Intellektuelle in der Bundesrepublik Deutschland: Verschiebungen im politischen Feld der 1960er und 1970er Jahre 9783666300455, 9783525300459, 9783647300450

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Intellektuelle in der Bundesrepublik Deutschland: Verschiebungen im politischen Feld der 1960er und 1970er Jahre
 9783666300455, 9783525300459, 9783647300450

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© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Intellektuelle in der Bundesrepublik Deutschland Verschiebungen im politischen Feld der 1960er und 1970er Jahre

Herausgegeben von Thomas Kroll und Tilman Reitz

Vandenhoeck & Ruprecht © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

Gedruckt mit Unterstützung der sowie des Forschungszentrums Laboratorium Aufklärung an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Mit 2 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-30045-9 ISBN 978-3-647-30045-0 (E-Book) Umschlagabbildung: Heinrich Böll, Theodor W. Adorno und Siegfried Unseld in Frankfurt, 1968 © dpa / Süddeutsche Zeitung Photo © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

Inhalt Thomas Kroll und Tilman Reitz Zeithistorische und wissenssoziologische Zugänge zu den Intellektuellen der 1960er und 1970er Jahre. Eine Einführung . . . . 7 I. Theorie der Intellektuellen Wolfgang Eßbach Intellektuellensoziologie zwischen Ideengeschichte, Klassenanalyse und Selbstbefragung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Ingrid Gilcher-Holtey Konkurrenz um den »wahren« Intellektuellen. Intellektuelle Rollenverständnisse aus zeithistorischer Sicht . . . . . . . . 41 II. Politische Ideen und Gesellschaftsentwürfe Patrick Wöhrle Das Denken und die Dinge. Intellektuelle Selbst- und Fremdverortungen in den 1960er und 1970er Jahren am Beispiel der »Technokratie«-Debatte . . . . . . . . . . . 55 Christoph Henning Attraktion und Repulsion: Marxistische Gesellschaftsentwürfe zwischen Selbstverwirklichung und Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Regina-Maria Dackweiler Feministische Intellektuelle. Kollektive Gesellschaftskritik und Gesellschaftsutopien der Neuen Frauenbewegung Ende der 1960er Jahre . . . . . . . . . . . . . 87 III. Die Organisation der Intellektuellen: Institutionen, Denkschulen, Vernetzungsmedien Thomas Kroll Der Linksprotestantismus in der Bundesrepublik Deutschland der 1960er und 1970er Jahre. Helmut Gollwitzer, Dorothee Sölle und Jürgen Moltmann . . . . . . . . . 103 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Inhalt

Jens Hacke Das politische Scheitern eines liberalen Hoffnungsträgers. Ralf Dahrendorf und die FDP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Olaf Blaschke Verlage als Katalysatoren von Schulbildungen? . . . . . . . . . . . . . . . . 138 Andreas Ziemann Vom Schreiben, Sprechen und Zeigen – intellektuelle Medienpraxis . . . 151 Tilman Reitz Kreise mit schwachen Meistern. Die Frankfurter und die Münsteraner Schule bundesdeutscher Sozialphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Gregor Kritidis Von der Kooperation zur Konfrontation. Wolfgang Abendroth und Peter von Oertzen. Zur Struktur und Genese der »Marburger« und der »Hannoverschen« Schule . . . . . . . . . . . . . 185 Tobias Freimüller Psychoanalyse und Selbstaufklärung. Alexander Mitscherlich und die Gründung des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 IV. »Institutionen in einem Fall«: Öffentliche Intellektuelle Thomas Biebricher Intellektueller als Nebenberuf: Jürgen Habermas . . . . . . . . . . . . . . 219 Reinhard Mehring Der esoterische Diskurspartisan: Carl Schmitt in der Bundesrepublik . . 232 Jens Ewen Der Schriftsteller als Intellektueller. Hans Magnus Enzensbergers Problematisierungen eines zweihundertjährigen Denkmusters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

Thomas Kroll und Tilman Reitz

Zeithistorische und wissenssoziologische Zugänge zu den Intellektuellen der 1960er und 1970er Jahre Eine Einführung

Am Ende der 1970er Jahre war die Figur des Intellektuellen in der politischen Öffentlichkeit der Bundesrepublik Deutschland höchst umstritten. Engagierte Schriftsteller wie Heinrich Böll oder Theologen wie Helmut Gollwitzer, die für einen differenzierten Umgang mit dem Phänomen des Terrorismus plädiert hatten, wurden von zahlreichen Kommentatoren der konservativen Presse als »Sympathisanten« der RAF angegriffen, die als solche die politische Ordnung der Bundesrepublik untergraben hätten.1 Auch wenn Jürgen Habermas’ rückblickende Einschätzung, dass »die konservativen Parteien die von der Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer ausgelöste kritische Stimmung für ein Pogrom gegen Linksintellektuelle ausbeuten wollten«,2 wohl übertrieben ist, war die Lage tatsächlich angespannt. Dazu trug auch die auf­lagenstark vorgebrachte Klage bei, eine übermäßige Politisierung nach der Studentenrevolte von 1968 und eine permanent überzogene Systemkritik seitens der Linksintellektuellen hätten zu einer regelrechten »Legitimitätskrise« der Bonner Republik geführt.3 So sprach etwa der Münchner Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer vom »Elend unserer Intellektuellen«,4 und der in Münster lehrende Soziologie Helmut Schelsky erkannte gar eine »Priesterherrschaft der Intellektuellen«.5 Die Schuldzuweisung, die mit dieser Intellektuellen­k ritik und den Anklagen in der 1 Vgl. dazu Jörg Requate, Gefährliche Intellektuelle? Staat und Gewalt in der Debatte über die RAF, in: Dominik Geppert / Jens Hacke (Hg.), Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen 2008, S. 251–268, hier S. 251–253. 2 Vgl. Jürgen Habermas, Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland, in: ders., Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt a. M. 1987, S. 25–54, hier S. 51. 3 Vgl. dazu den Rückblick von Kurt Sontheimer, Intellectuals in the Political Life of the ­Federal Republic of Germany, in: Reiner Pommerin (Hg.), Culture in the Federal Republic of Germany, 1945–1995, Oxford 1996, S. 75–91, hier S. 83 f. 4 Ders., Das Elend unserer Intellektuellen: linke Theorie in der Bundesrepublik Deutschland, Hamburg 1976. 5 Helmut Schelsky, Die Arbeit tun die anderen: Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 1975. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Sympathisanten-Debatte verbunden war, empfand Böll als »Überlastung«, die weder ihm noch den »200 permanent wachsamen Intellektuellen« der Bundesrepublik zugemutet werden dürfe, selbst dann nicht, wenn man ihnen eine wichtige Rolle in der politischen Kultur zuschreibe. In einem Interview aus dem Jahr 1977, das in der von Günter Grass und ihm selbst herausgegebenen Zeitschrift »L 76« publiziert wurde, ging Böll mit der konserva­tiven Intellektuellenschelte und dem impliziten Vorwurf des Verrats an der Demokratie schwer ins Gericht: »Lesen Sie außerdem mal alle Bundestagsdebatten über innere Sicherheit der letzten fünf oder zehn Jahre nach, nehmen wir die letzten fünf, seitdem die Bader-MeinhofProblematik hier besteht: Schuldig, laut Opposition, waren immer die Intellektuellen. Wenn Sie das wirklich einmal wörtlich nachlesen, was 1972 / 73 / 74 in den Routinedebatten über innere Sicherheit gesagt worden ist, dann sehen Sie, daß die Rolle des Wächters, des ›Gewissens der Nation‹ gleichzeitig die Rolle des Sündenbocks ist. Und diese Schizophrenie, die kann keine gesellschaftliche Gruppe tragen, das geht einfach nicht.«6

Am Ende dieser politischen »Identitätskrise« in der Bundesrepublik der 1970er Jahre kam es allerdings trotz aller Schärfe der Debatten nicht zur dauerhaften Spaltung der politischen Öffentlichkeit, denn sowohl Konservative als auch Linke begannen die Intellektuellen und ihre politischen Auseinandersetzungen als legitimen Teil einer pluralistisch-demokratischen Kultur zu betrachten, die sich seit den 1960er Jahren durchgesetzt hatte.7 Auch Habermas, der den konservativen »Gegenintellektuellen« der 1970er Jahren den Vorwurf machte, die »Rolle des Intellektuellen« als »gesellschaftliche Pathologie« dargestellt zu haben, hob bereit 1986 hervor, die Normalisierung und Institutionalisierung dieser Rolle sei nunmehr vollzogen. Selbst die »Gegenintellektuellen« hätten nämlich in den Debatten der 1970er Jahre mit den Mitteln des Intellektuellen arbeiten müssen, um dessen Rolle (erfolglos) als illegitim darzustellen. Auf diesem Wege einer oft paradox erscheinenden Institutionalisierung habe sich anders als in der Weimarer Republik »in der Bundesrepublik eine Intellektuellenschicht gebildet, die sich als solche akzeptiert«.8 Wie die zeithistorische Forschung, die sich jüngst wieder Fragen der Ideenund Intellektuellengeschichte der Bundesrepublik Deutschland öffnet,9 nach6 Heinrich Böll / Hans-Peter Riese, Schriftsteller in dieser Republik. Gespräch über Selbstverständlichkeiten, in: L 76 6 (1977), S. 5–37, hier S. 7. 7 Vgl. dazu auch Franz-Werner Kersting / Jürgen Reulecke / Hans-Ulrich Thamer, Aufbrüche und Umbrüche: Die zweite Staatsgründung der Bundesrepublik 1955–1975. Eine Einführung, in: dies. (Hg.), Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955–1975, Stuttgart 2010, S. 7–18, hier S. 8. 8 Habermas, Heinrich Heine, S. 47 f. 9 Vgl. etwa die jüngsten Forschungsberichte von Alexander Gallus, »Intellectual History« mit Intellektuellen und ohne sie. Facetten neuerer geistesgeschichtlicher Forschung, in: HZ 288 (2009), S. 139–150 sowie Frank Biess, Thinking after Hitler: The New Intellectual History of the Federal Republic of Germany, in: History and Theory 51 (2012), S. 221–245. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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weist, ist die Diagnose von Habermas zumindest in der Grundtendenz zutreffend. Allerdings unterschätzte der Frankfurter Philosoph, der selbst zu den linksliberalen Gründervätern der Bonner Republik zu zählen ist,10 die Rolle der Konservativen für die intellektuelle Staatsgründung. So waren es keineswegs nur Repräsentanten der Frankfurter Schule oder der Gruppe 47, die durch ihr Engagement für die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und das Plädoyer für einen antiautoritären, kritischen Geist zur Durchsetzung eines modernen, demokratischen Politikverständnisses in Westdeutschland beitrugen,11 sondern auch gemäßigt sozialdemokratische, liberale und (später) konservative Intellektuelle wie Hermann Lübbe oder Ernst-Wolfgang Böckenförde, welche die Pluralisierung der politischen Kultur als notwendig anerkannten.12 Auch wenn die Intellektuellen nicht grundsätzlich als »Avantgarde« betrachtet und in ihrer Wirkung nicht überschätzt werden sollten, können sie gleichwohl  – so ließe sich zugespitzt formulieren  – als Teil  der politischen »Erfolgs­geschichte« der Bundesrepublik gelten.13 In diesem Sinne lässt sich die Spiegel-Affäre von 1962 bereits als Indikator für eine zunehmende Integration des Intellektuellen in die politische Kultur betrachten.14 Danach wurden die Aktivitäten der Intellektuellen in der politischen Arena zunehmend institutionalisiert, sei es mittels Petitionen, die im Rahmen von Kongressen, Tribu­nalen und Treffen des PEN-Clubs verfasst wurden, sei es durch die Nutzung des neuen Mediums Fernsehen.15 Weniger institutionell verstetigt, aber ebenso wichtig waren ferner die Teilnahme an Protestinitiativen (etwa gegen die Radi­kalenerlasse) und die Mitwirkung an den neuartigen politischen und sozialen Bewegungen der 1970er Jahre.16 Relevant blieb freilich auch das klassische Engagement für 10 Vgl. dazu Dirk Moses, German Intellectuals and the Nazi Past, Cambridge 2007. 11 Clemens Albrecht u. a., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik: eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a. M. 1999, S. 97 ff.; ferner Dominik Gep­ pert, Von der Staatsskepsis zum parteipolitischen Engagement. Hans Werner Richter, die Gruppe 47 und die deutsche Politik, in: ders. / Jens Hacke (Hg.), Streit und den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen 2008, S. 46–68. 12 Vgl. dazu Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006. 13 Vgl. dazu auch die Überlegungen von Axel Schildt, Auf neuem und doch scheinbar vertrautem Feld. Intellektuelle Positionen am Ende der Weimarer und am Anfang der Bonner Republik, in: Alexander Gallus / Axel Schildt (Hg.), Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und um 1930, Göttingen 2011, S. 13–34, hier S. 32. 14 Vgl. zur Einordnung der Spiegel-Affäre auch Axel Schildt, Von der Kampagne »Kampf dem Atomtod« zur »Spiegel-Affäre«: Protestbewegungen in der ausgehenden Ära Adenauer, in: Michael Hochgeschwendter (Hg.), Epoche im Widerspruch: ideelle und kulturelle Umbrüche der Adenauerzeit, Bonn 2011, S. 125–140. 15 Albrecht u. a., Die intellektuelle Gründung, S. 225 ff. 16 Vgl. dazu Jost Hermand, Die Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1965–1985, München 1988, S. 341 ff. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Parteien, etwa der bereits erforschte Einsatz von Günter Grass und anderen Intellektuellen für die SPD und ihren Kanzlerkandidaten Willy Brandt.17 In jedem Falle stellten die 1960er und 1970er Jahre eine »formative Phase« der politischen Geschichte der Bundesrepublik dar – manche sprechen sogar von einer zweiten Staatsgründung –, in der sich die Intellektuellen zwar nicht als unumstrittener, aber doch als legitimer Akteur in der politischen Arena durchsetzten.18 Allerdings greift eine intellektuelle Gründungsgeschichte der Bundesrepublik zu kurz, welche nur den Beitrag der linksliberalen oder linken Intellektuellen und der »liberalkonservativen« Repräsentanten einer »Philosophie der Bürgerlichkeit« in den Blick nimmt. Die 1960er und 1970er Jahre lassen sich nämlich als eine Epoche der politischen Verschiebungen fassen, in denen neue Bewegungen und Kräfte auf den Plan traten, die ihre eigenen Typen von »Intel­ lektuellen« hervorbrachten. So ist es kein Zufall, dass selbst die älteren Intellektuellen, welche die Pluralisierung und Liberalisierung der Bundesrepublik voran­getrieben hatten, sich mit den Forderungen, dem Gedankengut und dem Politikstil der radikalen 1968er und Nach-68er nicht ohne weiteres zu arrangieren wussten. Hierin lässt sich durchaus auch ein Konflikt von Intellektuellengenerationen mit unterschiedlichen Formen politischen Engagements sehen.19 Eine wichtige Aufgabe der Zeitgeschichtsforschung dürfte es daher sein, die »neuen« Intellektuellen der 1960er und 1970er Jahre genauer in den Blick zu nehmen, obwohl sie möglicherweise weniger Spuren in der politisch-sozialen Semantik hinterlassen oder weniger öffentliche Resonanz gefunden haben als die bereits etablierten intellektuellen Gründerväter. Dies gilt zunächst für die Protagonisten der Studentenbewegung, wie Rudi Dutschke,20 aber auch für die Intellektuellen der Bürgerinitiativen und Neuen Sozialen Bewegungen, der Neuen Linken, des Feminismus21 oder auch der Kirchen, von denen bislang viel zu wenig bekannt ist.22 Auch das Engagement dieser Intellektuellen und ihre spezifischen Selbstverständnisse sind ein Teil des Prozesses, den Habermas als »Institutionalisierung der Rolle des Intellektuellen«23 bezeichnet hat. So dürfte 17 Vgl. beispielsweise: Daniela Münkel, Intellektuelle für die SPD: die sozialdemokratische Wählerinitiative, in: Gangolf Hübinger / Thomas Hertfelder (Hg.), Das Mandat des Intellektuellen, Stuttgart 2000, S. 222–238. 18 Vgl. Franz-Werner Kersting / Jürgen Reulecke / Hans-Ulrich Thamer (Hg.), Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955–1975, Stuttgart 2010. 19 Vgl. dazu auch Thomas Kroll, Generationenverhältnisse und politische Konflikte während der Studentenrevolte von 1968 in der Bundesrepublik Deutschland, in: Annemarie Steidl u. a. (Hg.), Übergänge und Schnittmengen, Wien 2008, S. 319–346. 20 Vgl. etwa die Studie von Michael Karl, Rudi Dutschke: Revolutionär ohne Revolution, Frankfurt a. M. 2003. 21 Vgl. dazu jetzt den Aufsatz von Regina-Maria Dackweiler in diesem Band. 22 Vgl. dazu auch die Bemerkungen von Bliess, S. 242–245. 23 Habermas, Heinrich Heine, S. 47. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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das Feld der bundesdeutschen Intellektuellen der 1960er und 1970er Jahre weitaus heterogener sein, als es die Zeithistorie oder auch die Intellektuellensoziologie bislang angenommen haben.24 Mit dieser Blickerweiterung sind grundsätzliche Theorie- und Methodenprobleme berührt, allen voran die dauerhaft strittige Frage nach der Definition und Funktion der Intellektuellen. Wer wissen will, was Intellektuelle sind und wodurch sich ihre Tätigkeit auszeichnet, ist gut beraten, zeitgeschichtlich anzusetzen. Kaum ein anderer Sozialtypus der modernen Gesellschaft ist stärker an exemplarische Kontroversen sowie wechselnde Rollenverständnisse gebunden und auf kulturelle Resonanz angewiesen.25 Was unter einem »Intellektuellen« verstanden wird, ist insofern niemals von vornherein festgelegt, sondern hängt von spezifischen geschichtlichen Konstellationen und Möglichkeitshorizonten ab: »who or what an intellectual is, is […] a matter of historical consciousness and its realization«.26 Das gilt auch und gerade für jene Intellektuellen, die im Mittelpunkt dieses Buches stehen und in der Bundesrepublik Deutschland meist als Intellektuelle tout court wahrgenommen werden, die politisch Engagierten unter den geistig Tätigen. Sie sind es, die zumeist über das größte kulturelle Prestige verfügen und als geistig wirkmächtig gelten. Da sie jedoch weder durch eine spezifische Berufstätigkeit im engeren Sinne noch durch eine verbindliche Tradition geistiger Praxis oder andere institutionelle Verortungen hinreichend zu fassen sind, können nähere Bestimmungen nur im kulturellen oder historischen Vergleich und damit für einen begrenzten Kontext gewonnen werden.27 Selbst die »Institutionalisierung«, von der Habermas spricht, ist unter diesem Gesichtspunkt allenfalls eine epochale Stabilisierung; der ab Mitte der 1980er Jahre von anderen verkündete »Niedergang« oder »Tod des Intellektuellen« zeigt bereits einen erneuten Wandel der Rolle an.28 24 Vgl. dazu auch die Typologie, die Ingrid Gilcher-Holtey in ihrem Beitrag zu diesem Band vorschlägt. 25 Vgl. Jean-François Sirinelli, Les intellectuels, in: Réné Rémond (Hg.), Pour une histoire politique, Paris 1996, S. 199–230. 26 Ron Eyerman, Between Culture and Politics. Intellectuals in Modern Society, Cambridge 1994, S. 3. 27 Vgl. dazu etwa Michel Trebitsch, L’histoire comparée des intellectuels comme histoire experimentelle, in: ders. / Marie-Christine Granjon (Hg.), Pour une histoire comparée des intellectuels, Paris 1998, S.  61–78; Thomas Kroll, Kommunistische Intellektuelle in Westeuropa. Frankreich, Österreich, Italien und Großbritannien im Vergleich ­(1945–1956), Köln 22009; jüngst Eunike Piwoni, Nationale Identität im Wandel. Deutscher Intellektuellendiskurs zwischen Tradition und Weltkultur, Wiesbaden 2012. 28 Vgl. für eine Nachzeichnung dieser Debatte Dietz Bering, Die Epoche der Intellektuellen: 1889–2001. Geburt – Begriff – Grabmal, Berlin 2010, S. 491–520; als wohl umfassendsten Beitrag Richard Posner, Public Intellectuals. A Study of Decline, Cambridge 2001; für eine systematische Rekonstruktion des fraglichen Wandels Tilman Reitz, They don’t speak for us. Die Dekomposition der öffentlichen Intellektuellen, in: Das Argument 50 (2009), S. 103–109. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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In den 1960er und 1970er Jahren erlebten die politischen Intellektuellen dagegen eine Hochphase ihres Einflusses, konnten ihre Rolle öffentlichkeitswirksam wahrnehmen und gestalten.29 Die Randbedingungen waren günstig genug. In den untersuchten beiden Jahrzehnten hat sich sowohl das Feld geistiger Arbeit – paradigmatisch an den Universitäten – als auch der politische Resonanzraum dramatisch verschoben. Daran partizipierten gleichermaßen die Vertreter der Reformbewegungen im Osten, die Protagonisten der linken bis linksradikalen Mobilisierung im Westen sowie auch bereits etablierte Repräsentanten des Wissenschafts- und Kulturbetriebs. So verwundert es nicht, dass einem rasch bekannte Wortführer der Epoche in den Sinn kommen, die sich als »politische Intellektuelle« bezeichnet lassen: neben den schon Genannten etwa Theodor W. Adorno, Ralf Dahrendorf, Hans-Magnus Enzensberger, oder auch Arnold Gehlen. Bei anderen Namen wie Helmut Schelsky, Carl Schmitt, Alice Schwarzer, Ulrike Meinhof oder Friedrich August von Hayek wird man wohl zunächst – aus verschiedenen Gründen – mit der Zuordnung zögern. Manche traten, wie erwähnt, als scharfe Intellektuellenkritiker auf. Bei anderen lässt sich eine Klassifizierung als Intellektuelle möglicherweise nicht mit stillschweigend vorausgesetzten politischen Kriterien und Werturteilen in Einklang bringen. Manche Protagonisten der Zeit sind aber auch schlicht in Vergessenheit geraten, oder sie hatten schon in den 1960er und 1970er Jahren einen nur lokalen oder milieuspezifischen Wirkungskreis.30 So sind etwa viele Vertreterinnen der deutschen Frauenbewegung im kulturellen Gedächtnis wenig präsent, und wenige von ihnen verfügen über einen großen »Namen«.31 Unser Band soll nicht zuletzt solche komplexen Fälle aufschließen. Allgemein zielt er darauf ab, das Feld der bundesdeutschen Intellektuellen der 1960er und 70er Jahre unter drei Aspekten näher zu analysieren und zu systematisieren. Erstens schlagen wir strukturelle Bestimmungen vor, mit denen die soziale Einbindung und die politische Wirksamkeit intellektueller Tätigkeit transparenter und damit vergleichbar werden: ideengeschichtliche (Selbst-)Verortung, institutioneller Hintergrund, Strategien öffentlicher Einflussnahme. Zweitens sollen damit nicht nur die ohnehin bekannten politischen Figuren, sondern auch solche Intellektuelle in den Blick genommen werden, die in den 1960er und 1970er Jahren keine Hauptrolle in der Öffentlichkeit spielten und daher von der Forschung zumeist ignoriert worden sind. Auf dieser Grundlage lassen sich sinnvolle perspektivische Erweiterungen des Feldes der Intellektuellen 29 Vgl. dazu den Abriss von Sontheimer, Intellectuals, S. 75 ff. 30 Vgl. dazu auch Thomas Kroll, Linksnationale Intellektuelle in der frühen Bundes­ republik Deutschland zwischen Antikommunismus und Stalinismus. Der Kreis um die »Deutsche Woche«, in: Alexander Gallus / Axel Schildt (Hg.), Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und um 1930, Göttingen, S. 432–455. 31 Die Gründe diskutiert der Beitrag von Regina-Maria Dackweiler in diesem Band. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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und ihrer Erforschung vornehmen. Drittens versuchen die Beiträge des Bandes, auf diese Weise auch entgegen verfestigten kulturellen und wissenschaftlichen Mustern neu zu bestimmen, welche Ziele die Intellektuellen in ihren Kontexten verfolgten und was sie bewirkt haben. Für dieses Unterfangen bietet es sich an, die Zugänge der Zeitgeschichte mit Ansätzen der Wissenssoziologie zu verknüpfen. Dass eine solche Zusammenarbeit ein Desiderat darstellt, offenbart schon ein kursorischer Blick auf die einschlägigen Studien der letzten Jahre. Hier zeigen sich rasch Schwächen, die sich aus dem Zuschnitt und der Geschichte der beiden Disziplinen ergeben. Holzschnittartig formuliert: Theoriearmut in der Zeithistorie, eine begrenzte Materialbasis und zu geringere »Quellennähe« in der Wissenssoziologie.32 Die historische Forschung zum 20.  Jahrhundert hat in beachtlichem Umfang die Selbstverständnisse, Rollenbilder und auch die Sozialgeschichte der Intellektuellen aufgearbeitet,33 doch bleiben dabei theoretische Klärungen meist auf Definitionsversuche in den Einleitungen beschränkt, die vor allem der Typisierung dienen.34 Theoretisch angeleitete Analysen oder gar Theoriebildung spielen in den (relativ wenigen) historiografischen Monografien und den (zahlreichen) Sammelbänden zum Thema kaum eine Rolle. Und selbst wo anspruchsvolle Intellektuellenverständnisse herangezogen werden, steht nicht ihre Einbettung in größere Rahmentheorien, etwa zur Selbstbeschreibung sozialer Funktionssysteme (Luhmann), zum Legitimierungsbedarf der herrschenden Klasse(n) (Gramsci, Bourdieu) oder zur Macht diskursiver Ordnungen (Foucault, Lyotard, Laclau / Mouffe) zur Diskussion. Solche Verknüpfungen beziehungsweise Einordnungen werden (eher) in der soziologischen Intellektuellenforschung diskutiert. Doch stellt sich hier das Problem des Quellenmaterials und der Konkretisierung. Je allgemeiner der theoretische Anspruch ist, desto eher werden, wie es oft scheint, zum Beleg willkürlich gewählte und nicht zureichend historisch kontextualisierte Fälle herangezogen, individuelle Eigenheiten als exemplarisch oder maßgeblich betrachtet. Bei Klassikern wie Max Weber oder Karl 32 Vgl. dazu auch François Chaubert, Sociologie et histoire des intellectuels, in: Michel Trebitsch / Jean-François Sirinelli (Hg.), L’histoire des intellectuels aujourd’hui, Paris 2003, S. 182–200. 33 Vgl. jüngst die Studie von Doris Danzer, Zwischen Vertrauen und Verrat. Deutsch­ sprachige kommunistische Intellektuelle und ihre sozialen Beziehungen (1918–1960), Göttingen 2012. 34 Vgl. im Umkreis unseres Themengebiets etwa Dominik Geppert / Jens Hacke (Hg.), Streit um den Staat. Intellektuelle Debatten in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen 2008 (Einleitung: 9–22); Alexander Gallus / Axel Schildt (Hg.), Rückblickend in die Zukunft. Politische Öffentlichkeit und intellektuelle Positionen in Deutschland um 1950 und um 1930, Göttingen 2011 (Einleitung 13–32); Gangolf Hübinger / Thomas Hertfelder (Hg.), Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart 2000 (Einleitungsaufsätze, S. 12–44). Auch die bekannten französischen und englischen Überblickswerke wie S­ tefan Collini und Michel Winock sind im Vergleich eher theorieabstinent. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Mannheim versteht sich der unsystematische Fallbezug fast von selbst. Neuere Explorationen, von denen es in Deutschland freilich noch nicht viele gibt, halten sich an Einzelfiguren wie Habermas und Adorno,35 manchmal an die ganze Frankfurter Schule,36 mal an französische, mal an neoliberale Intellektuelle37 – je nach akutem Theoriebedarf, doch ohne methodische Kontrolle. Wie schwer das Problem wiegt, zeigen Diskussionen um quantifizierende Analysen in den USA. Den einschlägigen Studien von Charles Kadushin und Robert Posner38 wurde vorgeworfen, schon ihre Erfassung der zu untersuchenden public intellectuals sei letztlich intuitiv. So stehen Antworten auf die Frage, ob zumal öffentliche Intellektuelle eine bedrohte Spezies seien, auf schwankendem Grund.39 Zur Rekonstruktion struktureller Verschiebungen des Feldes scheint es tatsächlich nur begrenzt sinnvoll, statische Kriterien für den (bzw. einen) Typus des Intellektuellen festzulegen, um dann dessen Verbreitung zu untersuchen oder Lebens- und Karriereverläufe entsprechender Repräsentanten exemplarisch nachzuzeichnen. Jede genauere Betrachtung bringt wieder das variable Wechselspiel von Rollenbildern und Strukturbedingungen in den Blick, das die Geschichtsforschung detaillierter behandelt. Daher empfiehlt sich eine wechselseitige Ergänzung: Wissenssoziologische Generalisierungen sind am historisch und zeitgeschichtlich erschlossenen, konkreten »Material« zu prüfen. Umgekehrt gilt es zu ermitteln, ob historiografisch rekonstruierte Intellektuellentypen und Rollenverständnisse, Behauptungen zur ideen- und sozialgeschichtlichen Strukturierung intellektuellen Denkens und Handelns sowie schließlich die Auswahl mutmaßlich exemplarischer Biographien sozialtheoretischer Urteilsbildung standhalten. Unser Sammelband legt erste (in vielerlei Hinsicht tastende) Versuche einer Zusammenarbeit vor. Wir beanspruchen also nicht, die erwähnten disziplinären Schwächen und Beschränkungen bereits zu überwinden, wollen jedoch einem fachübergreifenden Austausch Raum bieten, der in wechselseitiger Reflexion und Korrektur Forschungsmöglichkeiten bestimmen 35 So namentlich Stefan Müller-Doohm; ein von ihm und Thomas Jung herausgegebener Sammelband zur Soziologie deutscher Intellektueller macht die Beschränkung auf Einzelfälle zum Programm (Fliegende Fische. Eine Soziologie des Intellektuellen in 20 Porträts, Frankfurt a. M. 2008, bes. S.  12 des Vorworts; vgl. zur Kritik den Beitrag von ­A ndreas Ziemann in unserem Band). 36 So Alex Demirović, Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt a. M. 1999 37 Bernhard Walpen, Die offenen Feinde und ihre Gesellschaft. Eine hegemonietheoretische Studie zur Mont Pèlerin Society, Hamburg 2004. 38 Charles Kadushin, The American Intellectual Elite. Boston 1974; Posner, Public Intellectuals. 39 Eine Zusammenfassung der seit den 1950er Jahren immer wiederkehrenden, in ihrem letzten Schub von Russell Jacoby angestoßenen und von Posner fortgeführten Debatte gibt Amitai Etzioni in: ders. / A. Bowditch, Public Intellectuals – an Endangered Species?, Lanham 2006, S. 1–27. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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kann. So soll ein Ausgangspunkt für tatsächlich interdisziplinäre Formen der Intellektuellenforschung gewonnen werden. Einige strukturierende Überlegungen zu Eigenheiten des Untersuchungsgebiets und der Weise, in der unsere Beiträge damit umgehen, seien hier vorangestellt. Hält man sich an die von Mannheim entwickelte wissenssoziologische Grundidee der »Selbstrelationierung«, mit der im vorliegenden Band auch Wolfgang Eßbach arbeitet, kommen unmittelbar methodische Probleme in den Blick, die sich der Intellektuellenforschung in beiden Disziplinen stellen. Historiker wie Soziologen müssen ihre Beziehung und besonders den Abstand zu ihrem Forschungsgegenstand theoretisch, politisch und personell ausloten. Dies gilt nicht nur, weil sich die untersuchte soziale Gruppe durch eigene Reflexionsstärke auszeichnet und einige charismatische Protagonisten hat, sondern auch, weil die ›junge‹ Vergangenheit der 1960er und 70er Jahre (zwei Beitragende sind zugleich Zeitzeugen) immer noch zu polarisieren vermag. Theoretisch gilt es vom Selbstverständnis zur Außenbetrachtung der Intellektuellen zu kommen. Reflektiert man ihr Rollenbild und ihre soziale Funktion, bieten, wie der Beitrag von Ingrid Gilcher-Holtey zeigt, engagierte Intel­lektuelle selbst analytisch scharfe und weitreichende Bestimmungen an. Gleichzeitig muss die Forschung über sie einen eigenen theoretischen Standpunkt gewinnen – und sei es nur, um Differenzen zwischen den Intellektuellenbegriffen heterogener oder gegnerischer Intellektuellenschulen zu verarbeiten. Hinzu kommt, dass die Verlockung intellektueller beziehungsweise symbolpolitischer Praxis stark zu sein scheint. Viele klassische soziologische, aber auch zeithistorische Ansätze laden den Intellektuellenbegriff normativ auf, unterstützen also selbst spezifische Formen des Engagements (oder der Zurückhaltung).40 Anders als im verbreiteten, von Dietz Bering aufgearbeiteten pejorativen Sprachgebrauch41 dominieren dabei häufig die positiven Bestimmungen. So war für Mannheim der Intellektuelle nicht allein berufen, über den Tellerrand der Klassenlage hinaus zu schauen, sondern als solcher »auf der Höhe der Zeit der jeweiligen Seinssituation: Er ist Kritiker veralteter Denk und Bewusstseinsstrukturen«,42 also all dessen, was Mannheim ›Ideologie‹ nennt. Diese Überzeugung lässt sich in vielfältigen Schattierungen vor allem bei Intellektuellen der europäischen Linken des 20. Jahrhunderts wieder finden.43 Eine ähnliche Funktionsbestimmung bietet aber noch Amitai Etzioni an, der die Intellektuellen als stete Herausforderer von ›Verständnisgemeinschaften‹ (communities of assumption) auffasst: 40 Die gilt etwa für die klassische historische Untersuchung von Tony Judt, Past Imperfect. French Intellectuals 1944–1956, Berkeley 1992. 41 Vgl. Dietz Bering, Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes, Stuttgart 1978, großenteils wieder aufgenommen in ders., Die Epoche der Intellektuellen. 42 Thomas Jung, Die Seinsgebundenheit des Denkens. Karl Mannheim und die Grund­ legung einer Denksoziologie, Bielefeld 2007, S. 262. 43 Vgl. etwa Angelo d’Orsi, Intellettuali nel Novecento italiano, Turin 2001. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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»In challenging obsolete communities of assumptions and paving the way for new, more current ones, PIs [d. h.: public intellectuals] serve to enhance the reality testing of their societies.«44 Folgt man der anderen Seite, etwa Schelskys Intellektuellenkritik,45 ergibt sich annähernd das Gegenteil – denn die von Schelsky erwartete und gefürchtete »Priesterherrschaft« bedeutet nicht zuletzt Realitätsverlust.46 Dass Differenzen in der Wirklichkeitsauffassung zuweilen auch im Zeitverlauf bzw. im Rückblick stabil bleiben, liegt nicht zuletzt an ihrer politischen Aufladung, die auf einen weiteren Aspekt der erforderlichen Selbstrelationierung verweist. Auch wenn das Links-Rechts-Schema gegenwärtig an Bedeutung verlieren sollte, in der Aufarbeitung von 1968 ist es noch voll intakt. Die Uneinigkeit in der politischen Kultur wie der Forschung erstreckt sich dabei sowohl auf die Anfänge als auch auf die Nachgeschichte der Studentenrevolte (das »rote Jahrzehnt«47), also auf den gesamten Untersuchungszeitraum des vor­ liegenden Bandes. Je nachdem, ob man die damals geführten Angriffe auf Kapitalismus und Bürgertum, Staatsautorität und Ordinarienuniversität beerben will oder für Verirrungen hält, werden unterschiedliche Aspekte hervor­gehoben bzw. andere »Fronten« rekonstruiert. Ging es der radikalen, marxistisch argumentierenden Linken vorrangig um die Lage der arbeitenden Bevölkerung, die Aufdeckung verdrängter NS-Vergangenheit und die Demontage restaurierter Autoritäten, oder dominierten hier eher Kulturkritik, (krypto-)religiöse Motive, Dogmatismus, Gewaltfantasien, Versprechen auf existenzielle und sexuelle Selbsterprobung? Waren staatsnahe Intellektuelle wie die Münsteraner Philosophen und Soziologen von Schelsky bis Lübbe im Grunde progressive Sozial­ reformer, bis der Linksradikalismus sie aufhielt, oder versahen sie korrumpierte Biografien, Netzwerke und Machtstrukturen mit einem Firniss demokratischer und technischer Legitimität, bis die kritische Generation ihre autoritäre Haltung ans Licht brachte? Wie bestimmten und besetzten Intellektuelle die auch damals nicht leere, linksliberale oder gemäßigt sozialdemokratische Mitte? Wie reagierten sie auf die spezifischen Herausforderungen der 1970er Jahre, die neue Problemkonstellationen (wie etwa die Krise des Nachkriegs-Fordismus oder die ökologische Frage)  hervorbrachten? Diese Fragen bestimmen einen Großteil des Bandes. Besonders die Beiträge von Regina-Maria Dackweiler, Jens Hacke, Christoph Henning, Gregor Kritidis, Thomas Kroll, Tilman Reitz und Patrick Wöhrle bemühen sich, hier Differenzierungen zu erarbeiten, ohne in heiklen Fragen auf eine eigene Position zu verzichten. Distanz zum politischen Streit gewinnen sie etwa durch ideengeschichtliche Vergleiche und sozialpsycholo­gische 44 45 46 47

Etzioni, Endangered Species, S. 7. Vgl. dazu in unserem Band den Beitrag von Patrick Wöhrle. Schelsky, Die Arbeit tun die anderen. So Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine Kulturrevolution 1967–1977, Frankfurt a. M. 42007. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Thesen, grundsätzlich aber durch ein strukturanalytisches Vorgehen, das die Wissenssoziologie in die Zeitgeschichte einschreibt: die Einbeziehung institutioneller und struktureller Kontexte, von den Universitäten bis zu den Äußerungs- und Verbreitungsmedien der Intellektuellen, deren Verschiebung und politische Aufladung die Beiträge Olaf Blaschkes und Andreas Ziemanns auch gesondert erschließen. Dies bedeutet zugleich Anregungen der französischen Zeithistorie aufzugreifen, welche die Intellektuellenforschung schon seit einiger Zeit für sozial- und kulturgeschichtliche Perspektiven geöffnet hat.48 Damit ist schließlich das dritte Distanzierungsproblem erreicht. Wenngleich in diesem Band häufig Einzelfiguren wie Helmut Gollwitzer, Alexander Mitscherlich oder Jürgen Habermas den Bezugspunkt von Rekonstruktionen und Analysen bilden, sollen über die personelle Fokussierung hinaus historische wie theoretische Aussagen dazu erarbeitet werden, wie Intellektuelle in den 1960er und 1970er Jahren typischerweise gehandelt haben und wie sie gemeinhin verstanden wurden. Dieses Anliegen ist nicht neu. Seit den Anfängen der modernen Intellektuellentheorie hat man immer wieder versucht, die Spannung zwischen Einzelfigur und Struktur aufzulösen, indem man die zweite Seite bevorzugt behandelt hat. Die bekannteste theoretische Äußerung in diesem Zusammenhang dürfte Antonio Gramscis Diktum sein, dass im Grunde alle Menschen Intellektuelle seien, aber nur einige eine ›intellektuelle Funktion‹ in der Gesellschaft (wozu für ihn wesentlich die Organisation von Menschen und politischer Zustimmung zählte)  erlernen und ausüben.49 Ein vergleichbares Programm betonter Strukturanalyse findet sich heute in dem diskurstheoretisch inspirierten Vorschlag, von der »sociology of intellectuals« zu einer »sociology of interventions« überzugehen,50 also die Sozialfigur des Intellektuellen ganz in der ihr bislang zugeschriebenen Tätigkeit aufzulösen. Tatsächlich lohnt es zu fragen, ob sich die sozialen Funktionen der Intellektuellen noch immer in einer einzigen Rolle bündeln lassen.51 Für die öffentlichen Debatten der bundes­ deutschen 1960er und 70er Jahre hätte diese These jedoch wenig Sinn. In jener Epoche gab es keinen Mangel an größeren und kleineren Wortführern, in verschiedenen Spielarten, die im vorliegenden Band eingehend untersucht werden. Aus den Stätten organisierter Weltdeutung, Universitäten, Kirchen, Parteien und dem publizistischen Feld gingen Einzelne hervor, die sich von den Vor48 Vgl. beispielsweise Michel Winock, »Esprit«. Des intellectuels dans la cité (1930–1950), Paris 1996. 49 Vgl. Antonio Gramsci, Gefängnishefte, übers. u. hg. v. W. F. Haug / P. Jehle / H.  Bochmann, Bd. 7, Hamburg 1996, S. 1500 (= Heft 12, § 1). 50 So die Titelstichworte eines neueren Überblicks zur Intellektuellensoziologie: Gil Eyal /  Larissa Buchholz, From the Sociology of Intellectuals to a Sociology of Interventions, in: Annual Review of Sociology 36 (2010), S. 117–137. 51 So etwa die These von Reitz, They don’t speak for us, sowie Hans-Peter Müller, Wozu (noch) Intellektuelle? Versuch einer Standortbestimmung, in: Merkur 66 (2012), S. 878–885. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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gaben ihrer Umgebung unabhängig machten und denen die Zeitgenossen gerade deshalb zutrauten, für andere sprechen zu können. Wenn man solchen Intellektuellen gerecht werden will, kann auf die ›induktive‹ Arbeit am Werk und Wirken der einzelnen Personen nicht verzichtet werden. Der Band trägt diesem Problem Rechnung, indem er neben der Kontextualisierung mittels Ideengeschichte, Institutionen- und Medienanalyse auch Fälle diskutiert, bei denen die exponierte Einzelperson auf tatsächlich einzigartige Weise Strukturbestimmungen verbindet. Letzteres bildet den Ausgangspunkt der drei den Band abschließenden Beiträge von Reinhard Mehring, Thomas Biebricher und Jens Ewen: Beim späten Carl Schmitt, der seinen Kreis gerade nicht öffentlich zusammenhält, bei Jürgen Habermas, der erst in den 1980er Jahren systematisch zwischen der Entwicklung seiner Kerntheorie und seinen politischen Interventionen zu unterscheiden beginnt, sowie bei dem notorisch sein Rollenverständnis wechselnden Enzensberger handelt es sich offenkundig um »Institutionen in einem Fall« (Gehlen). Die Perspektive auf individuelle Sonderwege ist freilich auch in anderen Analysen präsent, namentlich in denen Tobias Freimüllers und Andreas Ziemanns, die Alexander Mitscherlich und Alexander Kluge als innovative Experten- und Medienintellektuelle beleuchten. Eine wichtige Ausnahme präsentiert Regina-Maria Dackweilers Analyse der feministischen Intellektuellen, die das Muster individueller Profilierung zunächst bewusst unterlaufen haben. Bei allen umrissenen Distanzierungsversuchen bleibt die Faszination (oder auch Abstoßung) erhalten, von der indirekt die eingangs zitierten Debatten der späten 1970er Jahre Zeugnis geben. Das dürfte seinen Grund nicht nur im geringen zeitlichen Abstand haben, sondern auch in der Radikalität der geschilderten Äußerungen und Handlungsweisen. Die Intellektuellen des betrachteten Zeitraums bewegen sich eben erst auf der Schwelle zur Institutionalisierung ihrer Rolle. Sie sind noch nicht auf den Typus des gelegentlich politisierenden Professors oder Schriftstellers festgelegt, haben oft ein gebrochenes Verhältnis zu Heimatinstitutionen wie Universität und Kirche, pflegen einen recht experimentellen Umgang mit dem damals etablierten Parteienspektrum, finden neue Spielräume in sozialen Bewegungen und in der Umgestaltung ihres eigenen Tätigkeitsfeldes – oder auch als selbstbewusste Staatsfunktionäre. Zur Sozial­f igur des Intellektuellen mag nicht zuletzt gehören, dass sie besonders in solchen transitorischen Phasen ihre Tätigkeit und Wirkung entfaltet. Dieser Band ist aus einer interdisziplinären Tagung an der Friedrich-SchillerUniversität Jena hervorgegangen, die in Kooperation mit dem Jena Center Geschichte des 20. Jahrhunderts veranstaltet und mit Mitteln der Gerda Henkel Stiftung sowie der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen gefördert wurde. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

I. Theorie der Intellektuellen

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Wolfgang Eßbach

Intellektuellensoziologie zwischen Ideengeschichte, Klassenanalyse und Selbstbefragung

Intellektuellensoziologie, wie ich sie betreibe, bewegt sich zwischen drei Polen: dem Geisterreich der Ideen, der klassenförmigen Vergesellschaftung von Individuen und des Exerzitiums, das jeder absolviert, der liest, nachdenkt, etwas aufschreibt, es anderen kundtut und sich dabei fragt, ob es Bedeutung hat oder die Mühe nicht lohnt. Intellektuelle, Intellektualität, Intelligenz sind Termini, die schwer von polemischem Beigeschmack freizuhalten sind.1 Sie werden mal als Schimpfwort für verantwortungslose Störenfriede, mal als Geistesaristokraten, mal als Ideologen, mal als Kulturschöpfer u. a. m. aufgerufen.2 Ich empfehle, sich an einer weiten und neutralen Definition zu orientieren. Intellektuelle sind Leute, die hauptberuflich, nebenberuflich oder gelegentlich geistige, d. h. immaterielle Arbeit ausführen und die sich für die Resultate ihrer Arbeit, d. h. für Schriften und Werke ein Publikum suchen. Diese Definition ist historisch weit genug, um antike Philosophen und Propheten ebenso einzubeziehen wie mittelalterliche Klostergelehrsamkeit und Wanderpredigt, den Humanismus sowie die Juristen und Forscher der frühen Neuzeit und all jene, die mit ihren Schriften und Werken in den Zeiten danach bis heute sich ihre Öffentlichkeit zu schaffen bemüht haben.3 Diese Weite ist nötig, denn bis heute nähren Intellektuelle ihre Identität aus den Kornkammern der Tradition. Sie sind mal Propheten, mal Oberrichter, mal Eruditus, mal Fürstenberater, mal Genies, mal Entdecker und Erfinder, die ihre Gesellschaft mit irgendetwas Geistigem in Erstaunen versetzen möchten. Die Definition ist auch neutral genug, um Verengungen zu vermeiden, die entstehen, wenn man – wie in der französischen Forschung oft der Fall – die Figur 1 Auf Wunsch des Autors wurde in diesem Beitrag die alte Rechtschreibung beibehalten. 2 Siehe dazu Dietz Behring, Die Epoche der Intellektuellen. Geburt, Begriff, Grabmal, Berlin 2010. Eine allzu selten gelesene Intellektuellenschelte stammt von Carl Einstein, Die Fabrikation der Fiktionen, hg. v. Sybille Penkert, Reinbek 1973. 3 Exemplarisch für das Mittelalter: Alain de Libera, Denken im Mittelalter, München 2003, bes. S. 111 ff.; für die Frühneuzeit: Martin Mulsow, Moderne aus dem Untergrund, Hamburg 2002; für das 19. Jahrhundert: Christoph Charle, Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2001. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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des Intellektuellen erst in der Dreyfus-Affäre entstehen läßt.4 Ich halte mich in diesem Punkt an Max Weber, der Intellektuellen systematisch die Funktion der Sinngebung zugewiesen hat. Ideengeschichte, Klassenanalyse, Selbstbefragung sind je für sich genommen nicht nur weite Felder, sondern auch sperrige Gebilde, die zusammenzuhalten nicht leicht ist. Dennoch glaube ich, daß intellektuellensoziologische Forschung fehlgeht, wenn sie eine der drei Dimensionen einkürzt oder gar streicht.

