Interkulturelle Verständigung: Zum Problem grenzüberschreitender Kommunikation [1. Aufl.] 978-3-8100-1021-6;978-3-663-08060-2

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Interkulturelle Verständigung: Zum Problem grenzüberschreitender Kommunikation [1. Aufl.]
 978-3-8100-1021-6;978-3-663-08060-2

Table of contents :
Front Matter ....Pages 1-7
Einleitung (Jens Loenhoff)....Pages 8-14
Zur Rekonstruktion des Verständigungsbegriffs (Jens Loenhoff)....Pages 15-58
Zeichentheoretische Grundlagen Interkultureller Verständigung (Jens Loenhoff)....Pages 59-111
Interkulturelle Reziprozität und grenzüberschreitende Kommunikation (Jens Loenhoff)....Pages 112-223
Back Matter ....Pages 224-260

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Jens Loenhoff

Interkulturelle Verständigung Zum Problem grenzüberschreitender Kommunikation

Jens Loenhoff Interkulturelle Verständigung

Jens Loenhoff

Interkulturelle Verständigung Zum Problem grenzüberschreitender Kommunikation

Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 1992

Der Autor: Dr. Jens Loenhoff, geb. 1959. Soziologe. Wiss. Mitarbeiter an der Universität Essen und Lehrbeauftragter der Universität Bonn.

Meinen Eltern

Die Deutsche Bibliothek - C/P-Einheitsaufnahme

Loenhoff, Jens: Interkulturelle Verständigung : zum Problem grenzüberschreitender Kommunikation I Jens Loenhoff. Zugl.: Bonn, Univ.• Diss., 1992

ISBN 978-3-663-08061-9 ISBN 978-3-663-08060-2 (eBook) DOI 10.1007/978-3-663-08060-2

© 1992 by Springer Fachmedien Wiesbaden Ursprünglich erschienen bei Leske + Budrich, Opladen 1992 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere fiir Vervielfiiltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Inhaltsverzeichnis Einleitung

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§ 1 Zur Rekonstruktion des Verständigungsbegriffs

I. Kommunikation als Konsens 1. Rationales und mythisches Weltverstllndnis als Hintergrande einer Kommunikßtionstheorie 2. Kommunikßtives Handeln und Verstllndigung 3. Diskurs, Konsens und die ideale Sprechsituation 4. Defizite der Konsensorientierung

15 18 21 23

ll. Kommunikation als Problem 1. 2. 3. 4. 5.

Grundlegung einer allgemeinen Kommunikßtionstheorie Der Hintergrund der individuellen Welttheorie Mitteilen, Verstehen und Verstllndigen: Kommunikßtionssemantik Kommunikßtiver Erfolg und seine Kontrolle Perspektiven eines konfliktorientierten Verständigungsbegriffs

28' 32 34 37 41

m. Kommunikation als System 1. 2. 3. 4.

Doppelte Kontingenz und Systembildung Selektivität, Wahrnehmung und Kommunikßtion Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikßtion Kommunikßtion ohne Subjekt?

44 46 48 51

§ 2 Zeichentheoretische Grundlagen interkultureller

Verständigung I.

Semi~tische

Transformation: Zeichen und Bedeutung

1. Symbolgebrauch als anthropologischer Befund 2. Das Zeichenproblem 3. Zur Begründung einer dynamischen Zeichentheorie

59 61 62

5

ll. Zur Konstitution von Bedeutung 1. 2. 3. 4.

Das Potential einer sinnkritischen Bedeutungstheorie Probleme transzendentaler Bedeutungsidentität Das Konzept der Familienähnlichkeiten Eine kommunikativ-operationale Lösung

70 73 81 87

m. Wahrnehmung, Schluß und das Phänomen der Grenze 1. Der interpretative Charakter der Wahrnemung 2. Das Wahrnehmungsurteil als Hypothesenbildung und Abduktionsschluß 3. Jenseits eigener Wahrnehmung und Erfahrung: Zur Phänomenologie der Grenzen 6. Zur Semiosis der Grenzüberschreitung: Appräsentation und Idealsierung 5. Erkenntniskritische Zeichentheorie und die Okkasionalität kommunikativer Verständigung

92 94 98 104 108

§ 3 Interkulturelle Reziprozität und grenzüber-

schreitende Kommunikation I. Probleme einer Theorie der Kultur 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Zur Bestimmung eines allgemeinen Kulturbegriffs Kultur aus systemtheoretischer Perspektive Der kognitive Kulturbegriff Kultur als Zeichensystem Zu einem triadischen Kulturkonzept Zum transzendenten Potential von Kulturen

112 115 119

129 138 146

ll. Vertrautheit und Fremdheit 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

6

Zur Dialektik von Eigenem und Fremdem Fremdheit und ihre Bewältigung Hermetik und Hermeneutik Die Unbestimmtheit der Obersetzung Pragma und Relevanz Interpretationsverfahren Zur Phänomenologie der Differenz

152 155 159 164 170 179 183

m. Interkulturelle Kommunikation 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Zur Abgrenzug der interkulturellen Situation Konsens als Grundlage interkultureller Kommunikation? Der Aufbau gemeinsamer Orientierungen Bedeutungskonstitution im interkulturellen Handlungskontext Das Problem grenzüberschreitender Reziprozität Zum Verhältnis von interkultureller Verständigung und allgemeiner Kommunikationstheorie 7. Abschließende Bemerkungen

Literatur

187 192 199 201 212 218 219

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Einleitung "Rfaut bien s'apercevoir que ce n'est pas avec le couteau que nous dissequons, mais avec des concepts. " J. Lacan, Les ecrits technique de Freud

Theorie ist kein Erfahrungsersatz. Doch braucht jede empirische Analyse einen "begrifflichen Orientierungspunkt" (Weber). Dessen vorrangige Bedeutung liegt darin, die Problemstellung klar zu umreißen. Diese kann sich weder aus der Empirie ergeben, noch kann jene ihre eigenen Voraussetzungen von sich aus erschließen. Der der Begriffsanalyse entgegengesetzte, kaum akzeptabelere Weg läge in der bereits von Adomo kritisierten "tabula-rasa-Methode 11 (1970:81), die auf die Reflexion der eigenen Erkenntnisvoraussetzungen verzichtet. Dieser Gefahr kann durch eine problemorientierte, weniger aber durch eine disziplinorientierte Arbeitsweise begegnet werden. Neben Ideen- und Begriffsgeschichte muß deshalb eine problemgeschichtliche Perspektive treten, um nicht hinter bereits vorhandenes Problembewußtsein zurückzufallen. Der Glanz einer stringenten, an einer Theorie orientierten Untersuchung verblaßt ohnehin dann, wenn sich herausstellt, daß er um den Preis einer Theoriedogmatik mit Alles-odernichts-Charakter erkauft wurde. Die umgekehrte, eklektizistische Vorgehensweise, trifft deshalb der seit der Spätzeit der griechischen und alexandrinischen Philosophieerhobene Vorwurf mangelnder Originalität und Kreativität angesichts der starken Fragmentarisierungstendenz der Handlungswissenschaften zu Unrecht. Dem griechischen "eklektik6s 11 (wörtl. "auswählend") entleht, verweist diese Orientierung nämlich auf jene Strategie der Komplexitätsreduktion, die - nicht erst seit Bestehen der Theorie sozialer Systeme - Hauptprinzip wissenschaftlichen Arbeitens ist: 11 Absolute Unvergleichbarkeil belegt immer nur einen Mangel an theoretischer Phantasie, einen Mangel an Abstraktionsvermögen oder . . . voreilige Profilierungs- und Kritisierungsbedürfnisse. 11 (Luhmann 1982:366) Keine ernstzunehmende Untersuchung sozialer Phänomene leugnet die Verknüpfung von Sprache bzw. Zeichensystemen, Kultur, Kognition. Neuere Tendenzen in der Sprachwissenschaft, insbesondere in Semantik und Diskursanalyse, zeichnen sich aufgrund ihrer zunehmend pragmatischen Ausrichtung durch die Verabschiedung des identitätslogischen Bedeutungsbegriffs aus. Die kognitiven Wissenschaften modellieren Denkund Kommunikationprozesse mehr und mehr unter dem Aspekt der Re-

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virulente Frage nach dem Subjekt dieses Erzeugungsprozesses bzw. der Existenz eines solchen Subjektes überhaupt, hat im Laufe der Philosophiegeschichte unterschiedliche Antworten erfahren. Der gesellschaftliche und kulturelle Erzeugungsprozeß selbst ist stets auf veschiedene Weise gedacht worden, etwa als erkennende Tätigkeit (Kant/Hegel) oder als sprachliches Handeln (Humboldt), als gesellschaftliche Arbeit (Marx) oder als künstlerische Schöpfung (Schelling/Nietzsche) und schließlich mit Freud als Sublimierung von Trieben (vgl. Habermas 1984:20). Das diese Entwicklung charakterisierende Spannungsverhältnis von Subjektivismus und Objektivismus, Rationalismus und Relativismus reicht in den gegenwärtigen Diskurs. Problemgeschichtliche Hinweise erfolgen in diesem Zusammenhang mit systematischer Absicht. Die vorliegende Untersuchung gliedert sich in drei Paragraphen. Ihre Reihe:afolge stellt den Versuch einer systmatischen Annäherung an die bisher ausstehende Theorie interkultureller Kommunikation dar. Sie soll auf dem Wege einer analytischen Vorklärungjener Komponenten erfolgen, die die allgemeinen Strukturen interkultureller Kommunikationsprozesse kennzeichnen. Um die oben konstatierte inflationäre Begriffsverwendung nicht noch weiter auszudehnen, soll im folgenden nur von denjenigen Interaktionen die Rede sein, die in den Bereich des "unmittbaren Wirkens" (SchützJLuckmann 1984: 104) fallen: "Unmittelbares gesellschaftliches Handeln ist dadurch gekennzeichnet, daß sich der andere, auf den der Entwurf gerichtet ist, in der Reichweite des Handelnden befindet. " (ibid.) Darüber hinaus sollen unter interkultureller Kommunikation oder interkultureller Verständigung nur solche Kommunikationsprozesse verstanden werden, die zwischen Angehörigen unterschiedlicher Sprach- und Kulturgemeinschaften stattfinden und folglich dadurch charakterisiert sind, daß sich die Interaktionspartner weitgehend an unterschiedlichen symbolischen Codes orientieren und damit ein relativ hohes Maß gegenseitiger Fremdheit empfinden. Die Behandlung von Kommunikationsphänomenen vor dem Hintergrund von Bilingualismus oder Sozialisation in zwei oder mehreren Kulturen liegen nicht im Interesse der Untersuchung. Der hier zur Diskussion stehende Typ interkultureller Kommunikation bezieht sich darüber hinaus nur auf solche sozialen Situationen, in denen sich die Handlungspartner sowohl visuell wie auch auditiv wechselseitig wahrnehmen können. Im ersten Abschnitt werden zunächst drei theoretische Ansätze behandelt. Sie sind abgesehen von den Überlegungen Ungeheuers keine ausschließlich auf die Kommunikationsproblematik bezogenen Theorien, doch räumen sie dieser theoriestrategisch einen zentralen Stellenwert ein. Die hier ausgearbeiteten zentralen Thesen zu VerständigungshandJungem werden nur mit 11

Tatsache begründet sein, daß das Problembewußtsein einer sinnkritischen Kommunikationstheorie erst allmählich ins Blickfeld soziologischer und sprachwissenschaftlicher Konzeptionen dringt. 2 Es mangelt an Ansätzen, die sich der Aufgabestellen, über zwei wesentliche Aspekte Rechenschaft abzulegen: Dies betrifft einerseits das Kernproblem, durch welchen VerständigungsbegriffHandlungen in und Voraussetzungen von interkulturellen Kommunikationsprozessen erschlossen werden können (etwa welche operativ wirksamen Fiktionen interkulturelle Kommunikation ermöglichen) sowie die Frage nach den praktischen Hypothesen, die Menschen in derartigen Situationen zu Verständigung führen. Diese Aspekte können allein unter Verweis auf syntaktische und semantische Dimensionen des Kommunikationsprozesses nicht geklärt werden. Der zweite Problembereich liegt in den Schwierigkeiten, die mit der Bestimmung des Kulturbegriffs zusammenhängen. In welcher Weise gehen kulturelle Elemente in den Kommunikationsprozeß ein, was ist das spezifisch kulturelle an solchen Orientierungen und was heißt eigentlich "interkulturell"? Ebenso wie sich Kultur nicht nur in und durch Sprache artikuliert, bleiben auch andere lebensweltliche Phänomene wie Sinn, Typik und Intersubjektivität nicht auf sprachlichen Sinn beschränkt. Ihre begriffliche Bestimmung muß möglichst auf alle symbolisch kategorisierenden Verhaltens- und Erlebnisweisen erweitert werden. Würde die Sphäre vor- und außersprachlicher Strukturierungsleistungen für die Theoriebildung nicht erschlossen, wäre der Begriff der interkultu-rellen Kommunikation mit dem der linguistischen und der fremdsprachlichen Übersetzung identisch. Durch die Ablehnung vorrangig sprachorientierter Konstruktionen soll vor allem eine breitere Fundierung der Kommunikationstheorie erzielt werden, die sich konzeptuell auf alle relevanten symbolischen Produktionen zu beziehen hat. Die damit verbundene Frage, ob immer nur das Eigene oder auch Neues als Neues verstanden werden kann, verweist auch auf jene Phänomene des Fremdverstehens, der Reziprozität undlntersubjektivität, deren konstitutive Analyse gleichzeitig ihren Erzeugungsprozesses freilegt. Die

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In der Bundesrepublikwird die Diskussion bis aufwenige Ausnshmen (vgl. Massonl981; Geringhausen!Seell983; Holenstein 1985; Brunt/Enninger1985 vorwiegend im Bereich der Soziolinguistik, der inguistischen Pragmatik oder der Stereotypenforschung geführt (vg. Oskaar 1984; Hann 1985; Rehbein 1981, 1985; Hinnenkamp 1982, 1989; Knapp 1988; Knapp/Enninger/Knapp-Potthoffl987; Knapp-Potthoffl985; Redder/Rehbein 1987; Roche 1989; Schneider 1987; Streeck 1985). Neuerdings findet die Fragestellung auch im Rahmen einer "interkulturellen Germanistik" Beriicksichtigung (vgl. Wierlacher 1987; Hermanns 1987; Hess-Lüttich 1989).

virulente Frage nach dem Subjekt dieses Erzeugungsprozesses bzw. der Existenz eines solchen Subjektes überhaupt, hat im Laufe der Philosophiegeschichte unterschiedliche Antworten erfahren. Der gesellschaftliche und kulturelle Erzeugungsprozeß selbst ist stets auf veschiedene Weise gedacht worden, etwa als erkennende Tätigkeit (Kant/Hegel) oder als sprachliches Handeln (Humboldt), als gesellschaftliche Arbeit (Marx) oder als künstlerische Schöpfung (Schelling/Nietzsche) und schließlich mit Freud als Sublimierung von Trieben (vgl. Habermas 1984:20). Das diese Entwicklung charakterisierende Spannungsverhältnis von Subjektivismus und Objektivismus, Rationalismus und Relativismus reicht in den gegenwärtigen Diskurs. Problemgeschichtliche Hinweise erfolgen in diesem Zusammenhang mit systematischer Absicht. Die vorliegende Untersuchung gliedert sich in drei Paragraphen. Ihre Reihe:afolge stellt den Versuch einer systmatischen Annäherung an die bisher ausstehende Theorie interkultureller Kommunikation dar. Sie soll auf dem Wege einer analytischen Vorklärung jener Komponenten erfolgen, die die allgemeinen Strukturen interkultureller Kommunikationsprozesse kennzeichnen. Um die oben konstatierte inflationäre Begriffsverwendung nicht noch weiter auszudehnen, soll im folgenden nur von denjenigen Interaktionen die Rede sein, die in den Bereich des "unmittbaren Wirkens" (Schütz/Luckmann 1984: 104) fallen: "Unmittelbares gesellschaftliches Handeln ist dadurch gekennzeichnet, daß sich der andere, auf den der Entwurf gerichtet ist, in der Reichweite des Handelnden befindet." (ibid.) Darüber hinaus sollen unter interkultureller Kommunikation oder interkultureller Verständigung nur solche Kommunikationsprozesse verstanden werden, die zwischen Angehörigen unterschiedlicher Sprach- und Kulturgemeinschaften stattfinden und folglich dadurch charakterisiert sind, daß sich die InteraktionspartDer weitgehend an unterschiedlichen symbolischen Codes orientieren und damit ein relativ hohes Maß gegenseitiger Fremdheit empfinden. Die Behandlung von Kommunikationsphänomenen vor dem Hintergrund von Bilingualismus oder Sozialisation in zwei oder mehreren Kulturen liegen nicht im Interesse der Untersuchung. Der hier zur Diskussion stehende Typ interkultureller Kommunikation bezieht sich darüber hinaus nur auf solche sozialen Situationen, in denen sich die Handlungspartner sowohl visuell wie auch auditiv wechselseitig wahrnehmen können. Im ersten Abschnitt werden zunächst drei theoretische Ansätze behandelt. Sie sind abgesehen von den Überlegungen Ungeheuers keine ausschließlich auf die Kommunikationsproblematik bezogenen Theorien, doch räumen sie dieser theoriestrategisch einen zentralen Stellenwert ein. Die hier ausgearbeiteten zentralen Thesen zu Verständigungshandlungen werden nur mit 11

der für den weiteren Gedankengang notwendigen Ausführlichkeit rekonstruiert. Es sind in dieser Folge die rationalistisch motivierte Theorie des kommunikativen Handeins von Jürgen Habermas, die anthropologisch und phänomenologisch inspirierte Problemtheorie der Kommunikation von Gerold Ungeheuer und die zunehmend kommunikationstheoretisch angelegte Systemtheorie von Niklas Lnhmann. Ziel dieses ersten Teils ist die Entwicklung eines Kommunikationsbegriffs, der aufgrund seiner problemadäquaten Konstruktion geeignet ist, das Feld interkultureller Verständigungsprozesse zu erschließen. Die semiotische Transformation, die im zweiten Abschnitt erfolgt, soll dieses Problembewußtsein weiter vertiefen und die Anschlußfähigkeit zeichentheoretischer Ansätze an die Problemstellung herstellen. Alle Bereiche sozialen Handeins sind von elementaren Symbolisierungsweisen begleitet; soziale Wirklichkeit ist stets zeichenhaft repräsentiert. Der Zugang zu diesem symbolischen Raum vollzieht sich durch "Semiotisation", d.h. durch Einübung in die gesellschaftliche Praxis der Produktion und Rezeption von Zeichen (vgl. Dömer/Rohe 1991). Alle elementaren Bewußtseinsleistungen, von Präsentation und Appräsentation über die Wahrnehmung bis zur Konstitution von Bedeutung, sind an diesen Zeichengebrauch gebunden. Vor allem die über den diskursiven Bereich hinausgehende sog. vorprädikative, also vorsprachliche und vorbegriffliche Sphäre kann durch die semiotische Perspektive miteinbezogen werden. Die strukturellen Beziehungen, die wesentlich zwischen der Organisation der Welt und der Organisation des Bewußtseins bestehen, beruhen auf eben dieser Fähigkeit zum Zeichengebrauch und zur symbolischen Konstruktion von Wirklichkeit. Daher ist die Semiotik nicht nur für die Kommunikationstheorie, sondern auch die Wahrnehmungstheorie und die Theorie der Kultur von grundlegender Bedeutung. Das sinnkritische Potential der Semiotik, zumal einer solchen, die einen dynamischen Zeichenbegriff vertritt, liegt darin, die notwendige Reflexivität allen Zeichengebrauchs, also auch desjenigen, der sich in der Wissenschaft vollzieht, berücksichtigen zu können. Ohne dieses semiotische Problembewußtsein lassen sich u.E. bestimmte Dimensionen von Kommunikation und Intersubjektivität, um die es hier vorrangig geht, nicht aufklären. Der umfangreiche dritte und letzte Abschnitt behandelt drei Problemstellungen. Zunächst ist die Bedeutung desjenigen Begriffsfragmentes herauszustellen, das wesentlich für spezifische Arten von Vertrautheit und Fremdheit verantwortlich ist, die es ohne kulturelle Differenzen nicht gäbe. Die permanent geforderte Modernisierung des Kulturbegriffs einerseits und die Objektivismen tradierter Konzepte andererseits umreißen dabei das Problemfeld, in dem die Diskussion um das, was eigentlich Kultur 12

heißen soll, steht. Hier ist interessant, daß die semiotische Perspektive durch ihren grundlagentheoretischen Status auf einer Ebene ansetzen kann, auf der die verschiedenen Konzepte miteinander verbunden werden können. Im Verständnis von Kultur als System spezifischer Zeichenbeziehungen und Symbolisierungsweisen, die Sinnbewirtschaftung, Problemdefinition und Problemlösung ermöglichen, behalten sowohl kognitive Orientierungsschemata als auch gegenständliche Kulturprodukte ihren Stellenwert. Kultur realisiert sich danach sowohl in einer bestimmten Form des Handelns, nämlich einer "signifying practice" (Williams 1981: 13), als auch in Objektivationen dieses Handelns. Doch zeigt der Kulturvergleich wie auch das Phänomen des Kulturwandels, daß nicht alle Symbolisierungen und Orientierungsschemata die gleiche Problemlösungskapazität beinhalten. Es existiert also ein grundlegendes Spannungsverhältnis, in dem Kultur und Welt zueinander stehen. Dieses Verständnis richtet sich daher gegen die Auflösung des Kulturbegriffs in denjenigen der Lebenswelt und des Hintergrundwissens. Formale Konzepte beschreiben schließlich nur die allgemeine Bedeutung dieser Strukturen für das Handeln, sie erlauben keine Aussage über die besagte Problemlösungskapaziät und ihre Verteilung. Vertrautheit und Fremdheit sind elementare Erlebnisweisen in sozialer Interaktion. Ihre Analyse muß im Zusammenhang mit kulturelle Grenzen transzendierenden Handlungen Berücksichtigung finden. Einer solchen Phänomenologie der Differenz kommt die Aufgabe zu, durch die konstitutive Analyse von Fremdheit und Vertrautheit deren Ontologisierung zu unterwandern. Sie kann aufzuzeigen, daß eine cartesianische Epistemologie gerade jene Perspektivität und Semiotizität aller Erkenntnisgegenstände verleugnen muß, die aus dem Spannungsverhältnis von Eigenem und Fremdem, von ~ematischem Zentrum und horizontbildender Periferie hervorgehen. Die Aneigungsformen, Relevanzen und Strategien des Vertrautmachens sind hier die spezifischen Handlungsweisen, die das Wechselspiel von Abgrenzung und Grenzüberschreitung strukturieren. Im letzten Teil des dritten Untersuchungsabschnitts sollen im Rückgriff auf die in den vorangehenden Abschnitten diskutierten Konzepte die Umrisse eines Problembewußtseins erkennbar werden, ohne das eine Theorie interkultureller Komunikation ihrem Gegenstand kaum gerecht werden kann. Dazu gehört nicht nur der Abschied von einem identitätslogischen Bedeutungs!Jegriff und einem konsensorientierten Kommunikationsverständnis, sondern auch jener von einem sprachzentrierten Sinnbegriff. Durch eine pJ:3gmatisch orientierte Bestimmung des Kulturbegriffs kann zudem plausibel gemacht werden, warum es keine, dem interkulturellen Kommunikationsprozeß logisch vorausgehende Gründe geben kann, die etwas 13

über das in der konkreten Situation realisierte Verständnis der Beteiligten und ihrer Rezeption der jeweilsfremden Kultur aussagen können. Darüber hinaus sollen die in der interkulturellen Situation spezifischen interaktiven und kommunikativen Leistungen zur Sprache kommen, die den Handelnden trotz Divergenzen von Verstehenshorizonten gegenseitige interaktive Erreichbarkeit und pragmatische Handlungskoordination ermöglichen. Dies führt schließlich zu der Behauptung, daß zwischen intra- und interkultureller Kommunikationkein kategorialer Unterschied bestehen kann. Die Differenzen liegen vor allem im deutlicheren Hervortreten der Präsuppositionen, unter denen jeder Kommunikationsprozeß steht, denn es sind, wie Gadamer sagt " ... die gestörten und erschwerten Situationen der Verständigung, in denen die Bedingungen am ehesten bewußt werden, unter denen eine jede Verständigung steht." (1965:361) Damit aber ist eine Theorie interkultureller Kommunikation immer zugleich eine allgemeine Theorie kommunikativer Grenzüberschreitung.

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§ 1 Zur Rekonstruktion des Verständigungsbegriffs " Gespräch ist von Seiten jedes Partners Problemlösungshandung. " G. Ungeheuer, Kommunikationstheoretische Schriften

I. Kommunikation als Konsens 1. Rationales und mythisches Weltverständnis als Hintergründe einer Kommunikationstheorie Habermas entwickelt den Begriff des kommunikativen Handeins vor dem Hintergrund einer Rationalitätstheorie. Rationalität hat nach seinem Verständnis weniger mit Erkenntnis oder dem Erwerb von Wissen zu tun als damit, wie die Handelnden Wissen verwenden (vgl. Habermas 1981a: 27). Diese zunächst kognitive Fassung des Rationalitätsbegriffs wird von Habermas in zwei Richtungen, einer "kognitiv-intrumentellen" und einer "kommunikativen" Rationalitätaus gebaut, die sich auf diejenige Wissensverwendung bezieht, die - verkörpert in Sprechakten - zum Einverständnis zwischen den Handelnden bzw. den Kommunikationspartnern führt. Der Begriff der kommunikativen Rationalität ist daher mit der Vorstellung verbunden von der "... zentrale(n) Erfahrung der zwanglos einigenden, konsensstiftenden Kraft argumentativer Rede, in der verschiedene Teilnehmer ihre zunächst nur subjektiven Auffassungen überwinden und sich dank der Gemeinsamkeit vernünftig motivierter Überzeugungen gleichzeitig der Einheit der objektiven Welt und der Intersubjektivität ihres Lebenszusammenhangs vergewissern." (198la:28) Die Definition enthält zwei wesentliche Aufforderungen an die Kommunikationspartner: sie müssen (1) das Problem der Herstellung von Intersubjektivität bewältigen und sich zudem auch noch (2) über diesich auf die objektive Welt beziehenden Sachfragen einigen. Habermas greift zur Stützung dieser Überlegungen auf die Ergebnisse der phänomenologischen Forschung zurück. Er sieht die Gültigkeitsbedingungen symbolischer Äußerungen im intersubjektiv geteilten und lebensweltlichen Hintergrundwissen verankert, das damit als Garant für die Möglichkeit eines kommunikativen

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Konsensus fungiert. 3 Daraus folgt für Habermas, daß die Welt erst dadurch Objektivität gewinnt, "... daß sie für eine Gemeinschaft sprach- und handlungsfähiger Subjekte als ein und dieselbe Welt gilt." (1981a:31) Das damit verbundene abstrakte Weltkonzept wird so zu einer notwendigen Bedingung dafür, daß sich die Kommunikamiteinander über das veständigen, was in ihrer Welt vorkommt oder von ihnen erreicht werden soll. Da der Erfolg von Interaktionen davon abhängt, ob sich die Handelnden auf gemeinsame und intersubjektiv gültige Beurteilungen ihrer Weltbezüge einigen können, nehmen jene Weltvorstellungen, die für die Kommunikationspartner als Deutungssysteme fungieren und ihr Hintergrundwissen verkörpern, einen zentralen Stellenwert ein. Unter Verweis auf die Arbeiten von Evans-Pritchard, UviStrauss, Malinowski, Godelier und in besonderem Maße Uvy-Bruhls Vorstellung von einer "mentalite primitive" beschreibt Habermas dieses Hintergrundwissen als jeweils modernes und mythisches Weltverständnis. Die Unterschiede liegennach Habermas' Lesart der ethnologischen Arbeiten nicht in der generellen Unfähi~eit zu bestimmten formalen Operationen oder defizitärer kognitiver Entwicklung, sondern vielmehr in einer Art den Weltbildern "Ontologien", die den Individuen zur Deutung ihrer Welt zur Verfügung stehen. 4 Vor allem das durch Uvi-Strauss beschriebene "wilde Denken", das durch Ähnlichkeitsund Kontrastbeziehungen geprägt und seinem kognitiven Stil nach konkretistisch ist, steht für die Konstitution mythischer Weltbilder. Ihm korrespondiert ein geringer Differenzierungsgrad zwischen Natur und Kultur. Mythen, so Habermas, erlaubten keine klare grundbegriffliche Unterscheidung zwischen Dingen und Personen, manipulierbaren Gegenständen und handelnden Subjekten: das Böse ist konzeptuell mit dem

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Der phänomenologische Geltungsbegriff unterscheidet sich allerdings erheblich vom sprachanalytischen; mit Geltung meint Husserllediglich den Aspekt der Sinnsetzung. Unabhängig von Fragen der Intersubjektivität oder der Wahrheit von Aussagen gilt einem Bewußtsein etwas als etwas, d.h. die Geltungsfrageist bei Husserl zunächst die Frage nach den sinnsetzenden Bewußtseinsakten. Vom Bewußtsein wird etwas "in Geltung gesetzt" (vgl. Husser11973:179). Habermas scheint hier den phänomenologischen in einen sprachkritischen Geltungsbegriff bruchlos überfiihren zu wollen.

