz 2013, S. 11

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Dem Ansatz des Machtmodells nach versucht eine ,Elite‘ der Praktiker dafür mittels Verbandsbildung samt Ideologie der gesellschaftlichen Verantwortlichkeit und unter Ausnutzung ihrer Verbindungen zu ‚den Herrschenden‘ Lizenz und Mandat zu erwerben und damit ihren Markt zu kontrollieren.“1296 „Nach Larson (1977) liegt dem Prozess der Professionalisierung eine Ideologie zugrunde, die ein wesentliches Element der gesamten kapitalistischen Wirtschaftsordnung darstellt. Machtorientierte Professionalisierungsstrategien werden nicht nur von einzelnen Professionsgruppen, sondern auch von staatlichen und bürokratischen Organisationen eingesetzt. Unter dem Aspekt des Berufsethos können Organisationen die Absicht verbergen, ihre einmal erreichte bürokratische Macht zu sichern bzw. zu legitimieren. Für die Professionen, welche für sich die Zuständigkeit der zentralen Werte der Gesellschaft reklamieren, dient der Aufbau eines Berufsethos dazu, die bürokratische Machtposition über die Klienten zu verschleiern.“1297 „Professionalisierung als Mittelschicht-Projekt der Berufsaufwertung durch mehr Ausbildung, eingeleitet von Kollegenschaft, Arbeitgebern oder Staat. Immer ist die Verbindung zum höheren Ausbildungswesen wichtig. Soweit das Projekt gelingt, ergeben sich für die Berufsangehörigen materielle und immaterielle Privilegien, insbesondere Autonomie des beruflichen Handelns.“1298 Aus machttheoretischer Perspektive ermöglichen Berufe die Monopolisierung privilegierter Erwerbschancen durch soziale Schließungsprozesse.1299 Eine Profession ist zusätzlich durch „die institutionalisierte öffentliche Anerkennung und damit die Zuerkennung von Autonomie“1300 gekennzeichnet. Im Unterscheid zu sogenannten ,Semi-Professionen‘ sind nach Daheim ,Echte Professionen‘ dadurch definiert, dass ihnen als Gruppe alle drei Formen (Handlungsautonomie, Organisationsautonomie, Klientenautonomie) der Auto-

1296 Daheim 1992, S. 23 zit.n. Schwarz 2013, S. 12 1297 Sarfatti-Larson 1977, S. 220 zit.n. Albert 1998, S. 38 1298 Daheim 1992, S. 25 zit.n. Schwarz 2013, S. 12 1299 Kalkowski/Paul 2011, S. 37 1300 Daheim 1992, S. 26

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nomie1301 zuerkannt werden.1302 Eliot Freidson (2001) sieht in der Autonomie des Handelns das zentrale Merkmal des Professionalismus.1303 Die Autonomie der Professionen auch in Bezug zu ihrer Beruflichkeit insbesondere in der Kontrolle der Arbeitsbedingungen besitzen, d.h. sie haben Definitionsmacht für die Berufsausbildung, der Kontrolle über den Marktzutritt und über die Definition, Organisation und Bewertung ihrer Leistungen.1304 Im Gegenzug zur zugestandenen Autonomie werden von Professionals hervorragende Leistung und eine berufsethische Selbstverpflichtung erwartet, welche die Gesellschaft mit hohem Prestige, Einkommen, gesellschaftlich hohem Status und Macht belohnt. So stehen auch nach Tenorth (1999) für eine Profession drei Grundbegriffe im Mittelpunkt. Neben Ethos, Kompetenz ist es auch der Status.1305 5.2.1.3 Strukturtheoretischer Ansatz der Professionstheorie (Oevermann) „Im strukturtheoretischen Zugang (mikrosoziologischer Ansatz) steht bei Oevermann vor allem die Strukturlogik des professionellen Handelns im Mittelpunkt der Betrachtung.“1306 In den anderen Professionstheorien sieht Oevermann ein strukturtheoretisches Defizit, da sie eine Erklärung, wie die professionellen Tätigkeiten ablaufen, offenlassen.

1301 Anmerkung: Drei Formen der Autonomie: „Handlungsautonomie = Eine den Professionen zugesprochene Besonderheit ist die der sog. Handlungsautonomie. Diese impliziert eine Kontrolle der eigenen Tätigkeit bzw. die Kontrolle der eigenen Profession. Professionen entziehen sich somit der Kontrolle durch Laien, Externe oder Organisationen bzw. der Berufsgruppe wird die Autonomie zugesprochen […]. Organisationsautonomie = Mit der zunehmenden Verlagerung von Dienstleistungen in große Organisationen und somit der Reduktion des klassischen Freiberuflerstatus, wird die Frage nach Organisationsautonomie aufgeworfen. Nach Hughes (1971) erbringen die Professionellen in Organisationen Leistungen für den Klienten unter einer bürokratischen Kontrolle durch ein System, welches strukturlogisch keine Befugnis zur Kontrolle über die Arbeit des Professionellen hat, da sie professionsfremden Prämissen folgt. […] Klientenautonomie = Hierunter wird verstanden, dass sich das Handeln der Professionellen der Kontrolle durch den Klienten entzieht. Diesem wird als Laien bereits seit Parsons die Kompetenz zur Beurteilung der professionellen Handlung durch eine asymmetrische, auf unterschiedlichen Wissenshintergründen basierende Beziehung, abgesprochen.“ (Schämann 2005, S. 28) 1302 Vgl. Daheim 1992, S. 26 1303 Freidson 2001, zit.n. Klatetzki 2012, S. 169 1304 Vgl. Mieg 2006, S. 343 1305 Vgl. Tenorth 1999, S. 438, zit.n. Schwarz 2013, S. 8 1306 Helsper/Krüger/Rabe-Kleberg 2000, S. 7

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Oevermann beschreibt, „angelehnt an das Modell (psychoanalytischer) therapeutischer Praxis – das Verhältnis zwischen Professionellen und Klienten als ein ,Arbeitsbündnis‘ […], das auf der Basis wechselseitigen Vertrauens mit klaren Regeln für die Beziehung strukturgebend und durch das diskrepante Verhältnis zwischen dem ,diffusen‘ Aspekt des Vertrauensverhältnisses und dem ,spezifischen‘ Aspekt der Rollenbeziehung gekennzeichnet ist.“1307 „Zentrale Funktion des Professionellen innerhalb dieses Arbeitsbündnisses besteht in dem Akt der ,stellvertretenden Deutung‘. Diese erfolgt, indem der Professionelle die Sinnstruktur der konkreten Interaktion entziffert, und zwar über die Bedeutung des Berichteten hinaus, also ,jenseits des subjektiv Gemeinten und Intendierten und des Mitgeteilten‘„1308. „Die zugrunde liegenden Probleme werden dabei durch den Professionellen nicht gelöst, sondern es werden auf der Basis fallbezogener Rekonstruktionen und Interpretationen Deutungs- und Lösungsangebote für die Lebenspraxis des Klienten erarbeitet und diese innerhalb des Arbeitsbündnisses umgesetzt.“1309 Oevermann sieht die Aufgabe der Profession in der Vermittlung zwischen Theorie und Praxis im Hinblick auf die Lösung manifester Probleme von Klienten. Am Ausgangspunkt der strukturtheoretischen Professionstheorie von Oevermann steht die strukturelle Differenz zwischen Theorie und Lebenspraxis. Die Profession ist der Beruf, in dessen Rahmen die strukturell bedingt stets krisenanfällige ,autonome Lebenspraxis‘ der Klienten stellvertretend gedeutet und handelnd beeinflusst wird. Dies geschieht jedoch nicht von der Theorie aus, sondern in der Praxis. Auch spielt sich das Modell der ,autonomen Lebenspraxis‘ in einem paradoxen Verhältnis ab. Dem Prinzip der Fallstrukturgesetzlichkeit steht Spannung zwischen ,Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung‘ gegenüber.1310 Vor dem Hintergrund des Modells autonomer Lebenspraxis definiert Oevermann professionalisiertes Handeln als einen gesellschaftlichen Strukturort der „systematischen Erzeugung des Neuen“ bzw. „systematische Erneuerung durch Krisenbewältigung.“1311 Dabei orientiert er sich „am Modell des Idealtypus bei Max Weber und begreift die Profession im Rahmen modernisierungstheoretischer Bestimmungen als den sozialen Strukturort der stellvertretenden Generierung des Neuen und der 1307 Oevermann 1996, S. 148, zit.n. Pietsch 2009, S. 6 1308 Pietsch 2009, S. 7 1309 Pietsch 2009, S. 7 1310 Oevermann 1996, S. 77 1311 Vgl. Oevermann 1996, S. 88 ff.

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Krisenbewältigung“.1312 Durch eine stellvertretende Deutung verknüpft der professionell Handelnde sein generalisiertes Regelwissen und hermeneutisches Fallverstehen mit den Strukturproblemen der Lebenspraxis seiner Klienten. Professionelle Tätigkeiten haben nach Oevermann die Aufgabe, Krisen zu bewältigen. Die Strukturlogik des professionalisierten Handelns zeigt sich in der „eigenständigen Bearbeitung von Geltungsfragen.“1313 Dabei fokussiert Oevermann das professionelle Handeln auf drei Säulen:1314 1.

2.

3.

„Die Wahrheitsbeschaffung, also die systematische, methodisch angeleitete und intersubjektiv überprüfbare Bearbeitung von Geltungsfragen (Wissenschaft/Kunst).“1315 Die Beschaffung von Wahrheit bezieht sich auf die Klärung und Überprüfung bzgl. der „Geltung von Weltbildern, Werten, Normalitätsentwürfen und Theorien“1316 (Geltungsfragen und Geltungsansprüchen), für die professionalisierte Ausbildung und das professionelle Handeln. „Die Legitimationsbeschaffung, insbesondere im Bereich des politischen und rechtlichen Handelns.“1317 Bedarf und Legitimation nach professionellem Handeln begründen und erklären sich aus dem gesellschaftlichen Bedürfnis nach Aufrechterhaltung und Gewährleistung von Recht und Gerechtigkeit.1318 „Der Therapiebeschaffung im Bereich der physischen und psychosozialen Integritätssicherung.“1319 Wenn die „leibliche und psychosoziale Integrität einer gesellschaftlichen Teileinheit, also einer Lebenspraxis innerhalb eines gegebenen Kollektivs“ gefährdet ist, bedarf es einer professionellen Krisenlösung, um die gesellschaftliche Integrität zu schützen. Es geht hierbei um die „Beschaffung von therapeutischem Potential.“1320

„Für Oevermann ist die professionelle Praxis eine gesteigerte Praxisform, da sie stellvertretend deutend und damit in hohem Maße verantwortlich auf die Stärkung der Autonomiepotentiale der Lebenspraxis anderer zielt. Und zwar Personen, die entweder lebenspraktische Autonomie nicht erreicht haben oder aber 1312 Helsper/Krüger/Rabe-Kleberg 2000, S. 7 1313 Oevermann 1996, S. 85 1314 Vgl. Oevermann 1996, S. 88 ff. 1315 Helsper/Krüger/Rabe-Kleberg 2000, S. 7 1316 Oevermann 1996, S. 93 1317 Helsper/Krüger/Rabe-Kleberg 2000, S. 7 1318 Vgl. Oevermann 1996, S. 88 1319 Helsper/Krüger/Rabe-Kleberg 2000, S. 7 1320 Oevermann 1996, S. 91

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vorübergehend, situativ oder irreversibel darin beeinträchtigt sind. Für diese professionelle Praxis entwirft er anhand der idealtypischen Rekonstruktion des therapeutischen Settings die voraussetzungsreiche und prekäre Struktur eines professionellen Arbeitsbündnisses, das Vorkehrungen enthält, um die hochgradige Riskanz und Anfälligkeit dieser Beziehung für Abhängigkeit erzeugende Dynamiken kontrollieren und reflektiert handhaben zu können.“1321 Das Modell der Arzt-Patient-Beziehung in der medizinischen Therapie, die prophylaktische und therapeutische Interventionen zur Wiederherstellung beschädigter Integrität umfasst, stellt Oevermann als ein exemplarisch idealtypisches „Kern-Modell professionalisierten Handelns“1322 dar. 5.2.1.4 Interaktionistischer (handlungstheoretischer) Ansatz der Professionstheorie (Schütze) Die ,Grundlagen der Professionstheorie von Schütze‘ (1996) zählen zu den ,Merkmalen von Profession‘ und ,professionellem Handeln‘. Der professionsanalytische Ansatz von Schütze basiert auf der interaktionistischen Forschungstradition.1323 Dieser mikrosoziologische Ansatz unterscheidet sich vom strukturtheoretischen Ansatz vor allem dadurch, dass der normative Zugriff sowie die Abgrenzung zwischen Beruf und Profession nicht im Mittelpunkt stehen, sondern der interaktionistische Ansatz geht „stärker von der empirischen Erschließung der professionellen Praxis selbst aus“.1324 „Schütze konzentriert sich in seinem professionstheoretischen Ansatz auf das professionelle Handeln in seiner strukturellen Eingebundenheit, also im Kontext der Gesellschaft und auch der institutionellen Rahmenbedingungen. Die interaktionale Ebene zwischen dem Professionellen und dem Empfänger der professionellen Tätigkeit steht dabei im Zentrum seiner Betrachtung.“1325 „Aus dem interaktionistischen Fokus bestimmt er die Reflexivität und die Begründungsfähigkeit als typische Merkmale der Professionalität. Dabei nimmt Schütze eine handlungstheoretische Perspektive ein.“1326

1321 Helsper/Krüger/Rabe-Kleberg 2000, S. 7 1322 Oevermann 1996, S. 115 1323 Anmerkung: Diese Forschungsströmung entspringt der Theorietradition der Chicago-Soziologie und des Symbolischen Interaktionismus und geht vorrangig aus den Forschungsarbeiten von Everett Hughes, Anselm Strauss, Howard S. Becker und Eliot Freidson hervor. 1324 Helsper/Krüger/Rabe-Kleberg 2000, S. 7 f. 1325 Fenten 2011, S. 9 1326 Jossi 2013, S. 37

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„Im Gegensatz zur strukturtheoretischen Perspektive, welche eher ein idealisiertes Bild der Professionalität zeichnet, ist die handlungstheoretische Perspektive vor allem auf die Brüche der Professionalität fokussiert. Aus handlungstheoretischer Perspektive sind insbesondere die Zwänge, die beim professionellen Handeln auftreten, sowie die schwierigen Rahmenbedingungen, die aufgrund von widersprüchlichen Anforderungssituationen hervorgerufen werden, bedeutsam. In den systematischen Fehlern, die aus der Missachtung des spezifischen paradoxen Anforderungscharakters der professionellen Arbeit hervorgehen, liegt Schützes Interesse.“1327 Die Fehlentwicklungspotenziale werden dann wesentlich, wenn „systematische Bewusstmachungs- und Kontrollvorkehrungen nachlassen.“1328 Schütze geht davon aus, dass die ,Bewusstmachung‘ und die ,Berücksichtigung der unaufhebbaren Kernprobleme des professionellen Handelns‘ zentral für die Bestimmung einer Profession sind. Die Irritationen die beim professionellen Handeln entstehen sind notwendig, um ,Selbstvergewisserungs-, Selbstreflexions- und Selbstkritikverfahren‘ zu aktivieren.1329 Die Bestimmungsmerkmale einer Profession beschreibt Schütze auf der Grundlage interaktionistischer Prinzipien mit sieben zentralen Grundannahmen und Strukturkomponenten: Abbildung 40: Bestimmungsmerkmale einer Profession. (Quelle: eigene Darstellung in Anlehnung an Schütz 1996; 2000)



Lizenz und Mandat

„Eine Profession ist ein […] Orientierungs- und Handlungsbereich, in welchem […] Berufsexperten gesellschaftlich lizensierte Dienstleistungen, für die ihnen per gesellschaftlichem Mandat anbefohlenen1330 Klienten, […] vollbringen.“1331 Eine Profession hat von der Gesellschaft eine Lizenz (Erlaubnis) erhalten und sie führt ein Mandat (Auftrag) aus, um die ihr ,anbefohlenen‘ PatientInnen/KlientInnen in deren Problembewältigung zu unterstützen. Neben ihrer Orientierung an den zentralen Werten der Gesellschaft, haben Professionen auch „durch die Zuteilung knapper […] Dienstleistungen […] partiell an der Herrschaftsausübung der Gesellschaft und ihres Staates teil.“1332 „Durch den Besitz einer gesellschaftlichen Lizenz und eines gesellschaftlichen Mandats entsteht zwischen der Profession und der Anbefohlenen ein unaufhebbares Macht- und Beziehungsgefälle. Dabei impliziert das ,Anbefohlen sein‘ für 1327 Jossi 2013, S. 37 1328 Schütze 1996, S. 187 1329 Vgl. Schütze 1996, S. 187 zitiert in Jossi 2013, S. 37 1330 Anmerkung: Dabei ist das ,Anbefohlensein‘ im ,Idealfall‘ ein Kontrakt zwischen BerufsexpertInnen und KlientInnen auf freiwilliger Basis. (vgl. Schütze 1996, S. 135) 1331 Schütze 1996, S. 135 1332 Schütze 1996, S. 240

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

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die BerufsexpertInnen einerseits eine Fokussierung auf das Wohlergehen der PatientInnen/KlientInnen und andererseits stehen die ,Anbefohlenen‘ auch in einer Abhängigkeit zu den Professionellen.“1333 Die Professionellen verfügen dadurch über „mächtige Handlungsund Interaktionsverfahren der Problemverarbeitung.“1334 Basis der Handlung ist nach Schütze ein Arbeitskontrakt, der zwischen dem Professionellen und dem Patienten/Klienten ausgehandelt wird und der auf Grundlage der Freiwilligkeit, dem Vertrauen und einer gegenseitiger Kompetenzzuschreibungen besteht.1335 

Interaktionspostulate bezüglich der Herstellung eines Arbeitsrahmens

Bei der beruflichen Tätigkeit hält Schütze „einen kommunikativ-voraussetzungsvollen Arbeits- und Beziehungsrahmen“ als unverzichtbar. Bei der Herstellung eines Arbeitsrahmens ist daher „eine wechselseitige Sinnübereinstimmung hinsichtlich der Auffassung des zu bearbeitenden Problems“ wie auch die Herstellung einer „verlässlichen Vertrauensbasis“1336 von zentraler Bedeutung. Dieses Beziehungsarrangement hält Schütze als notwendige „idealisierende Interaktions-unterstellungen, […] um überhaupt interaktiv zu handeln […].“1337 Ohne die Vorstellung von wechselseitiger Kommunikation ist die berufliche Tätigkeit nicht denkbar. Professionelles Handeln ist somit im Idealfall immer durch vertrauensbasierte interaktive Aushandlungsprozesse zwischen den AkteurInnen gekennzeichnet. 