Selbstbefragung Wer Intellektuellensoziologie treibt, kann einer Selbstbefragung nicht so leicht ausweichen, wie dies in anderen Untersuchungsfeldern der Soziologie möglich ist, etwa bei der Untersuchung von Obdachlosen, Gefängnisinsassen, Bergleuten oder Hochseefischern, d. h. von Milieus, denen professionelle Soziologen in der Regel nicht selbst angehören. Wer Intellektuellensoziologie treibt, muß nicht ins Feld gehen, er ist existentiell im Feld. Selbstbefragung gehört überdies als Forderung zum Kernbereich europäischer Kultur und tut allen gut. Sie kann mißliche Folgen haben, wie der Fall Sokrates zeigt, sie kann aber auch als Therapie heilsam sein, wie Sigmund Freud lehrte. Weil parrhesia, das Wahrsprechen riskant ist, gilt es, weder in der Sorge um sich noch im Mut zur Wahrheit nachlässig zu werden. Michel Foucault zitiert in seiner letzten Vorlesung Demos­t henes: »Ich weiß wohl, daß ich die Folgen nicht kenne, die sich für mich aus dem Gesagten ergeben, wenn ich von dieser Offenheit Gebrauch mache.«5 Für Wissenschaftler hat sich die Formel von der intellektuellen Redlichkeit eingebürgert, die lieber von Max Weber zitiert wird als vom großen Selbstbefrager Friedrich Nietzsche, der sie in christentumskritischer Absicht geprägt hat.6 Meist bleibt die Selbstbefragung im forum internum, in dem Obsession oder auch Wahn kaserniert werden können. Man kann sie aber auch so publik machen wie der in Deutschland unübersetzte und weitgehend unbekannte E ­ dgar Morin, eine der überragenden Gestalten der intellektuellen Szene Europas seit den 50er Jahren. Seine Soziologie, die systemischem Denken verpflichtet ist, nimmt radikal, d. h. intellektuell redlich ernst, daß der Wissenschaftler mit 4 Pascal Ory, Jean Francois Sirinelli, Les intellectuels en France. De l’affaire Dreyfus à nos jours, Paris 2004; Michel Winock, Das Jahrhundert der Intellektuellen, Konstanz 2003. Zum deutsch-französischen Vergleich siehe Hans Manfred Bock, Der Intellektuelle und der Mandarin? Zur Rolle des Intellektuellen in Frankreich und Deutschland, in: Frankreich-Jahrbuch 1998. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur, Opladen 1998. 5 Michel Foucault, Der Mut zur Wahrheit. Die Regierung des Selbst und der anderen II, Vor­ lesung am Collège de France 1983 / 84, Frankfurt a. M. 2010, S. 27. 6 Gerd-Günther Grau, Intellektuelle Redlichkeit und christlicher Glaube, Frankfurt a. M. 1958. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Haut und Haaren, seinen persönlichen Traumatisierungen, Erlebnissen, Euphorien usw. Teil dessen ist, was er untersucht. Selbstbefragung ist für Intellektuellensoziologie unverzichtbar, handelt es sich doch bei dieser Soziologie um eine Form von Kollegialität. Sie hat zwei Seiten: eine betrifft die Position in der sozialen Schichtung, die man innehat, die andere Seite betrifft den Stoff, die Ideen, die man mit Lebenden und Toten austauscht. Ein freiberuflicher Autor, ein beamteter Professor, ein Journalist, ein Ge­ legenheitsautor  – sie haben déformations professionnelles erworben, die ihre Kollegialitäten in der Regel in bestimmte soziale Kreise binden. Zudem differieren die Chancen, Zugang zum Archipel der Öffentlichkeiten zu bekommen, ebenso wie die Höhe des Einkommens und die Statussicherheit erheblich. Diese Unterschiede der sozialen Positionierungen machen es heute schwer, eine hinreichend große Schnittmenge gemeinsamer Antworten auf kollegiale Fragen zu finden, die es rechtfertigen, das Modell des universellen Intellektuellen als Richtschnur von Selbstbefragungen aufrechtzuerhalten. In diesem Modell hieß Intellektueller sein, wie Michel Foucault bemerkte, »ein wenig das Gewissen aller zu sein.«7 Die Sektoralisierung der Arbeitsgebiete und Teilöffentlichkeiten der Intelligenz läßt Foucault zufolge eine andere Gestalt in Erscheinung treten: den spezifischen Intellektuellen, zumal »die Schwelle des Schreibens als sakra­ lisierendes Merkzeichen des Intellektuellen« verschwindet.8 Die Selbstbefragungen für die spezifischen Intellektuellen orientieren sich an lokalen Konflikten, d. h. aber auch, sie werden riskanter. Die großen Gesänge der Freiheit und Gerechtigkeit, die früher einmal den Intellektuellen den Kopf kosten konnten, sind heute in demokratischen, rechtsstaatlich verfaßten Gesellschaften ohne Risiko. Dagegen lebt der Journalist gefährlich, der die interne Zensur in Fernsehanstalten zur Sprache bringt. So hat das alte »Erkenne dich selbst« heute einen konkreten Arbeitsplatz im System gesellschaftlicher Arbeitsteilung. Selbstbefragung ist weitaus näher an der Klassenlage als je zuvor. Die zweite Seite der Kollegialität, die für Intellektuellensoziologie unausweichlich ist, betrifft die Umgangsweisen mit den Ideen der anderen. Wo Kollegialität auf der Ideenebene nicht transparent gemacht wird, bleibt die iden­ tifikatorische Fusion mit einem Autor, einer Gruppe, einer Klasse oder einer Zeit unaufgeklärt. Ich weiß nicht, wie viele meiner Generation es waren, die sich mit Adorno und Benjamin verschmolzen oder mit Hegel und Marx in einer imaginären Gemeinschaft ihre Geborgenheit gefunden haben. Selbstbefragung meint hier: 7 Gespräch mit Michel Foucault mit A. Fontana und P. Pasquino, Juni 1976, in: Michel Foucault, Dits et Ecrits. Schriften, 3.  Bd, 1976–1979, Frankfurt a. M. 2003, S.  186–213, hier S. 205. 8 Ebd., S. 206. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Wie konnte es passieren, daß ich dazugehöre? Daß ich ein Luhmannianer oder ein Foucaultist, ein Bourdieu-, Agamben- oder Habermas-Fan geworden bin? Wie konnte es passieren, daß ich diese Größen an meiner Stelle reden lassen kann? Robert Merton hat einen wunderbaren Text über die seit dem 13. Jahrhundert perennierende Rede von dem Gefühl geschrieben, Zwerg auf den Schultern von Riesen zu sein.9 Selbstbefragung geht der Not nach, sich hinter Riesen verstecken zu müssen, oder der Selbstdeutung, epigonal zu sein. Für mich, der auf dieser Tagung zu den Verschiebungen im politischen Feld der 1960er und 1970er eine gewisse Zeitzeugenschaft nicht abschütteln kann, war es als Student der 60er Jahre unausweichlich, sich mit den Büchern zu befassen, die die Nazis verbrannt hatten. Für manchen, der noch im Krieg ge­ boren war, stand zuerst die Rezeption unterdrückter Bildungsinhalte auf dem Programm, wie sie in den unvergessenen Bänden der »sammlung insel« erreichbar wurden.10 Hinzu kam Werner Hofmanns »Ideengeschichte der sozialen Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts« von 1962 und dann das, was im Horizont des Freudomarxismus der Frankfurter Schule lag. Man wird als junger Mensch unabweislich in einer geistigen Heimat aufgezogen. Diese Heimat schützt vor den Verwahrlosungen des Intellekts und ist erstes Laboratorium für Geh­versuche. Selbstbefragung meint, sich zu überlegen, ob es nicht gut wäre, die Heimat zu verlassen und auf die Wanderschaft zu gehen. Das war in den 60er Jahren nicht einfach, wenn man bedenkt, daß außerhalb links-sozialistischer und links-liberaler Heimaten nur Feinde existierten: vor allem alle Arten von Neo-Faschismus. 1966 erschien eine im Umkreis Adornos entstandene über 600seitige Studie zu Max Stirner, in der bewiesen wird, daß »Stirnerianismus und Nationalsozialismus Variationsformen desselben faschistischen Ungeistes« sind.11 Das war ein noch massiveres Verbotsschild als die marxistischen Verdikte gegen anarchistische Literatur, der Friedrich Engels die Schriften seines ehemaligen Duzfreundes Max Stirner nach 1848 zugeordnet hatte. Rudi Dutschke hatte zwar in seiner von vielen parteiorientierten Sozialisten angefeindeten »Ausgewählten und kommentierten Bibliographie des revolutionären Sozialismus von Karl Marx bis in die in die Gegenwart« zur erneuten Beschäftigung mit Michail Bakunin, Peter Kropotkin, Enrico Malatesta und anderen ermuntert, über Max Stirner freilich kein Wort ver­

9 Robert K. Merton, Auf den Schultern von Riesen. Ein Leitfaden durch das Labyrinth der Gelehrsamkeit, Frankfurt a. M. 1980. 10 Richard Faber, Walter Boehlichs sammlung insel der 60er Jahre. Wiederaufnahme eines Walter Benjaminschen Projekts der 30er Jahre, in: Walter Boehlich. Kritiker, hg. v. Helmut Peitsch u. Helen Thein-Peitsch, Berlin 2011, S.181–212. 11 Hans G. Helms, Die Ideologie der anonymen Gesellschaft. Max Stirners ›Einziger‹ und der Fortschritt des demokratischen Selbstbewußtseins vom Vormärz bis zur Bundes­ republik, Köln 1966, S. 5. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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loren.12 Meine ideengeschichtliche Studie von 1978 über Stirner und Marx, neu ediert 1982, habe ich nicht nur als eine Wanderschaft in fremde Gegenden erfahren, sie war auch einer der Versuche meiner Generation, die zu Unrecht als Vorläufer des Nationalsozialismus in den Giftschrank gestellte Literatur zu dekontaminieren.13 Die nationalsozialistische Bewegung hatte alle jüdische Literatur und das ganze Erbe deutsch-jüdischer Symbiosen ausgemerzt, aber sie hatte sich auf der anderen Seite bemüht, das Gesamt deutscher Kultur, von Meister Eckhart über Martin Luther, Friedrich den Großen, Herder und den deutschen Idealismus, Ranke, Treitschke, Nietzsche bis zu jener Zeit, da sie selbst völkische Vorläufer zum Ende des 19. Jahrhunderts aufweisen konnte, zu annektieren. Dieser Kontext, verbunden mit der Präsenz vieler Lehrer, die mehr oder weniger in den Nationalsozialismus verstrickt waren, bildete den Horizont der Selbstbefragung und steuerte die Auswahl der Arbeitsgebiete. Zur Unterstützung der Arbeit an der Entgiftung der deutschen Ideen­ geschichte konnte man sich nach Amerika wenden, wo z. B. Walter Kaufmann 1950 ein mutiges Nietzsche-Buch geschrieben hatte oder wo ein philosophischer Pragmatismus zu Hause war, der trotz seiner Nähe zu Darwinistischen Ideen (und positiver Rezeption durch Mussolini) ein demokratisches Fundament aufzuweisen hatte.14 Unterstützung für meine Arbeit habe ich in Frankreich gefunden, da bei den Intellektuellen des »französischen Moments der Philosophie«, wie Alain Badiou sie genannt hat, nicht nur »gefährliches« deutsches Ideengut gepflegt wurde, sondern sich nach der Publikation von Alexander Solschenizyns »Der Archipel Gulag« ein zweites Feld der Kontamination und Verstrickung auftat.15 Die Frage lautete: Wie konnte ein zutiefst humanistisches Denken, das den Fortschritt der Menschheit hin zu einer befreiten Gesellschaft verkündete, in den Terrorismus eines gigantischen Systems von Arbeitslagern, eben den Archipel Gulag, auslaufen? Dieses Feld haben nicht nur Edgar Mo12 Rudi Dutschke, Ausgewählte und kommentierte Bibliographie des revolutionären Sozialismus von Karl Marx bis in die in die Gegenwart (1966 hektographiert), neu aufgelegt mit einem aktuellen Vorwort, Heidelberg u. a. 1969, S. 21. 13 Wolfgang Eßbach, Gegenzüge. Der Materialismus des Selbst und seine Ausgrenzung aus dem Marxismus – eine Studie über die Kontroverse zwischen Max Stirner und Karl Marx, mit einem Anhang Sexualität und Gesellschaftstheorie, Frankfurt a. M. 1982; ders., Max Stirner – Geburtshelfer und böse Fee an der Wiege des Marxismus, in: Harald Bluhm (Hg.), Karl Marx / Friedrich Engels: Die deutsche Ideologie, Reihe Klassiker aus­ legen, Bd. 36. Berlin 2010, S. 165–183. 14 Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosoph  – Psychologe  – Antichrist, Darmstadt 1962; Die Rezeption des amerikanischen Pragmatismus in Deutschland hat insbesondere Hans Joas vorangetrieben. Hans Joas, Praktische Intersubjektivität. Die Entwicklung des ­Werkes von G. H. Mead, Frankfurt a. M. 1980. Vgl. auch Peter Vogt, Pragmatismus und Faschismus. Kreativität und Kontingenz in der Moderne, Weilerswist 2002. 15 Alain Badiou, Abenteurer des Begriffs. Über die Einzigartigkeit der jüngeren franzö­ sischen Philosophie, in: Lettre International 71 (2005), S. 88–91. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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rin, Claude Lefort und Cornelius Castoriadis, sondern auch die antitotalitären »neuen Philosophen« in Frankreich in den 70er Jahren tapfer erschlossen, während die deutschen Intellektuellen überwiegend in eisigem Schweigen verharrten und eine Selbstbefragung verweigerten.16 Nach 1989 hat sich die Konstellation der Selbstbefragungen noch einmal verändert. Im open window der 90er Jahre war zweierlei möglich geworden. Der weltweite Durchbruch des Finanzkapitalismus und die marktradikale Durchsäuerung vieler Lebensbereiche einerseits, andererseits die intellektuelle Distanzierung von einer Epoche, der Hobsbawn den Titel »Das Jahrhundert der Extreme« gegeben hatte. Methoden der Distanzierung hatte die vielgestaltige postmoderne Theorie entwickelt. Diese Konstellation für die Selbstbefragung, die vielleicht bis heute noch anhält, hatte sich einmal daran zu orientieren, wie abseits der Totalitarismen einer ungeliebten Moderne Autoren der Zwischenkriegszeit für Politik und Biologie, für Gemeinschaft und Gesellschaft Begründungsformen entwickelt hatten, die nicht bloße Übernahmen angelsächsischer oder französischer Modelle waren. Hier liegt das Geheimnis der unerwarteten Plessner-Renaissance zum Ende des 20. Jahrhunderts.17 Zum anderen ging es darum, Wege zu erkunden, das Erbe der großen europäischen Linken, das weit mehr umfaßt als Marx, lebendig zu halten für die Fragen, die die auf uns zukommende Welt durchtechnisierter und durchästhetisierter Lebensverhältnisse stellen wird.18 Selbstbefragung bringt an den Tag, warum sich der Intellektuellensoziologe gerade diese und keine anderen Kollegen gewählt hat. Und so sehr es auch die soziale Schichtung und berufliche Position gewesen sein mag, die zum Interesse gerade an diesen Familien von Kollegen verleitet hat, es muß wohl auch an der Attraktivität bestimmter Ideen oder einer bestimmten Art zu denken ge­ legen haben.

16 Zur Solschenyzin-Debatte unverzichtbar ist: Ulrike Ackermann, Sündenfall der Intellektuellen. Ein deutsch-französischer Streit von 1945 bis heute, Stuttgart 2000. 17 Siehe dazu meine Studien: Der Mittelpunkt außerhalb. Helmuth Plessners Philosophische Anthropologie (1994), in: Wolfgang Eßbach, Die Gesellschaft der Dinge, Menschen, Götter, Wiesbaden 2011, S. 25–50; ders., Denkmotive der philosophischen Anthropologie, in: Justin Stagl / Wolfgang Reinhard (Hg.): Grenzen des Menschseins. Probleme einer Definition des Menschlichen, Wien, Köln, Weimar 2005, S. 325–349. 18 Siehe dazu meine Vorlesung »Karl Marx und die Frage nach der Gesellschaft« http:// www.podcasts.uni-freiburg.de/podcast_content?id_content=88, 31.08.2012. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Ideengeschichte Intellektuelle sind Leute, die es mit Ideen zu tun haben, die über das Private hinausgehen, d. h. mit Ideen, die mit einem Anspruch verbunden sind, im Unterschied zu selbstgenügsamen Ideen, wie jetzt spazieren zu gehen oder heute abend Fisch zu essen. Idee ist ein von Philosophien umstellter Terminus, und ohne Sinn für Philosophie funktioniert nichts in der Intellektuellensoziologie. Ideen haben bekanntlich eine Geschichte. Aber damit ist noch nicht geklärt, wie man sich die Verhältnisse von Ideen und Geschichte vorstellen soll. Ich konzentriere mich hier auf Niklas Luhmanns »Ideenevolution«, Quentin Skinners »Intellectual History«, Reinhart Kosellecks »Begriffgeschichte« und Kurt Flaschs Theorie einer »Historischen Philosophie«. Niklas Luhmann hat den Versuch unternommen, Ideengeschichte als Evolution von Differenzen zu konzipieren.19 So läßt sich – um an ein Beispiel Luhmanns zu erinnern – in der französischen Klassik die Differenz von plaisir und amour beobachten, die den »Aufbau eines semantischen Codes für amour passion« strukturiert und es möglich macht, zwischen wahrer und falscher Liebe zu unterscheiden.20 Luhmann bedient sich dabei noch des Terminus Idee, wenn er von »Ideengut der Tradition« oder »ideengeschichtlichem Material« spricht, aber um seine Ideen für seine Systemtheorie anschlußfähig zu machen, reformuliert er Idee als Sinn, spricht nicht von der Einheit einer Idee, sondern von Sinn als Differenz und übersetzt »Ideenevolution« als »Sinnevolution«.21 Bekanntlich hat Luhmann die große Flughöhe geschätzt, und er hat die Landungen seiner idealistischen Soziologie auf der Erdkruste, gerade im Bereich der Ideengeschichte, auf »die Hochformen vergangener Intellektualität« ausgerichtet22. Was ihn interessiert, ist die »Evolution ernsthafter, bewahrenswerter Semantik«.23 Im Bielefelder Milieu waren ihm die Kommunikations­probleme zwischen Systemtheorie und Geschichte wohlvertraut: »Forscher, die man mit dem Auftrag, festzustellen, wie es wirklich war, ins Feld jagt, kommen nicht zurück; sie apportieren nicht, sie rapportieren nicht, sie bleiben stehen und schnuppern entzückt an den Details.«24 Ideengeschichtliche Zusammenhänge sind kompliziert: wer hat was gelesen, wann zitiert, bzw. nicht zitiert, jemanden besucht, sich mit ihm ausgetauscht 19 Niklas Luhmann, Ideengeschichte in soziologischer Perspektive, in: ders., Ideenevolu­ tion. Beiträge zur Wissenssoziologie, hg. v. André Kieserling, Frankfurt a. M. 2008, S. 234–252. 20 Ebd., S. 240. 21 Ebd. S. 28 und S. 70, sowie S. 234 und S. 241. 22 Ebd. S. 242. 23 Ebd. S. 252. 24 Ebd., S. 234. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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oder ein Genie ignoriert usw.? All dem liegt zugrunde, daß, wie Paul Valéry bemerkt hat, intellektuelle Tätigkeit selbst den Charakter des Ungeheuerlichen hat.25 Und auch Luhmann hebt hervor, »daß die Inkommensurabilitäten in der Welt der Ideen höher sind als in der Welt der sogenannten Praxis.«26 Mit dem seit einiger Zeit grassierenden practical turn oder ritual turn oder dem Interesse an der Stummheit des Visuellen hat man einen Weg gefunden, die Inkommensurabilitäten in der Welt der Ideen vorerst zu entsorgen. Luhmanns Wegweiser zeigt dagegen in Richtung einer Verfeinerung systemtheoretischer Begriffsarchitektur und ihrer erkenntniskritischen Fundierung: »Man muß sich nur die Komplexität, Differenziertheit, Widersprüchlichkeit, interne Agnostik, Feinfühligkeit des tradierten Ideenguts vor Augen führen  – dann liegt auf der Hand, daß mit sehr einfach gebauten soziologischen Theorien, etwa Klassentheorien oder Elitetheorien, kein hinreichendes Diskriminiervermögen zu gewinnen ist. Wenn man nicht in der Theoriekonstruktion über alles Bisherige hinauskommt, und zwar sehr weit hinauskommt, sollte man als Soziologe das Feld räumen«.27

Ich denke, diese Fluchtbewegung auf immer höhere Palmen der Beobachtung ist nur hilfreich, wenn man das weghaben will, was Luhmann als alteuro­ päisches Gerümpel aus der Soziologie entfernen wollte: die Selbstbefragung und die Frage nach der Klassenbedingtheit des eigenen Denkens. In deutscher Sprache kann man nun nicht nur von einer »Idee« sprechen, sondern auch von einem »Begriff« – ein Wort, das mit seiner ganzen Musik nicht ins Englische zu übersetzen ist. So war Begriffgeschichte für Jahrzehnte etwas, was im angelsächsischen Wissenschaftskosmos unbegreiflich war. Zwischen der »Begriffgeschichte« Reinhart Kosellecks und der »Intellectual History« von Quentin Skinner kam es im Jahr der Epochenwende 1989 zu Auseinander­ setzungen, die Lucian Hölscher als eine Art »academic war« bezeichnete.28 Es ging im Kern um den Vorrang einer diachronen oder einer synchronen Perspektive für das Verhältnis von Idee / Begriff und Geschichte. Ausgangspunkt für Quentin Skinner, der der Cambridge School der politischen Ideengeschichte zuzurechnen ist, waren in den 1960er Jahren die Entwicklungen der Sprachphilosophie, insbesondere von John L. Austins Sprechakt­

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PaulValéry, Herr Teste, Frankfurt a. M. 1965. Luhmann., S. 243. Ebd., S. 247. Lucian Hölscher, The Theory and Method of German ›Begriffsgeschichte‹ and Its Impacts on the Construction of an European Political Lexicon, in: History of Concepts Newsletter Nr. 6, 2003, S. 3–7, hier 3 (http://www.helsinki.fi/hum/nordic/concepts/hocn6_web. pdf); Ernst Müller, Verspätete Wirkung. Reinhart Kosellecks Begriffs­geschichte international, in: Trajekte Nr. 23, 12. Jg., Oktober 2011, S. 22–25. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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theorie.29 Die Klassiker der politischen Theorie nach dem aufzurufen, was sie zur Idee der Demokratie, der Herrschaft, der Ordnung, der Freiheit usw. gesagt haben, führt Quentin Skinner zufolge zu einer ganzen Reihe von Mythen. Zum Beispiel zum Mythos der Lehre, bei dem »verstreute und eher zufällige Bemerkungen eines klassischen Theoretikers zu einer konsistenten ›Lehre‹ zusammengefaßt werden.«30 Oder es führt zum »Mythos der Kohärenz«. Dazu kommt der »Mythos der Vorwegnahme«, etwa daß Petracra, auf den Mont Ventoux steigend, die moderne Subjektivität oder Rousseau den totalitären Staat vorweg­ genommen habe, wie man in Ideengeschichten lesen kann.31 Dagegen erinnert Skinner an elementare Tatsachen wie die, daß auch Intellektuelle »in unterschiedlicher Gemütsverfassung und zu verschiedenen Zeiten ganz bewußt widersprüchliche Ideale und Anschauungen vertreten«32 und daß Denken »mehr als nur müheloses kaleidoskopartiges Jonglieren mit einer Handvoll mentaler Bilder« erfordert. »Es ist sicherlich eine empirische Binsenwahrheit, daß wir oft in ein schier unerträgliches Ringen mit Worten und ihren Bedeutungen verwickelt werden, daß wir häufig an die Grenzen unserer Intelligenz – und darüber hinaus – gelangen und dann verwirrt sind und daß der aus solchen Aktivitäten resultierende Versuch einer Synthese unserer Ansichten nicht immer zu kohärenten Lehren, sondern zumindest ebenso oft zu begrifflichem Chaos führt.«33

Die Kritik ideengeschichtlicher Mythen führte bei Skinner zu der bekannten Wendung, die es immer wieder von neuem einzufordern gilt: vom Text zum Kontext. Kontextforschung ist unendlich mühsam ist. In welcher allgemeinen oder spezielleren Lage befand sich der Intellektuelle, als er den Text, den ich gerade lese, schrieb, wer waren seine Freunde oder seine Feinde, welche Leser hat er sich vorgestellt, auf welche Kenntnisse konnte er sich stützen, auf welche anderen Texte hat er begriffliche Abwandlungen oder Neuprägung bezogen? Die Kontextdebatte hat sich seit dem Ende der 60er Jahre bekanntlich enorm ausgeweitet, vor allem nachdem man erkannte, daß Kontexte ja auch nur über Texte erreichbar sind, die wiederum in Kontexte eingebettet gehören.34 29 Zentrale Texte sind in dem instruktiven Sammelband: Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte, hg. v. Martin Mulsow und Andreas Mahler, Berlin 2010 zusammengestellt. Siehe auch Hartmut Rosa, Ideengeschichte und Gesellschaftstheorie. Der Beitrag der Cambridge School zur Metatheorie, in: Politische Vierteljahrsschrift 35 (1994), S. 197–223. 30 Quentin Skinner, Bedeutung und Verstehen in der Ideengeschichte (1969), in: Martin Mulsow und Andreas Mahler, S. 21–74, hier S. 27. 31 Ebd., S. 47. 32 Ebd., S. 56. 33 Ebd., S. 56. 34 Dominick La Capra Rethinking Intellectual History. Texts, Contexts, Language, Ithaca NY 1983. Wichtig wurde der Beitrag von Hayden White, Metahistory. Die historische © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Wenn man Ideen konsequent sprechaktorientiert aus ihrem situativen Kontext heraus interpretieren will, bleibt die Frage, wie man das Dauern einzelner Ideen erklärt. Reinhart Koselleck hat gegen den kontextuellen Situationismus darauf insistiert, daß ein Wandel der Semantik überhaupt nur identifizierbar ist, »wenn man weiß, daß eine Menge anderes gleich bleibt und also repetitiv ist. Nur auf dem Hintergrund semantisch und pragmatisch repetitiver Strukturen lassen sich Innovation und geschichtlicher Wandel in Semantik und Pragmatik denken, wahr­ nehmen und messen.«35

Begriffe sind nicht einfach frei verfügbare Instrumente, sondern »haben eine eigene, sprachimmanente Geschichte.«36 In strukturalistischer Perspektive hat es Begriffsgeschichte sowohl mit Strukturen als auch mit Ereignissen zu tun.37 Ein Ereignis ist das Neue, das noch nicht wiederholt wurde; wird es repetiert, so bildet sich eine Struktur, die um so fester wird, je öfter die Wiederholung stattfindet. In diesen Verhältnissen zwischen Ereignis und Struktur kann es rascheren oder langsameren Wandel, aber auch Brüche zwischen Zeitschichten geben. Besonders wichtig sind jene Prägephasen für ein Ensemble von neuen Ideen, wie dies Koselleck für die sogenannte europäische Sattelzeit Ende des 18. Jahrhunderts gezeigt hat. Es kann sein, daß im Hintergrund des Streits zwischen der »Begriffsgeschichte« Kosellecks und der »Intellectual History« der Cambridge School die verschiedenen klassischen Zeiten Englands und Deutschlands eine Rolle gespielt haben. Quentin Skinners »Foundations of Modern Political Thought« (1978) und John ­Pococks »The Machiavellian Moment: Florentine Political Thought and the Atlantic Republican Tradition« (1975) behandeln die italienische Renaissance und das englische 17. Jahrhundert als klassische Zeit der Gründung moderner poli­ Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a. M. 1991. Eine andere Lösung des Problems, daß Kontexte nur über Texte erreichbar sind, hat Dieter ­Henrich mit der Wendung vom Kontext zur Konstellation versucht. Ausgegangen wird dabei von einem gemeinsamen »Denkraum« verschiedener Autoren, die eine Konstellation bilden, wie z. B. die Philosophen des deutschen Idealismus. Vgl. Dieter Henrich, Grundlegung aus dem Ich, Frankfurt a. M. 2004. In einigen Aspekten ähnelt dies meiner Gruppen­ soziologie der Junghegelianer. Henrichs »Konstellationsforschung« fehlt mit ihrer Identitätsfixierung jedoch der Sinn für die Vielzahl der Iche und die kompetitiven Seiten der Dynamik von Gruppen. In Anlehnung an Henrich hat Martin Mulsow die »Kon­stella­ tionsforschung« weiterentwickelt. Vgl. Martin Mulsow / Marcelo Stamm, Konstellationsforschung, Frankfurt a. M. 2000. 35 Reinhart Koselleck, Die Geschichte der Begriffe und die Begriffe der Geschichte, in: ders. Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2006, S. 56–76, hier S. 60. 36 Ebd., S. 57. 37 Wolfgang Eßbach, Studium Soziologie, München 1996, S. 141 ff. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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tischer Philosophie. Die deutsche Klassik der »verspäteten Nation« (Plessner) beginnt erst Ende des 18.Jahrhunders, da wird unsere Moderne gesattelt. Auch Kosellecks Begriffsgeschichte hat einen linguistischen Ausgangspunkt. Es geht um »Les mots et les choses«, um Wort und Sache. Gleich ob man Idee oder Begriff sagt, Sprache registriert und verwandelt Sachverhalte, sie ist rezeptiv und produktiv.38 Man braucht daher zwei Fragerichtungen, eine semantische, die nach den verschiedenen Bedeutungen eines Wortes fragt, und eine onomasiologische, die Wörter und Wortfelder für eine Sache sammelt. Denn es kann geschehen, daß Wort und Sache in einem bestimmten Zeitraum gleich bleiben. Es kann aber auch geschehen, daß das Wort gleich bleibt, die Sache sich aber ändert, oder umgekehrt: das Wort ändert sich, und die Sache bleibt gleich. Schließlich können Sache und Wort so auseinandergehen, daß die alten Zuordnungen unverständlich werden.39 »Beide, Begriffe und Wirklichkeiten, haben ihre je eigne Geschichte, die zwar aufeinander verweisen, die sich aber auf unterscheidbare Weise ändern.« Dazu kommen die Tempodifferenzen, »so daß mal die Begrifflichkeit der Wirklichkeit, mal die Wirklichkeit der Begrifflichkeit vorauseilt.«40 Man könnte an dieser Stelle die Foucaultsche Diskursanalyse hinzunehmen.41 Hingewiesen sei auch auf die Tendenz zur Literarisierung von Theorie als Text oder als Erzählung, dem auch die Wendung von der Begriffs­ geschichte zur Metapherngeschichte folgt.42 Ideengeschichte als ein Pol der Intellektuellensoziologie führt, wenn man die hier nur skizzierten Theorien weiter verfolgen würde, zur philosophischen Frage, wie systematische Ansprüche mit historischen ausbalanciert werden können. Dazu hat Kurt Flasch, der grundlegende Studien zum philosophischen Denken im Mittelalter verfaßt hat, wichtige Überlegungen beigesteuert. Gegen die Selbstbeschreibung der meisten Philosophen, sich um eine ruhige, erhabene oder tiefe Wahrheit zu kümmern, hat Flasch die polemische Dimension philo­ sophischer Produktion hervorgehoben. »Die philosophische Produktion erfolgt nicht nur im stillen Anschauen der ›Sache‹ (…). Sie ist polemisch, und zwar in ihrem Inneren, nicht nur bei gelegentlichen Auseinandersetzungen.«43 Die polemische Seite der Philosophie ist jedoch nicht als ein bloßes Machtspiel zu 38 39 40 41

Koselleck, S. 61. Ebd. S. 62. Ebd. S. 67. Wolfgang Eßbach, Materialität des Diskurses, in: Anschlüsse. Versuche nach Michel Foucault, hg. v. Gesa Dane u. a., Tübingen 1985, S. 207–214.; ders. Deutsche Fragen an Foucault, in: ders., Die Gesellschaft der Dinge, Menschen, Götter, Wiesbaden 2011, S. 13–23. 42 Vgl. Hans Erich Bödeker (Hg), Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Methaphern­ geschichte, Göttingen 2002. 43 Kurt Flasch, Ideen. Zur Theorie der Philosophiehistorie, in: ders., Theorie der Philo­ sophiehistorie. Philosophie hat Geschichte, Bd.  2, Franfurt a. M. 2005, S.  15–72, hier S. 55. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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verstehen, bei dem das philosophische Argument als Waffe gebraucht wird, so wie es Pierre Bourdieu im wesentlichen auffaßt. Dies hieße, Philosophie und Ideologie zu fusionieren. Für die Ideengeschichte braucht man selbst eine Philosophie, die  a priori von der Pluralität der Philosophien ausgeht. Flasch geht davon aus, daß »Zeitlichkeit und Pluralität interne Merkmale des Philosophierens« sind.44 Das ist Philo­sophen in der Regel schwer zu erklären, vor allem, solange Philosophiegeschichte identifizierend betrieben wird. Flasch bemerkt dazu: »In der philo­ sophiehistorischen Forschungsliteratur besteht ohnehin eine Tendenz zur mentalen Uniformierung: Platonisierer schreiben über Platon, Kantianer über Kant, Marxisten über Marx.«45 Und für die Soziologie kann man anschließen: Weberianer schreiben über Weber, Habermasianer über Habermas, Luhmänner über Luhmann, Foucaultianer über Foucault usw. Die Reflexionsebenen der Geschichtlichkeit und der Gültigkeit, des Bildungswertes und der Fruchtbarkeit von Ideen, die im alten Griechenland einmal Götter waren, bevor Philosophen sie als Prinzipien übersetzten, miteinander zu verflechten, gehört zu den beflügelnden Arbeiten in diesem Feld. Ich verlasse den ideengeschichtlichen Pol der Intellektuellensoziologie und komme zu meinem dritten Pol, der Klassenanalyse.

Klassenanalyse Klassentheorie und Klassenanalyse gehören zu den Filetstücken der Soziologie, auch wenn sie zeitweise als vergiftet oder vergiftend beiseite gelassen werden. Das hat natürlich mit Marx und dem Marxismus zu tun. Auch sind Klassen­ fragen schwieriger zu handhaben als Spaltungen, die sich auf die biopolitisierbaren Unterschiede der Ethnien, Lebensalter und der Geschlechterdifferenz beziehen, in denen zumindest konzeptionell vergleichsweise zügiger Gleichheitsideale plausibilisiert werden können. Wer klären will, was Klassenanalyse für die Intellektuellensoziologie leistet, braucht einen Klassenbegriff. Verbreitet ist eine Modellvorstellung, die ich kompakte Klassen nennen möchte.46 Der klassenanalytische Blick richtet sich dabei auf Gemeinsamkeiten von Existenzbedingungen und Existenzweisen, die es rechtfertigen, relativ homogene Kollektive abzugrenzen. Quer durch die verschiedensten Aspekte gesellschaftlichen Lebens stößt man bei den Klassen44 Ders., Theorie der Philosophiehistorie. Philosophie hat Geschichte, Bd.  2. Einleitung zum ersten Teil, S. 11–14, hier S. 13. 45 Ders., Ideen, S. 53 f. 46 Wolfang Eßbach, Kompakte Klassen und Klasseneffekte. Überlegungen zur Klassentheorie, in: SOG. Konvergenz und Peripherie der Systeme, hg. v. Reiner Matzker, Heft 2, Berlin 1986, S. 5–15. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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individuen kompakter Klassen auf gemeinsame Charakteristika. Ihre fami­liale Herkunft, ihre Stellung in der Teilung der Arbeit, die Art ihres Lebensunterhalts, der Stil ihrer Lebensführung, die Klangfarbe ihrer Mentalität, ihre wiederkehrenden Interessen, ihre Art, in sozialen Konflikten zu agieren und zu reagieren, – all dies ist (nicht im Einzelfall, aber im Durchschnitt) ähnlich ge­ lagert und gerichtet. Ich möchte für unseren Zusammenhang zunächst ausführlicher auf Theodor Geigers Soziologie der Intelligenz eingehen, die im Jahr der Gründung der BRD erschien.47 Dann werde ich zwei kritische Punkte bei Geiger betrachten: 1. das Problem der der Bildung, das ich im Rückgang auf Karl Mannheims Wissenssoziologie der 20er Jahre diskutieren werde und 2. die Unterscheidung schöpferischer und repetitiver Leistungen der Intelligenz, deren Bedeutung Helmut Schelsky nach »1968« herausgestellt hat. Geiger fügt seine Soziologie der Intelligenz in die kultursoziologische Polarität von anonymer und repräsentativer Kultur ein.48 Anonyme Kultur ist, was jede Generation unmerklich »eingewoben in die sozialen Lebensabläufe selbst« übernimmt, ohne zu wissen, woher es stammt.49 Repräsentative Kultur manifestiert sich dagegen in Beständen, die »dingartig von der Person distanziert, als geistige Gegenstände in ihre eigene Ebene entrückt« sind.50 Man kann sagen, daß anonyme Kultur als etwas Eigenes ganz selbstverständlich ist, repräsentative Kultur dagegen als etwas Neues und Fremdes erscheint, das eine bewußte Aneignung erfordert. Tradition oder, mit heutigen Vokabeln gesagt, die Semantik kollektiver Identität, resultiert einerseits aus mühelosem Habitus, andererseits aus bewußter Auseinandersetzung mit der Fremdartigkeit überlieferter Bestände, ihrer Anpassung an die Gegenwart und ihrer Meliorisierung. Geiger unterscheidet drei Schichten: Akademiker, Gebildete, Intelligenz. Akademiker sind Menschen, deren Ausbildung akademisch genannt werden kann, weil die fachliche Tätigkeit durch Wissensbestände theoretisch unterbaut wird. Das beginnt in Europa mit Priestern, Juristen und Ärzten, die an Universitäten ausgebildet werden. Dem folgen Hochschulen für technischen und wirtschaftlichen Sachverstand. Geigers Akademiker ist »der akademisch geschulte Praktiker.« Er kann »dank gründlicher theoretischer Schulung anspruchsvollere Aufgaben« lösen im Unterschied zu »handwerksmäßiger Routine und Einübung fachlicher Verfahrensgewohnheiten […]. Theoretische Schulung sollte zu jenem Weitblick heranbilden, dessen eine dynamisch-fortschrittliche Gesellschaft bedarf.«51 47 Theodor Geiger, Aufgaben und Stellung der Intelligenz in der Gesellschaft, Stuttgart 1949. 48 Ebd., S. 13. 49 Ebd., S. 3. 50 Ebd., S. 2. 51 Ebd. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Diese Stufung des Ausbildungssystems existiert im Kern bis heute: von einer Ausbildung, die auf die Erfüllung von Routine-Tätigkeiten gerichtet ist, über duale Berufsausbildung bis zu den Fachhochschulen mit ihren unendlichen Spezialisierungen und der strengeren – heute bolognamäßig erodierenden – universitären theoretischen Schulung, die Voraussetzung dafür ist, daß die Bestände repräsentativer Kultur realisiert werden können. Durch die Tätigkeit des akademisch geschulten Praktikers »wird die Bevölkerung passiv und mittelbar der wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften teilhaftig gemacht.«52 In Absetzung dazu profiliert Geiger die Schicht der Gebildeten, »die auf aktive und unmittelbare Weise Anteil an den repräsentativen Beständen der Geisteskultur haben.«53 Bauweise und Figurenprogramm eines gotischen Domes erschließen sich ebenso wenig spontan wie eine Schrift von Spinoza oder von Sigmund Freud. Es bedarf der Aneignung und Verarbeitung. Bildung ist dabei persönliche Kultur und besagt, daß der Gebildete »selbst sich unmittelbaren Anteil am Kulturbestand seiner Zeit erworben hat und in der Gedankenwelt zu Hause ist, die hinter der Fassade der Zivilisation liegt.«54 Zivilisation ist hier nicht gegenüber dem Kulturbestand abgewertet, sondern wird als Anpassungsprozeß des Menschen an die Formentwicklung der sozialen Beziehungen und den Grad der Vergesellschaftung der Natur begriffen. Als eigene Schicht verlieren die Gebildeten im 20. Jahrhundert, Geiger zufolge, durch die fortschreitende Demokratisierung der Bildung ihre Kontur. »Die Gebildeten haben als solche keine gemeinsame gesellschaftliche Funktion mehr, nachdem die Volksaufklärung Bildung für alle proklamiert hat. Schicksal, Interessen und Lebensauffassungen derer, die man heute als gebildet bezeichnen kann, sind höchst verschieden, und die gesellschaftlichen Solidaritäts­fronten verlaufen nach ganz anderen Linien.«55 Bildung ist nicht mehr klassenbildend, sondern gestreut. Geiger nennt als Beispiele den Bankbuchhalter, der ein ägyptologisches Steckenpferd reitet, den Schuster mit astronomischen Liebhabereien am Feierabend, und er bemerkt: man findet in allen Schichten auch solche, »die nach jedem erdenklichen Maßstab ungebildet sind.«56 Schließlich profiliert Geiger die Intelligenz als »Schöpfer von Beständen der repräsentativen Kultur.« Dazu rechnet Geiger zunächst »bildende Künstler, Dichter, Schriftsteller, Komponisten, Forscher und Erfinder«; sie »tragen, ein jeder auf seine Weise, zur Mehrung der repräsentativen Kulturbestände bei, schaffen neue geistige Werte von ungleicher Lebensdauer und Bedeutung.«57 Diese gesellschaftliche Funktion rechtfertigt, sie als eigene Schicht zu fassen. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Ebd., S. 6. 55 Ebd., S. 12. 56 Ebd. 57 Ebd., S. 13. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Auch reproduktive Künstler: Schauspieler, Musiker und die »inszenierende Intelligenz«, d. h. Regisseure, Redakteure, Verlagsleiter und Intendanten, sind eingeschlossen.58 Dabei verzichtet Geiger auf Wertungen. Literaturnobelpreisträger gehören ebenso zur Intelligenz wie Verfasser seichter Kriminalromane, bedeutende Philosophen ebenso wie die Verfasser von Ratgebern zum Glücklich­ werden. »Gleich jedem anderen Beruf im arbeitsteiligen Gefüge der Gesellschaft hat auch die Intelligenz ihre Giganten und Zwerge – und wie überall, so sind auch hier die Zwerge in der Überzahl.«59 Wichtig ist: zur Intelligenz gehören bei Geiger nicht nur diejenigen, die originale Leistungen erbringen, sondern auch diejenigen, die diese popularisieren: »die vermittelnde Intelligenz«. »Diese Aufgabe gewinnt an Bedeutung im Mechanismus des Kulturlebens, je mehr dieses demokratisiert wird und je mehr die Spitzenleistungen spezialisierten geistigen Schaffens sich dem unmittelbaren Verständnis des Laien entziehen. Wie die Erzeugung wirtschaftlicher Güter durch die Güterverteilung ergänzt wird, so ist auf einer gewissen Entwicklungsstufe die Erzeugung von Kulturbeständen undenkbar ohne ein besonderes System der Entwicklung in volkstümlicher Form.«60 Zur vermittelnden Intelligenz gehören Lehrer ebenso wie »Volksredner«, worunter man sich nicht gleich Parteipolitiker vorstellen sollte, sondern vielleicht zuerst Reiseführer oder Stadtführer, die einem erklären, was es mit dem Gebäude auf sich hat, vor dem man als Besucher gerade steht. Maßgeblich für die Schichtgrenze zwischen Akademikern und Intelligenz ist die Leistung für die Erzeugung repräsentativer Kulturbestände und ihre eigenständige Reproduktion, Inszenierung und Vermittlung. Dabei gibt es wie bei allen sozialen Klassen Grenzbereiche. Geiger nennt die »Restaurant- und Tanzkapelle« und er schließt auch den Lehrer aus, »der seinen Schülern ein festes Pensum nach ordiniertem Lehrbuch und den Regeln erprobter Didaktik einpaukt.«61 Für die Politik zieht Geiger eine Grenze zwischen »dem Berufspolitiker, der die Technik des politischen Spiels in ausgetretenen Bahnen anwendet, und dem politischen Kopf, dessen Phantasie die Möglichkeit politischer Umgruppierungen erschaut, und sie unter neuen Losungen ins Werk setzt.«62 Leistungen der Intelligenz zeichnen sich durch einen Kreativitätsanteil aus. Die Pointe von Geigers Klassenanalyse der Intelligenz erschließt sich, wenn man sie gegen marxistische Theorien hält. Der ideelle Überbau ökonomisch bestimmter Klassen funktioniert bei Geiger nach derselben Innovationsdynamik wie die ökonomische Basis. Er schreibt: »Der Stellung des Unternehmertums in der Wirtschaft entspricht ziemlich getreu die Stellung der Intelligenz im 58 59 60 61 62