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Obwohl es sich also weder um logische noch um semantische Eigenschaften handelt, steht fiir Habermas zunächst fest: "Mythische Weltbilder sind weit davon entfernt, in unserem Sinne rationale Handlungsorientierungenzu ermöglichen. Sie bilden, was die Bedingungen der im angegebenen Sinne rationalen Lebensfiihrung angeht, einen Gegensatz zum modernen Weltverständnis." (198la:73)

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Schädlichen, das Gute mit dem Gesunden und Vorteilhaften verwoben. "Mythische Weltbilder werden von Angehörigen nicht als Deutungssysteme verstanden, die an eine kulturelle Überlieferung angeschlossen sind, die durch interne Sinnzusammenhänge konstituiert, auf die Wirklichkeit symbolisch bezogen, mit Geltungsansprüchen verbunden, daher der Kritik ausgesetzt und einer Revision fähig sind." (1981a:85) Mit dem Hinweis auf diese mangelnde Differenzierung zwischen den Objektbereichen Natur und Kultur will Habermas darüber hinaus auf die Perspektive der Rationalisierung und Entmythologisierung der Weltsicht verweisen: Eine desozialisierte Natur und eine denaturalisierte Gesellschaft ermöglichen die Konstitution einer Tatsachenwelt, der die Handelnden mit bestimmten Grundbegriffen und Konzepten gegenüberzutreten imstande sind, die dann wiederum Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit beanspruchen können. Der Begriff der Geltung kann überhaupt nur dort sinnvoll sein, wo Aussagen der Kritik zugänglich sind. Dies resultiert nach Habermas aus lebensweltlichen Rationalisierungsprozessen, die sich - in Anlehnung an Piagets (1973) genetischen Strukturalismus - als Dezentrierung der Weltbilder und Differenzierung in eine objektive, subjektive und soziale Welt vollziehen. Auf sie können sich die Kommunikationspartner in ihren symbolischen Äußerungen beziehen. Diese drei Sphären versteht die Theorie des kommunikativen Handeins als formale Weltkonzepte. Ihre Formalität besteht in der Funktion, zu verhindern, daß sich die gemeinsamen Bezüge des Handeins in der Subjektivität der Interaktionspartner verlieren. Sie ermöglichen schließlich das, worauf die Theorie des kommunikativen Handeins im wesentlichen Anspruch erhebt: die Perspektive eines Dritten oder Unbeteiligten einzunehmen (vgl. 1981a: 107). Damit gewinnt der Begriff der Verständigung Kontur: "Jeder Akt der Verständigung läßt sich als Teil eines kooperativen Deutungsvorgangs begreifen, der auf intersubjektiv anerkannte Situationsdefinitionen abzielt. Dabei dienen die Konzepte der drei Welten als das gemeinsam unterstellte Koordinatensystem, in dem die Situtionskontexte so geordnet werden können, daß Einverständnis darüber erzielt wird, was die Beteiligtenjeweils als Faktum oder als gültige Norm oder als subjektives Erlebnis behandeln dürfen." (1981a:107) Mit der Explikation des Begriffs des kommunikativen Handeins soll gleichzeitig der Begriff der Lebenswelt als Korrelat zu Verständigungsprozessen eingeführt werden. Da die Lebenswelt die vorangegangenen Interpretationsleistungen bewahrt, ist sie ".. . das konservative Gegengewicht gegen das Dissensrisiko, das mit jedem aktuellen Verständigungsvorgang

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entsteht" (1981a: 107). 5 Gleichwohl stellen die voneinander abweichenden Situationsdefinitionender Interaktionspartner ein "Problem eigener Art" dar, "... denn in kooperativen Deutungsprozessen hat keiner der Beteiligten ein InterpretationsmonopoL Für beide Seiten besteht die Interpretationsaufgabe darin, die Situationsbedeutung des anderen in die eigene Situationsdeutung derart einzubeziehen, daß in der revidierten Fassung 'seine' Außenwelt und 'meine' Außenwelt vor dem Hintergrund 'unserer Lebenswelf an 'der Welt' relativiert und die voneinander abweichenden Situationsdefinitionen hinreichend zur Deckung gebracht werden können." (1981a: 150)

2. Kommunikatives Handeln und Verstiindigung Um die spezifisch intersubjektive Leistung des Verständigungsprozesses zu erfassen, muß der nach Habermas monologische und in den Aporien der intentionalistischen Bewußtseinstheorie befangene HandlungsbegriffWebers durch den des kommunikativen Handeins ersetzt werden (vgl. 1981a:378). Erst nach der Substitution des Kriteriums der Handlungsorientierung durch das der Handlungskoordination kann ein Verständigungsbegriff eingeführt werden, der eben diesen Koordinationsmechanismus adäquat beschreibt. Neben die im Webersehen Sinne zweckrationalen und im Sprachgebrauch der Theorie des kommunikativen Handeins "erfolgsorientierte" Typen von Handlungen treten nun "verständigungsorientierte" hzw. "kommunikative" Typen. Habermas spricht also dann " ... von kommunikativen Handlungen, wenn die Handlungspläne der beteiligten Aktoren nicht über egozentrische Erfolgskalküle, sondern über Akte der Verständigung koordiniert werden. " (1981a:385) Die gemeinsame Verständigung, an deren Erreichung mindestens zwei Kommunikationspartner beteiligt sind und die sich als genuin intersubjektive Leistung charakterisieren läßt, kann schließlich nur durch die Zustimmung beider Partner als gelungen angesehen werden. Ihre maßgebliche Grundlage wiederum ist die ausgehandelte Situationsdefinition. Diese Konzeption des Verständigungsbegriffs soll demnach zweierlei leisten. Der Theorie gesellschaftlicher Rationalisierung soll ein neues Begriffsinstrument bereitgestellt werden und es soll das vortheoretische Wissen der kom-

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Mattbiesen hat diese These einer umfangreichen Kritik unterzogen und dabei die Doppeldeutigkeit des Habermasseben Lebensweltbegriffs herausgearbeitet. Demnach gibt es die horizontbildend-problematische und die unproblematisch-ressourcenmäßige Dimension dieser Verortung des Lebensweltbegriffs (vgl. Mattbiesen 1985:43ff.).

petenten Kommunikationspartner rekonstruiert werden, "... die selber intuitiv unterscheiden können, wann sie auf andere einwirken und wann sie sich mit ihnen verständigen; und die zudem wissen, wann Verständigungsversuche fehlschlagen." (1981a:386) Verständigung und Kommunikation ist für Habermas kategorial mit der Idee des Einverständnisses verbunden. Anderen Konzepten wird entgegengestellt, daß weder kollektive Gleichgestimmtheil noch faktische Übereinstimmung allein das erfassen können, was ein Einverständnis auszeichnet: nämlich die rational motivierte Zustimmung und die auf ausdifferenzierten Propositionen beruhenden gemeinsamen Überzeugungen (vgl. Habermas 1981a:387). Die entscheidende Frage, wie und aufgrund welcher Kompetenzen die Kommunikationspartner zu einem derartigen Einverständnis gelangen, soll durch eine Universalpragmatik beantortet werden, die nicht nur eine Theorie kommunikativer Kompetenz begründen, sondern als philosophische Grunddisziplin zu fungieren hat, weil sie nach den formalen Geltungsgründen vernünftiger Rede fragt. In Anlehnung an Chomskys Transformationsgrammatik will die Habermassche Kompetenztheorie bei der Unterscheidung zwischen Kompetenz und Performanz ansetzen. Ihr Interesse liegt jedoch weniger in der Beschreibung eines abstrakten syntaktischen Regelsystems, sondern in der pragmatischen Dimension des Kommunikationsprozesses. Denn um sich zu verständigen muß ein Sprecher nicht nur einen Satz grammatikalisch korrekt konstruieren, er muß ihn auch in eine sozial akzeptable, d.h. der konkreten Situation angemessene Äußerung umformen. Diese Äußerungen im Einzelfall zu beschreiben wäre Aufgabe einer empirischen Pragmatik. Die Rekonstruktion desjenigen Regelsystems aber, nach dem diese Umsetzung in eine Äußerung erfolgt und von der sich Habermas die Aufklärung der Kornmunikationsproblematik erhofft, soll Universalpragmatik heißen: "Diese allgemeinen Strukturen möglicher Redesituationen sind Gegenstand der Universalpragmatik oder einer, wie ich vorschlagen möchte, Theorie der kommunikativen Kompetenz. Aufgabe dieser Theorie ist die Nachkonstruktion des Regelsystems, nach dem wir Situationen möglicher Rede überhaupt hervorbringen oder generieren." (1971b:102) Habermas bemüht für diese pragmatische Begründung die Konzeption der Sprechakttheorie, 6

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Nach dieser von Austin und Searle entwickelten Theorie sind Sprechakte- gemäß der These "doing things by saying something"- elementare sprachliche Handlungseinheiten, die dadurch charakterisierbar sind, daß mit der jeweiligen sprachlichen Äußerung gleichzeitig eine Handlung vollzogen wird (z.B. befehlen, versprechen, schwören usw.) (vgl. Austin 1962; Searle 1973). Sprechakte sind nach Searle durch zwei Teile, einen

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um plausibel zu machen, daß die von ihm für jede kommunikative Äußerung als konstitutivpostulierte "eigentümliche Doppelstruktur" schon in der Struktur der Sprechakte selbst enthalten ist. Was für die elementaren Redeeinheiten gilt, soll für Kommunikation allgemein gelten: Wenn ein Sprecher sich mit einer Äußerung an einen Kommunikationspartner wendet, wird damit eine Situation möglicher Verständigung hergestellt. Für diese Situation ist nach Habermas' Auffassung konstitutiv, daß Sprecher und Hörer grundsätzlich zwei Ebenen der Kommunikation betreten müssen, in denen sich die "Doppelstrukturumgangssprachlicher Kommunikation" zeigt: "Eine Verständigung kommt nicht zustande, wenn nicht mindestens zwei Subjekte gleichzeitig beide Ebenen betreten: a) die Ebene der Intersubjektivität, auf der die Sprecher/Hörer miteinander sprechen, und b) die Ebene der Gegenstände, über die sie sich verständigen (wobei ich unter 'Gegenständen' Dinge, Ereignisse, Zustände, Personen, Äußerungen und Zustände von Personen verstehen möchte)." (1971b: 105) Unter der Ebene der Intersubjektivität versteht Habermas den Umstand, daß in die Verständigungssituation konstitutiv die ldealisierungsleistungen der Kommunikationspartner eingehen. Diese bestehen in der gegenseitigen Unterstellung, daß die erzielte Verständigung eine tatsächliche ist. Es sind also im Kommunikationsprozeß immer zwei Dimensionen enthalten: die Verständigungsunterstellung und der mit einer Äußerung verbundene Geltungsanspruch: "... der Sinn von Rede überhaupt besteht offensichtlich darin, daß sich mindestens zwei Sprecher/Hörer über etwas verständigen. Dabei unterstellen wir, daß die erzielte Verständigung, wenn es eine ist, stets eine wirkliche Verständigung ist." (1971b: 114) Mehr aber als für die Untersuchung der Bedeutung von gegenseitigen Unterstellungen interessiert sich Habermas für die Dimension der Geltungsansprüche, die die Kornmunikationspartner in den "Einheiten der Rede", den Sprechakten, erheben: "Für ko~unikatives Handeln sind nur solche Sprechhandlungen konstitutiv, mit denen der Sprecher kritisierbare Geltungsansprüche verbindet. In den anderen Fällen . . . bleibt das in sprachlicher Kommunikation stets

illokutionären und einen Iokutionären Teil, bestimmt. Habermas übernimmt diese Unterscheidung, allerdings in anderen Worten. Der performative (illokutionäre) Teil des Satzes bestimmt den Verwendungssinndes propositionalen (lolrutionären) Teils; er legt also den Verwendungssinn fest und bestimmt, wie das, was im propositionalen Teil gesagt wurde, zu verstehen ist. Es ist also der performative Teil, der aus einem regelkonform generierten Satz eine sozial relevante Äußerung macht.

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enthaltene Potential für eine durch Einsicht in Gründe motivierte Bindung brachliegen." (1981a:410f

3. Diskurs, Konsens und die ideale Sprechsituation Bis jetzt wurde nachgezeichnet, welche Eigenschaften der Sprache und welche Kompetenzen der Handelnden Habermas zugrundelegt, um seinen Begriff des kommunikativen Handeins und der Verständigung zu konstruieren. Integraler Bestandteil dieser Konstruktion sind die (immanent) in jedem Kommunikationsakt erhobenen Geltungsansprüche, die sich auf die Verständlichkeit, die Wahrheit, die Wahrhaftigkeit und die Richtigkeit von Äußerungen beziehen (vgl. 1984:81). Diesen korrespondieren die vier pragmatischen bzw. "dialog-konstituierenden Universalien" (Kommunikativa, Konstativa, Expressiva und Regulativa), mit denen die Geltungsansprüche erhoben bzw. artikuliert werden können (vgl. 1971b:lllf.). Habermas konstatiert darüber hinaus, daß die Kommunikationspartner nicht nur de facto solche Geltungsansprüche artikulieren, sondern daß sie grundsätzlich vom alter ego "kontra-faktisch" erwarten, daß die oben erwähnten universalen Ansprüche - die gewissermaßen als Apriori der Kommunikation fungieren - auch tatsächlich erhoben werden: der Anspruch, sich verständlich auszudrücken, etwas zu verstehen geben, sich dabei verständlich machen, und sich miteinander zu verständigen (vgl. 1976: 176). Geltungsansprüche sind nun dadurch charakterisiert, daß sie eingelöst bzw. begründet werden können. Eine solche Begründung ist nach Habermas allerdings nur in einer handlungsentlasteten Kommunikationssituation, Diskurs genannt, 8 möglich, in der das Gespräch nicht in einen Kontext außersprachlicher Handlungen eingelassen ist. "In Diskursen hingegen sind nur sprachliche Äußerungen thematisch zugelassen; die Handlungen und Expressionen der Beteiligten begleiten zwar den Diskurs,

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Die von der Theorie des kommunikativen Handeins vertretene zentrale These, daß jede Äußerunggewissermaßeneine Stellungnahme zu den darin enthaltenen Geltungsansprüchen "erzwingt", so daß die Kommunikationspartner gegenseitige Begründungsverpflichtungen eingehen, nennt Habermas die "generative" bzw. "illokutionäre Kraft" der Rede.

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Wir sehen im Moment von einer Diskussion des Habermasseben Diskursbegriffs im Kontrast zu anderen Überlegungen zum Diskurs, so wie sie etwa von strukturalistischen (Levi-Strauss), neo- und poststrukturalistischen (Foucault, Barthes) oder konversationsanslytischen (Cicourel) Ansätzen vertreten werden, ab.

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aber sie sind nicht dessen Bestandteil. Wir können mithin zwei Formen der Kommunikation (oder der 'Rede') unterscheiden: kommunikatives Handeln (Interaktion) auf der einen Seite, Dislatrs auf der anderen Seite. Dort wird die Geltung von Sinnzusammenhängen naiv vorausgesetzt, um Informationen {handlungsbezogene Erfahrungen) auszutauschen; hier werden problematisierte Geltungsansprüche zum Thema gemacht, aber keine Informationen ausgetauscht. n (197lb: 115) Die kommunikative Situation des Diskurses ist dadurch charakterisiert, daß die Teilnehmer wechelseitig eine "ideale Sprechsituation" unterstellen. Unter dieser Kommunikationssituation, auch mit dem Terminus "herrschaftsfreier Dialog" belegt, versteht Habermas den Umstand, daß eine bestimmte Kommunikationsstruktur gegeben ist, in der alle Beteiligten zwanglos und mit gleichen Redechancen (Sprechakte zu wählen und auszuführen) ausgestattet sind. Diese "Symmetrieannahme" impliziert nicht nur die prinzipielle Austauschbarkeit der Dialogrollen, sondern auch die effektive Gleichheit der Chancen bei der Wahrnehmung dieser Dialogrollen, nämlich der beliebigen Wahl der schon genannten pragmatischen Universalien (vgl. 1971b: 137). In praxi bedeutet dies, daß jeder, der an einem Diskurs teilnimmt, prinzipiell ungehindert eine Kommunikation herbeiführen, darin Behauptungen, Deutungen oder Rechtfertigungen aussprechen, Geltungsansprüche bekräftigen, begründen oder in Frage stellen, und schließlich Expressionen äußern und dazu Stellung nehmen kann. 9 Die Bedingungen der idealen Sprechsituation sind nicht durch Persönlichkeitsmerkmale idealer Sprecher, sondern durch folgende strukturelle Merkmale einer Situation möglicher Rede bestimmt: -Freie, zwanglose und unbeschränkte Wahl von Sprechakten; - Symmetrische Verteilung der Redechancen; - Handlungsentlastete und täuschungsfreie Kommunikation; - Diskursiver Charakter der Kommunikationsbeiträge; - Ausschluß systematischer Verzerrung der Kommunikation.

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Das ideologiekritischePotential dieser Konzeption steht für Habermas außer Frage: Ideologien führengeradezu systematischer Einschränkungwillensbildender Kommunikation. Ihre paradoxe Leistung besteht daher in der Etablierung einer Struktur von Kommunikationssperren, die die wechselseitige Imputation von Zurechnungsf"ahigkeit gerade zur Fiktion machen und zugleich einen Legitimitätsglauben stützen, der die Fiktion als undurchschaute aufrechterhält (vgl. 1971 b: 120). Hier bestehen Parallelen zur semiotischen Ideologiekritik, etwa bei Eco, Kristeva und Greimas (vgl. Zima 1977).

Sind diese Bedingungen erfüllt, spricht Habermas vom Ergebnis des Diskurses als "wahrem Konsensus", denn die ideale Speechsituation ist dadurch charakterisiert, daß jeder Konsensus, der unter ihren Bedingungen erreicht werden kann, per se als wahrer Konsensus gelten darf. 10 Der Diskursbegriff ist folglich nur analytisch von dem des kommunikativen Handeins zu unterscheiden und als konstitutionstheoretische Annahme zu begreifen (vgl. Gripp 1984:43). Die mit diesen Überlegungen zentral verbundene Frage, ob solche Diskursbedingungen in der Kommunikationspraxis überhaupt herzustellen sind, steht allerdings nach Habermas zunächst nicht zur Diskussion, zumal es sich bei der idealen Speechsituation um eine kontrafaktische Annahme handelt. Er versucht daher, Mißverständnissen und Kritik durch Klarstellungen vorzugreifen: "Die Bedingungen der empirischen Rede sind mit denen der idealen Speechsituation (und des reinen kommunikativen Handeins) ersichtlich nicht, jedenfalls oft oder meistens nicht, identisch. Gleichwohl gehört es zur Struktur möglicher Rede, daß wir im Vollzug der Sprechakte (und der Handlungen) kontrafaktisch so tun, als sei die ideale Speechsituation (oder das Modell des reinen kommunikativen Handeins) nicht bloß fiktiv, sondern wirklich- eben das nennen wir eine Unterstellung." (197lb: 140). Die formalen Eigenschaften des Diskurses, für die der Begriff der idealen Speechsituation steht, sind ihrem Status nach weder ein empirisches Phänomen noch bloßes Konstrukt, sondern eine in solchen Diskursen unvermeidliche reziprok vorgenommene Unterstellung. Wird sie kontrafaktisch vollzogen, hat sie für den Kommunikationsprozeß den Charakter einer "operativ wirksamen Fiktion".

4. Defizite der Konsensorientierung Habermas möchte in seiner Theorie des kommunikativen Handeins zunächst den bewußtseinstheoretischen Ansatz (Husserl/Schütz) durch einen sprachtheoretischen Zugang zum Objektbereich ersetzen. Er orientiert sich dabei einerseits an der Sprachkritik Wittgensteins und der im Anschluß daran entwickelten Sprechaktheorie. Vor allem aber findet sich in Haber-

10 "Der Vorgriff auf die ideale Sprechsituation ist Gewähr dafür, daß wir mit einem faktisch erzielten Konsensus den Anspruch des wahren Konsensus verbinden dürfen; zugleich ist dieser Vorgriff ein kritischer Maßstab, an demjeder faktisch erzielte Konsensus auch in Frage gestellt und daraufhin geprüft werden kann, ob er ein zureichender Indikator für wirkliche Verständigung ist." (197lb:l36)

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mas' Arbeiten durchgängig das Motiv, die Theorie des kommunikativen Handeins auf die Bedürfnisse der Gesellschaftstheorie zuzuschneiden. Der innerhalb dieses Argumentationskontextes entwickelteVerständigungsbegriff steht deshalb in einem Spannungsverhältnis zwischen hermeneutischer, sprechakttheoretischer und systembezogener Theoriedynamik. Bei den Bemühungen um eine kommunikationstheoretische Grundlegung der Soziologie favorisiert Habermas ein rationalistisches DiskursmodelL Der Grundbegriff des kommunikativen Handeins soll daher weit über die Analyse der Dialogsituation hinausgehen und die gesellschaftstheoretischen Defizite der phänomenologischen Soziologie sowie gleichzeitig die objektivistische Verkürzung durch die Systemtheorie überwinden. Es scheint Habermas mit seiner Theorie des kommunikativen Handeins weniger um die Konzipierung einer allgemeinen Kommunikationstheorie zu gehen, als um den Versuch, ein Programm der Begründung der Grundnormen vernünftiger Rede zu entwerfen. Apel hat dieses Programm als "transzendental-pragmatisch" charakterisiert (vgl. Apel 1973:359ff.). "Transzendental" insofern, als daß diese Grundnormen durch den Aufweis ihrer Geltung als Bedingung der Möglichkeit sprachlicher Kommunikation eine Begründung erfahren sollen; "pragmatisch", durch den Versuch zu zeigen, daß über die syntaktische und semantische Dimension des Mitteilungsgeschehens hinausgegangen werden muß, um das Verhältnis von Äußerungen zur konkreten Kommunikationssituation als konstitutives Moment des Verständigungsprozesses zu begreifen (vgl. Alexy 1983: 161). Vor dem Hintergrund dieser Argumentation verwundert es nicht, daß die Rekonstruktion der Bedeutungsproblematik ausschließlich aus einer Perspektive erfolgt, die den Erfordernissen des Diskurs-Modells entspricht. Vor allem Habermas' Wittgenstein-Exegese ist stark durch diese Zielvorstellungen geprägt.U Für die Konstitution bzw. das Aushandeln von Bedeutungen ist bei Habermas neben dem Postulat der Verständlichkeit als Diskurstyp der explikative Diskurs vorgesehen, der in Zweifelsfällen zur Klärung der Verständlichkeit symbolischer Konstrukte und ihrer Deutungen eingeschoben werden muß. Die eigentliche Kommunikationsproblematik, die in der Frage besteht, wie (und ob überhaupt) Handelnde sich etwas mitteilen und welche spezifischen Probleme sie dabei haben, kommt im Rahmen dieser Korn-

11 So werden von Habermas jene Überlegungen des Sprachspielkonzepts systematisch ausgeblendet, die seinem Entwurf entgegenlaufen. Dies betrifft z.B. Wirtgensteins Begriff der "Familienähnlichkeiten" (vgl. P.U. 67).

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munikationstheorie nur ansatzweise in den Blick. Habermas' Entwurf ist daher vor allem als eine Theorie der Begründung kommunikativer Rationaltät (die darüber hinaus auch noch die Kluft zwischen Handlungsund Gesellschaftstheorie schließen will) zu bezeichnen. 12 Die zentrale Frage, die sich für weitere Überlegungen stellt, ist, ob Verständigung notwendig mit dem Erzielen eines Einverständnisses verbunden ist. Habermas konstruiert den Verständigungsbegriff so, daß Verständigung nur in einem symmetrischen Verhältnis der Kommunikationspartner gelingen kann. Diese Symmetrie besteht vor allem in der Austauschbarkeit der Dialogrollen, resp. der Gleichheit der Chancen bei der Wahrnehmung dieser Dialogrollen. Insbesondere die ethnomethodologisch orientierte Konversationsanalyse zeigt jedoch, daß im Hinblick auf die Realisierbarkeit derartiger Bedingungen Zweifel angemeldet werden müssen. Sie verdeutlicht, daß die hier postulierte Symmetrie im Kommunikationsprozeß eher ein Zufallsprodukt darstellt (vgl. Sackset al. 1974:728f.). So betonen auch Wenzel undHochmuthin ihrer sich an diesen Ergebnissen orientierenden Kritik (1989:250), daß trotzeiner der Symmetriebedingungen förderlichen Selbstselektion eines Sprechers an wechselrelevanten Punkten ("tum-taking") im Konversationsfluß immer eine Sprecherselektion durch Vorredner eintreten kann ("current speaker select next"). Solange man daher von Redechanehen und nicht von Redegarantien ausgeht, ist die gefragte Symmetrie nicht herzustellen. Diese könnte nur innerhalb institutionell fixierter Debatten garantiert werden, die die Regeln des umgangssprachlichen Wechsels der Dialogrollen außer Kraft setzen würden. "Die ideale Sprechsituation könnte im Fall umgangssprachlicher Rede entweder nur zufällig hergestellt werden- bei gleichzeitiger Freiheit aller Sprecher, beim

12 Die Theorie des kommunikativen Handeins bekräftigt damit den von Adomo im Rahmen der Kritik der instrumentellen Vernunft angestrebten Versuch der "Versöhnung" von Subjekt und Objekt. Durch einen Paradigmenwechsel von der bewußtseinsphilosophischen Erkenntnistheorie zur formalpragmatischen Kommunikationstheorie soll dieser, die Philosophiegeschichte konstant begleitende Diskussion, eine neue Perspektive eröffnet werden. "Nicht mehr Erkenntnis und Vu:fiigbarmachung einer objektivierten Natur sind, für sich genommen, das explikationsbedürftige Phänomen, sondern die Intersubjektivität möglicher Verständigung- sowohlauf interpersonaler wie auf intrapsychischer Ebene. Der Fokus der Untersuchung verschiebt sich damit von der kognitiv-instrumentellen zur kommunikativen Rationalität. Für diese ist nicht die Beziehung des einsamen Subjekts zu etwas in der objektiven Welt, das vorgestellt und manipuliert werden kann, paradigmatisch, sondern die intersubjektive Beziehung, die sprach- und handlungsfähige Subjekte aufnehmen, wenn sie sich miteinander über etwas verständigen." (Habermas 1981a:525)

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nächsten Wechsel einen Redebeitrag abzugeben -, oder sie müßte bei einem in höchstem Maß artifiziellen und normativ durchstrukturierten Austausch der Redebeitrage - bei gleichzeitiger Gleichheit ihrer Verteilung bestehen. " (Wenzel/Hochmuth 1989:251) So bleibt schließlich Habermas' Kammunikationsbegriff insgesamt mehrdeutig. Er bezieht sich sowohl auf bestimmte Weltbezüge der Handelnden als auch aufbestimmte Einstellungen zur Kommunikation selbst. Kommunikatives Handeln wird als eine bestimmte Art des Handeins definiert, aber auch als eine besondere Art der Kommunikation, weshalb Habermas betont: "Um Mißverständnissen vorzubeugen, möchte ich wiederholen, daß das kommunikative Handlungsmodell Handeln nicht mit Kommunikation gleichsetzt." (1981a: 1SOY 3 Damit ist unter Kommunikation zweierlei zu verstehen, nämlich Handlungskoordinierung als: a) Verständigung über die Bedeutung von symbolischen Ausdrücken im Sinne eines kooperativen Deutungsprozesses; b) Verständigung im Sinne von Einverständnis über Stellungnahmenzu erhobenen Geltungsansprüchen (Wahrheit, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit) in handlungsentlasteten Diskursen. Situationsdefinitionenmüssen sich, gemessen am aktuellen Verständigungsbedarf, hinreichend ·überlappen. Dies wird von der Theorie des kommunikativen Handeins mehrfach betont. Was aber, wenn dies in einer Kornmunikationssituation nicht oder nur in geringem Maße der Fall ist? Habermas kann mit seiner Formalpragmatik die Kontingenz von erfolgreicher Verständigung angesichts der "Drohung des Kontextrelativismus" (Wenzel/Hochmuth 1989:264) nicht ausschließen. "Die begriffliche · Arbeitsteilung zwischen Lebenswelt und Situation, das Ausschließen von Kontingenz dort, das Zulassen hier, führt so weder zu einer überzeugenden Konstruktion der Kontextdimension, noch zu einer Entschärfung der Kontingenzdrohung." (ibid.)

13 Habermas betont mehrfach, daß kommunikatives Handeln nicht im interpretatorisch ausgeführten Akt der Verständigung aufgeht. Kommunikatives Handeln bezeichnet zwar einen Typus von Interaktionen, die durch Sprechhandlungen bzw. im Medium der Sprache koordiniert werden, jedoch nicht mit diesen zusammenfallen (vgl. 198la:l51). Luhmann resümiert daher: "Die genauen Begriffsverllältnisse und die Architektur der gesamten Theorie bleiben undurchsichtig. (Auch insoweit tritt Traditionsgut an die Stelle begrifflicher Explikation). Man fragt sich, ob es nicht besser wäre, auf der Ebene des Handlungs- bzw. Kommunikationsbegriffs die Unterscheidung verschiedener Typen oder Arten von Handlungenganz aufZugebenund stan dessen zu fragen, durch welche Differenzensich die Informationsgewinnungund Sinnbestimmungjeweils führen läßt. • (1982:377)

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Luhmann sieht es zwar als das unbestreitbare Verdienst von Habermas an, die Differenz von alter und ego und das damit verbundene theoretische Problem der Handlungseinheit auf die Ebene der Kommunikation überführt zu haben, bestreitet jedoch die von der Theorie des kommunikativen Handeins erhobene Hypothese, daß ein Sprecher, der sich auf Kommunikation einläße, schon die Bereitschaft signalisiert habe, sich im Zweifel der Einsicht in bessere Argumente zu beugen (vgl. Luhmann 1982:372). Habermas willjedoch zeigen, daß es bestimmte Handlungsformen gibt, mit denen sich die Interaktionspartner auf den Typ der verständigungsorientierten Kommunikation und damit auf die Akzeptanz überzeugender Gründe für ihre Handlungswahl festlegen. Trivial wäre, wie Luhmann konstatiert, es den Beteiligten zu überlassen, für genau ihr Kommunikationssystem zu definieren, unter welchen Konditionen Gründe als überzeugend zu gelten haben. Weit weniger trivial, sondern mit hohem Anspruch verbunden, ist dagegen Habermas' Forderung, die Allgemeingültigkeitdieser Gründe, also ihre bindende Wirkung (auch für nicht an der Kommunikation beteiligte Dritte) aufzuzeigen. Selbst wenn sich begründen ließe, daß jeder, der an Kommunikation teilnimmt, durch eben diese Verständigungsorientierung gezwungen ist, dem besseren Argument zuzustimmen, bliebe unklar, ob diese "... Aufblähung des Partikularen zum Universalen" (1982:376) immer an die Konstituierung von Konsens gebunden sein muß. Die Erneuerung und Erhaltung von Dissens müßte deshalb eine an Weltbezügen orientierte Kommunikationstheorie ebenso interessieren. Die Konsensorientierung steht jedoch nicht nur mit der Begründung einer rationalen kommunikativen Ethik in Zusammenhang, sondern auch mit der Fassung des Lebensweltbegriffs, der vor allem auf Erhalt von Intersubjektivität (durch Konsens) und symbolische Reproduktion angelegt ist. "Die Lebenswelt bildet das intuitiv gegenwärtige, insofern vertraute und transparente, zugleich unübersehbare Netz der Präsuppositionen, die erfüllt sein müssen, damit eine aktuelle Äußerung überhaupt sinnvoll ist, d.h. gültig oder ungültig sein kann." (Habermas 1981b: 199) 14 Diese Lebenswelt wird im Rahmen der Theorie des kommunikativen Handeins in ihrer Fraglosigkeit zum Garant für die Invarianz der Bedeutungen und die

14 Habennas verfolgt in Abgrenzung zu Weber dabei das Ziel, die Rationalisierung der Lebenswelt aus der rationalen Geltungsbasis der Rede abzuleiten. Die Ausdifferenzierung der Kultur in die Handlungssysteme Wissenschaft, Recht und Kunst (die Webers kulturellen Wertsphären entsprechen), liegt nach Habermas schon in den Geltungsansprüchen vernünftiger Rede (Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit) begründet.

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Nichtkontingenz der Verständigung. 15 Neben die Mehrdeutigkeit des Kommuikationsbegriffs tritt damit die direkte Abhängigkeit des Verständigungsbegriffs von kongruenten Lebenswelterfahrungen der Handelnden. Würde eine Theorie interkultureller Verständigung einen konsensorientierten Kommunikationsbegriff favorisieren, wäre dies - wie sich noch genauer zeigen wird - als zweite wesentliche Belastung in Kauf zu nehmen.

ll. Kommunikation als Problem 1. Grundlegung einer allgemeinen Kommunikationstheorie Die Arbeiten von Ungeheuer bilden keine zusammenhängende und systematisierte Kommunikationstheorie; die Vielzahl der Aufsätze können jedoch als umfangreiche Vorstudien zu einer solchen Theorie verstanden werden. 16 Es sind im wesentlichen drei Grundannahmen, die den Konstruktionsrahmen für diese handlungstheoretisch ausgerichtete Theorie der Verständigung bilden: "Es ist erstens evident, daß man über Menschen sprechen muß, wenn man kommunikative Erfahrung beschreibt. Zweitens gehört es wohl zu jeder Erfahrung von Kommunikation, daß dabei mindestens zwei Personen gemeinsam in einer Sache tätig sind. Und drittens gilt übereinstimmend, daß diese Personen zum Zwecke der Kommunikation nach mehr oder weniger festem Regelsystem Zeichen verwenden, ohne die sie kommunikativ nicht zum Erfolg kommen könnten." (1987g:300f.) Diesen

15 Dies unterstreichen auch Wenzel und Hochmuthin ihrer Kritik: "Das Lebensweltkonzept ist, so wie Habermas es entwickelt, zumindest unklar. Einerseits muß sich die Begründung eines Originalmodus der Verständigungsorientierung auf die Unverfiigbarkeit und Nichtthematizität von Lebenswelt verlassen, andererseits soll die allgemeine Geltung des Lebensweltbegriffs eben gerade dieser - durch den Lebensweltbegriff doch erst zu sichemden-Begründungder Verständigungsorientierungverdankt sein. • (1989: 262f.) 16 Die Rezeption der Arbeiten Ungeheuers hat in der Vergangenheit nur in einem kleineren Kreis von Interessierten stattgefunden; dies hängt offensichtlich auch damit zusammen, daß erst vor kurzem ein übersichtlich edierte Sammelbände erschienen sind (vgl. Ungeheuer 1987a). Einen kurzen Überblick über das wissenschaftliches Werk und die Biographie Ungeheuers gibt Juchem (1987).

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Thesen korrespondieren folgende Problemkreise, nach denen die Kornmunikationstheorie Ungeheuers rekonstruiert werden kann: 1. Die im Hinblick auf Kommunikation zu berücksichtigend anthropologische Grundsituation; 2. Die spezifisch zum Kommunikationsprozeß gehörenden Strukturen in Form von gegenseitigen Erwartungen, Voraussetzungen und Interaktionsmustem; 3. Die semiotische Dimension des Verständigungsprozesses. Der Anspruch, der Kommunikationstheorie eine anthropologische Problemtheorie zugrundezulegen (vgl. 1987g:337), manifestiert sich in der These, daß menschliches Handeln durch eine Dualität gekennzeichnet ist, der jeweils "innere" und "äußere" Handlungen entsprechen. Innere Handlungen sind dabei solche, die nur der handelnden Person selbst direkt erfahrbar sind (z.B. Kognitionen, Affekte usw.). Äußere Handlungen dagegen sind für jeden Interaktionspartner wahrnehmbar und zugänglich, ohne daß diese Handlungen vollzogen werden müssen. Die Unterschiedlichkeit des Handlungsvollzugsistnach Ungeheuer gewissermaßen "Konstruktionsprinzip" des Menschen, vom dem wiederum alle mit dem Kommunikationsprozeß verbundenen Schwierigkeiten abhängen, denn "... diese Zweiteilung menschlicher Erfahrung ist Fundamentalstruktur, sie kann nicht beseitigt oder übersprungen, sie kann nur vermittelt werden, und alle Kommunikation hat in diesem 'psychischen Urphänomen' ihren Ausgang und ihre Veranlassung. Die Erfahrung selbst und ihre Inhalte gehören in diesen Innenbereich, denn kein Mensch kann vom anderen erfahren, daß und was dieser erfährt, -er kann es nur zu wissen glauben." (1987:307) Ausgangspunkt kommunikationswissenschaftlicher Theoriebildung ist im Gegensatz zu den aus der gesellschaftstheoretischen Tradition stammenden Ansätzen zunächst der "dialogische Partnerkonakt" und die diesen umfassende Gesprächssituation (vgl. Ungeheuer 1987c:73) Diese Verortung des Kommunikationsbegriffs impliziert darüber hinaus folgende strukturelle Merkmale: a) die äußerliche Möglichkeit der Kommunikationspartner, Hörer- und Sprecherrolle zu wechseln; b) die Möglichkeit des Wechsels von Themeninitiierung und Themenakzeptierung und damit auch die Möglichkeit, dialogische Kommunikation zu beginnen; c) die prinzipielle Möglichkeit der Kommunikationspartner, sich auf Rechtfertigungen und Gründe ihrer Redebeiträge hin zu befragen.