Organisationsrahmen

„In seiner Professionstheorie benennt Schütze das Spannungsfeld zwischen der ,Organisationsratio‘ und der ,Ratio des professionellen Arbeitsbündnisses‘ und zwischen den AkteurInnen. Die ,Organisationsratio‘ ist gekennzeichnet durch ,generalisierende‘ Absichten entgegen den Kernabsichten der ,Ratio des professionellen Arbeitsbündnisses‘, welche ,ganzheitlich‘, ,situationsbezogen‘ und ,fallindividualisierend‘ orientiert ist.“1338 „Dabei spricht Schütze von ,Steuerungsdirektiven‘ (wie beispielsweise Herrschaftsgefüge, Arbeitsroutinen, arbeitsteilige Kooperationen) die er als Arbeitsabläufe beeinträchtigende Wirkmechanismen wertet. Dem stellt er die Ausübung einer beruflichen Tätigkeit mit Einzelfallbezug gegenüber.“1339 Auch wirken nach Schütze ,Organisationskontexte‘ als Einflussfaktoren, in denen „von der Trägerorganisation hoffnungslos kurze Bearbeitungsphasen, hoffnungslos hohe Norm- Fallzahlen und hoffnungslos niedrige materielle Ressourcen aufgezwungen sind“ und solche, „welche die Autonomie und die eigenen Erkundungs- und Sinnlinien des professionellen Handelns gravierend beeinträchtigen oder unmöglich machen.“1340 Für Schütze erfährt die Autonomie der Profession Grenzen innerhalb der Organisationen. Die Professionen sind nicht völlig autonom, sondern in „innerbetriebliche und gesellschaftliche

1333 Fenten 2011, S. 11 1334 Schütze 1996, S. 184 1335 Vgl. Schütze 1996, S. 184 1336 Vgl. Schütze 2000, S. 64 1337 Schütze 2000, S. 61 1338 Vgl. Schütze 1996, S. 252, zit.n. Fenten 2011, S. 12 1339 Vgl. Schütze 1996, S. 193, zit.n. Fenten 2011, S. 12 1340 Schütze 1996, S. 253, zit.n. Fenten 2011, S. 12

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5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

Organisationskulturen eingebettet.“ 1341 Einerseits nutzt sie die organisatorischen Ressourcen und Abläufe und andererseits verhindert der organisatorische Rahmen die für die Identität der Profession sehr wichtige Autonomie. Daher spricht Schütze davon, dass die Profession ein ambivalentes, „prekäres und kritisches Verhältnis zu ihrer organisatorischen Einbettung“ hat.1342 

Soziobiografische Prozessstrukturen

Eine zentrale Anforderung an professionelle Tätigkeiten ist, dass die zu lösende Problematiken jeweils Projekt- und Fallcharakter haben. „Handlungs-, Erleidens- und Aufgabenbezüge“ 1343 des Klienten, sind in dessen Lebenssituation bzw. Lebenssphäre eingebettet. „Das professionelle Handeln bezieht sich […] auf komplexe biographische und soziale Prozesse in der Lebenssphäre der Klienten-Prozesse, die ihrer eigenen Entfaltungslogik folgen und mit der Logik des Professionellen-Handelns der Tendenz nach in Diskrepanz treten.“1344 Die ,Projekt- und Fallentfaltungen‘ folgen einer eigenen Steuerungsdynamik. Nach Schütze bestehen die Prozessstrukturen der Projekt- und Fallentfaltung aus vier Teilstrukturen:1345 ,Handlungsschemata‘, ,Wandlungsprozesse‘, ,Verlaufskurven‘ und ,institutionelle Ablaufmuster‘.1346 

Professionelle Sinnwelt

Die Sinnwelt, in denen sich die Profession befindet, hebt sich von der Alltagswelt ab, sodass das praktische Handeln in konkreten Situationen umgedeutet werden muss: „Eine Profession bildet eine besondere, heute nicht nur ethisch, sondern auch wissenschaftlich begründete Sinnwelt aus, die für das beruflich Handeln orientierungsrelevant ist und in die der Professionsnovize einsozialisiert werden muss.“1347

1341 Schütze 1996, S. 185 1342 Vgl. Schütze 1996, S. 185 1343 Schütze 1996, S. 191 1344 Schütze 2000, S. 62 1345 Anmerkung: Um die begründeten komplexen Anforderungsbedingungen professioneller Tätigkeit aufzuzeigen, ist es sinnvoll, die Prozessstrukturen einzeln zu läutern: ,Handlungsschemata‘ bilden die KlientInnen für die Bearbeitung bzw. Bewältigung ihrer lebenszentralen Probleme aus. Die ,Wandlungsprozesse‘ entsprechen Momenten der Veränderungen in Bezug auf die eigene Problembewältigung. „Es geht hierbei um ein inneres Wachstum […], was den Klienten erlaubt, kreative Fähigkeiten zu entwickeln, die sie vorher nicht hatten […]“ Konträr zu den Handlungsschemata und Wandlungsprozessen besteht die Möglichkeit der Ausbildung von ,Verlaufskurven‘. Diese Verlaufskurven folgen zwar auch einer eigenen Steuerungslinie, allerdings ist diese durch eine Erleidensbetroffenheit gekennzeichnet. Die betroffene Person erlebt sich als handlungsohnmächtig. Zugleich ist die Lebenssphäre der KlientInnen durch ,Institutionelle Ablaufmuster‘ geprägt. D.h. sie sind an eigene Erwartungen an die Handlungs- und Verlaufsdynamik gebunden. (vgl. Schütze 2000, 62 ff. zit.n. Fenten 2011, S. 14) 1346 Vgl. Schütze 2000, S. 62 f. 1347 Schütze 1996, S. 190

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

335

„Schütze folgt der Annahme, dass jede Profession über eine professionsimmanente ,Sinnwelt‘ verfügt, die er als ein weiteres konstitutives Element professionellen Handelns betrachtet. In Anlehnung an den Sozialphänomenologen Alfred Schütz, wird die ,professionelle Sinnwelt‘ von Schütze als ,höhersymbolisch‘ angesehen, da sie ,Sinnquellen‘ beinhaltet, welche wiederum eigenen Sinnsphären entstamme.“1348 Die ,Sinnquellen‘, basieren auf spezifischen wissenschaftlich sowie praktisch gewonnenen Erkenntnissen einer Profession, die für das professionelle Handeln als orientierungsrelevant erachtet werden.1349 Die Sinnquellen verfügen über die Eigenschaft, Wissen in Form von ,abstrakten‘ und ,generellen Kategorien‘ hervor zu bringen, die sich ständig verändern können. In Bezug auf die Problembearbeitung einer Profession müssen diese in konkreten Handlungsund Interaktionssituationen transformiert und mitberücksichtigt werden.1350 Darin besteht eine besondere Anforderung an professionelles Handeln. Das professionseigene Wissen soll schließlich dazu dienen, singuläre Fälle in ihrer Komplexität situativ analysieren und bearbeiten zu können. Gleichzeitig existiert durch den Besitz einer ,höhersymbolischen Sinnwelt‘ auf interaktionaler Ebene zwischen Professionellen und den AdressatInnen/bzw. KlientInnen, ein Wissensgefälle. Dies kommt in einem dadurch bedingten ,Wissensvorsprung‘ 1351 der Professionellen zum Ausdruck. „Die Profession steuert ihre Interaktion mit dem Klienten bzw. Patienten durch eine besondere Interaktionsmodalität, die vom Professionellen als Verfahrensverwalter in Gang gesetzt und aufrechterhalten wird. Innerhalb dieser Interaktionsmodalität werden Kundgaben des Klienten bzw. Patienten als ,höhersymbolisch‘, das heißt nicht-alltagsweltlich und nicht-unmittelbar, unter Ansehung der besonderen Wissensbestände der Profession interpretiert.“1352 „Schütze vertritt den differenztheoretischen Zugang zu Professionalität. Nach Schütze orientiert sich jede Profession an ,höhersymbolischen Sinnwelten‘1353, doch für ihn steht die konkrete Handlungssituation im Vordergrund.“ 

Profession als Spiegelbild gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse

„Die Profession ist einem gesellschaftlichen Wandel unterworfen. Die Anforderungen an eine Profession sind von den sozialen, politischen, technischen und ethischen Ansprüchen abhängig. Professionen unterliegen durch gesellschaftliche Modernisierungsprozesse einem permanenten Wandel. Somit ist auch die professionelle Sinnwelt einem ständigen Wandel unterworfen. Einerseits entstehen aufgrund von veränderten gesellschaftlichen Bedürfnissen neue Berufsfelder mit neuen Wissenskonfigurationen und andererseits muss innerhalb der Professionen eine Arbeitsteilung ausgehandelt werden.“1354 „So können im Zuge des Modernisierungsprozesses Berufssparten durch deren höhere gesellschaftliche Anerkennung andere Berufssparten in ihrem Handlungsbereich zurückdrängen.

1348 Schütze 1996, S. 184, zit.n. Fenten 2011, S. 14 1349 Vgl. Schütze 1992, S. 135 1350 Vgl. Schütze 1996, S. 191, zit.n. Fenten 2011, S. 14 1351 Vgl. Schütze 1996, S. 184/S.195, zit.n. Fenten 2011, S. 14 1352 Schütze 1996, S. 185 1353 Schütze 1996, S. 183 1354 Vgl. Schütze 1996, S. 195, zit.n. Jossi 2013, S. 40

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5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

Dies kann erhebliche Konflikte in der Arbeitsteilung verursachen.“1355 „Für die berufliche Orientierung der Professionellen bedeutet der permanente modernisierungstechnische Wandel schließlich eine stetige Anpassungsanforderung an die sich neu konstituierenden Strukturen und Bedingungen ihres Arbeitsarrangements.“1356 

Berufsbiografische Identifizierung

Professionen sind über bestimmte Zulassungsbedingungen zu erreichen und verlangen eine Abschlussprüfung. Nach Schütze entwickeln sich professionstypische ,berufliche Rollenmuster‘ und eine ,biografische Identität als Professioneller‘.1357 Sofern einer Profession ein eigener Orientierungs- und Handlungsbereich beigemessen wird, hat dies, je nach persönlicher Bedeutungszuschreibung, auch Konsequenzen für die personale Identität einer/s angehenden Professionellen. Schütze verweist in seinen theoretischen Überlegungen auf den Umstand, dass es im Zuge der Berufssozialisation zu einem Identifizierungswandel kommt. Von der personalen Identität zur „biographischen Identifizierung des Professionellen mit der Berufsratio seiner Profession und mit ihren Werten“1358 „Schütze erkennt in der starken Identifikation mit der Profession eine Gefahr des Ausbrennens des Professionellen.“1359 „Die starke biographische Berufsidentifizierung des Professionellen kann bei systematischen Schwierigkeiten im späteren Arbeitsablauf auch dazu führen, dass (sie) er vom Beruf ,ausgesaugt‘ wird, ,ausbrennt‘ und sich in eine zunächst schier unentrinnbar erscheinende Berufsfalle verstrickt […].“1360 Schütze merkt an, dass Professionelle sich mit Abwehrreaktionen gegen Einschränkungen und Übergriffe der Organisation wehren. „Durch die fortlaufende Ökonomisierung, Differenzierung, Technologisierung und technikartige Schematisierung professionellen Handelns kommt es auch zunehmend zu internen Organisationszwängen.“1361 Die berufsbezogene Identifizierung der Professionellen stellt im Rahmen der professions-analytischen Annahmen Schützes einen wesentlichen Gesichtspunkt dar, um auf potenzielle Fehler im professionellen Handeln hinzuweisen. So kann bspw. der Organisationsrahmen mit seinen Steuerungsdirektiven als unvereinbar mit der beruflichen Identifizierung der Professionellen erlebt werden.1362

„Teilsinnwelten einer ,höhersymbolischen Sinnwelt‘ werden durch modernisierungstechnische Veränderungen beeinflusst, indem sie selber einem Wandel unterzogen sind. Die einzelnen Gesichtspunkte stehen demnach in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander, insofern beispielsweise auch der Rückgriff auf

1355 Vgl. Schütze 1996, S. 195, zit.n. Fenten 2011, S. 10 1356 Fenten 2011, S. 10 1357 Schütze 1996, S. 185, zit.n. Jossi 2013, S. 39 1358 Schütze 1996, S. 192, zit.n. Fenten 2011, S. 15 1359 Schütze 1996, S. 192, zit.n. Jossi 2013, S. 40 1360 Schütze 1996, S. 192 1361 Schütze 1996, S. 193, zit.n. Jossi 2013, S. 40 1362 Vgl. Schütze 1996, S. 193, zit.n. Fenten 2011, S. 15

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

337

die Wissensbereiche professioneller Sinnwelten es ermöglicht, soziobiographische Prozesse der KlientInnen in ihren komplexen Zusammenhängen zu erfassen.“1363 „Angesichts der angeführten Kernmerkmale von ,Profession‘, aus denen unvereinbare Anforderungen für die Arbeit der Professionellen hervorgehen, aber auch aufgrund ihrer wechselseitigen Beziehungen untereinander, lässt sich bereits eine äußerst komplexe Struktur professioneller Tätigkeit erahnen.“1364 „Schütze orientiert sich an einem interaktionistischen Verständnis und stellt beim professionellen Handeln diejenigen Kernprobleme in den Vordergrund, bei denen sich Widersprüche zeigen. Der Umgang mit den Antinomien1365 ist somit ein konstitutives Merkmal der […] Professionalität.“1366 Im Kern geht es bei einer Profession um die Auseinandersetzung mit den Widersprüchen: „Die unaufhebbaren Kernprobleme bzw. Paradoxien des professionellen Handelns sind der paradoxe Interaktions- und Arbeitsausdruck der Strukturkomponenten der gesellschaftlichen Institution Profession.“1367 „Gerade bei Professionen und SemiProfessionen, die sich durch einen gewissen Berufsethos, eine hohe Identifikation mit dem Berufshandeln und einen Totalitätsanspruch an die eigene Person auszeichnen, ist von charakteristischen Paradoxien und Widersprüchlichkeiten auszugehen, die sowohl in der Persönlichkeit des Berufsinhabers wie auch im eigentlichen professionellen Berufshandeln begründet sind.“1368 „Die professionelle Tätigkeit bedeutet, sich bewusst zu sein, dass ein Fehlerpotential besteht und dass die Paradoxien nicht auflösbar sind, sondern eine Arbeitsrealität. Sobald der Prozess der Bewusstwerdung geschieht, können die Fehlerpotenziale und Handlungsparadoxien genutzt werden.“1369 Nach Schütze sind für die Professionen die „hoheitsstaatliche Herrschaftsausübung sowie die Steuerungs- und Verwaltungsabläufe“1370 problematisch. „Denn das professionelle Handeln ist eingebunden in die Organisation. Die Arbeit der Professionellen ist von der Steuerung der Arbeitsabläufe, den materiellen 1363 Fenten 2011, S. 16 1364 Fenten 2011, S. 16 1365 Anmerkung: Von griech. anti, ,gegen‘ und nomos, ,Gesetz‘: Selbstwiderspruch; eigentlich der Widerspruch des Gesetzes mit sich selbst. In der Philosophie bezeichnet Antinomie den Widerspruch zwischen zwei Sätzen, die zwar für sich genommen gültig sind, sich aber gegenseitig ausschließen. (http://www.philosophiewoerterbuch.de) 1366 Jossi 2013, S. 38 1367 Schütze 1996, S. 187 1368 Albert 1998, S. 55 1369 Jossi 2013, S. 39 1370 Schütze 1996, S. 188

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5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

und personellen Ressourcen abhängig. Die ,Zerbrechlichkeit‘ und ,Irritation‘ sowie die ,Widerstandfähigkeit und Autonomie professionellen Handelns‘ zeigen sich in den Aktivitätsbereichen der Bürokratie.“1371 „Nach Schütze enthält die professionelle Handlung ,Störpotential‘, weil es sich um eine soziale Situation handelt, die von Missverständnissen und Irritationen geprägt sein kann. Es gibt zwischen Professionellen und Klienten ein ,Wissens-, Könnens- und Machtgefälle‘, was zu einem Spannungsverhältnis führen kann. Trotz dieser asymmetrischen Ausgangslage müssen Professionelle und Klienten kooperieren. Das Störpotential lässt sich zwar thematisieren, aber nicht vollständig aufheben.“1372 „Die Paradoxien im professionellen Handeln bestehen darin, dass einerseits ,auf unsicherer empirischer Basis Prognosen über die Fallentwicklung‘ aufgestellt werden müssen. Anderseits müssen ,allgemeine Typenkategorien auf die Spezifität eines Falles‘ angewendet werden, auch wenn unklar ist, ob diese nun in diesem besonderen Fall zutreffen. Eine dritte Paradoxie liegt im Abwägen der Situation, zu welchem Zeitpunkt ein Eingreifen notwendig ist. Die Paradoxie zeigt sich darin, dass nicht bestimmt ist, ob ein Zuwarten oder eine Intervention angebracht ist.“1373 5.2.1.5 Zusammenfassende Gegenüberstellung der professionstheoretischen konstitutiven Merkmale Auch wenn die verschiedenen professionstheoretischen Ansätze in ihren Konzeptualisierungen sehr heterogen sind, lassen sich zusammenfassend wesentliche Charakteristika als konstituierende Merkmale einer Profession hervorheben.

1371 Schütze 1996, S. 188, zit.n. Jossi 2013, S. 39 1372 Schütze 1996, S. 193, zit.n. Jossi 2013, S. 40 1373 Schütze 1996, S. 194, zit.n. Jossi 2013, S. 40

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

339

Abbildung 41: Zusammenfassung der professionstheoretischen konstitutiven Merkmale. (Quelle: eigene Darstellung)

Professions-theo- Kurz-Skizzierung retischer Ansatz • Rahmen der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft für Teilsysteme • auf Interaktionssysteme angewiesen Systemtheoreti- • Die Beziehung der Profession zur Gescher Ansatz samtgesellschaft (Luhmann/Stich• Dabei ist der zentweh) rale Auftrag der Profession der = MakrosozioloStrukturaufbau, die gischer Ansatz Strukturerhaltung und Strukturveränderung menschlicher Identität • Professionelle Wissenssysteme sind wesentlich

Merkmale der Profession

• berufsständische Normen (code of ethics) und gesetzliche Beschränkung des Eigeninteresses, • exklusives Monopol für die Handlungskompetenz, Monopolisierung von Zuständigkeiten • Statusklärung • Tätigkeiten mit gemeinnützigen Funktionen von grundlegender Bedeutung (Gemeinwohlorientierung als berufsständische ,Ideologie‘) • lang andauernde theoretisch fundierte Ausbildungsgänge auf akademischem Niveau (Berechtigung zur Berufsausübung gekoppelt an Examen und Titel) • Profession bezeichnet eine komplexe Struktur, die weit über das qualifikatorische Ordnungsmuster eines Berufs hinausweist – sie ist ein besonders ausgewiesener akademischer Beruf, der ein für die gesellschaftliche Reproduktion zentrales Problem bearbeitet und das dazu erforderliche Wissen systematisch anwendet. Die Professionen entstanden zusammen mit den Universitäten und sie waren für diese konstitutiv. • lang andauernde • ehrenhaften Status, besondere Privilegien theoretisch fun• Teilhabe an gesellschaftlichen Gütern und sodierte Ausbilzialen Aufstiegsmöglichkeiten dungsgänge auf • selbst generiertes wissenschaftlich fundiertes akademischem NiMachttheoretiSonderwissen, spezielle Fachterminologie veau (Berechtigung (Definitionsmacht für die Berufsausbildung) scher Ansatz zur Berufsaus• hohe Autonomie in der Berufsausübung, (Larson, Daheim, übung gekoppelt Selbstkontrolle der Arbeitsbedingungen Rabe-Kleberg) an Examen und Ti(Handlungs-, Organisations- und Klientenau= Makrosoziolotel) tonomie) gischer Ansatz • (selbst generierte Standards der Leistungsbewertung und deren Kontrolle) • Ablehnung einer Laienkontrolle, Interessenvertretung durch Berufsverbände

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5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

Professions-theo- Kurz-Skizzierung retischer Ansatz

Strukturtheoretischer Ansatz (Oevermann) = Mikrosoziologischer Ansatz

Interaktionistischer Ansatz (Schütze) = Makrosoziologischer Ansatz

Merkmale der Profession

 Oevermann stützt das professionelle Handeln auf drei Säulen: o Wahrheitsbeschaffung o Legitimations-beschaffung o Therapiebeschaffung  Modell der ArztPatient-Beziehung ist ein exemplarisch idealtypisches ,Kern-Modell‘ professionalisierten Handelns

 Vor dem Hintergrund des Modells autonomer Lebenspraxis definiert Oevermann professionalisiertes Handeln als ein gesellschaftlicher Strukturort der ,systematischen Erzeugung des Neuen‘ bzw. ,systematische Erneuerung durch Krisenbewältigung‘.  Aufgabe der Profession ist die Vermittlung zwischen Theorie und Praxis im Hinblick auf die Lösung manifester Probleme von Klienten und Krisen zu bewältigen  Zentrale Funktion besteht im Akt der ,stellvertretenden Deutung‘.  Basis fallbezogener Rekonstruktionen und Interpretationen Deutungs- und Lösungsangebote für die Lebenspraxis des Klienten werden erarbeitet  Verhältnis zwischen Professionellen und Klienten als ein ,Arbeitsbündnis‘  Basis wechselseitigen Vertrauens mit klaren Regeln für die Beziehung strukturgebend  Ist durch spezifischen Aspekt der Rollenbeziehung gekennzeichnet

 Die Irritationen die beim professionellen Handeln entstehen sind notwendig, um ,Selbstvergewisserungs-, Selbstreflexionsund Selbstkritikverfahren‘ zu aktivieren  Paradoxien im professionellen Handeln  Bestimmungsmerkmale einer Profession beschreibt Schütze auf der Grundlage interaktionistischen Prinzipien mit sieben zentralen Grundannahmen

 Konzentration auf das professionelle Handeln in seiner strukturellen Eingebundenheit, also im Kontext der Gesellschaft und auch der institutionellen Rahmenbedingungen.  Die interaktionale Ebene zwischen dem Professionellen und dem Empfänger der professionellen Tätigkeit steht dabei im Zentrum seiner Betrachtung.  Aus dem interaktionistischen Fokus bestimmt er die Reflexivität und die Begründungsfähigkeit als typische Merkmale der Professionalität – dabei handlungstheoretische Perspektive – insbesondere sind es die Zwänge, die beim professionellen Handeln auftreten, sowie die schwierigen Rahmenbedingungen, die aufgrund von widersprüchlichen Anforderungssituationen hervorgerufen werden, bedeutsam.  In den systematischen Fehlern, die aus der Missachtung des spezifischen paradoxen Anforderungscharakters der professionellen Arbeit hervorgehen, liegt Schützes Interesse. Die Fehlentwicklungspotenziale werden dann

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

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Professions-theo- Kurz-Skizzierung Merkmale der Profession retischer Ansatz und Strukturkomwesentlich, wenn ,systematische Bewusstmaponenten: chung- und Kontrollvorkehrungen ‘nachlaso Lizenz und Mandat sen. Die ,Bewusstmachung‘ und die ,Berücko Interaktionspostusichtigung der unaufhebbaren Kernprobleme late bezüglich der des professionellen Handelns‘ zentral für die Herstellung eines Bestimmung einer Profession sind. Die IrritaArbeitsrahmens tionen die beim professionellen Handeln ento Organisationsrahstehen sind notwendig, um ,Selbstvergewissemen rungs-, Selbstreflexions- und Selbstkritikvero Soziobiografische fahren‘ zu aktivieren. Prozessstrukturen o Professionelle Sinnwelt o Profession als Spiegelbild gesellschaftlicher Modernisierung-sprozesse o Berufsbiografische Identifizierung

5.2.2 Professionalität durch Professionen, Experten und Semiprofessionen „In der Soziologie wird Expertenarbeit oft mit Professionalisierung gleich gesetzt. Selbst Andrew Abbott versteht sein Werk ,The System of Professions‘ (1998) als Analyse der Arbeit von Experten.“1374 „Nach Abbott stellt professionelle Arbeit die wichtigste Form der Industrialisierung von Kompetenz (Expertise) in Industriegesellschaften dar. Die gesellschaftliche Organisation von kompetenter Expertenarbeit ist mithin eine Frage der Organisation der Berufe bzw. des Systems of Professions. Kurz gefasst: Das System der Experten entspricht dem System der verberuflichten Arbeit.“1375 „Die Leistungen der Expertenorganisationen und ihre Produkte sind sehr vielschichtig, komplex und zeichnen sich durch eine notwendige Variabilität aus. Gleichzeitig ist die Palette der Aufgaben und Tätigkeiten der einzelnen Expertenorganisationen nicht nur sehr breit und vielfältig, sondern erweitert sich auch ständig.“1376 1374 Mieg 2008, S. 3266 1375 Mieg 2008, S. 3266 1376 Grossmann 1997, S. 31