Ebd., S. 15. Ebd., S. 14. Ebd., S. 15. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Geistesleben. Ihren Mitgliedern ist die Aufgabe zugedacht, neue kulturelle Werte zu schaffen, immer ›neue Kombinationen des Geistes‹ auszuhecken und so als Pioniere der Kulturdynamik zu wirken.«63 Eine Intelligenzschicht dieser Art entsteht überhaupt erst mit der kapitalistischen Marktwirtschaft dann, wenn das Konkurrenzprinzip in das Geistesleben eindringt. Von daher ist die Schicht akademisch geschulter Praktiker historisch älter. Älter ist auch die im 20. Jahrhundert nicht mehr abgrenzbare Schicht der Gebildeten. Die Dynamik der Gesellschaft wird, durch den unternehmerischen Wettbewerb und die Innovationskraft der Intelligenz, in Richtung auf »Rationalisierung« und »Vergeis­tigung des Daseins« vorangetrieben. Somit finden sich bei Geiger schon früh Themen, die heute für Klassen­ theorien wichtig sind: das Anwachsen der immateriellen Anteile der menschlichen Arbeit, die den alten Unterschied von Kopf- und Handarbeit, der für die Intellektuellensoziologie lange bestimmend war, an den Rand drängt. Die »Multitude«, die Michael Hardt und Antonio Negri in ihrer Klassentheorie projektiert haben, beruht im wesentlichen auf einer »Soziologie der immateriellen Arbeit«.64 Auf der Seite des Kapitals haben Boltanski und Ève Chiapello, die Insertion von Ideen des linken Projekts der »autogestion« in die Manager­ ausbildung untersucht. Sie beschreiben den »neuen Geist des Kapitalismus« als einen, der dazu noch die Kultur- und Gesellschaftskritik der Avantgarde an entfremdeter Arbeit in sich aufgenommen hat.65 Es sei nur daran erinnert, daß heutige Bildungspolitiker eine Akademikerrate von 40 Prozent eines Jahrgangs fordern und Unternehmen sich um Job-Enrichments durch kreative Elemente bemühen, damit die Arbeit auch intellektuell Spaß macht. Kreativität und Intelligenz soll zum allgemeinen Charakteristikum der Arbeit werden. Nun hat Geigers Modell zwei kritische Punkte: einmal ist es nicht leicht aufzuzeigen, wo kreative Leistungen vorliegen und wo es sich um Leistungen akademisch geschulter Praktiker handelt. Man kann eine Kreativitätsvermutung auf fast alle Praxis ausdehnen und ebenso bei Literaturpreisträgern Routinen vermuten. Was eine kreative Leistung ist, stellt sich zudem oft erst Jahrzehnte später heraus. Der zweite kritische Punkt, auf den ich zuerst eingehen möchte, bezieht sich auf die Diffusion des Bildungsbegriffs, von dem Geiger spricht. In der Tat sind die Gebildeten als ein Stand, wie er im 18. Jahrhundert greifbar ist, im 20. Jahrhundert aufgelöst. Genauer gesagt, wird das Gebildetsein individualisiert und 63 Ebd., S. 40. 64 Michael Hardt, Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 300 ff. Siehe dazu auch die interessante Schrift von Thomas Seibert, Krise und Ereignis. Siebenundzwanzig Thesen zum Kommunismus, Hamburg 2009, insbesondere die Erläuterungen zu 6., 16., 21. und 23. These. 65 Luc Boltanski / Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003, zur Verbindung von Sozial- und Künstlerkritik z. B. S. 215. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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entzieht sich klassenmäßiger Zuordnung. Diese Tendenz hat einen der großen Kultursoziologen des 20. Jahrhunderts, der das Pech hatte, den älteren Bruder Max zu haben, nämlich Alfred Weber, dazu gebracht, von einer »sozial freischwebenden Intelligenz« zu sprechen, die als klassenungebundene Intelligenz fähig sei, die konflikthafte Zerrissenheit modernen Gesellschaften durch die Entwicklung von Kultursynthesen zu mäßigen oder zu überwinden.66 Die Idee einer schöpferischen Kultursynthese stammt bekanntlich von Ernst Troeltsch, der damit den historischen Relativismus überwinden wollte.67 Die Syntheseidee konnte aber auch dazu dienen, den Relativismus klassengebundener Perspektiven einzuschränken. Die Frage war nur: wie? Alfred Webers Habilitand Karl Mannheim hat mit seinem Vortrag auf dem Soziologiekongreß 1928 über Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen bekanntlich einen Grundlagenstreit ausgelöst, der nachhaltige Wirkungen hatte.68 Ohne ihn beim Namen zu nennen, griff Mannheim das Synthese­ konzept seines Lehrers an und behauptete: »Wenn man also die im sozialen Raum sich vollziehenden Denksynthesen nicht in ihrer Unmittelbarkeit verfolgt, sondern immer wieder zurückgreift auf jene Zentren, wo der Denkwille sitzt, und wenn man beobachtet, was die Verbindungen der Denkwollungen gleichsam regelt, so kommt man zu dem Ergebnis, daß (letzten Endes) die Denkbewegungen sich von den grundlegendsten Spannungen des sozialen Raumes her regulieren.«69

Mit der Einführung des Konkurrenzbegriffs verwandelte Mannheim die Kultursynthese in eine Pluralität interessengebundener Denksynthesen und grub dem Projekt einer relativismusüberwindenden Kultursynthese das Wasser ab. Mannheim hat in Ideologie und Utopie Alfred Webers Begriff der sozial freischwebenden Intelligenz noch einmal präzisiert. Die Gemeinsamkeit ihrer Vertreter bestehe im »Teilhaben am gemeinsamen Bildungsgut«, das aus sich bekämpfenden Tendenzen besteht. Dieser Intelligenz stehen dann zwei Möglichkeiten offen: Entweder sie schließen sich aus freier Wahl einer der sich bekämpfenden Tendenzen an, oder sie gehen den Weg des »Sich-Besinnens auf die eigenen Wurzeln, das Suchen der eigenen Mission, prädestinierter Anwalt der 66 Alfred Weber, Die Not der geistigen Arbeiter, München 1923. Eine angemessene Würdigung findet Alfred Weber bei Hans Peter Thurn, Kultur im Widerspruch. Analysen und Perspektiven, Opladen 2001, S. 61–67. 67 Ernst Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme (KGA Bd.16) Berlin 2008. 68 Karl Mannheim, Die Bedeutung der Konkurrenz im Gebiete des Geistigen, in: Der Streit um die Wissenssoziologie, 1. Bd., Die Entwicklung der deutschen Wissenssoziologie, hg. v. Volker Meja und Nico Stehr, Frankfurt a. M. 1982, S. 325–370. Der zweite von Meja und Stehr herausgegebene Band, Rezeption und Kritik der Wissenssoziologie, enthält die zentralen Beiträge im Anschluß an Karl Mannheims Thesen. 69 Ebd., S. 353. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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geistigen Interessen des Ganzen zu sein.«70 Mannheim denkt hier an die Möglichkeit einer Art Selbst-Bewußtwerdung der Intelligenz, eine Selbstbefragung auch des Soziologen als eines Intellektuellen.71 Ich komme nun zum zweiten kritischen Punkt der Geigerschen Soziologie der Intelligenz: Wie ist der Unterschied von akademisch geschultem Praktiker und der kreativen Intelligenz greifbar zu machen? Ich denke, die Schwierigkeit besteht darin, daß Geiger – wie aufgezeigt – zur Intelligenz nicht nur direkt produktive Künstler, Dichter, Schriftsteller, Forscher, Erfinder rechnet, sondern auch die vermittelnde Intelligenz: die Pädagogen, Berichterstatter und Popularisierer, bei denen der kreative Anteil oft zweifelhaft ist. Seit Geigers Zeiten sind die Arbeitsbereiche vermittelnder Intelligenz enorm angewachsen. Weite Teile der Journalisten und anderer Medienarbeiter definieren selbst das, was sie tun, als Vermittlungsarbeit. Von einer einzigen literarischen Neuerscheinung zehren ganze Heerscharen von Referenten und Aufmerksammachern, die mit geringer eigener schöpferischer Zutat wiederholen, was der Autor gesagt hat. Der Soziologe und Intellektuelle Helmut Schelsky hat 1975 eine umfäng­ liche Intellektuellensoziologie vorgelegt, bei der die Gruppe der vermittelnden Intelligenz eine zentrale Rolle spielt. Es wäre zu kurz gedacht, in dieser Arbeit nur eine Anti-68er-Kampfschrift zu sehen. Das ist Die Arbeit tun die anderen. Klassen­kampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen zweifellos. Aber es steckt noch mehr darin. Schelsky nimmt Abschied von den Erwartungen, die Karl Mannheim für die sozial freischwebende Intelligenz formuliert hatte. »Die Hoffnung, daß sich diese in die sozial-ökonomischen Klassengegnerschaften nicht verstrickte Gruppe der Intelligenz als ein den Klassenkampf ausgleichender Faktor auswirken würde, ist langfristig nicht bestätigt worden: dies lag nicht nur daran, daß diese ›freischwebende Geistigkeit‹ die innere Spannung zur Wirklich­ keit nicht aushielt und sich in soziale Identifikationen und Bindungen mit anderen Gruppen und Institutionen ›flüchtete‹, etwa in die radikalen Parteien, in die skeptische Wissenschaft, in die spirituellen Kirchen und Sekten usw. – was Mannheim bereits gesehen hat  –, sondern auch daran, daß die hier unterstellte Annahme, diese ›Intelligenz‹ habe keine eigenen sozio-ökonomischen Herrschaftsinteressen, falsch war«.72

Freischwebend sei sie nur in einer Übergangsphase gewesen, in der die Intel­ ligenz »die gruppeneigenen Interessen und sozialen Ziele noch nicht deutlich genug herausgearbeitet« hatte.73 Dies sei aber inzwischen geschehen. 70 Ebd., S. 138. 71 Ebd., S. 139. 72 Helmut Schelsky, Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen (1975), München 1977, S. 138. 73 Ebd., S. 138. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Was diese Intelligenz vermittelt, ist Schelsky zufolge eine moderne Sozial­ religion. Sie bedeutet gegenüber den schöpferischen Kulturleistungen kritischer Philosophie von Descartes bis zum philosophischen Pragmatismus einen entscheidenden Wandel. Ging es in der kritischen Philosophie darum, die »Spannung zwischen Wirklichkeitsanerkennung und kritischer Überprüfung der naiv-dogmatischen, übernommenen und bedingten Überzeugtheiten des Bewußtseins, der Motive und Werte der Weltorientierung« im Bewußtsein zu halten, so geht es der neuen Sozialreligion um das Versprechen der Ersparnis von Konflikten und die Ersetzung von Wirklichkeit durch Kritik.74 Die vermittelnde Intelligenz, für die Schelsky probeweise Begriffe wie »Reflexionselite« oder »Sinnvermittler« einführt  – »nur schweren Herzens« habe er im Buchtitel von »Intellektuellen« gesprochen  – diese Intelligenz verkündet »Sozial­verheißungen«, wie die »Verheißung der Befreiung vom Leistungsdruck«, die »Verheißung der Rationalität« und die »Verheißung der allumfassenden Mitwirkung«.75 Vermittelt wird die neue Sozialreligion gerade auch »durch die Allgegenwart des modernsten optischen Kommunikations- und Führungsmittels: des Fernsehens.«76 Die Diskussion um die Intellektuellen als einer sozialen Klasse hat Schelsky mit der Wendung zur Religionssoziologie beendet. »Weder die Vorstellung einer Gruppe des ›akademischen Bildungsbürgertums‹ noch die der ›freischwebenden Intelligenz‹ sind auf die neue Situation einer sozialen Heilsherrschaft noch anwendbar; beide zerfallen unter dem Funktionalanspruch und dem Gläubigkeitsdruck der modernen Entwicklung.«77 Es zeige »sich darin die Umwandlung der interessenhaft verhältnismäßig unabhängigen ›Intelligenz‹, die aus dem ›Bildungsbürgertum‹ erwachsen ist, zur neuen Herrschaftsklasse einer Heilslehre. Alle Versuche, eine solche neue Sozialreligion in den klassischen und in der modernen Soziologie noch im Schwange befindlichen sozialgruppenhaften Bestimmungen zu beschreiben, gehen an dieser auftauchenden geschicht­lichen Erscheinung vorbei«.78 Diese Ausmündung der Intellektuellensoziologie in eine Religionssoziologie, in der Heil und Herrschaft verknüpft werden und die an Max Webers Kern­ gedanken von einer Intellektuellenreligiosität anschließt, ist mit all ihrer polemischen Wucht bedenkenswert.79 Aber ich denke, sie verläßt die »ungeheure Tätigkeit, die man intellektuell nennt«, von der Paul Valéry gesprochen hat, zu 74 75 76 77 78 79

Ebd., S. 122 f. Ebd., S. 134 sowie S. 194–200. Ebd., S. 206. Ebd., S. 156. Ebd., S. 157. Hans G. Kippenberg, Intellektuellen-Religion, in: Peter Antes / Donate Pahnke (Hg.) Die Religion von Oberschichten. Religion – Profession – Intellektualismus, Marburg 1989, S. 181–201. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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schnell in Richtung Religion, ohne das religiöse Feld selbst genauer untersucht zu haben.80 Ich plädiere dagegen für eine Weiterentwicklung der Klassenanalyse der Intellektuellen in Richtung auf eine Soziologie von Intellektuellengruppen, wozu dann auch Bekenntnisgruppen gehören können. Die Differenz einer kreativen und einer routiniert vermittelnden Intelligenz, die bei Schelsky zur Ent­tarnung einer Schicht der Sinnvermittler geführt hat, die nicht kulturschöpferisch tätig ist, gilt es für die Gegenwart weiterzuentwickeln. Dabei hilft die in Westdeutschland nach 1945 aufgebaute Idealisierung von Öffentlichkeit als Heimstatt des Intellektuellen nicht weiter. Sie verstellt den realistischen Blick auf die heutige intransparente Verschachtelung von Teilprivatheiten und Teilöffentlichkeiten oder Inselöffentlichkeiten. Mit dem Aufstieg des Internet ist Öffentlichkeit auch nicht mehr umstandslos mit »Medien« zu identifizieren. Die Figur des »Medienintellektuellen«, die Stephan Möbius und andere vorgeschlagen haben, bedarf noch weiterer Differenzierungen.81 Denn was einen hauptberuflichen Journalisten von, sagen wir, einer Figur wie Peter Sloterdijk in Deutschland oder Bernard-Henri Lévy in Frankreich unterscheidet, ist der Umfang des Archivs, das er zu nutzen versteht, und die Zeitmenge, die zur Lektüre und zum Textverfassen zur Verfügung steht. Je schmaler das Archiv und je weniger Zeit vorhanden ist, sich kundig zu machen und an Worten zu feilen, um so größer ist die Angewiesenheit auf geistige Schablonen, Standardformulierungen und eine undurchdachte Spontaneität, die dem Betreffenden irrtümlicherweise als kreativ erscheint. Intellektuellensoziologie, die zu betreiben sich lohnt, bewegt sich zwischen drei Orten: der Feuerstelle der Selbstbefragung, dem weiten Meer der Ideen­ geschichte und dem Aktionsfeld der Klassenanalyse. Wollte man auf eine Dimension verzichten, so bestünde die Gefahr, das Ganze zu verfehlen.

80 Siehe dazu: Wolfgang Eßbach, Europas Religionen, das Erbe der Religionskritik und die kulturelle Globalisierung, in: Boike Rehbein / Klaus-W. West (Hg.): Globale Rekonfigurationen von Arbeit und Kommunikation. Festschrift für Hermann Schwengel zum 60. Geburtstag, Konstanz 2009; S. 163–176. 81 Stephan Möbius, Der Medienintellektuelle, in: Stephan Möbius / Markus Schroer (Hg.), Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Frankfurt a. M. 2010; ders., Intellektuellensoziologie  – Skizze zu eine Methodologie, in: Sozialgeschichte online  2 (2010), S. 37–63 (http://www.stiftung-sozialgeschichte.de). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

Ingrid Gilcher-Holtey

Konkurrenz um den »wahren« Intellektuellen Intellektuelle Rollenverständnisse aus zeithistorischer Sicht

Frankfurt, 28. Mai 1968: Im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks hat Alexander Mitscherlich einen Kreis von Intellektuellen zusammengerufen, um über die im Bonner Parlament zur Abstimmung anstehenden Notstands­gesetze zu diskutieren.1 Zwischen Rudolf Augstein und Theodor W. Adorno, Heinrich Böll, Harry Buckwitz und Martin Walser sitzend, prescht Hans M ­ agnus Enzensberger ungeduldig vor. Für ihn ist klar, welche Lehre es in diesem Moment aus der deutschen Geschichte zu ziehen gilt: »Bedenken«, so sein Argument, »sind nicht genug. Mißtrauen ist nicht genug, Protest ist nicht genug. Unser Ziel muß sein: Schaffen wir endlich, auch in Deutschland, französische Zustände.« Das Vorbild des Pariser Mai vor Augen ruft er zum landes­weiten Generalstreik auf. Nur zwanzig Minuten nach Ende der Sendung legen die Arbeiter von Opel Rüsselsheim die Arbeit nieder, binnen einer Stunde schließt sich Opel Bochum an. Einer Kettenreaktion gleich, springt der wilde Streik auf M ­ ercedes Benz in Stuttgart über, die Porsche-Arbeiter in Zuffenhausen sowie die BMWArbeiter in München schließen sich an, und noch vor Mitternacht legt auch die gesamte Belegschaft von VW in Wolfsburg die Arbeit nieder. Eines wird schlagartig klar: »Alle Räder stehen still, wenn’s der Enzensberger will.« Der fran­ zösische Soziologe Pierre Bourdieu verlässt Paris, um gemeinsam mit Jürgen Habermas vom Institut für Sozialforschung in Frankfurt die Streikwelle zu studieren sowie die Folgen des Manifests, mit dem Alexander Mitscherlich die Radiosendung geschlossen hat: In ihm erklären die versammelten Intellektuellen, in Zukunft immer wieder zusammenzutreten, wenn die Demokratie in Gefahr 1 Teilnehmer der Runde waren: Alexander Mitscherlich, Theodor W. Adorno, Rudolf Augstein, Ernst Bloch, Margherita von Brentano, Heinrich Böll, Harry Buckwitz, Martin Drath, Hans Magnus Enzensberger, Iring Fetscher, Hans Gollwitzer, Rolf Hochhuth, Walter Jens, Ulrich Kluge, Helmut Ridder, Wolfgang Pannenberg, Ulrich Sonnemann, Siegfried Unseld, Helmut Schauer, Martin Walser, Rudolf Wiethölter. Vgl. dazu Friedrich Karl Fromme, Aufruf zum Widerstand in klimatisierter Kühle. Intellektuelle erörtern in Frankfurt Notstandsgesetzgebung. Wieder einmal Publikumsbeschimpfung durch Enzensberger, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. Mai 1968, S. 7. Vgl. ferner Hans Magnus Enzensberger, »Schaffen wir endlich, auch in Deutschland, französische Zustände« (http://hiram7.wordpress.com/2007/09/26/hans-magnus-enzensberger-schaffenwir-endlich-auch-in-deutschland-franzosische-zustande/, 27.3.2011) © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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gerate. Die im Parlament zur Abstimmung anstehenden Notstandsgesetze werden nicht beschlossen. Die Große Koalition tritt zurück. Kurt Georg Kiesinger verlässt am 30. Mai 1968, wie einen Tag zuvor Frankreichs Staatspräsident Charles de Gaulle, mit einem Hubschrauber das Land. Hans Magnus Enzensberger ruft die erste deutsche Intellektuellenrepublik aus, Pierre Bourdieu die Internationale der Intellektuellen. Könnte es so gewesen sein? Haben 1968 und in den darauf folgenden Jahren die »Sinnproduzenten« die Herrschaft über die Güter-Produzenten erlangt, wie Helmut Schelskys Studie »Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen« (1975) suggeriert? Nähert man sich der Problematik der Intellektuellen mit dem methodischen Bezugsrahmen einer analytisch orientierten Zeitgeschichte, unterscheidet man mithin zwischen konkurrierenden intellektuellen Rollenmodellen, lässt sich zeigen, dass es auf dem Höhepunkt der 68er Bewegung nicht um die »Priesterherrschaft« der Intellektuellen ging, sondern die Intellektuellen vielmehr, angestoßen durch den Mobilisierungsprozess einer transnationalen Neuen Linken, New Left oder Nouvelle Gauche, eine existentielle Herausforderung erlebten. Jean-Paul S­ artre, der »totale Intellektuelle«, bekannte, 1968 »politisch auf Null« gewesen zu sein, und erklärte rückblickend: »Ich war auf Seiten der Studenten, aber im Grund merkte ich, daß ihre Bewegung gegen mich gerichtet war.«2 Das Auftauchen eines neuen Akteurs im politischen Feld fachte nicht nur Sartres Reflexion über die Rolle und Funktion des Intellektuellen an, sondern forderte insgesamt Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler heraus, neue intellektuelle Rollenmodelle nicht nur zu diskutieren, sondern auch auszuprobieren. Die Analyse des Rollenwechsels von Intellektuellen sowie der Transformation der Rolle des Intellektuellen setzt die Definition dessen voraus, was ein Intellektueller ist. Vier konkurrierende analytische Definitionen des Intellektuellen möchte ich daher zunächst vorstellen, bevor ich, zweitens, auf das Spannungsverhältnis zwischen der 68er Bewegung und den Intellektuellen eingehe und schließlich, drittens, drei Hypothesen über die Effekte der Neuen Linken auf das intellektuelle Rollenverständnis formuliere.

I. Konkurrierende Definitionen der Rolle des Intellektuellen Der Intellektuelle ist, folgt man der analytischen Definition Bourdieus, ein »bidimensionales« oder »paradoxes Wesen«. Zu Intellektuellen werden Schrift­ steller, Künstler, Wissenschaftler nur, »wenn (und nur wenn)« sie »über eine spezifische Autorität« verfügen, die ihnen eine »autonome (das heißt von religiösen, 2 Jean-Paul Sartre / Philippe Gavi / Pierre Victor, Der Intellektuelle als Revolutionär: Streitgespräche, Reinbek 1976, S. 52, 63. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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wirtschaftlichen, politischen Mächten unabhängige) Welt verleiht«, deren spezifische Gesetze sie respektieren, und »wenn (und nur wenn)« sie »diese spezifische Autorität in politischen Auseinandersetzungen« geltend machen.3 Daraus folgt: Erst die Einmischung / Intervention in das politische Feld macht Mitglieder der Intelligenz zu Intellektuellen. Je nach Form der Einmischung lassen sich unterschiedliche Typen des Intellektuellen unterscheiden: der »allgemeine«, der »öffentliche«, der »aktivistische« und der »spezifische« Intellektuelle. Der »allgemeine Intellektuelle« mischt sich in die politische Arena unter Berufung auf abstrakte, universelle Werte  – wie Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit – ein. Er übernimmt die Rolle des Kritikers der Macht, des Anklägers von Unrecht, Ungerechtigkeit und Unterdrückung, des Verteidigers der Opfer von Willkür. Geprägt wurde dieser Typus durch Voltaire. »Criez, et qu’on crie«4, schrieb Voltaire im April 1762 an Etienne Noël Damilaville. Seine Worte waren ein Aufschrei der Empörung und zugleich eine Aufforderung, die Empörung weiterzutragen. Gerichtet an die kleine Gruppe der Aufklärer, zielten sie darauf, eine öffentliche Meinung als Gegenmacht gegen die Justiz zu schaffen, die den hugenottischen Kaufmann Jean Calas zum Tode durch das Rad verurteilt hatte, aber auch gegen die Indifferenz in der Gesellschaft und gegen das antihugenottische Ressentiment, die mit dazu beigetragen hatten, dass Jean Calas vorverurteilt und des Mordes an seinem Sohn beschuldigt worden war. Überzeugt, dass der Fall Calas tragischer als alle Tragödien war, die er jemals geschrieben hatte,5 führte Voltaire einen dreijährigen Kampf zur Rehabilitierung von Jean Calas. Seine Kampagne wurde zum Vorbild für Emile Zola in der DreyfusAffäre. Der französische Soziologe Luc Boltanski hat gemeinsam mit der Historikerin Elisabeth Claverie jüngst im Rahmen seiner »Soziologie der Kritik« den Versuch gemacht, eine analytische Definition der »Affäre« zu erarbeiten, die den historischen Konnotationen Rechnung trägt, aber vom historischen Geschehen abstrahiert.6 Ein zentrales Element des Intellektuellen in der »Affäre« ist demnach a) die Verteidigung eines zu unrecht Beschuldigten, präziser noch: einer zu unrecht beschuldigten gewöhnlichen Person, b) die Umkehr der Rollen von Ankläger und Beschuldigtem, die Anklage des Anklägers sowie c) die Umkehr des Urteils über das Opfer und den Ankläger in der Wahrnehmung der 3 Pierre Bourdieu, Für einen Korporatismus des Universellen, in: ders., Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a. M. 42008, S. 523–535, hier S. 524. 4 Voltaire an Etienne Noël Damilaville, Brief vom 4.  April 1762, Besterman XXIV / D. 10406, S. 369 f., hier S. 369. Vgl. auch: Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), Voltaire. Die Affäre Calas, Berlin 2010. 5 Vgl. Peter Gay, Voltaires Politics. The Poet as Realist, London 21988, S. 275. 6 Bestrebt, die analytische Dimension des Begriffs von der alltagssprachlichen sowie von der historischen Konnotation abzuheben, wählt er den Ausdruck »forme d’affaire«, um die Affäre als »Figur im politischen Repertoire« zu charakterisieren. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Öffentlichkeit.7 Bleibt die Frage nach der Funktion der Affäre. Boltanski sieht diese in der Subversion der öffentlichen Meinung, in der Umkehr etablierter Wahrnehmungsschemata, in der Entstehung eines neuen Publikums, mithin in Elementen sozialen Wandels. Der »öffentliche Intellektuelle« sieht seine Aufgabe darin, so Ralf Dahrendorf, der den Begriff lancierte, »an den vorherrschenden Diskursen der Zeit teilzunehmen, ja deren Themen zu bestimmen und deren Richtung zu prägen«. Hat die Figur des »allgemeinen Intellektuellen« ihren Ursprung in Frankreich, sieht Dahrendorf, wenn er vom »öffentlichen Intellektuellen« spricht, die historische Referenz in Erasmus von Rotterdam (1465–1539). Der schwedische Soziologe Ron Eyerman, Co-Director des Center for Cultural Studies an der Universität Yale, hingegen verlagert die Genese des »öffentlichen Intellektuellen« in den anglo-amerikanischen Raum. Der »öffentliche Intellektuelle« kombiniere, so Eyerman, »Insider-Privilegien mit Expertenwissen, um die öffentliche Meinung und die Staatstätigkeit (public policy) zu beeinflussen«.8 Er versuche, Einstellungen zu verändern und die öffentliche Meinung zu beeinflussen, mit Hilfe der Wissenschaft und des Staates.9 Er interpretiere, so seine These, »the ­public for the powerful and the powerful for the public«.10 Als historische Referenz sieht Eyerman den amerikanischen Journalisten Walter Lippmann (1889– 1974) an, den Begründer des Magazins »The New Republic«, Berater Präsident Wilsons im Ersten Weltkrieg und Gesprächspartner zahlreicher Mitglieder der amerikanischen Machtelite im 20. Jahrhundert.11 »Öffentlicher Intellektueller« zu sein, heißt, so Dahrendorf, nicht wie Zola und Sartre für eine Sache Partei zu ergreifen, sondern »ein engagierter Beobachter« zu bleiben, nicht einzugreifen, sondern »den Durchblick« zu behalten. Dies kann, so Dahrendorf, nur gelingen, wenn der »öffentliche Intellektuelle« bei aller »innerer Teilnahme« ein »Zuschauer« bleibt, der es aushält, mit Widersprüchen zu leben, die aus konkurrierenden Werten entstehen.12 Für Dahrendorfs Definition des »öffentlichen Intellektuellen« bleibt jedoch eine hierarchisierende und universalisierende Setzung zentral: »Freiheit ist wichtiger als Gleichheit.«13 Der »aktivistische Intellektuelle« will eines explizit nicht: nur Zuschauer sein. Er grenzt sich vom »allgemeinen Intellektuellen« ebenso ab wie vom 7 Luc Boltanski / Elisabeth Claverie, Affaires, Scandales et Grandes Causes, in: dies. u. a. (Hg.), Affaires, Scandales et Grandes Causes. De Socrate à Pinochet, Paris 2007, S. 395– 453, hier S. 422. 8 Ron Eyerman, Between Culture and Politics, Cambridge 1994, S. 149. 9 Ebd., S. 145. 10 Ebd., S. 149. 11 Ebd., S. 142 f. 12 Ralf Dahrendorf, Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, München 22006, S. 67–71, hier S. 86. 13 Ebd., S. 50. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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»öffent­lichen Intellektuellen«. Die Gesellschaftskritik, Wertvermittlung und das Handeln des »aktivistischen Intellektuellen« erfolgen nicht unter Berufung auf abstrakte, universelle Werte, sondern unter Berufung auf ein als Träger universeller Werte angesehenes revolutionäres Subjekt. Als dessen Repräsentant wird jedoch nicht mehr die alte Arbeiterklasse, sondern werden die »neue Arbeiterklasse« oder neue soziale Rand-, Teil- oder Opfergruppen angesehen, vor allem die Befreiungsbewegungen der »Dritten Welt«. Ihre Interessen, Forderungen und Ziele »nach außen« zu vermitteln, und nicht wie der klassische marxistische Intellektuelle in der Tradition von Kautsky und Lenin »von außen« an sie heranzutragen, setzte sich der »aktivistische Intellektuelle« der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zum Ziel. Er rückte damit in die Rolle des »Vermittlers« von Wahrnehmungs- und Bewertungskriterien ein, die den herrschenden Sichtund Teilungsprinzipien der sozialen Welt entgegenstanden. Indes, der »aktivistische Intellektuelle« informiert nicht nur, indem er anderen seine Stimme oder Feder leiht, sondern ist zugleich bereit, die praktischen Kämpfe derjenigen zu unterstützen, in deren Namen er das Wort ergreift. Historische Referenzen für den Typus des »aktivistischen Intellektuellen« sehe ich im Engagement des französischen Philosophen Régis Debray in Kuba und Bolivien sowie im Engagement des amerikanischen Soziologen Tom Hayden in Newark in den sech­ ziger Jahren.14 Der »spezifische Intellektuelle«, dessen analytische Konzeption Michel Foucault in den siebziger Jahren entwirft, hört auf »Träger universaler Werte« zu sein und beruft sich nicht länger auf ein universales revolutionäres Subjekt. Er nimmt Abschied vom Intellektuellen als »Meister der Wahrheit und der Gerechtigkeit«, als »Repräsentant des Universalen« oder »Gewissen aller«.15 Er reiht sich vielmehr in die Tradition des »Wissenschaftlers als Experten«16 ein, der aufgrund des Wissens, dessen Inhaber er ist, in politische Kämpfe interveniert. Als eine erste Verkörperung des »spezifischen Intellektuellen« sieht Foucault den Atomphysiker Robert Oppenheimer an, der seine »spezifische Stellung in der Ordnung des Wissens in Anschlag gebracht habe, um die atomare Bedrohung der Menschheit aufzuzeigen.17 Foucault weist dem »spezifischen Intellektuellen« eine neue Rolle zu: »Die Rolle des Intellektuellen besteht nicht darin«, wie er schreibt, »sich ›vorweg oder etwas abseits‹ zu platzieren, um die stumme Wahrheit aller auszusprechen; sie besteht vielmehr darin, dort gegen 14 Vgl. dazu Ingrid Gilcher-Holtey, Das Dilemma des revolutionären Intellektuellen. Régis Debray in: dies., Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen, Weilerswist 2007, S. 262–305. 15 Michel Foucault, Die politische Funktion des Intellektuellen, in: ders., Dits et Ecrits. Schriften, hg. v. Daniel Defert u. a., Bd. 3, 1976–1979, Frankfurt a. M. 2003, S. 145–152, hier S. 145, 147. 16 Ebd., S.148. 17 Ebd., S.147. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Formen einer Macht zu kämpfen, wo er zugleich Gegenstand und Instrument dieser Macht ist: in der Ordnung des »Wissens«, des »Bewusstseins« und des »Diskurses«.18 Seine Rolle erlegt dem Intellektuellen, folgt man Foucault, die Aufgabe auf, »lokale«, »umständebedingte Kämpfe« zu führen sowie »sektorenbezogene Forderungen« zu stellen. Foucault geht dabei von einem Machtbegriff aus, der Macht »außerhalb des Modells des Leviathans« zu fassen sucht: in der Ubiquität von Machtbeziehungen, die das ganze Netz der Gesellschaft tief und subtil durchziehen.19 Den Typus des »spezifischen Intellektuellen« hat auch Pierre Bourdieu im Blick, wenn er den Intellektuellen die Aufgabe zuschreibt, sich im Feld der kulturellen Produktion für den Erhalt der Autonomie der kulturellen Produktions­ welten einzusetzen und, »um es mit altmodisch klingenden Worten«, wie er 1989 erklärte, zu sagen: »[für] die Verfügungsgewalt der Kulturproduzenten über ihre Produktions- und Distributionsmittel (und also auch über die Bewertungs- und Konsekrationsinstanzen).« Ausgehend von der Prämisse, dass die kulturellen Produktions- und Distributionsmittel sowie die Konsekrations­instanzen innerhalb des künstlerischen und wissenschaftlichen Feldes unter die Herrschaft der Wirtschaft geraten sind, appellierte er an das Engagement der Kulturproduzenten, diese Bedrohung unter Berufung auf die Leitidee des Feldes kultureller Produktion, Autonomie und Unabhängigkeit intellektueller und ästhetischer Kriterien, entgegenzutreten.20 Der Kampf für die Verteidigung ihrer eigenen Interessen ist, aus Bourdieus Sicht, ein Kampf der erfolgreich nur kollektiv geführt werden kann. Um als Gegenmacht zu den nationalen, supranationalen, ökonomischen, politischen und massenmedialen Mächten der Gegenwart wirksam zu werden, müssen die Intellektuellen, so Bourdieu, »sich in Bewegung setzen und sich auf internationaler Ebene (vielleicht gerade mit Hilfe der neuen Kommunikationstechnologien) organisieren, um einen wirklichen kollektiven Intellektuellen  – transdisziplinär und international zugleich  – zu schaffen.« Mit der Konzeption des »kollektiven Intellektuellen« ging Bourdieu, aus seiner Sicht, über den »allgemeinen Intellektuellen« und den »spezifischen Intellektuellen«, wie Foucault ihn definiert, hinaus.21 Eine historische Referenz benannte Bourdieu nicht. Sie könnte aber in dem Versuch Bertolt Brechts und Walter Benjamins am Ende der Weimarer Republik, eine Autorenzeitschrift »Krisis und Kritik« zu etablieren, gesehen werden. »Krisis und Kritik«, gerichtet an die Intelligenz, er­wartete von dieser, 18 Michel Foucault, Die Intellektuellen und die Macht, in: ders., Dits et Ecrits. Schriften, hg. v. Daniel Defert u. a., Bd. II: 1970–1975, Frankfurt a. M. 2002, S. 382–393, hier S. 384. 19 Ders., Dispositive der Macht. Michel Foucault über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978, S. 88. 20 Bourdieu, S. 530. 21 Ders., Und dennoch, in: ders. (Hg.), Intellektuelle. Markt & Zensur. Liber-Jahrbuch. Internationales Jahrbuch für Literatur und Kultur, Konstanz 1998, S. 102. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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über Selbstreflexion und Selbstkritik zu einer neuen, »anderen« Selbstdefinition der eigenen Interessen, des eigenen Standorts, des eigenen Verhaltens zu kommen und dergestalt Denken als ein Verhalten zu begreifen. »Eingreifendes Denken« nannte Brecht das intellektuelle Mandat, das die Gruppe erhob. Es zielte darauf, Wahrnehmungsschemata, Einstellungen und Verhaltensdispositionen zu verändern durch die Schaffung von Szenen, von neuen literarischen Techniken, neuen Formen der Literatur- oder Theaterkritik, neuen Sprach-, Musik- oder Architekturformen etc., die Einsicht und Reflexion freisetzten; Einsicht in Strukturzusammenhänge, Reflexion über Verhaltensweisen und -alternativen mit dem Ziel, dergestalt das Handeln von Individuen und Gruppen im Alltag, im Arbeits- und Berufsleben, sowie in der Arena der Politik zu reorientieren. Substantiell wurde das Ziel dieser Reorientierung nicht definiert; es blieb dem einzelnen überlassen, aus der Erkenntnis die Konsequenzen zu ziehen. Bindend für die Trägergruppe des Eingreifenden Denkens war jedoch: a) es konnte und sollte von den Kulturproduzenten ausgehen, b) die Produktions­ bedingungen in kulturellen Bereich grundlegend verändern, c) die Elemente der anderen neuen Kultur experimentell entfalten und erproben, d) sie gegebenenfalls wieder aufgeben, um suchend von Neuem zu beginnen. Grundlegend war darüber hinaus, dass das Eingreifende Denken auf der Basis von Kompetenzen, spezifischem Wissen, Fachwissen, mithin nicht – wie das Mandat des allgemeinen Intellektuellen – außerhalb beruflicher Zuständigkeit, ausgeübt werden sollte. Mit Hilfe dieser konkurrierenden analytischen Konzeptionen des Intellektuellen lassen sich, so meine These, der Rollenwechsel von Intellektuellen sowie die Transformation des intellektuellen Mandats infolge des Mobilisierungs­ prozesses der 68er Bewegung erfassen. Wie?