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Vor dem Hintergrund dieser Begriffsbestimmung ist plausibel, daß Kommunikation als Handlungsbeeinflussung verstanden werden muß. 17 Die Handlungen, auf die durch Kommunikationsakte Einfluß genommen wird, sind zunächst innere, die dann zu äußeren Handlungen Anlaß geben können. Handlungsbeeinflussung bedeutet hier Ingangsetzung, Veränderung oder Beendigung von Handlungen (1978:7). Ist das primäre Ziel des Handlungstyps "Kommunikation" die Verständigungsherstellung auf der Grundlage "gegenseitiger Steuerung", wie es schon Bühler in seiner Theorie des Kontaktverstehens (1978:94) genannt hatte, so müssen die Kommunikationspartner ihre inneren Handlungen dahingehend beeinflussen, daß sie im anderen ein Wissen evozieren, welches dem vom Sprecher jeweils gemeinten Inhalt zu entsprechen hat. "In diesem Sinne ist seine sprachliche Formulierung, ist jedes Sprachzeichen Plan und Anweisung an den Hörer, innere Erfahrungsakte zu vollziehen, von denen der Sprecher annimmt, sie hätten diejenigen Wissens-Inhalte zum Objekt, die er intendiert zu kommunizieren." (1987g:316Y 8 Die Konstruktion des Verständigungsbegriffs muß daher auch die Konstruktionstätigkeitder Kommunikationspartner miteinbeziehen, denn ". .. das, was verstanden wird ... ist von den handelnden Individuen hergestellt, - ist von ihnen gemacht, konstruiert, und

17 Schon Gardiner hatte darauf ausdrücklich hingewiesen (1932:19): "For the development of a 1anguage we are bound to assume a purposeful use of articulate utterances in order to influence the conduct of others." An anderer Stelle heißt es: "In asking for information the speaker tries to make use of the listener' s knowledge, and in giving an order he exerts his authority over the listener to make him perform some action desired by himself." (1932:2lf) 18 Ungeheuer bezieht sich hier explizit auf H. Gomperz, Mauthner, aber auch auf das bereits in den platonischen Dialogen erwähnte Konzept der Psychagogie ("Seelenlenkung") (vgl. Ungeheuer 1987g:296). Vor allem Wegener hat den Aspekt der Lenkung und Anweisung herausgestellt: "Die einfachste sprachliche Äußerung ist ursprünglich ein Imperativ, - der Befehl fiir den Hörer, sich an eine Situation zu erinnern, jedes neue Wort ein neuer Imperativ." (1885: 100) In Juchems Rekonstruktion steht vor allem Wegeners Gedanke einer Anweisung zur Konstruktion von Bedeutung aus den Äußerungen des Sprechers im Vordergrund: "Der Zweck unseres Sprechens ist stets der, den Willen oder die Erkenntnis einer Person so zu beeinflussen, wie es dem Sprecher als wertvoll erscheint." (Wegener 1885:67; zit. nach Juchem 1984a:8) Neben Wegener äußert auch Mauthner ähnliche Gedanken: "Die Sprache ist etwas zwischen den Menschen, ihr Zweck ist Mitteilung ... Immer wollen wir - wenn auch oft indirekt und unbewußt - das Denken und damit das Wollen des anderen Menschen nach unserem Denken und Wollen, d.h. nach unserem Interesse beeinflussen. Der Zweck der Sprache ist also Beeinflussung, Willens- oder Gedankenlenkung ... " (Mauthner 1901 : 460f.).

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nicht aggregiert aus linguistischen Fertigelementen;" (1987b:58) Der Akt der Mitteilung ist damit als Aufforderung zur Konstruktion von Bedeutung zu begreifen (vgl. auch Thayer 1968:37; Garfinkel 1967, 1972). 19 Vorrangiges Anliegen jeder Kommunikation ist es, diese Konstruktionstätigkeit im Interaktionspartner zu veranlassen und nach Maßgabe eigener Motive zu steuern: "... die Forderung, dieses Ziel zu erreichen, ist die minimalste Bedingung dessen, was zwischenmenschliche Kommunikation heißen kann. Daher sei dieses Ziel Kommunikationsziel genannt." (1978:8) Allerdings sind mit dem Erreichen dieses Kommunikationsziels noch keine Garantien für die Akzeptanz oder etwa einen Wahrheitsanspruch des Gesagten verbunden. Es betrifft nur das Verstehen und die Evokation eines für das Verstehen wesentlichen Wissens. Die nachgeordneten Handlungsziele, die in den meisten alltagsweltlichen Situationen Anlaß für Verständigungsprozesse sind (etwa das Befolgen von Anweisungen), nennt Ungeheuer Kommunikationszweck. Die Schwierigkeit einer solchen Koordination innerer Handlungen besteht vor allem darin, zu entscheiden, wann Ziel und Zweck des Kommunikationsprozesses erreicht sind (vgl. Juchem/Schmitz 1982: 198). Die Trennung von Ziel und Zweck der Verständigungshandlung dient dabei im wesentlichen einer analytischen Absicht. Es sollen die Bedingungen des erfolgreichen Kommunizierens von anderen Interaktionsbedingungen isoliert werden, um das Verständigungsproblem in aller Schärfe zu umreißen: "Wenn Menschen versuchen, sich mitzuteilen, sind sie von Problemen veranlaßt, die sie kommunikativ nur zu lösen vermögen, und aus diesem Grunde und zu diesem Zweck müssen sie zuerst eine Lösung für das interaktive Problem besitzen, sich mitzuteilen." (1987:337f.) Der Unterschied zwischen dem Mitteilungsgeschehen als Bedeutungsübertragung einerseits und als Stellungnahme zu Propositionen andererseits kommt auch in der Möglichkeit einer weiteren Differenzierung der kommunizierten Äußerung in eine materiale und eine modale Komponente zum Ausdruck (vgl. Ungeheuer 1972b: 18f.). Bei der materialen Komponente einer Äußerung handelt es sich um das primäre Thema der Kommunikation, ungeachtet der jeweiligen Meinungen, Werturteile oder der Spezifika der Kommunikationssituation. Die modale Komponente hingegen relationiert

19 Dies hatte schon Humboldt in seiner Sprachphilosophie betont. Eine symbolische " ... enthält . . . nicht einen schon geschlossenen Begriff, sondern regt bloß an, diesen mit selbstständiger Kraft, nur auf bestimmte Weise zu bilden. • (GS Vß:46)

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bzw. modalisiert die materialen Inhalte auf die Gesprächspartner und die soziale Situation. Materiale und modale Komponente sind also nicht Kategorien der sprachlichen Formulierung, sondern solche der inhaltlichen Struktur (als Produkt der inneren Handlungen der Kommunikationspartner), d.h. sie haben vor allem eine semantische Dimension (vgl. Ungeheuer 1972b: 19). Diese Begriffsbestimmung erlaubt eine genauere Einordnug der von Habermas mit der Verständigung verknüpften Geltungsproblematik in der Analyse von Kommunikationsprozessen. Die Frage nach Geltung, Richtigkeit oder Wahrheit von Behauptungen entscheidet sich auf der Ebene der modalen Inhalte, denn diese Eigenschaften werden Äußerungen von Individuen mit bestimmten Einstellungen zugesprochen: "Die Wahrheit eines Gedankens kann materialer Inhalt einer Rede sein, sie wird nach bestimmten Kommunikationsregeln in der modalen Komponente als Setzung des Sprechers mitgeliefert, sie charakterisiert aber nicht die Kommunikationshandlung selbst, deren Ziel ja auf Koordinierung innerer Handlungen ausgerichtet ist." (Ungeheuer 1972b: 19f.) Gleichwohl liegt für die Kommunikationspartner in der Schwierigkeit, zwischen materialer und modaler Komponente einer Äußerung im Hinblick auf die zu erreichende Verständigung zu unterscheiden, eine Quelle schwerwiegender Mißverständnisse. Daraus folgt, daß dem allgemeinen Verständigungsproblem der adäquaten Bedeutungserfassung noch das Problem der Vermengung der beiden inhaltlichen Dimensionen zugeordnet ist.

2. Der Hintergrund der individuellen Welttheorie Menschen haben sich immer schon vor jeder wissenschaftlichen Beschäftigung mit Kommunikation eine Meinung über die eigene Lebenspraxis gebildet. Nach den dort erworbenen Erfahrungen beurteilen sie im Sinne einer "naiven Verhaltenstheorie" (Laucken 1974) Verständigungshandlungen. Wie andere Wissensbestände im Hinblick auf Inhalt und Vollständigkeit im sozialen Raum variieren, so unterscheidet sich auch das Alltagswissen der Handelnden über Kommunikation und Verständigung. Ungeheuer zieht daraus den Schluß, daß auch "... in der wissenschaftlichen Kommunikationstheorie die Menschen nicht nur gedacht werden als Individuen, die sich ihrer Kommunikationshandlungen bewußt sind, sondern vielmehr als solche, die selbst eine individuelle Kommunikationstheorie besitzen, wie fragmentarisch, lückenhaft und außerwissenschaftlich sie immer auch sei, nach der sie ihre eigenen Kommunikationshandlungen einrichten und ausführen, nach

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deren Kriterien sie auch ihre kommunikativen Verstehensakte zum Erfolg führen oder als gescheitert erleben" (1978:4). Damit verbindet sich bei den Handelnden das Erlebnis und die Konfrontation zwischen der vermeintlich richtigen, weil eingeübten Kommunikationsform und den situationsbedingten kommunikativen Abweichungen anderer Interaktionspartner (vgl. Ungeheuer 1987f:229). Wie soziales Handeln überhaupt, so fmdet auch Kommunikation immer vor einem Hintergrund gesellschaftlichen Wissens, sozialisierter Erfahrungen, Typik usw. statt (vgl. Schütz/Luckmann 1979, 1984). Doch verfügt jedes Individuum über andere Erfahrungen und Vorurteile, verbindet mit Begriffen niemals exakt die gleichen Bedeutungen und Assoziationen, die sein Interaktionspartner damit verbindet. Insofern ist das, was als gesellschaftliches Wissen und als Typik unseren Alltag prägt, stets von einem persönlich dimensionierten System von Mustern, emotionalen Dispositionen und kognitiv-ästhetischen Stilen überformt. Ungeheuer hat diese personelle Erfahrungstheorie individuelle Welttheorie genannt. "Ich spreche von Theorien individueller Welt, weil diese wie die Theorien der Wissenschaft die Funktion haben, Erfahrungen zu erklären ... Wissenschaftliche Theorien unterliegen in ihrer Konstruktion den akzeptierten Kriterien der Logik und der Wissenschaftstheorie; individuelle Welttheorien gehorchen nur ihren eigenen Autbaugesetzen, - in ihnen, was vielleicht nicht zu begreifen sein wird, spielen Gefühle die Rolle von Begründungsinstanzen." (1987g:312fl Diese Welttheorie gilt es auch beim Entwurf einer Kommunikationstheorie zu berücksichtigen: "Werden zwischen Menschen Gleichheit von Erfahrungsinhalten angenommen, so ist sie vermittelt, erarbeitet, geglaubt oder konstituiert, wie es Menschen eben möglich ist. Die Behauptung aber, jede Erfahrung sei individuell in diesem Sinne, gehört zu den ersten Beschreibungselementen, auf denen Kommunikationstheorie aufbaut." (1987g:308). Vor diesem Horizont ist evident, daß jede Kommunikationshandlung als Lösung eines praktischen Problems begriffen werden kann, die wiederum

20 Es geht Ungeheueru.E. bei den Überlegungenzur individuellen Welttheorie vor allem um zwei Aspekte. Einerseits ist diese eine Art anthropologische Konstante, aus der die prinzipielle Unmöglichkeit resultiert, Erfahrungsinhalte vollständig mit anderen Individuen in Kongruenz bringen zu können. Dies muß bei der Konstruktion einer Kommunikationstheorie in Rechnung gestellt werden. Andererseits liegt in der individuellen Welttheorieauch die Tatsache begründet, daß jede Erfahrung mit "Welt" auch Erfahrung mit der Herstellung von Verständigung beinhaltet und die daraus resultierende "Alltags-Kommunikations-Theorie" notwendig eine individuelle ist, die wie andere Alltagstheorien biographischen Veränderungen unterliegt.

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in das alltagstheoretische Konstrukt "Kommunikationstheorie" der Handelnden integriert wird. Für das praktische Problem, sich mitzuteilen gibt es freilich mehr als ein LösungsmodelL Das Problembewußtsein bei den Handelnden ist dabei nicht konstitutiv für die Existenz eines solchen Problems, wie z.B nicht-bemerkte Mißverständnisse zeigen. In der Regel erfolgt die Problemlösung in der Alltagskommunikation intuitiv, die Handelnden können auf bewährte und kulturell etablierte Muster zurückgreifen. Anders aber in Situationen erschwerter Verständigung, zu denen wie wir noch sehen werden - auch der Fall interkultureller Kommunikation gezählt werden muß.

3. Mitteilen, Verstehen und Verständigen: Kommunikationssemantik

Die pragmatische Dimension menschlicher Existenz manifestiert sich als "oberste Wirklichkeitsregion" (Schütz) im täglichen, handelnden Eingreifen in die Welt. Dieses Handeln ist intentional auf die Erreichung von Zielen gerichtet; es kann je nach Problemzusammenhang unterschiedliche Lösungsstrategien verfolgen. Die Herstellung von Verständigung als eines unter vielen dieser Probleme hat besondere Schwierigkeiten zu bewältigen, da das Handlungsziel, das oben als das Ausführen bestimmter innerer Handlungen beschrieben wurde, im jeweiligen Kommunikationspartner, also einer anderen Person, liegt. Da es aber keine direkte Verbindung von einem Bewußtsein zum anderen gibt, muß der Adressat der symbolischen Äußerung die Verstehenshandlung, nämlich das Gemeinte zu wissen, selbst vollbringen (vgl. Ungeheuer 1978: 11). Da die einzige Form des direkten Kontaktes zwischen den Interaktionspartnern im Bereich der Wahrnehmung liegt, müssen die inneren Handlungen in äußere, für den anderen wahrnehmbare Handlungen umgeformt, man könnte auch sagen "übersetzt" und über entsprechende Symbol- und Zeichensysteme mitgeteilt werden. 21 Ungeheuer kritisiert in diesem Zusammenhang die Vorstellung, erfolgreiehe Kommunikation bestünde vor allem in der "Wohlgeformtheit" solcher symbolischen Ausdrücke, bzw. Mißverständnisse und kommunikatives

21 Wygotski hat diesen Aspekt schon sehr früh in seiner Arbeit "Denken und Sprechen" (1934) zum Gegenstand umfangreicher Untersuchungen gemacht: "Der Übergang von der inneren zur äußeren Sprache stellt eine komplizierte dynamische Transformation dar - die Umwandlung einer prädikativen und idiomatischen Sprache in eine syntaktisch gegliederte und anderen verständliche Sprache." (1971 :375)

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Mißlingen lägen allein in der mangelnden Kompetenz bezüglich der Anwendung (Semantik) und der Kombination (Syntaktik) der Symbolsysteme. Vielmehr sind diese Theorien Idealisierungen von tatsächlichem Kommunikationsverhalten, das ein weitaus komplexeres, fragileres und von einer Vielzahl weiterer Annahmen abhängiges Unterfangen darstellt, als das "richtige" Anwenden der entsprechenden Zeichensysteme. Da das Zeichensystem Sprache bzw. das Inventar sprachlicher Zeichen allein niemals Verständigung garantieren kann, muß im Mittelpunkt der Analyse des Kommunikationsprozesses das Sprechen der Interaktionspartner unter Berücksichtigung der konkreten Kommunikationssituation stehen. 22J:st das Verständnis einer symbolischen Äußerung als innere Handlung zu begreifen, folgt daraus: "Die Individuen bleiben mit ihren Deutungen und Interpretationen, mit ihrem Verstehen und ihrem Verständnis in sich; was ihnen allein bleibt als intersubjektives Moment ist die in Wahrnehmung gemachte Erfahrung eines Kontaktes." (1987b:51) Hier wird plausibel, warum der Begriff des Verstehens bzw. die Vorstellung des gegenseitigen Verstehens mit dem eine jeweils individuell vollzogene innere Handlung gemeint ist, nicht zur Grundlage einer Kommunikationstheorie gemacht werden kann. 23 Der Verständigungsvorgang ist immer darauf angewiesen, daß der Handelnde und ein alter ego zusammen zu einem pragmatischen Konsens (s.u.) über den kommunizierten Inhalt gelangen. Diese Differenz von Verstehen und Verständigen ist für die Kommunikationstheorie Ungeheuers von wesentlicher Bedeutung. Der Kernbereich der Kommunikationstheorie kann aufgrund dieserProblematik weder von sprach- oder sprechakt-

22 In diesem Zusammenhang sei an die Aktualität der Humboldtschen Unterscheidung von "ergon" und "energeia" erinnert. Iene, von Humboldt übernommenen aristotelischen Begriffe, die Sprache als Tätigkeit, nicht als feststehendes Werk oder System herausstellen, ermöglichen die Erkenntnis, daß das Mitteilungsgeschehen durch Sprache und Sprechen ein dynamisches Geschehen ist, dessen Festschreibung auf eine knappe Fonnel unmöglich gelingen kann (vgl. Humboldt, GS VII).

23 Gleichwohl verdankt die Kommunikationstheorie vor allem den Ausführungen von Schütz die genaue Analyse dieser inneren Handlung. Diese Konstitutionsanalyse hat gezeigt, daß es ein Verstehen im Sinne des unmittelbaren Nachvollzugs fremder Sinngehaltenicht geben kann, da • ... alles echte Fremdverstehen auf Akten der Selbstauslegung des Verstehenden fundiert ist. • (1974:156)

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theoretischen Ansätzen24 oder einer generativen Grammatik noch von Verslehenstheorien bestritten werden, sondern muß dem Arbeitsgebiet einer Kommunila:ztionssemantik zugeführt werden, "... deren Gegenstand 'innere' Handlungen sind, welche von menschlichen Individuen zum Zwecke gegenseitiger Verständigung ausgeführt werden." (Ungeheuer 1987c:70:f Wie auch im Bereich anderer, nicht-kommunikativer Handlungen verfahren die Teilnehmer an Kommunikationsprozessen nach bestimmten Regeln und Handlungsmaximen, von denen unter der Hypothese systematisierter Erfahrung der kommunikative Handlungserfolg abhängt. Neben den Regeln, nach denen der zu kommunizierende Inhalt im Hinblick auf grammatikalische und semantische Kategorien der vorliegenden natürlichen Sprache strukturiert und angemessen formuliert wird, existieren jene Regeln, nach dem die Kommunikationspartner handeln, um optimalen kommunikativen Handlungserfolg in Form gegenseitiger Verständigung zu erreichen (vgl. Ungeheuer 1987c:91). Dieser Regelkomplex ist von der linguistischen

24 Die Kritik an der Sprechakttheorie richtet sich vor allem gegen die einseitige Betrachtung des dialogischen Geschehens, bei der das Schwergewicht der Analyse auf der Sprechtätigkeit liegt. Die Rolle des Hörers, der die Bedeutung der Äußerung des Sprechers nachvollziehen, übersetzen oder nachkonstruieren muß - und erst mit dieser Tätigkeit ist der Verständigungsvorgangabgeschlossen- bleibt theoretisch völlig unterbelichtet. "In der Sprechakttheorie jedenfalls ist der Hörer nur als Schatten seiner selbst in den Intentionen des Sprechers repräsentiert." (Ungeheuer 1978:53) Auch Henne hat bereits in diesem Zusammenhang eine "Hörakttheorie" zur Vervollständigung der Theorie von Austin gefordert (vgl. Henne 1979). Die neueren amerikanischen Untersuchungen aus den Bereichen Soziolinguistik, Pragmatik und Konversationsanalyse beklagen diesen Mangel ebenfalls: "Knowledge of grammar and sound system by itself is not enough, as can be attested by the experience of anyone who learns a new language or dialect and tries to use it appropriately and effectively among native speakers. Moreover, given the continuous presence to one another of partners in face-to-face interaction, knowledge of culturally stylistic lmJS of speaking is not even enough by itself, without accompanying knowledge of culturally stylistic lmJS oflistening." (Erickson/Shultz 1982:7)

25 Es ist hier nochmals auf Gardiner zu verweisen, der im Zusammenhang mit dem Verständigungsprozeß den kooperativen Charakter der Kommunikation und die Rolle innerer Handlungen hervorhebt: "As a first approximation Iet us define speech as the use, between man and man, of articulate sound-signs for the communication of their wishes and their views about things . . . The points which I wish to stress are, firstly, the co-operative character of speech, and, secondly, the fact that it is always concemed with things, that is to say with the realities both of the external world and of man's inner experience." (1932:18)

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Problematik scharf zu trennen. So kann eine systemlinguistischen Analyse26 keinesfalls die Aufgaben und Probleme einer Kommunikationsforschung allein bewältigen: "Alle linguistisch-semantischen Theorien sind begrifflich nicht hinreichend ausgerüstet, um diese Klasse kommunikativer Phänomene adäquat analysieren zu können: sie sind im Prinzip keine interaktionistischen, sondern sprachsystemorientierte Theorien, die Individuen höchstens als Sprachproduzenten oder Sprachrezipienten in jeweiliger Isoliertheit, nicht aber als kommunikatives Mehr-Personen-System in Rechnung stellen." (1987c:75) Das kommunikative Ziel gegenseitiger Verständigung wird also nicht dadurch erreicht, daß die Kommunikationspartner symbolische Äußerungen linguistisch-semantisch dekodieren, sondern auf dem Wege einer Koordination verschiedener kognitive Handlungszüge, die zwar auch linguistisch-semantische Satzinhalte betreffen, vor allem aber deren kontextuelle Einbindung und die Wissens- und Erfahrungsbestände der Beteiligten sowie die Bezugnahme aufhypothetisch vorweggenommene Themen und Handlungen. Dies erfordert von den Kommunikationspartnern nicht die Übergabe semantisch einsichtig kodierter Texte, sondern ein gleichzeitiges Prozedieren auf mehreren inneren Ebenen (vgl. Ungeheuer 1972b:21). Auf die mit dem Problemcharaktervon Verständigungshandlungenverbundene Notwendigkeit einer kommunikativen Erfolgskontrolle soll im folgenden eingegangenwerden.

4. Kommunikativer Eifolg und seine Kontrolle

Im ersten Abschnitt haben wir die jeden Interaktionsprozeß charakterisierende Innen-Außen-Dichotomie angesprochen. Weder ist es dem Menschen möglich, die Vielfalt seiner inneren Erfahrung zur gleichen Zeit in mitteilbare Formen überführen, noch ist es möglich, einen direkten und unvermittelten Weg in das Innere des Kommunikationspartners zu finden und seine Verstehenshandlung auf Kongruenz mit dem Gemeinten hin zu überprüfen. Damit verbunden ist eine "... breite(n) Skala von kommunikativen Schwierigkeiten, vom einfachen Mißverständnis bis zum irreparablen Kommunikationskonflikt, die offensichtlich inhärente Bestandteile von Korn-

26 Ein derartiges Sprachsystem existiert jedoch unabhängig von der konkreten Sprechtätigkeit einzelner Individuen nicht. Das, was als Sprachsystem bezeichnet wird, besteht lediglich aus der Idealisierung richtigen und regelkonformen Sprechens.

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munikationshandlungen sind." (Ungeheuer 1987c:74f.) Es liegt mithin im Interesse der Kommunikationspartner, nach bestimmten Verfahren feststellen zu können, wann das Ziel gegenseitiger Verständigung erreicht, d.h. die inneren Handlungen der Beteiligten koordiniert sind und die Verständigungshandlung abgeschlossenn ist. Ungeheuer hat vorgeschlagen, den kommunikativen Maßnahmen, die den Beteiligten zur Erfolgskontrolle zur Verfügung stehen, zwei Verfahren zuzuordnen (vgl. 1987d:116ff.). Einerseits kann an den übergeordneten Interaktionen mit direkt erfahrbaren bzw. wahrnehmbaren Handlungszielen überprüft werden, ob ein richtiges Verständnis der Äußerung erzielt wurde. Diese Form der Effektivitätskontrolle ist direkter Beobachtung zugänglich. Wird z.B. eine Anweisung korrekt befolgt, ist es berechtigt, auf das Verständnis des Adressaten dieser Äußerung zu schließen. Andererseits besteht die Möglichkeit einer Überprüfung des Verständnisses auf rein sprachlicher Grundlage. Bei dieser Art der Erfolgskontrolle handelt es sich allerdings um "kruziale Kommunikation", bei der die Handelnden nur die Möglichkeit haben, durch eigene Formulierungen bzw. Paraphrasierungen der Äußerung zu prüfen, ob ihr Verständnis übereinstimmt (vgl. 1987g:322). 27 Aber auch bei Rückfragen und gegenseitigen Deutungs- und Interpretationsangeboten kann immer erneut ein Verständnisdefizit auftreten. "Aus diesem Kreis können nur diejenigen Kommunikationspartner ausbrechen, die sich auf eine gemeinsame Erfahrungsbasis beziehen können, d.h. wenigstens auf eine solche Gesamtheit von Erfahrungen, die sie jeweils zwar für sich, aber im gleichen Wahrnehmungshorizont gemacht haben." (1987d:117) Darüber hinaus haben die Kommunikationspartner noch die

27 Die paraphrastische Struktur ist eine bedeutsame kommunikationssemantische Eigenschaft natürlicher Sprachen. Diese Struktur bedingt, daß jedem kommunizierbaren Inhalt aus dem grammatikalischen Inventar nicht eine einzige richtige Formulierung entspricht, sondern immer mehrere solcher "Übersetzungen • der inneren in äußere, wohlgeformte symbolische Ausdrücke: "Zwei Reden (Texte) sind dann Paraphrasen voneinander, wenn sie in Kommunikation nach Setzung oder Verständnis eines Kommunikators bei unterschiedlicher Formulierung denselben Inhalt mitteilen." (Ungeheuer 1972e:120; vgl. auch 1972d) Die paraphrastische Struktur stellt insofern eine kommunikative Problemsituation dar, da die Kommunikationsteilnehmer jeweils aus einer Klasse von Paraphrasen auswählen müssen. Da immer auch andere adäquate Formulierungen gewählt werden können, die Kornmunikationspartner sich jedoch in der konkreten Äußerung fiir eine bestimmte entscheiden müssen, ist jede Auswahl kontingent. Mit diesem Umstand ist nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Notwendigkeit der Interpretation von symbolischen Ausdrücken und Zeichen verbunden. Andererseits ist die Paraphrasierung ein wichtiges Mittel zur Verständigungskontrolle (s.o.).

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Möglichkeit, durch Schlußfolgerungen aus den sprachlichen Äußerungen eine Erfolgskontrolle vorzunehmen. Diese setzt allerdings mehr als bei anderen Verfahren die Möglichkeit einer Wissensorganisation voraus, die die Bereitstellung relevanter Wissensbestände für eine solche Operation sichert. Ungeheuer hat daher den Problemcharakter von Mitteilungs- und Verständigungsakten zur "Generalthese" der Fallibilitätder Kommunilmtion zusammengefaßt. Diese besagt, daß es im Prinzip kein gesichertes Wissen über täuschungsfreies Verstehen des Gesagten geben kann. Diese Fallibilität muß folglich auch in die Konstruktion des Kommunikationsbegriffs miteingehen, denn " ... im Grundbegriff des Gesprächs [muß] als bestimmendes Moment das Mißlingen der kommunikativen Anstrengung, d.h. das Nichterreichen von Verständnis systematisch und prinzipiell erhalten bleiben. Nur so kann überhaupt herausgearbeitet werden, daß es sich bei Akten sprachlicher Kommunikation um risikoreiche Anstrengungen handelt und daß ein Effektivitätsproblem gestellt ist der Form, wie in gegebener Situation kommunikativ optimal zu verfahren ist." (1987c:75) 28 Dieses Effektivitätsproblem darf vor allem nicht auf die Ebene der mögliche kommunikative Ungleichheit erzeugenden gesellschaftlichen Verhältnisse verschoben werden. Durch die dialogische Struktur von Hörer und Sprecher einerseits und dem prozessualen, zeitlich gegliederten Charakter der Kommunikation andererseits ist nämlich eine Form von Asymmetrie präformiert, die sich auch dem Zugriff solcher Maßnahmen entzieht, die die kommunikative Praxis optimieren würden: "Die Wahrheit scheint aber zu sein, daß die kommunikative Sozialhandlung selbst, soll sie effektiv sein, ungleich, d.h. asymmetrisch funktioniert, weil eben die Namen 'Sprecher' und 'Hörer' nicht nur Identifikationsetiketten sind, sondern sie zwei Personen in unterschiedlichstem Tätigkeitsvollzug

28 Die Beschreibung von Kommunikation als einem dynamischen, wechselseitigen und keineswegs von vornherein gesichertem Unternehmen findet sich abermals bei Humboldt. Er spricht hier immer nur von der "Möglichkeit" und vom "Versuch" der Komunikation: "Die Möglichkeit des Sprechens selbst wird durch Anrede und Erwiderung bedingt ... die Sprache kann ... nicht vom Einzelnen, sie kann nur gesellschaftlich, nur indem an einen gewagten Versuch ein neuer sich anknüpft, zur Wirklichkeit gebracht werden" (Humboldt GS Vl:l38f).