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„Andrew Abbott (1988) hat hingewiesen, dass der professionelle Praktiker stets mit besonderen Fällen zu tun hat, und die Autonomie seines Handelns ist eine Voraussetzung dafür, dass er den Spezifika des Einzelfalls gerecht werden kann. Abbott unterscheidet drei Komponenten professioneller Arbeit: Diagnose, Inferenz und Behandlung. Mit Diagnose wird das vorliegende Problem analysiert, die Inferenz entscheidet auf dieser Basis über Maßnahmen, die dann bei der Behandlung umgesetzt werden. Als ,purley professional act‘ markiert die bei unklarer Verbindung von Diagnose und Behandlung durchgeführte Inferenz das Kerngebiet autonomen professionellen Entscheidens.“1377 „Nach Tietgens (1988) bedeutet Professionalität, die Fähigkeit nutzen zu können, breit gelagerte, wissenschaftlich vertiefte und damit vielfältige abstrahierte Kenntnisse in konkreten Situationen angemessen anwenden zu können. Oder umgekehrt betrachtet: in eben diesen Situationen zu erkennen, welche Bestandteile aus dem Wissensfundus relevant sein können. Es geht also darum, im einzelnen Fall das allgemeine Problem zu entdecken.“1378 „Professionalism means different things to different people.“1379 „Der Experte liefert sehr komplexe, nicht triviale […] Dienstleistungen, die technologisch nur sehr bedingt erzeugbar und kontrollierbar sind. Zentrale Leistungen der Organisation werden von einzelnen Experten meist direkt für den ,Kunden‘ (Patienten) erbracht und haben somit die Form einer Beziehung.“1380 „Professionen inzwischen werden mit wissensbasierten Berufen gleichgesetzt, die sich dadurch auszeichnen, dass diffus oder ergebnisoffen definierte Anforderungen im Rückgriff auf abstrakte Konzepte und Theorien sowie mit professionellen Problemlösungsstrategien gelöst werden müssen.“1381 „Professionelles Handeln im engeren Sinn ist demnach gekennzeichnet durch den Bezug auf eine spezifizierte Wissensbasis, die Erklärung-, und Handlungswissen bereitstellt, sowie durch fachliche Standards für ein angemessenes Verhalten sorgt.“1382

1377 Abbott 1988, S. 40, zit.n. Iseringhausen/Staender 2012, S. 194 1378 Tietgens 1988, S. 37, zit.n. Schicke 2012, S. 7 1379 Anmerkung: Übersetzung: „Professionalität bedeutet verschiedene Dinge für verschiedene Menschen.“ (Fox 1992, S. 22, zit.n. Evans 2008, S. 2) 1380 Grossmann 1997, S. 25 1381 Heidenreich 1999, Evetts 2003, Heisig 2005, S. 41, zit.n. Kalkowski/Paul 2012, S. 6 1382 Kalkowski/Paul 2012, S. 6

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Abbott bezeichnet Professionen als „exclusive occupational groups applying somewhat abstract knowledge to particular cases.“1383 „Professionelle haben es demnach im Prinzip mit stets einzigartigen Problemfällen von Individuen (,particular cases‘) zu tun, und sie bearbeiten diese jeweils besonderen Probleme auf der Basis verallgemeinerter, speziell wissenschaftlicher Wissensbestände. Nach Abbott ist dieses abstrakte wissenschaftliche Wissen das entscheidende Merkmal dafür, eine Berufsgruppe als professionell bezeichnen zu können.“1384 Demnach erfordert „Professionelles Handeln […] komplexes Expertenwissen“.1385 Klatetzki (2012) betont: „Das professionelle Handeln als ein kompetenzbasiertes Problemlösen, ist ein autonomes Handeln.“1386 Laut Mintzberg hat „ein Professional zwei grundlegende Aufgaben, nämlich erstens die Diagnose (Kategorisierung der Bedürfnisse der Klienten) und zweitens die Anwendung eines Verfahrens, das die identifizierten Bedürfnisse abdeckt. Diese Kategorisierung macht es möglich, die betrieblichen Aufgaben zu ordnen und relativ autonom agierenden ExpertInnen zuzuweisen. Dadurch ist wenig an Koordination mit anderen ExpertInnen notwendig, was Zeit für die Perfektionierung der eigenen Qualifikation bringt. Da es die Experten sind, die die Kunden und Klienten unmittelbar und persönlich betreuen, beanspruchen sie in der Regel auch erhebliche Ermessensfreiheit.“1387 Ärzte und Pflegefachpersonen arbeiten z.B. weitgehend ohne Einblick der Vorgesetzten und haben große Ermessensfreiheit. Da ihre Ausbildung standardisiert ist, wissen Kollegen (desselben Fachbereichs) untereinander, was sie voneinander erwarten können. Andererseits sind Expertenorganisationen oft sehr diversifiziert, da häufig ExpertInnen verschiedenster Fachbereiche in einer Organisation zusammenarbeiten.1388 „Die Ergebnisse sind sehr schwer messbar und Qualitätskontrollen können daher äußerst schlecht standardisiert oder an Externe (wie Manager) übertragen werden. Da es zudem auch keinen verbindlichen quantitativen Maßstab gibt, an dem die Zielerreichung eindeutig gemessen werden kann, unterliegt die Beurteilung der Qualität ebenfalls sehr stark der Selbstkontrolle der Experten. Daher 1383 Anmerkung: Übersetzung: „exklusive Berufsgruppen, die in bestimmten Fällen etwas abstraktes Wissen anwenden.“ (Abbott 1988, S. 8) 1384 Klatetzki 2012, S. 167 1385 Dexheimer 2011, S. 1 1386 Klatetzki 2012, S. 168 1387 Mintzberg 1992, S. 260 1388 Mintzberg 1992, S. 274

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5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

beschränken sich die einzelnen Experten im Krankenhaus auf die selbstverantwortliche Einhaltung ihrer eigenen wissenschaftlich abgesicherten und anerkannten professionellen Standards und überlassen in einem sehr arbeitsteiligen Prozess die anderen Bereiche weitgehend den anderen Professionen mit deren Standards.“1389 „Handlungsregeln und Standards der Profession basieren und wissenschaftlichen Begründungsanforderungen entsprechen. Im Rahmen der Ausbildung ist es aus diesem Grund erforderlich, die Grundvoraussetzungen für die Annahme eines professionellen Habitus zu legen. […] Es geht sowohl um die Auseinandersetzung mit den zentralen Werten als auch um die berufsspezifischen ethischen Grundhaltungen in den Handlungspraxen.“1390 Professionalität stellt heute „die schwer bestimmbare Schnittmenge aus Wissen und Können“ dar, gemeint damit ist eine „spezifische Mischung aus berufsbezogenem Wissen, situationsbezogenem Können und berufsethischen Haltungen.“1391 „Der kollegiale und fachliche Austausch sowie der tägliche Umgang mit sozialen Problemen wird zur zentralen prägenden Instanz für die Herausbildung von Fachlichkeit und Professionalität.“1392 „Professionelles Handeln im engeren Sinn ist ein Handeln, das von einer relevanten Kollegenschaft als ein formalen und informellen Standards konformes Handeln wahrgenommen wird.“1393 „Die professionellen Mitarbeiter sind nicht nur für ihre eigene Arbeit verantwortlich, sondern streben auch die kollektive Kontrolle über die ihre Arbeit betreffenden administrativen Entscheidungen an – beispielsweise hinsichtlich der Einstellung und Beförderung von Kollegen oder der Verteilung von Ressourcen.“1394 „Evetts unterscheidet zwischen Professionalität (professionalism) als einem beruflichen Wert (im Sinne der oben beschriebenen Könnerschaft und der systematischen und effizienten Ausführung von Tätigkeiten); Professionalität als Ideologie zur Unterstützung der Marktabschottung spezieller Gruppen und Profes-

1389 Grossmann 1997, S. 31 1390 Schicke 2011, S. 139 1391 Terhart 2007, S. 460 1392 Ackermann/Seeck 1999, S. 197 f. 1393 Kalkowski/Paul 2011, S. 39 1394 Mintzberg 1992, S. 266

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sionalität als Diskurs über beruflichen Wandel, der entweder über berufsgruppenspezifische oder organisationelle Akteure, die Standards, Kontrollen und Prozeduren festlegen, bestimmt wird.“1395 Freidson (2001) hebt die institutionelle Einbettung von Professionalität (professionalism) hervor: „In the most elementary sense, professionalism is a set of institutions which permit the members of an occupation to make a living while controlling their own work“.1396 Und Hoyle (1975) erklärt die Professionalität (professionalism) als „those strategies and rhetorics employed by members of an occupation in seeking to improve status, salary and conditions.“1397 Umgangssprachlich steht nach Kalkowski/Paul (2011) „Professionalität für Könnerschaft und eine systematische und effiziente Ausführung von Tätigkeiten, ohne nähere Bestimmungen des professionellen Handelns und Verhaltens. Unprofessionell sind demgegenüber willkürliches Vorgehen und ein Handeln, bei dem sich jemand von seinen Gefühlen leiten lässt. Die semantische Besonderheit dieses Sprachgebrauchs besteht vor allem darin, dass Professionalität nicht an Berufe und Professionsbildung gebunden ist.“1398 Auch für Tietgens (1988) ist Professionalität nicht an die Bedingung eines wissenschaftlichen Qualifizierungsprozesses gebunden, sondern eine Anforderung der Praxis, denn Berufsangehörige arbeiten in wenig strukturierten, offenen Situationen, die „nichtlineare Such-, Findungs- und Entscheidungsprozesse“1399 implizieren. Kalkowski/Paul (2011) beantworten die Frage, ob es eine Professionalität ohne eine Profession gibt: „Grundsätzlich muss Professionalität nicht unbedingt gesetzlich verpflichtende Standards oder Ausbildungs- und Berufszertifikate zur Voraussetzung haben. Sie kann auch auf einer ,Selbstverpflichtung‘ der in dem Feld tätigen Akteure zu professionellem Handeln und zum Aufbau entsprechender Kompetenzen beruhen. Zwar basiert Professionalisierung auch dann noch auf Institutionen, auf einer fachlichen Organisation, einer spezifizierten Wissensbasis und auf Standards professionellen Handelns, sie ist jedoch nicht zwangsläufig 1395 Evetts 2005, S. 4, zit.n. Kalkowski/Paul 2011, S. 39 f. 1396 Anmerkung: Übersetzung: „Im einfachsten Sinne ist Professionalismus eine Reihe von Institutionen, die es den Berufsangehörigen erlauben, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, während sie ihre eigene Arbeit kontrollieren.“ (Freidson 2001, S. 17) 1397 Anmerkung: Übersetzung: (Professionalität) als „jene Strategien und Rhetorik, die von Angehörigen eines Berufs eingesetzt werden, um den Status, das Gehalt und die Bedingungen zu verbessern“. (Hoyle 1975, S. 315, zit.n. Evans 2008, S. 23) 1398 Kalkowski/Paul 2011, S. 39 1399 Tietgens 1988, S. 39, zit.n. Schicke 2011, S. 101

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mit einem Zuständigkeitsanspruch einer bestimmten Gruppe von Akteuren für einen bestimmten Handlungs- und Problemlösungsbereich und einen exklusiven fachlichen Zugang zu einem Tätigkeitsbereich verknüpft.“1400 Professionalität ist „nicht an die soziale Form Profession gebunden, sondern beschreibt die besondere Qualität einer personenbezogenen Dienstleistung auch über den institutionellen Komplex der anerkannten Professionen hinaus“.1401 Beispielsweise stellt der Beruf der Manager keine Profession dar (u.a. ist der Berufstitel nicht geschützt und auch die Ausbildung ist keinerlei Regelungen unterzogen), dennoch können Manager Professionalität im Handeln zum Ausdruck bringen, wenn sie theoriegeleitet und konzeptionell arbeiten und ihre Entscheidungen nachvollziehbar transparent gestalten. Fuhr (1991) differenziert in klassische Professionen und in Expertenberufe. Es gibt durchaus Berufe, die eine hohe spezifische Wissensbasis und Expertise haben, also echte Experten in ihrem Fach sind und auch gesellschaftliche Anerkennung erfahren, aber nicht die spezifischen Merkmale einer Profession aufweisen können.1402 Für Abbott stellt sich die Frage, „how societies structure expertise. Professionalism has been the main way of institutionalizing expertise in industrialized countries.“1403

Wenn man Professionalisierung mit Bezug auf Verberuflichung (auf Makro- wie Mikroebene) und Expertisierung mit Bezug auf die Nutzung von Expertenwissen bzw. von Expertise begreift, so muss die Nutzung von Expertenwissen nicht immer an das Mitwirken professioneller Experten gebunden sein.1404 Nach der Expertenforschung gibt es „jedoch gute Gründe, zwischen Expertisierung und Professionalisierung zu unterscheiden. Zum Beispiel finden sich in vielen Bereichen relative Experten beziehungsweise Expertise ohne Professionalisierung. Relative Experten verfügen nicht über die Ausbildung und Qualifizierung wie professionalisierte Experten, leisten aber ähnliche Arbeit. […] Das Phänomen der relativen Experten geht mit sehr praktischen Konsequenzen einher,

1400 Kalkowski/Paul 2011, S. 40 1401 Nittel 2011, S. 48 1402 Fuhr 1991, S. 29 1403 Anmerkung: Übersetzung: „Wie Gesellschaften Wissen strukturieren. Professionalisierung war der wichtigste Weg, um das Know-how in den Industrieländern zu institutionalisieren.“ (Abbott 1988, S. 323) 1404 Mieg 2008, S. 3265

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

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zum Beispiel dem Konfliktpotential in der Zusammenarbeit mit professionalisierten Experten.“1405 Schützeichel verbindet drei Wissenstypen1406, die von besonderer Bedeutung sind: 1. Laie: Der Laie stammt von dem griechischen Wort ,idiotes‘ ab, das so viel bedeutet wie der Privatmann. In Abgrenzung zum Experten gilt der Laie als Nicht-Fachmann, der nicht über eine spezifische Qualifikation verfügt. Stereotypisch treten Laien als Nachfrager von angebotenen Leistungen der Experten auf.1407 2. Experte: Ein Experte verfügt über ,Expertise‘, um Güter und Dienstleistung zu erstellen, die einen ökonomischen Wert haben. Dies ist aber nicht nur davon abhängig, wie viel Wissen sich eine Person angeeignet hat, sondern auch, ob die Gesellschaft ihn aufgrund seines Könnens als Experten einschätzt. Deshalb spricht Schützeichel davon, dass Expertentum auf einem Zuschreibungsprozess beruht und damit Expertentum eine soziale Relation ist. Durch ihr Wissen bekommen Experten eine funktionale Autorität, durch die sie einen sozialen Einfluss auf die Gesellschaft ausüben können.1408 3. Professionen: Professionen sind eine bestimmte Gruppe von Experten. Die Tätigkeit von Professionen ist an spezielle Zertifikate, Zulassungen und Mitgliedschaften in bestimmten Berufsverbänden gebunden. Hierzu zählen beispielsweise Anwälte, Hebammen, Architekten oder Optiker. Sie beschäftigen sich mit einem spezifischen Handlungsproblem und müssen sich somit auch mit spezifischen Wissensproblemen auseinandersetzen.1409 Aus der soziologischen Sichtweise zeigt sich diese Untergliederung in den Prozessen der kognitiven-sozialen Arbeitsteilung, indem Experten oder Professionen bestimmte Aufgaben in der Gesellschaft übernehmen, da sie über das nötige Wissen verfügen.1410 1405 Mieg 2008, S. 3266 f. 1406 Anmerkung: Zentrales Anliegen der Wissenssoziologie ist es, eine Wissenstopografie der Gesellschaft zu erstellen. Dazu werden verschiedene Wissenstypen kategorisiert, nach Merkmalen wie ,Wissensformen‘ und ,angewandten Sozialformen‘. (vgl. Schützeichel 2007, S. 546) 1407 Vgl. Schützeichel 2007, S. 547 1408 Vgl. Schützeichel 2007, S. 549 1409 Vgl. Schützeichel 2007, S. 550 1410 Vgl. Schützeichel 2007, S. 549

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Besonders interessant an der Definition von Schützeichel ist, dass erkannt wurde, welchen großen Einfluss Experten und Professionen durch ihr Wissen auf die Gesellschaft ausüben können. In seinem Fazit bleibt allerdings offen, in welche Richtung sich die Gesellschaft zukünftig bewegen wird. In die Richtung der Professionalisierung, der allgemeinen Aufwertung wissensbasierter Berufe oder in Richtung der Deprofessionalisierung.1411 Auf die Frage, wie Unternehmen das Expertentum zukünftig in ihren Organisationsformen institutionalisieren wollen, gibt es heute noch keine allgemeingültige Antwort.1412 Ein „,Experte‘ ist letztlich eine Form von Interaktion, in deren Mittelpunkt die Attribution von Expertise auf eine Person, den Experten steht. […] Der ,Experte‘ ist eine Attribution durch jemanden (,Andere‘) auf eine Person aufgrund eines unterstellten Kompetenz- bzw. Expertisengradienten. Mit dieser Attribution wird die eine Person ,Laie‘, die andere ,Experte‘.“1413 Somit ist ein „,Experte‘ eine soziale Form der Nutzung von Wissen, das die Personen verkörpern.“1414 Und der „Gebrauch der sozialen Form ,Experte‘ geht mit der Attribution von ,Expertise‘ auf eine Person einher.“1415 „Peters legt ihrer aktuellen Studie zur Erwachsenenbildungs-Professionalität (2004) folgendes Verständnis von Professionen in Abgrenzung zu nichtprofessionellen Expertenberufen zugrunde: Eine Profession bearbeitet in spezifischer Weise wesentliche und komplexe Belange von Personen, oft gemeinsam mit ihnen und in direkter Interaktion. Die professionelle Dienstleistung ist zugleich von hoher gesellschaftlicher Bedeutung, weil die bearbeiteten wesentlichen Belange wie Gesundheit, Gerechtigkeit oder Bildung zugleich gesellschaftlich zentrale Werte darstellen. Aus dem Zentralwertbezug professioneller Arbeit ergibt sich die jeweilige professionelle Aufgabe von Professionen, zu deren Realisierung sie durch ihre Leistung in spezifischer Weise beizutragen haben. Professionen nehmen ihre jeweiligen Aufgaben und daraus resultierende Rollen- und Machtverhältnisse bewusst wahr und kontrollieren die Art der Aufgaben und Rollenwahrnehmung kollegial. 1411 Anmerkung: Deprofessionalisierung spiegelt sich in gesellschaftlichen Entwicklungen wie der Selbstorganisation beispielsweise in der Religion oder der Selbstexpertisierung von Laien (bspw. in der Medizin) wider. 1412 Vgl. Schützeichel 2007, S. 571 1413 Mieg 2008, S. 3271 1414 Mieg 2008, S. 3272 1415 Mieg 2008, S. 3272

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

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Sie gewährleisten und erweitern durch spezifische Berufsvorbereitung und berufliche Weiterbildung ständig das für die Wahrnehmung ihrer Aufgabe notwendige komplexe, allgemeine und spezifische Wissen und Können. Als für Personen und die Gesellschaft zugleich wichtige Dienste Leistende, die sich demokratischer Kontrolle teilweise entziehen, verfügen Professionen über eine je aufgabenspezifische Handlungs-Ethik, an der sie ihr Handeln orientieren. Im Interesse eines adäquaten, in erster Linie an der Professions-Aufgabe orientierten professionellen Handelns verfügen Professionen über eine relative Autonomie gegenüber ihrer Klientel und gegenüber ihren Auftrag-, Arbeitund Geldgebern.“1416 Eine weitere berufliche Gruppe im Krankenhaus, die sich an der Professionalität beteiligt, sind die Gruppe der ,Semi-Professionen‘. Unter einer ,echten‘ und ,VOLL-professionalisiert‘ Profession wird verstanden, dass sie alle Kriterien und charakterisierenden Merkmale einer Profession erfüllen. Ist eine Erfüllung der Kriterien nicht vollständig möglich und können sie nur einige Kriterien und Merkmale vorweisen, dann handelt es sich um eine ,Semiprofession‘. Nach Kalkowski/Paul unterscheiden sich ,Semi-Professionen‘ zu den ,echten Professionen‘ im Kern durch „kürzere Berufsausbildung, niedrigere[n] soziale[n] Status, weniger spezielles Wissen, keine Selbstkontrolle usw. Der Begriff Semiprofessionals hypostasiert damit den Status quo des hierarchischen Verhältnisses zwischen Professionen und Semi-Professionen, dessen Zweckmäßigkeit und Legitimität heute in vielen Bereichen (z.B. im medizinisch-therapeutischen Bereich) zunehmend in Frage steht.“1417 Der Begriff ,Semiprofessionals‘ wird mit Berufen wie z.B. dem des Pflegeberufs und auch mit den medizinischen Therapeutenberufen (z.B. Physiotherapeuten usw.) in Verbindung gebracht. Der Pflegeberuf ist z.B. nach Schaeffer ein typisches Beispiel für eine ,Semi-Profession‘, da diesem Beruf die „professionelle Autonomie fehlt oder diese nur vergleichsweise gering ausgebildet ist, und ebenso dadurch, dass ihre Wissensbasis und ihre Wertmaßstäbe fragwürdig sind.“1418 Diese ,Semi-Professionen‘ verfolgen seit einigen Jahren intensiv das