II. Auftritt des Bewegungsintellektuellen Kehren wir in den Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks zurück und fügen in die Rekonstruktion der Situation ein historisches Element ein, das in der fiktiven Darstellung ausgeblendet blieb: das Eindringen protestierender Studenten in den Saal, angeführt vom Frankfurter SDS-Repräsentanten, Hans-Jürgen Krahl. Das Mikrophon ergreifend, warf Krahl den anwesenden Intellektuellen – Augstein, Adorno, Böll, Buckwitz, Enzensberger, Mitscherlich und Walser  – vor, die APO verraten zu haben. Sein Auftreten sprengte die Versammlung und unterband Mitscherlichs Plan, die Versammelten als Gremium zu konstituieren, das, wann immer die Demokratie in Gefahr geriet, zusammentrat. Der Plan eines kollektiven Intellektuellen blieb im Keim stecken. Ob er sich realisiert hätte, bleibt fraglich, da es im Mai 1968 Spannungen nicht nur zwischen der Protestbewegung und den etablierten Intellektuellen, sondern auch unter © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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den etablierten Intellektuellen gab. Die Konkurrenzkämpfe innerhalb des intellektuellen Feldes waren groß. Die Frage, wer ein Intellektueller ist und wer es nicht ist, wer die »wahren« Intellektuellen sind, die das Wesen des Intellektuellen realisieren, war zutiefst umstritten. Definitionskämpfe sind Machtkämpfe und prägen als solche permanent das Feld der kulturellen Produktion, das zu den Feldern gehört, die an der Setzung von Setzungsprinzipien mitwirken, welche die legitime Weltsicht konstruieren. In der zweiten Hälfte der Sechziger Jahre wurden diese Machtkämpfe angefacht und synchronisiert durch das Auftauchen eines neuen politischen Akteurs im politischen Feld. »Papiertiger« zu sein, warfen die studentischen Protestgruppen der außerparlamentarischen Opposition den etablierten Intellektuellen – »allgemeinen« und »öffentlichen« – vor. Sie erschütterten dadurch das Selbst- und Rollenverständnis vieler Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler – darunter auch dasjenige vieler Mitglieder der Gruppe 47, die bis dato sich selbst als außerparlamentarische Opposition in der Bundesrepublik Deutschland betrachtet hatten.22 Schlagartig wurde klar, dass sich etwas verändert hatte. Es wurde manifest in Auftritten von, wie Bourdieu in »Homo academicus« schreibt, »studentischen Nobodies«, die auf dem Höhepunkt der Krise ins Rampenlicht traten und die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit erlangten. Sie verliehen der Protestbewegung ein Gesicht. In Paris war es im Mai 68 Sartre der Cohn-Bendit interviewte, nicht umgekehrt, in Freiburg Rudi Dutschke, der [im Januar 68] mit Ralf Dahrendorf auf einem Autodach diskutierte, in den USA Tom Hayden, der sich mit Robert Kennedy traf. Diese Bewegungsintellektuellen, wie ich sie nennen möchte, verfügten nicht annähernd über das symbolische Kapitel der etablierten Intellektuellen, an deren Seite sie traten oder gegen die sie aufbegehrten, aber häufig – wie im Fall von  Cohn-Bendit, Dutschke und Hayden  – über persönliche Ausstrahlung, Charisma. Ihr soziales Kapital hatten sie durch Redebeiträge in kleinen Trägergruppen, auf universitären Vollversammlungen oder durch Diskussionsbeiträge und Artikel in Organen der Bewegungsöffentlichkeit gefunden, bevor Funk, Fernsehen sowie die Massenpresse sie entdeckten. Soziale Bewegungen, wie die 68er Bewegung, brauchen Intellektuelle, insofern diese zur Systematisierung struktureller Unzufriedenheit und zur Entwicklung durchgreifender Lösungsvorschläge beitragen.23 Ihre zentrale Bedeutung resultiert nicht zuletzt daraus, dass soziale Bewegungen ihre Zielorientierung vielfach erst im Verlauf des Mobilisierungsprozesses entwickeln und daher im Rahmen der kollektiv geteilten Deutungsmuster auf Intellektuelle angewiesen sind. 22 Vgl. dazu Ingrid Gilcher-Holtey, Was kann Literatur und wozu schreiben? Handke, Enzensberger, Grass, Walser und das Ende der Gruppe 47, in: dies., Eingreifendes Denken, S. 184–221. 23 Joachim Raschke, Soziale Bewegungen. Ein historisch-systematischer Grundriß, Frankfurt a. M. 1988, S. 180. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Die Bewegungsintellektuellen schreiben, sprechen über die Gesellschaft und theoretisieren diese, so Ron Eyerman, aber nicht in den etablierten Institutionen, sondern über Organisationen und Kommunikationsmittel, die aus der Bewegung hervorgegangen sind.24 Diese allgemeine Definition, die Eyerman in seiner Studie »Between Culture and Politics« entfaltet, träfe auch auf Intellektuelle des 19. Jahrhunderts zu, die aus der Arbeiterbewegung hervorgegangen sind oder als Mitglieder der Intelligenz ihr Wissen, ihre Kompetenz der Arbeiterbewegung zu Verfügung gestellt haben. Das Neue an den Intellektuellen der New Left ist, dass sie nicht länger in der alten Arbeiterklasse das revolutionäre Subjekt sehen, sondern in der jungen Intelligenz, die es sich zur Aufgabe macht, Unzufriedenheit in der Gesellschaft zu artikulieren und in Protestaktionen und sozialen Bewegungen zu synchronisieren, wobei das Spektrum der Bündnispartner und damit der Trägergruppen der von ihr potentiell anzustoßenden Bewegungen von der »neuen Arbeiterklasse«, über neue soziale Rand-, Teil- oder Opfergruppen, zur schwarzen Bürgerrechtsbewegung und den Befreiungsbewegungen der »Dritten Welt« reichte. Für die Theoretiker der Neuen Linken galt die alte Arbeiterklasse als integriert, allenfalls, so Marcuse, in Frankreich nicht ganz. Erst der französische Mai 68 brachte die bereits totgesagte Arbeiterschaft auf die historische Bühne zurück und revitalisierte ihren Mythos als historisches Subjekt. Innerhalb der 68er Bewegung brachte dies Trägergruppen der alten Linken neues Prestige und Anhängerschaft. Indes, ein flächendeckender mehrwöchiger Generalstreik wie in Frankreich war in der Bundesrepublik Deutschland 1968 nicht in Sicht. Die fiktive Parole »Alle Räder stehen still, wenn’s der Enzensberger will« wäre nicht zuletzt auch an Hans Magnus Enzensberger gescheitert. Mit den »französischen Zuständen«, die es zu schaffen galt, einer von Heinrich Heine entlehnten Metapher, verknüpfte er ganz andere Vorstellungen. »Weder die Gewerkschaften, noch die kleinbürgerliche SPD«, so Günter Grass 1968, »zeigten sich den Ansprüchen des Hans Magnus gewachsen.« Auch die Gruppe 47, zu deren innerem Zirkel er gehört hatte, schrieb Enzensberger ab. Ihr Credo, dass Literatur in der Lage sei, die Mentalitätsstrukturen zu ändern, die den Aufstieg des Nationalsozialismus möglich gemacht hatten, war, aus einer Sicht, am 2. Juni 1967 an ein Ende gelangt. Die Gruppe hatte, aus seiner Sicht, niemals eine wirksame Opposition gegen die Restauration gebildet, sondern sich einer »Selbsttäuschung« hingegeben, war lediglich ein »Alibi im Überbau« gewesen. Auch ihre Aufrufe, Appelle, Manifeste, ge- und unterschrieben von Mitgliedern der Gruppe unter Berufung auf allgemeine abstrakte Werte, reichten, aus seiner Sicht, nicht mehr aus. Ein neuer Typus des Intellektuellen musste gedacht und erprobt werden: ein Intellektueller, der sich nicht über Wertsetzung und Dramatisierung von Leitideen definierte, sondern in und durch seine Ak24 Ebd., S. 101. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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tionen. Und das hieß für Enzensberger: durch »Störungen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens, ›Störung des autoritären Betriebs und Bildung von Gegeninstitutionen‹«.25 Denn: »Um einen Intellektuellen zu beurteilen«, konstatierte er, Régis Debray zitierend, »genügt es nicht, seine Gedanken zu prüfen: was den Ausschlag gibt, ist die Beziehung zwischen dem, was er denkt und dem, was er tut.«26 Im Großen Sendesaal des Hessischen Rundfunks rief Enzensberger nicht zum Generalstreik auf, sondern setzte zu einer »Publikumsbeschimpfung« an, wie Friedrich Karl Fromme in der FAZ konstatierte; konkreter noch könnte man sagen »zur Intellektuellenschelte«. »Hier säßen und redeten nun die«, wandte Enzensberger, wenn Fromme richtig mitstenographiert hat, ein, »die das taten, was Intellektuelle seit eh und je taten: Bedenken anmelden. Die Avantgarde des Protestes aber stehe draußen.« Gemeinsam mit Böll, Hochhuth, Habermas und Walser trat Enzensberger noch am selben Abend auf einem Teach-in in der Frankfurter Universität auf, wo Böll die Rundfunkkundgebung zu rechtfertigen versuchte mit den Worten, »man habe den Apparat der Prominenz« benutzt, um die Stimmen der Autoren in letzte Minute noch einmal in die Waagschale zu werfen. Die Studenten quittierten Bölls Rede mit Pfiffen. Krahl warf den Intellektuellen nichts als »Selbstagitation« vor und erklärte: »Im Funkhaus habe der Liberalismus nichts anderes als seine Hilflosigkeit demonstriert.« Kritik müsse praktisch werden, lautete die studentische Forderung. Rufe wie »Widerstand jetzt« waren bereits während der Sendung vom Publikum im Saal, darunter die beiden SDS-Vorsitzenden Wolf, skandiert worden. Martin Walser hatte sich nach Abschluss des Rundfunkgesprächs bereit erklärt, den Demonstrationszug zur Universität anzuführen. Es war eine Geste, aber, aus studentischer Sicht, nicht genug. Was die studentische Protestbewegung verlangte, war Unterstützung beim Universitätsstreik, bei der Besetzung von Instituten, waren praktische Vorschläge, den Protest weiterzuführen. Es war das Praxisverständnis, das die Studentenbewegung von den Schriftstellern im Funkhaus trennte. Martin Walser zum Beispiel, der nach Abschluss der Rundfunkdebatte den Demonstrationszug anführte, der zur Universität marschierte, kämpfte 1968 ff. für eine dokumentarische Literatur der Arbeitswelt27 sowie für ein »kollektives Schreiben« von Arbeitern.28 Er definierte »Schreiben« als »Handeln« und konstatierte, dass schon gehandelt sei, »wenn einer über Monate ein Betriebstagebuch führt, in dem er auf alle Finten eines Chefs dadurch antwortet, 25 Hans Magnus Enzensberger, Berliner Gemeinplätze II, in: Kursbuch 13, 1968, S. 196 ff. 26 Ders., Offener Brief (1968), in: Joachim Schickel (Hg.): Über Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt a. M. 1970, S. 233–238, hier S. 237. 27 Martin Walser, Berichte aus der Klassengesellschaft (Vorwort zu Erika Runge, Botropper Protokolle, Frankfurt a. M. 1968), in: ders., Ansichten, Einsichten. Aufsätze zur Zeitgeschichte, Frankfurt a. M. 1997, S. 22–280. 28 Ders., Wie und wovon handelt Literatur, in: Walser, 394–411. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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daß er sie in Prosa darstellt«. Gemeinsam mit Grass setzte Walser sich, wie die alte Linke die Organisation als Vermittlerin von Theorie und Praxis ansehend, nach Auf­lösung der Außerparlamentarischen Opposition für die Gründung eines Schriftstellerverbandes sowie den Schutz und die Ausweitung der Rechte von Autoren ein. Es ist nicht nötig zu ergänzen, dass die Große Koalition 1968 nicht zurücktrat und nicht Kurt-Georg Kiesinger, sondern Hans Magnus Enzensberger das Land verließ. Es ist möglicherweise auch überflüssig hervorzuheben, dass Pierre Bourdieu seine Vision vom »kollektiven Intellektuellen« erst 1996 realisierte mit der Gründung von Raison d’agir einer Art Netzwerk sozialer Bewegungen in Europa. Notwendig erscheint es jedoch, am Ende drei Überlegungen / Schlussfolgerungen über die Effekte der 68er Bewegung auf das intellektuelle Mandat, das intellektuelle Rollenverständnis zu ziehen.

III. Folgen für das intellektuelle Rollenverständnis Welche Folgen hatte das Auftauchen eines neuen Akteurs im politischen Feld, konkret: der Mobilisierungsprozess einer Neuen Linken, auf das intellektuelle Rollenverständnis? Die Impulse sind vielfältig und komplex und konnten ausgehend von einer Szene im Mobilisierungsprozess der Neuen Linken bei weitem nicht ausgeleuchtet werden. Wenn ich trotzdem versuche, drei Schneisen zu schlagen, dann ließe sich wie folgt argumentieren: Erstens: Der transnationale Mobilisierungsprozess der Neuen Linken hat das Selbstverständnis des »allgemeinen« und »öffentlichen Intellektuellen« in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland herausgefordert. In Reaktion auf die Bewegung haben zahlreiche Schriftsteller, Künstler und Wissenschaftler begonnen, ihr Rollenverständnis kritisch zu reflektieren und neue Rollen auszuprobieren. Hans Magnus Enzensberger zum Beispiel nahm einen solchen Rollenwechsel vor. Er löste sich von der Figur des »allgemeinen I­ ntellektuellen« und erprobte Elemente des »aktivistischen«. Andere Schriftsteller traten gemeinsam mit Lektoren und Verlagsmitarbeitern an, »die literarischen Produktionsverhältnisse« zu transformieren – das Autor-Verleger-Verhältnis und das Autor-Leser-Verhältnis. Indem sie dies taten, nahmen auch sie einen Rollenwechsel oder eine Kombination von Rollen vor. Günter Grass, der acht Jahre für die Gründung eines Autorenrates in seinem Verlag, dem Luchterhand Verlag, kämpfte, lieferte ein Beispiel hierfür. Zwar nahm er weiterhin von Fall zu Fall die Rolle des »allgemeinen Intellektuellen« wahr, experimentierte jedoch, indem er für mehr Autonomie des Autors in den Verlagen, für das Ende der, wie er es sah, »Leibeigenschaft« des Autors stritt, exzellent mit der Rolle des »spezifischen Intellektuellen«. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Zweitens: Der Mobilisierungsprozess der Neuen Linken brachte zugleich einen neuen Typus des Intellektuellen hervor, der sich mit dem Typus des »akti­ vistischen« Intellektuellen überschnitt. Im lag eine veränderte Wahrnehmung des Politischen zugrunde. Politik war für ihn nicht länger auf die Arena institutionalisierter Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse begrenzt, sondern bezog eine Vielzahl von Kommunikationsräumen ein, in denen es Regeln des Zusammenlebens, Autoritäts- und Abhängigkeitsverhältnisse, Lenkungsund Entscheidungsmechanismen performativ und diskursiv in Frage zu stellen und zu redefinieren galt. Dies hatte Folgen für das intellektuelle Rollenverständnis. Es nahm Macht- und Autoritätsstrukturen in allen Lebensbereichen, einschließlich der massemedialen Öffentlichkeit in den Blick, auf deren Echo der »allgemeine« und »öffentliche Intellektuelle«, um wirksam zu werden, angewiesen war. »Gegenmacht« und »Gegenöffentlichkeit« für umkämpfte Themen, Problemfelder oder diskriminierte Individuen und / oder Randgruppen der Gesellschaft zu schaffen und zu verteidigen, wurde Teil des intellektuellen Mandats. Setzte die kognitive Subversion von herrschenden Denk- und Wahrnehmungsschemata doch die Schaffung von autonomen, selbstbestimmten, selbstverwalteten Räumen voraus. Diese Voraussetzung ließ sich im Rahmen von sozialen Bewegungen oder in Anlehnung an diese leichter erfüllen als in der Rolle des Einzelkämpfers. Der Bewegungsintellektuelle, der aus der Neuen Linken der sechziger Jahre hervorging, war, so Eyerman, daher bereit »to leave the comfort and privileged distance of a profession to join popular movements«. Die Interaktion von Intellektuellen und sozialen Bewegungen kennzeichne auch und insbesondere die Neuen Sozialen Bewegungen. Eyerman vertritt die These, dass der durch die 68er Bewegung inspirierte Typus des Intellektuellen, die kollektive Identität der Neuen sozialen Bewegungen als Experte mitgestalte, sie zu rahmen versuchte. Hervorgehoben wird, dass er dabei Räume betrete, die von sozialen Bewegungen erschlossen worden seien. Der Lebensweg von Tom Hayden, den Eyerman nicht untersucht, wäre eine historische Re­ferenz für die Kontinuität des intellektuellen Engagements eines Repräsentanten der Neuen Linken. Drittens: Der »aktivistische« und der »spezifische« Intellektuellen als konkurrierende analytische Rollendefinitionen werden durch die Formierung einer intellektuellen Neuen Linken, ihres Mobilisierungs- und Zerfallsprozesses geprägt. Dies zeigt nicht zuletzt die Konzeption des »spezifischen Intellektuellen« im Rahmen des Engagements Foucaults in der Groupe d’Information sur les Prisons (G. I. P.), die zu den Nachfolgebewegungen der französischen 68er Bewegung zählt. Die Zeitgeschichte ist dadurch mit dem Problem konfrontiert, dass der analytische Bezugsrahmen, den sie zur Erschließung und Analyse historischer Konstellation heranzieht, selbst von dieser beeinflusst wurde.

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II. Politische Ideen und Gesellschaftsentwürfe

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Patrick Wöhrle

Das Denken und die Dinge Intellektuelle Selbst- und Fremdverortungen in den 1960er und 1970er Jahren am Beispiel der »Technokratie«-Debatte »Wenn man wirklich konservativ ist, dann müßte man heute enorm viel ändern, um angesichts der vielfältigen Änderungen etwas zu bewahren.« Niklas Luhmann

Soziologisch betrachtet erzeugt Streit nicht nur oder nicht einmal vornehmlich destruktive Wirkungen, sondern hat auch konstitutive und stabilisierende Funktionen und Konsequenzen. Das gilt wohl für kein gesellschaftliches Feld so sehr wie für das akademische. »Konflikte« schaffen gerade in der Wissenschaft den Eindruck einer gewissen Eigenauthentizität und – wenn die Übersetzung in breitere publizistische Organe gelingt – auch den einer allgemeinen gesellschaftlichen Relevanz: Wenn um etwas heftig gestritten wird, kann es so unwichtig nicht sein, sofern nicht aus der Beobachtung zweiter Ordnung eine »Scheindebatte« ausgemacht werden kann. Was den akademisch-politischen Streit über diese Dimension der konfrontativen Anerkennung hinaus so attraktiv macht, ist, dass mit und in ihm spezifische Zeithorizonte entworfen werden können, die als Subtext immer auch die Selbstverortung der beteiligten Intellektuellen mitführen. Die Einordnung eines Denkansatzes als »progressiv« oder »konservativ« stellt hier gewissermaßen das ideale Zuschreibungspaar dar: Gelingt sie, ist nicht nur der Zeitbezug gesichert – zukunftsorientiert vs. vergangenheitsfixiert –, sondern auch die über die »Sachen« umgeleitete Selbstbeschreibung des intellektuellen Feldes. Im Folgenden versuche ich an drei Protagonisten der Technokratie-, teils auch der Konservatismusdebatte der 1960er und 1970er Jahre, nämlich Helmut Schelsky, Arnold Gehlen und Jürgen Habermas, so sensibel1 wie möglich zu zeigen, wie sich kraft dieses Schemas in der 1 Die »Sensibilität« dieses Themas ist deswegen besonders hervorzuheben, weil solch eine Themensetzung – und da sind wir vielleicht schon bei einem Spezifikum auch noch des heutigen intellektuellen Diskurses – schnell den Eindruck erwecken kann, dass hier mit den vorgeschobenen Mitteln einer intellektuellensoziologischen Diskursanalyse die längst widerlegte Legende vom personellen wie ideellen »Neuanfang« der deutschen Geistes- und Sozialwissenschaften nach 1945 wiederbelebt, ja vielleicht gar ein »Reinwaschen« solcher Autoren erzielt werden soll, deren Kollaboration mit dem Dritten Reich unbestreitbar ist. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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intellektuell unübersichtlichen Situation der bundesdeutschen Nachkriegszeit mit diesen Zeithorizonten auch Selbst- und Fremdidentifikationen herausbildeten, in denen nicht nur das gesellschaftliche, sondern immer auch das eigene Verhältnis zu artifiziell-technisierten Lebenswelten einen neuralgischen Punkt darstellte. Die umrissene Fragestellung bringt es mit sich, dass im weiteren Verlauf der Überlegungen das Technische (Techno-) gegenüber dem Politischen (-­k ratie) analytisch klar privilegiert und vielleicht auch überakzentuiert wird, geht es doch nicht so sehr um die Rekonstruktion eines geschlossenen konservativen Gesellschafts- und Herrschaftsentwurfs, sondern eher um die diskursive Funktion, die einem ideengeschichtlich sehr »unwahrscheinlichen« Etikett in den 1960er und 1970er Jahren zukam: dem des technokratischen Konservatismus. Diese Verschiebung des Blickwinkels erklärt sich auch daraus, dass eine »schulgemäße« Rekonstruktion dessen, was unter technokratischem Konservatismus zu verstehen ist, in den einschlägigen Studien von Martin Greiffenhagen und Kurt Lenk2 schon länger vorliegt. Zudem weiß man seit einigen Jahren auch, welchen (indirekten und teils gebrochenen) Anteil einige der Autoren, die unter diesem Label rubriziert wurden, an der »liberalkonservativen« Begründung der Bundesrepublik3 hatten. Auch daher scheint es redundant, den »technokratischen Konservatismus« noch einmal schulgeschichtlich zu behandeln oder die mit ihm mehr oder minder »atmosphärisch« verwandten Schlüsselbegriffe – »post-histoire«, »Kristallisation«, »Sachzwang« – noch einmal kritisch durchzudeklinieren. Vielmehr soll hier ein relativ ungefilterter Einstieg in einige Debatten, Subdebatten und deren Vorgeschichten versucht und darin der Resonanzraum nachgezeichnet werden, in dem der »technokratische Konservatismus« seine diskursorientierende Kraft entfaltete – und das mit Sicherheit streitbare Ergebnis wird sein, dass dieses Label immer auch die Funktion hatte, eine durchaus unübersichtliche intellektuelle Gemengelage dieser Zeit politisch zu vereindeutigen und besagte Selbstidentifikationen von Intellek­tuellen abzusichern.

2 Vgl. Martin Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland. Mit einem neuen Text: »Post-histoire?« Bemerkungen zur Situation des »Neokonservatismus« aus Anlaß der Taschenbuchausgabe 1986, Frankfurt a. M. 1986, S. 316–346; Kurt Lenk, Deutscher Konservatismus, Frankfurt a. M. 1989, S. 231–244. 3 Vgl. Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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»Halbherzige« und »achsenzeitliche« Aussöhnungen mit der Moderne In Rückblicken der späten 1970er und der 1980er Jahre wird der Konservatismus der frühen Bundesrepublik oft durch eine überraschende »Aussöhnung« mit der Moderne gekennzeichnet – und dies relativ unabhängig davon, ob man Apologeten oder Kritiker des »technokratischen Konservatismus« befragt. Für Jürgen Habermas beispielsweise ist die »Aussöhnung« der »konservativen Technokraten« eine »halbherzige«4, weil sie den »bloß« zivilisatorischen Fortschritt in Technik, Industrie, Administration und Arbeitsteilung nunmehr bejahen, die sogenannte »kulturelle Moderne« aber nach wie vor ablehnen, ja beide Seiten gegeneinander ausspielen. Für Armin Mohler ist die technokratische Wende demgegenüber der entscheidende Befreiungsschlag für den deutschen Konservatismus: »Aussöhnung« bedeutet bei ihm – und dies ist wohl nur ein Unterschied in der Wertung, nicht so sehr in der Beschreibung –, dass der Konservatismus sich endlich nicht mehr in agrarromantischen und gemeinschaftsseligen Sentimentalitäten verliert, sondern wieder zu einer echten politischen Alternative geworden ist. Mohler verbindet damit eine höchst markante »Verschiebung im intellektuellen Feld«: Die »technokratischen Konservativen« hätten sich mit ihrem »nüchtern«-wissenschaftlich begründeten Ja zur Industriegesellschaft von aller antiquierten Weltanschaulichkeit gelöst und so eine »achsenzeitliche Wende« hingelegt; die »Neue Linke« dagegen habe spätestens im »BäumchenWechsel-Jahr« 1968 eine neue Heimat in der ehemals »konservativen Zivilisa­ tionskritik« gefunden, die lediglich mit der rousseauistischen Suche nach naturnah-»experimentellen« Lebensformen angereichert worden sei.5 Fragt man nach den intellektuellen Trägern der »achsenzeitlichen« Selbst­ erneuerung des Konservatismus oder aber eben der »halbherzigen« Aussöhnung mit der Moderne, fallen hauptsächlich zwei Namen: Arnold Gehlen und Helmut Schelsky. Für Mohler ist zumindest der Erstere zusammen mit Ernst Forsthoff die herausragende Figur einer »nüchternen Verwissenschaftlichung«6 des Konservatismus, der Hauptakteur einer »Tendenzwende für Fortgeschrittene«. Für Habermas hingegen schöpfen Schelsky und Gehlen aus ihren empirisch daherkommenden Argumenten einen agitatorischen Mehrwert ab: Mit ihrem »propagandistischen Hinweis«7 auf Sachzwänge heben sie »Technik und Wissenschaft« auf eben den ideologischen Thron, auf dem im Dritten Reich noch Gehlens dann gescheiterte »Führungssysteme« saßen. 4 5 6 7

Jürgen Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a. M. 1985, S. 54. Vgl. Armin Mohler, Tendenzwende für Fortgeschrittene, München 1978, S. 78 f. Vgl. ebd., S. 79. Jürgen Habermas, Technik und Wissenschaft als »Ideologie« [1968], Frankfurt a. M. 1974, S. 81. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Die Dinge scheinen also klar, ob man nun »von rechts« oder »von links« auf den »technokratischen Konservatismus« blickt, der in den 1960er und 1970er Jahren entweder »halbherzige« oder »achsenzeitliche« Aussöhnungen mit der Moderne betrieben hat. Wie schon einleitend angedeutet, soll es im Folgenden jedoch nicht vornehmlich darum gehen, welcher dieser Deutungen die größere Evidenz zukommt. Vielmehr ist es Ziel des ersten Schrittes, jene mehrschichtigen zeitdiagnostischen Positionen herauszuarbeiten, die im Konfliktfeld des »technokratischen Konservatismus« dann auch Rückschlüsse auf die damalige Dynamik entsprechender intellektueller Selbstverortungen zulassen.

Helmut Schelsky – eine Gründungsfigur des »technokratischen Konservatismus«? Für die »Zeithorizonte«, die sich im Laufe der »Technokratie-Debatte« herausbilden sollten, war wesentlich, dass die heute wohl lediglich konzeptionell verstandenen Gegenwartsdiagnosen des »technischen Zeitalters« und der »wissenschaftlichen Zivilisation« von vornherein in einen Resonanzraum eingelassen waren, in dem immer auch biographische Kontinuitäten nachhallten. Sie wurden weithin als sozialtheoretisch verpackte Selbstrechtfertigungen von politisch stark belasteten Autoren wahrgenommen, die die eigene politische Korrumpier­ barkeit dadurch vergessen machen wollten, dass sie Politik im »technischen Staat« kurzerhand selbst zu einem Anachronismus erklärten. Tatsächlich finden sich für eine solche Lesart einige Anhaltspunkte: So sprach etwa Schelsky bereits vier Jahre nach dem Ende des Dritten Reiches davon, dass eine »oppositionelle Grundeinstellung« gegenüber obrigkeitsstaatlichen Strukturen keine tragfähige Begründung verfassungs- und grundrechtlicher Normen darstelle, denn »durch den Sieg der industriellen Gesellschaftsordnung [sei] die Inten­ sität der ursprünglichen Verfassungsbedürfnisse erheblich gesunken«8. Gehlen wiederum goss seine kaum kaschierte Ablehnung des demokratischen Wohlfahrtsstaates, der »Milchkuh«, wie er ihn oft nannte, ebenfalls schon 1949 in eine Sozialpsychologie der industriellen Gesellschaft, und auch in dieser Schrift 8 Helmut Schelsky, Über die Stabilität von Institutionen, besonders Verfassungen. Kulturanthropologische Gedanken zu einem rechtssoziologischen Thema [1949], in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze, Düsseldorf 1965, S. 38–63, hier S. 49. Bei Schelsky finden sich weitere, vor allem wissenschafts- und mentalitätsgeschichtlich verpackte Aussagen, die immer auch als Selbstrechtfertigungen zu lesen sind: so etwa Spekulationen darüber, dass die Soziologie in der späten Phase der Weimarer Republik an ein inneres Ende gekommen sei und daher – so ist man versucht zu ergänzen – ihre nazistische Zerschlagung gar nicht mehr nötig gewesen wäre, oder die seltsam weh­leidige Stilisierung eines vermeintlichen ›Erkenntnisschicksals‹ der »in Deutschland verbliebenen Wissenschaftler« (Helmut Schelsky, Ortsbestimmung der Soziologie, Düsseldorf 1959, S. 57). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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ist bereits von gesellschaftlichen »Superstrukturen« die Rede, die durch die irreversible Kopplung von Industrie, Technik und Wissenschaft den eigentlichen politischen Handlungs- und Entscheidungsspielraum empfindlich begrenzen. Vor genau diesem Hintergrund wurde nun im weiteren Verlauf der 1960er Jahre auch die vermeintliche Gründungsschrift9 des »technokratischen Konservatismus« rezipiert, und zwar als ein »ebenso faszinierendes wie gefährliches Dokument konservativer Intellektualität«10. Dieser Text war es hauptsächlich, in dem laut Habermas »der propagandistische Hinweis auf die Rolle von Technik und Wissenschaft« sich anschickt, als »Hintergrundideologie« in »das Bewußtsein der entpolitisierten Massen der Bevölkerung ein[zu]dringen«11. Auch wenn man die Wirkungschancen sozialwissenschaftlicher Texte nicht gleich so hoch veranschlagt wie Habermas, finden sich bei Schelsky doch jene berüchtigten Passagen, die weithin als eine Apotheose technologischer Sachzwänge gelesen wurden: Die »Konstruktion der wissenschaftlich-technischen Zivilisation« habe »ein neues Grundverhältnis von Mensch zu Mensch geschaffen […], in welchem das Herrschaftsverhältnis seine alte persönliche Beziehung der Macht von Personen über Personen verliert«. Anstelle dieser persönlichen Herrschaft träten den Menschen jetzt »Sachgesetzlichkeiten« entgegen, die nicht mehr als »politische Entscheidungen setzbar und als Gesinnungs- und Weltanschauungsnormen nicht verstehbar«12 seien. Verbindet man bei der Lektüre dieser Passagen wie erläutert biographische und konzeptionelle Aspekte, so drängt sich fast selbstverständlich eine »substitutionslogische« Deutung auf, die für weite Teile der damaligen Technokratie-Kritik dann auch die entscheidende wurde: nämlich dass die betreffenden Intellektuellen, nachdem ihre eigentliche gesellschaftspolitische Vision des Führerstaates gescheitert war, nun schnell auf die heruntergekühlte Ersatzprogrammatik einer Diktatur der Dinge umschwenkten – »Technokratie« also gewissermaßen als »Autoritarismus plus Elektrifizierung«. Blickt man aus zeitlicher Distanz auf die Gesamtanlage des betreffenden Textes zurück, so dürften einen gegenüber dieser Deutung jedoch recht bald einige Unsicherheiten und Zweifel beschleichen. Schelskys zweifelsohne streitbaren Aussagen zur neuen Anonymität von Herrschaftsverhältnissen oder zu den Anachronismen politischer Semantik bilden nämlich keineswegs das Zentrum seiner Reflexion, sondern belegen lediglich exemplarisch die Brüchigkeit traditioneller Unterscheidungen zwischen Kultur, Natur und Technik. Im Zuge 9 Vgl. Helmut Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation [1961], in: ders., Auf der Suche nach Wirklichkeit. Gesammelte Aufsätze zur Soziologie der Bundes­ republik, Düsseldorf 1965, S. 449–499. 10 Günther Ropohl, Zur Technokratiediskussion in der Bundesrepublik Deutschland, in: Hans Lenk (Hg.), Technokratie als Ideologie. Sozialphilosophische Beiträge zu einem politischen Dilemma, Stuttgart 1973, S. 58–76, hier S. 58. 11 Habermas, Technik und Wissenschaft als »Ideologie«, S. 81. 12 Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, S. 465. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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der industriellen Vergesellschaftung habe sich das Natur-Kultur-Verhältnis so sehr kompliziert, dass beide Begriffe nicht mehr einfach im Gegensatz stünden und der epistemische Status des Begriffs »Mensch« vor neue Probleme gestellt werde. Besonders in Gestalt der »Humantechniken« kündige sich eine neue Form sozio- und anthropotechnischer Praxis an, die die »Umkonstruktion und Neuformung des Menschen selbst in seinen leiblichen, seelischen und sozialen Bezügen«13 zum Gegenstand habe. Die exemplarische Durchführung dieses Grundgedankens gehorcht einem immer gleichen Kompositions- oder eher einem »Dekompositionsprinzip«, das als »konservatives« wohl mehr schlecht als recht zu bezeichnen ist. Schelsky »dekomponiert« nämlich vor allem hergebrachte Begriffe und Werte, indem er idealistische und humanistische Traditionsbestände mal mit dem Realitätsdrive amerikanischer Autoren (David Riesman, James Burnham), mal mit den empirischen Befunden der Betriebs- und Industriesoziologie interferieren lässt. Heraus kommt bei diesem Verfahren eine intensive Selbstbefragung gängiger Techniktheorien, die sich explizit auch gegen Gehlen wendet – die Rede von der »Schelsky-Gehlenschen Position«14 ist daher sehr irreführend und grob verallgemeinernd. Schelsky bestreitet gerade, dass sich technische Phänomene noch mit der äußerst eingängigen Theorie seines Lehrers begreifen ließen. Gehlen ging davon aus, dass sich das »Mängelwesen Mensch« im Verlauf der Gattungs­ geschichte immer erfolgreicher behauptete, indem es seine ursprünglich am Körper festsitzenden »Handlungskreise« zunehmend objektiviert und nach außen verlagert habe, während es sich selbst gewissermaßen gleich geblieben ist. Eine entsprechend klare Trennung zwischen »menschlicher« Natur und »künstlicher« Technik aber würde die Tatsache, dass der Mensch sich in den Humantechniken mittlerweile selbst kontingent setze, ebenso wenig treffen wie der Gegensatz zwischen »hoher« innerer Kultur und »bloßer« äußerer Zivilisation. Das eigentliche Zentrum der Schrift bildet also keineswegs eine »technokratische« Programmatik, und ebenso wenig marschiert Schelsky mit ihr begeistert im Schritt der »Industriegesellschaft«. Vielmehr bleiben seine Überlegungen durchgehend ambivalent, ja werden teils »negativ dialektisch« durchgeführt. Am Ende der Bestandsaufnahme der »wissenschaftlichen Zivilisation« steht die Diagnose einer »neuen Selbstentfremdung«, die die Identitätschancen der Hegelschen »ersten Selbstentfremdung« verspielt hat: »Der Mensch löst sich vom Naturzwang ab, um sich seinem eigenen Produktionszwang wiederum zu unterwer­ fen«15  – ein Menetekel, das sich eher wie die Quintessenz aus der »Dialektik der Aufklärung« anhört als nach einer technokratischen Pro­grammschrift. 13 Ebd., S. 460. 14 Ulf Niederwemmer, »Sachzwang« und Entscheidungsspielraum, in: Hans Lenk (Hg.), Technokratie als Ideologie. Sozialphilosophische Beiträge zu einem politischen Dilemma, Stuttgart 1973, S. 137–153, hier S. 146. 15 Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, S. 461. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Jürgen Habermas – Alte und neue Unübersichtlichkeiten in der »verwalteten Welt« Was sich zuletzt bereits andeutete, erweckt tatsächlich den Eindruck einer »neuen Unübersichtlichkeit«: Unterhalb des »negativ emotionalisierend[en]« »Feindprädikators«16 der Technokratie nämlich wurde die Diagnose der »ver­ walteten Welt« mit ihrer konstitutiven Vertauschung von Zweck-Mittel-Beziehungen und einem der instrumentellen Selbstermächtigung geschuldeten Subjektverlust damals sowohl von »linken« wie »rechten« Intellektuellen geteilt, sowohl von Adorno, Horkheimer und Marcuse wie von Gehlen, Schelsky oder Freyer. Darüber hinaus implizierte diese Diagnose auch durchaus verwandte Werturteile, die ihre suggestive Kraft meist aus einem ähnlich unscharfen und überallgemeinen Systembegriff bezogen: Ob diese nun im Modus einer Kritik an der ganz »System gewordenen Gesellschaft«17 vorgetragen wurden, in der alles nur ein »Sein für anderes« darstellt, oder ob sie sich – wie bei einem weiteren vermeintlichen Technokraten, Hans Freyer  – durch die Perhorreszierung »sekun­därer Systeme« vermittelt finden, die »sich bis zum Grunde, das heißt bis in die menschlichen Subjekte hineinentwerfen«18, ist aus heutiger Sicht wohl eher ein Unterschied in der Nuance als einer ums Ganze – schließlich wurden sie sogar stets vor einem weitgehend identischen ideengeschichtlichen Hintergrund (Hegel, Marx, Weber) entwickelt. Besonders hellhörig für die gerade angesprochenen Wahlverwandtschaften war ein junger Autor, der in der Technokratie-Debatte bald zum kritischen Widerpart der »Sachzwang«-Theoretiker aufsteigen und dessen wachsende öffentliche Bedeutung in den 1960er und 1970er Jahren sich auch und gerade an »Konservatismus«-Debatten auskristallisieren sollte: Jürgen Habermas. Er merkte in aller Deutlichkeit an, dass Schelskys »wissenschaftliche Zivilisation« und Gehlens »gesellschaftliche Superstrukturen« sich mit Adornos und Horkheimers »verwalteter Welt« »nicht in der Begründung, aber in der Substanz«19 durchaus deckten (es bleibt allerdings unklar, worin die Unterschiede »in der Begründung« eigentlich liegen). Ebenso gibt Habermas zu bedenken, dass Marcuse und Gehlen »[i]n verschiedenen Terminologien […] fast gleiche Beschrei-

16 Hermann Lübbe, Bemerkungen zur aktuellen Technokratie-Diskussion, in: Hans Lenk (Hg.), Technokratie als Ideologie. Sozialphilosophische Beiträge zu einem politischen Dilemma, Stuttgart 1973, S. 94–104, hier S. 94. 17 Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1975, S. 35. 18 Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1955, S. 88. 19 Jürgen Habermas, Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M. 1973, S. 172. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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bungen« geben und Marcuses »technisierte Gesellschaft« sich komplementär zu Schelskys Modell des »technischen Staates«20 verhält. Dieses Feld wird nun aber nicht übersichtlicher, wenn man Habermas’ eigene kulturkritische Motive betrachtet. Besonders seine frühen Arbeiten zeugen von einem zweifelsohne wertkonservativen Hintergrund, der aus einer großen und keineswegs »kritischen« Vertrautheit mit der Philosophischen Anthropologie schöpft – also der Disziplin, aus der mehrheitlich auch die vermeintlichen »konservativen Technokraten« stammen. Am deutlichsten kommt diese Vertrautheit wohl in jenen Schriften zum Ausdruck, in denen Habermas das »Miss­ verhältnis von Kultur und Konsum« verhandelt. Hervorgehoben wird dort stets die »züchtende«21 Funktion »wirklicher« Kultur, während »Kino, Kofferradio und der knatternde Motorroller«22 die Subjekte ihres kulturellen »Stils« beraubten. Doch auch nach diesen frühen frappanten Anleihen aus der stil- und haltungsversessenen Philosophischen Anthropologie, die das Zeitalter gar mit Gehlen durch eine umfassende »Pleonexie« (»wuchernde Begehrlichkeit«23) gekennzeichnet sehen, verflüchtigt sich das Irritationspotential neuer Unübersichtlichkeiten keineswegs. Dies gilt insbesondere für Habermas’ Versuch, aus den zuvor erläuterten Parallelen zwischen den »technokratischen Konserva­ tiven« und der Kritischen Theorie auszubrechen, denn dieser Versuch besteht zu entscheidenden Teilen darin, die Kritische Theorie »vor den Richterstuhl Gehlens zu zitieren«24 – wenn auch nicht des »Technokraten«, sondern des »Anthropologen« Gehlen. Besonders Herbert Marcuses Vision einer »Neuen Technik« wird nun die »zwingend[e]«25 Argumentation Gehlens entgegengehalten, dass sich das »Handeln« durch die Menschheitsgeschichte hindurch schrittweise »objektiviert« habe und daher »nicht die Struktur, sondern nur die Reichweite der technischen Verfügungsgewalt historisch sich ändern kann, solange diese Gattung organisch bleibt, was sie ist.«26 Die auf diese Weise gewonnene Aussöhnung mit »der Technik« bringt Habermas pikanterweise selbst den Vorwurf eines massiven »Konservatismus« ein  – von marxistischer Seite. Ver­ dächtig ist den Kritikern die Übernahme der Gehlenschen Techniktheorie vor 20 Ders., Praktische Folgen des technisch-wissenschaftlichen Fortschritts, in: Heinz Maus / Friedrich Fürstenberg (Hg.), Gesellschaft, Recht und Politik. Wolfgang Abendroth zum 60. Geburtstag, Neuwied 1968, S. 121–146, hier S. 134. 21 Jürgen Habermas, Notizen zum Mißverhältnis von Kultur und Konsum, in: Merkur 97 (1956), S. 212–228, hier S. 214. 22 Ders., Die Dialektik der Rationalisierung. Vom Pauperismus in Produktion und Konsum, in: Merkur 8 (1954), S. 701–724, hier S. 702. 23 Vgl. ebd., S. 721; Habermas, Notizen zum Mißverhältnis von Kultur und Konsum, S. 220. 24 Michael Theunissen, Gesellschaft und Geschichte. Zur Kritik der Kritischen Theorie, Berlin 1969, S.24. 25 Habermas, Technik und Wissenschaft als »Ideologie«, S. 55 f. 26 Ders., Arbeit, Erkenntnis, Fortschritt. Aufsätze 1954–1970, Amsterdam 1970, S. 347. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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allem deswegen, weil die antagonistischen Produktionsverhältnisse nun plötzlich in dem »funktionalen Handlungskreis« eines fiktiven kollektiven Gattungssubjekts aufgehoben werden. Die Einwände verdichten sich gar zu dem Vorwurf gegenüber Habermas, den historischen Materialismus als ganzen »gehlenianisiert«27 zu haben. ­Tatsächlich er­wecken die sich in dieser Zeit verfestigenden Argumentationsmuster immer mehr den Eindruck, dass Habermas der Gefahr einer »Technokratie« ausgerechnet mit Mitteln begegnet, die Gehlens anthropologischem Institutionenverständnis zum Verwechseln ähneln: Die Rede ist bei Habermas jetzt oft von »anthropologisch tiefsitzenden Handlungsstrukturen«, die jeweils gegen »zweckrational«-technische Imperative immunisiert werden sollen, so diese sich anschicken, aus dem für sie angedachten Bereich der »Arbeit« in den der »Interaktion« überzugreifen. An dieser Stelle wurde nicht nur für marxistisch orientierte Autoren gänzlich unklar, wo der Unterschied zwischen dem »progressiven« Habermas und dem »konservativen« Gehlen nun eigentlich liegt. So vermutete etwa auch Wolf Lepenies, dass Habermas die »falschen Prämissen der Technokratiethese nicht mit einer […] anderen Form soziologischer Erklärung […], sondern mit der richtigen Anthropologie widerlegen«28 will. Man könnte diese Beobachtung sogar zu der These verdichten, dass Habermas mit der richtigen Anthropologie auch einen besseren Konservatismus erarbeiten will, denn die »Substanz bewährter Lebensformen« liegt ihm erklärtermaßen am Herzen: »Es fragt sich nur, wer diese Bestände im Ernstfall schont« – und über diese Frage entscheiden für ihn wieder nicht politische oder ökonomische, sondern primär technische Optionen, denn jenen, die die Bundesrepublik »verkabeln«29 wollen, traut Habermas einen solchen Traditionsschutz nicht zu.