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benennen, die eine dominant, die andere subjektional, die eine der Herr und die andere der Knecht." (1987g:318fl Die These kommunikativer Subjektion bzw. die jeweilige "Unterordnung" des Hörers gegenüber dem Sprecher, der dialogischen Asymmetrie und der Konzeption vom Verständigungsprozeß als täuschungsanfälligem Unternehmen werfen deshalb die Frage auf, welchen Stellenwert ein Begriff von Konsens und Einverständnis in der Ungeheuersehen Kommunikationstheorie einnimmt. Die Anahme, daß Verständigung als Ergebnis eines Kornmunikationsprozesses angesehen wird, dem der - wie auch immer geartete - übereinstimmende Charakter zunächst nicht abgesprochen werden kann, führt somit zu der Notwendigkeit, den Konsensusbegriff erneut zu problematisieren. Dies geschieht auf der Basis der Unterscheidung zwischen "theoretischem" und "praktischem" Konsens. Unter einem theoretischen Konsens soll die Bedingung der Möglichkeit von Kommunikation überhaupt verstanden werden. Diese liegt in der notwendigen gegenseitigen Unterstellung einer prinzipiellen interaktiven Erreichbarkeit des anderen. Der theoretische Konsens ist die unbedingte Voraussetzung von Kommunikation, denn ohne eine solche Präsupposition wäre für die Handelnden jeder Verständigungsversuch sinnlos. Diese Art von Konsens hat mithin den Charakter eines der Erfahrung mit einer konkreten Kommunikationssituation vorgeschalteten Aprioris. Er umfaßt auch die von Schütz herausgestellte Idealisierung der "Reziprozität der Perspektiven" (1971a) oder die von Lubmann konstatierte "Berechtigung zur Unterstellung" (l981b). Im Hinblick auf die Kommunikationsproblematik zieht Ungeheuer "mirabile dictu" daher folgende Konsequenz: "Aus dieser verfeinerten Anwendung des Konsensbegriffs erhebt sich nun ein merkwürdiges Paradox: Konsens in dem hier eingeführten Sinne kommt nicht zustande als Ergebnis eines Einverständnisses in Kommunikation, sondern ermöglicht diese erst und überprüft deren Effekt." (1987d: 120) Der praktische Konsens, dem eben diese Funktion der Erfolgskontrolle zufällt, kann dagegen nur handelnd erzielt werden. Die Verständigungskontrolle, die z.B. in der Paraphrasierung einer Äußerung besteht und deren Akzeptanz zu einem praktischen Konsens der Beteiligten führt, kann nämlich immer nur kommunikativ, d.h. von den am Dialog Beteiligten

29 Ungeheuer räumt jedoch ein, daß es über die Subjektion hinaus gesellschaftliche Kornmunikationsstrukturen gibt, die dazu führen, daß " ... die Funktionalität kommunikativer Subjektion in das Herrschaftsverhältnis sozialer Subordination umschlägt, das dann auch nachjeder Kommunikation bestehen bleibt." (1987g:318)

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durchgeführt werden und nicht extrakommunikativ, etwa von einem dritten Beobachter, vollzogen werden: "Ob die sprachliche Formulierung einer Rede oder eines Redestücks adäquat ist, bestimmen die menschlichen Individuen, die einen Gedankengang bestimmter Gliederung als zu kommunizierenden oder kommunizierten Inhalt intendieren." (1972d:71) Bei der Erreichung des praktischen Konsenses spielen folglich situative Elemente eine entscheidende Rolle. Haben die Beteiligten das Gefühl, die Verständigungsherstellungshandlungen genügen, um eine Kommunikation weiterführen zu können oder werden Anweisungen zur Zufriedenheit befolgt, reicht das Verständnis aus, um das Ineinandergreifen von Handlungen sicherzustellen. Damit ist für die Kommunikationspartner der praktische Konsens erzielt. 30

5. Perspektiven eines konfliktorientierten Verständigungsbegriffs Allgemeine Kommunikationstheorie ist weder Argumentationstheorie noch eine Theorie der Rationalität. Ungeheuers Problemtheorie der Kommunikation widerspricht deshalb der zentralen These, die auch die Theorie des kommunikativen Handeins von Habermas wie ein roter Faden durchzieht und die Wittgenstein mehrfach formuliert hat: "Zur Verständigung durch die Sprache gehört nicht nur eine Übereinstimmung in den Definitionen, sondern (so seltsam das klingen mag) eine Übereinstimmung in den Urteilen." (P.U. 242) Geht man jedoch von der analytischen Unterscheidung zwischen materialer und modaler Komponente einer Äußerung aus, wird deutlich, daß der Kommunikationsprozeß in zwei Dimensionen gesehen werden kann: im Hinblick auf einen Konsens über den Gegenstand der Kommunikation und denjenigen über die Modalisierung der gemeinten Inhalte. Ist es das Ziel der Analyse, die Bedingungen gegenseitiger Verständigung im Sinne eines Konsenses über die materiale Komponente aufzudecken, bleibt unersichtlich, warum die Frage nach Gründen für die Zustimmung der Teilnehmer zu diesen oder jenen Modalisierungen der gemeinten Inhalte integraler Gegenstand der Kommunikationstheorie sein soll. Das Verständnis einer Äußerung hängt nicht davon ab, ob und aus

30 Die Idee des praktischen Konsenses ähnelt offensichtlich dem, was Luhmann als "Übernahme von Selektionen" und "Anschließbarkeit" an weitere Kommunikationen her ausgestellt hat (vgl. Luhmann 1981b, 1984).

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welchen Gründen die Kommunikationspartner anschließend den angesprochenen Inhalten zustimmen oder diese ablehnen. Wesentlich an der Verständigungshandlung ist vielmehr ihre Problemlösungskapazität. Eine nach Maßgabe rationaler Diskurse ausdiskutierbare Übereinstimmung ist demgegenüber für die Beteiligten von untergeordneter Relevanz: "Jedes Gespräch, wie ja überhaupt jede kommunikative Aktion, ist Vollzug einer sehr komplexen und vor allem zeitlich gegliederten Handlung, mit der die Lösung eines Mehrpersonenproblems verwirklicht werden soll: Gespräch ist von Seiten jedes Partners Problemlösungshandlung." (Ungeheuer 1987e: 156) Die Übermittlung der zu kommunizierenden Sinngehalte selbst das Primärproblem kommunikativer Handlungen, nicht die Bewertung deren propositionaler Gehalte. Im Anschluß an Ungeheuer hat Juchem daher den Problemcharakter von Verständigungshandlungen zur These vom "... notwendig konfliktären Charakter der Kommunikation" verschärft (1985:113). 31 Da die bislang erzielte Übereinstimmung durch erneute Problematisierungen hinterfragt werden kann, ist evident, "... daß jede Verständigung letztlich nur ein Kompromiß sein kann ... , daß die Kommunikation bei folgerichtigem und aufrichtigem Verlauf notwendig an Grenzen stoßen muß, wo Verständigung nur noch auf Glauben beruhen kann." (1985:113) Konsens im konkreten Kommunikationsprozeß ist somit immer ein praktischer bzw. pragmatischer, 32 denn es gibt keine "wirkliche" Verständigung hinter der erreichten. Dieser Konsens hat okkasionellen Charakter und zeichnet sich durch eine punktuelle, situative Übereinstimmung aus, die durch den Abbruch von Argumentation und Diskussion in einem für weiteres Handeln signifikanten Moment erreicht wird. "Wir setzen die Möglichkeit des Konsens nicht voraus, weil wir eine ideale Sprechsituation antizipieren, sondern weil wir davon ausgehen, daß für uns alle die gleichen konkreten Deutungs- und Erfah-

31 Das Verhältnis von Innen und Außen, von Eigenem und Fremden und von Selbst und Anderem muß im Hinblick auf seine Konstitution als in gegenseitiger Abhängigkeit eingebunden gesehen werden. Die von Jochern vorgenommene Radikalisierung der Unaufhebbarkeitder Innen-Außen-Dichotomie(vgl. Jochern 1984b, 1985), der prinzipiell zuzustimmen ist, darf jedoch nicht durch weitere Zuspitzung die Kommunikationstheorie in überwundene Aporien cartesianischer Dualismen zurückwerfen, innerhalb derer Innenund Außensphäre als eigenständige Erkenntnisgegenstände behandelt werden. 32 Die Möglichkeit eines eher pragmatischen, nicht zu explizierenden bzw. stillschweigenden Konsenses sieht auch Thayer: "Thus the message the originator intends and the message the receiver gets are often different. At best, they can only be similar, and than only by tacit agreement." (1968:37)

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rungsschemata gelten, die wir uns in der gleichen Erfahrungsumwelt angeeignet haben. Das aber, im Zusammenhang mit dem konfliktären Hintergrund der Kommunikation, macht jede Kommunikation notwendig kontingent" (Juchem 1985: 100). Mithin lassen sich im Sinne des oben rekonstruierten Kommunikationsbegriffs abschließend zwei gewichtige Argumente zur Begründung eines pragmatischen Konsensbegriffs anführen. Vor allem empirisch ist festzustellen, daß weder im Alltagshandeln noch im wissenschaftlichen oder ästhetischen Diskurs endlos Bedeutungen und Geltungsansprüche problematisert werden und problematisiert werden können. 33 Vor allem die Alltagskommunikation ist in ein übergeordnetes Interaktionsgefüge eingebettet und steht meistens unter Handlungsdruck, der weder die Zeit noch die Voraussetzungen für weiterführende Begründungsdiskurse zur Verfügung stellt. Das zweite Argument bezieht sich auf jene theoretisch konstatierte Gesprächssituation, die alle idealen Kommunikationsbedingungen umfassen würde. Selbst hier ist menschliche Rede elliptisch und fragmentarisch und ein tatsächlich erzielter "wahrer" Konsens notwendig ein pragmatischer, da auch in metakommunikativen Bemühungen der Beteiligten, die Fallibilität der Kommunikation zu überwinden oder die paraphrastische Struktur der Sprache aufzuheben, in einen infiniten Regress führen würde. Auch der Konsens unter empirischen Idealbedingungen bleibt ein Kompromiß, der im Glauben an die Unnötigkeil weiterer Problematisierungen fundiert ist. 34

33 Das sich für die Kommunikationspartner stellende und in Form eines pragmatischen Konsenses bewältigte Problem unterscheidet sich nur graduell von dem in der diskutierten Problem des infiniten Regresses. Auch einmal als gemeinsam eingestufte Urteile können ohne Ende hinerfragt werden. Was hier pragmatischer Konsens heißt, wird dort als "Prinzip der finiten Formulierung" (Kaufmann 1936:18) abgehandelt. 34 Man denke in diesem Zusammenhang an die bekannten ethnomethodologischen "Krisen experimente" von Garfinkel. Eine immer wieder geforderte Explikation des gemeinten Sinns von Äußerungen und Handlungen führt die Kommunikation regelmäßig in eine Krisensituation, der deranschließende verärgerte Abbruch der Kommunikation folgt (vgl. Garfinkel 1967, 1972; Garfinkei/Sacks 1970; Weingarten et al. 1976).

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m. Kommunikation als System 1. Doppelte Kontingenz und Systembildung Die Theorie sozialer Systeme von Nildas Lubmann vertritt ein antihermeneutisches und "objektiviertes" Verständigungskonzept. Weder aus der Parsomanischen Systemtheorie noch aus Sprachtheorien und deren Transformationsgrammatiken oder phänomenologischen Ansätzen lasse sich ein Kommunikationsbegriff gewinnen, der das Spezifische von Verständigungs- und Mitteilungsakten erfassen könne. In Abgrenzung zu diesen Traditionen hält Luhmann die Berücksichtigung von handelnden Individuen und deren Motiven für die Erklärung der Entstehung eines sozialen Systems für überflüssig. Die Leistung der Systembildung könne vielmehr aus dem systemischen Kontext selbst und nicht als aus Handlungen komponiert verstanden werden. Da schon im Moment der Wahrnehmung eines potentiellen Interaktions- oder Kommunikationspartners selektive Mechanismen notwendig ablaufen, die nur diesem System von Wahrnehmungskontakten zugerechnet werden können, besteht keine Notwendigkeit, auf die Handlungssubjektezur Erklärung der Genese des Systems zurückzugreifen, zumal sich die vollzogenen Selektionsleistungen niemals nur auf ein Subjekt zurückführen lassen: "Die Systemtheorie bricht mit dem Ausgangspunkt und hat daher keine Verwendung für den Subjektbegriff. Sie ersetzt ihn durch durch den Begriff des selbstreferentiellen Systems." (1984:51)35 Lubmann verfolgt mit der Einführung des Begriffs der Selbstreferentialität die Absicht, sein Postulat von der Ablösung des Handlungsbegriffs durch

35 Selbstreferentielle Systeme sind dadurch gekennzeichnet, daß jede Einheit, die in einem solchen System verwendet wird durch das System selbst konstituiert werden muß und nicht aus dessen Umwelt bezogen werden kann. Dieser Vorgang der • Autopoiesis" unterscheidet sich von dem in der soziologischen Theorie schon länger verwendeten Begriff der Selbstorganisation, da das System nicht nur die Herstellung von Relationen zwischen seinen Elementen, sondern auch die Produktion und Reproduktion dieser Elemente selbst vollzieht. Alles, was selbstreferentielle Systeme als Einheit verwenden, wird eben durch diese Einheiten im System erst bestimmt. Es gibt daher weder Input noch Output von Einheiten. Zwar bestehen Beziehungen zwischen System und Umwelt, diese liegen jedoch auf einer anderen Realitätsebene als die Autopoiesis und werden im Anschluß an Maturans als "Koppelung" des Systems an "seine" Umwelt bezeichnet (vgl. Luhmsnn 1985:403; Maturans 1982). Neben Luhmsnn vertreten auch "radikale Konstruktivisten" (S.J. Schmidt, H. von Foerster, E. von Glasersfeld u.a.) die Einführung dieses Ansatzes in die Humsnwissenschaften(vgl. Schmidt 1987a).

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den Sinnbegriff in der Systemtheorie zu begründen. Sind soziale Systeme ausschließlich als Sinnzusammenhänge zu begreifen, so läßt sich zeigen, daß die "Selbstbeweglichkeit des Sinngeschehens" (1984: 101) als Autopoiesis par excellence nachweisbar ist. Diese Entsubjektivierung der soziologischen Theorie bleibt sowohl für den Handlungs- wie auch für den Kommvnikationsbegriff nicht ohne Folgen. Sie führt zunächst zu einer Differenz von Handlung und Kommunikation. 36 Komplementär dazu definiert Lubmann ein soziales System wie folgt: "Ein soziales System kommt zustande, wenn immer ein autopoietischer Kommunikationszusammenhang entsteht und sich durch Einschränkungen der geeigneten Kommunikation gegen eine Umwelt abgrenzt. Soziale Systeme bestehen demnach nicht aus Menschen, auch nicht aus Handlungen, sondern aus Kommunikationen." (Lnhmann 1986b: 269; vgl. auch Köck 1980) Mit den Prozessen der Systembildung ist der handlungs- und kammunikationstheoretische Grundbegriff der "doppelten Kontingenz" verbunden. Doppelt kontingent ist eine Situation dadurch, daß beide InteraktionspartDer ihr Handeln vom Handeln des anderen abhängig machen bzw. sich daran orientieren. Um eigenes Handeln (bzw. einen Handlungsentwurf) wählen zu können, müßte jeder der Partner wissen, wie sich der andere entscheidet; er kann dies aber nur, wenn er weiß, wie er sich selbst entscheidet. Für die Frage, wie angesichts dieser "zirkulären Unfähigkeit zur Selbstbestimmung" die von den Handelnden erlebte geordnete Interaktions- und Kommunikationstätigkeit trotzdem zustande kommt, hatte Parsons zunächst - wenn auch narrnativistisch verkürzt - eine teleologische Lösung anzubieten. 37 Luhmann plädiert dementgegen dafür, den Kontin-

36 "Der elementare, Soziales als besondere Realität konstituierende Prozeß ist ein Kommunikationsprozeß. Dieser Prozeß muß aber, um sich selbst steuern zu können, auf Handlungen reduziert, in Handlungendekomponiert werden. Soziale Systeme werden demnach nicht aus Handlungen aufgebaut, so als ob diese Handlungen auf Grund der organisch-psychischenKonstitutiondes Menschen produziert werden und für sich bestehen könnten; sie werden in Handlungen zerlegt und gewinnen durch diese Reduktion Anschlußgrundlagenfür weitere Kommunikationsverläufe." (1984:193) 37 "There is a double contingency inherent in interaction. On the one band, ego's gratifications are contingent on bis selection among available alternatives. But in turn, alter's resction will be contingent on ego's selection and will result from a complementary selection on alter's part. Because of this double contingency, communication, which is the preoccupation of cultural patterns, could not exist without both generalization from particularity of the specific situations (which are never identical for ego and alter) and stability of meaning which can only be assured by 'conventions' observed by both parties". (Parsons/Shils 195 I: 16) Eine andere, stärker das strategische Moment betonende

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genzbegriffvon der traditionellen Behandlungsweise (etwa als Problem einer "Reziprozität der Perspektiven") abzulösen, da so das Soziale immer nur als Beziehung zwischen Individuen gedacht werden könne. Das damit verbundene Symmetriemodell sei dem Phänomen der" systemintern-selbstreferentiell gesteuerten Komplexitätsreduktion" inadäquat (vgl. Luhmann 1984: 153f.). Sowohl interaktionistische als auch phänomenologische Zugänge reduzieren aus dieser Perspektive die Problematik, indem sie ein alter Ego als kontingent handelnd in das Ego einbauen und so nur eine halbierte doppelte Kontingenz behandeln. Soziale Systeme entstehen jedoch dadurch, daß beide Interaktionspartner doppelte Kontingenz erfahren und daß diese Unbestimmbarkeil einer solchen Situation jedweder dann stattfindenden Aktivität strukturbildende Bedeutung gibt. Mit dem Grundbegriff der Handlung ist nach Luhmanns Überzeugung dieses Problem nicht erfaßbar (vgl. 1984: 154). Mit einer so angelegten Kontingenzanalyse läßt sich zunächst ein wesentliches Merkmal der Kommunikationsproblematik verdeutlichen, das in der Habermasseben Theorie nicht zur Sprache kommen kann: "Ego erfährt Alter als alter Ego. Er erf"ahrt mit der Nichtidentität der Perspektiven aber zugleich die Identität dieser Erfahrung auf beiden Seiten. Für beide ist die Situation dadurch unbestimmbar, instabil, unerträglich. In dieser Erfahrung konvergieren die Perspektiven, und das ermöglicht es, ein Interesse an Negation dieser Negativität, ein Interesse an Bestimmung zu unterstellen. Damit ist, in Begriffen der allgemeinen Systemtheorie formuliert, ein 'state of conditional readiness' gegeben, eine Systembildungsmöglichkeit im Wartestand, die nahezu jeden Zufall benutzen kann, um Strukturen zu entwickeln". (1984:172)

2. Selektivitlit, Wahrnehmung und Kommunikation Luhmann hält die in vielen Verständigungstheorien vorkommende "Übertragungsmetapher", die suggeriert, daß der Absender etwas übergibt, was ein Empfänger enthält, für unzutreffend und irreführend (1984: 194). Das Wesentliche der Kommunikation liegt nicht im Akt der lrbertragung bzw. der Mitteilung, die ja nur als Selektionsvorschlag bzw. Anregung zu

Behandlung erfährt das Kontingenzproblem durch spieltheoretische Arbeiten (vgl. Morgenstem!Neumann 1955; Burger 1966; Axelrod 1984; Lindenberg 1985, 1986).

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begreifen ist. Erst dadurch, daß diese Anregung aufgegriffen wird, kommt Kommunikation zustande. Diese, z.T. an Bühlers Kritik der Wundtschen Ausdruckstheorie erinnernde These (vgl. Bühler 1978) soll klarstellen, daß die Vorstellung, die übermittelte Information sei für beide Kommunikationspartner dieselbe, die Analyse in jene Aporien lenkt, die sich mit der Auffassung verbindet, Kommunikation sei eine Art "Sinnübertragung". Doch kann dies schon deshalb nicht zutreffen, weil der intersubjektiv hergestellte Sinn für jedes psychische System (streng genommen) ein anderer Sinn ist, an den sich andere Bedeutungen knüpfen. Mit dem Hinweis auf die in jedem Kommunikationsprozeß bestehende doppeltkontingente Situation setzt Luhman nicht beim Postulat der durch gemeinsame Regeln gesicherten Identität, sondern bei der grundsätzlichen Differenz von Bedeutungen an. Die systemtheoretische Konzeption von Kommunikation will also neben der Übertragungs- auch die Konsensmetaphorik über Bord werfen. Das Postulat vom Konsens als Telos der Kommunikation würde zu der fragwürdigen These führen, daß sich nach Erreichen dieses Konsenses Kommunikation nicht mehr lohne. Die Problematik des Kommunikationsbegriffs verschöbe sich auf die Beseitigung von Mißverständnissen, "Rauschen im Kanal" und ähnlichen störenden Einflüssen bei der Übermittlung von Informationen. Damit wären zwar die Vorzüge eines "social problerns approach" gewonnen, die Frage aber, wie Kommunikation trotz aller rekonstruierbaren Unwahrscheinlichkeiten überhaupt zustandekommt, bliebe unbeantwortet (vgl. 1981a: 16). Der selektive Charakter des Kommunikationsgeschehens - Sinn läßt keine andere Möglichkeit zu als zu wählen - steht daher im Zentrum der Theoriebildung. Kommunikation greift aus einem Verweisungshorizont, der in und durch sie erst konstituiert wird, etwas heraus und läßt anderes beiseite; sie kann sowohl sich selbst wie auch anderes zum Thema machen und zwischen diesen beiden Thematisierungsrichtungen hin und her pendeln, etwa als Metakommunikation. Deshalb ist Kommunikation ein notwendig reflexiver, immer sich selbst als Kommunikation implizierender Vorgang und sie ist dies, weil sie immer auch auf etwas anderes verweist als auf sich selbst (vgl. 1981a: 16). Kommunikation ist deshalb als "Prozessieren von Selektionen" und als selbstreferentieller Vorgang bestimmbar. Dieser Prozeß muß als ein dreisteHiger gedacht werden. In der Kommunikation wird nämlich nicht nur etwas aus einem Vorrat ausgewählt, sondern das, was ausgewählt wird, ist selbst schon Auswahl und wird deshalb zur Mitteilung gebracht: "Es geht nicht nur um Absendung und Empfang mit jeweils selektiver Aufmerksamkeit; vielmehr ist die Selektivität der Information selbst ein Moment des Kommunikationsprozesses, weil nur

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im Hinblick auf sie selektive Aufmerksamkeit aktiviert werden kann." (1984: 195) An der damit verbundenen Differenz von Information und Mitteilung (eine Information kann auf verschiedene Weise mitgeteilt werden), auf die sich das Verstehen der Mitteilung dritte Selektion stützt, hängt die Bestimmung des Kommunikationsbegriffs: "Kommunikation kommt nur zustande, wenn diese zuletzt genannte Differenz beobachtet, zugemutet, verstanden und der Wahl des Anschlußverhaltens zu Grunde gelegt wird. Dabei schließt Verstehen mehr oder weniger weitgehende Mißverständnisse als normal ein;" (1984:196). 38 Die so bestimmte Einheit der Kommunikation hat eine wichtige Funktion. Sie ermöglicht nämlich den Anschluß einer weiteren, vierten Selektion, die für den Prozeß der Handlungskoordination ebenfalls bedeutsam ist: die Annahme oder Ablehnung der mitgeteilten Sinnreduktion. Dies ist deshalb von erheblicher konzeptneUer Bedeutung, da das Annehmen oder Abiehrneo einer zugemuteten und verstandenen Selektion nicht mehr Teil des kommunikativen Geschehens ist. Situationen werden für solche Anschlußakte durch Kommunikation erst geöffnet. Würde man dies nämlich zum Bestandteil der Definition machen, wäre z.B. eine abgelehnte Kommunikation, im Gegenteil etwa zu der von Watzlawick et al. (1980) vertretenen Position, keine Kommunikation. Es kann also weder Intentionalität noch Sprachlichkeil zur Definition des Kommunikationsbegriffs herangezogen werden, denn " ... Kommunikation bezieht mehr selektive Ereignisse in ihre Einheit ein als nur den Akt der Mitteilung. Man kann den Kommunikationsprozeß deshalb nicht voll erfassen, wenn man nicht mehr sieht, als die Mitteilungen, von denen eine die andere auslöst. In die Kommunikation geht immer auch die Selektivität des Mitgeteilten, der Information, und die Selektivität des Verslehens ein, und gerade die Differenzen, die diese Einheit ermöglichen, machen das Wesen der Kommunikation aus." (1984:225f.) 3. Die Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation

In einer "contra-phänomenologischen Anstrengung" will die Theorie sozialer Systeme den Problemcharakter jeder Kommunikationshandlung aufzeigen.

38 Aus diesem Grund liegt Kommunikation nicht vor, wenn z.B. ein beobachtetes Vernalten nur als Anzeichen für etwas anderes aufgefaßt werden kann. In den Termini der Husserlschen Phänomenologie etwa sind Apperzeption und Appräsentation allein noch keine Kommunikation (vgl. Husser11913).

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Die überraschende Kernthese lautet: "Kommunikation ist unwahrscheinlich. Sie ist unwahrscheinlich, obwohl wir sie jeden Tag erleben, praktizieren, und ohne sie nicht leben würden." (1981b:26) Luhmann schließt sich in seinen Ausführungen der schon bei Schütz u.a. begründeten Überlegung an, daß vollkommene Kongruenz des Erlebens aufgrund der Perspektivendifferenz durch die Nichtidentität der Beteiligten unmöglich ist. Die daraus resultierende Unwahrscheinlichkeit vollständigen Verstehens hat drei wesentliche Aspekte, die sich auf folgende, dem Kommunikationsprozeß immanenten Probleme bezieht (Luhmann 1981b:26f.): 1. Ausgehend von der Trennung und Individualisierung des Bewußtseins der Kommunikationspartner ist das Verstehen einer Äußerung unwahrscheinlich. Sinn kann zudem nur kontextgebunden verstanden werden, und als Kontext fungiert vor allem für die Beteiligten das, was das eigene Gedächnis als Kontext bereitstellt. 39 2. Ebenfalls unwahrscheinlich ist das Erreichen der Empfänger im Kommunikationsprozeß. Dies bezieht sich auf das Erreichen von mehr Handelnden, als in der konkreten Situation anwesend sind. Durch räumliche und zeitliche Extension zerbricht das Interaktionssystem, sofern die Beteiligten erkennbar kommunizieren, daß sie nicht kommunizieren wollen. 3. Der Erfolg von Mitteilungsakten ist unwahrscheinlich. Selbst wenn die Äußerung verstanden wird, ist damit noch nicht sichergestellt, daß sie auch akzeptiert wird. Kommunikativer Erfolg bezieht sich innerhalb dieser Argurnenation auf die Übernahme selektiver Inhalte der Kommunikation (der Information) als Prämissen eigenen Verhaltens. Selektivität kann so durch den Anschluß weiterer Selektionen verstärkt werden. Die oben genannten Unwahrscheinlichkeiten sind allerdings nicht nur Hindernisse im Kommunikationsprozeß, sondern sie wirken darüber hinaus mehr oder weniger entmutigend auf die beteiligten Akteure, denn "... solange Ego nicht handeln kann, ohne zu wissen, wie Alter handeln wird, und umgekehrt, ist das System zu wenig bestimmt und dadurch blockiert. Das heißt für Sinnsysteme aber zugleich: hochsensibel zu sein für nahezu beliebige Bestimmungen". (1984: 183f.) Die drei Arten dieser Unwahrscheinlichkeiten haben zudem den Charakter eines sich gegenseitig

39 Dies wird bei Luhmann leider nicht näher spezifiziert. Ob hier auch Elemente eineskollektivenGedächnisses (vgl. Halbwachs 1967) gemeint sein können, bleibt unklar.

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erschwerenden Verhältnisses. Sie können nicht systematisch abgearbeitet werden, da die Lösung des einen Problems die eines weiteren verursacht. Bei einer genauen Explikation und größtmöglichem Verständnis einer symbolischen Äußerung etwa nehmen auch die Gründe zu, diese abzulehnen. Überschreitet die Kommunikation den Kreis der anwesenden Interak:tionspartner, kann Verstehen wiederum schwieriger und das Ablehnen von "Selektionsofferten" leichter werden. Es geht daher für die Kommunikationstheorie um die Frage, wie Kommunikationsprozesse angesichts dieser Schwierigkeiten überhaupt realisiert werden: "Man wird Kommunikation unterlassen, wenn Erreichen von Personen, Verständnis und Erfolg nicht ausreichend als gesichert erscheinen. Ohne Kommunikation bilden sich aber keine sozialen Systeme. Die Unwahrscheinlichkeiten des Kommunikationsprozesses und die Art, wie sie überwunden und in Wahrscheinlichkeiten transformiert werden, regeln deshalb den Aufbau sozialer Systeme." (1981b:27) Im Sinne der schon vogenommenen Charak:terisierung kann Luhmanns Verständnis von Kommunikation als "konfliktäres" Modell bezeichnet werden. Die Zuspitzung in Form des Unwahrscheinlichkeitstheorems soll präzise aufzeigen, wo jene Probleme liegen, deren Lösung im Laufe der Evolution Kommunikation und Systembildung ermöglicht und Unwahrscheinliches in Wahrscheinliches transformiert haben (vgl. 1984:218f.). Die Erweiterung der Chancen für aussichtsreiche Kommunikation, die zur Konsolidierung von Erwartungen führt, wird nicht als evolutionärer Wachstumsprozeß, sondern als Selektionsprozeß gedacht, der bestimmt, welche Art von sozialen Systemen möglich werden. Die Vorzüge des systemtheoretischen Kommunikationsbegriffs, der nicht von der Priorität sprachlicher Intersubjektivität ausgeht, liegen vor allem darin, daß sich Prozesse der Verständigung auch in solchen Kontexten begreifen lassen, die durch erhöhte Sprachprobleme gekennzeichnet sind und deshalb nach anderen Wegen zur Mitteilung suchen. Selbst wenn ein so differenziertes und leistungsfabiges Medium wie das der gemeinsamen Sprache nicht zur Verfügung steht, kommt es gleichwohl zum "Prozessieren von Selektionen", und zwar nicht nur durch gegenseitige Wahmehmung, sondern auch durch Gesten und Versuche, zu Annnahmeselektionen zu motivieren. Es muß daher die Frage gestellt werden, mit welchen Termini andere, etwa sprachkritische oder hermeneutisch-phänomenologische Kommunikationstheorien derartige Prozesse der Systembildung, die ja auf Kommunikation angewiesen sind, analytisch zu fassen versuchen. Die Erweiterung des sich ausschließlich an der Intentionalität der Beteiligten interessierten Ausgangspunktes liegt darin, auch die attentionalen Aktivitäten

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zu berücksichtigen, denn jede Zuwendung zu etwas bedingt gleichzeitig eine Abwendung von etwas anderem. Der phänomenologischen Konstitution in Form des Bestimmens von etwas in seiner Differentialität wird der Aspekt der Selektivität im Form der Indifferenz gegenüber Nichtintendiertem hinzugefügt (vgl. Markowitz 1991 :3). Die Leistungsfähigkeit des systemtheoretischen Kommunikationsbegriffs ist im Hinblick auf unsere Problematik daher vor allem in folgenden Vorteilen zu sehen: 1. Prozesse gegenseitiger Wahrnehmung, die maßgeblich für der Art der Systembildung verantwortlich sind, könnenmiteinbezogen werden; die Entstehungssituation eines Verständigungsprozesses kommt so in den Blick. 2. Der Kommunikationsprozeß hängt nicht allein an den Möglichkeiten, die die Herstellung sprachlicher Intersubjektivität zuläßt; Situationen völliger Fremdheit und "Sprachlosigkeit" werdem für die Analyse geöffnet. 3. Die Situation der totalen Unvertrautheit mit dem Interaktionsparter ist besonders treffend mit der Luhmannschen Fassung des Problems doppelter Kontingenz erfaßt, da Mechanismen der Überbrückung dieses Kontingenzbewußtseins bei den Kommunikationspartnern z.B. in interkulturellen Situationen weniger oder gar nicht zur Verfügung stehen als im intrakulturellen Kontext. 4. Kommunikation ohne Subjekt?

Luhmanns Systemtheorie ist nicht primär Kommunikationstheorie. Ihr Interesse an Prozessen der Mitteilung und Verständigung ist vor allem durch die "Erneuerung" der Systemtheorie als Theorie autopoietischer und selbstreferentieller Systeme geprägt. Dies begründet die Bemühungen um die Destruktion der Übertragungsmetaphorik und die Betonung der Fragilität und Okkasionalität des Kommunikationsprozesses. Luhmann will zwar die Grundbegriffe und Problemstellungen der Bewußtseinsphilosophie übernehmen, jedoch (trotz Ausklammerung der Subjekte und ihrer Lebenswelt) deren Problemlösungskapazität übertreffen. War Busserl, dessen "subjektphilosophische Erbmasse" (Habermas 1985:426) sich Lubmann aufvielfältige Weise anzueignen sucht, am Problem transzendentaler Intersubjektivität gescheitert, weil er Philosophie nur aus der Perspektive der Selbstreferenz des psychischen Systems zu betreiben vermochte, soll nun der abermalige

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Versuch einer objektivierten Begründung des Sozialen erfolgen. 40 Eine Theorie der Kommunikation muß nach wie vor an Strukturen der Lebenswelt interessiert sein, wenn sie nicht alle Brücken zur vorwissenschaftliehen Erfahrung abbrechen möchte. Dieses Interesse ist bei Ungeheuer und Habermas artikuliert, bei Luhmann nicht. Seine Theorie glaubt das Konzept lebensweltlicher Intersubjektivität unter dem Hinweis auf dessen paradoxale Struktur vollständig verabschieden zu können, es existieren nur noch personale und soziale Systeme, die füreinander Umwelten bilden. Die Konsequenzen einer solchen Konstruktion liegen auf der Hand: zwar lassen sich mit den Begriffen der Selbstreferentialität und der Autopoiesis entscheidende Phänomene von Verständigungsprozessen treffend charakterisieren, die konzeptuelle Klammer zu jenen Dimensionen sprachlich erzeugter Intersubjektivität, die in verschiedenen Objektivationen ihren Niederschlag findet, gelingt jedoch nicht. Deshalb muß Luhmann das sinnstiftende Fundament der Lebenswelt ebenso wie Kultur ahistorisch zum "Vorrat möglicher Themen" (1984:224) verkürzen. Habermas hatte sich in seiner Theorie dafür ausgesprochen, den Sinnbegriff an das Problem sprachlicher Intersubjektivität anzubinden. Gegen den von Weber als subjektzentriert und von Schütz als egologisch konzipierten Sinnbegriff wendet Habermas ein, daß die Bestimmung von Sinn als einem durch reflexive Zuwendung konstituierten Phänomen zu kurz greife, da erst durch sprachlich vermittelte Kommunikation Bedeutungen

40 Ähnlich der Argumentation Ungeheuers begründet hier die Geschlossenheit von Bewußtseinssystemendie Notwendigkeit von Kommunikation und Systembildung: "Es gibt keinen unmittelbaren Kontala zwischen Bewußtseinssystemen. Die Geschlossenheit richtet sich nicht nur gegen andersartige, sie richtet sich auch gegen gleiche Systeme. Kein Bewußtsein hat einen direkten Zugang zu einem anderen Bewußtsein, denn das hieße: sich in dessen Operationen bewußt einschalten zu können. Gegenüber anderem Bewußtsein stehen einem Bewußtseinssystem nur zwei Arten von Operationen zur Verfiigung: Beobachtung und Teilnahme an Kommunikation. Beide stehen unter eigentümlichen Restriktionen, die die fehlende Unmittelbarkeit des Kontaktes kompensieren." (Luhmann 1985:404) Dabei erfordert die Beobachtung zwingend die Voraussetzung eines "Differenzschemas" oder einer Perspektive, über die fremdes Handeln als fremd wahrgenommen werden kann. Die andere Form des Kontaktes, die Kommunikation, setzt Beobachtung voraus und fiihrt darüber hinaus zwangsläufig zur Bildung eines sozialen Systems. Die Bildung sozialer Systeme ist, wie Luhmann verdeutlichen will, mithin ein Korrelat der Geschlossenheit psychischer Systeme und nicht, wie oft behauptet, ein Beweis ihrer Offenheit (vgl. Luhmann 1985:406).