1416 Peters 2004, S. 74, zit.n. Schicke 2011, S. 64 f. 1417 Kalkowski/Paul 2011, S. 36 1418 Schaeffer 1994, S. 108

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Ziel der Professionsbildung, nicht zuletzt auch um die damit verbundenen Vorteile für die Berufsgruppe in Anspruch zu nehmen. Die nationalen und internationalen Bestrebungen der Professionalisierung des Pflegeberufs haben im Wesentlichen zum Ziel, ein höheres Maß an beruflicher Autonomie zu erlangen.1419 Es ist nicht zu erwarten, dass „das Streben der Pflege nach größerer Unabhängigkeit[…] die Arzt zentrierte Struktur der Versorgung ins Wanken bringen könnte. Dennoch markiert die Aufgabenverteilung und Kooperation zwischen Ärzten und Pflegekräften im Krankenhaussektor mit seinem wachsenden, von Innovationsanforderungen bestimmten Bedarf an flexiblen Teamstrukturen einen Strang künftigen Wandels.“1420 Die Professionen, Experten und Semiprofessionen im Gesundheitswesen haben alles etwas gemeinsam, denn sie nehmen alle „unter den Berufen eine besondere Stellung ein, da ihre Gegenstandsbereiche für die Gesellschaft von essentieller Bedeutung sind und sie über ein hohes Maß an gesellschaftlichem Prestige verfügen. Hervorgegangen aus einem Prozess der Verberuflichung einer gesellschaftlichen Aufgabe und ,gemeinwohlorientiert und auf den Erhalt der zentralen Werte einer Gesellschaft bezogen‘1421, verfügen sie über einen institutionalisierten disziplinären Wissenshorizont und eine etablierte Praxis.“1422 5.2.3 Innere Professionalisierung – ein Prozess zur beruflichen Identität und des professionellen Habitus Einerseits wird „Professionalisierung […] als Strategie verstanden, mit der eine Berufsgruppe ihre soziale Stellung anzuheben versucht.“1423 Es sind Motive wie ökonomische Interessen, Qualitätssicherung von Leistungen, Verbesserung des sozialen Status, Weiterentwicklung der Wissensbasis und auch Transparenz der Leistungen, welche die Professionalisierungsbestrebungen von Berufen erklären lassen.1424 Anderseits wird auf der „individuellen Ebene die Professionalisierung als die berufsbiographische Herausbildung eines professionellen Habitus“ bezeichnet.“ 1425 „Professionalisierung bezieht sich dabei sowohl auf die Erlangung eines 1419 Schroeter 2006, S. 53 ff. 1420 Vgl. SVR 2007, S. 41 ff., zit.n. Iseringhausen/Staender 2012, S. 188 1421 Welter-Enderlin; Hildenbrand 2004 1422 Dexheimer 2011, S. 1 1423 Kalkowski/Paul 2011, S. 37 1424 Kalkowski/Paul 2011, S. 38 1425 Kalkowski 2010, S. 5

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bestimmten Kompetenzniveaus als auch auf das Verhalten und Handeln von Personen. Den Orientierungsrahmen für die individuelle Professionalisierung bilden Institutionen wie die durch Fachorganisationen repräsentierte Wissensbasis, Ausbildungsgänge, Standards und Kriterien angemessenen professionellen Handelns, ethische Vorstellungen usw. Sie sind Ausdruck fachinterner Verständigung und dienen den Individuen als Reflexionsgrundlage für die eigene Praxis (berufliche Sozialisation, internalisierte Kontrolle usw.).“1426 Ein Merkmal von Berufen im Unterschied zu Professionen ist die striktere Trennung zwischen Alltag und Erwerbsleben. Die Ausübung eines Berufs ermöglicht einen radikaleren Wechsel zwischen den verschiedenen Rollen1427 (beruflich/privat), die eine Person innehat.1428 Somit ist „das Subjekt einer Profession1429 mit der Summe all jener beruflichen Rollenträger identisch, die im Besitz einer bestimmten beruflichen Lizenz und des damit korrespondierenden Berufswissens sind und somit von der personalen Seite her die Bedingungen für die Möglichkeit des professionellen Handlungssystems sichern.“1430 „Dabei sind es internalisierte, verdichtete Handlungsmuster, die dem Professionellen als Handlungswissen zur Verfügung stehen. Das Handlungsrepertoire umfasst die fünf Dimensionen1431 soziale Struktur, Interaktion, Sprache und Kommunikation,

1426 Kalkowski 2010, S. 5 1427 Anmerkung: Im Gegensatz zur Rollentheorie lässt sich mit dem Habituskonzept die Einheit der Person oder die Identität des Individuums fassen. Mit der Idee des Habitus entwickelt Bourdieu einen Begriff, der den verschiedenen Handlungen des Individuums eine Systematik verleiht. Mit ihm ist es möglich, die Kohärenz des Handelns, die unhintergehbar mit der Identität des sozialen Akteurs verknüpft ist, abzubilden. (vgl. Krais/Gebauer 2002, S. 70) Hier schließt das Habituskonzept an die Vorstellungen von Hiltrud von Spiegel an, die […] das Konstrukt der ,Person als Werkzeug‘ eingeführt hat. Hierunter subsumiert Spiegel die Fähigkeit der Fachkräfte, Können, Wissen und Haltung im beruflichen Alltag den jeweiligen Situationen bzw. Personen entsprechend einsetzen zu können. (vgl. Spiegel 2004, S. 84) 1428 Ebert 2011, S. 17 1429 Anmerkung: In der aufgabenbezogenen Professionstheorie, die „von den tatsächlichen Arbeitsaufgaben und beruflichen Handlungsmustern“ ausgeht, steht das „professionelle Selbst“ im Mittelpunkt. (Bauer/Kopka/Brindt 1996, S. 29 1430 Nittel 2000, S. 50 zit.n. Schicke 2011, S. 63 1431 Anmerkung: „Genauer betrachtet, setzt sich das professionelle Handeln strukturell aus drei Tätigkeiten zusammen: der Diagnose, der Inferenz und der Behandlung (Abbott 1988). Durch die Fähigkeit zur Diagnose von Alltagsproblemen auf der Basis wissenschaftlichen Wissens können die Professionellen Aspekte der Realitäten wahrnehmen, die Laien nicht in der Lage sind zu erkennen. Auf Grund dieser ,seherischen‘ Kompetenz haben Professionelle Zugang zu als objektiv geltenden Wirklichkeiten, die gewöhnlichen Menschen verschlossen sind. Wenn das Problem diagnostiziert ist, stellt sich in einem zweiten Schritt die professionelle Aufgabe, Schlussfolgerungen aus dem Befund über die Realität zu ziehen.“ (Klatetzki 2012, S. 168)

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Gestaltung sowie Hintergrundarbeit und Diagnosekompetenz.“1432 Die Erfüllung dieses Handlungsrepertoires „ist hauptsächlich ein Indikator der beruflichen Kompetenz. […] Im idealen Fall sind dabei persönlich definierte und durch Normen definierte berufliche Ziele deckungsgleich bzw. zumindest kompatibel. Die Übereinstimmung dieser Ziele bzw. der Zusammenhang zwischen den durch das externe Norm- und Regelsystem definierten und den sich aus dem personalen Wertesystem ergebenden Zielen ist somit als ein Indikator des Grads der beruflichen Identifikation zu verstehen.“1433 „Professionalität als Teil der beruflichen Identität […] wird in der Regel als gekonnte Beruflichkeit, als Indikator für qualitativ hochwertige Arbeit verwendet und hebt damit Professionelle von Laien ab. Im Selbstverständnis der Mitglieder eines Berufsstandes wird er auch interessengeleitet genutzt, um vermeintlich richtiges von vermeintlich falschem beruflichem Handeln abzugrenzen und den eigenen beruflichen Interaktionsstil zu etikettieren.“1434 Daher dient er auch als Instrument der Abgrenzung, um „Abstand zu einer als profan geltenden Praxis herzustellen.“1435 „Von den Angehörigen einer Profession wird auch dann eine bestimmte, sich aus ihrem Verantwortungsbereich herleitende ethische und moralische Orientierung erwartet, wenn sie den beruflichen Kontext verlassen haben. Diese übergreifenden Werthaltungen werden am deutlichsten im Ansatz des professionellen Habitus thematisiert.“1436 „Ein berufsspezifisches ethisches Engagement, das auch den Alltag mitbestimmt, kennzeichnet […] die Professionen und gilt […] z.B. in den Bereichen der Medizin […] als Kernelement eines professionellen Habitus.“1437 Als Basis zur Gründung einer autonomen Berufspraxis verfolgt die Professionalisierung1438 die Herausbildung der beruflichen Identität und die berufsbio-

1432 Klatetzki 2012, S. 168 1433 Heinzer/Reichenbach/Maiello 2013, 40 f. 1434 Vgl. Nittel 2000, S. 15 1435 Vgl. Nittel 2000, S. 15 1436 Ebert 2011, S. 17 1437 Ebert 2011, S. 17 1438 Anmerkung: „Arnold (1983) versucht ein ganzheitliches Modell von Professionalisierung zu entwerfen, welches sowohl die soziologischen Strukturmerkmale als auch die Subjektivität des Berufsvollzugs mit seinen berufsethischen, lebensweltlichen und lebensgeschichtlichen Bezügen miteinbezieht. Eine Differenzierung des Professionalisierungsbegriffs ist notwendig, um seine Verwendung eindeutiger zu ermöglichen. Arnold (1983, S. 23 ff.) unterscheidet zwischen verschiedenen Professionalisierungsbegriffen:

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grafische Herausbildung eines professionellen Habitus, deren Prägungen in einem langen akademischen Studium und einer lernenden Assistenzzeit in der entsprechenden Berufspraxis erfolgt. Professionalisierung bedeutet „die Ausgestaltung der im Studium und in der Berufspraxis inkorporierten Kompetenz zu einer gewohnheitsmäßigen Deutung der Welt in der jeweiligen professionellen Einstellung geprägt und bedarf einer kontinuierlichen beruflichen Weiterbildung und kollegialen Selbstkontrolle (kollegiale Beratung) auf wissenschaftlicher Begründungsbasis: Professionalisierung gründet in einem Bildungsprozess.“1439 Dabei werden die „Ziele von Professionalisierung eher in den Interessen von Akteuren verortet, die sich im Austausch mit anderen auf Qualitätsstandards professionellen Handelns verständigen, die ihnen als Reflexionsbasis für die eigene Praxis dienen und die nach außen für eine gewisse Transparenz des Tätigkeitsfeld sorgen.“1440 Wie in Kapitel 4.3.3. dargestellt, fasst der Begriff Habitus „hierbei das vielschichtig strukturierte Handlungspotential des sozialen Akteurs zusammen – Habitus als generativ strukturiertes Konglomerat von erworbenen Einstellungen, Fähigkeiten, Erwartungen, ideologischen Konzeptionen und Routinen. In spezifischen Handlungssituationen zeigt sich ein dem Habitus innewohnendes typisches Verhalten, eine typische Form des Ausdrucks bzw. Form des Umgangs mit der sozialen Situation“.1441

Einem umfassenden Professionalisierungsbegriff, welcher Profession und Professionalisierung im Kontext gesellschaftlicher Arbeitsteilung definiert. Dies umfasst „… die Regelung der Artikulation und Aggregation kollektiver berufstypischer Interessen sowie der Regelung von Berufszugang und Statuszuweisung in einem gesellschaftlichen System sozialer Ungleichheit“ (ebd., S. 23). Individuelles Berufshandeln und Handlungskompetenz kann im organisatorischen System (z.B. in Bezug auf Hierarchisierungsgrad und Autonomie) unter einem gesellschaftlichen ,Blickwinkel‘ konzipiert werden. Einem weiten Professionalisierungsbegriff, welcher Professionalisierung als institutionell verankerte Berufsrollen definiert. Zentral ist hier die Klärung des Zusammenhangs von Professionalisierung und Bürokratisierung. Die Analyse richtet sich dabei auf die unterschiedlichen Zielsetzungen des professionell-autonomen Berufshandelns und dessen Zweckgebundenheit in beruflichen Organisationen. Einem engen Professionalisierungsbegriff, welcher die Ebene des individuellen Berufshandelns definiert. Dies umfasst die bisher unzureichend untersuchte Ebene der „… lebens- und berufslaufbahngeschichtlich erworbenen und (berufs-)identitätsmäßig … verankerten individuellen Handlungsprogramme (Konzepte, Routinen) und Orientierungen (Deutungsmuster, Berufskulturen etc.) (ebd., S. 25).“ (Arnold 1983, S. 23 ff., zit.n. Albert 1998, S. 46 f.) 1439 Kalkowski/Paul 2011, S. 39 1440 Kalkowski/Paul 2011, S. 40 1441 Ackermann/Seeck 1999, S. 7

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Dabei müssen 2 Ebenen nach Roloff (1992) der Professionalisierung1442 unterschieden werden. „Zum einen meint es die übergeordnete gesellschaftliche Ebene (,Makroebene‘), beispielsweise die professionelle Wissensbasis, die Autonomie und der Grad der berufspolitischen Institutionalisierung. Zum anderen gibt es die individuelle Ebene der Berufsangehörigen (,Mikroebene‘), bei der es insbesondere um die berufliche Identität, um die Qualifizierung oder den individuellen Prozess der Sozialisation in eine Profession, geht, d.h. die Sozialisation in den Beruf und das Erlernen der expliziten fachlichen Kompetenz und Verhaltensweisen, ,die die Mitgliedschaft zur Profession über den richtigen Habitus erst vollständig machen‘.“1443 Die berufliche Identität und der professioneller Habitus entwickeln sich demnach innerhalb eines Prozesses der Professionalisierung auf der Mikroebene.1444 Dieser Prozess umfasst einerseits den „historischen Prozess der Entstehung und Anerkennung eines Berufes als Profession bzw. als akademischen Expertenberuf sowohl von seinem Wissensstand und seinen Qualifikationsanforderungen her als auch von seiner sozialen Bedeutung. Zum andern ist ‚Professionalisierung‘ auch der Vorgang der Ausbildung und Sozialisierung einzelner Aspiranten für diesen Beruf.1445

1442 Anmerkung: Unterschieden werden kann auch zwischen (a) Professionalisierung ,von unten‘: die Berufsgruppe als Subjekt und Träger des Prozesses, (b) Professionalisierung ,von oben‘: die Berufsgruppe als Objekt staatlicher Regulierung. Professionalisierung ,von unten‘ wird den anglo-amerikanischen Raum zugeschrieben. Professionalisierung ,von oben‘ gilt als kontinentaleuropäisches Muster. Beide Prozesse dürften aber (unabhängig von Regionen) auch ineinandergreifen. (Kalkowski/Paul 2011, S. 38) 1443 Roloff 1992, S. 138 1444 Anmerkung: Auch „Ziep (1990) versucht ein ganzheitliches Modell von Professionalisierung zu entwerfen. Er unterscheidet zwischen der professionellen Handlungspraxis und den institutionellen und organisatorischen Bedingungen, die ein solches Handeln erst ermöglichen. Professionalisierung kann als Entwicklungsprozess auf drei Ebenen analysiert werden. Makroebene: Diese Ebene umfasst die übergreifende gesellschaftliche Dimension. Professionalisierung wird als überinstitutioneller Lösungsprozess berufsstandsorientierter Problemstellungen verstanden (z. B. Zugang zur Tätigkeit, Berufsverbände, gesetzliche Regelungen). Mesoebene: Diese Ebene umfasst die wissenschaftlich-institutionelle Dimension. Professionalisierung dient dem Aufbau der institutionellen und wissenschaftlichen Grundlagen (z. B. Forschung, Theoriebildung, Bezugswissen, Weiterbildung). Mikroebene: Diese Ebene umfasst die handlungspraktische Dimension professionellen Handelns. Professionalisierung soll zu einem kriterienorientierten Handeln und kompetenter Ausgestaltung der Praxis befähigen (z. B. in der Ausformung von Kompetenzen, Deutungsmuster, Berufseinstellungen und Haltungen).“ (Ziep 1990, S. 294, zit.n. Albert 1998, S. 47) 1445 Roloff 1992, S. 136

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Auch nach Oevermann umfasst der Erwerb eines professionellen Habitus zwei Professionalisierungsebenen. Für Oevermann übt die erste Professionalisierung „in den wissenschaftlichen Diskurs als Logik des besseren Arguments ein und die zweite in die Praxis als praktische Anwendung des wissenschaftlichen Wissens und Könnens. Die erste Phase ist damit theoretisch, die zweite praktisch ausgerichtet“.1446 Damit entsprechen die beiden Professionalisierungsphasen dem Begründungs- und Entscheidungsverhältnis der autonomen Lebenspraxis: Die theoretische Professionalisierung legt die Basis des Begründungswissens, die praktische Professionalisierung wendet es in der jeweiligen Situation am konkreten Fall an. Da professionelles Handeln als stellvertretende Krisenbewältigung sehr individuell ist, kann und darf nicht standardisiert sein.1447 Umso wichtiger ist daher die Entwicklung eines Habitus, der es den Professionellen ermöglicht, Theorien, Werthaltungen und Methoden so zu verwenden, dass sie den Handlungsprozess fördern, „ihn aber nicht beherrschen.“1448 Denn nach Oevermann besteht „der spezifische Habitus des Professionellen […] in der kontextuellen Anwendung universellen Theoriewissens und dem Erkennen objektiver Regelstrukturen in der Praxis, die über die subjektiven Äußerungen des Klienten hinausgehen. Nicht nur allein ,Wissenserwerb, sondern Habitusformation‘ ist das Ziel der Professionalisierung.“1449 „Die Produktion ärztlich richtiger Entscheidung ist nicht die Funktion einer Theorie, sondern des ärztlichen Habitus für eine gelingende Praxis. Die ärztliche Profession ist also einer der Strukturorte, an denen sich die Vermittlung von Theorie und Praxis, in sich praktisch, vollzieht; sie bezieht daraus, analog zur Lebenspraxis selbst, die Notwendigkeit ihrer Autonomie nicht nur von administrativer Kontrolle, sondern auch von theoretischer Bevormundung bzw. von subsumtionslogischer Methode.“1450 „Professionalisierung bezieht sich dabei sowohl auf die Erlangung eines bestimmten Kompetenzniveaus als auch auf das Verhalten und Handeln von Personen. Den Orientierungsrahmen für die individuelle Professionalisierung bilden die durch die Fachorganisationen repräsentierte Wissensbasis, Ausbildungsgänge, Standards und Kriterien angemessenen professio-

1446 Oevermann 1996, S. 142 1447 Vgl. Oevermann 2002, S. 21 1448 Welter-Enderlin/Hildenbrand 2004, S. 66 1449 Oevermann 1996, S. 123 1450 Oevermann 1997a, S. 284 f.