27 Vgl. z. B. Hans-Martin Kuhn, Der lange Marsch in den Faschismus. Zur Theorie der Institutionen in der bürgerlichen Gesellschaft, Berlin 1974, S. 72–92 (Kapitel »Habermas als Gehlenianer«). 28 Wolf Lepenies, Anthropologie und Gesellschaftskritik. Zur Kontroverse Gehlen – Habermas, in: ders. / Helmut Nolte, Kritik der Anthropologie. Marx und Freud. Gehlen und Habermas. Über Aggression. München 1971, S. 77–102, hier S. 90. 29 Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, S. 53. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Vorsprachliche und vollsprachliche Symbolorganisation – Habermas’ Kritik an Gehlens »Moral und Hypermoral« Mit Blick auf die gerade erläuterten Parallelen zwischen Habermas und dem »Denkmeister der Konservativen«30, Arnold Gehlen, kann das offen polemische und zweifelsfrei reaktionäre Spätwerk »Moral und Hypermoral«31, das letzterer Ende der 1960er Jahre vorlegte, als eine Gelegenheit zu klarerer Differenzmarkierung bezeichnet werden, die Habermas auch schnell und furios ergreifen sollte. In der Rezension32 dieses Buches wird die Unterscheidung zwischen »Links-« und »Rechts-Intellektuellen« nunmehr das zentrale ordnungsstiftende Prinzip, und diese Polarisierung scheint öffentlich durchaus funktioniert zu haben. So wurde im »Spiegel« die Auseinandersetzung von Rudolf Augstein bündig auf einen Konflikt zwischen biologistischem Rechts- und marxistischem Linksintellektualismus zusammengestrichen.33 Rüdiger Altmann allerdings  – und dieser Spur lohnt es sich zu folgen  – merkte irritiert an, dass Habermas’ Polemik trotz aller ideologiekritischen Vorbehalte zumindest ansatzweise in eine Verteidigung Gehlens34 einmündet. Diese partielle Verteidigung hat ihren Hauptbezugspunkt erstaunlicher Weise in der Wertung der Studentenbewegung von 1968, als deren intellektueller Protektor Habermas, der selbsterklärte Verteidiger auch der »kulturellen Moderne«, eben nur auf den ersten Blick auftritt. Auf den zweiten Blick findet sich erneut ein Motiv, das schon in seinen kultur- und technikkritischen Frühschriften begegnete und das dann in der Unterscheidung zwischen »Arbeit« und »Interaktion« anthropologisiert wurde: die Erwägung, welche Kultur- und besonders Konsummuster vor den Wertmaßstäben der »tiefsitzenden anthropologischen Handlungsstrukturen« versagen und welche nicht. Die »hypothetisch Gehlen zugeschobene Frage«35, ob die damaligen Untergrundund Gegenkulturen nicht eine hervorragende Probe auf dessen SubjektivismusDiagnose36 darstellen, beantwortet Habermas in diesem Zusammenhang ein30 Armin Mohler, Zeitgemäß über der Zeit: Ein Denkmeister der Konservativen, in: Die Welt v. 2.2.1976. 31 Vgl. Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, Frankfurt a. M. 1969. 32 Vgl. Jürgen Habermas, Nachgeahmte Substantialität [1970], in: ders., Philosophischpolitische Profile, Frankfurt a. M. 1981, S. 107–126. 33 Vgl. Rudolf Augstein, Wir Mundwerksburschen. Arnold Gehlens antiintellektuelle Wissenschaft, in: Der Spiegel 23 (1970), S. 164–173. 34 Vgl. Rüdiger Altmann, Brüder im Nichts? Zur Auseinandersetzung Jürgen Habermas’ mit Arnold Gehlens Ethik, in: Merkur 266 (1970), S. 577–582. 35 Habermas, Nachgeahmte Substantialität, S. 124. 36 Vgl. Arnold Gehlen, Gesamtausgabe. Bd.  6: Die Seele im technischen Zeitalter und andere sozialpsychologische, soziologische und kulturanalytische Schriften, hg. v. KarlSiegbert Rehberg, Frankfurt a. M. 2004, S. 62–77. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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deutig positiv, und das »Gespenst einer subversiv überbordenden Kultur«37, das er später als Popanz der »Neokonservativen« ausweisen wird, scheint ihn zu dieser Zeit selbst noch umzutreiben: Die experimentellen Lebensformen und kulturanarchistischen »Privatismen« von 1968 bewegen sich für ihn bereits in den »grauen Zonen einer neuen Sozialpathologie«, und deren tendenzieller Rückfall auf die »Stufe vorsprachlicher Symbolorganisation«38 verweigert sich infantil dem zuvor ebenfalls anthropologisch deduzierten »emanzipatorischen Erkenntnisinteresse«. Auf dieser Folie wird die vermeintliche »Habermas-Gehlen-Kontroverse« tatsächlich als komplementäre Zeitdiagnostik zweier Brüder im Geiste erkennbar: Gehlen äußert nach Habermas in seiner Kritik an einer »elargierten Familienmoral« ja durchaus Treffendes, er entfaltet diese Kritik lediglich am falschen Beispiel: Nicht die mehr oder minder akademisch saturierten Linksintellektuellen, die dem Ideal vollsprachlicher Symbolorganisation entsprechen, sondern die Kulturanarchisten in ihren »nur mehr privatsprachlichen Expressionen« sind es, die »alle Handlungsnormen in Dauerkommunikation verflüssigen«39 und darin  – wie Habermas abschließend ausmalt  – das »systemnotwendige Minimum an Folgebereitschaft und Arbeitsmoral durch Motivationsentzug« eines Tages »gefährden«40 könnten. So gesehen bringt Habermas den »Stoff[.], den die Kulturrevolution der letzten Jahre für eine Gehlensche Ethik eigens zuzubereiten schien«41, nur besser zur Entfaltung als dieser selbst. Bezeichnenderweise allerdings gingen diese unverhofften Komplementaritä­ ten in der öffentlichen Wahrnehmung weitgehend unter, auch weil das Buch Gehlens mit all seinen offenen Ressentiments bestens geeignet war, die Selbstund Fremdverortungen der beteiligten Intellektuellen zu vereindeutigen – dies umso mehr, als Helmut Schelsky, der »Moral und Hypermoral« zunächst so scharf kritisiert hatte, dass die fast lebenslange Freundschaft zu Gehlen zerbrach42, 1975 wieder ganz auf dessen Linie einschwenkte. In seiner Abrechnung mit der »Priesterherrschaft der Intellektuellen«43 sind seine früheren Überlegungen zum nicht mehr haltbaren Gegensatz von »Kultur« und »Zivili­ 37 38 39 40 41 42

Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit, S. 53. Ders., Nachgeahmte Substantialität, S. 124 f. Ebd., S. 124. Ebd., S. 125. Ebd., S. 107. Die Schärfe dieses Bruchs kam brisanterweise vor allem dadurch zustande, dass Schelsky im Zuge der »Gehlen-Habermas-Kontroverse« seinem Lehrer Gehlen einen Brief sandte, der nicht nur eine massive Kritik an Stil und Gehalt des Alterswerks enthielt, sondern den er »in Kopie« fast gleichlautend auch Habermas zukommen ließ. Vgl. zu diesem Brief Patrick Wöhrle, Metamorphosen des Mängelwesens. Zu Werk und Wirkung Arnold Gehlens, Frankfurt a. M. 2010, S. 211 ff. 43 Vgl. Helmut Schelsky, Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 21975. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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sation«, zu eventuellen Anachronismen der politischen Semantik, zur »nega­ tiven Dialektik« von »Natur«- und »Produktionszwang« kaum mehr anzutreffen. Auch Schelsky arbeitet jetzt mit suggestiven Entgegensetzungen, für die Gehlens Spätwerk Modell gestanden hat. Aus Gehlens Gegensatz von »Moral« und »Hypermoral« wird bei Schelsky der zwischen den »wirklich« Arbeitenden und den sozialreligiösen Sinnvermittlern. In dieser späten und wohlgemerkt nach der eigentlichen »Technokratie«-Debatte einsetzenden Argumentation verbinden sich nun tatsächlich Leitvorstellungen des Konservatismus und alte Topoi der Intellektuellenkritik mit einem »halbherzig ausgesöhnten« Ja zur technisch-industriellen Gesellschaft: In den Vordergrund rückt jetzt der »mangelnde Realkontakt« und das ungefragte, aber hochprofitable Stellvertreterhandeln der Intellektuellen, das einen »nicht zur Bewährung an Sachzwänge gebundenen Herrschaftsraum«44 eröffnet  – und positiv dagegen stehen die korrektiven Rückmeldungen kleinteiliger Handlungskreise, wie Schelsky sie in der Bürokratie und vor allem im naturwissenschaftlichen Labor am Werke sieht. In dieser ethischen Aufladung des Dingkontaktes, die ein altes und »großbürgerliches«45 Motiv der Anthropologie Gehlens ist, scheinen die beiden sonst durchaus unterschiedlichen Ansätze von Gehlen und Schelsky tatsächlich wieder zusammenzulaufen.

Fazit Die zuletzt angesprochene Konvergenz aus der Mitte der 1970er Jahre war es wohl, die die vorangegangenen »alten« und »neuen Unübersichtlichkeiten« der Technokratie-Debatte dem Vergessen anheimfallen ließ und mit der Ein­ deutigkeit der thematischen Fronten auch eine Eindeutigkeit der intellektuellen Fremd- und Selbstdefinitionen hervorbrachte, die jeweils über ein spezifisches Verhältnis zu den »Dingen« vermittelt wurden: auf der einen Seite den Typus eines paradoxen Intellektuellen, dessen Intellektualität zugleich ein Veto gegen jegliche ist und der von dort aus sehnsüchtig auf die dingkontrollierten »Tatchancen« der »wirklich« Arbeitenden blickt, auf der anderen Seite den Typus eines performativ-selbstauthentifizierenden Intellektuellen, der mit der Auszeichnung eines technik- und systemfernen »Eigenrechts« der Interaktion zugleich seine eigene Geltungssphäre absteckt. Wenn man unterhalb dieser Polarisierung allerdings noch einmal die zuvor geschilderten »Unübersichtlichkeiten« in den Blick nimmt, so kann man sich nur schwer des Verdachtes erwehren, dass »halbherzige Aussöhnungen« mit der Moderne nicht nur bei den vermeintlichen »technokratischen Konserva44 Ebd., S. 130. 45 Vgl. hierzu Wöhrle, Metamorphosen des Mängelwesens, S. 137 ff. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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tiven« aufzufinden waren. Vielmehr prägte eine vielleicht wirklich »konservative« Unschlüssigkeit über den Status von Technik, Bürokratie, Administration und Massenkonsum46 den intellektuellen Diskurs als ganzen und weit über die sich öffentlich etablierenden politischen Markierungen hinaus.47 Das auf beiden Seiten zu findende übergeneralisierte »System«-Verständnis ist vielleicht das augen­f älligste Merkmal dieser Unschlüssigkeit und zugleich ein analytisch diffus bleibender Bewältigungsversuch  – diffus auch deswegen, weil werthaft aufgeladene Entgegensetzungen von »primärem« und »sekundärem« System (Freyer) oder von »System« und »Lebenswelt« (Habermas) jeweils eine »quasitranszendentale« Abstraktionshöhe einführten, die der eventuellen Sinnhaftigkeit von »Humantechniken« (z. B. in Gestalt der reeducation) kaum Rechnung tragen konnte und wollte. Zur Grenzmarkierung blieb hier meist nur die Möglichkeit, die atmosphärisch so ähnlichen Gegenwartsdiagnosen der »verwalteten Welt« und die ebenso gemeinsame Erfahrung einer technisch-medial bedingten Anonymisierung von Herrschaftsverhältnissen entweder als »beschreibend« oder »programmatisch«, als »kritisch« oder »affirmativ« auszuweisen und dann entlang der Achse »konservativ«-»progressiv« zu politisieren  – der höchst selektive Umgang mit Schelskys vermeintlichem Gründungstext des »technokratischen Konservatismus« steht repräsentativ für diese Vorgehensweise. Unter dieser Oberfläche allerdings dürfte nicht erst der wenig später ebenfalls unter »Technologie«-Verdacht gestellte Niklas Luhmann die Unmöglichkeit eines expliziten Konservatismus48 in der Industriegesellschaft reflektiert haben. Selbst bei Gehlen, »habituell« und in der Selbstbeschreibung zweifelsfrei ein Konservativer, findet sich in der Nachkriegszeit kein romantisierender oder konservierender Rückgriff auf verloren gegangene, »natürliche« Werte49, 46 Vgl. hierzu besonders die in eine ähnliche Richtung weisenden Überlegungen in Dominik Schrage, Die Verfügbarkeit der Dinge. Eine historische Soziologie des Konsums, Frankfurt a. M. 2009, S. 227–248. 47 Die Unklarheit darüber, welche Positionen hier eigentlich »konservativ« und »pro­ gressiv« sind, könnte auch die erstaunliche Flut an »Metatexten«, »Lektürehilfen« und »Rekonstruktionen« ob nun des »philosophischen Diskurses der Moderne« oder des »historischen Materialismus« erklären, die Habermas zwischen den 1960er und 1980er Jahren verfassen wird (auch diese Textsorte ist vielleicht ein Spezifikum des deutschen intellektuellen Diskurses dieser Zeit). 48 Vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Konservativismus in postmodernen Zeiten: Niklas Luhmann, in: Gunter Runkel / Günter Burkart (Hg.), Funktionssysteme der Gesellschaft. Beiträge zur Systemtheorie von Niklas Luhmann, Wiesbaden 2005, S. 285–309. 49 Hierfür war sein antihermeneutischer Affekt viel zu stark und reflektiert, und sein ganzer Spott galt der Selbsttäuschung, dass »man durch die Anbiederung ästhetischen Verstehens sich Kulturen nähern könnte, deren Kraft gerade in der Drastik der Übersetzung jeder Vorstellung in die Konsequenzen, d. h. in offene Handlungen, bestand.« Siehe Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen [1956], Frankfurt a. M. 62004, S. 19. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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während Schelsky sie in der oben beschriebenen Weise sogar gezielt »dekomponierte«. Andererseits entwarfen diese beiden Autoren aber auch keinesfalls einen Konservatismus, »der innerhalb der industriellen Zivilisation […] sich zu verwirklichen sucht«50, wie Mohler mit nun wirklich programmatischem Impetus glauben machen will. Vielmehr gab Gehlen stets bedauernd zu be­ denken, dass die spezialisierten Leistungen des industriell-bürokratischen Systems »nicht Plastik und inneren Gehalt genug« hätten, um ein »an vielen Fronten sich exponierendes und Erfahrungen und Rückschläge sich einverleibendes Handeln«51 zu ermöglichen, und Schelsky spekulierte gar auf einen »metaphysischen Identitätswechsel«, durch den das Subjekt gewissermaßen im Wett­ rennen mit den Zumutungen der verdinglichenden Spezialisierungsanforderungen »seiner eigenen Vergegenständlichung immer vorauszueilen trachtet«52. Geht man mit Rehberg davon aus, dass die bildungsgeschichtliche Nähe der »konservativen Technokraten« zum Faschismus vornehmlich in einem tatheroischen Ordnungsverständnis53 zu suchen ist, so präsentiert sich letztlich auch die anfangs angesprochene Engführung von biographischer und konzeptueller Kontinuität in einem anderen Licht: »Konservativ« sind ihre Entwürfe gerade da, wo sie nicht »technokratisch« sind und wo sie ein althergebrachtes Verständnis von tatbereiter »Persönlichkeit« gegenüber den gesellschaftlichen »Superstrukturen« zu retten versuchen. Dass in diesen Entwürfen ein explizit konservierender Rückgriff dennoch ausblieb, könnte man mit Luhmann auch aus den paradoxen Konsequenzen erklären, die ein solcher gehabt hätte: »Wenn man wirklich konservativ ist, dann müßte man heute enorm viel ändern, um angesichts der vielfältigen Änderungen etwas zu bewahren.«54 Der diskursstrategische Vorteil des pejorativ aufgeladenen Labels »Technokratischer Konservatismus« bestand wohl darin, dieses einerseits als »dilemmatisch«55 gekennzeichnete Begründungsproblem des Konservatismus andererseits wieder begrifflich zu entparadoxieren  – die als »technokratisch« inkriminierte Akzeptanz gegenüber »vielfältigen Änderungen« konnte nun doch noch als »konservativ« ausgewiesen werden. Das

50 Armin Mohler, Von rechts gesehen, Stuttgart-Degerloch 1974, S. 52. 51 Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter, S. 44. 52 Schelsky, Der Mensch in der wissenschaftlichen Zivilisation, S. 471. 53 Vgl. Karl-Siegbert Rehberg, Aktion und Ordnung. Zur Begründung der Soziologie als Handlungslehre: Klassiker-Lektüren von Hans Freyer, Arnold Gehlen und Helmut Schelsky«, in: Cornelia Bohn (Hg.), Sinngeneratoren. Fremd- und Selbstthematisierung in soziologisch-historischer Perspektive. Alois Hahn zum 60. Geburtstag, Konstanz 2001, S. 301–331. 54 Rainer Erd / Andrea Maihofer, Biographie, Attitüden, Zettelkasten: Interview mit Niklas Luhmann, in: Niklas Luhmann, Archimedes und wir. Interviews, hg. v. Dirk Baecker und Georg Stanitzek, Berlin 1987, S. 125–155, hier S. 125. 55 Vgl. Greiffenhagen, Das Dilemma des Konservatismus. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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eigene Unbehagen gegenüber dem »Kofferradio in der Badewanne«56 indes blieb von einer entsprechenden Aburteilung verschont. Vor diesem Hintergrund ist es umso wahrscheinlicher, dass die Vehemenz, mit der Habermas und viele andere gegen die »Technokratie-These« argumentierten, sich immer auch aus dem Antrieb erklärte, selbst irgendein konsistentes Verhältnis zur »bloßen Zivilisation« zu gewinnen. So gesehen könnte die These, dass die »konservativen Technokraten« sich nur mit der »gesellschaftlichen Moderne« ausgesöhnt hätten, auch dazu gedient haben, den alten Unterschied zwischen »echter« Kultur und »künstlicher« Zivilisation präsent zu halten, ohne selbst antimodern zu wirken. Man musste noch nicht einmal das alte Unbehagen an der »Stillosigkeit« technisierter Lebenswelten aufgeben – »konservativ« waren ja die anderen.

56 Vgl. Habermas, Die Dialektik der Rationalisierung, S. 717. Das ganze Zitat lautet: »Der Takt für Passendes und Unpassendes fehlt. Das sprichwörtliche Kofferradio in der Badewanne oder das 90 km-Tempo beim Sonntagsausflug ist wie eine Krawatte, die einfach nicht zum Anzug ›steht‹.« © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Attraktion und Repulsion: Marxistische Gesellschaftsentwürfe zwischen Selbstverwirklichung und Gewalt

Es ist schwierig, unter der Rubrik »Marxistische Gesellschaftsentwürfe« etwas beizutragen, das nicht das ganze Thema dieses Buches abzudecken beansprucht. Das intellektuelle Feld jener Jahre war im Positiven wie im Negativen stark durch marxistische Ansätze geprägt. Wenn unter Intellektuellen primär politisierte Intellektuelle der 1960er Jahre verstanden werden, so wird man zunächst an Marxisten denken – oder an solche, die sich von ihnen entweder durch Radikalisierung oder durch Abwiegelung abgrenzen wollten. Der Ober-MarxismusWiderleger und Radikal-Konservative Günter Rohrmoser rechnet in die Rubrik der »impliziten Marxkritik« Werke von Hannah Arendt, Arnold Gehlen oder Carl Schmitt.1 Neben der expliziten Marxkritik, zu der Denker von Karl Popper bis zu Jürgen Habermas zu zählen wären, würde ich noch die dritte Rubrik der Marx-Überbietung aufmachen, worunter Autoren wie Guy Debord oder Michel Foucault – heute Slavoj Žižek – fallen würden. Alle aber bezogen sich, ob positiv oder negativ, ob offen oder verdeckt, auf Marx zurück. Auch wenn es um die intellektuellen Verschiebungen der 1970er Jahre geht, fällt zunächst der Marxismus ein. Das gängige Bild dieser Zeit sieht ja in etwa so aus: In diesem Jahrzehnt hat der Geist der alten Linken die Praxis der neuen Linken zurückerobert: Der experimentalistische Aufbruch zu neuen Denk- und Lebensformen wurde zurückgebogen in autoritäre Strukturen der K-Gruppen und dogmatismusnahe Marx-Lese-Rituale (die gegenwärtig, weniger dogmatisch, Urständ feiern). Dieser ›backlash‹ mündete Ende der 1970er Jahre – nach einem intellektuell verlorenen Jahrzehnt, wie Zeitzeugen im Nachhinein sagen – in die »Krise des Marxismus«, aus der dann in den 1980ern weniger dogmatische Grüne, Schwulen- und Frauenbewegte hervorgingen.2 1 Günter Rohrmoser, Stillstand der Dialektik. Grundpositionen expliziter und impliziter Marxismuskritik, in: Marxismusstudien 5, Tübingen 1968, S. 1–84; zit. nach ders., Marxismus und Menschlichkeit, Freiburg / Br. 1974, 9–94. Zu Rohrmoser vgl. Rolf Wiggershaus, Die Frankfurt Schule, München 1988, S. 727 f. 2 Vgl. z. B. Joachim Hirsch / Roland Roth, Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordismus zum Post-Fordismus, Hamburg 1986. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Diese schafften es auch mit weniger Theorie, eine befreiende Praxis ins Werk zu setzen. Also zuerst bunt mit Marx, dann grau mit Marx, dann wieder bunt – ohne Marx. Dieses Narrativ macht die 1960er und 70er Jahre im Rückblick zu einer – je nach Perspektive – obskuren oder heroischen Zeit. Ich bin kein Zeitzeuge und kann das Erzählmuster nur nachträglich an Texten überprüfen. Das will ich hier versuchen, rechne aber mit Schwierigkeiten, weil diese Texte als Dokumente zu lesen sind, die nicht unmittelbar wiedergeben, was sie in ihren Lesern und Schreibern seinerzeit ausgelöst haben müssen. Der heute noch dechiffrierbare »Sinn« lässt den Erregungsgrad nur erahnen, aus dem heraus sie entstanden sind. Doch eben diesen emotionalen Subtext will ich zu rekonstruieren versuchen. Das bleibt ein Experiment, das nicht methodisch gesichert ist – das sei vorab zugestanden. Aus der Distanz kann man sich jedenfalls nur wundern, warum am Ende dieser Zeit so wenig vom Marxismus übrig war, der doch im intellektuellen Aufbruch so präsent war. Der Versuch, mögliche Ur­ sachen dafür aufzuspüren, ist von dem Interesse geleitet, wieder an die »bunte« Phase mit Marx anzuknüpfen, ohne erneut den Weg ins Grau in Grau gehen zu müssen. Der Titel dieses Buches ist dafür verantwortlich, dass ich dafür eine spezifische Optik auf die Verschiebungen im und durch den Marxismus gewählt habe. Denn dieser Titel deutet an, dass nicht primär theoriegetriebene Verschiebungen gemeint sind (wenn es so etwas denn gibt), sondern politische. Das zumindest legt die Schreibweise des Titels nahe, wie sie sich auf dem Faltblatt der Jenaer Tagung fand: »intellektuelle in der brd«. Von der »BRD« statt der »Bundesrepublik« sprach man bevorzugt auf der Linken. Und die kleinen Buchstaben sind nicht nur von Stefan George bekannt, sondern auch aus Bekennerschreiben der RAF. Damit ist die Katze aus dem Sack. Ich habe den Eindruck, dass diese Gruppe einen großen Einfluss auf das intellektuelle Verschwinden des Marxismus Ende der 1970er Jahre gehabt haben muss; und das finde ich erklärungsbedürftig. Einen Erklärungsansatz sehe ich darin, dass die Anziehungskraft schon des studentischen Marxismus der 1960er Jahre weniger auf theoretische als auf existentialistische Motive zurückzuführen ist. Hinsichtlich utopischer Gesellschaftsentwürfe war der Marxismus ohnehin eine karge Theorie. Hinzu kam aber im studentischen Marxismus ein regelrechtes Überspringen von Theorie, hinein in einen unmittelbar politischen Existentialismus. Die entsprechende Aufladung einer Theoriesprache, die gleichwohl wenig über die Zukunft zu sagen wusste, konnte die RAF – nochmals radikalisiert – weiterführen; weiter bis gegen die Wand. Mit dem fälligen Abschied von ihrem »bewaffneten Kampf« gaben weite Teile der Linken schließlich zugleich den Marxismus verloren, der zumindest symbolisch mit der RAF verknüpft war. Das Ganze noch einmal aufzurollen hat nicht den Sinn, den Marxismus als Theorie zu diskreditieren. Es will vielmehr versuchen, diesen Ansatz aus der Gewaltgeschichte der 1970er Jahre zu lösen und für die Gegenwart zu ›retten‹. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Dafür will ich zuerst zeigen, warum der Marxismus eigentlich keine Gesellschaftsentwürfe kennt (1) und wie diese Lücke in den 1960er Jahren mit einer ›Politik des Subjekts‹ gefüllt wurde (2), um die es in all den Protesten jener Zeit untergründig auch ging. Erstaunlicherweise ist diese Dimension auch in der Eskalation der 1970er Jahre noch präsent, die im Nachhinein eigentlich erstaunlich ziellos erscheint (3). Ziele lassen sich erst erkennen, wenn man von der eskalierenden Hauptlinie absieht. Gerade die Nebenziele aber waren und sind wohl die erfolgreichere Weiterführung des Geistes der 1960er Jahre (4).

Warum der Marxismus keine Gesellschaftsentwürfe kennt Entwürfe sind Zukunftsentwürfe. Im Marxismus sind solche Gesellschafts­ entwürfe nicht stark vertreten, denn schon die Worte, die sie benennen: etwa »Utopie« oder »Endziel«, galten als wissenschaftlich überwunden und waren daher verpönt.3 Sich zuerst ein Ideal zu erträumen und danach die politischen Mittel dafür zu suchen, galt als wenig aussichtsreich, zumal der Kapitalismus den intellektuellen Kampf über abstrakte Phrasen wie Freiheit oder Gleichheit wohl gewinnen würde. Für Karl Marx waren Freiheit und Gleichheit im Kapitalismus bereits verwirklicht, da ein Ideal nicht wirklicher werden kann, als es als Ideal einer Zeit schon ist: Es ist nicht seine Funktion, »verwirklicht« zu werden (als könne ein Begriff wie eine Zaubertüte wunderbare Sachen für die Zukunft aufbewahren), sondern die Realität normativ abzubilden, zu regeln und zu verklären – und das tut es jetzt schon.4 Der Marxismus als Theorie verstand sich also nicht als Utopie, sondern als kritische Analyse der Gegenwart. Die nötige Schwungkraft dafür holte er sich auch aus einer Analyse der Vergangenheit: Die Grundüberlegung war, dass es treibende Kräfte in Form sich verschärfender sozialer Antagonismen und ökonomischer Zyklen gibt, die zumindest Tendenzen angeben, wohin die Reise ungefähr gehen kann. Diese ›determinieren‹ nicht, doch sie legen Möglichkeitsspielräume fest, die man so oder auch anders nutzen kann. Dies hatte 1964 Ossip K. Flechtheim so ausgeführt, und dies verteidigte ein Jahr später auch Herbert Marcuse in einem Radiogespräch gegen Adorno – m. E. zurecht.5 Mit einiger Phantasie konnte man hieraus sogar eine Futurologie entwerfen, wie es 3 Vgl. Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft (1880), Marx Engels Werke (MEW) 19, Berlin 1973, S. 177–228. 4 Das gilt auch für »Ideale« wie die Anerkennung; siehe meine Philosophie nach Marx, Biele­feld 2005, S. 430 ff. 5 Ossip K. Flechtheim, Eine Welt oder keine. Beiträge zur Politik, Politologie und Philo­ sophie, Frankfurt a. M. 1964. Marcuse, Radiosendung von 1965 mit Adorno, Marcuse und Helge Pross, als CD Nr. 3 in Herbert Marcuse, Der Mensch in einer sozialisierten Welt. Vorträge und Gespräche, 4 CDs, München 2008. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Flechtheim eben tat, der in New York nicht nur den Horkheimer-Zirkel, sondern auch den Science-Fiction-Autor Isaac Asimov kennengelernt hatte.6 Allerdings gab es im westlichen Marxismus bis hin zu Adornos Ausspruch vom »Bilderverbot« eher einen Widerwillen, sich über die Philosophie der Zukunft zu äußern. Die Gefahr war, dass Streitereien über Luftschlösser von politischen Fragen ablenken und in einen zwischen Utopie und Anpassung schillernden Liberalismus einmünden würden – wie es bei Habermas dann tatsächlich der Fall war.7 Was der Marxismus von der Zukunft erhoffte, lässt sich allerdings trotz dieser Vorbehalte knapp benennen: Die ökonomischen Krisen, sozialen Antagonismen und individuellen Verbiegungen, die der Kapitalismus mit sich bringt, sollten aufgelöst werden durch eine demokratischere Wirtschaftsform, in der auf der Grundlage eines gemeinsamen Eigentums an Produktionsmitteln gemeinsam über die Verwendung von Arbeit und Ressourcen bestimmt wird. Das war kein Selbstzweck – kein Ökonomismus also –, sondern sollte nur andere Bedingungen schaffen. Zweck war es vielmehr, mehr individuelle Freiheit, mehr soziale Gleichheit, mehr Frieden und letztlich bessere Chancen für die »Entfaltung«8 jedes Einzelnen zu ermöglichen. Normativ basiert das ganze also auf einem liberal-egalitären Selbstentfaltungs-Perfektionismus. Ziel sei, so das Kommunistische Manifest (1848) und das Kapital (1867) in erstaunlichem Gleichklang:

6 Ossip K. Flechtheim, Futurologie  – Der Kampf um die Zukunft, Köln 1970. Nur ein Jahr später erschien in Polen Stanislaw Lems Roman »Der Futurologische Kongress«. Zu Flechtheim nun Mario Keßler, Ossip K. Flechtheim. Politischer Wissenschaftler und Zukunftsdenker (1909–1998), Köln 2007. 7 Berichte von einer Konferenz mit / über Habermas und den historischen Materialismus beklagten eine Mentalität des »Sich-Einrichten-im-Unbehaglichen« (taz vom 6.3.2012): »In einer Replik bekannte sich Habermas zu dem, was ihm orthodoxe Marxisten von jeher vorwerfen: zu einem radikalen Reformismus, der sich eingestehen müsse, dass nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus, so Habermas wörtlich, ›jeder revolutionäre Gedanke a priori zum Scheitern verurteilt‹ sei« (online auf www.taz.de/KontroverseHabermas-Tagung-in-Wuppertal/!90367, 31.08.2012). Zum Bilderverbot siehe Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt a. M. 1966, S. 206. 8 Agnes Heller, Hypothese über eine marxistische Theorie der Werte, Frankfurt a. M. 1972, S. 63; vgl. Erich Fromm: »Marx’ Philosophie […] zielte auf die volle Verwirklichung des Individualismus« (Das Menschenbild bei Marx, Frankfurt a. M. 1963, S. 15). Noch in der angelsächsischen Marx-Aneignung der 1980er Jahre (etwa bei Allen Wood, Steven Lukes oder Jon Elster, vgl. Fn. 43) war »self-realization« zentral. Ich habe diese Vision näher ausbuchstabiert in: Selbsttätigkeit, gelingende Gemeinschaft, Herrschaftsfreiheit: Marxsche Motive für die politische Philosophie, in: Heinz Bude u. a. (Hg.), Marx – ein toter Hund? Beiträge zur Marxrenaissance, Hamburg 2010, S.  64–88. Daher bin ich nicht einver­ standen mit der Charakterisierung meiner Position in Dietmar Dath / Barbara Kirchner, Der Implex. Sozialer Fortschritt: Geschichte und Idee, Berlin 2012, S. 675–685. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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»eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist« (MEW 4, 482); »eine höhere Gesellschaftsform, […] deren Grundprinzip die volle und freie Entwicklung jedes Individuums ist« (MEW 23, 618).

Viel mehr findet sich zum Thema der Zukunftsgesellschaft bei Marx und Engels kaum. Vielleicht schwiegen sie auch deswegen über die Zukunft, um der freien persönlichen und gesellschaftlichen Entwicklung nicht vorzugreifen – das wäre in einem anderem Sinne ›liberal‹ gedacht. Damit wissen wir zwar nicht, wie diese freiere Gesellschaft nach Marx genauer hatte aussehen sollen, doch wir wissen immerhin, dass man an sein Denken normativ mit einem existentia­ listisch gefärbten Humanismus anschließen kann.

Der existentialistische Ton der 1960er Jahre: Protest Es fällt nicht schwer, humanistische Motive im Marxismus der 1960er Jahre wiederzufinden. Sie finden sich zunächst dort, wo man sie erwartet  – diesseits der Gewaltschwelle. Der Besucher Herbert Marcuse etwa mahnte 1967 in Berlin: »Ich halte es für eine äußerst gefährliche Argumentation, dass man mit humanitären Argumenten heute nicht mehr operieren kann. […] Wenn ich wirklich radikal humanitäre Argumente ausschalte, auf welcher Basis kann ich dann dem spätkapitalistischen System entgegenarbeiten?«9

Marcuse räumt allerdings auf Nachfrage hin ein: »Ich habe keineswegs Humanität und Gewaltlosigkeit gleichgesetzt«.10 Humanismus und Gewalt schließen sich in diesem Denken also keineswegs völlig aus.11 Bemerkenswert ist, dass Marcuse schon 1967 auf einen verbreiteten Anti-Humanismus reagiert  – von

9 Herbert Marcuse, »Das Problem der Gewalt in der Opposition« (1967), in: Rudi Dutschke, Die Revolte. Wurzeln und Spuren eines Aufbruchs, Hamburg 1983, S. 183. 10 Ebd., S. 195. 11 »Diskursbestimmend« nennt Manfred Lauermann folgende Sätze Marcuses: »Aber ich glaube, dass es für unterdrückte und überwältigte Minderheiten ein ›Naturrecht‹ auf Widerstand gibt, außergesetzliche Mittel anzuwenden, sobald die gesetz­lichen sich als unzugänglich herausgestellt haben. […] Wenn sie Gewalt anwenden, beginnen sie keine neue Kette von Gewalttaten, sondern zerbrechen die etablierte. Da man sie schlagen wird, kennen sie das Risiko, und wenn sie gewillt sind, es auf sich zu nehmen, hat kein Dritter, und am allerwenigsten der Erzieher und Intellektuelle, das Recht, ihnen Enthaltung zu predigen« (Marcuse: Repressive Toleranz, in: Robert P. Wolff / Barrington Moore / Herbert Marcuse, Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt a. M. 1965, S.  127 f.). M. Lauermann, Gewaltdiskurse vor 1968  – aus dem Blickwinkel von 2008, in: Rainer ­R illing (Hg.), Eine Frage der Gewalt: Antworten von links, Berlin 2008, S. 81–94, hier 88. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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welchem man doch erheblich rascher auf Terrorismus zu schließen geneigt ist als vom Humanismus (oder »Humanitarismus«).12 Noch erstaunlicher finde ich allerdings, dass oft auch jenseits der Gewaltschwelle der Mensch im Mittelpunkt steht. Rudi Dutschkes und Hans-Jürgen Krahls berühmtes »Organisationsreferat« von 1967 ist ein erstaunlicher Text, nicht nur, weil an einer in der Diktion schon auf die RAF vorweisenden Stelle eine Carl Schmitt-Referenz vermutet wird. Dieser Text spricht offen vom »Problem revolutionärer Existenz«.13 Auch wenn humanistisch gestimmte Denker wie Erich Fromm – der ja mit zur »positiven Psychologie« gezählt wird – vielen Marxisten weder damals noch heute radikal genug erschienen, sieht es im Nachhinein so aus, als sei diese existentielle Dimension auch für Radikale ein zentrales Motiv gewesen. Dafür spricht ein weiterer Umstand: Der Marxismus speziell der Studentenbewegung war sehr rasch angeeignet. Es gab nur wenige Orte, wo man sich regu­lär mit Marx befassen konnte (Wolfgang Abendroth, Leo Kofler und ­Ossip Flechtheim seien als Platzhalter dafür genannt). Horkheimer und Adorno scheuten eher zurück; die Kritischen Theoretiker, die sich am offensten zu Marx äußerten, Herbert Marcuse und Erich Fromm, lebten hingegen im Ausland (auch darum war Marcuses Besuch 1967 ein solches ›Ereignis‹). Die MarxAdaption war eher provisorisch; mitinitiiert und gelenkt wurde sie z. B. vom gelernten Christen und Ostbürger Rudi Dutschke, der seit 1965 im SDS wirkte.14 Können marxistische ›Gesellschaftsentwürfe‹ für die Studentenbewegung damit überhaupt als handlungsleitend unterstellt werden? Oder sind sie eher als theoretische Begleitmusik für eine Bewegung zu verstehen, die eigene Ziele und eine eigene Dynamik hatte? Immerhin wollten sich die Antiautoritären von der 12 Vgl. die Polemik gegen Michel Foucault bei Luc Ferry / Alain Renaut, La pensée 68. Essai sur l’anti-humanisme contemporain, Paris 1985; sowie Klaus Lichtblau, Die poststrukturalistische Herausforderung, in Richard Faber / Erhard Stöltung (Hg.), Die Phantasie an die Macht? 1968 – Versuch einer Bilanz, Berlin 2002, 256–270. 13 Aus Rudi Dutschke, Geschichte ist machbar. Texte über das herrschende Falsche und die Radikalität des Friedens, Berlin 1991, S. 95. Zum Schmitt-Zitat (»Irregularität«) siehe Wolfgang Kraushaar, Entschlossenheit: Dezisionismus als Denkfigur, in: ders. (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, S. 140–156, hier 150 f. Die Stelle heißt: »Die ›Propaganda der Schüsse‹ (Che) in der ›Dritten Welt‹ muss durch die ›Propaganda der Tat‹ in den Metropolen vervollständigt werden, welche eine Urbanisierung ruraler Guerilla-Tätigkeit geschichtlich möglich macht. Der städtische Guerillero ist der Organisator schlechthinniger Irregularität als Destruktion des Systems der repressiven Institutionen« (aus Dutschke, S. 94). M. Lauermann (ebd.) sieht hier eher eine Verbindung zu André Breton und italienischen Western. 14 Dutschke hat 1966 eine »Ausgewählte und kommentierte Bibliographie des revolutio­ nären Sozialismus von Karl Marx bis in die Gegenwart« entworfen, nachlesbar in: ders., Geschichte ist machbar, S.  45–60. Eine Marx-Leseanweisung hatte übrigens schon der junge Habermas verfasst: »Literaturbericht zur philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus« (1957), in: ders.: Theorie und Praxis: Sozialphilosophische Studien, Frankfurt a. M. 41971, S. 387–463. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Alten Linken – Sozialdemokratie, Gewerkschaften etc. – absetzen. In der neulinken Kritik gab es ganz andere Töne; etwa eine romantisch und existentialistisch inspirierte »Künstlerkritik«,15 die sich auf die Lebensform im ganzen bezog und sich nicht von Theorien irre machen ließ, die apriori die Vergeblichkeit solcher Unterfangen deduzierten. Ex post sieht es eher so aus, als seien Topoi der Alten Linken mehr durch die Theorie des Poststrukturalismus perpetuiert worden als durch die Praxis der Neuen: Wie in einer Negation der Negation gab es dort wieder ein übermächtiges System der Macht, eine restlose ›Subjektivierung‹ durch Institutionen, eine hermetische Sprache etc. Der Vorwurf, dass die offiziellen – teils noch altlinken – Begründungen nicht die wahren Motive der studentischen Proteste waren, wurde bereits 1968 von Jürgen Habermas erhoben und war sicher nicht ganz falsch.16 Allerdings passte die Begleitmusik so gut, dass diese Unterscheidung schwer durchzuhalten ist. Sie verdeutlicht immerhin, dass der vertretene Marxismus eher den Charakter eines Mittels hatte.17 Freilich können auch Mittel attraktiv sein. Der Effekt ist heute noch ähnlich: Moralisch sensibilisierte und lesende Jugend­liche stoßen auf verschiedene Theorien, die den Weltlauf zu erklären beanspruchen. Unter diesen ist der Marxismus wohl immer noch die zugleich umfassendste und radikalste. Damit hat er radikalen Chic. Vielleicht sollte man daher nicht von den Inhalten, sondern von ihrer spezifischen Funktion für die werdenden Intellektuellen her fragen: Was genau hat der Marxismus für die Studenten eigentlich geboten? Eine erste Annäherung liefert etwa der m. E. gelungene RAF-Film »Wer wenn nicht wir« von Andreas Veiel (2011), in dem der beginnende Terrorismus als Weiterführung des halben Widerstands der Väter gedeutet wird. Vater Ensslin ist aus der Sicht seiner Film-Tochter Gudrun nicht weit genug gegangen. So-

15 Luc Boltanksi / Ève Chiapello, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003, Kapitel 7. 16 Habermas traute der ›offiziellen‹ Studententheorie nicht: »Die Studenten- und Schülerproteste folgen vielfach Interpretationen, die entweder ungewiss oder nachweislich falsch, in jedem Falle aber unbrauchbar sind, um Handlungsmaximen daraus abzuleiten« (Die Scheinrevolution und ihre Kinder, in ders., Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt a. M. 1970, S.  188–201, hier S.  194). »Die Topik der alten Arbeiter­ bewegung führt heute in die Irre« (200). Er erkannte »nur ein« Problem an, das bereits von Marcuse diagnostizierte (und von Daniel Bell noch zehn Jahre später bekräftigte) Aus­einandertreten zwischen faktischen Möglichkeiten der »Befriedigung« und der offiziellen »Leistungsideologie« (193). Wer eine andere Sicht vertrat, dem bescheinigte Habermas eine »Wahnvorstellung« (197) bzw., wenn es sich um Ältere handelte, eine psychische Regression (»ihre eigene Persönlichkeitsentwicklung zeigt tatsächlich Affinität zu einer anderen Altersstufe«, S. 192). Die Antwort der Linken auf diese verletzenden Vorwürfe fiel entsprechend harsch aus (Die Linke antwortet Jürgen Habermas, Frankfurt a. M. 1968, darin z. B. auch Habilvater Wolfgang Abendroth, S. 131–142). 17 Habermas spricht von »Provokation« und »symbolischer Erpressung« (Schreinrevolution, S. 198). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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fern diese These sich auf den Widerstand gegen Hitler bezieht, ist ihre Reichweite allerdings begrenzt: 1968 war keine nur deutsche Bewegung. Wie will man mit der Weiterführung des Widerstands der Väter das Free Speech Movement in Berkeley oder den Mai 68 in Paris erklären, wo die Eltern kaum oder gar nicht im Faschismus gelebt hatten? Ein weiteres Motiv könnte man im Wiederanknüpfen an die radikalen 1920er Jahre mit ihrem lebendigen Arbeiterbewegungs-Marxismus sehen.18 Doch der Marxismus half keineswegs nur, symbolische Kämpfe gegen (oder für) echte oder imaginierte Väter zu führen. Er bot darüber hinaus überaus Handgreifliches: eine ›objektive‹ theoretische Verbindung der eigenen Situation mit dem (leidenden) Rest der Welt, und zwar auf doppelte Weise. Einmal ermöglicht er eine Verbindung zwischen Hochschule und Gesellschaft. Die Demo­k ratisierung der Hochschule, um die es in den Protesten zunächst ging, sollte Modellcharakter für das ganze Land haben. Diese Repräsentativität ließ sich durch marxistische Theorien des Spätkapitalismus gut aufzeigen. Rudi Dutschke bezieht sich dafür etwa auf die Verwissenschaftlichung der Produktion, welche die ökonomische Funktion der Hochschulen stark ausgeweitet habe: »Die Verwissenschaftlichung des Produktionsprozesses [alias Wissensgesellschaft, CH] bringt notwendigerweise eine enge Beziehung zwischen den herrschenden Interessen der Gesellschaft und dem Ausbildungsgang an der Universität zustande«.19

Zum anderen erlaubte der Marxismus eine Unterfütterung der »neuen Sensibi­ lität«:20 Empathie mit den Opfern in Vietnam, mit den um ihre Rechte kämpfenden Schwarzen etc. war dann nicht mehr bloßes Mitleid. Eine Schopenhauersche Mitleidsethik vertrat ja auch Horkheimer, der aber den Krieg gegen Vietnam den Studenten gegenüber rechtfertigte und sich darin final mit Marcuse überwarf. Es war vielmehr die emotionale Wahrnehmung eines gemeinsamen moralischen Feindes – ein »moral sense« im Sinne von Adam Smith: »Heute hält uns nicht eine abstrakte Theorie der Geschichte zusammen [wie noch in der altlinken Vergangenheit des SDS, CH], sondern der existentielle Ekel vor einer [!] Gesellschaft, die von Freiheit schwätzt und die unmittelbaren Interessen und Bedürfnisse der Individuen und der um ihre sozial-ökonomische Emanzipation

18 Noch der alte Lukács staunte über das Detailwissen seiner jugendlichen Besucher, als Dutschke ihn in Budapest aufsuchte. Siehe die Tagebuchnotiz dieser Reise in Dutschke, Geschichte ist machbar, S. 43 f. 19 Demokratie, Universität und Gesellschaft (1967), in Dutschke, Geschichte ist machbar, S. 61–75, hier S. 66 f. 20 Habermas, Scheinrevolution, S. 193: Er hielt die durch sie hergestellte emotionale »Identifizierung« mit anderen Teilen der Welt für illusionär, S. 196, 198. Vgl. ihre Verteidigung bei Reimut Reiche in: Die Linke antwortet Jürgen Habermas, S. 90–104, sowie Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung, Frankfurt a. M. 1969, S. 43–76. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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kämpfenden Völker subtil und brutal unterdrückt [uns subtil, die anderen Völker brutal, CH]. / Diese radikale, weil den ganzen Menschen betreffende Dialektik des Sentiments und der Emotion (Marcuse)  […] hält uns heute stärker denn je gegen diese verstaatlichte autoritäre Gesellschaft zusammen, ermöglicht eine radikale Aktionseinheit der Antiautoritären, und zwar ohne Partei-Programm und Monopol­ anspruch«.21

Es gab im neomarxistischen Weltbild eine weltweite Einheit der Interessen, die den Kampf hier mit dem Kampf dort verband  – der Gegner, das Kapital und seine politischen Agenten, war überall derselbe. Dutschke nimmt die existentielle Dimension offen in Anspruch und setzt sie sogar an die Stelle von Theorien. Daneben treffen wir auf Marcuse als Referenzautor,22 auf eine emotionale Verbindung mit dem Rest der Welt, und auf die große Crux des Marxismus, das Theorie-Praxis-Problem. Das ist schließlich ein dritter Grund, warum ausgefeilte Entwürfe für eine Zukunftsgesellschaft nicht im Mittelpunkt standen: Diese empathische Einheit zwischen Studentenprotesten und der »rest­lichen« Weltrevolution wurde von Vielen anscheinend eindringlich empfunden. Es musste daher nicht mehr theoretisch gezeigt werden, dass die Repressalien gegen die Studentenbewegung, die mit der Tötung Ohnesorgs und dem Attentat auf Dutschke eskalierten, in unmittelbaren Zusammenhang mit globalen Kriegen standen. In der damaligen Wahrnehmung gab es eine Art Kriegs­erklärung der bürgerlichen Welt gegen die Studenten. Eine Gegnerschaft gegen das als hermetisch und faschistisch wahrgenommene globale kapitalistische System drängte sich von selbst auf. Es brauchte daher keine motivierende Theorie mehr, wenn es galt, dem Schicksal in die Speichen zu greifen.23 Das Skandalisierungspotential des Marxismus (wenn man es von seinem Diagnosepotential unterscheidet) passte allerdings nicht unmittelbar zur Weltlage. Den Arbeitern im Westen ging es besser denn je, und der Real-Sozialismus hinter der Mauer (wohin man protestierende Studenten schicken wollte) unter­ schied sich nur wenig von der »verstaatlichten autoritären Gesellschaft« des Westens. Es waren dieselben Hornbrillenträger mit zurückgekämmten grauen Haaren, Momos graue Herren eben, die einem hier wie da die selbstbestimmte Zeit raubten. In der ironisierenden Zuspitzung eines Zeitzeugen:

21 Dutschke in: Uwe Bergmann / Rudi Dutschke / Wolfgang Lefèvre / Bernd Rabehl, Rebellion der Studenten oder Die neue Opposition, Reinbek 1968, S. 91. 22 Der »ganze Mensch« könnte allerdings auch von Georg Lukács kommen. Hans Jürgen Krahl übrigens hat seine Heideggerbezüge offen verteidigt (Konstitution und Klassenkampf, Frankfurt a. M. 1971, S. 314). 23 »Unter permanentem Handlungszwang wird auf Analyse verzichtet« (Habermas, Scheinrevolution, S. 198). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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»Kapitalismus und Sozialismus ähneln sich als industrielle Gesellschaften. Würde man also mit einer klassischen Revolution das Privateigentum an Produktions­mitteln in Gemeineigentum überführen, würde man bloß eine andere Version der Industriegesellschaft mit (zu) großem Aufwand installieren«.24

Das erschwerte es zusätzlich, gehaltvolle Ziele anzugeben. Ich möchte hier nicht die These aufwärmen, dass die Lösung dieses Dilemmas die Orientierung an der chinesischen Kulturrevolution war (Mao ist ja noch in den RAF-Dokumenten überaus präsent).25 Vielmehr möchte ich darauf hinaus, dass daneben und darin »das Subjekt« zum Kampfplatz wurde – oder, wie es Dutschke Habermas entgegenwarf  – das »zu emanzipierende Subjekt«.26 Das meinte nicht nur die eigene Selbstverwirklichung, sondern auch die Erweckung der anderen (erst der Kommilitonen, später der Arbeitermassen – oder ersatzweise proletarischer Heimkinder). Der Kampf drehte sich, mit Walter Benjamin gesagt, um das Erwachen der Subjekte. Das war die wirkliche Politisierung, während Habermas aus der Sicht der Studenten nur von einer solchen redete.27 Im zitierten Organisationsreferat heißt es dazu in an Foucault erinnernder Diktion: »Die Verinnerlichung ökonomischer Gewalt erlaubt eine tendenzielle Liberalisierung staatlicher und politischer, rechtlicher und moralischer Herrschaft. […] Der Ausweg des Kapitalismus aus der Weltwirtschaftskrise im Jahre 1929 beruhte auf der Fixierung an die terroristische Machtstruktur des faschistischen Staates. Nach 1945 wurde diese außerökonomische Zwangsinstanz keineswegs abgebaut, sondern in totalitärem Maßstab psychisch umgesetzt«.28

Es gibt in dieser Weltsicht eine »staatliche Gesamtkaserne« (91), die die Subjekte als »gigantisches institutionelles Manipulationssystem« von vorn bis hinten in Beschlag nehme – und dabei sogar das Marxsche »Wertgesetz« aushebele (93). Diese Situation berechtige nun wieder den »voluntaristischen Subjektivismus« (94), den Marx einst an Bakunin kritisiert hatte. Es geht primär darum, etwas zu tun, damit man sich selbst als Subjekt-gegen-das-System konstituiert, und 24 Manfred Lauerman, 1968 – eine Nachlese 2008, in: Berliner Debatte 5 (2008), S. 31–40, hier S. 32. 25 Zum Maoismus siehe inzwischen Henning Böke, Maoismus, Berlin 2007. 26 »Professor Habermas, Ihr begriffsloser Objektivismus erschlägt das zu emanzipierende Subjekt« (Dutschke 1967 in Hannover, in ders., Geschichte ist machbar, S. 76). 27 Es scheint so, als habe der – offenbar so rüde wie charismatische – Andreas Baader die Studenten dann seinerseits übertrumpft: Er spielte dieses anti-bürgerliche Spiel noch besser und vermochte tatsächlich zu »politisieren«. Dieses ›erotische‹ Moment ist im genannten Film »Wer wenn nicht wir?« gut eingefangen. 28 Dutschke / Krahl, Organisationsreferat (1967), zit. nach Dutschke, Geschichte ist machbar, S. 90 f. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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damit die anderen aufwachen – und ebenfalls etwas tun.29 Damit ist noch immer nicht gesagt, was anschließend getan werden sollte. Ähnlich wie bei Moses Hess und Georg Lukács kann daher die »Tathandlung« – und die damit verbundene Selbsterfahrung – sich selbst zum Inhalt werden.30 Dies als Irrationalismus hinzustellen31 bleibt zwar einseitig, solange man nicht zugleich z. B. Hannah ­Arendt kritisiert: Für sie macht das Handelnkönnen ja ebenfalls den Anfang der Politik, ohne dass sie je sagt, worum es in dieser Politik gehen soll.32 Dennoch bleibt der Vorwurf berechtigt, solange keine Ziele erkennbar sind.