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"geteilt" und mithin Sinn entstehen könne. 41 Nur durch die Konvergenz von Verstehenshorizonten und den damit verbundenen gemeinsamen Geltungsansprüchen, die wiederum Bedeutungsidentität sichern, läßt sich die Genese von Sinn explizieren (vgl. Kiss 1989:172). Das damit zusammenhängende Verhältnis von Wahrnehmung und Bewußtsein zur Sinnkonstitution ist folglich von der Vorrangigkeit kommunikativer Erfahrung geprägt. Innerhalb dieser Perspektive ist Sinn etwas zwischen sprach- und handlungsfähigen Subjekten, weshalb auch die Art des Sinnes sich den verschiedenen konsensstiftenden Kommunikationsakten, etwa über Richtigkeit, Wahrheit usw. verdankt. Habermas will sich mit der Aussichtslosigkeit der Begründung einer Sphäre des "Inter-", die geteilte Bedeutungen und die Möglichkeit eines wahren Konsensus garantiert, nicht abfinden. 42 Seine Theorie kann die Idee sprachlicher Intersubjektivität nicht aufgeben, da der Anspruch auf die Begründung kommunikativer Rationalität sonst zerfiele. Diese ist nur mit einem Konzept sprachlicher Intersubjektivität, nicht jedoch gegen dieses theoretisch konstruierbar. Die Rationalitätsstrukturen sind nach Habermas in den Strukturen der Sprache selbst verankert. EineTheorie, die hiervon Abschied nimmt, verfügt nicht mehr über einen Vemunftbegriff, der ein jenseits des erfolgsorientierten Handeins liegendes Regulativ darstellen kann. Luhmann wendet sich - desinteressiert an Fragen nach kommunikativer Rationalität - sowohl gegen die von Weber und Schütz durchgeführte Sinnanalyse als auch gegen den Sinnbegriff von Habermas. Er verweist auf das Bewußtsein und die Wahrnehmung als primäre Sphäre der Sinnkonstitution: "Sinn ist zwar intersubjektiv, aber nicht allein sprachlich konstituiert; vielmehr bezieht er Wahrnehmungsprozesse (unter Einschluß der Wahrnehmungen der Wahrnehmungen anderer) ein, die sich nicht in

41 "Der Sinn des Sinnes besteht zunächst darin, daß er intersubjektiv geteilt werden, daß er für eine Gemeinschaft von Sprechern und Handelnden identisch sein kann." (Habermas 197lb:l88) 42 "Und wenn Sprache nicht mehr als eine Struktur in Anschlag gebracht wird, die den internen Zusammenhang von Sinnverstehen, identischer Bedeutung und intersubjektiver Geltung ermöglicht, kann auch das Verständnis bedeutungsidentischerAusdrücke, kann Einverständnis (oder Dissens) über die Gültigkeit sprachlicher Äußerungen, kann die Gemeinsamkeit eines intersubjektiv geteilten Sinn- und Verweisungszusammenhanges,d .h. die kommunikative Teilhabe an einer im sprachlichen Weltbild repräsentierten Lebenswelt, nicht auf sprachanalytischem Wege geklärt werden. Die Aspekte sprachlich erzeugter Intersubjektivität müssen vielmehr als selbsterzeugte Artefakte aus den gegenseitigen Reaktionen sinnverarbeitender Systeme abgeleitet werden." (Habermas 1985 :439f.)

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sprachliche Prozesse auflösen lassen ... Für mich steht die Eigenqualität des Wahrnehmens, zum Beispiel das im Vergleich zu Sprechen oder Denken hohe Tempo, im Vordergrund, weil mich der Bezug zum Problem der Komplexität und damit die funktionale Unersetzlichkeit des Wahrnehmens interessiert . . . Sinnhaftes Erleben und Handeln beruht auf der Fähigkeit des Negierens und Virtualisierens, die sprachliche Wurzeln haben und in aller Zeichenbildung bereits vorausgesetzt sind." (Lnhmann 1971 :303) Aus dieser Problemsicht folgt, daß Sinn als ein Verweisungszusammenhang begriffen werden muß, der schon vor seiner intersubjektiven Geltung existiert. Sinn kann als aktualisierungsfähige Repräsentation von Weltkomplexität sowohl in sozialen Systemen aber Kommunikation, aber auch im Bewußtsein (als psychischem System) aber Gedanken selegiert, verarbeitet und reduziert werden (vgl. Kiss 1989:85). Vor dem Hintergrund der Überlegung, daß das soziale und das psychische System füreinander Umwelten bilden, stellt Luhmann die Frage, wo die Sphäre des Intersubjektivenüberhaupt verortet werden soll, zumal Sinn entweder der Kategorie "Kommunikation" oder jener der "Bewußtseinsleistung" zugerechnet werden kann. Da das psychische System als autonomes und selbstreferentielles System unabhängig vom Kommunikationssystem gedacht wird, ist das, "... was kommuniziert wird, .. nie genau das, was man meint und auch umgekehrt: Zu jeder Kommunikation macht man sich seine eigenen Gedanken, die nicht kommuniziert werden müssen (oder können)." (Kiss 1989:8St3 Die andererseits berechtigten Zweifel im Hinblick auf einen sprachunabhängigen Sinnbegriff beziehen sich vor allem darauf, daß Selektivität und Differenz (im Sinne von bloßem Anderssein) allein, wie Luhmann unterstellt, die Leistungen des Sinnerlebens nicht fassen können. Dies zeigt sich z.B. an der Struktur des semantischen Feldes: "Daß Zahl kein Vergnügen, Farbe keine Schnelligkeit ist, hängt mit der von Ryle und Sommers analysierten Ontologie der Typen zusammen, die in das semantische System eingebaut sind. Verletzt man die damit gesetzten Selektionsrestriktionen, so entsteht ein category mistake (Sommers) oder type-tres-

43 Luhmann stützt diese Überlegung durch folgendes Argument: "Das Bewußtsein ist immer schneller und vielseitiger als die Kommunikation, an der es sich beteiligt. Es umkreist die laufende Kommunikation in Gedanken und greift auf eine Weise, die nicht mitkommuniziert werden kann, vor und zutiick auf anderes, was schon gesagt ist, nicht zu sagen ist, auf keinen Fall gesagt werden sollte. Es kann planen, was es sagt, und verschweigen, was es nicht sagt. Es kann sich beim Reden beobachten und korrigieren .... Und es kann, ja es muß so gut wie zwangsläufig, dasselbe Spiel des Überschusses von Bewußtsein beim anderen vermuten." (Luhmann 1986:13)

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spass (Ryle), eine Kombination, die nicht einfach falsch ist (wie 'Milch ist grün'), sondern absurd ('grüne Gebete')." (Steinbacher 1984:255) Die Verletzung einer solchen Selektionsrestriktion konstituiert potentiell eine Metapher. Dies verdeutlicht, daß es sich notwendig um semantische Strukturen handelt. Der vollständig metaphorische Charakter sprachlicher Ausdrücke, auch der wissenschaftlicher Sprachen, kann nicht durch Rekurs auf Selektivität plausibel gemacht werden. Wie Ungeheuer weist auch Luhmann mehrfach darauf hin, daß der Kommunikationsakt erst dann vollständig ist, wenn der Adressat einer Äußerung die entsprechende innere Handlung vollzogen hat. Daß dies nicht mit einer Zustimmung zum propositionalen Gehalt der Äußerung einhergehen muß, ist für den so konstruierten Kommunikationsbegriff wesentlich: "Wenn wir sagen, daß Kommunikation eine Zustandsänderung des Adressaten bezweckt und bewirkt, so ist damit nur das Verstehen ihres Sinnes gemeint ... die Kommunikation legt einen Zustand des Empfängers fest, der ohne sie nicht bestehen würde, aber nur durch ihn selbst bestimmt werden kann. Auf Annahme oder Ablehnung und auf weitere Reaktion kommt es daher beim Kommunikationsbegriff nicht an." (1984:204) Zustimmung oder Ablehnung des Mitgeteilten sind im so verstandenen Sinne nicht Teil des kommunikativen Geschehens, sondern "Anschlußakte". Kommunikation als koordinierte Selektivität liegt natürlich auch dann vor, wenn der Kornmunikationspartner eine Information für unzutreffend hält, die darin angesprochenen Geltungsansprüche für unwahr oder unrichtig hält. Auch die Ablehnung einer Kommunikation geht auf einen Selektionsprozeß und die anschließende Festlegung des eigenen Zustandes zurück. "In den Kornmunikationsvorgang ist mithin die Möglichkeit der Ablehnung zwingend miteingebaut." (1984:212) Habermas' Theorie des kommunikativen Handeins ist angesichts dieser Überlegungen kaum als allgemeine Kommunikationstheorie zu begreifen; vielmehr befaßt sie sich mit dem Problem bzw. der Genese solcher Annahmeselektionen, in denen sich die Kommunikationspartner über die von ihnen postulierten Geltungsansprüche einigen. Sie untersucht die Bedingungen und Präsuppositionen, unter denen solche Annahmeselektionen "herrschaftsfrei" und bindend zustande kommen. 44

44 Im Hinblick auf die Frage nach einer konsensorientierten Konzeptionder Kommunikationstheorie stellt Luhmann dagegen fest: "Eine Theorie selbstreferentieller Systeme müßte sich in der Tat offen halten für konsentierende und für dissentierende Handlungsanschlüsse. Universales Implikat sinnhafter Kommunikation ist nur: daß jeder Sinn auf das Miterleben anderer verweist; nicht: daß dies die Erwartung oder Herstellung von Verständigung implizieren müßte. • (Luhmann 1982:376f.)

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Die vorangehenden Ausführungen hatten die Rekonstruktion von drei Kommunikationstheorien und den durch sie vertretenen Verständigungsbegriffen zum Ziel. Die leitende Fragestellung des ersten Teils, welcher Verständigungsbegriffbzw. welche ihn tragende Kommunikationstheorie für den weiteren Gang der Untersuchung favorisiert werden soll, kann daher wie folgt beantwortet werden. Alle drei Ansätze haben reflexive Qualitäten, d.h. sie berücksichtigen die eigenen Erkenntnisvoraussetzungen. Anspruch einer allgemeinen Kommunikationstheorie wäre die theoretische Berücksichtigung aller den Kommunikationsprozeß als solchen auszeichnenden Leistungen der Handelnden. Doch hier zeigt sich ein wesentlich differenzierteres Bild. Das Erbe der Husserlschen Subjektphilosophieund der durch sie thematisierte Abgrund zwischen Ego und alter Ego wird auf je unterschiedliche Weise in der Konstruktion der Kommunikationstheorie reflektiert. Luhmann artikuliert dies mit dem Begriff des autopoietischen und selbstreferentiellen Systems; Phänomene der Differenz und der Selektivität werden zu zentralen Kategorien der theoretischen Architektur. Habermas dagegen versucht durch Hypostasierung einer sprachlich fundierten Intersubjektivität im Medium vernünftiger Rede die diese Intersubjektivität gefährdende Innen-AußenDichotomie abzuwenden und kommunikative Rationalität zu begründen, und Ungeheuer schließlich leitet aus dem existentiellen Spannungsverhältnis von innerer und äußerer Sphäre, in der er den Grund allen kommunikativen Geschehens überhaupt sieht, einen problemtheoretisch-anthropologischen Ansatz, eine "Theorie der Problemstellungs- und Problemlösungshandlungen" (1987e:155) ab. 45 Aufgrund der unterschiedlichen Interessenlage der Konzeptionen die sich im Hinblick auf die gesamte Theoriekonstruktion nur bei Ungeheuer explizit auf das bewußte Mitteilungsgeschehen zwischen Individuen bezieht, ist Habermas' Analyse stark auf die Erneuerung der Gesellschaftstheorie ausgerichtet. Der Kommunikationsprozeß wird vor allem aus dieser Per-

45 Weitere Versuche der Überwindung einer solchen Metaphysik der Subjektivität finden sich etwa in Heideggers existentialer Daseinsontologie (1963), später in Foucaults Diskurs- und Machttheorie (1966, 1971) oder Derridas Kritik des Phonozentrismus (1983), dessen Grammatologie nicht das Modell der Rede, sondern das der Schrift favorisiert. Sie sind fiir eine Kommunikationstheoriejedoch nur von marginaler Bedeutung.

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spektive thematisiert. 46 Ihr Ertrag liegt zweifellos in der Beschreibung von Bedingungen, deren Erfüllung das, was rationale Verständigung heißen könnte, ermöglichen müßte. Dieser doppelte Konjunktiv deutet schon darauf hin, daß es sich bei seinem Entwurf weniger um eine Rekonstruktion der allgemeinen kategorialen Voraussetzungen des Kommunikationsprozesses handelt. Es werden daher grundlegende, dem Verständigungsprozeß innewohnende Unsicherheiten nicht thematisiert. Der Problemcharakter der Kommunikation als einem letztlich gegen Täuschung und Nichtverständnis nicht endgültig absicherbaren Prozeß bleibt weitgehend unberücksichtigt. Kommunikationshandlungen interessieren primär unter dem Aspekt ihrer argumantativen Bindungswirkung. Das Verhältnis von Verständigungsaufwand und Dissensrisiko wird wird in den Bereich lebensweltlicher Rationalität abgedrängt (vgl. Habermas 1985:405). "Der notwendige Zirkel, der darin liegt, daß wir jede Äußerung nur durch Unterlegung eines eigenschaftlieh bestimmten Seelenturns zu deuten vermögen, andererseits von diesem Seelenturn nur durch die Äußerung wissen, ist ins Bewußtsein zu heben." Nimmt man den hier in Freyers Kulturphilosophie (1923:8) angespochenen Zwiespalt zwischen leiblichem Ausdruck, individueller Welttheorie und Konstruktionsleistung der Subjekte als Zentralproblem jedes Verständigungsvorgangs, so ist Ungeheuer dieser Gesamtproblematik mit seinem Ansatz am nächsten gekommen. Die anthropologisch fundierte Konzeption von Kommunikation als problemlösendem Handeln und die Unauthebbarkeit von Grenzen, die dennoch Anlaß zu permanenten Überwindungsversuchen sind, charakterisieren die Verständigungshandlung als notwendig fallibel, als eine Aktivität, die ihr Ziel der Problemlösung verfehlen kann. Liegen bei Habermas die Kriterien für gesicherte Verständigung in der Möglichkeit diskursiver Einigung, so verortet Ungeheuer die letzte Instanz der kommunikativen Erfolgskontrolle im Bereich der individuellen Welttheorien. Deren Sphäre freilich liegt jenseits von objektivem Sinn und kommunikativer Rationalität. Diesem Verständnis muß, wie sich im weiteren zeigen soll, Priorität im Hinblick auf die Anwendbarkeit im zu diskutierenden Problemkontext zukommen.

46 Der in freiem Einverständnis herbeigefiihrte Konsens als Garant kommunikativer Rationalität ist ein Postulat moderner Gesellschaften. Diese soll sicherstellen, daß nicht alle Fragen den Systemimperativen zweckrationalen Handeins zum Opfer fallen und so die lebensweltlichen Sinnressourcen aushöhlen bzw. die Lebenswelt "kolonialisieren".

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Durch die innovative Theorietechnik Luhmanns schließlich gewinnt die Kommunikationstheorie weitere Trennschärfe. Obwohl auch Luhmanns Interesse weniger den spezifischen Verständigungshandlungen gilt, sondern mehr ihrem Stellenwert für den Aufbau und die Fuktionsweise sozialer Systeme, die so gewissermaßen insich rotierende Kommunikationsmassen darstellen, sind seine Überlegungen an die Theorie Ungeheuers anschluß fähig. Der Ertrag der Transformationsleistung der Systemtheorie liegt zweifellos in ihrem hohen Abstraktionsniveau und damit in ihrer weitgreifenden, attentionale Leistungen miteinbeziehenden Problemsicht. Sie ist für einen interkulturell ausgerichteten Ansatz nicht nur aufgrund ihrer realistischen Einschätzung des Verständigungsprozesses instruktiv. Es ist für diesen Phänomenbereich auch von wesentlicher Bedeutung, den Sinnbegriff nicht auf sprachlichen Sinn einzuschränken, sondern ihn- wie dies innerhalb phänomenologisch inspirierter Arbeiten der Fall ist - nach Möglichkeit auf alle symbolisch kategorisierenden Verhaltens- und Erlebnisweisen zu erweitern. Die Sphäre "vor- und außersprachlicher Gestaltungs- und Strukturierungsleistungen" (Waldenfels 1980b:21) muß im Rahmen einer Theorie mit derartiger Ausrichtung schon deshalb Berücksichtigung fmden, um nicht den Begriff interkultureller Verständigung in jenem linguistischen der fremdsprachlichen Übersetzung aufgehen zu lassen. Der vollständigen Ablösung bewußtseinstheoretischer Ansätze zugunsten solcher der linguistischen Handlungstheorie, die allein der Sprache und den "diskursiven Formen" (Langer 1979) den Vorrang lassen will, ist gerade im Hinblick auf die Probleme interkultureller Kommunikation mit Skepsis zu begegnen. Mit der Ablehnung einer ausschließlich sprachzentrierten Theoriebildung verbindet sich ebenso die Forderung nach breiterer Fundierung der Kommunikationstheorie, die sich konzeptuell auf alle symbolischen Produktionen zu beziehen hat, wie auch die erkenntniskritische Einsicht, daß alle Kommunikationsprozesse notwendig an Zeichengebrauch gebunden sind. Dies macht für eine Theorie der Verständigung eine adäquate Theorie der Zeichen erforderlich. Vor allem ist die jeden Verständigungsprozeß konstituierende gemeinsame Sinnbildung nur denkbar, " ... wenn nicht nur kommunikative Einzelakte durch Zeichen hindurchgehen, sondern wenn die Kommunikation als ein Geflecht von Akten sich in der kontingenten Sphäre der Zeichen, in ihrer Materialität aufhält und eben darin ihre Produktivität entfaltet. Der Sinn stünde und entstünde sozusagen zwischen den Zeilen. " (Waldenfels 1980d: 163)

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§ 2 Zeichentheoretische Grundlagen Interkultureller

Verständigung

"We can have words without a world but no world without words or other symbols. " N. Goodman, Ways of Worldmaking

I. Semiotische Transformation: Zeichen und Bedeutung 1. Symbolgebrauch als anthropologischer Befund

Die Semiotik kann heute als relativ eigenständiger Wissenschaftszweig angesehen werden. Zahlreiche Versuche, die Zeichentheorie zur wissenschaftlichen Grundlagentheorie par excellence mit einem alle Disziplinen umfassenden Erklärungsanspruch zu erheben, haben allerdings auch zu stark inflationärem Gebrauch semiotischer Terminologie und damit zur in jüngster Zeit beklagten "Krise" der Semiotik geführt. Ungeachtet derartiger Probleme gibt es jedoch eine traditionsreiche und theoretisch fruchtbare Anzahl semiotischer Arbeiten, von denen gerade die Sozial- und Kornmunikationswissenschaften nicht absehen können. Es ist insbesondere der anthropologische Befund der "Weltoffenheit" (Gehlen 1986), die Loslösung des Antriebes von bestimmter präformierter Motorik und die damit als Schwächung biologischer Eindeutigkeit verbundene Instinktarmut des Menschen (vgl. Plessner 1928), in dem Zeichen- und Symbolgebrauch ihren Ursprung haben. "Die biologischeMehrdeutigkeitdes Verhaltens zwingtuns immer schon und von vornherein zur Deutung unserer Mitmenschen und unserer Umgebung. Unser Wahrnehmen, Verhalten und Handeln ist immer von Deuten begleitet. Darüber hinaus zwingt uns die fehlende Eindeutigkeit menschlichen Verhaltens zur Wahl zwischen verschiedenen Deutungsmöglichkeiten des von uns Wahrgenommenen." (Soeffner 1989:4) Dieser Zwang zu Symbolkonstitution und Symbolgebrauch sowie der darin begründete Problemkontext des kommunikativen Handeins verlangen nach grundlegender Analyse und Theoriebildung im Hinblick auf die Zusammenhänge zwischen Zeichen- und Symbolsystemen und ihrer Verwendung in konkreten Situationen des Alltags und der Wissenschaft. Ernst Cassirer hat in seiner "Philosophie der symbolischen Formen" den Ergebnissen der bis dahin vorgelegten semiotischen Arbeiten und der veränderten anthropologi59

sehen Sicht menschlicher Existenz mit der Forderung Rechnung getragen, den Menschen nicht wie bisher nur als "animal rationale", sondern vielmehr als "animal symbolicum" zu bestimmen (Cassirer 1960:40). 47 Die Diskussion über die Instruktivitätsemiotischer Analysen hat zunächst andere Disziplinen beschäftigt, vor allem die Linguistikund die Philosophie. Versuche, spezifisch soziologische Fragestellungen über zeichentheoretische Ansätze zu erschließen, sind trotz mancher Trendwende in Richtung interpretativer und hermeneutischer Verfahren die Ausnahme geblieben. 48 Semiotik als Theorie der Zeichen befaßt sich im wesentlichen mit folgenden Problemstellungen (vgl. Eschbach 1980:50): 1. Was sind die kennzeichenden Merkmale von Zeichen in Aktion bzw. im Zeichenprozeß? 2. Welchen Status nimmt die Semiotik innerhalb der Logik, der Erkenntnistheorie und der Hermeneutik ein? 3. Welchen Beitrag kann die Semiotik zur Aufklärung der Frage nach der Konstitution von Zeichen und Bedeutung und der Relation Zeichen - Objekt leisten? Die Frage, welchen Beitrag die Semiotik zur Aufklärung interkultureller Bedeutungskonstitution zu leisten vermag, kann unter Verzicht auf ihre historische, logische und erkenntnistheoretische Darstellung erfolgen. Man kann zunächst eine theoretische und eine praktische Semiotik unterscheiden, da neben der wissenschaftlichen Zeichentheorie auchjeder Kommunikationsteilnehmer im Alltag Semiotik betreibt: er interpretiert Zeichen, kommuniziert mittels Zeichen und produziert folglich auch Zeichen. Die Teilnahme an Kommunikationsprozessen ist daher eine Art praktische- oder "Ethnosemiotik": "Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß jenseits des theoretisch definierten Zeichens der Kreis der Semiose existiert, das Leben

47 Im Anschluß an Cassirer haben vor allem Langer und Geertz diese Befähigung zum Symbolgebrauch zum zentralen Gegenstand ihrer Untersuchungengemacht (vgl. Langer 1962, 1979; Geertz 1960, 1987). 48 Zwar verfügt die soziologische Tradition mit Arbeiten etwa von Tarde, Durkheim, Schütz, Simmel, Tönnies u.a. über Autoren, die wichtige Beiträge zur Zeichen- und Symboltheorie geleistet haben; der gängige Idealismus-Vorwurf sowie der Hinweis auf Irrelevanz für die tatsächlichen Erfordernisse des Faches (z.B. in den Bereichen der Gesellschaftstheorie) scheinenjedoch die stärkere Einbeziehungder Semiotik zu behindern. Nur wenige Autoren aus Soziologie und Kommunikationsforschung haben sich in den letzten Jahren darum bemüht, explizit semiotische Arbeiten an ihre Frageatellungen anschlußfähig zu machen (vgl. Soeffner 1979a, 1989; Schmitz 1985, 1987; Juchem 1985).

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theoretisch definierten Zeichens der Kreis der Semiose existiert, das Leben der Kommunikation und die Verwendung und Interpretation der Zeichen: Da ist die Gesellschaft, die die Zeichen benutzt, um zu kommunizieren, zu informieren, zu lügen, zu täuschen, zu beherrschen und zu befreien" (Eco 1977:24). Die Semiotik ist daher "... eine Form der Praxis." (ibid.) Vor allem Cassirer (1910, 1954) hat in seinen grundlegenden Arbeiten verdeutlicht, daß kein Begriff die Beziehung des Menschen zu seiner Wirklichkeit oder "Welt" (Scheler 1927) allgemeiner zu definieren vermag als der des Symbols bzw. der des Zeichens. Die damit verbundene Wende in der Thematisierung der Welt unter dem Aspekt der Substantialität zum Aspekt der Relationalität (vgl. Oehler 1986:283) hat schließlich den Weg für eine Nutzung semiotischer Erkenntnisse für soziologische Fragestellungen geebnet.

2. Das Zeichenproblem Zentralproblem der Semiotik war und ist das Zeichenproblem. Je nach dem für welche Zeichendefinition man sich entscheidet, ergibt sich eine andere semiotische Konzeption (vgl. Reskinow 1968: 13). Vor allem folgt die "... Schwierigkeit einer allgemeinen Zeichenbestimmung . . . aus der Omnipräsenz des Zeichens; ... in der hieraus resultierenden Vielfalt des Zeichenbegriffs liegt das Problem der zeitgenössischen Semiotik begründet" (Hanke 1991: 117). Die zeichentheoretischen Schriften der Antike und des Mittelalters sind seit Aristoteles vor allem durch mechanistische oder dualistische Substitutions- und Repräsentationsmodelle gekennzeichnet. Diese sich mit der Definition "aliquid, quod stat pro aliquo" verbindende Nomenklaturatheorien postulieren, daß Zeichen, insbesondere sprachliche, lediglich als Repräsentanten von sprachunabhängigen Entitäten, etwa Gegenständen, Begriffen und Ideen, zu betrachten sind. Dieser Überlegung sind auch behavioristische und marxistische Zeichentheorien ("Widerspiegelungstheorie") nebst ihren empiristischen Varianten verpflichtet (vgl. Klaus 1965; 1971; 1973). Die Abbild- und Wiederspiegelungstheorie ist z.B. der Auffassung, "... daß potentiell bei allen Individuen im wesentlichen gleiche Abbilder der objektiven Wirklichkeit im Bewußtsein ausgelöst werden können. Der dialektische Materialismus als die wissenschaftliche Weltanschauung, auf deren Boden wir stehen, lehrt, daß die Welt für den Menschen unbegrenzt erkennbar ist .. Daraus ziehen wir den Schluß, daß im Prinzip auch jeder im Zuge des Erkenntnisprozesses auftretende Bewußtseinsinhalt nachvollziehbar ist, wenn auch nicht in jedem konkreten 61

Falle durchjedes konkrete Individuum." (Kade 1981:208f.) Daß Wirklichkeit immer schon gedeutete Wirklichkeit ist und daß damit die Frage nach der objektiven Wirklichkeit in jene nach den mit Hilfe der Zeichensysteme vollzogenen vielfältigen Objektivationen menschlichen Handeins und Erfahrens transformiert werden muß, widerspricht dem von Marx und Engels vertretenen Grundgedanken, " ... daß weder die Gedanken noch die Sprache für sich ein eigenes Reich bilden; daß sie nur Äußerungen des wirklichen Lebens sind." (ManvEngels 1962:433) Dieser im Hinblick auf die Kommunikationsproblematik insuffiziente Ansatz wird auch von der marxistischen Semiotik vertreten. So sind z.B. nach den erkenntnistheoretischen Überlegungen von Klaus Ideen, Begriffe, Theorien usw. Abbildungen der objektiven Realität im Sinne von Isomorphierelationen, vermöge derer dann " ... im Prozeß der Erkenntnis u. U. die praktisch-konkrete Bearbeitung und Handhabung der Dinge und ihrer Beziehungen durch das gedankliche Operieren mit dem Namen der Dinge und ihren logischen Beziehungen ersetzt werden." (Klaus 1971b:542) Auch jene, sich modern und erkenntniskritisch gebende Semiologie, die an de Saussure und Uvi-Strauss anzuschließen vorgibt, bleibt mitunter in den Vorstellungen der Widerspiegelungstheorie verhaftet: "Semiologie ist Formalisierung, Herstellung von Modellen. Wann immer wir also von Semiologie sprechen, denken wir dabei an den . . . Aufbau von Modellen, d.h. von formalen Systemen mit einer Struktur, deren Beziehung zur Struktur eines zweiten Systems ... in Form von Isomorphie- oder Analogierelationen gegeben ist." (Kristeva1977:37)

3. Zur Begründung einer dynamischen Zeichentheorie Aus ganz anderer Richtung nähert sich die phänomenologisch und gestalttheoretisch beeinflußte Philosophie und ihre Vorläufer49 dem Zeichenbegriff. Diese Ansätze kritisieren den mittelalterlichen" flatus-vocis--

49 Die Arbitrarität der Zeichen erkannte u.a. auch der Physiologe Helmholtz, der mit seinen Ausruhrungen bereits Probleme aufgreift, die von der heute aktuellen Kognitionsbiologie und dem sich an diesem Paradigma orientierenden "radikalen Konstruktivismus" (vgl. Schmidt 1987a) ausgearbeitet werden. "Insofern die Qualität unserer Empfindung uns von der Eigentümlichkeit der äußeren Einwirkung, durch welche sie erregt ist, eine Nachricht gibt, kann sie als Zeichen derselben gelten, aber nicht als ein Abbild. Ein Zeichen .. braucht gar keine Art der Ähnlichkeit mit dem zu haben, dessen Zeichen es ist" (Helmholtz 1896:586).

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Gedankens, sondern sein notwendiges und wesentliches Organ. Es dient nicht nur dem Zweck der Mitteilung eines fertiggegebenen Gedankeninhalts, sondern ist ein Instrument, kraft dessen dieser Inhalt selbst sich herausbildet und kraft dessen er erst seine volle Bestimmtheit gewinnt. Der Akt der begrifflichen Bestimmung eines Inhalts geht mit dem Akt seiner Fixierung in irgendeinem charakteristischen Zeichen Hand in Hand" (Cassirer 1954,1: 18). 50 Die hier angesprochene doppelte Funktion der Zeichen, nämlich Konstitution von Wirklichkeit und Vermittlung derselben, hebt Cassirer an anderer Stelle nochmals deutlich hervor. 51 Sie kann nichtnur als Kritik einer empiristischen, sondern auch einer rationalistischen Nomenklaturatheorie verstanden werden: 52 "So unterscheidet sich in der Grundfunktion der Zeichengebungüberhaupt und in ihren verschiedenen Richtungen erst wahrhaft das geistige vom sinnlichen Bewußtsein. Hier erst tritt an die Stelle der passiven Hingegebenheit an irgendein äußeres Dasein eine selbstständige Prägung, die wir ihm geben, und durch die es für uns in verschiedene Wirklichkeitsbereiche und Wirklichkeitsformen auseinandertritt" (1954,1:43).

50 Was noch fiir Leibniz lediglich den Begriff charakterisiert ("multorum in uno expressio") wird in Cassirers Philosophie definitorisch auf Zeichen allgemein ausgedehnt: "Denn dem Zeichen kommt, im Gegensatz zu dem realen Wechsel der Einzelinhalte des Bewußtseins, eine bestimmte ideelle Bedeutung zu, die als solche beharrt. Es ist nicht gleich der gegebenen einfachen Empfindung ein punktuell Einzelnes und Einmaliges, sondern es steht als Repräsentant fiir eine Gesamtheit, einen Inbegriff möglicher Inhalte, deren jedem gegenüber es also ein erstes 'Allgemeines' darstellt" (19541:22).

51 Diese doppelte Leistung wurde von Leibniz zumindest den Sprachzeichen zuerkannt: "Je crois qu'en effet sans Je desir de nous faire entendre, nous n'aurions jamsis forme Ia Iangue ... Dieu lui [dem Menschen] a donne aussi Ia faculte de parler, qui devoit etre Je grand instrument et Je bien commun de cette societe. C'est Ia que viennent les mots, qui servant 8 representer et meme 8 expliquer les Idees" (Nouveaux Essais, Iivre m, c.I §2 und §l; zit. nach Kiss 1989:148, Anm. 10)

52 Klein hat darauf hingewiesen, daß sich neben den genannten Paradigmen auch der rationalistische Traditionsstrang der Philosophie diese Auffassung zu eigen gernseht hat. Die rationalistische Position geht von einem dem Menschen angeborenen oder in natürlicher Reifung entwickelten Kategorienapparatund diesem verbundenenBegriffsnetzen aus, mit dessen Hilfe "Realität" verarbeitet wird. Der Sprache kommt dabei lediglich eine gewisse Ausdifferenzierungsfunktion der sprachunabhängig vorgegebenen universalen Schemsta zu (vgl. Klein 1986:63).