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nellen Handelns, ethische Vorstellungen. Sie sind Ausdruck fachinterner Verständigung und dienen den Individuen als Reflexionsgrundlage für die eigene Praxis (berufliche Sozialisation, internalisierte Kontrolle usw.).“1451 5.2.4 Professionalität als innerer Kompass der Experten Ein weiteres „konstitutives Merkmal des professionellen Handelns besteht darin, dass es sich nicht an Organisationsinteressen, sondern an den Wissensbeständen, den technischen Standards und der um gesellschaftliche Zentralwerte gruppierten ,Standesethik‘ einer Berufsgruppe orientiert.“1452 Die dem professionell Handelnden charakterisierende Autonomie und „Ermessensfreiheit kann professionelle Mitarbeiter nicht nur dazu verführen, die Bedürfnisse ihrer Klienten außer Acht zu lassen; sie lässt viele Mitarbeiter auch die Erfordernisse der Organisation vergessen.“1453 „Die Probleme, die sich für jede Organisationsform ergeben, liegen vor allem an der Sozialisation und der mangelnden Identifikation der ExpertInnen. Die Konzentration auf das eigene Fachgebiet verhindert oftmals den Blick und das Interesse für die alltäglichen Anforderungen der Organisation. So werden z.B. auf Ebene des eigenen Fachgebiets häufig Innovationen erzielt bzw. findet eine Anpassung an neue Entwicklungen statt, auf Ebene der Organisation jedoch kaum. Da die Karriere der ExpertInnen vor allem durch die Weiterentwicklung ihrer Expertise vorangetrieben wird und gute Management und Organisationsleistungen in der Organisation meist weder finanziell noch durch Status honoriert werden, ist in diesem Bereich, solange der persönliche Nutzen und der Nutzen für die Organisation nicht Hand in Hand gehen, in das Engagement eher gering.“1454 „Professionelle folgen in ihrer Arbeit weder bürokratischen Vorgaben und Regeln noch richten sie ihre Leistungen an der Nachfrage von Kunden aus. Wie sie die Probleme bearbeiten, bestimmen sie vielmehr selbst, weil nur sie (und eben nicht das bürokratische Regelwerk oder die Kunden) über das Wissen verfügen, um die Probleme angemessen zu verstehen und zu bearbeiten.“1455 „Für die Leistungserbringung innerhalb der Organisation sind Kooperation und Koordination innerhalb der Fachbereiche, aber auch interdisziplinär für die 1451 Kalkowski/Paul 2011, S. 39 1452 Vgl. Parsons/Platt 1973, zit.n. Iseringhausen/Staender 2012, S. 194 1453 Mintzberg 1992, S. 280 1454 Grossmann 1997, S. 26 1455 Klatetzki 2012, S. 168

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Betreuung und Behandlung der Patienten von großer Bedeutung, für die ExpertInnen selbst steht jedoch oft die Spezialisierung im eigenen Wissensgebiet an erster Stelle.“1456 „Der Experte zeichnet sich durch eine hohe Qualifikation aus und ist seiner Profession hinsichtlich der fachlichen und ethischen Standards verpflichtet. Er orientiert sich stark an der fachlichen Weiterentwicklung der spezifischen wissenschaftlichen Community, der er angehört.“1457 „Zusätzlich wird die Karriere des Experten anhand der inneren Logik seiner Profession definiert […] und ist eher unabhängig von der konkreten Organisation, in der er tätig ist. Aufstiegschancen […] hat der jeweilige Experte nur dann, wenn er diesen Gesetzen der Karrierelogik seiner Profession folgt. Da aber Organisations-, Management- und Koordinationsleistung nicht wertgeschätzt werden, kann es nicht verwundern, dass es bis zu einen gewissen Grad eher rational erscheint, wenn Experten sich nicht für ,ihre‘ Organisation engagieren. Gleichzeitig - und das mag paradox anmuten – ist aber die Reputation des einzelnen Experten von enormer Wichtigkeit für die Reputation der Gesamtorganisation.“1458 „Der Experte identifiziert sich weniger mit der Organisation, in der er arbeitet, sondern stärker mit seiner Profession, der er angehört. […] Diese mangelnde Identifikation mit der Organisation und deren Zielen führt auch dazu, dass es wenig Engagement für die Interessen des Gesamten gibt. Jeder Experte versucht, sich um das Funktionieren seiner Arbeit und seiner unmittelbaren Umgebung zu kümmern, jedoch nicht um übergeordnete Gesamtziele.“1459 Professionelle folgen ihrem inneren Kompass. Maister (1993) bemerkt dazu „to revolve more around building the reputation of individuals rather than the firm, […]. Reputation within the profession would play an important role […].“1460 Dies lässt sich durch den für das Gesundheitswesen abgewandelten Ausspruch „I hire doctors, not medical firms“ verdeutlichen.1461

1456 Vgl. Grossmann 1997, S. 26 1457 Grossmann 1997, S. 25 1458 Laske/Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 107 1459 Grossmann 1997, S. 26 1460 Anmerkung: Übersetzung: „mehr darauf abzielen, den Ruf des Einzelnen aufzubauen und nicht das Unternehmen, […]. Die Reputation innerhalb des Berufs würde eine wichtige Rolle spielen […].“ (Maister 1993, S. 23) 1461 Maister 1993, S. 23

358

5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

5.2.5 Professionalität im Handeln durch professionelles Wissen und Könnerschaft Im Krankenhaus gelten die komplexen und wissensintensiven Gesundheitsdienstleistungen, und somit das professionelle Expertenwissen, und ihre Anwendung im Handeln zu den Kernleistungen. Diese Kernleistungen werden von professionellen Berufsgruppen (den Ärzten) sowie den semiprofessionellen Expertengruppen (den Therapeuten und den Pflegefachkräften) geleistet. Professionalität im Wissen und Handeln gehört somit grundsätzlich zu einer ökonomischen erfolgsentscheidenden Ressource für das Unternehmen.1462 Um komplexe wissensintensive Dienstleistungen anbieten zu können, benötigt es viele professionell handelnde Berufsgruppen, die ihr professionelles Wissen in eine echte Könnerschaft umsetzen können. Diese Begrifflichkeiten bedürfen einer differenzierteren Ausführung. „Professionalisierung bezeichnet den Prozess, in dem die Berufsausbildung und die Weiterentwicklung der professionellen Wissensbasis systematisiert und institutionalisiert werden und bestimmte Tätigkeitsfelder für Angehörige eines Berufs reserviert werden.“1463 Mieg (2006) betont dazu: „Personen und Tätigkeiten können sich professionalisieren, sie gewinnen an Professionalität.“1464 In beruflichen Kontexten bezieht sich Professionalität „auf jeweils spezifizierte fachliche Kriterien, Standards und einer bestimmten spezifischen Wissensbasis, über die nur Personen mit entsprechender Ausbildung verfügen. Erst sie ermöglicht die fachgerechte Ausführung einer beruflichen Handlung.“1465 „Mit dem Begriff ,professionell‘ wird hier eine berufliche Orientierung bezeichnet, die theoretisch fundiertes und reflektiertes methodisches Handeln als Kernstück des beruflichen Selbstverständnisses enthält. Die Weiterentwicklung der eigenen beruflichen Kompetenz mittels Aneignen von entsprechenden Fähigkeiten wird zu einer Zieldimension der Tätigkeit.“1466 Es geht bei der Professionalisierung „nicht mehr nur oder vorrangig um Verberuflichung, sondern den differenzierten Umgang mit interdisziplinärem

1462 Vgl. Klatetzki 2012, S. 177 1463 Heidenreich 1999, S. 38 1464 Mieg 2006, S. 343 1465 Kalkowski/Paul 2011, S. 39 1466 Hutter 1992, S. 137

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

359

Wissen in einem bestimmten Praxisfeld. Gleichzeitig umfasst der Begriff kompetente flexible Anwendung von Wissen im Feld, diagnostisch und flexibles vernetztes Handeln.“1467 Die Ausbildung der Professionellen und Experten findet meist über mehrere Jahre an Universitäten, Fachhochschulen oder speziellen Bildungseinrichtungen statt, wo die notwendigen Qualifikationen und das professionelle Wissen vermittelt werden und setzt sich dann noch in der Organisation unter Aufsicht von Mitgliedern des jeweiligen Berufsstands fort. Hier wird auch die Indoktrination vervollständigt. Je länger der professionelle Mitarbeiter in seinem Berufsfeld tätig ist, desto mehr wächst seine berufliche Kompetenz und formt sich zur Könnerschaft aus.1468 Das professionelle Wissen enthält zwei Ansätze, die Dewe, Ferchhoff und Radtke (1992) wie folgt benennen. Das professionelle Wissen umfasst einerseits „einen eigenständigen Bereich zwischen praktischem Handlungswissen, mit dem es den permanenten Entscheidungsdruck teilt, und andererseits dem systematischen Wissenschaftswissen, mit dem es einem gesteigerten Begründungszwang unterliegt.“1469 Heisig (2005) betont das theoriegeleitete Handeln. Zur Voraussetzung der professionellen Arbeit oder Wissensarbeit gehört, „dass die Berufsgruppe über formales Wissen, das durch abstrakte Konzepte oder Theorien bestimmt wird, sowie über fachliche Kenntnisse und spezifische berufspraktisch erworbene Fähigkeiten verfügt.“1470 „Wissen und Können bilden zusammen die wesentliche Substanz von Kompetenz im Sinne des Leistungsvermögens einer Person.“1471 Nach Heisig (2005) versetzt „dieses Kompetenzbündel die professionellen Berufsgruppen in die Lage, Arbeitsaufgaben zu erledigen, die hinsichtlich ihrer Anforderungsstruktur ergebnisoffen und diffus definiert sind. Meistens liegen nur die Ziele der Tätigkeiten einigermaßen fest. Die Planung und Organisation der Arbeit obliegt hingegen den Mitgliedern der Berufsgruppe, die bei der Auflösung ihrer Arbeit auf die ihnen zur Verfügung stehenden abstrakten Konzepte und Theorien sowie ein Repertoire am professionellen Problemlösungsstrategien zurückgreifen müssen.“1472 1467 Gieseke 2005, S. 418 1468 Vgl. Mintzberg 1992, S. 258 1469 Dewe/Ferchhoff/Radtke 1992, S. 81 1470 Heisig 2005, S. 41 1471 Peters 2004, S. 161 1472 Heisig 2005, S. 41

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5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

Da die „zu bearbeitenden Aufgabenstellungen und die zu entwickelnden Problemlösungen verschiedenartig sind, können die Vorgehens- und Verfahrensweisen nicht festgelegt und standardisiert werden. Vielmehr ist es aufgrund der Aufgabenstruktur erforderlich, dass die Arbeitsausführung Entscheidungs- und Ermessensspielräume enthält, die unter Rückgriff auf formales Wissen und Know-how durch die Akteure geschlossen werden können. Professionelle Arbeit ist demgemäß von der ihr zugrundeliegenden Handlungsstruktur immer Ermessensarbeit (discretionary work).“1473 Neuweg (2004), der sich auf Wieland (1987) beruft, hebt hervor, dass „das bloße wissenschaftliche Wissen im Kontext der Könnerschaft den ,Status eines Inbegriffs von Vorkenntnissen‘ hat, weil Können (soweit es sich überhaupt als Anwenden von Wissen darstellt) die Kunst der Kontextualisierung dieses Wissens auf besondere Fälle einschließt.“1474 Denn „das Anwenden einer Regel ist immer ein An-Wenden, ein Abwenden vom allgemeinen Verfahrens und ein Hinwenden zum besonderen Fall; ein Wenden des allgemeinen Verfahrens derart, dass es auf den besonderen Fall passt.“1475 Und weil dies Interpretation sowohl der Regel als auch Situation verlangt, ist Könnerschaft niemals bloße Wissensapplikation.1476 Die Könnerschaft basiert auf der „Kontextualisierungskompetenz des Anwenders.“ 1477 Voraussetzung hierfür ist die Fähigkeit zur reflexiven Professionalität, das bedeutet das „Vermögen, sich reflexiv seinen eigenen Handlungsabläufen zuzuwenden und sie zu analysieren. Die Fähigkeit, Wissensbestände fallspezifisch im aktuellen Kontext abrufen bzw. herstellen zu können, charakterisiert das professionelle Handeln (…). Die reflexive Verarbeitung von Erfahrungen aus früheren Handlungssituationen führt zu einem immer breiteren Handlungsspektrum und zu einer größeren Verhaltenssicherheit. Darüber hinaus muss 1473 Heisig 2005, S. 41 1474 Wieland 1987, S. 37, zit.n. Neuweg 2004, S. 2 1475 Ortmann 2003, S. 34, zit.n. Neuweg 2005, S. 2 1476 Anmerkung: „Die qualitative Veränderung der Fähigkeiten hat P. Benner (1994) im Kontext ethnografisch und interpretativ ausgerichteter Sozialforschung zum praktischen Wissen von Berufspraktikern in der Pflege erforscht. Wenn man eine Praktik erlernt, geht man beim Einstieg regelorientiert vor. Eine erfahrene Expertin kann jedoch ihre Leistungen später nur steigern, wenn sie sich von den Regeln lossagt. Qualitative Veränderungen des Erfahrungswissens machen diese Leistungssteigerung möglich. Pflegeexperten sind dann auf der Basis ihres großen Erfahrungsschatzes in der Lage, jede Situation intuitiv zu erfassen. Sie erkennen den Kern des Problems ohne Betrachtung unfruchtbarer Alternativdiagnosen und –lösungen.“ (Benner 1994, S. 50, zit.n. Schicke 2011, S. 107 f.) 1477 Neuweg 2005, S. 2

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

361

der professionell Handelnde unterschiedliche Wissensinhalte und Wissensformen reflexiv zueinander in Beziehung setzen1478 können.“1479 Professionelles Können bzw. eine Könnerschaft „kann also alles in allem verstanden werden als die Fähigkeit einer Person zur Ausführung bestimmter Handlungen, die Beherrschung wesentlicher beruflicher Handlungsfiguren und des je eigenen professionellen Handlungstypus sowie die Verfügung über bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen, die eine längere Einübung unter kollegialer Begleitung und Kontrolle verlangt.“1480 Im Kontext der professionellen Könnerschaft wird auch zwischen dem expliziten und impliziten Wissens unterschieden werden. Theoriegeleitetes und planerisches Handeln charakterisiert das explizite Wissen, welches auch kommuniziert und dokumentiert werden kann. Während dem intuitiv-improvisierendem Handeln das implizites Wissen zugeordnet werden kann.1481 „Typischerweise haben erfahrene Experten große Schwierigkeiten, dieses Wissen sprachlich zu verausgaben, und wo sie es tun, ist die Grenze zwischen nachträglich handlungsrechtfertigendem und tatsächlich handlungssteuerndem Wissen kaum eindeutig zu ziehen.“1482 Einerseits bezeichnet das implizite Wissen „ein dem Könner nicht verbal zugängliches, durch die dritte Person aber durchaus explizierbares Wissen“.1483 Und anderseits bezieht sich das implizite Wissen auch auf die „im Handeln verausgabte[n], nicht-formalisierbare[n] ,Wissensbestände‘, die sich der Abbildung auf Regeln entziehen.“1484 „Implizites Wissen ist sehr persönlich und entzieht sich dem formalen Ausdruck, es lässt sich nur schwer mitteilen. Subjektive Einsichten, Ahnungen und Intuition fallen in diese Wissenskategorie. Darüber hinaus ist das implizite Wissen tief verankert in der Tätigkeit und der Erfahrung des einzelnen sowie in seinen Idealen, Werten und Gefühlen. Implizites Wissen ist persönlich, kontextspezifisch und schwer kommunizierbar. Es handelt sich um Erfahrungen, Weltansichten und Fertigkeiten.“1485 „Implizites Wissen lässt sich in zwei Dimensionen 1478 Anmerkung: Das sogenannte ,deutende Deutungswissen‘ ist hierbei von Bedeutung, welches die Wissenschaft den Berufspraktikern zur Verfügung stellt. (Tietgens 1988, S. 41, zit.n. Schicke 2011, S. 101) 1479 Ebert 2011, S. 18 1480 Peters 2004, S. 160 f. 1481 Vgl. Neuweg 2004, S. 4 1482 Neuweg 2004, S. 4 f. 1483 Neuweg 2004, S. 5 1484 Neuweg 2004, S. 5 1485 Dombrowski/Horatzek/Wrehde 2004, Online-Dokument 1 f.

362

5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

unterteilen. Einerseits handelt es sich um Know-How. Andererseits hat es auch eine cognitive Dimension. Diese spiegelt unsere Wirklichkeitsauffassung (was ist) und unsere Zukunftsvision (was sein sollte). Obgleich sie sich nur schwer artikulieren lassen, formen diese impliziten Modelle unsere Wahrnehmung der Welt.“1486 Intuitives Können kann sich zum einen entlang der Beobachtung intuitiven Könnens bei anderen entwickeln. Diesem Prinzip der intelligenten Imitation hat POLANYI, der gemeinhin als Schöpfer des Begriffs des impliziten Wissens gilt, besondere Bedeutung beigemessen:1487 „Man folgt seinem Meister, weil man seinen Vorgangsweisen vertraut, auch wenn man deren Effektivität im Detail nicht analysieren und erklären kann. Indem der Lehrling dem Meister zusieht und seinem Beispiel nacheifert, erwirbt er unbewusst die Regeln der Kunst, jene eingeschlossen, die der Meister selbst nicht explizit kennt.“1488 „Die spezifische Spannung zwischen den Polen des Wissens und des Könnens entsteht nun nicht einfach dadurch, dass Wissen Erfahrung nicht zu ersetzen vermag. Die Bewegung in der Welt des Wissens ist nicht bloß unpraktisch; sie ist in dem Maße außerdem antipraktisch, in dem sich die Fähigkeit zum intuitivimprovisierenden Handeln und das ihm inkorporierte implizite Wissen nur in einer Kultur der Einlassung entwickeln können. Einer solchen Einlassung – als Einlassung in situ, aber auch als dauerhafter Habitus des sich Einlassens – kann Wissen nämlich im Wege stehen.“1489 Um professionell und kompetent handeln zu können (professionelle Handlungskompetenz), brauchen Mitarbeiter einerseits die erforderliche Fähigkeit, die dabei aus den Bausteinen ,Kennen‘ und ,Können‘ bestehen (Explizites/Implizites Wissen). Und andererseits die Bereitschaft zur Handlung, die durch die Bausteine ,Wollen‘, ,Sollen/Dürfen‘ und ,Zeit‘ haben ermöglicht wird.1490

„Während die Fähigkeit eines Mitarbeiters ganz wesentlich von der Ausbildung, der Qualifikation, dem kollegialen und dem Wissensmanagement beeinflusst werden kann, ist das Herstellen der Bereitschaft zu einem großen Teil eine Füh-

1486 Nonaka/Takeuchi, 1997, S. 19 1487 Neuweg 2004, S. 6 1488 Polanyi 1964, S. 53, übers. G. H. N., zit.n. Neuweg 2004, S. 6 1489 Neuweg 2005, S. 7 1490 Vgl. Dombrowski/Horatzek/Wrehde 2004, Online-Dokument 1 f.

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

363

rungsaufgabe. Neben Motivation muss der Mitarbeiter mit den nötigen Befugnissen ausgestattet sein und er muss genügend Zeit haben. Gibt es Defizite in einem Bereich, ist die kompetente Handlung durch den Mitarbeiter gefährdet.“1491 Abbildung 42: Bausteine zur Handlungskompetenz. (Quelle: Dombrowski/Horatzek/ Wrehde 2004, Online-Dokument S. 1 f.)

Handlungskompetenz

Bereitschaft

Fähigkeit

Kennen

Können

Wollen

Information

Qualifikation

Motivation

(technologisch)

(organisatorisch)

(psychologisch)

Sollen / Dürfen

Zeit haben Organisation

(organisatorisch)

Deutlich wird, dass das ,Gold in den Köpfen der Menschen‘ eine der zentralen Kernkompetenzen und zugleich Ressourcen der Expertenorganisation ist. Auch ist das wissenschaftliche Wissen und die Könnerschaft im professionellen Handeln nicht nur dem ,Monopol der Professionen‘ vorbehalten, sondern auch allen anderen Expertengruppen.1492 Professionalität im Handeln benötigt das Streben um eine Könnerschaft, dies ist ein untrennbarer Bestandteil der beruflichen Identität. Der Experte, der Professionelle möchte sein wissenschaftlich basiertes erlerntes Wissen anwenden, um es mit Erfahrungswissen und implizitem Wissen kontextualisieren und reflektieren zu können. Hierzu benötigt er Rahmenbedingungen in der Praxis, die durch die Organisation geschaffen werden müssen. Eine Identifikation mit der Organisation ist unter

1491 Dombrowski/Horatzek/Wrehde 2004, Online-Dokument S.1 f. 1492 Vgl. Klatetzki 2012, S. 177

364

5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

anderem davon abhängig, inwiefern er die Organisation hierbei als Unterstützung erlebt.

„Die Gesundheitsunternehmen, die es verstehen, ihr Wissen zu bündeln und mit einer präzisen inhaltlichen Ausrichtung zu überzeugen, werden als Wissensmarke anerkannt. Wissensmanagement wird zum zentralen Thema in der Wirtschaft. Knowledge entwickelt sich zum zentralen Faktor des Brandings in der Gesundheitsbranche als wissensbasierte Expertenunternehmen.“1493 (siehe Kapitel 6.8) 5.2.6 Die Profession – ein besonderer Beruf Der Begriff ,Profession‘ lässt sich etymologisch vom lateinischen ,professio‘ ableiten und mit ,Bekenntnis/Beruf‘ übersetzen. Der englische Begriff ,professions‘ unterscheidet gehobene Berufe mit einer akademischen Ausbildung und einem hohen Sozialprestige von sogenannten ,occupations‘ oder ,jobs‘, die als weniger anspruchsvoll gelten.1494 Professionen sind Berufe – es sind besondere Berufe. Daher erscheint es sinnvoll, zunächst den Begriff ,Beruf‘ näher zu fokussieren. Terminologisch sind die Begriffe ‚Beruf‘ und ,Berufung‘ verwandt, wodurch die ursprüngliche Sinngebung erkennbar wird. In der christlich-abendländischen Kultur existierte die Vorstellung, dass jeder Mensch für eine Aufgabe von Gott berufen ist. Der Mensch soll diesen persönlichen Ruf von Gott erkennen und diesem folgen.1495 Eine Rolle spielt die persönliche Neigung und Eignung einer Person.1496 Seit der Industrialisierung haben Berufe, so auch die Professionen, eine ordnungsstiftende Funktion und sind Ergebnis der Arbeitsteilung. Der Arbeitsmarkt ist in einer heterogenen Gesellschaft mit einer sich ständig verändernden, wachsenden und sehr großen Fülle von möglichen Arbeitsanforderungen und deren notwendigen Kompetenz- und Qualifikationsprofilen konfrontiert, die ohne die Berufe schwer zu überschauen wäre.1497 Sie sind ein Phänomen, das der Rationalisierungstendenz der Moderne in Form einer ,funktionalen Differenzierung‘ der Gesellschaft entspricht. Durch das mit der Beruflichkeit verbundene ,Prinzip der kultivierten Arbeit‘ wird eine institutionalisierte gesamtgesellschaftliche

1493 Pförtsch/Schmid 2005, S. 288 1494 Vgl. Schreckenberg 1984, S. 52, zit.n. vgl. Pietsch 2010, S. 4 1495 Weber 1973, S. 361 1496 Vgl. Arnold/Lipsmeier 1995, S. 19 1497 Vgl. Kalkowski/Paul 2011, S. 36

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

365

Strukturvorgabe zur Koordination komplexer arbeitsteiliger Gesellschaften ermöglicht.1498 Laszlo (1991) definiert den „Beruf heute als ein feststehendes, personenunabhängiges, standardisiertes Muster von Arbeitskraft bzw. Arbeitsfähigkeiten.“1499 Schicke (2011) konkretisiert weiter: „Das Arbeitskraftmuster setzt sich aus einer charakteristischen Arbeitsaufgabe, einer typischen Rolle und den dazugehörenden Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten zusammen. Berufe sind gesellschaftlich ausgehandelte Fähigkeitsprofile, die ein qualifikatorisches Ordnungsmuster darstellen.“1500 „Berufe sind eine standardisierte, auf eine Spezialisierung der Fähigkeiten und Kompetenzen beruhende Form der Bereitstellung von Arbeitsvermögen. Es handelt sich um institutionalisierte Muster der Zusammensetzung und Abgrenzung spezialisierter Arbeitsfähigkeiten.“1501 Für Gieseke (1994) steht der Beruf auch „im Spannungsfeld zwischen den Anforderungen der Arbeitsaufgaben und des Arbeitsplatzes sowie dem qualifikatorischen Potenzial des Arbeitsvermögens einer Person. Berufe legen die unmittelbaren Arbeitsanforderungen in einer breiteren Perspektive aus und statten Berufsangehörige dadurch mit aktiven Gestaltungskompetenzen und mit Qualitätsbewusstsein aus.“1502 Dies deutet auf die Abgrenzungsfunktion des Berufs hin, denn die berufliche qualifizierte Erwerbsarbeit unterscheidet sich von der unqualifizierten Arbeit, der Arbeit eines Dilettanten.1503 Für Kalkowski/Paul hat ein Beruf fünf Merkmale: 1. 2. 3. 4.