Der existentialistische Grundton der 1970er Jahre: Gewalt Wird die Herrschaft der ideologischen Staatsapparate über die Subjekte als gewaltsam und total erlebt, ruft dies nach drastischen Gegenmaßnahmen. Schon Marcuse hatte von einer totalen Verdichtung der Herrschaft zu einem eindimensionalen System von Staat und Wirtschaft geschrieben, das noch das Denken und das Begehren der Subjekte formte. Eine Dissertation von 2007 schließt daher mit den Worten: »Die Kritische Theorie bildet das Ergebnis der Arbeiten der Frankfurter Philosophen, ihr Lebenswerk [man bemerke auch hier die existentielle Dimension, C. H.]. Dieselbe Kritische Theorie – auch wenn sie so nicht benannt wurde – war Ausgangspunkt a­ llen revolutionären Handelns der RAF«.33

Tatsächlich findet man in den frühen RAF-Dokumenten aber wenig direkte Bezüge auf Horkheimer und Adorno, Erich Fromm oder Herbert Marcuse – oder gar auf Habermas; denn dieser hatte sich früh und klar schon von den Studenten abgegrenzt.34 Stattdessen finden sich zahlreiche Bezüge auf Lenin und Mao. 29 Interessant hierzu der Verweis auf Marx – den Dutschke / Krahl hier selbst für historisch überholt erklären – bei Rohrmoser: »Es gibt bei Marx […] keine Theorie einer Praxis, die zu ihrem Ziel erst die Konstitution eines solches Subjekts haben müsste« (Das Elend der Kritischen Theorie, S. 55). 30 Siehe die Nachlese dazu bei Rudolf zur Lippe, Bürgerliche Subjektivität: Autonomie als Selbstzerstörung, Frankfurt a. M. 1975, S. 219 ff. Vgl. auch Christoph Hennig, Die Entfesselung der Seele: Romantischer Individualismus in den deutschen Alternativkulturen, Frankfurt a. M./New York 1989, sowie Undine Eberlein, Einzigartigkeit. Das roman­ tische Individualitätskonzept der Moderne, Frankfurt a. M. 2000. 31 Habermas, Protestbewegung, S.  145 beklagte »theoretische Übervereinfachungen, […] fetischisierte Gesinnungen und […] eine irrationalistische Verklärung des Unmittel­ baren« (in Hannover 1967). 32 Hannah Arendt, On Revolution, New York 1963. 33 Susanne Kailitz, Von den Worten zu den Waffen? Frankfurter Schule, Studentenbewegung, RAF und die Gewaltfrage, Wiesbaden 2007, S. 234. 34 Nachzulesen in den Dokumenten zum Hannoveraner Kongress von 1967, bei dem der Vorwurf des »Linksfaschismus« fiel (Habermas, Protestbewegung, S. 137–152). Die Ehre © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Deutlich ist in den Schriften vor allem das Bemühen um Meinungsführerschaft innerhalb der radikalen – marxistischen – Linken: »Die RAF leugnet […] ihre Vorgeschichte als Geschichte der Studentenbewegung nicht, die den Marxismus-Leninismus als Waffe im Klassenkampf rekonstruiert und den internationalen Kontext für den revolutionären Kampf in den Metropolen hergestellt hat«.35

Auch wenn die RAF, als Gipfel des linken Terrorismus im westlichen Deutschland jener Jahre, nur selten in Geschichtsbüchern zum Marxismus erscheint,36 dürfte sie im uns interessierenden Zeitraum eine Menge Verschiebe-Arbeit geleistet haben. Sie gehört in die Geschichte des ›BRD-Marxismus‹, vielleicht sogar an zentraler Stelle. Ihre Diktion und ihr Selbstverständnis speist sich aus einer Marxinterpretation der späten 1960er Jahre, in der viel Mao, viel Dutschke und dadurch auch etwas Marcuse enthalten ist. Besser gesagt speist sie sich weniger aus diesen Theorien als aus den Aporien, die diese Theorien hinterlassen haben.37 Im Unterschied zu Adorno hatte Marcuse allerdings Wege aufgezeigt, die die Befreiung in dieser Situation nehmen konnte – etwa die Kunst und die Liebe. Die rebellischen Studenten waren ja selbst Kräfte, die er dabei anrief. Wenn also etwas an der konservativen These38 ist, dass die Frankfurter Schule die Taten der RAF mit angeregt hat, dann weniger in ihrer praxiszugewandten Form, sondern – nur scheinbar paradox – eher in der praxisfernen Variante von

einer eingehenden Polemik wurde hingegen Oskar Negt zuteil (»Negt – das Schwein«, Texte und Materialien, 160–165, November 1972). 35 Rote Armee Fraktion, Texte und Materialien zur Geschichte der RAF, Berlin 1997, 36 (verfasst im April 1971). Die typographischen Originaldrucke sind online zu finden unter www.labourhistory.net/raf/index.php, 31.08.2012. 36 Sie fehlt sowohl bei Leszek Kolakowski, Die Hauptströmungen des Marxismus. Ent­ stehung, Entwicklung, Zerfall, München 1977 f. wie im jüngeren Buch über »Marx im Westen« (Ingo Elbe, Marx im Westen: Die neue Marxlektüre in der Bundesrepublik seit 1965, Berlin 2008). 37 Diese »angelesene Revolution [Grass] […] war das Gegenstück zu jener totalen Negation der Gesellschaft, in die man sich mit den Ideen vom alles erdrückenden gesellschaftlichen Zusammenhang hineingeredet und -empfunden hatte« (Kurt Sontheimer, Das Elend unserer Intellektuellen: Linke Theorie in der Bundesrepublik Deutschland, ­Hamburg 1976, S. 169). 38 So bereits Rohrmoser, Das Elend der Kritischen Theorie, Freiburg 1970, S. 35 (»Die im Ausbruch des Irrsinns von dem lastenden Druck der versteinerten Verhältnisse sich befreiende Subjektivität wird in gewisser Weise dazu legitimiert, ohne ein Argument zu achten, auf sie in einem Amoklauf loszugehen«; mit Bezug auf eine Stelle in Theodor W. Adornos Negativer Dialektik, Frankfurt a. M. 1966, S. 279: »Das Ungetrennte lebt einzig in den Extremen, in der spontanen Regung, die, ungeduldig mit dem Argument, nicht dulden will, dass das Grauen weitergeht, und in dem … theoretischen Bewusstsein«), sowie im Nachhinein Gerhard Koenen, Das rote Jahrzehnt: Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967–1977, Frankfurt a. M. 2002, S. 116 f. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Adorno. Erst eine Diagnose des totalen Verhängnisses ohne Ausweg kann nihilistische Aktionen provozieren. Aber war die sich als »Rote Armee Fraktion« verstehende Sekte nicht nur eine von vielen marxistischen Splittergruppen, nur ein radikalisiertes Zerfalls­ produkt des SDS? In ihrem Selbstverständnis war sie deutlich mehr. Sie stellte mit Mao fest, dass der »bewaffnete Kampf […] die höchste Form des Marxismus-­ Leninismus« sei.39 Sie verstand sich also als Speerspitze der marxistischen Linken: Avantgarde und selbsternannte Anführer zugleich, da sie in der Bundesrepublik die einzigen seien, die dieses höchste Stadium erreicht hätten.40 Mit diesem Selbstverständnis wurden verwandte Strömungen und ›Sympathisanten‹ konfrontiert, und das muss gewirkt haben. Jedenfalls hat es Spuren hinterlassen – auch und nicht zuletzt in der Kultur.41 Was aber, wenn es weniger der Marxismus war, sondern primär die entschiedene und geschickt inszenierte existentialistisch-moralische Haltung, die die RAF vom studentischen Marxismus übernahm? Das würde erklären, warum sie für so viele – auch für Theologen – zum mysterium tremendum wurde. Interessanterweise hatten sich Theologen beider Konfessionen nach 1945 noch am ehesten zu Marx geäußert, katholischerseits etwa in den apologetischen Schriften von Gustav Wetter S. J., theoretisch offener in den »Marxismusstudien« der Evangelischen Akademien, die 1954–1972 erschienen und teils noch heute lesenswert sind. Dabei ging es jedoch naturgemäß nicht um schnöde Ökonomie oder Politik, sondern um theologisch anschlussfähige Themen: Heilsgewiss­ heiten, Mythologien, Lebenssinn. Vielleicht gab es auch aus diesem Grund z. B. mit Helmut Gollwitzer, der mit Ensslins Vater aus der Bekennenden Kirche bekannt war (und dann die Grabreden auf Rudi Dutschke und Ulrike Meinhof hielt), noch in Stammheim Gespräche.42 Das marxistische Selbstverständnis und die Praxis der Selbstverwirklichung wurden damals jedenfalls nicht als Alternative begriffen. Vielmehr begriffen 39 »Wir behaupten, dass die Organisierung von bewaffneten Widerstandsgruppen zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik und Westberlin richtig ist, möglich ist, gerecht­ fertigt ist. […] Dass der bewaffnete Kampf als ›die höchste Form des Marxismus-Leninismus‹ (Mao) jetzt begonnen werden kann und muss« (Texte und Materialien, S.  31; April 1971; vgl. zu Mao S. 51 und S. 143, zu Lenin S. 81). Hierüber auch Jens Benicke, Von Adorno zu Mao: Über die schlechte Aufhebung der antiautoritären Bewegung, Freiburg 2010, S. 127 ff. 40 Ähnlich noch im April 1972: »Wenn immer noch ein Teil der revolutionären Linken die RAF für die persönliche Angelegenheit von Baader und Meinhof hält […] dann schiebt sie als subjektives Problem auf uns ab, was ihr und uns objektives Problem ist« (Texte und Materialien, S. 116, vom April 1972). 41 So bedient z. B. noch der Film »Matrix« (1999) die RAF-Ästhetik – Ledermantel, Sonnenbrille, Maschinengewehr, deren Einsatz gerechtfertigt ist durch den totalen Verblendungszusammenhang der Maschinen. 42 Siehe dazu den Beitrag von Thomas Kroll zum Linksprotestantismus in diesem Band. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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selbst konservative Denker wie Bernard Willms gerade den Marxismus als Praxis der Selbstverwirklichung.43 Dann kam es aber auf den Marxismus als Theorie gar nicht mehr so sehr an. Radikale Selbsterprobung und -inszenierung bedarf keiner theoretischen Anleitung. Gibt es solche existentialistischen Motive in der RAF – jenseits des Marxismus? Suchen wir danach, springen sie uns geradezu an, etwa wenn Pastor Helmut Ensslin in einem Interview von 1968 in der Kaufhausbrandstiftung seiner Tochter Gudrun eine »heilige Selbstverwirk­ lichung« erkennen wollte.44 Oder wenn vier ereignisreiche Jahre später Gudrun Ensslin selbst – poetisch ambitioniert und mit Anklängen an Sören Kierke­ gaard – an ihre Schwester aus der Haft schreibt: »aus dem system heraus bedingt, und eben aus diesem Wesen heraus gegen das system unbedingt. Die interaktion darin ist: das system hört auf, du selbst beginnst, nicht mehr das system bestimmt die richtung, sondern du selbst subjekt bestimmst wirst«.45

Dies scheint ihrem Vater (und vielen Kritikern) darin recht zu geben, dass ein starkes Motiv für die Gewalt gegen das als übermächtig erlebte »System« in dem Verlangen nach Selbstverwirklichung zu suchen ist.46 Was bei Marx als normative Folie im Hintergrund stand und theoretische sowie politische Arbeit anleitete, gerät hier auf die Vorderbühne und wird unmittelbar angestrebt.47 Der bereits genannte RAF-Film (Wer wenn nicht wir), der auf ein Buch von Gerd Koenen zurückgeht, macht ebenfalls zwei existentielle Motive stark: zum einen die Widerständigkeit der Kunst, insbesondere der Literatur; zum anderen die 43 Bernard Willms, Marxismus und anthropologische Selbstverwirklichung (Rede auf Leo Kofler 1987), in: Mitteilungen der Leo Kofler Gesellschaft 8/2008, 42–46; siehe auch den instruktiven Kommentar von Manfred Lauermann, 35–41. Ein locus classicus ist außerdem Jon Elster, Self-Realization in Work and Politics: The Marxist Conception of the Good Life, in: Social Philosophy and Policy 3.2 (1986), S. 97–126. 44 Interview mit dem Vater nach dem Kaufhausprozess; online auf www.youtube.com/ watch?v=lkjnoaRsNL8, 31.08.2012. Hier sagt Mutter Ensslin etwas später: »Auch ich fühle mich irgendwie freier.« Siehe auch den Panorama-Film des NDR über Gudrun ­Ensslin von 1968: www.youtube.com/watch?v=edari3K-KPY, 31.08.2012. 45 Gudrun Ensslin, »Zieht den Trennungsstrich, jede Minute.« Briefe an ihre Schwester Christiane und ihren Bruder Gottfried aus dem Gefängnis 1972–1973, Hamburg 2005, S. 143. 46 Koenen (Das rote Jahrzehnt, S. 164) zitiert für solche Selbstverwirklichungsmotive, die nur als Sexualisierung und Politisierung eingekleidet wurden, zustimmend einen späteren Aufsatz von Reimut Reiche (Die sexuelle Revolution – Erinnerung an einen Mythos, in: Die Früchte der Revolution, Berlin 1988, S. 45–71, hier S. 59 f.). 47 Eine solche Rezeption / Nichtrezeption von Marx gab es bereits bei Martin Heidegger; dazu klassisch Fritz Heinemann: Neue Wege der Philosophie: Geist, Leben, Existenz. Leipzig 1929. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Erotik, mitsamt den damit verbundenen emotionalen Abgründen. Zwar war es gerade das Spannende an den marxistischen Theorien der 1960er Jahre, dass sie Sex und Politik, oder Marx und Freud, zusammenzudenken versuchten.48 Doch glaubt man den Zeitzeugen (vor allem den weiblichen),49 dann hinkte die Praxis der emanzipatorischen Rhetorik damals hinterher. Die rüde Figur »Baader« steht gewissermaßen für dieses Skandalon; vielleicht ist auch das ein Grund für die bleibende Faszination, die er ausübt.50 Ein früherer RAF-Film, der »BaaderMeinhof-Komplex« (Uli Edel, 2008), versuchte es mit Radikalvereinfachung: Der Zusammenhang wird in eine peinliche Szene gebannt, in der eine halbnackte Ensslin (alias Johanna Wokalek) mit Baader (alias Moritz Bleibtreu) ihren arabischen Ausbildern zuruft: »fucking and shooting are the same!« Welch bittere Ironie, dass vielleicht gerade solche Komplexitätsimplosionen den Rezepten der selbsternannten »Armee« ästhetisch gerecht werden. Ich komme zuletzt auf die Dissertation von Susanne Kailitz zurück: Instruktiv sind die dort dokumentierten zunehmend deutlichen Worte, mit denen sich Linke (neben Dutschke etwa Peter Brückner oder Joschka Fischer) im Laufe der 1970er Jahre von der RAF lossagten. Die Tragödie daran ist, dass die schließ­ liche Abwendung der linken Szene von der RAF mit einer Krise des Marxismus nahezu koinzidierte.51 Vielleicht hat es die RAF in dieser Hinsicht tatsächlich geschafft, sich symbolpolitisch an die Spitze der westmarxistischen Bewegung zu putschen: sie war zumindest die erste Splittergruppe, die komplett unterging. Manches an marxistischen Denkansätzen wäre ohne sie vielleicht robuster durch die lange Krise des Marxismus gegangen.

48 Paradigmatisch Reimut Reiche, Sexualität und Klassenkampf, Frankfurt a. M. 1968; Kommune 2: Versuch der Revolutionierung des bürgerlichen Individuums, Berlin 1969 (mit dabei war Jan-Carl Raspe); sowie Helmut Dahmer, Libido und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1973. Der wichtigste Vorreiter dieser Tendenz ist neben Wilhelm Reich Otto Gross, der zugleich eine Theorie der »Selbstverwirklichung« formuliert hatte. Das Buch von Koenen heisst Versper, Ensslin, Baader: Urszenen des deutschen Terrorismus, Frankfurt a. M. 2005. 49 Einige haben auf der Jenaer Konferenz interessante Debatten zum Thema Sexualität um 1968 geführt. Vgl. die erhellenden Partien dazu in Koenen, Das rote Jahrzehnt, S. 149 ff. 50 Die ihm gewidmete Verfilmung (Baader, Christopher Roth, 2002) spiegelt ihn allerdings denkbar uncharismatisch. 51 Marxistische Behandlungen der »Krise des Marxismus« sehen hier selten einen Zusammenhang: vom Proklaheft 3 / 1979: Was heißt Krise des Marxismus? bis zur Abschiedsvorlesung Frank Deppes von 2007 (»Krise und Erneuerung marxistischer Theorie«, online auf http://linkesdsgruppe3.minuskel.de, 31.08.2012) ist vom Einfluss des Terrorismus auf die Linke selten die Rede – vielleicht, weil man im Marxismus ein Allheilmittel sah, dass selbst gegen Terrorismus half (»Der Sozialismus, begriffen in der Denkschule von Marx, Engels, Lenin, ist die stärkste Waffe gegen den Terrorismus«, schreibt etwa Bruno Frei in »Weg und Ziel« 4 / 1978, online auf www.comunista.at/artikel/ marxismus-und-terrorismus.html, 31.08.2012). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Was bleibt von der Neuen Linken? Politische Ziele jenseits von Gewalt und Dogma Helmut Gollwitzer schrieb Gudrun Ensslin noch 1977, die RAF habe niemals sagen können, »wie die bessere Ordnung nach der herbeigeführten Revolution aussehen solle. ›Hier liegt Euer empfindlichstes Theoriedefizit‹«.52 Das benennt noch einmal die irrationalistische Gefahr, die durch die existentialistische Umfunktionierung von Theorie droht. Was waren doch gleich die Ziele der marxistischen Neuen Linken? Als Habermas sie auf den Minimal-Nenner einer Repolitisierung der Öffentlichkeit und Entbürokratisierung der Politik zu bringen versucht hatte,53 erntete er die schärfste Kritik, denn dies schien die Studenten in die alten Formen repräsentativer Demokratie zurückzwingen zu wollen, die sie soeben in Richtung Selbstorganisation und offener Proteste verlassen hatten. Auch Letzteres benennt noch immer keine Ziele, sondern nur andere Formen der politischen Auseinandersetzung. Vielleicht lassen sich diskussionswürdige Ziele der Neuen Linken erst erkennen, wenn man aus dem großen Narrativ einer revolutionären Völkerbefreiung, das nach außen plakatiert wurde, etwas Luft ablässt.54 Auch wenn es keine Weltrevolution gab (immerhin gab es aber 1968–73 z. B. in Lateinamerika eine Phase des »demokratischen Sozialismus«) – die Aktionen und Debatten haben trotz allem in kultur-innenpolitischer Hinsicht eine Subkultur hinterlassen, die bis heute weiterlebt und deren Umgangsformen (mit sich und mit den anderen) niemand mehr missen möchte. Ich möchte dafür eine Zusammenstellung von Zielen zitieren, die Rolf Schwendter bereits 1970 (anhand 32 repräsentativer Schriften) in seiner Theorie der Subkultur nennt: Im unteren Bereich rangieren Werte wie: »Lässigkeit, Vitalität, Treue [!], Toleranz, Kommunikationsfreundlichkeit und Muße«; im Mittelfeld Dinge wie »Spontanität, gemeinsames Leben, Gewaltlosigkeit, Gleichberechtigung und Minoritätenfreundlichkeit«, ganz oben finden sich »Solidarität, allseitige Entfaltung [!], sexuelle Freiheit, Kreativität und – vor allem – Selbstorganisation«.55 52 Helmut Gollwitzer, zit. bei Jörg Hermann, »Unsere Söhne und Töchter«. Protestantismus und RAF-Terrorismus in den 1970er Jahren, in Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006, S. 644–656, hier S. 654. 53 Habermas, Scheinrevolution, S. 189. 54 Manche – wie Joscha Schmierer – sehen immerhin einen Zusammenhang der damaligen Mentalität mit der späteren Fair-Trade-Bewegung. Auch die philosophische Strömung der »Global Ethics« knüpft hieran an. 55 Rolf Schwendter, Theorie der Subkultur. Neuausgabe, Frankfurt a. M. 1978, S.  148 f. Schwendter selbst hat die Untergrund-Kultur (nicht nur in Kassel) maßgeblich geprägt. Eine konstruktiv-institutionelle Lesart pflegt auch Fritz Vilmar, Die Ambivalenz der Studentenbewegung – und eine ihrer produktivsten Auswirkungen: die Selbsthilfebewegung, in: Faber / Stölting (Hg.), Die Phantasie an die Macht?, Hamburg 2008, S. 107–124. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Wenn dies die Ziele waren, dann hat sich die »Revolutionierung der Revolutionäre« (Dutschke) auch ohne Weltrevolution Bahn gebrochen. Der »bewaffnete Kampf« hat dazu nichts beigetragen – und darüber hinaus Schlimmes angerichtet. Schaut man sich hingegen die Marxschen Schriften noch einmal an, so geben sie eher denen recht, die sich friedlich und kompromissbereit um »die volle und freie Entwicklung« der Individuen – inklusive ihrer selbst – bemüht haben. Es steht uns daher wenig im Wege, es wieder im Geist der 1960er Jahre zu wagen: bunt, und wo es sinnvoll ist, gern auch wieder mit Marx.

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Feministische Intellektuelle Kollektive Gesellschaftskritik und Gesellschaftsutopien der Neuen Frauenbewegung Ende der 1960er Jahre

Im Folgenden soll der Versuch unternommen werden, aus der Perspektive sozial­wissenschaftlicher Geschlechterforschung zwischen zwei in diesem Band verfolgten Themen eine Verbindung zu knüpfen: dem Feld der Intellektuellentheorie – mit Blick auf die in diesen Theorien bestenfalls marginalisierte Figur der weiblichen Intellektuellen – und dem Feld von Gesellschaftskritik und Gesellschaftsutopie seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre – mit Blick auf deren feministische Ausformulierung. Als Scharnierstelle für diese Verbindung fungieren die frühen Diskurse und Interventionen der »Neuen Frauenbewegung« und deren öffentlich sichtbare Protagonistinnen. Mehrere Fragen orientieren diesen Zugriff: Warum ist die Figur der feministischen Intellektuellen anhaltend eine Leerstelle in der Historiographie und Soziologie der Intellektuellen? Weshalb bleiben bis heute prominente Wissenschaftlerinnen, Journalistinnen, Künstlerinnen und Autorinnen aus dem Umfeld der Außerparlamentarischen Opposition (APO), des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) und der hier sich entwickelnden Neuen Frauen­bewegung1 in den einschlägigen soziologischen, politik- und geschichtswissenschaftlichen Publikationen über Intellektuelle der 68er-Bewegung und deren Gefolge fast ausnahmslos ungenannt und damit in ihrer Bedeutung für »1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur« (Wolfgang Kraushaar) unerkannt? Weshalb sprechen prominente Protagonistinnen der Neuen Frauenbewegung von sich selbst nicht als (feministische) Intellektuelle, d. h. als weibliche Individuen, welche die Fähigkeit besitzen, eine Botschaft, eine Sicht, eine Haltung, Philo­ sophie oder Meinung in der Öffentlichkeit und für eine Öffentlichkeit zu repräsentieren? Und warum finden sich bislang auch im Rahmen der sozialwissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung nur spärliche Bemühungen, 1 Etwa Claudia von Alemann, Heide Bernd, Silvia Bovenschen, Antonia Grunenberg, Sarah Haffner, Frigga Haug, Elisabeth Lenk, Sibylle Plogstedt, Ulrike Prokop, Erika Runge, Helke Sander, Susanne Schunter-Kleemann, Monika Seifert, Mona Steffen, Karin Struck, Christina Thürmer-Rohr oder Michaela Wunderle, um – bei aller Willkür – hier wenigstens einige Namen zu nennen. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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das offenbar komplizierte (Selbst-)Verhältnis von Intellektualität und Weiblichkeit aufzuklären? In einem ersten Schritt leuchte ich die Gründe für das Sperrige des hier verfolgten Unterfangens aus. Hierbei wird die These entwickelt, dass es angesichts der besonderen Gestalt feministischer Intellektualität in der Neuen Frauen­ bewegung einer erweiterten Definition der Intellektuellen bedarf. In einem zweiten Schritt folgt eine knappe Skizze des Entstehungszusammenhangs der Neuen Frauenbewegung sowie die Rekonstruktion ihrer genuin eigenen, frühen Entwürfe zu individueller Autonomie und einer herrschaftsfreien Organisation der Geschlechterverhältnisse im Öffentlichen und Privaten. Ein Fazit mit Ausblick schließt den Beitrag ab.

Die feministische Intellektuelle: Eine Paradoxie? Die von ›außen‹ ausbleibende Anerkennung von weiblichen, gar feminis­tischen Intellektuellen mag ihre Wurzel in einer »gender anxiety« gegenüber der die Grenzen des Privaten überschreitenden, öffentlich denkenden, schreibenden und sprechenden Frau durch Männer haben, die ihre »Männlichkeit verteidigen«, so die Erklärung der Romanistin Barbara Vinken dafür, weshalb ent­ gegen aller juristischen Gleichheit der Geschlechter »die Lufthoheit im Geistigen de facto weiter bei den Männern liegt.«2 Für die Politikwissenschaftlerin Eva Kreisky ist es die »weitgehend ungebrochene maskuline Hegemonie in der Sphäre der Öffentlichkeit«3, aufgrund derer die feministische Intellektuelle, die nach Kreisky als Typus erst durch die Neue Frauenbewegung hervorgebracht wurde, als diskursiv weitgehend nichtexistent betrachtet werden muss. Die Philo­sophinnen Astrid Deuber-Mankowski und Ursula Konnertz beantworten die Frage, was es Frauen in Deutschland in den 1940er und 50er Jahren – und so gilt es zu konstatieren: bis heute – verunmöglichte, zu »einer solch überragenden Intellektuellen« zu werden wie Simone de Beauvoir im republikanischen Frankreich, mit Bezug auf die »Zäsur durch den Nationalsozialismus«.4 Begründungsversuche für die fehlende Zurkenntnisnahme weiblicher und feministischer Intellektueller greifen also auf sozialpsychologische, politiktheoretische und historische Erklärungsmuster zurück. Im Blick nach ›innen‹, also auf die Selbstbenennung als (feministische) Intellektuelle bzw. die Ernennung der exponierten intellektuellen Akteurinnen 2 Barbara Vinken, Die Intellektuelle: gestern, heute, morgen, in: Aus Politik und Zeit­ geschichte 40 / 210, S. 13–18, hier S. 14. 3 Eva Kreisky, Intellektuelle als historisches Modell, in: dies. (Hg.), Von der Macht der Köpfe. Intellektuelle zwischen Moderne und Spätmoderne, Wien 2000, S. 11–53, hier S. 42. 4 Astrid Deuber-Mankowsky / Ursula Konnertz, Einleitung. Intellektualität und Weiblichkeit, in: Die Philosophin 19 (1999), S. 3 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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der Neuen Frauenbewegung durch deren Historiographinnen und Theoretikerinnen, zeigt sich als eine mögliche Ursache ein anderes, strukturelles Motiv aus den Anfangsjahren der Bewegung. Diese Konstitutionsphase der Neuen Frauen­bewegung war von einer feministischen Intellektualität geprägt, die eine kollektive Produktion von Wissen mit Wahrheitsanspruch verfolgte.5 Ähnlich wie in Pierre Bourdieus mäeutischem Modell des Intellektuellen als »Geburtshelfer«, der den eigensinnigen sozialen Akteuren dazu verhelfen soll, ihre Interessen selbst zu erkennen und sich politisch zu artikulieren6, verfolgten die seit Mitte der 1960er Jahre entstehenden Frauengruppen zunächst das Ziel einer gemeinsamen Reflexions- als Selbstreflexionsfähigkeit und die Umsetzung individueller Erfahrungen in politische Sprache und Gesellschaftsanalyse.7 Angesicht der zu diesem Zeitpunkt insbesondere von Jean-Paul Sartre bestimmten Figur des »klassischen« Intellektuellen, der »sich um das kümmert, was ihn angeht, und von dem die anderen sagen, er kümmere sich um das, was ihn nichts angeht«8, definierten konsequenter Weise weder die in der politischen Öffentlichkeit  – vorzugsweise des SDS  – für diese Gruppen, ihre Erkenntnisse und Forderungen sich exponierenden, d. h. öffentlich sprechenden Frauen sich selbst als Intellektuelle, noch wurden sie innerhalb der Frauengruppen Intellektuelle genannt. Denn zur Idee und Praxis der kollektiven Produktion und Zirkulation feministischer Selbst- und Gesellschaftsanalysen  – ebenso präzise wie ironisch nachvollzogen in Helke Sanders Film »Der subjektive Faktor« (1981) – steht die Gestalt des sich positionierenden, intervenierenden und anklagenden, agonalmännlichen Solitärs seit dem »manifeste des intellectuels« der Dreyfus-Freunde Ende des 19. Jahrhunderts9 unversöhnlich quer. Auch 50 Jahre nach den Aufbruchsjahren der Bewegung scheint die Praxis und Idee kollektiver Wissens­ produktion wie ein Tabu zu wirken, das verhindert, exponierte Vertreterinnen der Neuen Frauenbewegung als feministische Intellektuelle zu thematisieren, die auf Basis ihrer spezifischen Kompetenzen politische Ein- und Entwürfe formulierten, welche von der Bewegung wiederum aufgegriffen werden konnten.10 5 Regina Dackweiler, Eingegrenzt und eingemeindet. Die neue Frauenbewegung im Blick der Sozialwissenschaften, Münster 1995. 6 Pierre Bourdieu, Die Intellektuellen und die Macht, Hamburg 1991. 7 Heide Bernd, Kommune und Familie, in: Hans-Magnus Enzensberger (Hg.): Kursbuch 17, Frau – Familie – Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1969, S. 129–146. 8 Jean-Paul Sartre, Der Intellektuelle und die Revolution. Interview mit Jean-Claude Garot. Januar 1968, in: ebd., S. 157–161, hier S. 159. 9 Dietz Bering, Die Epoche der Intellektuellen 1898–2001. Geburt, Begriff, Grabmal, Berlin 2010. 10 Eine Ausnahme bildet die Narration der wohl umstrittensten Feministin, Alice Schwarzer, welche die Exponentinnen der ersten Frauengruppen im Umfeld des SDS als »frauenbewegte Intellektuelle« bezeichnet. Auch sie nennt den Nationalsozialismus als Grund, warum in der Bundesrepublik unter Frauen »wagemutige Kreativität und intellektuelle © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Dies zeigt sich beispielhaft in der Darstellung von Barbara Holland-Cunz zur »alten neuen Frauenfrage«: Im ersten Teil  ihrer »politischen Ideengeschichte« stellt sie den modernen Feminismus des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts personenbezogen entlang von 16 politischen Theoretikerinnen und zwei Theoretikern dar und schließt den Abschnitt mit Simone de Beauvoir, der weiblichen Starintellektuellen des französischen Existentialismus und Autorin des erst in den 1970er Jahren von Feministinnen in Deutschland rezipierten Werkes »Le deuxième sexe«. Demgegenüber rekonstruiert Holland-Cunz im zweiten Teil  den »zeitgenössischen Feminismus« personenunabhängig entlang der »wichtigsten Anliegen, Probleme, Konflikte und Fragen, die Feministinnen seit 1963 bewegen«11. Anders als im Falle der historischen Frauenbewegung bedarf es offenbar für das Verständnis der »Fragen und Herausforderungen« des Feminismus seit Mitte der 1960er Jahre keiner Auseinandersetzung mit der Funktion und Bedeutung von Publizistinnen, Wissenschaftlerinnen und Künstlerinnen als Gesellschafts-, konkreter als Patriarchatskritikerinnen, sprich als weibliche Intellektuelle der Neuen Frauenbewegung. Als eindrückliches Beispiel der ausbleibenden Selbstbeschreibung als Intellektuelle soll hier die pointierte Aussage von Sigrid Fronius in einer Portraitsammlung über Aktivistinnen der Studierendenbewegung dienen: 1968 in der öffentlich herausgehobenen Funktion der Asta-Vorsitzende der FU-Berlin, bemerkt Fronius rückblickend über sich: »Als Frau stand ich nicht unter dem Druck, jemand zu sein«12. Nun ist aber gerade das »jemand sein« unauflösbar verbunden mit dem im wissenschaftlichen wie gesellschaftlichen Diskurs durchgesetzten Verständnis von Intellektuellen als Menschen, die aufgrund ihrer Intelligenz einen »gewissen Ruhm« erworben haben und diesen Ruhm »missbrauchen«, um ihre Domäne zu verlassen und die bestehende Ordnung im Namen des freien, d. h. von gesellschaftlicher Unterdrückung, Gewalt und Entfremdung emanzipierten Menschen, zu kritisieren.13 Diesem Verständnis ist zugleich das Stereotyp der schöpferisch-geistreichen Singularität des Intellektuellen einerseits und einer konsumierend-emotionalen Masse andererseits eingeschrieben, das eine politisch folgenreiche Deutungsvorlage liefert: Es evoziert eine durch Autorität legitimierte Konstellation von Führung und

Kühnheit« nur schwer gediehen – seien doch die »neuen« Feministinnen die »Töchter des Faschismus und auch selbst noch verfangen in diesem alles erstickenden deutschtüme­ ligen Schwarz-Weiß-Denken«. Alice Schwarzer, So fing es an! Die neue Frauenbewegung, München, 1981, S. 18. 11 Barbara Holland-Cunz, Die alte neue Frauenfrage. Frankfurt a. M., 2003, S. 11 12 Ute Kätzel, Die 68erinnen. Portrait einer rebellischen Generation. Königstein / Ts., 2008, S. 21 13 Vgl. Dorothea Wildenberg, Sartres »heilige Monster«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 40 / 2010, S. 19–25, hier S. 22. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Geführten, wie sie sich treffend in der Bezeichnung der »Intellektuellen als Wortführer der Massen«14 artikuliert. Sowohl die Definition des »universellen Intellektuellen« nach Sartre15 als auch die des »politisch-kritischen Intellektuellen« bei Bourdieu16 und die des »spezifischen Intellektuellen« nach Foucault17 beruht im Kern auf diesem Verständnis, dass die Intellektuellen auf ihrem jeweiligen Gebiet eben nicht niemand, sondern vielmehr jemand sind, sprich über herausragende und anerkannte Expertise, Kompetenz bzw. Wissen verfügen, was sie zu Interventionen in der Öffentlichkeit und im eigenen Feld legitimiert, das Eingreifen in die politische Welt zur Tugend und Pflicht macht und ihnen die Rolle der kämpfenden, sich ins Getümmel werfenden »Avantgarde« zuweist. Noch als Foucault in einem Interview aus dem Jahr 1977 fragt, ob die Kategorie des Intellektuellen überhaupt wünschenswert sei und fordert, dass diese insbesondere auf ihre »prophetische Funktion« verzichten sollten, scheint der männlich-agonale Führungsanspruch des Intellektuellen auf, spricht er doch im selben Atemzug von »dem Intellektuellen als dem Zerstörer der Evidenzen und Universalien, der in den Trägheitsmomenten und Zwängen der Gegenwart die Schwachstellen, Öffnungen und Kraftlinien kenntlich macht […], der, wo er gerade ist, seinen Teil zu der Frage beiträgt, ob die Revolution der Mühe wert ist und welche […], wobei sich von selbst versteht, dass nur die sie beantworten können, die bereit sind, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um sie zu machen«18.