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schiedene Wirklichkeitsbereiche und Wirklichkeitsformen auseinandertritt" (1954,I:43). Die zeitgenössische Semiotik, insbesondere ihr Anspruch auf Systematik und Wissenschaftlichkeit, geht hauptsächlich auf dieArbeiten von Peirce und de Saussure zurück. 53 Im "Cours de linguistique generale" hatte de Saussure zunächst eine mögliche Wissenschaft von den Zeichen nur in Aussicht gestellt und diese wie folgt bestimmt: "On peut donc concevoir une science qui etudie la vie des signes au sein de la vie sociale; elle formerait une partie de la psychologie sociale, et par consequent de la psychologie generale; nous la nommerons semiologie (du grec semefon, 'signe'). Elle nous apprendrait en quoi consistent les signes, quelle lois les regissent. Puisqu'elle n'existe pas encore, on ne peut dire ce qu'elle sera; mais elle a droit al'existence, sa place est determinee d'avance. (Saussure 1967:46 [Intr.m § 3 al.4]); vgl. auch de Saussure 1931: 19)54 Im Anschluß an diese vorausweisenden Bemerkungen hat de Saussure dennoch eine umfassende Semiologie ausgearbeitet, die nicht nur für eine Theorie der Sprachzeichen wesentliche Bedeutung erlangt hat, sondern auch für anthropologische und ethnologische Ansätze. 55 Mit de Saussure ist, wie Jäger (1986) in seiner Interpretation betont der Mythos der Repräsentation endgültig obsolet II

53 Neben den beiden genannten Autoren ist die Entfaltung der Semiotik von einer Vielzahl anderer Philosophen, Psychologen und Sprachforschern geprägt worden, unter ihnen Husserl, Bühler, Erdmann, Gomperz, Gätschenberger u.a. Anstelle einer unvollständigen Auflistung einiger Arbeiten vgl. Eschbach/Rader (1974), Eschbachffrabandt (1983), Eschbach/Eschbach (1986). 54 Der Text des "Cours de linguistique generale", 1916 von Bally und Sechehaye nach Vorlesungsmitschriften herausgegeben, wird jedoch nach heutigem Forschungsstand als mißverständlich eingestuft, da er von den Herausgebern stark überarbeitet und geglättet wurde. Trotz der kritischen Ausgaben von Engler (1967ff.) und de Mauro (1979) besteht kein einheitliches de Saussure-Bild in der Sprachwissenschaft. Die Einschätzung dieser Arbeiten im Hinblick auf die aktuelle semiotische Diskussion variiert deshalb mitunter stark. Eine aktuellere Standortbestimmung der de Saussuresehen Semiologie unternehmen die von Jäger und Stetter (1986) herausgegebenen Arbeiten.

55 Dies hängt unmittelbar damit zusammen, daß de Saussure auf die Existenz vielfältiger anderer Zeichensysteme wie etwa symbolische Riten, Höflichkeitsformen, militärische Signale und visuelle Alphabete hingewiesen hat. Gleichwohl ist die Sprache in de Saussures Semiologie das wichtigste und grundlegendste dieser Zeichensysteme. Insebsondere Uvi-Strauss hat in Analogie zu de Saussures Grundlegung versucht, mit strukturalistischen Methoden die Probleme ethnologischer Forschung zu bewältigen (vgl. Uvi-Strauss 1949; 1975).

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geworden. Damit fällt die Vorstellung, daß Gedanken mittels abbildender Zeichen, die diese Denkinhalte repräsentieren, von einem Kommunikationspartner zum anderen transportiert werden können, ohne daß dies ihre semantische Identität antasten würde. 56 "Die traditionsmächtige Auffassung des Zeichens als Repräsentation eines vorab sich selbst gegenwärtigen Bewußtseinsinhaltes das erst zum Zwecke der Mitteilung desselben an andere Personen in Dienst genommen werden braucht, diese Position muß sich den Vorwurf gefallen lassen, die sinnkonstitutive Bedeutung des Signifikanten nicht nur nicht gewürdigt, sondern auch aus d~~m theoretischen Diskurs verdrängt zu haben." (Vigener 1986: 110) de Saussure hat mit dem Hinweis auf die Arbitrarität der Zeichen die These vertreten, daß Bedeutung überhaupt erst in der sprachlichen Artikulation entsteht und daß sich die Welt für die Handelnden nur durch Zeichenkonstitution und Zeichenverwendung als ein sinnhafter Zusammenhang erschließt (vgl. Scheerer 1980: 118). 57 Ohne eine solche Arbitrarität gäbe es weder einen sinnvollen, d.h. auf etwas gerichteten Zugang zur Welt, noch einen Bedeutungswandel. 58 Eine

56 Dieser Kritik der nominalistischen Sprach - und Zeichenauffassung schließt sich auch Wittgenstein an. Er verweist - allerdings erst in seiner Spätphilosophie- ebenfalls auf die Unmöglichkeit einer deskriptiven Zuordnung von Zeichen und Sachverhalten durch eine Abbildtheorie und damit auf die nicht reduzierbare Vielfalt der Sprachmodi: "Es gibt unzählige solcher Arten: unzählige solcher Arten der Verwendung alles dessen, was wir 'Zeichen', 'Worte', 'Sätze' nennen. Und diese Mannigfaltigkeit ist nichts Festes, ein für allemal Gegebenes; sondern neue Typen der Sprache, neue Sprachspiele, wie wir sagen können, entstehen und andre veralten und werden vergessen." (P.U. 23.) 57 Zwar sollte die Linguistik nach de Saussure nur ein Teilgebiet der neuen umfassenden Wissenschaft von den Zeichen sein, seine Nachfolger jedoch vertreten die These, daß die Gegenstände der Semiologie ausschließlich in ihrer Vermittlung durch die Sprache gegeben sind. Die daraus abgeleitete, dem ursprünglichen Programm de Saussures zunächst entgegenstehende Überlegung, daß die Semiologie mithin ein Teilgebiet der Linguistik zu sein hätte, wird von allen Semiologen, ob hermeneutisch oder marxistisch orientiert, als Basistheorem gepflegt. 58 Eco interpretiert die Semiologie de Saussures dagegen als Konzeption einer "strengen Semiotik der Signifikation", in der der Zeichenprozeß als zweistellige Relation beschrieben wird ("signifie" und "signifiant"), und dem Sprachsystem ("Ia Iangue"), das als Regelsystem dem Zeichenbenutzer die Herstellung einer Beziehung zwischen beiden Größen ermöglicht. Diese Konzeption habe zudem einen recht starren, unidirektionalen Charakter. Darüber hinaus kritisiert er die sich an de Saussure orientierende Semiotik im Hinblick auf ihre strikte Unterscheidung zwischen intentionalen, künstlichen Akten, denen allein Zeichenqualität zugesprochen wird und nichtintentionalen, natürlichen Phänomenen, denen

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nicht-arbiträre Zeichenkonzeption würde hingegen zu der irrigen Annahme führen, daß auch Verstehens- und Verständigungshandlungen nicht Ergebnisse kommunikativer Leistungen der Subjekte sind, sondern sich den Zeichen selbst verdanken, die gewissermaßen für ihre Bedeutung "bürgen". Zeichensysteme, so auch die Sprache, wären damit zu Nomenklatur von vorgängig gegebenen Objekten degradiert. Die zeichentheoretische Reflexion de Saussures zeigt, daß ohne die Konzeption einer semiologische Synthesis, die sich auf die Deutungsleistungen kommunizierender Subjekte bezieht, die Welt der Gegenstände und Begriffe in die Disparatheit atomisierter Einzelheiten auseinanderfallen würde, die wiederum für die handelnden Subjekte auf sinnlose undkontingenteWeise miteinander verknüpft wären (vgl. Jäger 1986:28). Eine solche semiologische Kritik an der repräsenatationstheoretischen Semiotik kann darüber hinaus auch im Hinblick auf die Einbindung hermeneutischer und sprachkritischer Traditionen anschlußfähig gemacht werden. Wesentliches Verdienst der de Saussuresehen Neubestimmung ist letztendlich die Destruktion eines Verständigungsbegriffs, der Kommunikationshandlungen am Leitfaden der Idee der "Entschlüsselung" einer im Akt der Kundgabe lautlichrepräsentierten und dem Verlautbarungsakt prinzipiell transzendenten Bedeutung konzipiert und in der dem Zeichen, qua Signifikant, eben die Repräsentationsfunktion dieser transzendenten Bedeutung zukommt (vgl. Jäger 1986: 13). Peirce's Zeichendefinition ist umfassender als die de Saussures, da es in seinem Entwurf nicht zur Definition des Zeichens gehört, daß es intentional oder künstlich hervorgebracht wird (vgl. Eco 1987:38). Er entwirft eine Zeichentheorie, die die Funktionsweise des Zeichens konsequent unter Verweis auf die Interpretationstätigkeit der Zeichenbenutzer klären will. Peirce kritisiert die Unsinnigkeit einer Semiotik, die nicht die ZeichenObjekt-Relation und die ZeichenBenutzer-Relation undihr Verhältnis zueinander thematisiert. "Eine sinnkritische Zeichentheorie nimmt ihren Ausgang nicht bei irgendwelchen hypostasierten Objekten, mentalen Begriffen und diese Dichotomie verklammemden Zeichen, . . . denn solange die angeführten Bestandteile 'Objekte', 'Begriffe' und 'Zeichen' keinem einheitlichen Erklärungsprinzip unterworfen werden, müssen sie notwendigerweise in unvermittelte und unvermittelbare dyadische Beziehungen

streng genommen die Zeichenhaftigkeitabgesprochenwird (vgl. Eco 1987 :36). Wir können diesen Fragen jedoch hier nicht weiter nachgehen, da weder eine de SaussureExegese noch ein systematischer Vergleich verschiedener aktueller zeichentheoretischer Ansätze unsere Problemstellung näher tangieren.

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auseinanderfallen. Im Gegensatz dazu liegt dem sinnkritischen Ansatz der Zeichenprozeß-Begriff zugrunde, so daß nicht vor, sondern innerhalb der Semiosis der Zeichenbegriff wie der Zeichen-Objekt-Begriff allererst konstituiert werden" (Eschbach 1980:51). Den damit als Kern einer dynamischen Semiotik gekennzeichneten Begriff der Semiose definiert Peirce wie folgt: "But by 'semiosis' I mean, on the contrary, an action, or influence, which is, or involves, a coöperation of three subjects, such as a sign, its object, and its interpretant, this trirelative influence not being in any way resolvable into action between pairs." (C.P. 5.484) Unter Semiose ist daher grundsätzlich die triadische Relation von Repräsentamen, Zeichenobjekt und Interpretant zu verstehen. Entscheidend bei diesem Prozeß ist, daß er sich immer weiter fortsetzen kann: die Semiose ist eine nur potentiell abschließbare Bewegung, zumal jedes Element des semiotischen Dreiecks erneut als Zeichen für etwas gewertet werden kann (vgl. C.P. 2.92), sie läßt sich begreifen als " ... die Kooperation, die zwischen dem Zeichenträger, dem Zeichenobjekt und dem Zeicheninterpretanten stattfindet und so eine triadische Relation herstellt" (Oehler 1986: 284). 59 Dieser endlose Regreß der Interpretation von Zeichen hängt mit dem Umstand zusammen, daß jedes Zeichen wiederum auf andere Zeichen verweist und nur mittels anderer Zeichen zu interpretieren ist. Eine konkrete Festlegung der Bedeutung eines Zeichens ist also streng genommen unmöglich. Der erfolgreiche Zeichengebrauch in der sozialen Praxis läßt sich daher weder durch den Verweis auf ein Lexikon bzw. eine feststehende Semantik noch auf syntaktische Strukturen klären, da da Problem der Festlegung und Identifizierung von Bedeutung und Sinn durch Aushandlungsprozesse und Idealisierungen bewältigt wird. Außerdem erfährt dieser Prozeß eine situative Begrenzung. So kann z.B. ein Verhalten Zeichen für die Existenz bestimmter Erwartungen sein, die Existenz dieser Erwartungen kann Zeichen für die Annahme einer jeweils auszufüllenden Rolle sein, diese jedoch wieder Zeichen für das Bestehen bestimmter gesellschaftlicher Strukturen, die wiederum Hinweise auf einen bestimmten Gesellschaftstyp geben können usw. Diesem kontinuierlichen Prozeß der Interpretation, der

59 Ebenso bemerkt Morris: "The process in which something functions as a sign may be called semiosis. This process, in a tradition which goes back to the Greeks, has commonly been regarded as involving three (or four) factors: that wich acts as a sign, that which the sign refers to, and that effect on some interpreter in virtue of which the thing in question is a sign tothat interpreter" (Morris 1938:3).

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letztendlich einen Konstitutionsmechanismus sozialer Wirklichkeit darstellt, wird durch den dynamischen Zeichenbegriff Rechnung getragen: "Alles folgt . . . einem allgemeinen Grundsatz, den wir den Grundsatz der (unbegrenzten) Übertragbarkeit (bzw. Aufstutbarkeit) der Bedeutung nennen wollen. Alles, was ein Hinweis auf etwas anderes ist, kann ein Hinweis auf eine andere Wirklichkeit werden; alles, was ein Hinweis ist, kann ein Hinweis auf einen Hinweis werden." (Schütz/Luckmann 1984: 199)f111 Die Bedeutung des Zeichens ist also stets das Produkt eines Interpretationsprozesses von real existierenden Interpreten (bzw. Handelnden) in einer als "Wirklichkeit" ausgezeichneten Handlungssphäre. Die Bedeutung von Zeichen und Begriffen ist folglich auch nicht die Abbildung kognitiver Elemente, sondern Bedeutung muß funktional als Regel für gemeinsam zu interpretierendes Handeln verstanden werden. Mit Apel können wir die Peirce'sche Semiotik zunächst in drei wichtigen Aussagen charakterisieren (vgl. Apel 1970: 115ff.). Die drei Thesen stellen gleichzeitig die Eckpunkte des "semiotischen Dreiecks" dar, die die triadische Zeichenrelation kennzeichnen: 1. Keine Erkenntnis ist ohne eine reale Zeichenvermittlung anband materieller Zeichenvehikel denkbar. 2. Es gibt keine Repräsentationsfunktion des Zeichens für ein Bewußtsein ohne eine reale Welt, die prinzipiell als repräsentierbare und damit auch erkennbare gedacht wird. 3. Zu jedem Zeichenprozeß gehört ein realer Interpret, für den dasZeichen etwas bedeutet. Der Zeichenprozeß ist also weit mehr als ein Zuweisungsmechanismus, wie er etwa vom Repräsentationsmodell gedacht wird. Zeichen werden nicht mit unveränderlichen Bedeutungen die immer schon existieren, etikettiert, sondern erst durch Semiose vollzieht sich der dynamische Prozeß der Bedeutungskonstitution. Diese findet vor dem Hintergrund schon vorhandener Bedeutungen statt, die allerdings immer wieder neu eben durch den Prozeß der Semiose "geschaffen" werden müssen. So notiert auch Wittgenstein: "Wir können sagen: nach der Benennung fragt nur der sinnvoll, der schon etwas mit ihr anzufangen weiß" (P.U. 31.). Innerhalb dieses Argumentationskontextes kann es folglich auch keine Zeichen "an sich" oder

60 Bei Peirce heißt es diesbezüglich: "A sign is anything which is related to a Second Thing, its Object, in respect to a Quality, in such a way as to bring a Third Thing, its Interpretsnt, into relation to the same Object, and that in such a way as to bring a fourth into relationtothat Object in the same fonn, ad infinitum." (C.P. 2.92)

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Sinn "an sich" geben. Victoria Lady Welby, die mit Peirce eine rege Korrespondenz unterhielt (vgl. Hardwick 1977), hat dies in ihren Arbeiten zur Signifik ebenfalls verdeutlicht: "There is, strictly speaking, no such thing as a Sense of a word, but only the sense in which it is used - the circumstances, state of mind, reference, 'universe of discourse' belonging to it" (Welby 1903:5). 61 Die damit verbundene "Verflüssigung des Bedeutungsbegriffs" (Eschbach 1980:51) impliziert die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Verstehen und Verständigung. So resümiert auch Cassirer, daß keine Wissenschaft und Philosophie hinter die Erkenntnis der symbolvermittelten Wirklichkeit zurückgehen könne: "Mit dieser kritischen Einsicht gibt die Wissenschaft freilich die Hoffnung und den Anspruch auf eine 'unmittelbare' Erfassung und Wiedergabe des Wirklichen auf. Sie begreift, daß alle Objektivierung, die sie zu vollziehen vermag, in Wahrheit Vermittlung ist und Vermittlung bleiben muß" (Cassirer 1954:6). Diese Vermittlung geschieht stets durch Zeichen, die nicht Instrumente der Widerspiegelung gesellschaftlicher Realität sind, sondern soziale Praxis, weil sich diese Praxis in und durch Semiose konstituiert. 62 Gerade darin liegt auch die mögliche Überwindung von reinem Empirismus und abstraktem Idealismus durch eine Semiotik, die " ... die Offenbarung und Manifestation geistiger Grundfunktionen im Material des Sinnlichen selbst" (Cassirer 1954:47) aufzeigen kann. Die bisherigen Überlegungen lassen die Konstitution von Zeichen und Bedeutung durch Semiose als reflexiven Prozeß begreifen. Aber nicht nur der Zeichenprozeß sondern auch die Semiotik als die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Zeichenprozeß, ist notwendig ein semiotischer

61 Ähnliches ist bei Ogden und Richards zu lesen: "Our knowledge ... takes the form of signs, and those signs we interpret as signifying the unknown relation of things in the external world. The sensations which lie at the basis of all perceptions aresubjektive signs of external objects. The qualities of sensations are not the qualities of objects. Signs are not pictures of reality." (1966:79) Malinowski hat sich dieser Auffassung- auch mit Blick auf die ethnographische Situation- im Nachwort zu "Meaning of Meaning" ausdrücklich angeschlossen: " ... it is obvious that the context of situation, on which such a stress is laid here, is nothing else but a sign-situation of the Authors." (1966:308)

62 "Wie wäre Semiotik dann zu verstehen? Von unserem Standpunkt aus betrachtet könnte sie sich nicht als abstrakte Lehre von den Zeichen und Bedeutungen behaupten: sie 'ist' nicht, sie 'ereignet' sich und zwar grundsätzlich nicht im Monolog, sondern im Gespräch" (Orassi/Schmale 1982:24).

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Prozeß, der Zeichen und Symbole konstituiert und interpretiert, diese zu Systemen organisiert und sich bestimmter Schlußverfahren bedient. Die Semiozik unterscheidet sich in ihrer Reflexivität nicht von einer "Ethnosemiotik" bzw. den von ihr untersuchten semiotischen Phänomenen der empirischen Wirklichkeit. Eine kritische Zeichentheorie muß, will sie nicht szientistischem Objektivismus oder theorielosem Empirismus das Wort reden, dieser Reflexivität unbedingt Rechnung tragen. Auch der Gang der semiotischen Analyse muß vom "vergessenen Sinnesfundament" (Husserl) der Lebenswelt seinen Ausgang nehmen, denn dieses selbst ist symbolisch strukturiert. Für eine sinnkritische Zeichentheorie gilt deshalb die gleiche These, die für alle hermeneutischen Verfahren überhaupt Gültigkeit besitzt: "Es ist nicht der 'Universalitätsanspruch der Hermeneutik' und der damit schon nahezu rituell verbundene Idealismusverdacht ihr gegenüber, sondern vielmehr die Unausweichlichkeit, mit der wir im Alltag zur Deutung und in der Wissenschaft zur theoretischen Erfassung der Deutungsarbeit gezwungen sind, die zu der Einsicht geführt hat, daß zum wissenschaftlichen 'Verstehen von etwas' die Beschreibung und das Verstehen des Verstehens selbst gehören." (Soeffner 1989:4)

ll. Zur Konstitution von Bedeutung 1. Das Potential einer sinnkritischen Bedeutungstheorie

Erkenntnisinteresse einer sinnkritischen, reflexiven Semiotik ist die Klärung von Bedeutungskonstitution und Bedeutungsidentität in Prozessen der Kommunikation und Interaktion. Sie wendet dabei ihre Erkenntnisse auf ihre eigenen Methoden und Ergebnisse an. Der Zeichen- und Symboltheorie kommt damit eine Schlüsselposition für die Bearbeitung zentraler Fragestellungen der Verständigung, Wahrnehmung, Intersubjektivität, Wissensorganisation, Typenkonstruktion usw. zu. Wir haben im letzten Abschnitt die relevanten Problemstellungen der Zeichen- und Symboltheorie aufgezeigt. Diese sollten den Horizont umreißen, vor dessen Hintergrund später die Fragen der interkulturellen Bedeutungskonstition behandelt werden können. Die im Rahmen der sinnverstehenden Soziologie angestellten Überlegungen zum Bedeutungsproblem haben vor allem den Charakter einer intentionalistischen Bewußtseinstheorie, die sich eher an Absichten und Meinungen der zweck-oder wertrational Handelnden orientiert als an den 70

in der konkreten Kommunikation vollzogenen symbolischer Äußerungen (vgl. Weber 1976). Dieses bedeutungstheoretische Defizit muß daher zur vollständigenEntfaltungder Verständigungsproblematikdurch Überlegungen aus der semantischen Forschung behoben werden. Das Bedeutungsproblem läßt sich dabei weder vom allgemeinen Zeichenproblem noch vom sog. Übersetzungsproblem trennen; es sind vielmehr zwei Seiten einer Medaille: "Was bedeutet bedeuten? Die einzig mögliche Antwort scheint mir zu sein, daß 'bedeuten' die Eigenschaft jeder Art von Daten bezeichnet, in eine andere Sprache übersetzt werden zu können." (Uvi-Strauss 1980:24) Die Versuche der behavioristischen Sprachwissenschaft in der Folge von Bloomfield über Morris zu Skinner, eine integrierte Bedeutungstheorie zu entwickeln, müssen als gescheitert angesehen werden, da sie weder das Problem der Identität von Bedeutungen klären noch die Kontextualität von Ausdrücken berücksichtigen können. Ausgeklammert bleibt ferner der gesamte Kontext generativer Kompetenz. Der Vorschlag von Morris, Bedeutungsidentität empirisch auf die Ähnlichkeit von Verhaltensreaktionen auf gleiche Reize zu gründen, muß ebenfalls aus zwei Gründen als defizitär angesehen werden. Einerseits müßte die Bedeutungsidentität auf der Ebene des Beobachters schon vorausgesetzt werden, um die Ähnlichkeit der Reaktionen und auch die Gleichheit der Reize zu beschreiben, andererseits bleibt die Frage nach den lebensweltlichen Schemata und impliziten Relevanzstrukturen offen, die Konzepte wie" Ähnlichkeit" und "Gleichheit" überhaupt erst bestimmen. Die damit verbundenen Erklärungsprobleme münden zwangsläufig wieder in interpretatorisch-hermeneutische Anstrengungen, deren Überwindung die behavioristisch orientierte Semiotik sich zum Ziel gemacht hat. Vor ähnlichen Problemen steht die formale Semantik, vor allem vertreten durch Frege, Dommett und den frühen Wittgenstein. Fundamental sind hier ausschließlich die Wahrheitsbedingungen von Sätzen. Das vorrangige Interesses liegt in der grammatikalischen Form sprachlicher Ausdrücke, der Sprache kommt dabei ein von den Intentionen und Vorstellungen der Handelnden unabhängiger Status zu. Das Problem des richtigen Verständnisses und der richtigen Verwendung von Sprache wird nicht aus Konventionen oder Unterstellungen erklärt, sondern aus Formeigenschaften und Bildungsgesetzmäßigkeiten des sprachlichen Ausdrucks selber. Die bedeutungstheoretische Dimension wird damit aus dem Zusammenhang des Handlungsund Kommunikationsprozesses herausgelöst und einer logisch-semantischen

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Sprachanalyse zugeführt. 63 Sprache läßt sich im Rahmen dieses Ansatzes nicht mehr in ihrer gesellschaftlichen und kommunikativen Funktion begreifen (vgl. Frege 1892, 1966a, 1966b; Wittgenstein 1963; Durnett 1976). Direkt thematisiert wird die Wirklichkeit sozialen Handeins und Kommunizierens durch die im Spätwerk Wittgensteins begründete Gebrauchstheorie der Bedeutung. Fundamental sind hier die eingespielten Handlungszusammenhänge bzw. Sprachspiele, in denen sprachliche Ausdrücke praktische Funktionen erfüllen. Der seit den "Philosophischen Untersuchungen" (1984) anerkannte Handlungscharakter sprachlicher Äußerungen wird später von Austin (1962) und Searle (1973) zur sog. Sprechakttheorie erweitert, die anband der performativen Verben die doppelte Leistung von Sprechakten analysiert. Die Bedeutung von Zeichen und Symbolen liegt in ihremjeweiligen Gebrauch in konkreten Situationen zwecktätigen Handelns. Verstehen von Wortbedeutungen erfolgt über die Eingewöhnung in eine "Lebensform", in der der Zeichengebrauch in einem Zusammenhang möglicher Verwendungsweisen geregelt ist. 64 Nicht der Organoncharakter der Sprache steht dabei im Vordergrund, sondern die Grammatik von "Sprachspielen", die Bedeutung und intersubjektiv geteiltes Hintergrundwissen erschließt. Die Gebrauchstheorie der Bedeutung durchschaut jedoch nicht den durch Idealisierungen getragenen Wirklichkeitsakzent der Sprachspiele, hinter dem sich keine Gültigkeit verbirgt, die ohne solche Idealisierungen auskäme.

63 Die in der Folge von Camap, Morris und der Entfaltung der "kalifornischen" Semantik vorgenommene Spaltung des Bedeutungsaspektes sprachlicher Zeichen in eine semantische und eine pragmatische Dimension führt ebenso zu erheblichen Problemen. Da Bedeutung immer Heudeutung fiir Subjekte ist, ist die Vorstellung einerunpragmatisch konzipierten Semantik irreführend (vgl. Klein 1986:89f.). 64 Die Welt besteht nicht aus Gegenständen, die nachträglich benannt werden, sie entsteht aber auch nicht erst durch Sprache und das Benennen von Gegenständen. So hatte Wittgenstein schon im Tractatus verdeutlicht, daß die Welt weder die Summe von Gegenständen noch selbst ein Gegenstand ist, da nur "in der Welt" Gegenstände durch Prädikataren ausgegrenzt werden können (vgl. Wittgenstein 1963). Kamlab und Lorenzen unternehmen vor dem Hintergrund dieser Überlegungen den sprachkritischen Versuch einer Rekonstruktion deljenigen Lernprozesse, die den Gebrauch von Prädikataren und deiktischen Ausdrücken in der natürlichen Sprache bestimmen. Das Verhältnis von Deixis und dem Prädikatarengebrauchist mithin als ein semiotischer Prozess zu begreifen (vgl. Kamlab/Lorenzen 1967).

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Die intentionalistische Semantik in der Folge von Grice, Bennett, Schiffer u.a. führt näher an die für die Kommunikationstheorie relevanten Fragestellungen heran. Ausgangspunkt der Analyse ist hier, was der Sprecher in einer gegebenen Kommunikationssituationmit einem verwendeten Ausdruck meint. Der Werkzeugcharakter der Sprache (vgl. Bühler 1934) ermöglicht es den Kommunikationspartnern, durch Zeichenproduktion und Zeichenverwendung sich mitzuteilen und so aufeinander einzuwirken. Die Vorstellungen der Handelnden verbinden sich mit den verwendeten Zeichen und Symbolen auf konventionelle Weise. Die Zeichenverwendung nimmt daher einen zentralen Stellenwert im Handlungsprozeß ein. Damit ist die These verbunden, daß gegenseitige Einflußnahme und Zwecktätigkeit nur mittels intentional verwendeter Zeichen erfolgen kann (vgl. Grice 1974, 1979a, 1979b; Bennett 1976; Schiffer 1972). Im Anschluß an die kurze Skizzierung der Husserlschen Bedeutungstheorie soll im Rückgriff auf Wittgensteins Konzept der "Familienähnlichkeiten" der Zusammenhang zur Gebrauchstheorie der Bedeutung hergestellt werden. Dabei zeigt sich, daß es weder Husserl noch Wittgenstein möglich ist, ohne das Zugeständnis der prinzipiellen Vagheit symbolischer Ausdrücke zu einer widerspruchsfreien und der kommunikativen Wirklichkeit adäquaten Bedeutungstheorie zu finden. Insofern sind beide Ansätze noch von einem auf die konkrete Kommunikationspraxis bezogenen Problembewußtsein entfernt. Selbst Wittgensteins Gebrauchstheorie und die sie begründende Regelanalyse kann sich nicht vollständig von Restbeständen eines "Sinnbehaviorismus" (Stegmüller 1978:639) befreien. In einem diese Diskussion abschließenden Versuch einer kurzen Skizzierung des sprachphilosophischen Beitrags von Richard Hönigswald sollen dann die Umrisse einer kommunikationstheoretischen Bedeutungstheorie angedeuted werden.

2. Probleme transzendentaler Bedeutungsidentität Husserls Phänomenologie war in ihrer Konzeption zunächst eine Philosophie der Wahrnehmung. Die These vom intentionalen Charakter der Wahrnehmung, also dem Erkennen von etwas als etwas, ist deshalb unmittelbar mit der Frage nach der Bedeutungskonstitution verbunden. Innerhalb dieses Zusammenhangs ist die Husserlsche Philosophie für den Bereich der Handlungs- und Kulturwissenschaften fruchtbar gemacht worden. Husserls

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Ausführungen zur Semiotik,65 die vor allem Schütz und Derrida zu weiteren zeichentheoretischen Überlegungen Anlaß gegeben haben, sind die Grundlage seiner Bedeutungs- und Kommunikationstheorie. 66 Thema der Husserlschen Bewußtseinsphilosophie im weitesten Sinne ist der Zusammenhang von Bewußtsein und den darin gemeinten Gegenständen, denn Bewußtsein ist immer "Bewußtsein von etwas". Damit ist der Terminus der Intentionalität angesprochen: "Jeder Ausdruck besagt nicht nur etwas, sondern er bezieht sich auch auf etwas, er hat nicht nur eine Bedeutung, sondern er bezieht sich auch auf irgendwelche Gegenstände" (Husserl 1913:26). Husserls Intentionalitätsbegriff beinhaltet daher zwei Aspekte, von denen uns hier vor allem der erstere interessiert, nämlich a) epistemologisch: etwas als etwas erkennen und b) logisch: etwas als etwas aussagen (vgl. Scheffczyk 1988:232). Im Kapitel "Ausdruck und Bedeutung" der "Logischen Untersuchungen" wird vor allem zwischen symbolischen Zeichen und Anzeichen unterschieden. Nicht alle Zeichen haben eine Bedeutung etwa in der Weise wie Worte Bedeutungen haben. Jedes Ding oder Ereignis (im natürlichen wie im sozialen Umfeld des Menschen) kann zum Zeichen für etwas werden. Husserl bezeichnet diese Zeichenart als "Anzeichen". So kann Rauch ein

65 Bereits der erste Band der Frühschrift "Philosophie der Arithmetik" enthält eine 1890 erschienene Abhandlung "Zur Logik der Zeichen (Semiotik)", in der zwischen zwei Modalitäten unterschieden wird, in der uns Begriffe und Inhalte gegeben sein können: " ... erstens in eigentlicher Weise, nämlich als das was sie sind; zweitens in uneigentlicheroder symbolischer Weise, nämlich durch Vermittlung von Zeichen" (Husserl 1970:340). Husserl hat auch später noch hartnäckig an dieser Sphäre des Eigentlichen und der reinen Bedeutung festgehalten. Der von Heidegger im Anschluß an die Phänomenologie vorgenommene existentialontologische Versuch der Überwindung dieser Metaphysik der Subjektivität übernimmt die Begriffe des Eigentlichen und Uneigentlichen und stellt sie in einen quasi-hermeneuti-schen Zusammenhang, nämlich als eigentliches, wahres und uneigentliches Verständnis (vgl. Heidegger 1963). 66 Das wahrnehmungstheoretische Potential der Husserlschen Phänomenologie ist am weitesten von MerleauPonty ausgeschöpft worden. Er unternimmt den Versuch, die Phänomenologieder Wahrnehmung in eine Phänomenologie des "Zwischenleiblichen" zu integrieren. Mit dieser Sphäre erschließt sich ein kommunikatives Ausdrucksfeld, dessen Analyse weit über den Rahmen Husserls hinausgeht (vgl. Merleau-Ponty 1976, Metraux 1976, Grathoff/Sprondel 1976). Das Defizit konversationsanalytischer Ansätze, die das dialogische Geschehen vor allem in seinen Sprechakten behandeln, liegt in der Vernachlässigung gerade dieses kommunikativen Ausdrucksfeldes, das weit über die verbalen Äußerungen der Beteiligten hinausgeht und weit mehr selektive Ereignisse als nur Sprechakte miteinbezieht (vgl. Loenhoff 1991).