„spezielle Tätigkeitsfelder, spezielle Qualifikationen (Fähigkeiten, Kompetenzen) systematisierte Berufsausbildung mit anerkanntem Abschluss (Akkreditierung, Zertifikat) mehr oder minder hohes Berufsprestige (soziale Position in Betrieb und Gesellschaft) charakteristische Mobilitätspfade (Aufstiegsleitern, Fort- und Weiterbildungen)

1498 Kutscha 2008, S. 2, zit.n. Schicke 2011, S. 77 1499 Laszlo 1991, S. 23, zit.n. Schicke 2011, S. 77 1500 Schicke 2011, S. 77 1501 Kalkowski/Paul 2011, S. 36 1502 Gieseke 1994, S. 292 f., zit.n. Schicke 2011, S. 77 1503 Vgl. Schicke 2011, S. 7

366

5.

5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

innere Bindung der Person an den Beruf (berufliche Sozialisation und Identität, Werte).“1504

5.2.7 Professionalität und Könnerschaft als Ausdruck der Verantwortung „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“1505 So lautet einer der wichtigsten Artikel des Grundgesetzes, der in einem Gesundheitsunternehmen wie dem Krankenhaus eine besondere juristische und ethisch-moralische Bedeutung hat, da es gerade dort um den Schutz der Gesundheit, der Heilung von Krankheiten und dabei um die Unversehrtheit und Würde des Menschen geht. Patienten „nehmen dann die Leistung von Professionellen in Anspruch, wenn ihr alltagsweltliches Verständnis zur Lösung des besagten Problems nicht ausreichend ist und Einschränkungen in ihrer eigenen alltagspraktischen Autonomie entstehen.“1506 Dabei sind „Patienten in ihrer Beziehung zu Ärzten Hilfesuchende. Daraus resultiert die Asymmetrie dieser Beziehung. Es fehlen ihnen das berufliche Wissen und die Fertigkeiten der Ärzte. Selbst bei Routinebesuchen sind sie verletzlich und am schwächeren Ende. Sie entblößen ihre Körper, sprechen von intimsten Dingen körperlicher oder anderer Art. Auch wenn Patienten in die ärztliche Entscheidung einbezogen werden (was selten und eher schichtspezifisch der Fall ist), vertrauen sie dem ärztlichen Urteil. Je nach Umständen - ob die Patienten beispielsweise an einer akuten Krankheit leiden oder ob sie chronisch krank sind und ihre Krankheit kennen und gelernt haben, mit ihr umzugehen - sind sie mehr oder weniger von den Entscheidungen des Arztes abhängig. Ein Teil der Patienten ist schwer krank, jung oder besonders alt, verängstigt, uninformiert und auch inkompetent - das macht sie besonders schutzbedürftig.“1507 In diesen speziellen Situationen übernimmt der Professionelle aufgrund des Wissensgefälles, der Schutzbedürftigkeit und dieser beschriebenen PatientenArzt-Beziehung auch die besondere berufliche und persönliche Verantwortung. Der Patient „ist in der Regel der Laie, für den in seiner besonderen, auch sozial zugeschriebenen Rolle der Professionelle die Verantwortung für die Lö-

1504 Kalkowski/Paul 2011, S. 36 1505 Grundgesetz Artikel 1 (1) der Bundesrepublik Deutschland 1949 1506 Schämann 2005, S. 28 f. 1507 Kühn 1996, S. 3

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

367

sung seines Problems bereithält bzw. durch entsprechende Interventionen zur Lösung des Problems beiträgt. Legitimiert wird dieses durch das gesellschaftliche Mandat, welches der Professionelle durch die Gesellschaft zugesprochen bekommen hat und aus der Situation, in der sich die Klienten befinden.“1508 „Im Unterschied zu den Berufen sind sie nicht offensichtlich an der Gewinnmaximierung orientiert, sondern berufsethisch dem Wohl der Patienten verpflichtet. Professionen sind auf Grund der Rationalisierungstendenz ein Strukturerfordernis der Moderne und befassen sich mit existenziellen Problemen. Dabei bildet neben dem Wissen und der Gemeinwohlorientierung das moralische Bekenntnis der Profession den alleinigen Wert- und Kontrollmaßstab für das professionelle Handeln. Das Herauslösen aus fremdbestimmten und zugleich entlastenden gesellschaftlichen und institutionellen Normierungen und die damit einhergehende relative Autonomie der Professionen führen aber gleichzeitig zu einer Erweiterung von belastender Verantwortlichkeit.“1509 Parsons (1968) „sah in den Professionen die Treuhänder einer kognitiven Rationalität, die sich grundsätzlich von ökonomischen und politischen Zweckrationalisierungen unterscheidet. Normativ damit verbunden war für ihn eine Kollektivorientierung des Handelns, so dass der Professionelle nicht an seinem Eigeninteresse, sondern in verantwortungsvoller Weise am Wohl der Klienten, d.h. am Gemeinwohl orientiert ist. Diese normative Orientierung des Handelns wird zum einen über moralische Verhaltensregeln (,code of ethics‘), zum anderen über eine Standesgerichtsbarkeit der professionellen Berufe abgesichert. Indem die Professionellen auf der Grundlage kognitiver Rationalität wichtige soziale Probleme des Alltags im Sinne des Gemeinwohls bearbeiten, kommt ihnen eine entscheidende Rolle für die gesellschaftliche Integration und Entwicklung zu.“1510 Der professionelle Komplex war aus Sicht des Strukturfunktionalismus daher „the most important single component of modern societies.“1511 Der SVR (2007) merkt hierzu an, dass „die Diskussion des Begriffes Verantwortlichkeit in Bezug auf das Selbstverständnis von Berufsgruppen von

1508 Oevermann 1990, zit.n. Schämann 2005, S. 28 1509 Dexheimer 2011, S. 1 1510 Parsons 1968, S. 545 zit.n. Klatetzki 2012, S. 169 1511 Anmerkung: Übersetzung: „der wichtigste Einzelbestandteil moderner Gesellschaften.“ (Parsons 1968, S. 545, zit.n. Klatetzki 2012, S. 169)

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erheblicher Bedeutung ist. Die Berufsgruppen im Gesundheitswesen haben traditionell eine hohe Verantwortlichkeit gegenüber den Patienten.“1512,1513 Auch in Zukunft wird die „Forderung nach Verantwortlichkeit von Institutionen und einzelner Ärzte, Pflegende und anderer Berufsgruppenangehörigen für ihre Leistungen […] jedoch nicht verstummen, und stellt eine wichtige Grundsatzentscheidung dar, die Beziehung zwischen Therapeut und Patient durch explizite Verantwortlichkeit zu stabilisieren, basierend auf einem nichtpaternalistischen, durch Gleichberechtigung gekennzeichneten1514 Patientenverständnis.“1515 Rein sprachlich gesehen stammt der Begriff ,Verantwortung‘ von Antwort geben, dies weist auf den dialogischen Charakter des Verantwortungsbegriffs hin und darauf, dass ,sich antworten‘ eine Reaktion auf eine Frage ist.1516 Die Kernbedeutung des Begriffs Verantwortung liegt darin, für etwas Rede und Antwort zu stehen, d.h., sich vor jemandem für etwas unter Berufung auf einen Umstand oder eine Person zu rechtfertigen. In der normativen Ethik ist der Verantwortungsbegriff zentral, da er sich mit der Rechtfertigung von Handlungen und Handlungsnormen auseinandersetzt. „Das Konzept der Verantwortung bezieht sich nicht nur auf die voraussichtlichen Konsequenzen einer Handlung, sondern auch auf die spezifischen Umstände und Rahmenbedingungen, unter denen Handlungen vollzogen werden. Die Absichten, mit denen ein Akteur ,guten Gewissens‘ etwas zu erreichen trachtet, sind genauso Bestandteile der Verantwortung wie sein Wissensstand und das normative Regelsystem, innerhalb dessen er handelt. Im Unterschied zu anderen 1512 SVR (122.) 2007, S. 73 f. 1513 Anmerkung: Diese traditionell hohe Verantwortlichkeit gegenüber den Patienten ist „eher implizit geprägt, und bei dem Versuch der Öffentlichkeit, diese Verantwortlichkeit explizit zu gestalten, [sind] Missverständnisse und Befremden kaum zu vermeiden […]. Es herrscht aus der Sicht der Berufsgruppen in dieser Situation sogar der Eindruck vor, die Öffentlichkeit wolle das durch den Strukturwandel ohnehin schon belastete Vertrauen zwischen Therapeut und Patient schwächen, obwohl es durch den Strukturwandel doch schon vorbelastet sei“. (SVR (122.) 2007, S. 73 f.) 1514 Anmerkung: „Auf der Seite der Patienten kommt jedoch ebenfalls eine Veränderung des Rollenverständnisses zum Tragen, denn der aktive Patient ist gefragt, der die Verantwortlichkeit auf der therapeutischen Seite einfordert und verarbeitet. Ein offenes Problem dabei ist, dass nicht alle Patienten dazu in der Lage und Willens sind. Der Patient sollte aber auch durch ein entsprechendes Verhalten zum Gelingen der therapeutischen Leistungserstellung beitragen, denn es handelt sich hier um ein joint product von Leistungserbringern und Patienten.“ (SVR (122.) 2007, S. 74) 1515 SVR (122.) 2007, S. 74 1516 Vgl. Bayertz 1995, S. 16

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ethischen Kategorien ist Verantwortung ein kontextualistisches Moralprinzip, das auf der Berücksichtigung akteursbezogener Eigenschaften und situativer Handlungsbedingungen beruht.“1517 „Der Verantwortungsbegriff ist aber noch durch eine weitere Besonderheit gekennzeichnet. Er lässt sich, obwohl sein Ursprung personalistischer Natur ist, auf höherstufige Handlungseinheiten übertragen. Verantwortung kann auch Gruppen, Verbänden, Institutionen oder Organisationen zugeschrieben werden.“1518 Der Verantwortungsbegriff, der als „folgenbasiertes Legitimationskonzept“1519 auf der Abwägung von bestehenden Handlungsgründen mit erwartbaren Handlungsfolgen beruht1520, spielt im Krankenhaus eine begleitende alltägliche Rolle. Im Gutachten des Sachverständigenrats (SVR) zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen (2007) werden drei1521 Systemebenen unterschieden, in denen die Perspektive der Verantwortlichkeit differenziert werden kann: „Die Patientenebene – dabei geht es um die Achtsamkeit und Schutz der Würde und der Patientensicherheit, Sicherung Professionalität und Vertrauensschutz. Die individuelle Verantwortungsebene der Ärzte und anderer Expertengruppen – die aufgrund des beruflichen Selbstverständnisses, der Berufsordnung der Berufsgruppen (bei Ärzten z.B. der Eid des Hippokrates) Bestandteil der beruflichen Identität und somit auch Bestandteil der personalen Identität ist. Die insitutionelle Verantwortungsebene = hier geht es zum einen um Verantwortlichkeit der Teile der Organisation gegenüber der ganzen Institution, über Fach- und Berufsgruppengrenzen hinweg, zum anderen um die ,verantwortungsvolle‘ Integration der Institution in die umgebende Umwelt.“1522

1517 Heidbrink 2010, S. 3 1518 Heidbrink 2010, S. 3 1519 Wieland 1999, S. 57 1520 Heidbrink 2010, S. 9 1521 Anmerkung: Ergänzt werden kann hier noch eine vierte Systemebene, nämlich die der Gesundheitspolitik, die die strukturellen und fiskalischen Rahmenbedingungen der Krankenhäuser gestalten und somit zu verantworten haben. 1522 SVR 2007, S. 73; (121.)

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5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

5.2.7.1 Verantwortungsbegriff im Blick Der semantische Ursprung des Begriffs liegt in der römischen Rechtslehre, von wo aus er auf den Bereich der Moral übertragen wurde.1523 Der deutsche Begriff ,Verantwortung‘ lässt sich sprachlich bis Mitte des 15.Jahrhunderts zurückverfolgen1524, „wo er sich auf die Rechtfertigung von begangenen Handlungen vor Gott oder dem Gericht bezieht. […] Der traditionelle Verantwortungsbegriff besitzt apologetische Züge und gründet in der Schuldhaftigkeit bzw. Unrechtmäßigkeit des Handelns.“1525 „Aristoteles hat die bis heute zentralen Kriterien der Freiheit (Freiwilligkeit), Kausalität (Wissentlichkeit) und Intentionalität (Willentlichkeit) benannt, die für die Zurechenbarkeit von Handlungen erforderlich sind.“1526 „Verantworten muss sich nur, wer ohne Zwang aus eigenem Antrieb und mit absehbarer Konsequenz handelt. Jedoch schützt ,Unwissenheit nicht vor Strafe‘. Hier gilt die Sorgfaltspflicht, sich über die Folgen möglicher Handlung zu informieren.“1527 Thomas von Aquin fügt hinzu: „Trotz Freiheit des Handelns muss eine innere Gesetzmäßigkeit vorliegen, damit die Zurechenbarkeit von Handlungen möglich ist.“1528 Und für David Hume ist „das ,Prinzip der Notwendigkeit‘ erforderlich, um den Grad der Freiheit und damit den Anteil der Verantwortlichkeit zu bestimmen, den eine Person für ihre Handlungen trägt.“1529 Im Gegensatz zur rein von außen herausgetragenen Zuschreibung von Verantwortung beschrieb Kant den Verantwortungsbegriff darüber hinaus als moralisch. Er bezeichnete moralische Verantwortung als Bedingung für ein autonomes Vernunftswesen, d.h. Person. Kant sieht die Verwendung des Verantwortungsbegriffs im Sinn der individuellen Rechtfertigung von Handlungsfolgen.1530 Für Kant ist die ,Person‘ als ,dasjenige Subjekt‘ definiert, „dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind.“1531 Für ihn ist es das persönliche ,Gewissen‘, das

1523 Vgl. Grimm 1956, S. 79 ff., zit.n. Heidbrink 2010, S. 5 1524 Vgl. Kreß 1997, S. 13 1525 Heidbrink 2010, S. 4 1526 Aristoteles 1995, S. 44 ff., zit.n. Heidbrink 2010, S. 5 1527 Heidbrink 2010, S. 5 1528 Heidbrink 2010, S. 5 1529 Hume 1978, S. 127, zit.n. Heidbrink 2010, S. 5 1530 Heidbrink 2010, S. 5 1531 Kant 1977, S. 334, zit.n. Heidbrink 2010, S. 5

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

371

„als subjektives Prinzip einer vor Gott seiner Taten wegen zu leistenden Verantwortung gedacht werden“1532 muss. „Die Verantwortung gehört für Kant in den Bereich der Pflichten gegen sich selbst und wird als Selbstverantwortung eines Akteurs für seine moralischen Entscheidungen bestimmt.“1533 „Hegel spricht von der ,Zersplitterung der Folgen‘,d.h. den Akteuren kann es auch dann zugerechnet werden, wenn diese nur über ein begrenztes Wissen der ,Umstände‘ verfügen, die ,allgemeine Natur‘ der Handlung aber hätten kennen können.“1534 Der Begriff der Verantwortung erhält damit eine konsequentere Zuschreibung der Folgen. In der philosophischen Literatur findet man den Begriff ab dem 18.Jahrhundert vereinzelt in seiner substantialischen Form, beispielsweise als ,reponsibility‘ und ,moral responsibility‘ oder bei Friedrich Nietzsche im Kontext von Moral und Zurechenbarkeit. Prospektive Verantwortung, die bis heute oft mit dem Begriff als Pflicht gleichgesetzt wird. Die Erweiterung des Verantwortungsbegriffs durch die Einbeziehung nicht intendierter Handlungsfolgen und Unterlassungen ist charakteristisch für das 19.Jahrhundert. Nach John Stuart Mill kann der Mensch andere „nicht nur durch sein Handeln schädigen, sondern auch durch sein Nicht-Handeln, und in beiden Fällen ist er ihnen billigerweise für den Schaden verantwortlich“.1535 Um ein differenziertes Bild des Begriffs ,Verantwortung‘ zu ermöglichen, werden in der folgenden tabellarischen Skizzierung verschiedene Ansätze bzw. die Hauptvertreter der philosophischen Grundannahmen des 20.Jahrhunderts aufgezeigt: Abbildung 43: Der ,Verantwortungs-Begriff‘ im Blick verschiedener Ansätze. (Quelle: eigene Darstellung)

Verschiedene Ansätze Religionsphilosophischanthropologischer Ansatz (Georg Picht)

Kurz-Skizzierung Der Begriff Verantwortung hat bei Picht in Anlehnung an Heidegger seinen Ursprung und seine Begründung im ,antizipierten Tod des Menschen‘, die dem Menschen die Konstitution des Gewissens, indem er sich von seiner Lebenswelt distanziert und sein eigenes Handeln reflektiert. Das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit einhergehend mit dem Ende aller Wahlmöglichkeiten der Existenzweise führt zur Gewissheit einer endgültigen Rechenschaft (Picht verortet dabei Gott als Verantwortungsinstanz) für die eigene Existenz und

1532 Kant 1977, S. 574, zit.n. Heidbrink 2010, S. 5 1533 Heidbrink 2010, S. 5 1534 Hegel 1970, S.219/S.222, zit.n. Heidbrink 2010, S. 5 1535 Mill 1969, S. 18 zit.n. Heidbrink 2010, S. 6

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5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

Verschiedene Ansätze

Kurz-Skizzierung die eigenen Handlungen. Dieses löst das Individuum von sich selbst und ermöglicht ihm, Verantwortung für die Welt wahrzunehmen.1536 „Erst aus der Erwartung dieses letzten Gerichtes konnte der Gedanke entspringen, dass das menschliche Leben insgesamt der Vorbereitung auf diese letzte ,Verantwortung‘ dienen müsse.“1537 Bezogen auf den inneren Aspekt der Ethik, also die Gesinnung, spielt der antizipierte Tod bei Picht die Rolle, dass er diejenigen existenziellen Sinnfragen aufwirft, die den Menschen zu verantwortungsvollem Handeln führt, weil er sich seiner Wichtigkeit in der Gesellschaft, in der er lebt, bewusst wird.1538 Dabei erkannte Picht das Problem der Zuständigkeit in komplexen Gesellschaften, vor allem in Bezug auf eine Weltgesellschaft. Für Picht gibt es nicht nur Obliegenheit des Menschen, Verantwortung für Aufgaben und Bereiche zu übernehmen, in denen er seine Zuständigkeit erkennt; vielmehr besteht auch die Pflicht, neue Aufgaben zu erkennen, für die noch keine Zuständigkeit besteht, auch wenn die Folgen alle Menschen betreffen können.1539 Nicht mehr vorrangig im moralischen Bewusstsein personaler Akteure hat das Verantwortungsprinzip nach Picht seinen Ort, sondern ,in der Struktur der Geschehnisse‘ 1540.

Gesinnungsethischer Ansatz (Max Weber)

Weber unterscheidet zwei Formen ethischen Handelns: „Wir müssen uns klar machen, dass alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzliche Maximen stehen kann: es kann ,gesinnungsethisch‘ oder ,verantwortungsethisch‘ orientiert sein.“1541 Der Gesinnungsethiker, der sich in seinem Handeln nur seinem Gewissen verpflichtet, ordnet die Verantwortung für die Folgen seiner Handlungen einer außerhalb liegenden Instanz zu, da er erkennt, dass er letztlich keine vollständigen Garantie für diese geben kann. „Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim.“1542 Wer sich für ein verantwortungsethisches Lebensideal entscheidet, der übernimmt für jede Folge seiner Handlungen die Verantwortung und ist auch bereit, eventuell Schuld auf sich zu laden und moralisch bedenkliche Mittel einzusetzen, um seiner Entscheidung nachzukommen, für die er bewusst eintritt. Jede Handlungssituation prüft er in ihrer Komplexität, ihren Folgen und ihrem Gesamtzusammenhang.1543 Er wägt jeweils sowohl Mittel und Zweck sowie positive und negative Folgen gegeneinander an, hierbei

1536 Vgl. Neumann 1994, S. 225 f. 1537 Picht 1969, S. 319 1538 Vgl. Neumann 1994, S. 225 f. 1539 Vgl. Picht 1969, S. 341 1540 Picht 1969, S. 325 1541 Weber 1919, S. 79 1542 Weber 1919, S. 79 1543 Vgl. Weber 1919, S. 79 f.