Demgegenüber traten zu Beginn der Neuen Frauenbewegung die öffentlich sprechenden, schreibenden und sich selbst organisierenden Akteurinnen als ein anderer Intellektuellentypus in Erscheinung: »illegitime, nicht akademisch auto­risierte Theoretikerinnen, die die Verbindung zu den kollektiven Wissens­ formen herstellten, also zu dem, was es in der Frauenbewegung an Parolen, Diskursen, Haltungen, kollektiven Praktiken alles so gab.«19 Es handelt sich bei die14 Martin Greiffenhagen, Propheten, Rebellen, Minister. Intellektuelle in der Politik, München 1986, S. 67. 15 Jean-Paul Sartre, Plädoyer für die Intellektuellen, in: ders., Plädoyer für die Intellektuellen. Interviews, Artikel, Reden 1950–1971, Reinbek 1995, S. 90–148. 16 Vgl. Dackweiler, Eingegrenzt. 17 Michel Foucault, Die politische Funktion des Intellektuellen, in: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. III: 1976–1979, hg. v. Daniel Defert / François Ewald, Frankfurt a. M. 2003, S. 145–152, 205–213. 18 Michel Foucault, Nein zum König Sex. Ein Gespräch mit Bernard-Henry Lévy, in: ders., Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1977, S. 176–198, hier S. 197 f. 19 Sabine Grimm, Über feministische Intellektuelle, in: Cornelia Eichhorn / Sabine Grimm (Hg.), Gender Killer. Texte zu Feminismus und Kritik, Berlin 1994, S.  153–166, hier S. 158. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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ser feministischen Intellektualität, die sich selbst so nicht bezeichnet(e), implizit um einen Gegenentwurf zum Intellektuellen als demjenigen, der jemand ist und der deshalb Autorität nach innen und außen zugeschrieben bekommt, der (an) führt und eine breite Öffentlichkeit erreicht. Um diese paradox erscheinende Figur der kollektiven feministischen Intellektuellen der 1960er und 70er Jahre theoretisch zu fassen, bedarf es eines erweiterten Intellektuellenbegriffs. Hierfür scheint mir die Konzeption des italienischen Marxisten Antonio Gramsci (1891–1937) anschlussfähig. Zunächst geht Gramsci davon aus, dass alle Menschen Intellektuelle sind und über intellektuelle Kompetenzen verfügen, jedoch nicht alle die Funktion des Intellektuellen ausüben. Für ihn existiert keine menschliche Tätigkeit, die ohne intellektuelle Dimensionen ausführbar wäre: »Der homo faber ist vom homo sapiens nicht zu trennen. Außerdem übt jeder Mensch außerhalb seines Berufes eine gewisse intellektuelle Tätigkeit aus, er ist also ein ›Philosoph‹, ein Künstler, ein Mensch von Geschmack, hat teil an einer Weltanschauung, verfolgt eine bewußte Linie moralischen Verhaltens, trägt folglich dazu bei, eine Weltanschauung zu stützen oder zu verändern, das heißt neue Denkweisen hervorzurufen.«20 Die Aufgabe der Intellektuellen besteht nach Gramsci in der Organisation der gesellschaftlichen Reproduktion: Sie organisieren als Teil der Auseinandersetzungen und Kämpfe um die Aufrechterhaltung bzw. Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse die »Hegemonie«, also Vorherrschaft ihrer sozialen Klasse oder Gruppe und sorgen für die ideologische Zustimmung, sprich Konsens über Weltanschauung, Ziele, Normen und Werte. Nicht nur die herrschende Klasse, sondern auch die beherrschten Klassen bringen nach Gramsci Intellektuelle hervor, wobei für ihn die Intellektuellen der geschichtlich »progressiven« Klasse eine solche Anziehungskraft ausbilden, dass sie »letztlich die Intellektuellen der anderen gesellschaftlichen Gruppen sich unterordnen und folglich ein System der Solidarität zwischen allen Intellektuellen schaffen.«21 Feministische Intellektuelle zu Beginn der Neuen Frauenbewegung können in diesem Sinne als Bewegungs-Intellektuelle verstanden werden, die das Ziel verfolgten, gegen die Hegemonie der Naturalisierung patriarchaler Geschlechterverhältnisse einen Konsens über die Herrschaftsförmigkeit dieser Verhältnisse zu organisieren und Zustimmung zu deren notwendiger Transformation zu erzielen. Als öffentlich und in den Gruppen das Wort ergreifende Frauen arbeiteten sie daran, die soziale, politische und kulturelle Gleichrangigkeit, Gleichwertigkeit und Gleichwichtigkeit des »zweiten Geschlechts« zu realisieren, die trotz des verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgebots

20 Antonio Gramsci, Philosophie der Praxis. Eine Auswahl, hg. und übersetzt von Christian Riechers, o. O., o. J., S. 409 21 Ebd. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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(§ 3, Abs. 2 GG) weder öffentlich noch privat durchgesetzt war. Dies unternahmen sie zunächst innerhalb und mit der studentischen Linken, sodann verstärkt separiert, um »den Verständigungsprozess untereinander überhaupt einleiten zu können.«22

Frühe Kritikstrategien und Utopien der Neuen Frauenbewegung Anders als häufig erzählt23, meldete sich die Neue Frauenbewegung nicht erst mit der Juni 1971 von Alice Schwarzer initiierten Selbstbezichtigungs-Kam­ pagne von 374 mit Foto abgebildeten Frauen in der Wochenzeitschrift »Stern« unter der Überschrift »Wir haben abgetrieben« zu Wort, um der Forderung zur ersatzlosen Streichung des Paragraphen 218 im Strafgesetzbuch Nachdruck zu verleihen. Vielmehr artikulierten Frauen bereits ab Mitte der 1960er Jahre im Umkreis der Studierendenbewegung zunächst in kleinen Gruppen, mehrheitlich bestehend aus Studentinnen, die sich ihr Studium über Erwerbstätigkeit finanzieren mussten, sowie jungen Berufstätigen mit und ohne Kindern, ihre erfahrungsbasierte radikale Kritik an naturalisierten Geschlechterrollen und tradierter Männerdominanz, an fortbestehender Geschlechterungleichheit und dethematisierter Geschlechterherrschaft. Sie entwickelten auch bereits zu diesem Zeitpunkt eigene Entwürfe zu »individueller Autonomie, Eros und Gewaltlosigkeit als utopisches Modell der gesellschaftlichen Veränderungen«24. Und doch wird der Feminismus, wenn politische Ideen und Gesellschaftsentwürfe der 1960er und 70er Jahre, die Studierendenbewegung und die Demokrati­ sierung der bundesdeutschen Gesellschaft Thema sind, bislang nicht angemessen beachtet. Die Jahreszahl ’68 steht für eine Vielzahl von außerparlamentarischen Kampagnen und Aktionsgruppen, die sich zwischen 1960 und 1967 entwickelten, Ende 1967 bzw. im Laufe des Jahres 1968 verdichteten und einen Handlungs­ zusammenhang bildeten, der als APO, als außerparlamentarische Opposition zu einem Signum in der politischen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde. In ihrem Kontext formierte sich die Studierendenbewegung. Ereignisgeschichtlich lässt sich die APO als eine interdependente Abfolge von 22 Silvia Bovenschen, Mitschnitt der Podiumsdiskussion »Antiautoritärer Anspruch und Frauenemanzipation – Die Revolte der Revolte. Silvia Bovenschen, Sigrid Damm-Rüger, Sybille, Plogstedt, Halina Bendkowski. www.infopartisan.net/archiv/1968/29708.html (letzter Zugriff 8.7.2012) 23 So etwa Rosemarie Nave-Herz, Die Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland, 5. überarb. u. erg. Auflage, Bonn 1997 und Barbara Sichtermann, Kurze Geschichte der Frauenemanzipation, Berlin 2009. 24 Ilse Lenz, Die Neue Frauenbewegung in Deutschland. Abschied vom kleinen Unterschied. Eine Quellensammlung, 2., aktualisierte Auflage, Wiesbaden 2010, S. 45. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Aktionen und Kampagnen begreifen: Gegen atomare Aufrüstung und die Notstandsgesetzgebung, den Vietnamkrieg, die Manipulationsmacht des Springer-Konzerns und der Bild-Zeitung, Neofaschismus und das kommunikative Beschweigen der NS-Vergangenheit, für eine Hochschul- und Bildungsreform sowie internationale Solidarität mit den Opfern imperialistischer und diktatorischer Gewaltpolitik.25 An allen diesen Aktivitäten waren seit Mitte der 1960er Jahren auch Frauen beteiligt, jedoch nicht in der ersten Reihe und nicht als eigenständige Gruppierung mit erkennbar eigenen Zielen, Strategien und Organisationsformen. Die bestenfalls als marginal zu bezeichnende öffent­ liche Präsenz von Frauen in der APO verdeutlicht etwa die Zusammensetzung des Oktober 1967 gegründeten Kuratoriums »Notstand der Demokratie«, das sich mit einem heutigen Begriff feministischer Politikwissenschaft schlicht als »Männerbund«26 verstehen lässt. Die Diskurse, Kampagnen und Aktionen der APO und des SDS bildeten den Entstehungs- und Erfahrungskontext der Neuen Frauenbewegung, d. h. der autonom von bestehenden politischen Parteien, Gewerkschaften und außer­ parlamentarischen linken Gruppen sich organisierenden Frauen. Doch während die jahrelangen Kämpfe gegen die geplante Notstandstandsgesetzgebung unter dem Motto »Demokratie vor dem Notstand« geführt wurden, stellte die entstehende Neue Frauenbewegung die so offensichtlich geschlechtergeteilte Demokratie als Ganze auf den Prüfstand. Und während die Gründung der »Kritischen Universität« in Berlin am 1.  November 1967, Vorbild weiterer »­Gegenuniversitäten« unter anderem auch in Hamburg und Frankfurt, unter dem Banner der »Demokratisierung der Hochschule« stattfand, forderte die erste Frauengruppe, die Dezember 1967 in der Küche von Marianne Herzog und Peter Schneider sich ebenfalls in Berlin ins Leben rief und kurze Zeit später als »Aktionsrat zur Befreiung der Frauen« bundesweit Geschichte machen sollte, nichts weniger als die Demokratisierung der Geschlechterverhältnisse, was eine Radikalisierung der Kritik bedeutete. Die »zweite« Frauenbewegung, die sich der außerparlamentarischen Linken und der Studierendenbewegung verbunden sah, kritisierte in ihren Anfängen zugleich die männerdominierten Strukturen und Inhalte, d. h. die Emanzipationsrhetorik der hier politisch aktiven Männer, die vor der Wirklichkeit der systematischen, weil institutionell verankerten Ungleichstellung von Frauen und den gesellschaftlich produzierten Machtasymmetrien zwischen den Geschlechtern, nicht zuletzt in den eigenen vier Wänden, die Augen verschlossen. Der Berliner »Aktionsrat zur Be25 Vgl. Karl A. Otto, Vom Ostermarsch zur APO. Geschichte der außerparlamentarischen Opposition in der Bundesrepublik 1960–70, Frankfurt a. M. 1977. 26 Eva Kreisky, Diskreter Maskulinismus. Über geschlechtsneutralen Schein politischer Idole, politischer Ideale und politischer Institutionen, in: dies. / Birgit Sauer (Hg.), Das geheime Glossar der Politikwissenschaft, Frankfurt a. M. 1997, S. 161–213. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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freiung der Frauen« konzentrierte sich hierbei erstmals auf die spezifischen Konfliktkonstellationen von Frauen mit Kindern. So formulierte der »Aktionsrat«, mehrheitlich zusammengesetzt aus studierenden Müttern, in einem ersten Flugblatt den Ausgangspunkt und die Motive ihrer autonomen Organisation als Frauen: »Wir sind neidisch und wir sind traurig gewesen. Wir sind neidisch gewesen, weil uns die Gleichberechtigung etwas schwerer fiel als unseren männlichen Kommilitonen, weil uns die ersehnten genialen Höhenflüge nicht so recht gelingen wollten, und wir sind traurig gewesen, weil wir bei unseren individuellen Versuchen, Studium, Liebe, Kinder zusammenzubringen, uns verzettelten oder einfach verkrusteten […]. Täglich reden wir von antiautoritärem Kampf, von der Notwendigkeit, diese Gesellschaft zu verändern. Für viele muss diese Forderung Phrase bleiben, wenn sie nicht einmal die materielle Möglichkeit haben, das auch durchzuführen, was sie als notwendig erkannt haben. Es sind besonders die Frauen, die mit ihren Kindern zu Hause sitzen, während die Männer aktiv sind«.27

Angesprochen sind in diesem frühen Dokument bereits die Essentials der Politik und politischen Theorie der Neuen Frauenbewegung: Zum einen die Bedeutung und Veröffentlichung von Gefühlen, von Subjektivität und Erfahrung als Grundlage der kollektiven Politisierung für die »eigene« Sache; zum anderen die Widersprüche, Zumutungen und Unvereinbarkeiten im weiblichen Lebenszusammenhang aufgrund der allein Frauen zugewiesenen Arbeit in der Versorgungsökonomie; schließlich die gesellschaftlich organisierte Isolierung von Frauen mit diesen Konflikten im sogenannten Privaten sowie die ihnen jeweils individuell abverlangten Vereinbarkeitsleistungen bzw. ihre Frustrations­ toleranz im Namen der ›Liebe‹. Die Frauen des »Aktionsrats« diskutierten nicht nur seit Ende des Jahres 1967 über erfahrene Abhängigkeit, Überlastung, Unvereinbarkeit von Studium und politischer Arbeit mit Kindern, über Hilfsarbeiten für die politisch »wichtigen« Arbeiten der Männer und die Selbstverständlichkeit traditioneller häuslicher Arbeitsteilung, sondern sie handelten auch in eigener Sache: Sie gründeten »Kinderläden« – Ende 1968 gab es bereits zehn in West-Berlin, Gründungen erfolgten auch in anderen Großstädten  –, um hier wechselseitig auf die Kinder aufzupassen und so jeder Frau regelmäßig Zeit für Studium und politische Aktivität zu geben. Ziel war aber auch die Entwicklung von »revolutionären« Erziehungsmethoden und -inhalten, um das Erziehungssystems zu verändern und die gewonnenen Erkenntnisse an »die Bevölkerung heranzutragen […]. Man hatte erkannt, dass man sich nicht auf die Arbeit an der Universität beschränken darf, wenn man die Gesellschaft verändern

27 Aktionsrat für die Befreiung der Frauen, Wir sind neidisch und wir sind traurig gewesen [1968], in: Lenz, Die Neue Frauenbewegung, S. 51–52. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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will.«28 Schon beim zweiten Treffen begannen sie gemeinsam mit städtischen und konfessionellen Berliner Kindergärtnerinnen, die gezielt per Flugblatt angesprochen wurden, einen Kindergärtnerinnenstreik zu organisieren. Langfristig und gut vorbereitet für den Frühsommer 1969 geplant, wollte der »Aktionsrat« die politisch organisierbare »Macht der Frauen« demonstrieren, indem die rund 1000 beteiligten Kindergärtnerinnen gemeinsam mit Eltern beabsichtigten, der Berliner Wirtschaft eine eintägige Zwangspause zu verordnen: Die Eltern, die ihre Kinder an dem geplanten Streiktag nicht in die Kindergärten hätten schicken können, sollten an diesem Tag zu Hause bleiben und so zugleich die verschiedenen Branchen der Industrie, die mehrheitlich Frauen beschäftigten, lahmlegen. Geplant war dieser Streik als »grandioser Auftakt zur Verbesserung der Lage der Frauen«, als ein »deutliches Zeichen dafür, dass mit Frauen künftig zu rechnen ist, dass sie ihre eigenen Schwerpunkte selbständig formulieren würden.«29 Auf der 23. Delegiertenkonferenz des SDS September 1968 präzisierte Helke Sander als »Sprecherin« für den »Aktionsrat zur Befreiung der Frauen« – der Landesverband Berlin des SDS hatte ihr einen Delegiertenplatz gegeben, obwohl nur wenige der Frauen des »Aktionsrats« im Verband aktiv waren – diese Politik der Frauen für Frauen. Entlang der Konfliktkonstellationen von Frauen mit Kindern konfrontierte sie in ihrer prominent gewordenen Rede die Genossen mit der Ausklammerung von sozialer Ungleichstellung und Herrschaftsverhältnissen zwischen den Geschlechtern, der ihrem eigenen emanzipatorischen Anspruch zuwiderlief. Sie kritisierte die auch vom SDS, dem Verband, den der »Aktionsrat« als einzig »progressive Organisation« bezeichnete, vollzogene Trennung von Öffentlichem und Privatem und die Tabuisierung dieser als unpolitisch definierten Sphäre: »Diese Tabuierung hat zur Folge, dass das spezifische Ausbeutungsverhältnis, ­unter dem Frauen stehen, verdrängt wird, wodurch gewährleistet wird, dass die Männer ihre alte, durch das Patriarchat gewonnene Identität noch nicht aufgeben müssen. Man gewährt zwar den Frauen Redefreiheit, untersucht aber nicht die Ursachen, warum sie sich so schlecht bewähren, warum sie passiv sind, warum sie zwar in der Lage sind, die Verbandspolitik mitzuvollziehen, aber nicht dazu in der Lage sind, sie auch zu bestimmen (Am ersten Tag der Delegiertenkonferenz hat eine Frau gesprochen). Die Verdrängung wird komplett, wenn man auf diejenigen Frauen verweist, die innerhalb des Verbandes eine bestimmte Position erworben haben, in der sie aktiv tätig sein können. Es wird nicht danach gefragt, welche Versagungen ihnen das möglich gemacht haben, es wird übersehen, das dies nur möglich ist durch Anpassung an ein Leistungsprinzip, unter dem ja gerade auch die Männer leiden und dessen Abschaf28 Damm-Rüger, S. 4. 29 Helke Sander, Überlegung zur Bewegung, in: Ingeborg Mues (Hg.), Was Frauen bewegt und was sie bewegen, Frankfurt a. M. 1998, S. 283–303, hier S. 296. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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fung das Ziel ihrer Tätigkeit ist. Die so verstandene Emanzipation erstrebt nur eine Gleichheit in der Ungerechtigkeit, und zwar mit den von uns abgelehnten Mitteln des Konkurrenzkampfes und des Leistungsprinzips.«30

Sander rückte im Namen des »Aktionsrates« die Herrschaft legitimierenden Organisationsprinzipien bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung in den Mittelpunkt ihrer Kritik, konkret Konkurrenz und Leistung, die »Spielregeln«, denen in der Marktökonomie alle unterliegen und denen Frauen sich unterordnen müssen, um gleichen Zugang zu ungerechten, unfreien und entfremdenden Verhältnissen zu erlangen. Zugleich benannte der »Aktionsrat« die Lage von Frauen mit Kindern, die in ständigem Widerspruch zwischen ihren eigenen Erwartungen und den Ansprüchen der Gesellschaft die Wahl zwischen Studium und Berufstätigkeit oder Familie zu treffen hatten – eine »Wahl«, die in jedem Fall ein Verzicht auf vitale Bedürfnisse bedeutete. Erst wenn diese ins Private verdrängten Konflikte als gesellschaftliche artikuliert würden, so der »Aktionsrat«, sei Emanzipation von Rollenverhalten und von der Geschlechterkonkurrenz in der »Leistungsgesellschaft« möglich. Diese Emanzipation war für den »Aktionsrat« nicht individuell erreichbar, doch stellten die Frauen klar, dass die »polit-ökonomische Revolution« – wie an den sozialistischen Ländern erkennbar – nicht hinreiche, sondern begleitet sein müsse von der Aufhebung der ins Private verdrängten Probleme. Neben gemeinsamen Merkmalen in der Unterdrückung aller Frauen wurden auch »klassenspezifische Unterdrückungsmechanismen« reflektiert. Der »­A ktionsrat« rechtfertigte seine Konzentration auf Kinderläden im studen­ tischen Umfeld sowie auf die Selbstorganisation von Erzieherinnen damit, dass es hierüber erstmals gelingen könne, die politische Apathie von Frauen aufzubrechen, die aus einem tradierten, ihre spezifischen Bedürfnisse und Problemlagen ausklammernden Politikverständnis resultierte. Sander beendete die Rede mit dem Appell an die Genossen, die vom »Aktionsrat« geforderte Diskussion zu führen – »(sonst) müssen wir allerdings feststellen, dass der SDS nichts weiter ist als ein aufgeblasener konterrevolutionärer Hefeteig«.31 Die Reaktionen erschöpften sich in der Empfehlung eines SDS-Vorstandsmitglieds an die Frauen des Aktionsrats, »zur Durchsetzung ihres berechtigten Anliegens den Genossen im Verband temporär den Geschlechtsverkehr zu verweigern.«32 Dagegen verweigerte sich der Vorstand des SDS dem Versuch, nicht die Ausbeutung der Arbeiterklasse zum Ausgangspunkt von Gesellschaftskritik und politischer Praxis zu machen, sondern die Lebens- und Problemlagen von 30 Helke Sander für den »Aktionsrat zur Befreiung der Frauen«, in: Lenz, Die Neue Frauenbewegung, S. 57–61, hier S. 58. 31 Ebd., S. 61 32 Zur Behandlung der Emanzipationsdebatte auf der DK, Aktionsrat zur Befreiung der Frauen, September 1968. Handgetipptes und vervielfältigtes Flugblatt. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Frauen mit Kindern in der Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft. Rückblickend formulierte Helke Sander ihr eigenes Erstaunen über den Optimismus des »Aktionsrats«, dass der SDS diese feministische Inversion der strategischen Prioritäten und der sogenannten Haupt- und Nebenwidersprüche sowie die hierfür vollzogene radikale Entgrenzung des Politischen, von Öffentlichem und Privatem, mit vollziehen würde. Die Reaktion auf die »Rückkehr zur Tages­ ordnung« war der Tomatenwurf der hochschwangeren Sigrid Damm-Rüger, SDS-Mitglied und zwischen 1965 und 1966 studentische Sprecherin im Akademischen Senat sowie in der Philosophischen Fakultät der FU-Berlin: die in Westdeutschland vielleicht bekannteste Gründungsgeschichte einer sozialen Bewegung des 20.  Jahrhunderts. Die Tomaten gegen den Vorsitzenden HansJürgen Krahl und andere Mitglieder des Vorstands der Delegiertenkonferenz sowie der Aufsehen erregende Artikel von Ulrike Meinhof in der Zeitschrift »konkret« unter dem Titel » Die Frauen im SDS oder In eigener Sache«33 gaben bundesweit vielen Frauen im Verband den Anstoß, die eigenen Konflikt- und Widerspruchserfahrungen im als privat definierten und der politischen Diskussion entzogenen Geschlechterverhältnis in der »selbstgewählten Isolation« separater Frauengruppen erstmals zu diskutieren. Sie gründeten politisch-theoretische Arbeitskreise, so etwa in Berlin unter dem Namen »Theorie der Emanzipation«, um sich mit Kritischer Theorie, der Psychoanalyse Sigmund Freuds, weiblicher Sexualität und sozialistischer Literatur über die Lage von Frauen im Kapitalismus zu befassen. In Frankfurter nahmen SDS-Frauen wenige Wochen nach der Delegiertenkonferenz die Feierstunde zum 50. Jahrestages des Frauenstimmrechts in der Paulskirche zum Anlass, mit einem medienwirksamen go-in die Kluft zwischen verfassungsrechtlich garantierter Gleichheit von Frauen einerseits und deren umfassender sozialer wie politischer Ungleichstellung andererseits zu skandalisieren. Die Gruppe blieb auch nach dieser ersten öffentlichen Aktion zusammen und präsentierte wenige Wochen später zur 24. Delegiertenkonferenz des SDS im Hannover die Ergebnisse ihrer Diskussionen mit einem als »Weiberrat« gezeichneten »Rechenschaftsbericht«. In bester Tradition anti-autoritärer Protestkultur setzten sie im als Flugblatt verteilten »Bericht« erstmals ein weltweit bis heute zentrales Moment der Geschlechterordnung auf die politische Agenda  – eine Dimension, die aus der marxistischen Analyse kapitalistischer Vergesellschaftung ebenso ausgeblendet wurde wie aus den Gleichstellungsstrategien des bürgerlichen Liberalismus: Der »Weiberrat« thematisierte provokativ die (durch sexualrevolutionäre Parolen verbrämte)  sexuelle Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen (durch die Männer des SDS). Das Flugblatt endete mit der Forderung: »Befreit die sozialistischen Eminenzen 33 Ulrike M. Meinhof, Die Frauen im SDS oder In eigener Sache, in: Ann Anders (Hg.), Schlüsseltexte der Neuen Frauenbewegung seit 1968, Frankfurt a. M. 1988, S. 48–51. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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von ihren bürgerlichen Schwänzen!«34. Bewegte sich die erste politische Aktion des »Weiberrats« in der Paulskirche im Rahmen bürgerrechtlicher Gleichheitsforderungen und war ihr Adressat der qua Grundgesetz – allen Bürger_innen, unabhängig vom Geschlecht – Gleichheit garantierende Staat, öffnete der »Rechenschaftsbericht« die Perspektive für eine bisher aus der hegemonialen Politik ausgeblendete Dimension des hierarchischen Geschlechterverhältnisses: die Unterordnung von Frauen als sexualisierte Objekte in einer heteronorma­ tiven Geschlechterordnung.

Unabgeschlossene Anliegen – ungeschriebene Genealogien Die vorgelegte Skizze des Konstitutionsprozesses und Entstehungskontextes der Neuen Frauenbewegung Ende der 1960er Jahre sollte verdeutlichen, dass diese die antiautoritäre Studierendenbewegung zugleich kritisierte und weiterführte. Die feministischen Aktivistinnen intendierten von Beginn an umfassende und tiefgreifende soziale, politische und kulturelle Veränderungen und prägten so die Signatur der 68er- und der in ihrem Gefolge sich entwickelnden »Neuen sozialen Bewegungen« entscheidend mit: Solidarität und Emanzipation aus gesellschaftlich nicht mehr hinnehmbaren Verhältnissen, konkret die Befreiung von Frauen »aus persönlicher Abhängigkeit sowie Selbstbestimmung in jeder, in privater wie politischer Hinsicht.«35 Gesellschaftskritischer und politischer Horizont der dargestellten kollektiven Prozesse der Wissensproduktion bildeten der Herrschafts- und Unterdrückungszusammenhang von Klasse und Geschlecht, von Kapitalismus und Patriarchat. Erfahrungsbasiert analysierten und skandalisierten die Akteurinnen die Geschlechterungleichheit im Öffentlichen und im Privaten und formulierten auf dieser Grundlage gesellschaftliche Gegenentwürfe: In ihrem im Februar 1968 für den »Aktionsrat« verfassten Selbstverständigungspapier unter dem Titel »1. versuch, die richtigen fragen zu finden«, umriss Helke Sander mit Blick auf ein »utopisches mann-frau-verhältnis« ein politisches Arbeitsprogramm, welches das »Verhältnis Mann-Frau«, die »antiautoritäre Erziehung«, die »ökonomische Lage« im Sinne der wirtschaftliche Abhängigkeit von Frauen und ihrer zusehends konflikthaften Doppelrolle sowie das »Scheitern bisheriger Revolutionen«36 umfasste. In dieser ersten Phase der Neuen Frauenbewegung formulierten die Aktivistinnen, ohne individuelle Autorinnenschaft kenntlich zu machen, eine Idee 34 RECHENSCHAFTSBERICHT des weiberrats der gruppe frankfurt, in: Lenz, Die Neue Frauenbewegung, S. 62 f. 35 Ute Gerhard, 50 Jahre Gleichberechtigung – eine Springprozession, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 24–25 / 2008, S. 3–10. 36 Helke Sander, 1. versuch. die richtigen fragen zu finden, in: Lenz, Die Neue Frauenbewegung, S. 53–57. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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der Macht von Frauen mit Kindern analog zur Macht des Proletariats. Dieser Frauen­macht sollte es zukommen, selbst eine Gesellschaft zu definieren, »die Kinder und Frauen weder theoretisch noch praktisch ins Abseits bringt oder diese dazu zwingt, sich im Interesse der Kinder mit dem Status quo zu arrangieren«.37 Frauen mit Kindern sollten die Definitionsmacht erhalten, über die Organisation des gesellschaftlichen Lebens zu bestimmen. Dieser ebenso provokative wie transformative Ansatz wurde zu Beginn der 1970er Jahre von anderen feministischen Theorien und politischen Programmen und von anderen Protagonistinnen verdrängt. Er hat – angesichts einer regierungsoffiziellen Frauenpolitik, die sich unter dem Banner der Frauenemanzipation ausschließlich am Ziel einer reibungslosen Arbeitmarktintegration von Frauen mit Kindern ausrichtet – nichts an Aktualität verloren. Doch nicht nur dieser Ansatz wartet noch heute auf Unterstützung. Wie zu sehen war, steht auch eine Geschichte der feministischen Intellektuellen der Neuen Frauenbewegung aus, ebenso wie eine neue Genealogie des modernen Intellektualismus. Hier wäre die Linie der männlichen Intellektualität mit weiblicher und feministischer zu verschränken. Zu klären wäre dann nicht nur, wer wann warum in wessen Namen sprechen kann bzw. darf, sondern auch, wessen Worte aus welchem Grund Bedeutung haben und überliefert werden.

37 Sander, Überlegungen. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

III. Die Organisation der Intellektuellen: Institutionen, Denkschulen, Vernetzungsmedien

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Der Linksprotestantismus in der Bundesrepublik Deutschland der 1960er und 1970er Jahre Helmut Gollwitzer, Dorothee Sölle und Jürgen Moltmann

Einleitung In den 1970er Jahren erhielten protestantische Theologen in der intellektuellen Debatte der Bundesrepublik Deutschland viel Aufmerksamkeit. Als Indikator dafür mag gelten, dass in den von Jürgen Habermas 1979 herausgegebenen »Stichworten« zur »Geistigen Situation der Zeit« auch der Tübinger Theologe Jürgen Moltmann zu Wort kam und einen Abriss zum Thema »Theologie heute« lieferte. Auffällig ist, dass der systematische Theologe nicht nur über den langsam an Brisanz verlierenden Streit zwischen den Anhängern von Karl Barth, Rudolf Bultmann und der universalgeschichtlichen Theologie Wolfhardt Pannenbergs berichtete, sondern das politische Engagement der evangelischen Kirchen forderte und deren zunehmende Politisierung begrüßte.1 Diese Tendenz entsprach durchaus, wie Martin Greschat es formuliert, dem »Signum« der Zeit.2 Die evangelischen Kirchen hatten sich seit Anfang der 1960er Jahre massiv verändert. Auch wenn die Landeskirchen ihre traditionelle Verbandsstruktur bewahrten,3 kam es innerkirchlich zu Prozessen der Demokratisierung und einer zunehmenden politischen Öffnung.4 Die Kirchenleitungen verloren an Autorität, und den aus Laien gebildeten Synoden wurde gegenüber

1 Jürgen Moltmann, Theologie heute, in: Jürgen Habermas (Hg.), Stichworte zur »Geistigen Situation der Zeit«, 2. Band: Politik und Kultur, Frankfurt a. M. 1979, S. 754–780. Zur Poli­ tisierung der BRD vgl. Detlef Siegfried, Politisierungsschübe in der Bundesrepublik 1945 bis 1980, in: Klaus Fitschen u. a. (Hg.), Die Politisierung des Protestantismus, Göttingen 2011, S. 31–50. 2 Martin Greschat, der Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland (1945–2005), Leipzig 2010, S. 140 ff. 3 Ulrich Willems, Bedingungen, Elemente und Effekte des politischen Handelns der Kirchen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Annette Zimmer / Bernhard Weiß (Hg.), Verbände und Demokratie in Deutschland, Opladen 2001, S. 77–105, hier S. 87. 4 Friedrich Wilhelm Graf, Kirchendämmerung. Wie die Kirchen unser Vertrauen verspielen, München 2011, S. 77 ff. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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den Pfarrern größerer Spielraum zugebilligt.5 Zudem gewannen in den 1970er Jahren die Neuen Sozialen Bewegungen mehr und mehr an Einfluss in den Kirchen. Das gilt etwa für die Umweltbewegungen oder die Bürgerinitiativen gegen die Nutzung der Kernenergie, über deren Gefahren und Potentiale sich in den 1970er Jahren eine intensiv geführte Kontroverse entspann.6 Damit verbunden waren neue Formen des politischen Protestes, welche die Impulse der Bewegung von 1968 aufnahmen.7 Auch wenn sie aufs Ganze in der Amtskirche gesehen eine Ausnahme darstellten, können die Pfarrer, die im Talar an den Demonstrationen gegen den Bau des Kernkraftwerks in Brokdorf teilnahmen, als symptomatisch gelten.8 Auch die sog. DKP-Pfarrer, über die es in einigen Landeskirchen zu hitzigen Debatten kam, wären Anfang der 1960er Jahre wohl kaum toleriert geworden.9 In diesem Prozess hat die Revolte von 1968 als Katalysator gewirkt, doch kamen viele Reformtendenzen zusammen, nicht zuletzt die Öffnung der evangelischen Kirchen gegenüber den Problemen der Dritten Welt seit den frühen 1960er Jahren und die von dem Wertewandel forcierte Verbreitung eines linksrevolutio­nären Pathos im Protestantismus des westlichen Europa.10 In diesem Prozess der Politisierung und Pluralisierung der Kirchen spielten »Intellektuelle« eine wichtige Rolle. Zu nennen ist etwa der bereits zitierte Jürgen Moltmann, der zu den Vordenkern der sog. Neuen Politischen Theologie in der Bundesrepublik zählte.11 Als einflussreich können ferner die ebenfalls der 5 Wolf-Dieter Hauschild, Evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1961 und 1979, in: Siegfried Hermle u. a. (Hg.) Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 1970er Jahren, Göttingen 2007, S. 51–90, S. 60 sowie Karin Oehlmann, Die Synoden als Foren der Politisierung, in: Klaus Fitschen u. a. (Hg.), Die Politisierung des Protestantismus, Göttingen 2011, S. 61–76. 6 Vgl. dazu Thomas Kroll, Protestantismus und Kernenergie. Die Debatte in der Evangelischen Kirche der Bundesrepublik Deutschland in den 1970er und frühen 1980er Jahren, in: Hendrik Ehrhardt / Thomas Kroll (Hg.), Energie in der modernen Gesellschaft. Zeithistorische Perspektiven, Göttingen 2012, S. 93–115; Michael Schüring, Jahre der Angst. Die evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik und der Konflikt um die Atomenergie 1970–1990, in: Mitteilungen zur Kirchlichen Zeitgeschichte 6 (2012), S. 185–196. 7 Vgl. dazu auch Wolfgang Huber, Demokratie wagen. Der Protestantismus im politischen Wandel 1965–1985, in: Siegfried Hermle u. a. (Hg.), Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 1970er Jahre, Göttingen 2007, S. 383–399, hier S. 394 ff. 8 Vgl. Luise Schramm, Die Brokdorf-Pastoren versus Amtskirche, in: Mitteilungen zum Archivwesen der Nordelbischen Ev. Lutherischen Landeskirche 36 (2007), S. 20–22. 9 Helmut Gollwitzer, Zur Frage der DKP-Pfarrer, in: Junge Kirche 34 (1973), S. 400–405. 10 Vgl. dazu Hedwig Richter, Der Protestantismus und das linksrevolutionäre Pathos. Der Ökumenische Rat der Kirchen in Genf im Ost-West-Konflikt in den 1960er und 1970er Jahren, in: Geschichte und Gesellschaft 36 (2010), S. 408–436, hier S. 409, 434 ff. 11 Die »neue Politische Theologie« war explizit gegen Carl Schmitts »alte Politische Theo­ logie« profiliert worden. Anders als bei Schmitt habe nicht die gegen Revolution und Anarchie gerichtete »souveräne Staatsgewalt« im Zentrum gestanden, sondern das Subjekt »Kirche« bzw. die »Weltchristenheit« und deren politisches Engagement. So jüngst im Rückblick Jürgen Moltmann, Politische Theologie in ökumenischen Kontexten, in: Fran© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Linken zugerechneten Helmut Gollwitzer und Dorothee Sölle gelten, die in den evangelischen Kirchen der Bundesrepublik seit den späten 1960er Jahren zahlreiche Leser und Anhänger fanden.12 Den »Linksprotestantismus« jener Epoche und dessen Bild in der Öffentlichkeit prägten gerade diese drei Intellektuellen entscheidend mit, auch wenn sie sich in theologischer Hinsicht keineswegs immer einig waren.13 Einen tiefen Einschnitt in der Geschichte des bundesdeutschen Protestantismus markierten nämlich beispielsweise die von Sölle in Köln mitorganisierten Politischen Nachtgebete, die von 1968 bis 1972 aktuelle Themen aufgriffen und in liturgischen Formen massive Kritik an der bestehenden politischen Ordnung in Europa sowie der Dritten Welt übten. Bei den konservativen Protestanten trafen solche Initiativen, die auf Weltveränderung im Namen Christi zielten, ebenso auf Kritik wie das Engagement von Helmut Gollwitzer, einem Protagonisten des marxistisch-christlichen Dialogs, der Friedensbewegung und einem Verfechter der Theologie einer sozialistischen Revolution.14 Zu Prominenz gelangte Gollwitzer darüber hinaus, weil er als einer der wenigen Ordinarien an der Freien Universität Berlin die Studentenbewegung emphatisch unterstütze, mit Rudi Dutschke Freundschaft schloss und selbst das Gespräch mit den RAF-Terroristen nicht abbrechen wollte, obwohl er deren Ziele und die von ihnen praktizierten Formen der Gewaltanwendung als Mittel des politischen Kampfes kompromisslos ablehnte.15

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cis Schüssler Fiorenza u. a. (Hg.), Politische Theologie. Neuere Geschichte und Poten­ ziale, Neukirchen-Vluyn 2011, S. 1–10, hier S. 3 f. sowie Luca Corchia, I cinque cerchi diabolici: sulla nuova teologia politica di Jürgen Moltmann, Firenze 2009, S. 19 ff. Vgl. Renate Wind, Dorothee Sölle: Rebellin und Mystikerin. Die Biografie, Stuttgart 2008 sowie die Beiträge in: Ulrich Kabitz / Friedrich-Wilhelm Marquardt (Hg.), Begegnungen mit Helmut Gollwitzer, München 1984. Vgl. zum Linksprotestantismus: Christian A. Widmann, Der ›Linksprotestantismus‹ und die evangelischen Kirchen in den 1960er und 1970er Jahren, in: Cordia Baumann u. a. (Hg.), Linksalternative Milieus und Neue Soziale Bewegungen in den 1970er Jahren, Heidelberg 2011, S. 211–238. Der Begriff des Linksprotestantismus findet sich bereits in zeitgenössischen Quellen. Vgl. etwa Weil er Herr bleiben soll? Dorothee Sölle über Heinz Zahrnt: »Gott kann nicht sterben«, in: Der Spiegel, 16.11.1970, S. 225. Peter Cornehl, Dorothee Sölle, das »Politische Nachtgebet« und die Folgen, in: Siegfried Hermle u. a. (Hg.) Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 1970er Jahren, Göttingen 2007, S.  265–284; Christian A. Widmann, Vom Gespräch zur Aktion? Der »christlich-marxistische Dialog« und die Politisierung des Protestantismus in den 1960er und 70er Jahren, in: Klaus Fitschen u. a. (Hg.), Die Politisierung des Protestantismus, Göttingen 2011, S.  121–149; Pascal Eitler, Politik und Religion. Semantische Grenzen und Grenzverschiebungen in der Bundesrepublik Deutschland 1965–1975, in: Ute Frevert / Heinz-Gerhard Haupt (Hg.), Neue Politik­ geschichte, Frankfurt a. M. 2005, S. 268–303. Vgl. dazu Gottfried Orth, Helmut Gollwitzer, Mainz 1995. Vgl. zur Gewaltfrage insgesamt Pascal Eitler, »Auferstehung« als »Aufstand«. Die Gewaltfrage und die Politisierung der Religion um 1968, in: Die Zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intellektuelle Wortergreifungen 1955–1975, Stuttgart 2010, S. 153–171; Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008, S. 150. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Allerdings geht die Politisierung der Kirche keineswegs nur auf die Wortführer des Linksprotestantismus zurück, denn auch ein Theologe und Kirchen­ historiker wie Klaus Scholder, der prominentes Mitglied der FDP war, intervenierte in die politische Debatte, indem er den »Antikapitalisten« Gollwitzer oder Sölle widersprach und sich weitaus weniger fortschrittsskeptisch zu den »Grenzen des Wachstums« äußerte.16 Dezidiert konservative Positionen vertrat der Hamburger Theologe Helmut Thielicke, der sich sogar als »Antipode der sozialen Bewegungen« der 1970er Jahren kennzeichnen lässt.17 Gleichwohl spricht vieles für die die These, dass es vor allem die linksprotestantischen Intellektuellen waren, die mit ihrem Engagement zu erheblichen politischen Verschiebungen innerhalb der evangelischen Kirchen beitrugen. Welche Folgen dies wiederum für die politische Kultur der Bundesrepublik insgesamt hatte, lässt sich beim gegenwärtigen Forschungsstand nicht präzise bemessen. Allerdings verweisen die Beteiligung von prominenten Theologen an den Debatten um die Kernenergie sowie die Umwelt- und Wachstumskrisen in den 1970er Jahren und nicht zuletzt die Rolle der Linksprotestanten in der Friedensbewegung18 darauf, dass deren politische Bedeutung bislang von der zeithistorischen Forschung unterschätzt worden ist.19 So werden kirchlich verankerte und zugleich politisch durchaus relevante Teilnehmer der Debatte um die Energiepolitik, wie der Biologe und Theologe Günther Altner, in den einschlägigen Studien nicht einmal am Rande erwähnt.20 Auch die evangelischen Zeitschriften der 1960er und 1970er Jahre, in denen politische Grundsatzfragen diskutiert wurden, sind von der Zeithistorie bislang vornehmlich unter medienhistorischen Gesichtspunkten ausgewertet worden.21 Wenig Aufmerksamkeit fanden – trotz anlaufender Konjunktur der zeitgeschichtlichen Religionsforschung22 – nicht zuletzt 16 Klaus Scholder, Geleitwort, in: John B. Cobb, Der Preis des Fortschritts, München 1972, S.  7–14; ders., Grenzen der Zukunft. Aporien von Planung und Prognose, Stuttgart 1973. 17 Vgl. dazu Norbert Friedrich, Helmut Thielicke als Antipode der sozialen Bewegungen, in: Siegfried Hermle u. a. (Hg.) Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 1970er Jahren, Göttingen 2007, S. 247–261. 18 »Unsere Gefahr ist das Wischiwaschi«. Die Theologie-Professoren Dorothee Sölle und Trutz Rentdtorff streiten über Kirche und Nachrüstung, in: Der Spiegel 41 / 1983, S. 37–56. 19 Vgl. dazu Martin Schloemann, Wachstumstod und Eschatologie, Stuttgart 1973; S. 34 ff. 20 Vgl. Günter Altner, Schöpfung am Abgrund. Die Theologie der Umweltfrage, Neukirchen-Vluyn 1974; ders., Die Herausforderung von Theologie und Kirche durch die Energiekrise: Innerdisziplinäre und interdisziplinäre Verpflichtungen, in: Evangelische Theologie 39 (1979), S. 4–15; ders., Das Kreuz dieser Zeit. Von den Aufgaben des Christen im Streit um die Kernenergie, München 1977. 21 Nicolai Hannig. Die Religion der Öffentlichkeit. Kirche, Religion und Medien in der Bundesrepublik 1945–1980, Göttingen 2010. 22 Vgl. vor allem Pascal Eitler »Gott ist tot – Gott ist rot« Max Horkheimer und die Poli­ tisierung der Religion um 1968, Frankfurt a. M. 2009. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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die Protagonisten dieses Essays, die bislang selbst von den Kirchen­historikern (der theologischen Fakultäten) kaum systematisch untersucht wurden, weil sie vermutlich  – trotz aller Prominenz in den 1970er Jahren  – heute theologisch nicht mehr anschlussfähig sind.23 So beruht der vorliegende Beitrag in erster Linie auf der Auswertung von Texten der betreffenden Intellektuellen selbst und auf einer Sichtung der protestantisch-kirchlichen Diskussionsorgane, wobei hier die theologischen Stellungnahmen im engeren Sinne nur am Rande berücksichtigt wurden. Denn im Folgenden geht es vielmehr um das Verhältnis von evangelischer Kirche, Politik und Intellektuellen, das sich in den 1960er und 1970er Jahren grundlegend verändert hat.