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Anzeichen von Feuer sein, dunkle Wolken Anzeichen für ein herannahendes Gewitter etc. In diesen Fällen ruft ein Signal einen bestimmten Sachverhalt ins Bewußtsein. Es ist dabei zunächst unerheblich, ob das Anzeichen mit dem Angezeigten in kausalem, konventionellem oder ikonischem Zusammenhang steht; als Anzeichen fungiert es lediglich durch assoziatives Hervorrufen einer Vorstellung von nicht präsenten Gegenständen oder Gedankeninhalten. Derartige Zeichen drücken allerdings nach Husserl nichts aus, sie haben keine Bedeutungsfunktion, sondern nur hinweisende Funktion: "Jedes Zeichen ist Zeichen für etwas, aber nicht jedes hat eine 'Bedeutung', einen 'Sinn', der mit dem Zeichen 'ausgedrückt' ist" (1913: 26). 67 Der sprachliche Ausdruck, der als Zeichen fungier er einen idealen Zusammenhang repräsentiert, der eine intentionale Struktur aufweist, womit Husserl eine wesentliche Unterscheidung zwischen Bedeutung, die immer intentionalen Charakter hat, und Anzeichen einführt. 68 Im Hinblick auf die Kommunikationssituation führt er dazu folgendes aus: "Beschränken wir uns zunächst ... auf Ausdrücke, die im lebendigen Wechselgespräch fungieren, so erscheint hierbei der Begriff des Anzeichens im Vergleich mit dem Begriff des Ausdrucks als der dem Umfang nach weitere Begriff. Keineswegs ist er darum in Beziehung auf den Inhalt die Gattung. Das Bedeuten ist nicht eine Art des Zeichenseins im Sinne der Anzeige. Nur dadurch ist sein Umfang ein engerer, daß das Bedeuten- in mitteilender Rede- allzeit mit einem Verhältnis jenes Anzeichenseins verflochten ist, und dieses wiederum begründet dadurch einen weiteren Begriff, daß es eben auch ohne solche Verflechtung auftreten kann." (1913:23f.) So wird auch Mienen leibliche kommunikative Absicht unterstellt. Zeichen haben dagegen Bedeutung und einen Gegenstandsbezug; sie drücken etwas aus und sind

67 Für die "Logischen Untersuchungen" gilt folgende terminologische Klarstellung: "Bedeutung gilt uns ferner gleichbedeutendmit Sinn." (Husserl 1913:51f.) Später, in den "Ideen I", hat Husserl die Synonyrnität von Sinn und Bedeutung problematisiert und modifiziert. Wir können dies aber hier vernachlässigen (vgl. Husserl 1950a:303f.). 68 Auf den entsprechenden Unterschied in den Erfahrungsmodi, Wahrnehmung einerseits und "bildlich symbolische" oder "signitiv-symbolische" Vorstellung andererseits hat Husserl immer wieder hingewiesen (vgl. 1950b:99).

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"sinnbelebt" (1913:37). 69 Im Ausdruck besteht nach Husserl eine "Erlebniseinheit" von Zeichen und Bezeichnetem. 70 Betrachtet man nun das Verhältnis von Zeichen, Anzeichen und Kommunikation in Husserls Bedeutungstheorie, so fällt auf, daß die in kommunikativer Rede gebrauchten Ausdrücke gegenüber den im reinen Bewußtsein erzeugten sprachlichen Ausdrücken abgewertet werden. Diese müssen nämlich, sobald sie zum Zweck der Mitteilung in die äußere Sphäre der Rede treten, zusätzlich die Funktion von Anzeichen übernehmen: "... alle Ausdrücke [fungieren] in der kommunikativen Rede als Anzeichen" (1913:33). Die subjektiv-sinnverleihenden Akte haben den Charakter des Originären gegenüber der sprachlich erzeugten Intersubjektivität im Prozeß der Kommunikation, der, wie auch Habermas kritisiert, nach dem Muster der Übertragung und Dechiffrierung von Erlebnissignalen gedacht wird (vgl. Habermas 1985:201). Kommunikationist bei Husserl nicht Realisierung der Bedeutung von Zeichen, sondern sie ist die Situation, in der erlebtes und supponiertes Sein in Permanenz auseinandertreten. Die anzeigende Funktion eines Ausdrucks ist nur Anzeichen einer Defizienz in der Darstellung, welche zu Kommuikation notwendig ist, eben nicht der vollkommene Ausdruck seiner Bedeutung ist. (Scheffczyk1988:239) Damit zerfällt der Kommunikationsprozeß in die Kundgabe eines Sprechers, der bedeutungstragende Zeichen produziert und in die Kundnahme des Hörers, 11

•••

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69 Zur dieser Distinktion heißt es in den "Logischen Untersuchungen": "Solche Äußerungen [Mienen und Gesten] sind keine Ausdrücke im Sinne der Reden, sie sind nicht gleich diesen im Bewußtsein des sich Äußernden mit den geäußerten Erlebnissen phänomenal eins; in ihnen teilt der eine dem anderen nichts mit, es fehlt ihm bei ihrer Äußerung die Intention, irgendwelche Gedanken in ausdrücklicher Weise hinzustellen, sei es für andere, sei es auch für sich selbst, wofern er mit sich allein ist. Kurz, derartige Ausdrücke haben eigentlich keine Bedeutung. • (1913:§5) 70 Schütz und Luckmann folgen hier Husserl, allerdings ohne Bezug auf die transzendentale Begründungsebene. Anzeichen sind ihrer appräsentativen Grundstruktur nach "... von Intersubjektivität wesentlich unabhängig, der empirischen, in der natürlichen Einstellung selbstverständlichen Tataache ungeachtet, daß Anzeichen in der Alltagswelt in die verschiedensten kommunikativen Vorgänge eingefügt werden und so ein proto-zeichenhaftes Dasein zu führen beginnen. Nicht alle Anzeichen sind Ausdruck. • (Schütz/Luckmann 1984:185) Dagegen kommt denjenigen Äußerungen Zeichenqualität zu, die eine kommunikative Absicht enthalten. Sie wollen deshalb "... nur solche appräsentativen Beziehungen für zeichenhaft halten, die wechselseitig und gleichartig gesetzt und gedeutet werden- und zwar so, daß schon die Setzung grundsätzlich auf die Deutung (mit-)angelegt ist." (Schütz/Luckmann 1984:192)

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für den die wahrgenommenen Zeichen als Anzeichen innerer Handlungen fungieren: "Was den geistigen Verkehr allererst möglich und die Rede zur Rede macht, liegt in dieser durch die physische Seite der Rede vermittelten Korrelation zwischen den zusammengehörigen physischen und psychischen Erlebnissen der miteinander verkehrenden Personen." (Husserl 1913:33f1 Es läßt sich daher zusammenfassend feststellen, daß Husserl in seiner semiotischen Bedeutungstheorie - gemäß den transzendentalphänomenlogischen Prämissen - die Sphäre des reinen Bewußtseins gegen das "Zwischenreich des Dialogs" (Waldenfels 1971) und der kommunikativen Verständigung verteidigen will. Zu diesen Prämissen gehört, daß die philosophische Reflexion monadelogisch beim transzendentalen Ich ansetzt und von dort aus der Versuch einer Begründung der Intersubjektivität von Bedeutungen unternommen wird (vgl. Waldenfels 1979b). Dabei steht allein das auf intentionale Gegenstände gerichtete Bewußtsein zur Rekonstruktion von Kommunikationsprozessen, und damit auch zur Konstitution von Bedeutungen, zur Verfügung. 72 Gleichwohl wird in den "Logischen Untersuchungen" deutlich, daß eine Zeichentheorie dem generellen Umstand der "Innen-Außen-Dichotomie" Rechnung zu tragen hat. 73 In jenen Passagen,

71 Habermas rekonstruiert Busserls Beitrag als Beweis für eine expressivistische Kommunikationstheorie, die in den Aporien der Bewußtseinsphilosophie verhaftet bleibt und daher den intersubjektiven Charakter sprachlicher Verständigung nicht zu erfassen vermag. Seine Theorie des kommunikativen Handeins sucht diese Aporien bekanntlich auf dem Wege einer formalpragmatischen Bedeutungstheorie zu überwinden. Auf die damit verbundenen Probleme wurde bereits hingewiesen (vgl. Habermas 1985: 197ff.). 72

"Wenn wir über das Verhältnis von Ausdruck und Bedeutung reflektieren und zu diesem Ende das komplexe und dabei innig einheitliche Erlebnis des sinnerfüllten Ausdruckes in die beiden Faktoren Wort und Sinn zergliedern, da erscheint uns das Wort selbst als an sich gleichgültig, der Sinn aber als das, worauf es mit dem Worte 'abgesehen', was vermittelst dieses Zeichens gemeint ist; der Ausdruck scheint so das Interesse von sich ab und auf den Sinn hinzulenken, auf diesen hinzuzeigen. Aber dieses Hinzeigen ist nicht das Anzeigen in dem von uns erörterten Sinne. Das Dasein des Zeichens motiviert nicht das Dasein, oder genauer, unsere Überzeugung vom Dasein der Bedeutung. Was uns als Anzeichen (Kennzeichen) dienen soll, muß von uns als daseiend wahrgenommen werden. Dies trifft aber auch zu für die Ausdrücke in der mitteilenden, aber nicht für die in der einsamen Rede." (Husserl1913: § 8)

73 Busserl führt deshalb aus: "Der Hörende nimmt wahr, daß der Redende gewisse psychische Erlebnisse äußert, und insofern nimmt er auch diese Erlebnisse wahr; aber er selbst erlebt sie nicht, er hat von ihnen keine innere, sondern eine äußere Wahrnehmung. Es ist der große Unterschied zwischen dem wirklichen Erfassen eines Seins in adäquater Anschauung und dem vermeintlichen Erfassen eines solchen auf Grund einer anschaulichen

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in denen Husserl explizit zu Problemen der Kommunikation Stellung nimmt, wird deutlich, daß jeder symbolische Ausdruck in kommunikativer Rede Anzeichenfunktion übernimmt und vom Hörer kraft dessen, was Husserl später in den "Cartesianischen Meditationen" als "analogische Appräsentation" bezeichnet hat, mit Bedeutung gefüllt wird (vgl. Husserl 1950b:150ff.). Da mithin alles, was ein Kommunikationspartner dem anderen mitzuteilen hat, durch den Gebrauch und die Produktion von Zeichen geschehen muß, werden diese Zeichen in der Kundgabe zu Anzeichen für die inneren Vorgänge, das "Be-deuten" des anderen Subjekts, wie es Derrida in seiner Husserl-Interpretation nennt (vgl. Derrida 1979:84). 74Die Husserlsche Konzeption der Bedeutungstheorie wirft im Hinblick auf kommunikationstheoretische Anstrengungen zunächst zwei wesentliche Probleme auf: 1. Husserl wertet die Bedeutung der Sprache und ihren interjektiven Charakter systematisch ab. Sprache wird auf ihre Erkenntnis funk:tion reduziert, die Logik wird der Grammatik, und die Erkenntnis der Kommunikation vorgeordnet. 2. Die Hervorhebung der transzendentalen gegenüber der pragmatischen Seite des Kommunikationsprozesses veranlaßt Husserl dazu, die Identität von Bedeutungen aus der Sphäre des "reinen Seelenlebens" abzuleiten. Der damit verbundene Bedeutungsplatonismus belastet die sich an Husserl orientierende Verständigungstheorie. Von diesen Gesichtspunkten interessiert uns hier vor allem der zweite Aspekt. Bedeutungen sind für Husserl zunächst "ideale Gegenstände", die für sich "Geltungseinheiten" darstellen (Husserl 1913: 105). Zur Identität dieser Geltungseinheiten gelangt man durch systematisch durchgeführte Variation. In § 11 der "Logischen Untersuchungen" bestimmt Husserl

oder inadäquaten Vorstellung. Im ersteren Falle erlebtes, im letzteren Falle supponiertes Sein, dem Wahrheit überhaupt nicht entspricht. Das wechselseitige Verständnis erfordert eben eine gewisse Korrelation der beiderseitigen in Kundgabe und Kundnahme sich entfaltenden psychischen Akte, aber keineswegs ihre volle Gleichheit." (Husser11913: § 7) 74 Derrida sieht in diesem Verhältnis von Zeichen (Ausdruck) und Anzeichen die ganze Kommunikationsproblematik begründet: "Das Wesen der Sprache ist ihr Telos, und ihr Telos ist das willentliche Bewußtsein des bedeutenden Sagen-Wollens. Die Sphäre der Anzeige, die Außerhalb des so verstandenen Ausdrucks verbleibt, verantwortet das Mißlingen dieses Telos; sie repräsentiert all das, was in einem selbstsicheren und von Be-deuten geprägten Diskurs nicht Aufnahme finden kann, obwohl es sich mit dem Ausdruck verflechten mag." (Derrida 1979:89)

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Bedeutung als das Identische, als das, was an diesen Bewußtseinsgegenständen gegenüber den mannigfaltigen sie erfassenden Akten (etwa Übersetzungen oder Paraphrasierungen) invariant bleibt. Das Problem der Bedeutungsidealität, in dem wiederum das der Bedeutungsidentität gelöst werden soll, wird von von Akten kommunikativer Rede und der damit verbundenen Zeichen- und Referenzproblematik abgetrennt. Doch diese Antwort scheint Husserl nicht ganz zu befriedigen, zumal die Suche nach jener "idealen Gültigkeit" in seinen verschiedensten Arbeiten immer wieder zur Sprache kommt. Die Zweifel an der endgültigen Lösung des Problems manifestieren sich an der Bestimmung der "okkasionellen Ausdrücke", die durch Situationsabhängigkeit gekennzeichnet sind. Okkasionell ist nämlich jeder Ausdruck, " ... dem eine begrifflich einheitliche Gruppe von möglichen Bedeutungen so zugehört, daß es ihm wesentlich ist, seine jeweils aktuelle Bedeutung nach der Gelegenheit, nach der redenden Person und ihrer aktuellen Lage zu orientieren ... " (1913:81). Wird hier von Husserl die pragmatische Dimension in Form einer Gebrauchsbedeutung inauguriert? Er spricht sogar davon, daß die Identität der Bedeutung sich "... der Vorstellung dieser Umstände und ihrem geregelten Verhältnis zum Ausdruck selbst" (ibid.) verdankt. 75 Husserl will sichjedoch mit der Feststellung76 der prinzipiellen Vagheit okkasioneller Zeichen nicht zufrieden geben. Wird durch okkasionelle Ausdrücke etwas Bestimmtes bezeichnet, so kann es keine Bedeutungsvariabilität geben. Ein intentionaler Gegenstand, der " ... in sich fest bestimmt ist, ... muß sich objektiv bestimmen lassen und was sich objektiv bestimmen läßt, das läßt sich ideal gesprochen in festen Wortbedeutungen ausdrücken" (1913:90), kurz darauf wird jedoch hinzugefügt: "Aber von diesem Ideal sind wir unendlich weit entfernt ... Man streiche die wesentlich okkasionellen Worte aus userer Sprache und

75 Die bei Husserl erwähnten Umstände, zu denen die Ausdrücke in einem "geregelten Verhältnis" stehen, deuten an, was später bei Wittgenstein als Sprachspiel konzipiert ist. Husserl war offensichtlich zu stark in den Erkenntnisstil der Bewußtseinsphilosophieeingebunden, um über die Konsequenzen dieser Randbemerkung weiterzureflektieren. 76

Ähnliches ist auch bei Paul (1920) mit der Unterscheidung zwischen "usuellen" und "okkasionellen" Ausdrücken angedeutet.

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versuche irgendein subjektives Erlebnis in eindeutiger und objektiv fester Weise zu beschreiben. Jeder Versuch ist offenbar vergeblich." (ibid.).77 Scheffczyk vermutet, daß Husserl später in "Formale und Transzendentale Logik" mit dem Begriff der "Horizontintentionalität" einen Ausweg aus dieser, seinem Programm entgegenlaufenden Festlegung, gesucht hat (vgl. Scheffczyk 1988:244). Husserl vertritt dort die These, daß Erkenntnis und Sprache prinzipiell "horizonthaft" und damit kontextuell ist, so daß im Grunde alle Darstellungen und Ausdrücke Zeichen mit einer nicht aufhebbaren Okkasionalität enthalten. Diese Horizontintentionalität ist es, die "... den Sinn der okkasionellen Urteile wesentlich bestimmt, immer und weit über das hinaus, was jeweils in den Worten selbst ausdrücklich und bestimmt gesagt ist und gesagt werden kann" (Husserl 1974:207). Diese Horizonthaftigkeit der okkasionellen Ausdrücke manifestiert sich in den Voraussetzungen, "... die als in der konstituierenden Intentionalität beschlossene intentionale lmplikate schon den gegenständlichen Sinn der nächsten Erfahrungsumgebung beständig bestimmen" (1974: 207). 78 Es ist die Verlagerung des Interesses auf diese "Erfahrungsumgebung", die Husserl auf den ersten Blick mit Wittgenstein verbindet. Gemeinsam ist auch das Motiv, mit den Begriffen der Lebenswelt (Husserl) und der Lebensform (Wittgenstein) nicht nur konkrete Analysen, sondern eine prinzipielle Neubestimmung der Philosophie vorzunehmen. Doch bleibt es Wittgenstein überlassen, mit der Wende von der Bewußtseinsphilosophie zur Sprachkritik die bei Husserl nur angedeutete Problematik von ganz anderer Seite her zu entfalten. Im folgenden soll jedoch keine Exegese der

77 Wittgenstein hat später im Tractatus versucht, diese Vergeblichkeit zu überwinden: "Alles was überhaupt gedacht werden kann, kann klar gedacht werden. Alles was sich aussprechen läßt, läßt sich klar aussprechen" (fLP 4.116). 78 Auch in Schütz' früher Arbeit (1974) finden sich noch recht einseitige Bemerkungen über das Verhältnis von Zeichen, Kontext und Benutzer, die seine Befangenheit in der BewußtseinsphilosophieHusserls dokumentieren. Schütz glaubt, die dem Zeichen grundsätzlich zukommende Idealität des "Immer wieder" nur plausibel machen zu können in dem er behauptet: "Ein Zeichen hat innerhalb des Zeichensystems, dem es zugehört, insofern einen 'objektiven Sinn' als es unabhängig von den Zeichensetzenden und den Zeichendeutenden dem, was es bedeutet, einsinnig zuordenbar ist. Prüfen wir den Inhalt dieses Satzes genau, so besagt er nichts anderes, als daß jedermann, welcher dieses Zeichensystem 'beherrscht', unter dem Zeichen in seiner Bedeutungsfunktion das Bezeichnete versteht, gleichgültig vom wem und in welchem Zusammenhang es gebraucht wird." (1974:172) Erst in späteren Arbeiten treten pragmatische Motive stärker in den Vordergrund (vgl. Schütz 1971a, 1979, 1984).

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Wittgensteinschen Spätphilosophie erfolgen, 79 sondern ein für unseren Zusammenhang wesentlicher, bisher noch nicht berücksichtigter Aspekt der Bedeutungskonstitution herausgearbeitet werden. 3. Das Konzept der Familienähnlichkeiten

Wittgensteins Theorie der Sprachspiele läßt sich allgemein als eine Theorie der Intersubjektivität von Bedeutungen bezeichnen. Weder Einfühlung noch Idealisierungen oder gar transzendentale Konstitution des Anderen sind für Wittgenstein akzeptable Lösungen des Intersubjetivitätsproblems.80 Bedeutung erscheint bei Wittgenstein nicht mehr, wie innerhalb platonischer Bedeutungstheorien als festes Korrelat eines Ausdrucks, sondern als Resultat eines kommunikativ erfolgreichen Zeichenverhaltens. 81 Dieses Zeichen-

79 Dies ist an anderer Stelle umfangreich erfolgt. Zu den für die Kommunikations- und Bedeutungstheorie instruktiven Arbeiten zählen vor allem die Rekonstruktionen von Apel (1976b), Ambrose (1972), DeMauro (1969), Lübbe (1960/61), Stegmüller (1978), Waismann (1968, 1976) und die kritische Bewertung durch Gellner (1972). 80 Auf die Erörterung der Möglichkeiten einer konstruktiven Semantik, wie sie von Wittgenstein im Tractatus sowie von Russel, Camap und Reichenbach konzipiert worden ist, muß an dieser Stelle verzichtet werden, da die hier interessierenden pragmatischen Aspekte von der "Philosophie der idealen Sprache" konsequent ausgespart bleiben. 81 Wittgenstein hält es im Rahmen seiner Kritik an psychologischen Verslehenstheorien für unsinnig, überhaupt über innere Handlungen zu spekulieren oder nach entsprechenden theoretischen Erklärungen zu suchen. Die Umstände des Gebrauchs symbolischer Ausdrücke geben Aufschluß darüber, welche Intentionen mit ihnen verbunden sind. Auf der Grundlage des jeweiligen Sprachspiels "zeigen" sich die Bedeutungen. Sie können sich zeigen, weil die Bedeutungsfunktion der Ausdrücke durch die intersubjektiv geteilten Regeln des Sprachspiels festgelegt sind. Wittgenstein versucht darüber hinaus jene Maßstäbe dingfest zu machen, an denen sich zeigt, ob der Betreffende richtige oder falsche Bedeutungen zugeschrieben, richtig oder falsch verstanden hat. Er spricht hier deshalb von "Gepflogenheiten" (P.U. 199), die institutionellen Charakter haben und so eine gewisse Festlegung vornehmen. Die Frage nach der Bedeutungskonstitutionwird in die Frage nach dem Gebrauch symbolischer Ausdrücke, die als Zeichen fungieren, transformiert. Dabei spielt der Zeichenbenutzer eine wesentliche Rolle bei der Konstitution von Bedeutung: "Wenn wir jedoch irgendetwas, das das Leben des Zeichens ausmacht, benennen sollten, so würden wir sagen müssen, daß es sein Gebrauch ist" (BJ.B. 22). Die semiotische Dimension seiner Argumentation zeigt sich schließlich auch an der entsprechenden Bestimmungdes Verstehensbegriffs: "Das was uns am Zeichen interessiert, die Bedeutung die für uns maßgebend ist, ist das, was in der Grammatik des Zeichens niedergelegt ist . ... Wir fragen: Wie gebrauchst Du das Wort, was machst Du damit- das wird uns lehren,

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verhalten - als Symbolgebrauch und Symbolinterpretation - findet innerhalb einer bedeutungskonstitutivensemantischen Situation statt, zu der neben den sozialkulturellen und sprachlichen Faktoren auch psychosoziale Voraussetzungen gehören, etwa die Disposition und Bereitschaft zur Verständigung und die Offenheit für den Anschluß zweier oder mehrerer Erfahrungswelten (vgl. Schmidt 1969:20). Durch einen solchen Zugang zum Bedeutungssproblem wird Bedeutung als sowohl von Handlungen abhängiges als auch Handlungen bestimmendes Ergebnis des Gebrauchs von Zeichen in einer Kommunikationssituation definiert. "Damit wird die bedeutungstheoretische Problematik auf Begriffe wie: Regel, Gebrauch, Reagierenkönnen, Grammatik eines Ausdrucks u.a. verlagert und die erkenntnistheoretische Problematik um anthropologische, soziologische, linguistische und psychologische Gesichtspunkte erweitert" (Schmidt 1969:20). Sowohl Habermas (1973) als auch Fodor (1966) interpretieren die Gebrauchstheorie der Bedeutung vor dem Hintergrund von Sprachspielen im Sinne von abgeschlossenen Verwendungskontexten. 82 Die diese Rekonstruktion bestimmenden Argumente und der sich daran anschließende Diskurs ist jedoch für eine interkulturell orientierte Bedeutungstheorie weniger aufschlußreich. Die bereits an anderer Stelle diskutierte Verknüpfung von Geltungs- und Bedeutungsfragen soll hier nicht wieder aufgegriffen werden. Vielmehr kommt ein anderes Motiv der Sprachspieltheorie, das eine für die Kommunikationstheorie interessantere Perspektive thematisiert, für den weiteren Gang der Untersuchung in Betracht: das Konzept der "Familienähnlichkeiten. "83

wie Du es verstehst." (P.G. 44) 82 Dies suggeriert, daß zu jeder Situation ein passendes Muster existiert, das nur durch die Handelnden bzw. Kommunikationspartner übertragen zu werden braucht: "Einer Regel folgen ist analog dem: einen Befehl befolgen: Man wird dazu abgerichtet und man reagiert auf ihn in bestimmter Weise" (P.U. 206.). Stegmüller hat diese Position zu Recht als "Sinnbehaviorismus" bezeichnet (1978:639). Die theoretisch erklärungsbedürftige Kardinalfrage nach den diese Übertragung und Anwendung ermöglichenden kreativen Leistungen der Handelnden bleibt hier allerdings ungeklärt.

83 Der Begriff der Ähnlichkeiten und der Verwandtschaft sollen offensichtlich das Sprachspielkonzept einer essentialistischen Interpretation entheben. Die Voraussetzung einer Teilnahme an einem gemeinsamen Sprachspiel soll hier - wie Apel treffend analysiert - an die Stelle des methodischen Solipsismus der Einfühlung in andere treten. "Es erweist sich, daß jenes Selbstverständnis, das der methodische Solipsist als Investition der Einfühlung zum Verständnis der anderen (wenn nicht gar zum Beweis ihrer Existenz als Geistwesen) aufbieten möchte, selbst schon vermittelt ist durch die öffentliche Regel eines

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Die Teilnahme an einem Sprachspiel setzt voraus, daß die Handelnden über das Vorliegen oder Nicht-Vorliegen einer Situation entscheiden können. Die empirische Dynamik von Prozessen der Situationsdefinitionweist jedoch die Annahme von derartigen entweder/oder-Strukturen als Fiktion aus. Sowohl die anfangs grundsätzlich existierende Unbestimmtheit sozialer Situationen als auch deren potentielle Instabilität und das Ineinanderübergehen in anders definierte Zustände legt den Gedanken nahe, daß Situationen nicht vorgängig festgelegt, sondern durch koordinierte Kommunikation und Sinngebung erst "gerahmt" werden (vgl. Goffman 1977). Die Idee der Familienähnlichkeiten, vielleicht von Willgenstein zur Rettung seines Sprachspielkonzeptes durch die Bedrohung der prinzipiellen Vagheit symbolischer Ausdrücke entstanden, betrifft genau diese (semantische und kontextuelle) Nichtabschließbarkeit von Diskursen. Schon William James hatte in den "Principles of Psychology" (1893) darauf hingewiesen, daß Wortbedeutungen immer aus einem Kern mit offenen Rändern ("fringes") bestehen und daher nicht als endgültig festzulegende Einheiten zu behandeln sind (vgl. James 1927:281ff.). Ebenso spricht Liebrucks in "Sprache und Bewußtsein" von einem " ... unbestimmten Möglichkeitshof unscharfer Bedeutungen" (1964:242). Dies konvergiert mit der in neuerer Zeit diskutierten Vorstellung, daß System- oder Sprachspielgrenzen grundsätzlich "fuzzy" (undeutlich, verschwommen) sind. 84 Willgenstein postuliert, daß sich zwar der Sinn von Handlungen und Äußerungen in den Sprachspielen "zeigt" und beschrieben werden kann ("Nicht um eine Erklärung eines Sprachspiels durch unsere Erlebnisse handelt sich's, sondern um die Feststellung eines Sprachspiels" (P.U. 655)), dies aber zu vollständigen Erfassung des Sinnzusammenhangs und damit zum Verstehen nicht ausreicht, wenn nicht eine neue Sprachspieleinheit, die Einheit des Dialogs mit dem betreffenden Sprachspiel, hergestellt wird. Sinnverstehen ist also in jeder Hinsicht an die Teilnahme an Sprachspielen gebunden, die Bestandteile von Lebensformenund Gepflogenheiten sind und

Sprachspiels und die mit ihm verwobene 'Lebensform'" (Apel1976b:371). 84 Der Begriff der "fuzzy sets" stammt ursprünglich aus der Mengenlehre und war fiir die Entwicklung mebrwertiger Logiken von Bedeutung. Aus bedeutungstheoretischer Perspektive dürfte interessant sein, daß (mit anderem Akzent als bei Quine) vor allem das Moment der Unbestimmtheit von Bedeutungen hervorgehoben wird (vgl. Steinbacher 1984:83). Lakoffhat in diesem Zusammenhangeine "fuzzy-concepts-Semantik" entwickelt (vgl. Lakoff 1975a, 1975b:254ff.; Zadeh 1982:25ff.; Gottinger 1973:113ff.; v. Stechow/Schepping 1988).

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damit bestimmte Situationskontexte darstellen. Verstehen von Sinn kann es zwar nach Wittgensteins sprachkritischer Grundannahme nur innerhalb eines funktionierenden Sprachspiels geben. Verstehen, und damit etwas "als etwas" erkennen und identifizieren, vollzieht sichjedoch nicht als Identifikation vonimmer exakt gleichen Einheiten. Wichtigstes Element dieses Verstehens ist daher das Feststellen von Ähnlichkeiten und verwandten Vorgängen, die sich innerhalb des Sprachspiels und der Lebensform "zeigen": "Nun, 'Verstehen 'nennen wir nicht einen Vorgang, der das Lesen oder Hören begleitet, sondern: mehr oder weniger miteinander verwandte Vorgänge, auf einem Hintergrund, in einer Umgebung von Tatsachen bestimmter Art, nämlich: des tatsächlichen Gebrauches der gelernten Sprache oder Sprachen." (P.G. 35) Dieses "... komplizierte(n) Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen" (P. U. 66) beschreibt Wittgenstein als "Familienähnlichkeiten" und führt sodann genauer aus: "Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort 'Familienähnlichkeiten'; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc. -Und ich werde sagen: die 'Spiele' bilden eine Familie." (P.U. 67) Hintergrund der Einführung des gegen den Essentialismus gerichteten Begriffs der Familienähnlichkeiten ist die pragmatisch-operationale Orientierung des Sprachspielkonzeptes. Wittgenstein untersucht die Funktion, die das Verstehen innerhalb des lebenspraktischen Zusammenhangs von Sprache und sozialer Praxis übernimmt und versucht dies immer wieder mit Beispielen, etwa aus dem handwerklichen Bereich - vor allem unter Betonung des Werkzeugcharakters der Sprache- zu illustrieren (vgl. P.U. 16, 23, 53). Nur unter der Voraussetzung, daß Gemeinsamkeiten nicht als exakte Bedeutungsgleich-heit besteht, die sich definitorisch festlegen und damit a priori erschließen ließe, kann der Prozeß des Verstehens überhaupt seine Funktion innerhalb der Sprachspiele erfüllen: nämlich Handlungen zu koordinieren, um zu praktischem Erfolg zu gelangen. Gleiches gilt für das Problem der Begriffe. Auch hier werden die Umrisse einer Bedeutungstheorie sichtbar, die aus der Perspektive des Interpretationskontinuums von der grundsätzlichen Vagheit der Begriffe ausgeht. Die Bedeutung von Ausdrücken ist gemäß der "meaning in use" -Theorie in ihrem Gebrauch verankert; eine Präzisierung der Bedeutung ist somit durch die Angabe von Anwendungsmöglichkeiten in pragmatischen

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Situationen realisierbar und grobe Mehrdeutigkeiten sind vermeidbar. 85 Die prinzipielle Offenheit von Begriffen hängt schließlich mit der Unmöglichkeit zusammen, für alle nur denkbaren Situationen Anwendungsregeln der Ausdrücke anzugeben, die ihre Bedeutung bestimmen würden. Daher beinhalten auch offenkundig präzise Ausdrücke immer die Möglichkeit der Vagheit (vgl. P.U. 80). Gerade diesen Gedanken will Wittgenstein mit der Idee der Familienähnlichkeiten bekräftigen. So resümiert auch Stegmüller: "Wie immer wir einen empirischen Begriff auch definieren mögen, wir denken bei der definitorischen Abgrenzung stets nur an normale Fälle, rechnen dagegen nicht mit gänzlich unerwarteten, aber logisch möglichen Fällen" (1978:621). Der mit dieser Offenheit verbundene "Deutungsdruck" bewirkt demnach nicht Handlungsunfähigkeit aufgrundvon Mehrdeutigkeit, sondern ist im Gegenteil handlungsstimulierend (vgl. Eschbach 1984c: 193). Witt- genstein sieht es daher als berechtigt an, nach den Bedingungen zu fragen, die ein Begriff erfüllen soll: "Man kann sagen, der Begriff 'Spiel' ist ein Begriff mit verschwommenen Rändern. - 'Aber ist ein verschwommener Begriff überhaupt ein Begriff'!' - Ist eine unscharfe Photographie überhaupt ein Bild des Menschen? Ja, kann man ein unscharfes Bild immer mit Vorteil durch ein scharfes ersetzen? Ist das unscharfe nicht oft gerade das, was wir brauchen?" (P.U. 71) Eschbach hat auf die "strategische Relevanz" sowohl dieser "Befreiung aus der Zwangsjacke der Bedeutungsstarrheit" als auch des Begriffs der Familienähnlichkeiten in Wittgensteins Überlegungen aufmerksam gemacht (vgl. Eschbach 1984c). Die Möglichkeit einer essentialistischen Interpretation der Wittgensteinschen Bedeutungstheorie - etwa durch den

85 Aufschlußreich ist in diesem Zusammhang die Kritik von Fodor und Katz (1964b, 1966). Danach liegt die Schwäche des Sprachspielkonzepts darin, daß die syntaktische und semantische Struktur der Sprache als Determinante sinnvollen Redens nicht genügend Berücksichtigung gefunden hat. Im Hinblick auf die Regeln der Sprachspiele kritisieren die Autoren, daß weder Form noch Inhalt solcher Regeln bei Wittgenstein genau bestimmt sind; daraus folgt, daß es keine Gebrauchstheorie der Bedeutung gibt, sondern allenfalls die Empfehlung, Bedeutungsfragen als Fragen der Verwendung von symbolischen Ausdrücken zu behandeln (vgl. Schmidt 1969:29). Fodor und Katz schlagen daher vor, eine Metatheorie der Sprache auszuarbeiten, die die Ableitung aller syntaktischen und semantischen Regeln, die ein kompetenter Sprecher zur Verständigung benötigt, erlaubt. "Ordinary-language philosophers deny that a logistic system can capture the richness and complexity of a naturallanguage.... What is needed is a theory based upon and representing the full structural complexity of a natural language, not one which reflects the relatively simple structure of some arbitrarily chosen artifical language" (Fodor/Katz 1964a:3f.). An der Durchführbarkeit dieses Programms darf allerdings gezweifelt werden.