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

Verschiedene Ansätze

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Kurz-Skizzierung fließt jedoch die Gesinnung in die Entscheidung mit ein.1544 „Insofern sind Gesinnungsethik und Verantwortungsethik nicht absolute Gegensätze, sondern Ergänzungen, die zusammen erst den echten Menschen ausmachen […].“1545 Weber stellt die Position des Gesinnungsethikers jedoch nicht als gleichberechtigte Alternative dar, sondern weist dem Idealtypus des Gesinnungsethikers einen karitativen Charakter zu und fordert von allen in der Gesellschaft lebenden Individuen eine Ausrichtung ihrer Handlungsentscheidungen an der Verantwortungsethik.1546

Dialogphilosophischer Ansatz (Martin Buber)

Die Basis des Verantwortungsbegriffs von Buber ist ein relational dialogisches Personenverständnis. Dies bedeutet, dass das ICH des einzelnen Menschen sich jeweils nur in der Relation zur Welt zum Ausdruck kommt.1547 Die Möglichkeiten der Relation bezeichnet er als Grundworte. Dabei trennt er das Grundwort Ich-Es, welches das Verhältnis des Menschen zur Welt der Erfahrungen darstellt, die wiederum an diesen Erfahrungen unbeteiligt bleibt, vom Grundwort Ich-Du, welches er der Welt der interpersonalen Begegnung zuordnet.1548 Das Wesen des Menschen kommt in diesen Grundworten zum Ausdruck, aber nur in der Relation zur Beziehungswelt kommt das Wesen des Menschen zum Ausdruck.1549 Dabei findet das Person sein in der Beziehung zum anderen Menschen statt, das Ich in der Relation zur Erfahrungswelt bezeichnet Buber als Eigenwesen.1550 Aus dieser interpersonalen Begegnung erwächst Verantwortung als Übernahme der Verantwortung für das Du. „Echte Verantwortung gibt es nur, wo es wirkliche Antworten gibt.“1551

ExistenzDer Begriff ,Antwort‘ ist Bestandteil des Begriff es ,Verantwortung‘ und so philosophischer verortet Weischedel die Verantwortung im menschlichen Dialog. „VerantAnsatz wortung als Antwort ist […] Offenbarmachen gegen eine Frage. Als solches hat sie ihren Platz im Dialog.“1552 Auf dieser Basis des dialogischen CharakWilhelm ters von Verantwortung kann die Verantwortungsinstanz sowohl inter- als Weischedel) auch intrapersonal nur ein Mensch sein. In der Erfüllung und Vereinigung den verschiedenen drei Verantwortungsphänomene (Grundarten), die religiöse

1544 Vgl. Kreß 1997, S. 119 1545 Weber 1919, S. 87 1546 Vgl. Wieland 1999, S. 16 f. 1547 Vgl. Kreß 1997, S. 155 1548 Vgl. Maulbetsch 2010, S. 66 f. 1549 Vgl. Buber 2006, S. 7 f. 1550 Vgl. Buber 2006, S. 65 ff. 1551 Buber 2006, S. 161 1552 Weischedel 1972, S. 15

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5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

Verschiedene Ansätze

Kurz-Skizzierung Verantwortung, die soziale Verantwortung und die Selbstverantwortung, sieht Weischedel den Gesamtbegriff ,Verantwortung‘.1553 Wenn der Mensch sich selbst und die Anderen als Geschöpf Gottes anerkennt, wirkt sich die religiöse Verantwortung auf die soziale Verantwortung und der Selbstverantwortung aus. Die prinzipielle Verantwortung vor Gott sieht Weischedel im ,Endgericht‘ realisiert, welches dann die ,Verantwortung im eigentlichen Sinne‘ darstellt.1554 Die erste Stufe der Sozialen Verantwortung besteht aus dem Verantworten vor Gericht, welches die Offenbarung der formalen Verantwortung meint. Die zweite Stufe der sozialen Grundverantwortung ist die Folge der ersten Stufe, denn jede Gesellschaft benötigt für ihre Existenz spezifischen Regeln und Gesetze. Mit der Zustimmung eines jeden Individuums übernimmt er damit Verantwortung – ein Widerspruch ist eine Verantwortungslosigkeit. Für Weischedel kann das Individuum durch die Ansprüche der unterschiedlichen Teilgemeinschaften, in der es lebt, in Konflikt geraten. Hierzu unterscheidet er zwischen einerseits der ,formalen Grundverantwortung‘, eine Entscheidung, die Ansprüche der Gemeinschaft zu beantworten, gleich ob mit Entsprechen oder Widersprechen und anderseits der ,eigentlichen Grundverantwortung‘ die ich im ,Entsprechen‘ äußert.1555 „Die Selbstverantwortung vollzieht sich, indem man sich zu verdeutlichen sucht, wer man seinen eigentlichen Wesen nach ist – mit dem Resultat, dass eine Handlungsmöglichkeit entweder diesem Vorbild entspricht oder widerspricht.“1556 Demnach bedeutet Selbstverantwortlichkeit, dass das Handeln gegenüber diesem Vorbild bzw. seiner eigenen Identität verantwortet werden kann.1557

Werttheoretisch begründete Zukunftsethik (Hans Jonas)

Jonas prägt als Erweiterung zu den bisher bestehenden Verantwortungsprinzipien den naturalistischen (ökologischen) Verantwortungsbegriff. Die Notwendigkeit eines veränderten Umgangs mit dem Begriff Verantwortung führt er auf das veränderte Wesen menschlichen Handelns zurück, das aus der Erweiterung der Möglichkeiten durch fortschreitende Technisierung entsteht.1558 Überlegungen zur sozialen Organisation moralischer Mitverantwortung basieren auf diesem Verantwortungskontext.1559 In Anlehnung an Kant formuliert Jonas seinen eigenen kategorischen Imperativ: „Handle so, dass die

1553 Vgl. Weischedel 1972, S. 5 ff./S.77 1554 Vgl. Weischedel 1972, S. 43 ff. 1555 Vgl. Weischedel 1972, S. 32 ff. 1556 Kreß 1997, S. 53 1557 Vgl. Kreß 1997, S. 53 1558 Vgl. Jonas 2012, S. 15 f. 1559 Vgl. Düwell 2006, S. 544

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

Verschiedene Ansätze

375

Kurz-Skizzierung Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“1560 Begründungshintergrund ist das Prinzip der elterlichen Verantwortung oder auch der Verantwortung ähnlich eine ungleichen reziproker Beziehungen, in denen Eine Person verantwortlich für eine schutzlose andere Person ist, der diese Verantwortungswürdigkeit aufgrund ihrer selbst zukommt.1561 Jonas macht den Verantwortungsbegriff zu einem „prospektiven Vorsorgeprinzip der technischen Zivilisation“1562, das nicht die „ex-post-facto Rechnung für das Getane, sondern die Determinierung des Zu-Tuenden betrifft.“1563

Verantwortung Apel/Habermas beschäftigen sich im Rahmen der transzendentalpragmatiin der Diskurs- schen Diskursethik mit dem Verantwortungsbegriff bzw. mit der Verantworethik tungsethik, indem sie die zentralen Bestandteile von Weber aufgreifen und diskutieren. Als Ausgangspunkt dienen ihnen der von der Verantwortungs(Jürgen Habermas und und Wertethik abgelehnte Ansatz Kants, der einerseits die Instanz der VerantKarl-Otto Apel) wortung subjektiv nach innen, also auf die Gesinnung und das Gewissen richtet und sich andererseits auf das ,Faktum der Vernunft‘ beruft.1564 Daher greift Habermas in der ersten Stufe Kants kategorischen Imperativ auf, überführt das individuell-subjektivistische Prinzip in ein intersubjektives, welches sich auf der Ebene praktischer Diskurse umsetzen soll und zwar auf dem formalen Grundprinzip des ,Faktum der Vernunft‘ und auf Basis der Gleichberechtigung und solidarischen Mitverantwortung aller Vernunftswesen mit Konsensbildung.1565 Nach Apel ist die zweite Stufe spielt der klassischer Utilitarismus und Regelutilitarismus hinein und ist nicht wie bei Kant nur die deontologische Sollensgewissheit mit moralischen Normen verbunden. Nicht nur die Interessen aller Betroffenen, sondern zusätzlich auch die Folgen bzw. Nebenfolgen berücksichtigt werden müssen und zwar niemals abschließend, sondern jeweils auf der Basis des aktuell vorhandenen Wissens; das heißt, dass die begründeten Normen generell revidierbar bleiben.1566 Die Diskursethik als Verantwortungsethik integriert Motive aus der Gesinnungsethik, der Theorie des kommunikativen Handelns und des Utilitarismus im Rahmen der Folgenabschätzung.

1560 Jonas 2012, S. 36 1561 Vgl. Wieland 1999, S. 12 1562 Heidbrink 2010, S. 6 1563 Jonas 2012, S. 174 1564 Vgl. Suda 2005, S. 245 1565 Vgl. Apel 1992, S. 271 f. 1566 Vgl. Apel 1992, S. 273; Habermas 2014, S. 75 f.

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5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

Verschiedene Ansätze Das Problem der Zuschreibung von Verantwortung (Hans Lenk und Matthias Maring)

Kurz-Skizzierung Die Konzentration auf die Problematik der Verantwortungsverteilung, die sich in immer komplexeren soziotechnischen-sozioökonomischen Systemen der hoch entwickelten Gesellschaften intensiviert. 1567 Für die beiden Autoren existiert neben der moralischen persönlichen auch eine sekundäre Verantwortung, die von Unternehmen, Kooperationen, Institutionen usw. getragen werden muss. Demnach wird in Einzel- bzw. primäre Handlungen und Gruppenbzw. sekundären Handlungen (auch kollektives Handelns genannt) unterschieden. Primäre Handlungen werden folglich dem Individuum zugeschrieben, während sekundäre Handlungen nicht auf einzelne Personen reduziert werden, sondern von Institutionen, Kooperationen, Unternehmen usw. ausgehen.1568 Gruppenhandeln ist Handeln in und von Organisationen, welches unabhängig voneinander stattfindet oder von strategischen und konkurrierenden Gegebenheiten abhängt. Hierbei können Probleme der Handlungszuteilung und Handlungsverteilung auftreten, sowie Probleme der Teilbarkeit und Verteilung der Verantwortung.1569 „1. Das Problem de Zuschreibung von Verantwortung beim nicht-korporativen kollektiven Handeln von vielen Akteuren (Korporationen oder Individuen) und bei arbeitsteilig-marktwirtschaftlichen Prozessen und technischen Entwicklungen, 2. Das Problem individueller bzw. Kollektiver Verantwortung für öffentliche, kollektive Güter (inkl. der Schwellenwertproblematik auf der Schädigungsseite) und für die - bei Schädigung bzw. Nichtbereitstellung - davon Betroffenen und 3. Das Problem der Zurechnung und Verantwortungsverteilung bei organisationsinterner, korporativer Arbeitssegregation und bei arbeitsteilig-korporativen Produktionsprozessen.“1570 Arbeitsteilung und Handlungskoordinationen erschweren die Zurechnung und Zuordnung unerwünschter Handlungsfolgen und die Zuschreibung von Verantwortung.1571 Das Konzept der kollektiven und korporativen Verantwortung ist problematisch. Einerseits darf das kollektive Handelns von Individuen nicht vorgeschoben werden, um sich damit der individuellen Verantwortung zu entziehen, andererseits darf bei der Gruppenverantwortung, bei der Personen bestimmt werden können, die mitverantwortlich sind, die Gruppenverant-

1567 Vgl. Lenk/Maring 1995, S. 249 1568 Vgl. Lenk/Maring 1995, S. 282 1569 Vgl. Lenk/Maring 1995, S. 252 1570 Vgl. Lenk/Maring 1995, S. 252 1571 Vgl. Lenk/Maring 1995, S. 252

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

Verschiedene Ansätze

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Kurz-Skizzierung wortung nicht obsolet werden. Letztlich dürfen Individuen nicht für etwas verantwortlich gemacht werden, für das sie nicht alleine verantwortlich sind.1572 Zu schlussfolgern ist, dass primäre und sekundäre Verantwortung, stets in Beziehung zueinander zu sehen sind, da immer primäres und sekundäres Handeln die primäre moralische Verantwortung aktivieren. Moralisch bedeutsam wird es immer dann, wenn andere betroffen sind.1573

5.2.7.2 Die Kohärenz zwischen Verantwortung – Professionalität und Identität „Der moderne Verantwortungsbegriff hat die […] Bedingungen der Freiheit, Kausalität und Intentionalität zur Voraussetzung, damit Akteuren die Folgen ihres Handelns zugerechnet werden können. Dabei hängen die Kriterien und Maßstäbe, die für die Zuschreibung von Verantwortung erforderlich sind, in der Praxis von den konkreten Umständen und vorliegenden Rahmenbedingungen ab, unter denen Akteure ihre Handlungen vollziehen (Heidbrink 2003, 30 ff.). Vorsatz und Absicht, Fähigkeiten und Kenntnisse, Aufgaben und Rollen, das Arbeitsumfeld und gesetzliche Regelungen sind Faktoren, die bei der Verantwortungsattribution berücksichtigt werden müssen.“1574 Verantwortung ist nach Lenk/Maring (1995) „ein Beziehungs- oder Relationsbegriff und ein Zuschreibungsbegriff.“1575 So steht grundsätzlich beim Verantwortungsbegriff die Frage im Vordergrund, wer für wen (oder was) nach welchen Kriterien verantwortlich ist (oder gemacht werden kann). Im Sinne des Zuschreibungsbegriffs wird der Verantwortungsbegriff in seiner Grundstruktur als dreiteilige Dimension/Relation definiert. „Jemand (Verantwortungssubjekt) ist für etwas (Verantwortungsobjekt) vor oder gegenüber jemandem (Adressat bzw. Verantwortungsinstanz) verantwortlich.“1576 Höffe definiert ihn als vierstellige Relation und nimmt damit zusätzlich den normativen Aspekt mit auf: „Jemand (Subjekt) ist für etwas (Gegenstand) vor oder gegenüber jemanden (Instanz) aufgrund bestimmter normativer Standards (Normhintergrund) prospektiv verantwortlich.“1577 1572 Vgl. Lenk/Maring 1995, S. 282 1573 Vgl. Lenk/Maring 1995, S. 282 1574 Lenk/Maring 1995, S. 247 1575 Heidbrink 2010, S. 6 f. 1576 Düwell 2006, S. 549 1577 Höffe 1993, S. 23

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5 Das Krankenhauswesen und der organisationale Identitätskern

Nach Lenk/Maring (1995) basiert der Verantwortungsbegriff auf sechs Dimensionen/Relationen: „Ein Verantwortungssubjekt ist für etwas (eine Handlungsfolge, ein Zustand usw.) gegenüber einem Adressaten vor einer Instanz in Bezug auf normative Kriterien bzw. Standards im Rahmen eines Verantwortungs-, Handlungsbereiches verantwortlich.“1578 Demnach werden Akteure „zur Verantwortung gezogen nach Maßgabe von Zuständigkeiten und Regeln, aufgrund bestimmter Rollen und Aufgaben, durch ihre Zugehörigkeit zu einer Organisation oder Korporation“1579 oder einem Unternehmen. „Mithilfe der vier unterscheidbaren Ebenen von Lenk (1994), die über die genannten Dimensionen bzw. Relationen hinausgehen, lassen sich die Modalitäten des Verantwortungsbegriffs genauer bestimmen: die Handlungs(ergebnis)verantwortung, unter die positive und negative Formen der Kausal- bzw. Präventionsverantwortung für begangene und zukünftige Handlungsfolgen fallen, die in individueller, kollektiver, institutioneller und korporativer Hinsicht spezifiziert werden müssen, die Rollen- und Aufgabenverantwortung, die sich auf die berufsspezifische Zuständigkeit von Akteuren, aber auch auf Fragen der Loyalität, der Fürund Vorsorge sowie der Haftung und Entschädigung in organisationalen und institutionellen Handlungsfeldern bezieht, die (universal)moralische Verantwortung, die sich auf prinzipielle Formen der Verantwortung von Akteuren gegenüber anderen bezieht, aber auch rollen- und aufgabenspezifische Pflichten umfasst, die als solche nicht delegierbar und aus ethischen Gründen persönlich zu erfüllen sind, die rechtliche Verantwortlichkeit, die im Gegensatz zur moralischen Verantwortung nicht auf subjektiver (Selbst-) Verpflichtung, sondern objektiven Schuldkriterien beruht und durch die juristisch einklagbare Sanktionierung von Fehlverhalten gekennzeichnet ist.“1580 „Drei Grundformen der Verantwortung lassen sich unterscheiden, die häufig nicht klar genug voneinander abgegrenzt werden: Der ethische Sinn von Verant-

1578 Heidbrink 2010, S. 6 f. 1579 Heidbrink 2010, S. 7 1580 Lenk 1994, S. 247 ff., zit.n. Heidbrink 2010, S. 7 f.

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

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wortung (responsibility) besteht darin, dass Akteure aufgrund moralischer Prinzipien für die Folgen ihres Handelns einstehen. Der rechtliche Sinn von Verantwortung (liability) liegt darin, dass Akteure nach Maßgabe von Gesetzen und Regeln für ihre Handlungen sanktioniert werden können. Der soziale Sinn von Verantwortung (accountability) ist dadurch gekennzeichnet, dass Akteure sich aufgrund von bestehenden Erwartungen oder persönlicher Bereitschaft um die nicht selbstverständliche Erfüllung von Aufgaben kümmern.“1581 „Dabei umfasst der Verantwortungsbegriff apodiktische (notwendige) Grundprinzipien, assertorische (tatsächliche) Verpflichtungen und problematische (mögliche) Verdiensthandlungen. Wo Akteure Verantwortung übernehmen oder diese ihnen zugeschrieben wird, kommen deshalb nicht nur Nichtschädigungsgebote zum Tragen (negative Verantwortung), sondern auch prosoziale Einstellungen und Wohlverhaltenspflichten (positive Verantwortung).“1582 „Der Verantwortungsbegriff ist somit sowohl durch regulatorische Komponenten gekennzeichnet, die aus seiner deontologischen Verfassung in der Gestalt handlungsanleitender Pflichten und Regeln hervorgehen, als auch durch utilitaristische Komponenten, die durch seine teleologische Ausrichtung in der Gestalt von erstrebenswerten Gütern und Zielen vorgegeben werden. Beide Komponenten sind relevant für ein vollständiges Verständnis des Verantwortungsbegriffs. Wo Akteure bestimmte Ziele verfolgen oder sich für die Verbesserung von Zuständen einsetzen, tun sie dies aus voraus liegenden, zumeist intrinsischen Prinzipien und Überzeugungen. Wenn Akteure für vollzogene Handlungen zur Verantwortung gezogen werden, geschieht dies unter dem Bezug auf geltende Normen und Regeln und in Hinblick darauf, wieweit sie in der Lage waren, die Folgen ihrer Handlungen vorauszusehen und zu beeinflussen.“1583 Im klassischen Verständnis von Verantwortung lässt sich auch die Verantwortungsinstanz in drei Dimensionen unterscheiden: Einmal ist es das Gesetz, unter der Voraussetzung, dass das in einer Gemeinschaft lebende Individuum dieses Gesetz auch anerkennt. Eine weitere Instanz ist Gott, vor allem in der jüdisch-christlichen Tradition, welche allerdings nur für gläubige Menschen als Instanz existiert, jedoch weitreichend im gesetzlichen Kontext verwendet wird, beispielsweise in der Präambel des deutschen Grundgesetzes. Die dritte Dimension ist das persönliche Gewissen, also das Rechtfertigen von Handlungen und Unterlassungen vor sich selbst, auf der Grundlage von internalisierten Werten 1581 Heidbrink 2010, S. 8 1582 Heidbrink 2010, S. 10 1583 Heidbrink 2010, S. 9

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und Normen. In diesem Fall ist das Subjekt der Verantwortung gleichzeitig seine Instanz.1584 Wiederum wirkt ein positiv unterstütztes persönliches Gewissen identitätsfördernd, während ein schlechtes negativ ausgelöstes persönliches Gewissen sich identitätsstörend auswirkt. Der Verantwortungsbegriff ist auch in der Wirtschaftsethik von großer Bedeutung und hat eine ökonomische Relevanz. Die Wirtschaftsethik geht der Frage nach, „wie moralische Normen und Ideale unter den modernen Bedingungen einer eher internationalen, wettbewerblich verfassten Marktwirtschaft zur Geltung gebracht werden können.“1585 Nach Heidbrink (2010) zielt das wirtschaftsethische Verantwortungsprinzip auf „eine Vermittlung der ökonomischen Rationalität mit der moralischen Vernunft. Die Kategorie der Verantwortung ist zu dieser Vermittlung besonders gut geeignet, weil sie als folgenbasiertes Legitimationskonzept nicht nur nach den normativen Gründen von Entscheidungen fragt, sondern auf den Erfolg oder Misserfolg von Handlungen gerichtet ist. Das immanente Erfolgskalkül prädestiniert das Verantwortungsprinzip zu einer normativen Reflexionskategorie wirtschaftlicher Prozesse, die mit den herkömmlichen Mitteln kategorischer Ethiken nicht adäquat zu erfassen sind.“1586 „Aus Sicht des Verantwortungsprinzips wird danach gefragt, wie Marktakteure ihre Handlungen so gestalten können, dass deren Folgen weder wettbewerbliche Nachteile mit sich bringen noch zu Schäden des Individual- oder Gemeinwohls führen.“1587 Im Sinne einer Identifikation mit dem Unternehmen kann ein strategisches Verantwortungskonzept eines Unternehmens auch Vorteile mit sich bringen und für eine Positionierung und Markenbildung (Identitätsbildung) von Bedeutung sein. „In der Darstellung von Vilmar (2009) wird das Spannungsfeld der ärztlichen Berufsausübung mit den Eckpunkten Ethik und Kostendruck beschrieben, welche die Mediziner in ein ethisches Dilemma manövriere: Auf der einen Seite die uneingeschränkte Loyalität des Arztes oder der Ärztin dem Patienten gegenüber (im Sinne einer berufsethischen Verpflichtung und Verantwortung) und auf der anderen Seite der Kostendruck durch verschiedene Maßgaben von Krankenhaus und Krankenversicherung.“1588 1584 Vgl. Bayertz 1995, S. 16 ff. 1585 Pies/von Winning 2005, S. 495 1586 Heidbrink 2010, S. 3 1587 Heidbrink 2010, S. 3 1588 Reimann 2012, S. 26