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Begriffsatomismus - ist mit diesem Konzept ad absurdum geführt. Hoffnungen, mit Hilfe der Sprachanalyse zu einer eindeutigen Bedeutungsbestimmung zu gelangen, werden bewußt enttäuscht. Verschiedene Sprachspiele haben nicht Eines als definitorisches Merkmal gemeinsam, weswegen sie alle als Spiele bezeichnet werden, sondern sie sind lediglich durch ein vieltältiges Netz von Ähnlichkeiten und Verwandschafren miteinander verbunden (vgl. Eschbach 1984c:183; Bolton 1979:117): "So gibt es wohl nicht ein Charakteristicum, das allem, was wir Spiel nennen gemeinsam ist. Aber man kann auch nicht sagen, 'Spiel' habe eben mehrere unabhängige Bedeutungen (etwa wie das Wort 'Bank'). 'Spiele' nennt man vielmehr auf verschiedene Weisen mit einander verwandte Vorgänge, zwischen denen es eine Mannigfaltigkeit von Übergängen gibt" (P.G. 35). Verstehen von symbolischen Äußerungen heißt demnach, sich in einem Feld von Ähnlichkeiten zu bewegen (vgl. P.U. 66ff.). Eine so beschriebene Interpretation von Handlungen und Äußerungen in lebenspraktischen Situationen weist auf einen wesentlichen Grundzug sozialer Wirklichkeit hin. Konstitution von Bedeutungen finden zwar in einer Lebensform als konkretes Sprachspiel statt; dabei wird aber immer das Ganze der symbolischen Ausdrucksmittel vorausgesetzt. Es besteht eine Kontinuität aller Deutungsprozesse, die wiederum den "synchytischen" Charakter jeglicher Deutungsleistungen bedingen. 86 Die gegenseitige interpretative Abhängigkeit von Ganzem und Einzelphänomen weist darüber hinaus die typische Struktur des hermeneutischen Zirkels auf (vgl. Apel 1976b). Außerdem macht Wittgenstein darauf aufmerksam, daß weder die Regel des kommunikativen Verhaltens anderer klar erkennbar sind, noch der dieses Verhalten Beobachtende eindeutige Angaben über seinen eigenen

86 Auf die Konvergenz von Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeiten und Bühlers "synchytischen" Begriffen hat vor allem Eschbach aufmerksam gemacht (1984c). Bühlers Lehrer Johannes von Kries hat in seiner "Logik" von 1916 die synchytischen Begriffe von den synthetischen unterschieden. SynchytischeBegriffe werden nicht wie die synthetischen durch Angabe einer Definition charakterisiert, sondern durch Verweis auf Beispiele. Sie haben daher " ... durchgängig die besondere Eigentümlichkeit einer gewissen Unbestimmtheit" (von Kries 1916:11; vgl. Eschbach 1984c:178). Bühler führt in der "Sprachtheorie" aus, daß die Entscheidung,ob ein derartiger Begriffzur Anwendung komme, nur aufgrund einer mehrfachen, nicht nur von einem einzigen Aspekt bestimmbaren Ähnlichkeit vorgenommen werden könne. Nicht der Inhalt des Begriffs sei hierbei entscheidend, sondern sein Verwendungsbereich; dies rückt Bühler zweifellos in die Nähe der Wittgensteinschen Familienähnlichkeiten. Über die Frage, ob Wittgenstein mit den Arbeiten Bühlers und der Würzburger Schule vertraut war, herrscht allerdings Uneinigkeit (vgl. Kaplan 1984; Eschbach 1984c).

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Gebrauch symbolischer Äußerungen machen kann (vgl. P.U. 82). Es stellt sich deshalb die Frage, welchen Sinn die von Wittgenstein an anderer Stelle entfaltete Annahme regelgeleiteten Sprechens hat. Mit der Plausibilität des Konzeptes der Familienähnlichkeiten verbinden sich - entgegen mancher anderslautender Thesen aus den Philosophischen Untersuchungen - folgende Grundannahmen (vgl. Berger 1975:257): 1. Der Anspruch, eindeutige Gebrauchsregeln für symbolische Ausdrücke und damit ihre exakte Bedeutung anzugeben, kann nicht aufrecht erhalten werden. 2. Selbst für spezielle Gebrauchskontexte sind Regelangaben unmöglich, da solche Kontexte keine abgeschlossenen Bezirke darstellen. Kornmunikationssituationen gehen vielmehr ineinander über und lassen sich als distinkte Einheiten nur schwer gegeneinander abgrenzen. 3. Sprachspiele sind keine stabilen Handlungszusammenhänge. Ihre Variabilität ist konstitutives Merkmal kommunikativenHandelns. Die Deutung von (Familien-)Ähnlichkeiten entspricht einem Typisierungskonzept, das von der generellen Unbestimmtheit symbolischer Ausdrücke ausgeht. Vor dem Hintergrund dieses Problemhorizontes wird deutlich, wo die Schwierigkeiten der für die Kommunikationstheorie fruchtbaren Analyse des Bedeutungsproblems liegen. Je nach dem, wo der "Ort" der Bedeutungskonstitution vermutet wird (in der transzendentalen Sphäre, im mundanen Gebrauch oder in einer imaginären Sprachstruktur), scheint die Dichotomisierung in eine okkasionelle, gebrauchsmäßige und daher variable Bedeutung einerseits und eine - gegebenenfalls die tatsächlich gemeinten Inhalte garantierende - reine Bedeutung andererseits die theoretischen Anstrengungen in ein unüberbrückbares Spannungsverhältnis zu führen. Auch die neuere Sematik bleibt demgemäß in Unterscheidungen zwischen lexikalischer Bedeutung und Kontextbedeutung (vgl. Schmidt 1969) oder zwischen Diskursbedeutung und Systembedeutung (vgl. Henne 1975) verhaftet.

4. Eine kommunikativ-operationale Lösung Einer der wenigen Sprachphilosophen, die versucht haben, der oben angesprochenen Grundproblematik direkt Rechnung zu tragen, ist Richard Hönigswald. Seine Bedeutungstheorie orientiert sich vor allem am "verständigungsgemäßen Wechselbezug" (1937: 11) als der primären Sphäre der Bedeutungskonstitution. In diesem Wechselbezug " ... fixieren sich die wechselseitigen Beziehungen derjenigen, die sich, als Erlebnismittelpunkte 87

also 'monadisch' voneinander geschieden, einander mit Bezug auf den Gegenstand 'meinen' oder doch grundsätzlich müssen meinen können. Diese Dimension nun fordert einen 'Terminus'; d.h. eine theoretisch genau umrissene Sachlage verlangt nach definierter Kennzeichnung. Wir führen für sie das Wort 'Verständigung' ein. 11 (1937:44) Vor dem Hintergrund dieser Überlegung werden Bedeutungskonstitution und Bedeutungsidentität der Analyse zugänglich gemacht. Für Hönigswald ist dabei nicht nur das Zeichenproblem von zentraler Bedeutung, sondern eine semiotische Methodologie der adäquate Zugang zum Bedeutungs- und Verständigungsproblem: "Was mich mit dem 'anderen' verständigungsgemäß verbindet, das muß sich grundsätzlich in 'Zeichen' ausprägen; es muß zum mindesten auf seinen Zeichenbezug hin gewürdigt werden können; 11 (1937:66). Bevor diese Problematik erhellt werden kann, muß jedoch nach den " ... Voraussetzungen des 'Zeichens' als Mittel der Verständigung" (1937:73) gefragt werden. fr1 Bei seiner Bestimmung der Eigenschaften des Zeichens wird vor allem das Merkmal der Stabilität hervorgehoben. Bei dem Hinweis auf die Identität der Bedeutung, die ohne diese Stabilität nicht denkbar wäre, sind allerdings nach Hönigswald Mißverständnisse zu vermeiden. Stabilität bedeutet für ihn in Abgrenzung zu behavioristischen Bestimmungen " ... hier nicht 'Starrheit'. Das Wort besagt, daß Veränderungen des Zeichens stets nur einem Prinzip, d.h. der Idee der Verständigung und deren Voraussetzungen gemäß vor sich gehen können. Und auch das wieder darf nicht dahin mißdeuted werden, daß nun die monadische 'Freiheit' des 'Subjekts' hinsichtlich der Bildung und Verwandlung von Zeichen gehemmt oder gar aufgehoben sei. Es bejaht im Gegenteil diese 'Freiheit', so gewiß sie das Korrelat aller Verständigung darstellt." (1937:74) Die damit unterstrichene Notwendigkeit schöpferischen Zeichengebrauchs für den Kommunikationsprozeß steht den Erfordernissen einer gewissen "Konstanz", die die Identität von Bedeutungen sichern soll, zur Seite. Sucht man nach den komplexen Bedingungen, die sowohl Interpretationsoffenheit als auch 11 Bedeutungskonstanz" ermöglichen, muß man den Kommunikationsprozeß selbst zum

87 "Allein, was besagt eigentlich diese 'grundsätzliche Symbolhaftigkeit'? Die Möglichkeit, jeden Gegenstand vennittels eines anderen (vornehmlich sinnlicher Anschauung) zu bestimmen, dem die 'Konvention' eine 'Bedeutung' gibt. Daß jeder Gegenstand symbolisierbar ist, heißt also, daß er eben als Gegenstand selbst auch wieder zum 'Symbol' fiir jeden anderen müsse werden können; ... Grundsätzliche Symbolhaftigkeit kommt also einer wechselweisen Beziehung möglicher Gegenstände gleich, einer Beziehung, die die Norm der 'kulturellen' Gemeinschaft, eben die Verständigung als 'Sprache', stiftet." (Hönigswald 1937:83)

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Gegegenstand der Analyse machen. Hönigswald spricht deshalb im Zusammenhang mit dem Problem der Bedeutungsidentität davon, daß der Bedeutungsbegriff sich eher an der "funktionalen Konstanz jenes Bezuges •, also einer pragmatischen Größe, zu orientieren habe: •Aber gerade darin besteht hier die entscheidende Aufgabe, diese Konstanz zu wahren, die Bedeutungen aber dennoch nicht substantialer Starrheit zu überantworten. Wir rühren damit an den tiefsten Sinn der Sprache (als energeia, gr.). Der 'Bestand' der Bedeutung ist kurz gesagt die Konstanz einer Funktion, einer Funktion, in deren Begriff die Bedingungen intermonadischer Verständigung mit eingehen. • (1937: 148) Der hier angesprochene Umstand, daß der Prozeß der Semiose eine situative Begrenzung erfährt, ermöglicht es Hönigswald eine pragmatisch orientierte Theorie der Sinnsetzung und der Bedeutung zu entwerfen. Diese nimmt vor allem die aktuelle Kritik an deterministischen Vorstellungen des Symbolgebrauchs und des Grammatikalismus vorweg. Hönigswald betont primär den Zeichen - und Symbolcharakter der Sprache. Diesen Zeichencharakter haben auch diejenigen menschlichen Aktivitäten, die als "Ausdruck" und "Eindruck" bezeichnet werden können. Die Begriffe Ausdruck und Eindruck werden zunächst so eingeführt, daß sie korrelative Begriffe bilden: Sprache ist daher immer Ausdruck und Eindruck zugleich, sie verkörpert "... die im Begriff der Gegenständlichkeit beschlossenen Bedingungen reizbezogener [d.h. zeichenbezogener] Verständigung" (1937:85). Zwar bekundet sich im Sprachgebrauch und im Ausdruck die Einzigartigkeit der Erlebnismittelpunkte ("monas"), in der Wiederholung bestimmter Vollzüge jedoch liegt das für die Bedeutungskonstitution entscheidende Moment: "Diese Wiederholungkommt nicht dem erneuten Auftauchen eines mit sich substantial-identischen, dinghaften Faktors gleich, sie besteht vielmehr in der sich stets erneuernden 'operativen', 'produzierenden' Setzung von Gebilden, deren Bestand lediglich durch den intermonadischen Bezug auf den Gegenstand, bzw. einen gegenständlichen Kontext möglicher egenstände verbürgt erscheint. In diesem Belang heißen die Produkte jener operativen Setzung Sinngebilde." (1937:85f.) Die epistemologischen Hintergründe dieser Gedankenführung liegen offensichtlich in der Einsicht, daß jede erneute "Setzung" unbegrenzte Möglichkeiten der Bedeutungsmodifikation beinhaltet ("... den gegenständlichen Bezug zu gliedern und abzuwandeln" (1937:86)). Der Gegenstand gestaltet sich nach Hönigswald erst in den methodischen Akten seiner Bestimmung, d.h. Bedeutung konstituiert sich immer vor dem Hintergrund einer bestimmten Intention, eines Kommunikationsziels. Bedeutungsstarrheit muß sich somit "als Phantom" erweisen: "In der Sprache als dem inter89

monadischen Bedeutungskorrelat des Gegenstandes spiegelt sich diese Sachlage, und die Theorie der Sprache hat ihr grundsätzlich Rechnung zu tragen." (ibid.) Mit den Begriffen der "operativen und produzierenden Setzung" verweist Hönigswald auf zwei Dimensionen des Zeichenprozesses: auf die Hervorbringungspraxis und die Konstruktionstätigkeitder Zeichenbenutzer. Daher rührt seine immer wiederkehrende "... Ablehnung aller Versuche, die Sprache grammatischer oder anders gearteter Erstarrung preiszugeben; daher auch das sich stets erneuernde Bestreben, die funktionale Identität ihrer Setzungen gerade an deren Beweglichkeit zu erfassen. " (ibid.) So stellt sich die oben erwähnte "Stabilität" nicht als isomorphe Beziehung zwischen Zeichen und Bedeutung heraus, sondern als Eigenschaft der sozialen Praxis, in der es einander ähnliche funktionale Bezüge gibt, die sich wiederum in der Praxis des Symbolgebrauchs zeigen. 88 Daß ein symbolischer Ausdruck oder ein Text, wie neuere linguistische Arbeiten zur Semantik und Diskursanalyse zunehmend konzedieren, keinen unverrückbaren Sinn enthält, sondern "... semantisch lediglich ein Bedeutungspotential darstellt, das in unterschiedlicher Weise verarbeitet werden kann" (Schwarze 1988:140), ist durch Hönigswald klar herausgearbeitet worden. Ausdrücke " ... erfreuen sich eines spezifischen, nach allen Seiten hin 'offenen', d.h. jeder Relation erschlossenen Bedeutungsbestands ... Diese aber muß in immer erneuten Akten der Setzung gewonnen werden. Das heißt: in immer neuen Akten solcher Art stiftet die Übersetzung zwischen den, zweien sprachlichen Ausdrücken zugehörigen Sinnbeständen eine Bedeutungsbeziehung, die nun beiden genügen soll." (Hönigswald 1937: 149)89

88 "Allein das Symbol verkörpert selbst in seinen sublimiertesten Formen immer noch die Idee einer wenn auch unter Umständen unausweichlichen, immer aber durch subjektive Motive bestimmten 'Setzung', einer Setzung, vermittels deren das 'Subjekt' einem ihm als schlechthin gegebenen betrachteten 'Gegenstand' mit gewissen 'Absichten' gegenübertritt und diese nach subjektiven Maßstäben der Verständigung verwirklicht." (Hönigswald 1937:82) 89 Hönigswald arumentiert hier ganz im Sinne Sch1eiermachers. Zur endgültigen Aufklärung über den Sinn und die Bedeutung von Äußerungen bemerkte der Begründer der neuzeitlichen Hermeneutik, daß die Aufgabe der Interpretation " ... das geschichtliche und divinatorische objektive und subjektive Nachconstruiren der gegebenen Rede" (1959:86) ist. An anderer Stelle betont er: "Die Lösung der Aufgabe ist also . . . nur durch Approximation möglich." (1959:62)

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Vor dem Hintergrund des dynamischen Zeichenbegriffs und der Arbitrarität der Zeichenrelation wird deutlich, daß die Beschaffenheit des Zeichens im Hinblick auf seine Bedeutung indifferent ist, d.h. eine bestimmte Bedeutung, die einem Zeichen beigelegt wird, könnte (prinzipiell) immer auch durch irgend einen anderen wahrnehmbaren Zeichenkörper repräsentiert werden. Die Diskussion der drei bedeutungstheoretischen Ansätze hat darüber hinaus gezeigt, daß sich die Begründung eines identitätslogischen Bedeutungsbegriffs selbst unter völliger Ausklammerung kommunikativer Praxis in erhebliche Widersprüche verwickelt. Es gilt daher festzuhalten, daß es sich bei der Vorstellung von der objektiven Identität von Bedeutungen um eine Fiktion handelt (vgl. Borsehe 1981:320). Demgegenüber ist jede ernstzunehmende Bedeutungstheorie mit jenen Problemen konfrontiert, die sich mit Begriffen wie "Okkasionalität", "Vagheit", "Ähnlichkeit" usw. verbinden. Die dazu komplementäre Frage, wie und warum die Handelnden in der Kommunikationspraxis dennoch von der Identität von Bedeutungen ausgehen, wird z.B. von der Linguistik erst in jüngster Zeit durch pragmatische und diskursanalytische Forschungen berücksichtigt: "Für die Semantik ist in der Gesprächsanalyse immer wieder betont worden, daß Bedeutungen im Dialog 'ausgehandelt' werden. Dieses Phänomen ist zentral für eine adäquate Theorie der Bedeutung . . . Dies würde den Begriff der wörtlichen Bedeutung, den die Semantiker allgemein annehmen, als solchen problematisch machen." (v.Stechow 1988:19) Folgt man Quine und seiner These von der Unbestimmtheit jeder Übersetzung, läßt sich keine exakt gleiche Bedeutung verschiedener Zeichen - selbst wenn sie nur durch den Zeitpunkt ihrer Artikulierung verschieden sind - identifizieren (vgl. Quine 1980). Diese Bedeutungsidentität" ... läßt sich nur voraussetzen, und diese Voraussetzung kann sich bewähren oder auch nicht. Sie bewährt sich nicht, wenn es unter ihr zu erscheinenden, offenkundigen Widersprüchen kommt." (Simon 1981:82) Die ernüchternde Einsicht, daß unbestimmt bleibt, in welcher Bedeutung unterschiedliche Zeichen synonym sein sollen, selbst in welchen Bedeutung auch nur dasselbe Symbol oder Zeichen zu differenten Zeiten seines Gebrauchs dasselbe bedeuten soll, scheint die Möglichkeit von Übersetzung, gar Verständigung überhaupt mit starken Zweifeln zu belasten. Daher ist es die Sphäre jener "Erfahrungsumgebung", von der Husserl gesprochen hatte, jener pragmatisch-operationaler Bereich der "Geplogenheiten" und "Lebensformen" (Wittgenstein), in der sich Bedeutung konstituiert. Es sind die kommunikativen Leistungen der Handelnden, ihr Vermögen zu präsentativen und appräsentativen Akten, die pragmatische, also hinreichende Bedeutungsidentität ermöglichen. Was dabei 91

als "identisch" gehandhabt wird, ergibt sich nicht aus den Zeichen selbst, es ist vielmehr der dynamisch-operationale Zeichengebrauch, der immer durch lebensweltliche Typik und Relevanz eine Rahmung erfährt.

m. Wahrnehmung, Schluß und das Phänomen der Grenze 1. Der interpretative Charakter der Wahmemung Individuen können durch zwei Erfahrungsmodalitäten zu Wissen und Erkenntnis gelangen: durch die Auseinandersetzung mit der Welt der Objekte und durch Kommunikation. Beide Erfahrungsmodalitäten beinhalten tätige, die Welt und die Subjekte verändernde Eingriffe. Dies impliziert einen Erfahrungsprozeß, an dessen Anfang die gegenseitige Wahrnehmung bzw. die gemeinsamen Wahrnehmungssituation steht. Objekte gegenseitiger Wahrnehmung können nur dem Menschen äußerliche Dinge, Lautungen, Gesten usw. sein. Die bereits diskutierteinnen-Außen-Dichotomiemacht es den Handlungspartnern unmöglich, die inneren Handlungen ihres Gegenübers direkt wahrzunehmen. Wahrnehmbar sind lediglich Zeichen bzw. als Zeichen für etwas interpretierte Laute, Bewegungen usw. , mittels derer sich die Kommunikationspartner in ihrem Verhalten gegenseitig steuern. Es war Bühler, der auf die herausragende Rolle dieser Steuerung für soziales Handeln und Kommunikation hingewiesen hat: "Wo immer ein echtes Gemeinschaftsleben besteht, muß es eine gegenseitige Steuerung des sinnvollen Benehmens der Gemeinschaftsglieder geben. Wo die Richtpunkte der Steuerung nicht in der gemeinsamen Wahrnehmungssituation gegeben sind, müssen sie durch einen Kontakt höherer Ordnung, durch spezifisch semantische Einrichtungen vermittelt werden." (1978:50) Begreift man äußere Handlungen als die Folge innerer Handlungen, so besteht für die Handelnden die Aufgabe, von den äußeren (wahrnehmbaren) Handlungen auf die zugrundeliegenden inneren Handlungen zu schließen. "The impossibility of transferring thought is absolute and insurmountable. Only by an inference from bis own thought can the listener conclude that the speaker has been thinking of the same thing. What passes in speach between the two persons concerned is mere sound, bereft of all sense" (Gardiner

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1932:69). Dieser Schlußprozeß, der schon in der gegenseitigen Wahrnehmung einsetzt, 90 soll im folgenden diskutiert werden. In der von Husserl entfalteten Wahrnehmungstheorie wird die untrennbare Einheit von Wahrnehmung und Bedeutung exemplarisch begründet. Indem man etwas wahrnimmt, erkennt man es als etwas, hat es eine bestimmte Bedeutung und damit einen bestimmten Sinn. Dieser Prozeß ist nicht zerlegbar, da Wahrnehmung immer schon Sinngebung ist: "Die Reden von Erkenntnis des Gegenstandes und Erfüllung der Bedeutungsintention drücken also bloß von verschiedenen Standpunkten aus dieselbe Sachlage aus." (Husserl1913:33) Der dynamische Akt des Erkennens impliziert eine Erfüllung, die als Zuschreibung von Sinn erscheint (vgl. Eco 1977: 135). Husserl schreibt unmißverständlich: "Wenn ich sage, daß ich meiner Wahrnehmung Ausdruck gebe, kann das heißen, daß ich von meiner Wahrnehmung prädiziere, sie habe den oder jenen Inhalt." (1913: 12)91 Bühler hat den Zusammenhang von Interpretationsbedürftigkeit und Interpretationstätigkeit der Zeichenbenutzer schließlich im sog. "Prinzip der abstraktiven Relevanz" zusammengefaßt, das auf der Erkenntnis der Selektivität und Arbitrarität des Zeichenprozesses beruht: "Mit den Zeichen, die eine Bedeutung tragen, ist es also so bestellt, daß das Sinnending, dies wahrnehmbare Etwas hic et nunc nicht mit der ganzen Fülle seiner konkreten Eigenschaften in die semantische Funktion eingehen muß. Vielmehr kann es sein, daß nur dies oder jenes abstrakte Moment für seinen Beruf, als Zeichen zu fungieren, relevant wird. Das ist in einfache Worte gefaßt das Prinzip der abstraktiven Relevanz" (Bühler 1934:44). Damit wird deutlich, daß das Prinzip der abstraktiven Relevanz92 integraler Bestandteil

90 Dieser jede Wahrnehmungssituationbegleitende Vorgang des Schließens wird bei Luhmann "contraphänomenologisch" sehr unspezifisch als "Prozessieren von Selektion" bezeichnet (vgl. Luhmann 1984:191ff.). 91 In starker Anlehnung an diese Psychologismuskritik Husserls hat vor allem Bühler den interpretativen Charakter der Wahrnehmung hervorgehoben, nach dessen Auffassung bereits der Wahrnehmungsprozeßim wesentlichenein Interpretationsvorgang ist. Nicht erst nachdem etwas wahrgenommen wurde, setzt in der Reflexion der Vorgang der Zeicheninterpretation ein, sondern unsere Sinnesdaten konstituieren sich bereits mittels Zeichen und als lnterpretationsprozeß (vgl. auch Iames 1927:224). 92 Die Parallität zu Schütz' Begriff der Relevanzstruktur ist hier deutlich erkennbar. Dies könnte damit zusammenhängen, daß Schütz in den zwanziger Jahren bei Bühler in Wien promovierte und dort von Bühler Anregungen zu seinen Arbeiten über Relevanzsysteme erhalten hat.

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eines jeden Verstehensprozesses ist. Wer z.B. als Fremder lernen möchte, sich in einer anderen Kultur oder Sprache zurechtzufinden, muß, so Bühler, lernen, was "diakritisch relevant" ist (1934:45). Ohne diese Abteaktionsleistung ist jede Form von Teilnahme und Kommunikation undenkbar.

2. Das Wahrnehmungsurteil als Hypothesenbildung und Abduktionsschluß

Als Schlußverfahren sind im wesentlichen die in der Mathematik bekannten induktiven und deduktiven Schlüsse bekannt. Sie sind Bestandteil der zweiwertigen Logik und der Wahrscheinlichkeitstheorie. Peirce greift dagegen auf ein drittes Schlußverfahren zurück, das bereits in der Ersten Analytik von Aristoteles als Apagoge93 abgehandelt wurde (vgl. C.P. 5 .144): die Abduktion. Während die Deduktion und die Induktion Verfahren der Hypothesenprilfong darstellen, handelt es sich beim Abduktionsschluß um ein Verfahren, daß zur Auffindung von Hypothesen führt. 94 Peirce diskutiert die Abduktion zunächst in seinen Arbeiten zur Kritischen Logik ("Critical Logic"), in denen er sich mit den notwendigen Bedingungen von Erkenntnis befaßt. Neben den schon erwähnten deduktiven gibt es dort die synthetischen Schlüsse, zu denen von Peirce auch die Abduktion gezählt wird (vgl. Burks 1946; Frankfurt 1958). Bei den synthetischen Schlüssen ergibt sich im Gegensatz zum deduktiven Verfahren die Konklusion nicht notwendig aus den Prämissen. Die Abduktion ist derjenige Schluß, der zur Erklärung der beobachteten Fakten mittels einer Hypothese oder Theorie führt (vgl. Oehler 1968: 114). In seiner Schrift "Three Types of Reasoning" führt Peirce zur Abduktion aus: "Abduction

93 Aristoteles schreibt zur Abduktion in der Ersten Analytik: "Eine Apagoge (Umbiegung), Abduktion ist es, wenn es sicher ist, daß der erste (obere) Begriff dem mittleren zukommt, das aber, daß der mittlere dem letzten (unteren) zukommt, zwar unsicher, aber ebenso glaubwürdig oder glaubwürdiger ist als der Schlußsatz. Ferner, wenn der Zwischenglieder zwischen dem letzten und dem mittleren Begriff wenige sind. Denn auf alle Fälle kommen wir so dem Wissen näher" (Anal. pr. I 69a). 94 "Abduction is a distinct type of reasoning (inference and argument), which is not to be confused with the two traditionally recognized types, induction and deduction. Peirce considered abduction to be the essence of his pragmatism (5 .196). He insited that it was essential to history (6.606, 2.714), that it constituted the firststage of all inquiries (6.469), and that it was a necessary part ofperception (5.181) and memory (2.625)." (Fann 1970:5)

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is the process of forming an explanatory hypothesis. It is the only logical operation which introduces any new idea; for induction does nothing but determine a value, and deduction merely evolves the necessary consequences ofa pure hypothesis." (C.P. 5.171) Das wesentliche der Abduktion liegt mithin darin, daß ein unerwartetes Phänomen durch die (hypothetische) Konstruktion einer Theorie bzw. einer Regel. "Wir nehmen eine solche Regel hypothetisch an. Die Modi des abduktiven Schlusses erlauben uns nun, aufgrund dieser Regel und der Feststellung über das Phänomen auf einen dritten Satz zu schließen, den wir - mit Peirce - als Fall bezeichen wollen, während wir den Satz, der jene Feststellung ausspricht, mit ihm Resultat nennen. Im abduktiven Schluß bilden also Regel und Resultat die Prämissen, der Fall die Conclusio." (v. Kempski 1951:56; vgl. auch 1952:83ff.)95 Da Peirce die Theorie vom Abduktionsschluß zunächst als Forschungslogik entwickelte, war sein Ziel, die Verfahren der Hypothesenbildung und Hypothesenprüfung auf ein logisches Fundament zu stellen, um damit die Produktion wissenschaftlicher Erkenntnisse zu sichern. Dabei ist die Abduktion diejenige Argumentationsform, die zur Wissenserweiterung führt und den Forschungsprozeß vor antreibt. Erfolgreiches Forschungshandeln besteht vor allem aus einem rationalen und ökonomischen Prozeß der Hypothesenauswahl, denn würde der Wissenschaftler alle nur erdenklichen Hypothesen nachprüfen, könnte er nie zu einem Ergebnis kommen. In der Arbeit "Instinct and Abduction" löst Peirce dieses Problem unter Verweis auf Ockham, dessen Diktum "entia non sunt multiplicanda praeter necessitatem" er als die vernünftigste Maxime wissenschaftlicher Methodologie und als "... only a more refined form of common sen se" bezeichnet (C.P. 5.59). Zu solchen Formen des common sense gehören auch epistemische Stile alltagsweltlichen Handelns, 96 die Peirce als "Instinct" und

95 Peirce' bekanntestes Besipiel ist folgendes (C.P. 5.189): "The surprising fact (C), is observed; But if A were true, C would be a matter of course, Hence, there is a reason to suspect that A is true"

96 Eine Parallele zwischen Peirce' Abduktionsbegriffund Paretos Theorie der nicht-logischen Handlungen sieht Grathoff. Offensichtlich erfüllt die darin entworfene "Logique des Sentiments" fiir die Handelnden eine ähnliche Funktion wie der abduktive Schluß bei Peirce (vgl. Grathoff 1989:275f.). Pareto äußert sich mehrfach, an einigen Stellen auch unter Bezug auf die enthymematische Konklusion bei Aristoteles (§ 1405ff.), zur Funktion alltagsweltlicher Schlüsse im Rahmen der "Logique des Sentiments": "ll faut enfin remarquer que si, dans Ia logique ordinaire, Ia conclusion resulte des premisses, dans Ia logique des sentiments, ce sont !es premisses qui resultent de Ia conclusion." (Pareto

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"Insight" bezeichnet: "An Insight, I call it, because it is tobe referred to the same general class of operations to which Perceptive Judgements belong." (C.P. 5.173) Gerade nun die "perceptive" oder auch "perceptual judgements", die im allgemeinen mit dem Begriff "Wahrnehmungsurteil" übersetzt werden, sind für den Problemkreis Kommunikation - Zeichengebrauch - Situationsinterpretation von großer Bedeutung.