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

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Verantwortungsübernahme gehört zur Professionalität und zum professionellen Handeln. Damit benötigen Professionelle auch den entsprechenden Rahmen, in dem sie ihre Verantwortung auch tragen können. Geschieht dies nicht, ist dies ein Angriff auf die berufliche und personale Identität. Professionelle fordern auch eine verantwortungsvolle Organisation, die ihre Unternehmensverantwortung ebenso mit Professionalität wahrnimmt. Eine Diskrepanz zwischen dem Verantwortungsbewusstsein der Professionellen/Experten und dem Verantwortungsbewusstsein des Unternehmens verhindert eine Identifikation mit diesem Unternehmen, da die handlungsbestimmenden und identifikationsfördernden Werte nicht geteilt werden. Dagegen wirkt es identifikationsfördernd, wenn Professionelle/Experten ein Unternehmen erleben, indem die gemeinsame Verantwortung für das Handeln und somit die Werte geteilt werden. 5.2.8 Professionalität und Könnerschaft als selbstverständliche Kernerwartung der Kunden Die Diagnostik und Therapien gehen oft mit in Kauf genommenen medizinischen operativen Eingriffen, Verletzungen und Nebenwirkungen am menschlichen Körper und Psyche einher. Professionalität und Könnerschaft ist eine Grundvoraussetzung für das Vertrauen und die daraus resultierende Zustimmung zu notwendigen medizinischen Leistungen. Gerade bei Professionen (wie z.B. den Ärzten), die im gesellschaftlichen Auftrag handeln, ist es eine zentrale unverzichtbare und selbstverständliche Kernerwartung eines jeden Patienten, nach den Maximen, der Professionalität und Könnerschaft sowie der aktuellen wissenschaftlichen Qualität behandelt zu werden. Im Rahmen der Ökonomisierung und im Marketing ist der Kundenbe1589 griff trotz aller Kritik an diesem Begriff auch auf das Gesundheitswesen über-

1589 Anmerkung: Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass der Begriff ,Kunde‘ im Gesundheitswesen nicht unproblematisch, unkritisch zu betrachten ist. Erstens: Der Begriff ,Kunde‘ folgt seinem Ursprung nach (Wortsinn von ,Kunde‘, der Kundige, der Eingeweihte) einem Ideal, nämlich dem des ,mündigen Patienten‘. Doch der Patient als Kunde ist kein gleichberechtigter Partner in einem Geschäftsverhältnis, denn er ist abhängig und schutzbedürftig. „Alle Konzepte, deren Funktionsfähigkeit davon abhängt, dass die Patienten erfolgreich die Rolle des kritischen Kunden spielen, ignorieren die(se) Asymmetrie (der Arzt-Patienten-Beziehung) und die daraus resultierende Schutzbedürftigkeit der Kranken.“ (Kühn 1996, S. 3) Durch die Kennzeichnung des eigentlichen Begriffes ,Patient‘ wird auch immer „Passivität, Pathos und Leiden und nicht zuletzt ein bedürftiges Wesen“ (Schnell 1999, S. 66) verbunden.

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tragen worden, so wird der Patient als Kunde bezeichnet. Marktorientierung bedeutet Kundenorientierung, denn es sind die Kunden, die im Wettbewerb im Fokus stehen und hart umkämpft werden. „Jede öffentliche oder private Gesundheitsorganisation gewinnt durch Kundenorientierung die Möglichkeit, sich darauf auszurichten, was der Markt erfordert. Nämlich eine Ausrichtung auf die Bedürfnisse derer, für die produziert wird, und das sind die Patienten. Durch die Einführung des Begriffs ,Kunde‘ wird ein Orientierungswechsel1590 möglich.“1591 „A primary characteristic of a professional service is ,the altruistic service to clients‘, meaning that in cases of conflict of interest between what is profitable for the supplier and what will be the best solution for the client, the latter alternative must be chosen. This is a difficult constraint to impose on a firm, but it is critical to the longterm reputation of the company.“1592

Zweitens: Der Arzt befindet sich in einem ethischen Rollenkonflikt – ist er Arzt oder Ökonom? „Zwischen Patienten und ihren professionellen Helfern geht es nicht zu wie auf einem normalen Markt. Die ärztlichen und pflegerischen Professionals versuchen nicht, den Patienten eine mehr oder weniger ansprechende Ware zu verkaufen, die der Patient, je nach Laune oder Belieben, auch ungekauft lassen oder bei Nichtgefallen zurück geben kann. Er ist - jedenfalls wenn es ernst ist - nicht der ,Kunde als König‘, sondern gerade weil er sich selbst nicht helfen kann auf die Hilfe anderer angewiesen.“ (Heubel 1998, S. 4 f.) Und drittens: Die Gesundheit von Personen ist kein handelbares Produkt. Sie lässt sich nicht von einem Produzenten an einen Verbraucher verkaufen. Man kann nicht ein Stück seiner guten Gesundheit einer Person mit schlechter Gesundheit vermieten oder verkaufen oder auch nur verschenken. Gesundheit lässt sich von der Person nicht abtrennen, ist nicht veräußerlich, ist immer die Gesundheit einer individuellen Person. (Heubel 1998, S. 4 f.) Andererseits beginnt „das ,Kundesein‘ im Gesundheitswesen schon im Zustand der Gesundheit […]. Der Kunde holt sich als potentieller Patient bei Leistungsanbietern direkt oder durch Krankenkassen vermittelte Kostenvoranschläge ein und entscheidet sich für das Versorgungspaket, welches er wünscht und finanzieren kann. Der Kunde wägt ab, wieviel Geld er für seinen aktuellen Lebensstil auszugeben gewillt ist. Ein Kunde ist schließlich auch ein Machtfaktor. Er hat die Wahl zwischen alternativen Leistungsanbietern verschiedener Sektoren (Ärzte, Pflegedienste, Heime, Krankenkassen und eben auch Krankenhäuser/ Kliniken), die auf dem Markt konkurrieren. […] Der Patient als Kunde darf sich nicht nur frei, autonom und selbstbestimmt für das Beste Angebot entscheiden, er muss es auch!“ (Schnell 1999, S. 66) 1590 Anmerkung: „Der Orientierungswechsel bedeutet, dass nicht aus der paternalistischen Perspektive für den Patienten entscheiden wird, sondern vielmehr den Patienten in den Behandlungsprozess so stark mit einzubeziehen, dass er selbst in der Lage ist, die anstehenden Entscheidungen für sich selbst zu treffen.“ (Grossmann 1997, S. 39) 1591 Grossmann 1997, S. 39 1592 Anmerkung: Übersetzung: „Ein Hauptmerkmal einer professionellen Dienstleistung ist der ,altruistische Service für Kunden‘, was bedeutet, dass in Interessenkonflikten zwischen dem für den Lieferanten rentablen und der für den Kunden besten Lösung die letztere Alternative

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

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Dabei geht es auch um die die Qualität im Allgemeinen, das bedeutet auch, die Forderungen und Erwartungen der (internen und externen) Kunden zu erfüllen. Eigentlich ist dies eine Selbstverständlichkeit. Theodor Heuss sagte „Qualität sei eine Sache des Anstandes“1593 Patienten haben an das System der KrankenhausVersorgung und die jeweiligen Akteure spezielle Erwartungen, Vorstellungen, Bilder, Wünsche, Hoffnungen.1594 Gesundheitsdienstleistungen sind Vertrauensleistungen (siehe unter Kapitel 2.1.2) und sehr oft für den Patienten/Kunden von existenzieller Bedeutung. Daher geht es gerade bei Gesundheitsdienstleistung um die Qualität der Professionalität in der Behandlung, im Umgang und in der Organisation, die die Patienten und Angehörigen als Kunden als Selbstverständlichkeit erwarten. Dies resultiert unter anderem auch aus dem Kernauftrag der Expertenorganisation Krankenhaus1595, die als professionelle Organisation eine sehr zentrale gesellschaftliche Aufgabe erfüllt und fachlich kompetente und wertvolle Leistungen erbringt.1596 Krankenhäuser werden „in Abgrenzung zu Industrieunternehmen als ,knowledge intensive organizations‘ oder Know-how-Betriebe bezeichnet.“1597 Professionalität und Expertentum/Könnerschaft gilt in der Verbindung mit dem Faktor Qualität als implizites Kernversprechen der Organisation Krankenhaus, welches der Patient und die Angehörigen als externe Kunden selbstverständlich erwarten und die Basis für das Vertrauen ist. Die Diagnostik und Therapien gehen oft mit in Kauf genommenen medizinischen operativen Eingriffen, Verletzungen und Nebenwirkungen am menschlichen Körper und Psyche einher. Professionalität und Könnerschaft ist eine Grundvoraussetzung für das Vertrauen und die daraus resultierende Zustimmung zu notwendigen medizinischen Leistungen. Gerade bei Professionen (wie z.B. den Ärzten), die im gesellschaftlichen Auftrag handeln, ist es eine zentrale unverzichtbare und selbstverständliche Kernerwartung eines jeden Patienten, nach den Maximen, der Professionalität

gewählt werden muss. Dies ist eine schwierige Einschränkung für ein Unternehmen, stellt jedoch einen entscheidenden Faktor für den langfristigen Ruf des Unternehmens dar.“ (Løwendahl 2005, S. 22) 1593 Kamiske 1996, S. 137 1594 Vgl. Reimann 2012, S. 45 1595 Anmerkung: „Da die Klienten im Hinblick auf die sie betreuenden Experten kategorisiert sind oder sich selbst entsprechend kategorisieren, ist die Struktur der Profibürokratie zugleich funktionsorientiert und marktorientiert.“ (Mintzberg 1992, S. 262) 1596 Vgl. Grossmann 1997, S. 25 1597 Laske/Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 114

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und Könnerschaft sowie der aktuellen wissenschaftlichen Qualität behandelt zu werden. „Mit der Perspektive der Kundenorientierung steht […] die Interaktion mit jenen Personen, für die diese Tätigkeiten gedacht sind“1598 im Mittelpunkt. „Die Komplexität der Wissensbasis professionellen Handelns beeinflusst die Interaktionsbeziehungen1599, die durch ein Kompetenzgefälle gekennzeichnet ist und vom Klienten einen Vertrauensvorschuss gegenüber dem Professionellen (als stellvertretendem Problemlöser) verlangt.“1600 Als Ergebnis aus einer PEQ-Studie (2013)1601, welche die größte Patientenbefragung in Deutschland, des ,Patients Experience Questionnaire (PEQ)‘ ist, wurden „vor allem die ärztliche und die pflegerische Betreuung […] durchweg gut bewertet, wohingegen bei organisatorischen Aspekten wie Entlassungsorganisation, Wartezeiten und Essensversorgung noch Verbesserungspotenzial bestehe“.1602 Grossmann weist auf Studienergebnisse hin, in denen „die sogenannte Hotelqualität (Essen und Ausstattung der Zimmer) für Patienten relativ unwichtig ist im Vergleich zur Information, Kommunikation und zur fachlichen Kompetenz von Ärzten und Pflegern.“1603 1598 Grossmann 1997, S. 38 1599 Anmerkung: „In einer Übersichtsarbeit der qualitativen Literatur zur Perspektive von Patienten stellen Ridd, Shaw et al. (2009) die Patient-Arzt-Beziehung als eine aus dem System herausragende dar, da sie einerseits spezifisch an die Situation der individuellen Begegnung gebunden ist, aber zum anderen auch überindividuellen Anforderungen genügen muss. Auf Grund ihrer Komplexität wird sie durch Ärzte und Patienten sehr unterschiedlich verstanden; in Studien werden Faktoren wie Kommunikation, interpersonale Fähigkeiten des Arztes, aber auch die Kontinuität der Behandlung und das Kriterium des Vertrauens untersucht. […] Nach Auswertung von elf qualitativen Studien finden die Autoren, dass sich Patienten Ärzte wünschen, die Interesse zeigen, zuhören können, deutlich und verständlich erklären und informieren können und die den Patienten in die Entscheidungen einbeziehen (Ridd, Shaw et al. 2009, 121). Besonders deutlich weisen die Studienergebnisse auf die Bedeutung hin, die Patienten dem Gefühl geben, der Arzt hätte Zeit für sie (ebd.). Die Hauptergebnisse der Untersuchung lassen sich darin zusammenfassen, dass eine longitudinale Behandlung sowie Erfahrungen in der Konsultation zwei Hauptelemente sind, die zur Entwicklung und Aufrechterhaltung der Beziehung zwischen Patient und Arzt beitragen.“ (Ridd, Shaw et al. 2009, S. 121, zit.n. Reimann 2012, S. 45) 1600 Kalkowski 2010, S. 7 1601 Anmerkung: „Diese PEQ-Studie soll Patienten bei der Wahl eines Krankenhauses unterstützen und mehr Transparenz im Hinblick auf die Qualität einer medizinischen Einrichtung ermöglichen. Der Ansatz ist dabei die subjektive Wahrnehmung des Patienten. Diese können nach einem Krankenhausaufenthalt über einen einfach strukturierten Fragebogen die vier Bereiche ,ärztliche Versorgung‘, ,Organisation und Service‘, ,pflegerische Betreuung‘ und ,Weiterempfehlung‘ bewerten.“ (Ärzteblatt 2013, S. 1) 1602 Ärzteblatt 2013, S. 1 1603 Grossmann 1997, S. 41

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

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Im Sinne der Kundenorientierung besteht ein wesentlicher Teil der Aufgabe von Experten, „in der Beziehung zum Patienten herauszufinden, was für ihn in seiner individuellen sozialen und psychischen Situation die optimale Strategie und Behandlung ist.“1604 „Der Klient kann die Qualität der zu erbringenden oder erbrachten professionellen Arbeit und deren ,Erfolg‘ nur bedingt einschätzen. Letzterer ist für ihn durch ein hohes Maß an Unsicherheit geprägt. Zusätzlich verstärkt wird das asymmetrische Verhältnis, wenn es sich bei den behandelten Problembereichen um vertrauliche Inhalte aus Arbeitskontexten oder dem Privatleben des Klienten handelt. Vor dem Hintergrund dieser ungleichen Beziehung zwischen Professionellem und Klienten ist (neben der ,Kompetenzdarstellungskompetenz‘ des Professionellen) Vertrauen ein ,Mechanismus‘ oder Medium, die Kluft zwischen dem hilfsbedürftigen Klienten einerseits und der für ihn so gut wie unmöglichen Kontrollierbarkeit professionellen Handelns andererseits zu überbrücken.“1605 Die Basis für das Vertrauen ist demnach die zu erwartende Professionalität, die sich z.B. durch das Interaktionsverhältnis und die Qualität zeigt. Dabei wirkt sich die professionelle Beziehung wiederum auf die Dienstleistungsqualität unmittelbar aus. „Unterschieden werden kann zwischen (einem ggf. durch Reputation gestützten) Personenvertrauen und Institutionenvertrauen bzw. Vertrauen in gesellschaftlich anerkannte Institutionen. Da der Klient die Qualität der vom Professionellen geleisteten Arbeit in der Regel nicht zur Gänze beurteilen und einschätzen kann, ist er (insbesondere wenn er neu im Feld ist) auf ,Qualitätssurrogate‘1606 angewiesen, die ihm die Orientierung unter den Leistungsanbietern ermöglichen.“1607 „Das persönliche Engagement der Mitarbeiter mag noch so groß sein, die Schwachstellen der Organisation kann es nicht kompensieren. Die Kultur der Organisation, ihr Leitbild, ihre Struktur und Abläufe, prägen die Erfahrungen, die Patienten mit dem System Krankenhaus machen.“1608

1604 Grossmann 1997, S. 39 1605 Kalkowski 2010, S. 7 1606 Anmerkung: Akkreditierung, verpflichtende Standards sowie Ausbildungs- und Berufszertifikate, aber auch weiche intangible Wettbewerbsfaktoren wie z.B. Professionalität im Handeln, Interaktion, Unternehmenskultur, Wertedarstellung im Verhalten, erfahrbare interdisziplinäre Zusammenarbeit und berufsübergreifende Koordination spielen eine zentrale Rolle. 1607 Kalkowski 2010, S. 7 1608 Grossmann 1997, S. 42

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Doch es „wäre gänzlich verfehlt, den Mangel an Kundenorientierung in Expertenorganisationen zu individualisieren und den Mitarbeitern Motivations- oder Kompetenzdefizite anzulasten. Der Weg zur Kundenorientierung beginnt vielmehr bei Struktur- und Organisationsveränderungen: Qualitätssicherung, unbürokratische Aufgabenerledigung, Implementierung von Instrumenten wie Patientenbefragungen, kurze Dienstwege, berufsübergreifende Kooperationsstrukturen, kleine ,kundennahe‘ Organisationseinheiten, die mit notwendigen Selbststeuerungsmöglichkeiten ausgestattet sind etc.“1609 Eine nachhaltige Kundenorientierung ist nur dann möglich, „wenn Patienten als allen anderen Dingen übergeordnete ernst genommen werden. Dazu gehört eine Ausrichtung der Strukturen und Prozesse der Organisation auf die Bedürfnisse derer, um die es geht.“1610 „Um eine wirkliche strukturelle verankerte Kundenorientierung in Expertenorganisationen zu schaffen, ist eine Beschäftigung mit Organisationsentwicklungsthemen unausweichlich. In Expertenorganisationen ist die entsprechende Sensibilität und Kompetenz hierfür erst im Aufbau begriffen.“1611 Der Kundenbegriff in den Gesundheitsorganisationen ist im Sinne der markt- und wettbewerbsorientierten Perspektive zu konkretisieren. Dieser umfasst einerseits die externen Kunden (den Patienten und den Angehörigen als potenzielle Kunden) und andererseits die internen Kunden, also die Mitarbeiter. Ein Krankenhaus als Unternehmen im Gesundheitswesen ist existenziell auf gute und professionelle Experten als Mitarbeiter angewiesen. Daher muss sich ein Krankenhaus als Unternehmen auf mehreren Märkten im Wettbewerb positionieren. Nicht nur die Patienten als externe Kunden müssen umworben werden, sondern das Unternehmen Krankenhaus muss sich auch um die guten professionellen Experten (als interne Kunden) bemühen und im Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt überzeugen. Die professionellen Mitarbeiter als interne Kunden haben somit auch Erwartungen an das Unternehmen, in dem sie professionell arbeiten wollen. Vor allem liegt im Interesse der professionellen Mitarbeiter (der Experten), ihr „Professionalitätsimage zu pflegen und aufrechtzuerhalten, dient es ihnen doch als eine mögliche Machtressource in ihrer Beziehung zur Organisation und als ein Schutzschild gegenüber denkbaren An- oder Eingriffen von

1609 Grossmann 1997, S. 38 1610 Grossmann 1997, S. 39 1611 Grossmann 1997, S. 38

5.2 Professionalität, Expertentum, Könnerschaft als Ausdruck und Erwartung

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außen und Ab- oder Entwertung ihres Arbeitsvermögens und ihrer beruflichen Identität.“1612 Daher erwarten sie sich Rahmenbedingungen, Strukturen, Prozesse und eine Organisation, in der sie ihre Profession, ihr Expertentum und ihre Könnerschaft in professionelle Handlung umsetzen und ausbauen können. Neben den gemeinsamen Visionen, Zielen, Werten und Kultur suchen professionelle Experten die Professionalität im gesamten Unternehmen – professionelle Mitarbeiter (Experten) erwarten auch eine professionelle Organisation und eine Professionalität, ein Expertentum und Könnerschaft im Management und in der Führung des Unternehmens, damit sie sich mit dem Unternehmen identifizieren können. Zufriedene Mitarbeiter erzeugen zufriedene Patienten/Kunden. Die professionellen Experten leisten ihre Dienstleistung nach dem ,uno-actu-Prinzip‘ direkt am Patienten/Kunden und arbeiten somit im Kernprozess des Unternehmens. Dadurch befindet sich ihre Dienstleistungstätigkeit an der Kundenkontaktmembran, gemeint ist dabei jede Stelle im Unternehmen, an welche der Patient/Kunde den Kontakt zum Unternehmen erfahren und erleben kann. Hierbei entscheidet sich der Eindruck, die Zufriedenheit, das Vertrauen beim Kunden/Patienten. Gelingt es einem professionell handelnden Management, eine motivierende, wertschätzende identitätsfördernde Führung, Kultur und Struktur aufzubauen, welche die Professionalität im Unternehmen unterstützt und fördert, hat dies Einfluss auf das Ergebnis der Behandlung der externen Kunden. Daher gehört die Orientierung an den Bedürfnissen der externen und internen Kunden in hohem Maße zu den zentralen Aufgaben des Managements und der Führung. 5.2.9 Herauszustellende Befunde des Teilkapitels Die Profession – ein besonderer Beruf Die Grundlage der Krankenhäuser und ihrer Gesundheitsdienstleitungen sind fachlich hochkomplexe individuelle Diagnosen- und Behandlungsprozesse, die vor allem von professionellen Berufen und Fach-Experten angeboten werden. Krankenhäuser sind spezielle Einrichtungen, die im Auftrag des Bundeslands/Staats für die Gesundheit der Bevölkerung zuständig sind

1612 Laske/Meister-Scheytt/Küpers 2006, S. 115

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und diese mit professionellen Gesundheitsdienstleitungen versorgen. Professionelle Gesundheitsfachexperten sind demnach die Kernbeauftragten in diesen Einrichtungen. Terminologisch sind die Begri