Religions-Intellektuelle oder kirchliche Intellektuelle? Auch wenn es angesichts ihres politischen Engagements durchaus nahe liegt, ist es keineswegs selbstverständlich, Gollwitzer, Sölle und Moltmann als »Intel­ lektuelle« zu bezeichnen.24 Moltmann und Gollwitzer verstanden sich selbst in erster Linie als Theologen und als politisch engagierte Kirchenmänner, Pfarrer und später Universitätsprofessoren. Zudem machten sie eine in der Bundesrepublik für die »Theologenschaft« ihrer Generation durchaus typische Karriere. So war Helmut Gollwitzer, Jahrgang 1908, zuerst Pfarrer der Bekennenden Kirchen im Dritten Reich gewesen, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg und sowjetischer Kriegsgefangenschaft Ordinarius in Bonn, danach von 1957 bis 1975 an der Freien Universität Berlin.25 Der etwas jüngere Jürgen Moltmann, Jahrgang 1926, wurde zunächst Pfarrer, machte eine steile Universitätskarriere und lehrte schließlich von 1967 bis 1994 an der angesehenen theologischen Fakultät der Universität Tübingen. Beide Theologen arbeiteten in zahlreichen Gremien der Evangelischen Kirchen wie auch der Ökumene mit und waren insofern institutionell in den einflussreichen Netzwerken des westeuropäischen Protes23 So liegt zum politischen und theologischen Wirken von Sölle bislang nur eine fundierte Studie vor: Monika Tremel, Politik und Theologie bei Dorothee Sölle. Die Herausforderung der Frauenbewegung durch Carl Schmitt, Frankfurt a. M. 2004. Zu Gollwitzer vgl. den informativen Aufsatz von Claudia Lepp, Hellmut Gollwitzer als Dialogpartner der sozialen Bewegungen, in: Siegfried Hermle u. a. (Hg.), Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren, Göttingen 2007, S. 226–246. 24 Hier wird der Begriff des Intellektuellen in Anlehnung an die Typologie verwendet, die Ingrid Gilcher-Holtey in ihrem Beitrag zu diesem Band vorschlägt. Die linksprotes­ tantischen Intellektuellen weisen sowohl idealtypische Merkmale des öffentlichen als auch des aktivistischen Intellektuellen auf. 25 Vgl. die Skizze von Friedrich-Wilhelm Marquardt, Helmut Gollwitzer: Weg und Werk, in: Christa Hahn (Hg.), Bibliographie Helmut Gollwitzer (Helmut Gollwitzer, Aus­ gewählte Werke, Bd. 10), München 1988, S. 11–48. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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tantismus verankert.26 So wählte Gollwitzer eine nur wenig überspitzte Formulierung, als er 1975 in einer kritischen Auseinandersetzung mit seiner Zunft hervorhob, dass auch linke Theologen in der Regel weder wie »hungernde Poe­ ten in der Dachkammer noch als subversive Elemente im Untergrund« lebten, sondern in ihren Kirchen als »bezahlte Kulturbeamte« wirkten.27 Etwas anders als bei ihren männlichen Mitstreitern verlief die Karriere der 1929 geborenen Dorothee Sölle, die trotz bildungsbürgerlicher Herkunft aus dem Hause ­Nipperdey keine reibungslose Karriere machte und niemals eine Anstellung an einer theologischen Fakultät in Deutschland erhielt. Das lag zum einen daran, dass Theologinnen, welche in den 1960er und 1970er Jahren eine wissenschaftliche Laufbahn einschlugen, noch geringe Erfolgschancen hatten, zum andern aber spielte eine zentrale Rolle, dass Sölle mit der »Gott-ist-tot-Theologie« Sturm gegen das Establishment lief und eine Habilitation in Literaturwissenschaft vorzog.28 Gleichwohl lehrte sie von 1975 bis 1987 am Union Theological Seminary in New York, und ihre Bücher waren regelrechte Verkaufsschlager. So kann man Sölle zu den einflussreichsten, und zugleich wohl am meisten (nicht zuletzt innerkirchlich von der Bekenntnisbewegung) angefeindeten bundesdeutschen Theolog[inn]en der 1960er und 70er Jahre rechnen.29 Was sie zu einer »Intellektuellen« machte, war allerdings nicht ihre im Vergleich zu Gollwitzer und Moltmann eher »freischwebende« Position und ebenso wenig ihr wissenschaftliches Schaffen im engeren Sinne. Letzteres gilt gleichermaßen für Gollwitzer oder Moltmann, der mehr noch als der Berliner Theologe zu den bedeutenden Systematikern des späten 20. Jahrhunderts zählt und mit der Theologie der Hoffnung oder der trinitarischen Kreuzestheologie wissenschaftliche Meilensteine setzte.30 Entscheidend waren vielmehr bei allen dreien die provokativen Interventionen in die Politik, namentlich ihre Forderung, Kirche, Theologie, christlichen Glauben und Politik als Gesamtheit zu behandeln und der Umstand, dass sie aus dieser Grundüberzeugung einen politischgesellschaftlichen Gestaltungsanspruch des Protestantismus und damit der

26 Vgl. den mit großer Sympathie für den Protagonisten verfassten Beitrag von Wieland Zademach, Helmut Gollwitzer – von der Unmöglichkeit als Christ nicht Sozialist zu sein, in: ders. (Hg.), Reich Gottes für diese Welt – Theologie gegen den Strich, Waltrop 2001, S. 247–294, hier S. 269 ff. 27 Helmut Gollwitzer, Hic et nunc, in: Evangelische Theologie 35 (1975), S. 382–397, hier S. 387. 28 Dorothee Sölle, in: Jürgen Moltmann (Hg.), Wie ich mich geändert habe, Gütersloh 1997, S. 31–37. 29 Wind, Dorothee Sölle, S. 51 ff. 30 Jürgen Moltmann, Theologie der Hoffnung: Untersuchung zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen Eschatologie, München 1964. Vgl. dazu auch Nicholas Adams, Jürgen Moltmann, in: Peter Scott / William T. Cavanough (Hg.), The Blackwell Companion to Political Theology, Oxford 2004, S. 227–240. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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(evangelischen) Kirchen im späten 20. Jahrhundert ableiteten.31 In diesem Zusammenhang spielte die Veröffentlichung von politischen Reden und Predigten in großer Auflagenzahl eine entscheidende Rolle, da diese nicht nur die Kollegen von den theologischen Fakultäten oder Gemeindepfarrer, sondern das immer noch beachtliche theologisch interessierte Laienpublikum erreichten.32 Die »Interventionen«, die im kirchlichen Milieu auf eine große Resonanz trafen, zielten auf einen radikalen Wandel der politischen und gesellschaftlichen Ordnung in den »hochindustrialisierten reichen weißen Ländern«, die gemäß der Ansicht von Dorothee Sölle nach genuin christlichen Wertmaßstäben gestaltet werden mussten. Das »Kreuz« und der »Befreiungskampf« sollten eine Einheit bilden und Politik sowie Alltagspraxis der Christen prägen.33 Bislang liegen nur wenige Deutungsangebote und Begriffe vor, mit denen sich das in den 1960er und 1970er Jahren aufkommende, neue Verhältnis von Intellektuellen, Religion und Politik in der evangelischen Kirche der Bundes­ republik präzise fassen lässt. In diesem Zusammenhang hat Friedrich-Wilhelm Graf die Kategorie des »Religions-Intellektuellen« vorgeschlagen, die viele Perspektiven eröffnet hat, allerdings normative Züge aufweist: »Religionsintellektuelle bedienen sich der überkommenen religiösen Sinnstoffe, um Protest zu erheben, Zeichen zu geben, Partei zu ergreifen.«34 Religionsintellektuelle rufen demnach mit prophetischer Entschiedenheit dazu auf, in einer Krise Mut zu Glaubensentscheidungen aufzubringen und gehen davon aus, dass die Kraft des Gottesglaubens eine Veränderung des Status quo ermöglichen werde. Dabei können Intellektuelle nach Graf sogar glaubensschöpferisch werden und neue Religionen verkünden.35 Diese Definition hat Gangolf Hübinger – in Anlehnung an den klassischen französischen Intellektuellenbegriff – noch einmal zugespitzt und idealtypisch herausgestellt, dass »Religions-Intellektuelle« die Waffe des gesprochenen oder geschriebenen Worts in der öffentlichen Streitkultur in religionssemantischer Form gebrauchen.36 Dies alles trifft für die 31 Vgl. dazu auch Christiane Geisthardt, Die Lebenswelt der ›neuen christlichen Kultur‹ Christsein nach Dorothee Sölle, Frankfurt a. M. 1992, S. 204 ff. 32 Vgl. Wie Hochhuth, in: Der Spiegel, 12.8.1968, S. 83; Jürgen Moltmann, Die Sprache der Befreiung. Predigten und Besinnungen, München 1972; Helmut Gollwitzer, Politische Predigten. Veränderungen im Diesseits, München 1973; ders. Wendung zum Leben. Predigten 1970–1980, München 1980; Dorothee Sölle, Die Wahrheit ist konkret, Olten 31967; dies., Das Recht ein anderer zu werden, Neuwied 1971. 33 Dorothee Sölle, Wählt das Leben, Stuttgart 1980, S. 69–70. 34 Friedrich Wilhelm Graf, Propheten moderner Art? Die Intellektuellen und die Religion, in: APuZ 40 / 2010, S. 26–30; ders., Zur Einführung, in: ders. (Hg.), Intellektuellen-­ Götter, München 2009, S. VII–XII. 35 Ebd. 36 Gangolf Hübinger, Religion und politische Streitkultur im »Jahrhundert der Intel­ lektuellen«, in: Friedrich Wilhelm Graf (Hg.), Intellektuellen-Götter, München 2009, S. 101–120. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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linksprotestantischen Intellektuellen der 1960er und 1970er Jahre in der Bundesrepublik in hohem Maße zu. So heißt es in einem Schlüsseltext der politischen Theologie der 1970er Jahre, das Christentum stelle die »Kraft des Transzendierens« in den politischen Auseinandersetzungen der Gegenwart dar: »Die höchste Realität in der Geschichte ist das Reich Gottes, das kommt und das jetzt gegenwärtig ist als eine explosive Kraft in unserer Mitte.«37 Die Linksprotestanten sahen Glaube und Politik als untrennbar an und betrachteten es als ihren Auftrag, diese Botschaft zu vermitteln. Dies leiteten sie aus der (sozialgeschichtlichen oder materialistischen) Bibelexegese oder dem Gedankengut der Reformation ab, vor allem dem protestantischen Bildungsideal, oder auch der Barthschen Theologie der Königsherrschaft Cristi.38 Allerdings sollte man die glaubensschöpferischen Kräfte der Linksprotestanten nicht überschätzen, denn so provokativ die Äußerungen von Gollwitzer, Moltmann und Sölle auf die Zeitgenossen wirkten, entstammten viele ihrer Ideen doch einem internationalen Diskussions- und Rezeptionszusammenhang. Dazu gehörten beispielsweise nordamerikanische Theologen der Revolution, wie Richard Shaull, aber auch die lateinamerikanischen Befreiungstheologen oder die in den 1970er Jahren von den Linksprotestanten lebhaft diskutierte »schwarze Theologie« eines James H. Cone.39 Obgleich der Begriff des »Religionsintellektuellen« also relevante Charakteristika der Linksprotestanten zu bündeln vermag, verstellt er doch den Blick auf zwei zentrale Facetten des Engagements von Sölle, Gollwitzer und Moltmann in den 1960er und 1970er Jahren. Zunächst interpretiert Graf die Verwendung der Religionssemantik gewissermaßen als instrumentelle Reaktion von religiösen Intellektuellen auf eine säkularisierte Welt. Dass der Werte­wandel und Kirchenaustritte den Protestantismus vor schwerwiegende Probleme stellte und dies zahlreiche Soziologen wie Theologen als Säkularisierung interpretierten, steht 37 Heinz Eduard Tödt, Revolution als neue sozialethische Konzeption. Eine Inhaltsanalyse, in: Trutz Rendtorff / Heinz Eduard Tödt (Hg.), Theologie der Revolution, Frankfurt a. M. 1970, S. 13–40, hier S. 22. 38 Vgl. zur Rolle von Barth beispielsweise: Ulrich Dannemann, Karl Barth und der religiöse Sozialismus, in: Evangelische Theologie 37 (1977), S. 127–148. Vgl. ferner Dietrich Schirmer, Einleitung, in: ders. (Hg.), Die Bibel als politisches Buch. Beiträge zu einer befreienden Christologie, Stuttgart 1982, S. 7–19; hier S. 7 f. 39 Vgl. Richard Shaull, Befreiung durch Veränderung. Herausforderung an die Kirche, München 1970; James H.  Cone, Gott der Befreier. Eine Kritik der weißen Theologie, Stuttgart 1982 [1975]; Helmut Gollwitzer, Zur »schwarzen Theologie« (1974), in: ders., … daß Gerechtigkeit und Friede sich küssen. Aufsätze zur politischen Ethik, Bd.  2, München 1988, S.  208–243. Siehe auch Klaus-Michael Kinzel, Befreiungstheologie in Deutschland?, Essen 1995, S. 109 ff. Vgl. ferner Annegret Strümpfel, »Theologie der Hoffnung, Theologie der Revolution, Theologie der Befreiung« Zur Politisierung der Theologie in den »langen sechziger Jahren« in globaler Perspektive, in: Klaus Fitschen u. a. (Hg.), Die Politisierung des Protestantismus, Göttingen 2011, S. 150–167. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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außer Frage.40 Doch fassten die Linksprotestanten ihr politisches Engagement nicht als säkulares Komplement des Glaubensverlustes in der modernen Welt auf, sondern als Konsequenz eines lebendigen und wirksamen Glaubens, oder wie es ein prominenter Autor der Zeitschrift »Evangelische Theologie« fasste, als »die Gestaltung einer sozialen menschlichen Existenz in Übereinstimmung mit der strukturellen Wirklichkeit des in der Welt gegenwärtigen Jesus Christus«.41 Die Politik entsprang insofern der »Empörung« gegenüber dem Unrecht in der Welt, welches die Theologen dazu gezwungen habe, sich aus christlicher Weltverantwortung mit gesellschaftlichen Problemen auseinanderzusetzen. Die Lösung für Konflikte und Missstände sahen die Linksprotestanten allerdings im christlichen Glauben selbst, aus dem es (die aus ihrer Sicht sozialistischen) Konsequenzen zu ziehen gelte.42 Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass die »Kirche« – bei aller Kritik an der Institution und an den Nachteilen ihrer Organisationsprinzipien – nach wie vor den Mittelpunkt des theologischen und politischen Denkens der Linksprotestanten bildete. Selbst Moltmann, der nach einer kritischen Auseinandersetzung mit den nationalprotestantischen Traditionen im Jahr 1979 beklagte, die konservative Ordnungsreligion für Obrigkeit, Familie und Vaterland bestimme immer noch in hohem Maße die evangelischen Kirchen, definierte sich als politischer Akteur in und für die Kirche. Legitimes Engagement konnte er sich nur in einem kirchlich konstituierten Handlungsrahmen vorstellen.43 Auch Goll­w itzer folgte dieser Argumentation und unterstrich, den Theologen müsse es zuvorderst um die »kirchliche Wirksamkeit« gehen.44 Diese theologisch-politische Fokussierung auf die Kirche erklärt, warum die Linksprotestanten den Begriff des »Intellektuellen«, der im politischen Vokabular der 1970er Jahre durchaus bereitstand, in ihren zeitgenössischen Texten, aber auch im Rückblick in ihren Autobiographien nicht zur Beschreibung der eigenen Rolle verwendeten und sich stattdessen in erster Linie als (politische) Theologen definierten.45 Vor diesem Hintergrund scheint es sinnvoll, im Falle der Linksprotestanten nicht von Religionsintellektuellen, sondern eher von »kirchlichen Intellektuellen« zu sprechen, da dieser Begriff so-

40 Widmann, Der ›Linsksprotestantismus‹, S.  212; ferner jüngst zur Diskussion: Manuel Borutta, Genealogie der Säkularisierungstheorie. Zur Historisierung einer großen Erzählung der Moderne, in: Geschichte und Gesellschaft 36 (2010) S. 347–376. 41 So der nordamerikanische Theologe Paul Lehmann, Politik als Nachfolge, in: Evange­ lische Theologie 32 (1972), S. 560–579, hier S. 561. 42 So der Gollwitzer-Schüler Friedrich-Wilhelm Marquardt, Wir Theologen in der bürgerlichen Gesellschaft, in: Evangelische Theologie 31 (1971), S. 161–170, hier S. 169. 43 Moltmann, Theologie heute, S. 754 ff. 44 Helmut Gollwitzer, Hic et nunc, in: Evangelische Theologie 35 (1975), S. 382–397, hier S. 382. 45 Vgl. dazu Dorothee Sölle, Gegenwind. Erinnerungen, Hamburg 1995; Jürgen Moltmann, Weiter Raum. Eine Lebensgeschichte, Gütersloh 2006. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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wohl der Praxis als auch dem theologischen Selbstverständnis des betreffenden Personenkreises besser entspricht.

Linksprotestantische Intellektuelle und das Handlungsfeld Kirche Von dieser Bestimmung ausgehend stellt sich die Frage, wie sich in der evangelischen Kirche der 1960er und 1970er Jahre »Intellektuelle« konstituierten. Da zu dieser Problematik keine Forschungen vorliegen und der Wirkungszusammenhang von kirchlichen Institutionen, intellektuellen Akteuren und politischer Öffentlichkeit bislang von der Zeitgeschichtsforschung wenig Beachtung erfahren hat,46 können an dieser Stelle nur einige vorläufige Beobachtungen zusammentragen werden.47 Auch wenn es immer wieder Warnungen vor einer übermäßigen »Politisierung« der evangelischen Kirche gab,48 lehnten deren Leitungsgremien das politische Engagement ihrer Mitglieder keineswegs ab. Im Gegenteil, in der 1970 von der EKD publizierten Denkschrift »Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen« wurde vielmehr hervorgehoben, dass die Kirche »in einem Zeitalter schneller Änderungen und laufenden Wechsels« ihre öffentliche Wirksamkeit als Teil des Verkündigungsauftrags aufzufassen habe.49 In diesem Sinne hob auch Wolfgang Huber, der Anfang der 1970er Jahre an der Forschungsstelle der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg wirkte, hervor, die Kirche habe einen spezifischen Öffentlichkeitsauftrag,50 dem sie nachzukommen habe. Die Kirche müsse in der modernen »Gruppengesellschaft«, so hieß es weiter in der zitierten Denkschrift der EKD, als eine unter anderen Gruppen ihre Meinung zu politisch und gesellschaftlich relevanten Fragen dezidiert äußern: »Die Willensbildung, besonders in der von industriellen Arbeitsformen geprägten Gruppengesellschaft, erfordert einen Dialog zwischen den gesellschaftlichen Gruppen.«51 Abgeleitet wurde der Öffentlichkeitsauftrag der Kirche, den die linksprotestantischen Intellektuellen unterstützten, aus der »Barmer Theologischen Erklärung« von 1934 und der dort bereits formulierten theologischen Prämisse, 46 Hübinger, S. 119. 47 Vgl. dazu auch Kroll, Protestantismus und Kernenergie, S. 97–101. 48 Vgl. etwa Hans Otto Wölber, Politisierung – Gefahr für die Einheit der Kirche?, in: Evangelische Kommentare 1968, S. 136–143. 49 Aufgaben und Grenzen kirchlicher Äußerungen zu gesellschaftlichen Fragen (1970), in: Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland, Band I,1, Gütersloh ³1988, S. 43–75, hier S. 45. 50 Wolfgang Huber, Konsequenzen sind noch zu ziehen. Zur Aktualität der Barmer Theo­ logischen Erklärung, in: Lutherische Monatshefte 13 (1974), S. 298–301. 51 Denkschrift, S. 51. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Gott habe Anspruch auf das ganze Leben der Menschen und nehme keinen Lebensbereich aus.52 Der Rückzug in die »Privatheit« individueller Religiosität galt selbst den Oberen der EKD als unzulässig. So müsse sich jeder Christ über seine Gegenwartsgesellschaft informieren, sich mit den Problemen der Zeit kritisch auseinandersetzen und die Diskussion suchen. Dass die Konfrontation mit den Zeitfragen durchaus zu Konflikten innerhalb der EKD und mit externen gesellschaftlichen Akteuren führen konnte, stand angesichts des Pluralismus in der evangelischen Kirche für kaum jemanden in Frage.53 In der Tat existierte ein umfangreiches Set von Akteuren und Institu­tionen, das die innerkirchliche Meinungsbildung umsetzte. An Diskussion und Debatte  – darauf verweisen die protestantischen Zeitschriften der 1960er und 1970er Jahre – fehlte es nicht. Auch Kirchenleitungen, Synoden, Kirchentage, Akademien, Forschungsstellen, Expertenkommissionen, die Denkschriften ausarbeiteten, freie kirchliche Gruppen und die seit 1968 massiv politisierten Studentengemeinden trugen zur Konstituierung einer kirchlichen Öffentlichkeit bei.54 Selbst wenn evangelische Aktivisten der Studentenrevolte Mitte der 1970er Jahre viele ihrer Erwartungen enttäuscht sahen und Hans-Jürgen Benedict sogar eine »Stornierung aller innerkirchlichen Demokratisierungsversuche« konstatierte, spricht aus heutiger Sicht dennoch vieles dafür anzunehmen, dass die Diskussionen in der EKD in den 1970er Jahren weitaus offener und kontroverser geführt wurden als noch in den 1950er und frühen 1960er Jahren.55 Die Streitkultur der Intellektuellen in der evangelischen Kirche war ebenfalls in hohem Maße differenziert, in politischer wie in theologischer Hinsicht. Von zentraler Bedeutung waren die intellektuellen Diskussionsorgane,56 die spezifische Positionen innerhalb der Kirche repräsentierten: die »Evangelischen Kommentare«, die »Lutherischen Monatshefte«, das »Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt« und nicht zuletzt die Flaggschiffe der Linksprotestanten, die »Junge Kirche« und (bis zu einem gewissen Grad) die »Evangelische Theologie«, 52 Zur Barmer Theologischen Erklärung vgl. Wolf-Dieter Hauschild, Konfliktgemeinschaft Kirche. Aufsatz zur Geschichte der Evangelischen Kirche in Deutschland, Göttin­gen 2004, S. 141 ff. 53 Vgl. dazu Erwin Wilkens, Politischer Dienst der Kirche, Gütersloh 1978, S. 43 f. 54 Widmann, Der ›Linksprotestantismus‹, S. 228 ff.; ferner Stephan Linck, »Jetzt hilft nur noch eine Flugzeugentführung!«: Die Radikale Linke und die Evangelische Studenten­ gemeinde in Hamburg 1973–1978: in: Klaus Fitschen u. a. (Hg.), Die Politisierung des Protestantismus, Göttingen 2011, S. 77–89. 55 Vgl. Hans-Jürgen Benedict, Kirche in der demokratischen Gesellschaft, demokratische Praxis in der Kirche, in: Evangelische Theologie 36 (1976), S. 381–392, hier S. 382. 56 Vgl. dazu auch Michel Grunewald, Le protestantisme allemand, sa presse et ses résaux (1871–1963), in: ders. / Uwe Puschner (Hg.), Das evangelische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871–1963), Bern 2008, S.  3–22, hier S. 19 ff. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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zu deren Herausgebern oder ständigen Mitarbeitern auch Sölle, Gollwitzer und Moltmann gehörten.57 Trotz aller Meinungsverschiedenheiten und gegenseiti­ gen Anfeindungen lässt sich, soweit dies beim gegenwärtigen Stand der Forschungen abgeschätzt werden kann, durchaus von einem intensiven Dialog der verschiedenen Gruppierungen und Strömungen von Intellektuellen sprechen. Allen gemeinsam war nämlich das Ethos, das Helmut Gollwitzer mit einer zugespitzten Formulierung auf den Punkt gebracht hat. Die Weisungen des Evangeliums böten dem Christen »Richtung und Linie«, so intonierte der Berliner Theologe im Anschluss an Karl Barth, und bildeten zugleich eine Ver­ pflichtung, am politischen Kampf teilzunehmen und Lösungen für die brennenden politische Fragen der Zeit zu suchen. Letztere ließen sich jedoch nur lösen mit Hilfe von Vernunft, Reflexion, Analyse und der sachgemäßen Prüfung von politischen Maßnahmen.58 Darum betonte Helmut Gollwitzer (als lutherischer Barthianer) immer wieder, dass sich konkrete politische Entscheidungen niemals aus theologischen Axiomen deduzieren ließen.59 Politik bleibe Sache der Freiheit und Gegenstand einer vernunftgeleiteten Diskussion, oder mit theo­logischem Pathos formuliert: »Wo der Glaube in der Liebe zur Tat wird, begibt er sich in den Bereich der Vernunft«.60 Diesen Prozess zu fördern, stellte nach Gollwitzer eine der zentralen Auf­ gaben der Intellektuellen im kirchlichen Meinungsbildungsprozess dar. Eine derartige Auffassung von der Rolle des Intellektuellen lässt sich kaum mit den Bestimmungen des Idealtypus des Religionsintellektuellen in Einklang bringen, also einem Propheten moderner Art, der sich religiöser Semantik bediene, um politisch zu wirken. Auch wenn viel Selbststilisierung im Spiel war, verstanden sich die Linksprotestanten als Repräsentanten einer reflektierenden Vernunft in der Kirche, die Glaube und Politik in Einklang brächten. Die Option für den Sozialismus schloss dies nicht aus. So plädierten Sölle, Gollwitzer und Moltmann für ein politisches Engagement, das auf Probleme in der »modernen Klassengesellschaft« reagierte, indem sie aus ihrer Sicht sachgerechte und möglichst empirisch-konkrete Lösungsvorschläge machten, die zum »Sozialismus« führen sollten und zugleich dem Sinn des Evangeliums entsprächen.61 Denn der Glaube an den Gekreuzigten, so unterstrich Moltmann, bleibe auch in den Augen eines 57 Vgl. dazu auch: Sven-Daniel Gettys, Wie politisch darf die Kirche sein? Politisierungsdiskurse in protestantischen Zeitschriften (1967 / 68), in: Klaus Fitschen u. a. (Hg.), Die Politi­sierung des Protestantismus, Göttingen 2011, S. 221–242. 58 Helmut Gollwitzer, Klassenkampf ist keine Illusion, in: Lutherische Monatshefte 13 (1974), S. 561–565, hier S. 562. 59 Ders., Hic et nunc, S. 386. 60 Bruno Schmidt-Späing, Ethisches und politisches Urteilen. Beispielhaft an den Positionen Helmut Gollwitzers zur Wiederaufrüstungsfrage nach 1945 Stuttgart 1987, S. 248. 61 Helmut Gollwitzer, Forderungen der Umkehr. Beiträge zur Theologie der Gesellschaft, München 1976, S. 149 ff.; Sölle, Christen für den Sozialismus, S. 19 f.; Jürgen Moltmann, Zukunft der Schöpfung, München 1977, S. 136 f. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Christen, der sich für den Sozialismus engagiere und gesellschaftliche Veränderungen herbeiführen wolle, »eine größere Umkehr als die bekannten revolutionären Herrschafts- und Eigentumsveränderungen.«62 Eine solche Konzeption stellte eine Überhöhung der Rolle der (linksprotestantischen) Intellektuellen in der Kirche dar, und das avantgardistisch-missionarische Selbstverständnis, das in ihren politischen Forderungen zum Ausdruck kam, ist durchaus als ein zentrales Element der Legitimation ihres politischen Engagements zu betrachten. Flankiert wurde die Teilnahme an der intellektuellen Streitkultur der EKD durch die Mitarbeit in politisch-konfessionellen Gruppierungen außerhalb der Kirche. Dies gilt keineswegs nur für die Linksparteien der Bundesrepublik, sondern beispielsweise auch für den »Evangelischen Arbeitskreis in der CDU«, in dem der eher konservative Eberhard Jüngel auftrat. Für die Linksprotestanten war die von Dorothee Sölle gegründete Gruppe »Christen für den Sozialismus« von besonderer Bedeutung. Diese nahm Impulse der Befreiungstheologie auf und bildete eine Art linksprotestantischen Intellektuellenbund, dessen politischen Einfluss aufs Ganze gesehen allerdings nicht überschätzt werden sollte.63 Schwer zu bemessen ist auch die öffentliche Wirkung der Fernseh­auftritte von Klaus Scholder, der ständiger Kommentator beim ZDF war und dieses Medium ebenso nutzte wie etwa die von Günter Gaus zu prominenter Sendezeit interviewte Dorothee Sölle.64 Auch wenn ferner einige der protestantischen Intellektuellen Mitglieder des Rates von Sachverständigen des Bundestags waren und dort protestantische Prinzipien oder die korporativen Interessen der Kirchen vertraten, lag das Zentrum des politischen Engagements der links­ protestantischen Intellektuellen in der Organisation der Kirche selbst sowie in deren Medien.65

62 Ders., Theologie des Kommunismus und Theologie der Hoffnung, in: Evangelische Kommentare 3 (1970), S. 149–152, hier S. 151. 63 Greschat, Der Protestantismus, S. 140 ff. 64 Scholder, Grenzen der Zukunft (Klappentext). Vgl. auch Heiner Süsebeck, »…kann ich doch… nicht aufhören,… die Toten mitessen zu lassen« Ein Briefwechsel zwischen Hermann Schlingensiepen und Dorothee Sölle, in: Monatshefte für evangelische Kirchen­ geschichte des Rheinlandes 61 (2012), S. 213–233, hier S. 226. 65 Vgl. zur Medialisierung des Religiösen auch Überlegungen von Nicolai Hannig, Von der Inklusion zur Exklusion? Die Medialisierung und Verortung des Religiösen in der Bundesrepublik (1945–1970), in: Frank Bösch / Lucian Hölscher (Hg.), Kirchen – Medien – Öffentlichkeit. Transformation kirchlicher Selbst- und Fremddeutungen seit 1945, Göttingen 2009, S. 33–65. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Das Aufkommen des intellektuellen Linksprotestantismus und sein Weltbild Von diesen Überlegungen ausgehend gilt es nun zu klären, warum die links­ protestantischen Intellektuellen gerade in den 1960er und 1970er Jahren Einfluss in der Kirche (und möglicherweise auch in der bundesrepublikanischen Gesellschaft) gewannen und welche politischen Konzeptionen sie konkret vertraten. In diesem Zusammenhang läge es nahe, die zunehmende Politisierung und den Bedeutungsgewinn der linksgerichteten Intellektuellen in der Kirche auf den Impuls von 1968 zurückzuführen.66 Dass die Studentenrevolte von 1968 auch in der EKD weitreichende Wirkungen hatte, steht außer Frage, doch sollte die Relevanz von längerfristigen Wandlungsprozessen und Traditionen nicht unterschätzt werden. Dafür spricht zunächst ein Blick auf die Generationen­ zugehörigkeit der linksprotestantischen Wortführer der 1960er und 1970er Jahre. Für das politische Engagement der betreffenden Intellektuellen spielte in vielen Fällen die »Barmer Theologische Erklärung« von 1934 eine wichtige Rolle, und auch das Engagement in der Bruderräten der Nachkriegszeit prägte die Auffassung des Verhältnisses von Politik und Glaube.67 Dies gilt offensichtlich für Gollwitzer, der als junger Pfarrer in der Bekennenden Kirche tätig gewesen war und 1937 bei Karl Barth in Basel promoviert hatte. Von großer Bedeutung war auch die Tradition der Religiösen Sozialisten, die zwar immer nur eine Minderheit der Pfarrer und evangelischen Kirchgänger zu mobilisieren vermocht hatten, aber für die politische Ideen und die Vorstellungswelt der linkprotestantischen Intellektuellen erhebliche Bedeutung gewannen.68 Charakteristisch ist ferner das Engagement in der Bewegung gegen die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik in den 1950er Jahren, an der Gollwitzer wie viele linke Christen teilnahm.69 Allerdings sollten derartige Kontinuitäten nicht über die tief greifenden Umbrüche und die Pluralisierung des Protestantismus in den 1960er und 1970er Jahren hinwegtäuschen. So fielen eindeutige politische Zuordnungen immer schwerer, wie eine Selbsteinschätzung von Gollwitzer deutlich macht, der sich als unabhängiger Linker ökologischer, marxistischer, 66 Vgl. dazu auch die Überlegungen von Wolf-Dieter Hauschild, Kontinuität im Wandel. Die Evangelische Kirche in Deutschland und die sog. 68er Bewegung, in: Bernd Hey /  Volkmar Wittmütz (Hg.), 1968 und die Kirchen, Bielefeld 2008, S. 35–54, hier S. 47 ff. 67 Vgl. Widmann, Der ›Linksprotestantismus‹, S. 213 ff. 68 Vgl. Wolfram Weiße, Reich Gottes, Göttingen 1997, S. 55 ff.; Ulrich Dannemann, »Den Gefangenen Befreiung!« – Impulse der religiös-sozialistischen Bewegung in der Theologie Karl Barths, in: Martin Stöhr (Hg.), Theologische Ansätze im religiösen Sozialismus, Frankfurt a. M. 1983, S. 49–77, hier S. 72 ff.; Helmut Gollwitzer, Bergpredigt und ZweiReiche-Lehre, in: ebd., S. 79–106. 69 Helmut Gollwitzer, Skizzen eines Lebens, Gütersloh 1998, S. 264 ff. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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christlicher, lukanischer, lutherischer, barthscher sowie demokratisch-sozialistischer Prägung präsentierte und sich von der SPD ebenso wie von der DKP entschieden distanzierte.70 Auch wenn hier eine prinzipielle Ablehnung des Engagements in Parteien aufscheinen mag, wäre es durchaus verfehlt, den Linksprotestantismus der 1960er und 1970er Jahre als eine den Zeitumständen angepasste Variante überkommener nationalprotestantischer Auffassungen zu präsentieren.71 Denn ebenso wichtig wie die Kontinuitäten waren die innova­ tiven Impulse, die in den 1960er Jahre vom Ökumenischen Rat der Kirchen ausgingen.72 So tagte 1968 eine Synode der EKD, die sich expressis verbis mit dem Thema »Weltverantwortung der Kirche in einem revolutionären Zeitalter« befasste.73 Die neue Relevanz der Dritten Welt hat Jürgen Moltmann etwas pathetisch, aber im Kern wohl zutreffend auf den Punkt gebracht, als er zwei Generationen gegenüberstellte. Für die Angehörigen der älteren Generation sei es ein Schock gewesen, »als sie 1945 sich selbst und die deutsche Situation ihrer Zeit in den Augen ihrer Opfer, der Juden, der Verfolgten, der Ermordeten erkannten.« Für die neue Generation sei es nicht nur das Schweigen angesichts von ­Auschwitz, das erschüttere, sondern die Gleichgültigkeit gegenüber dem Elend in der Dritten Welt: 70 Ders., Ich bin Kommunist (1976), in: ders., Umkehr und Revolution. Aufsätze zu christlichem Glauben und Marxismus, Bd. 2, München 1988, S. 30–38. 71 In einem Porträt von Hans Joachim Iwand (1899–1960), der für viele Linksprotestanten eine intellektuelle Referenz darstellte, postuliert Friedrich Wilhelm Graf eine Kontinuitätslinie von Nationalprotestantismus und dem Linksprotestantismus der ersten Nachkriegsjahrzehnte. Der einstmals »begeisterte Soldat und Freicorpskämpfer« Iwand habe sich zwar nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem »moralischen Fundamentalismus« konvertiert, aber viele theologische und politische Elemente seiner nationalprotestantischen Grundhaltung seien bestimmend geblieben: »[…] der moralische Ekel gegen Amerika und den Kapitalismus, der Antiindividualismus und der Glaube an bindende Gemeinschaft, die Kritik an Aufklärung und Liberalismus, die Polemik gegen Parteien­ herrschaft und Ideenkonkurrenz, das homogenitätsorientierte Politikideal und die ihm entsprechende antipluralistische Ekklesiologie, sowie schließlich die mangelnde Bereitschaft, eine relative Autonomie des Politischen gegenüber Glaube und Kirche anzuerkennen.« Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Hans Joachim Iwand, in: Wolf-Dieter Hauschild (Hg.), Profile des Luthertums. Biographien zum 20. Jahrhunderts, Gütersloh 1998, S. 369–395, hier S. 386; ferner die Bemerkungen von Widmann, Der ›Linksprotestantismus‹, S. 215; Rolf Heinrich, Ein politischer Theologe des Kreuzes – H. J. Iwand, in: Junge Kirche 37 (1976), S. 243–253. 72 Vgl. Richter; Helmut Gollwitzer, Die reichen Christen und der arme Lazarus. Die Kon­ sequenzen von Uppsala, München 1968, S. 33 ff. 73 Die Zukunft der Kirche und die Zukunft der Welt. Die Synode der EKD 1968 zur Weltverantwortung der Kirche in einem revolutionären Zeitalter, im Auftrag der Synode herausgegeben von Erwin Wilkens, München 1968. Vgl. ferner Roland Spliesgart, Theologie und »Dritte Welt«, in: Siegfried Hermle u. a. (Hg.), Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 1970er Jahre, Göttingen 2007, S. 189–209. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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»Für viele jüngere Deutsche ist es ein Schock, sich selbst und die westdeutsche Situation in dieser Zeit mit den Augen ihrer räumlich entfernten Opfer in der ›Dritten Welt‹, der Hungernden in Indien, der Ausgebeuteten in Brasilien, der Unterdrückten in Südafrika zu sehen. Die Bundesrepublik, zusammen mit den weißen, reichen In­ dustrienationen, sieht in den Augen ihrer Opfer anders aus, als sie sich selbst sehen, darstellen und gesehen werden möchte.«74

Diese politische Betrachtungsweise, die zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Befreiungstheologie führte, wurde durch die Erfahrung der ökonomischen und gesellschaftlichen Krise der westlichen Gesellschaften in den 1970er Jahre bestätigt. In vielen Texten von Gollwitzer oder Sölle finden sich entsprechend Hinweise darauf, dass sie die Wachstums-, Umwelt- und Energiekrisen in ihrer Gesamtheit als Überlebenskrise der Menschheit betrachteten, die eine neue Antwort der Christen und deren Engagement für eine (sozialistische) Veränderung der Welt verlange.75 Diese Krise führte Gollwitzer, der sich seit den 1950er Jahren intensiv mit dem Marxismus auseinandersetzte,76 auf den Kapitalismus zurück.77 Den Kapitalismus verstand er als eine »rapide eskalierende Revolution der Destruktivkräfte«, die den partikularen Interessen der besitzenden Klassen zum Sieg verhelfen würde, wenn es nicht gelänge, Gegenkräfte zu mobilisieren.78 Die Krise wurde als Überlebenskampf gefasst, die Systemänderung zum eschatologischen Ereignis. So schrieb Gollwitzer 1974 in einem Beitrag in der »Jungen Kirche«: »Die Menschheit wird nur überleben, wenn im jetzigen Höchststadium der kapitalistischen Revolution, die den ganzen Erdball umpflügt, der Vorrang der partikularen Interessen gebrochen wird.«79 Dazu müsse ein »revolutio­närer Gegenprozess« mobilisiert werden, der auf die Etablierung des Sozialismus ziele. Der Christ müsse Partei nehmen im sich alltäglich vollziehenden Klassenkampf und  – so die theologische Wendung  – »umkehren«, um den Weisungen des Evangeliums gerecht zu werden, das heißt, sich auf die Seite der Unterdrück74 Moltmann, Theologie heute, S. 754–755. 75 Vgl. dazu auch die Analyse von Martin Schloemann, Wachstumstod und Eschatologie. Die Herausforderung christlicher Theologie durch die Umweltkrise, Stuttgart 1973. 76 Vgl. dazu etwa die erstmals in den frühen 1960er Jahren publizierten Beiträge von Helmut Gollwitzer, Die marxistische Religionskritik und der christliche Glaube, Hamburg 1971. 77 Bas Wielenga, Umkehr und »revolutionärer Gegenprozess« bei Gollwitzer, in: Brigitte Kahl / Jan Rehmann (Hg.), Muß ein Christ Sozialist sein? Nachdenken über Helmut ­Gollwitzer, Hamburg 1994, S. 60–72, hier S. 63. 78 Hier bezieht sich Gollwitzer nicht nur auf Marx, sondern auf Überlegungen von A. M. Klaus Müller, Die präparierte Zeit, Stuttgart ²1973. Siehe dazu ebd. S. 13–19, das Geleitwort von Helmut Gollwitzer. 79 Helmut Gollwitzer, Ethische Positionen in der Politik, in: Junge Kirche 35 (1974), S. 392–394. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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ten in der Dritten Welt oder der urbanen Unterschichten in der Ersten Welt zu schlagen.80 Diese Ansicht teilte auch Dorothee Sölle, die in einer programmatischen Schrift der »Christen für den Sozialismus« von 1975 hervorhob: »Das Auftreten von Christen für den Sozialismus ist nicht nur eine politische Notwendigkeit, sondern auch eine christliche. Der Glaube selber fordert eine Stellungnahme im Kampf auf der Seite der Ausgebeuteten. Die Verwirklichung des Glaubens fordert eine Teilnahme am revolutionären Prozess.«81

Die Intellektuellen beriefen sich insofern auf den Willen Gottes, den sie in der politischen Arena verkündeten und gemäß ihrer eigenen Interpretation geltend zu machen suchten. Besonders pointiert findet sich diese Auffassung in einer der umstrittensten Schriften von Gollwitzer: »Das Ziel ist eine sozialistische, klassenlose Gesellschaft. Hinsichtlich dieser Zielvorstellung, die zugleich das Kriterium für die Kritik jeder bestehenden Gesellschaft gibt, läßt der Wille des Vaters dem Jünger keine Wahl. Er muß Sozialist sein.«82

Diese göttliche Rechtfertigung des Sozialismus und seine Gleichsetzung mit dem Reich Gottes finden sich in zahlreichen weiteren Texten des Theologen. So formulierte Gollwitzer mit Bezug auf seinen Lehrer Karl Barth: »›Sozialistisch‹ ist also, so wird man sagen müssen, ein Prädikat des Evangeliums. Gott will Sozialismus. Das Reich Gottes ist der wahre Sozialismus, – sowohl als Ziel der Geschichte Gottes mit seiner Menschheit wie schon jetzt, in der gegenwärtigen Bewegung hier auf Erden. Aber auch: Wo es um Sozialismus geht, da geht es immer schon um das Reich Gottes.«83

Trotz dieser theologischen Grundlegung sahen die Linksprotestanten die Anwendung von revolutionärer Gewalt zur Erreichung des Sozialismus – zumindest in der Dritten Welt – als durchaus berechtigt an.84 Namentlich Gollwitzers Spende für Waffen in El Salvador wurde berüchtigt und in den Kirchenkreisen heftig debattiert. Das im Grunde ambivalente Verhältnis der Linksprotestanten

80 Zum Begriff der »Umkehr« bei Gollwitzer vgl. Christian Keller, Zur Einführung, in: Helmut Gollwitzer, Umkehr und Revolution. Aufsätze zum christlichen Glauben und Marxismus, Bd. 1, München 1988, S. 7–34, hier S. 28 f. 81 Dorothee Sölle, Christen für den Sozialismus, in: dies. / Klaus Schmidt (Hg.), Christen für den Sozialismus, Stuttgart 1975, S. 7–21, hier S. 19. 82 Helmut Gollwitzer, Muss ein Christ Sozialist sein? (1972), in: ders., Umkehr und Revolution. Aufsätze zu christlichem Glauben und Marxismus, Bd. 2, München 1988, S. 10–29, hier S. 18. Vgl. dazu auch Orth, S. 127 f. 83 So Gollwitzer unter Bezug auf Barth: Helmut Gollwitzer, Reich Gottes und Sozialismus bei Karl Barth, München 1972, S. 7. Vgl. hierzu Schmidt-Späing, S. 253. 84 Jürgen Moltmann, Rassismus und das Recht auf Widerstand, in: Evangelische Kommentare 4 (1971), S. 253–257. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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zur Gewalt, das in weiteren Studien differenzierend untersucht werden muss,85 hing auch damit zusammen, dass namentlich Gollwitzer und Sölle den Sozialismus als ein ethisches Ziel postulierten, das als solches keine spezifischen politischen Wege oder Mittel vorschreibe. Auch wenn Gollwitzer damit marxistischleninistischen Auffassungen von der Politik ablehnte und die Diktaturen des Ostblocks keineswegs als Realisierung des Sozialismus ansah und sie – wie die kapitalistischen Gesellschaften – als unfreie, bürokratisierte Technokratien betrachtete, blieben viele Fragen nach dem konkreten Demokratieverständnis der Linksprotestanten offen.86 Dass konservative Protestanten solche sozialistische Vorstellungen und Forderungen als übermäßige Politisierung des Christentums ablehnten, ist nicht verwunderlich. Auf den besonderen Stellenwert der Positionen der Linkspro­ testanten in der politischen Öffentlichkeit der 1970er Jahre verweist gleichwohl der Umstand, dass die Frage des Sozialismus nicht nur in linken Zirkeln dis­kutiert wurde, sondern gewissermaßen zu einer existenziellen Glaubensfrage des Protestantismus avancierte. So entspann sich 1978 eine breite Diskussion über die Frage, ob Christen Sozialisten sein müssen. An der durchaus scharfen Debatte, die hohe Wellen in der Publizistik schlug, beteiligte sich die Crème de la Crème der bundesdeutschen Theologie, von Jüngel bis Pannen­ berg.87 Die Härte solcher Debatten erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass die Linksprotestanten mit Pathos, aber auch mit einem gewissen Maß an Aggressivität einen sowohl kognitiven als auch den religiösen Glauben betreffenden Vorsprung für sich reklamierten. So postulierte Mitte der 1970er Jahre ein Mitarbeiter der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft, dass Gotteserkenntnis nur noch als »Parteinahme im Klassenkampf« möglich sei.88 Auch D ­ orothee Sölle hob in einem ihrer wichtigen Texte jener Zeit hervor, Erfahrung des Klassenkampfes und Erfahrung des Glaubens seien nicht mehr zu trennen.89 Entscheidend in diesem Zusammenhang ist allerdings nicht die Diskussion von marxistischen Konzeptionen des Klassenkampfes, die für die Linke der 1970er Jahre insgesamt typisch war, sondern der Umstand, dass die linksprotestantischen Intellektuellen damit zugleich eine Transformation der 85 Richtungweisend: Claudia Lepp, Gewalt und gesellschaftlicher Wandel. Protestantische Kontroversen über politisch motivierte Gewaltanwendung in den 1960er und 1970er Jahren, in: Historisches Jahrbuch 128 (2008), S. 523–539, hier S. 525 ff.; dies., Helmut Gollwitzer, S. 233 ff. sowie Eitler, »Auferstehung«. 86 Vgl. etwa Helmut Gollwitzer, Der Christ zwischen Ost und West, in: ders., Umkehr und Revolution. Aufsätze zu christlichem Glauben und Marxismus, Bd.  2, München 1988, S. 125–145. 87 Wolfgang Teichert (Hg.), Müssen Christen Sozialisten sein? Zwischen Glaube und Politik, Hamburg 1976. 88 Peter Winzeler, »Sozialistische Theologie?«, in: Junge Kirche 35 (1974), S. 394–396. 89 Sölle, Christen für den Sozialismus, S. 7. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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(evangelischen) Kirche anstrebten.90 »Die Reformation des Christentums und die Reformation des Sozialismus«, so hob Gollwitzer hervor, »sind ein und dieselbe Reformation.«91 Darum sollte die Kirche in die Lage versetzt werden, den revolutionären Prozess als pressure group vorantreiben zu können.92 Nicht zuletzt aufgrund dieser Zielsetzung fand Moltmanns allerdings in erster Linie theologisch motiviertes Plädoyer für eine Umformung der Volkskirche in eine Gemeindekirche, in der sich die aktiv engagierten Christen versammeln sollten, viele Anhänger.93 In diese Richtung gingen auch Gollwitzers Thesen zur Kirchenorganisation, mit denen er 1978 dafür plädierte, die »Staats- und Volks­ kirche«, die einen hierarchisch aufgebauten Apparat darstelle, in eine Bruderschaft zu verwandeln, damit sich die in der wirklichen Gemeinde waltenden Charismen frei entfalten könnten.94 In diesem angestrebten Prozess der Kirchenreform schrieben sich die Intellektuellen selbst wiederum eine Rolle als Berater, Ideenspender und nicht zuletzt als Verwalter und Exegeten der christlichen Tradition zu. So sah Sölle nicht zufällig eine wichtige Aufgabe der Theologen gerade in der »Reklamation der christlichen Tradition in ihrem umfassenden parteilichen Sinn«95. Allerdings wäre es verfehlt anzunehmen, die linksprotestantischen Intellektuellen hätten sich auf die Verbreitung von marxistischer Ideologie und politisch-theologischer ›Erbauungsliteratur‹ beschränkt. Zu ihrem Engagement gehörten nämlich auch Interventionen zu konkreten politischen Problemen. So setzten sie sich intensiv mit den Fragen der Menschen- und Bürgerrechte, der politischen Gewalt und dem Terrorismus der RAF,96 der Energiepolitik oder der Gleichberechtigung von Frauen oder den Befreiungs­bewegungen in der Dritten Welt auseinander.97 Zudem protestierten die Linksprotestanten in radikal90 Vgl. als eines von vielen möglichen Beispielen: Helmut Gollwitzer, Kirchliche Verkündigung in den Schranken der Klassengesellschaft (1974 / 75), in: ders., Umkehr und Revolution. Aufsätze zu christlichem Glauben und Marxismus, Bd. 2, München 1988, S. 92–113. 91 Ders., Muß ein Christ Sozialist sein?, S. 28. 92 Ders., Die Weltverantwortung der Kirche in einem revolutionären Zeitalter, in: Die Zukunft der Kirche und die Zukunft der Welt, Stuttgart 1968, S. 69–96. 93 Moltmann, Rassismus, S.  257. Vgl. auch Sven-Daniel Gettys, Theologische Kontroversen um die Gestalt und Zukunft der Kirchen, in: Frank Bösch / Lucian Hölscher (Hg.), Kirchen  – Medien  – Öffentlichkeit. Transformationen kirchlicher Selbst- und Fremd­ deutungen seit 1945, Göttingen, S. 177–215 94 Vgl. Helmut Gollwitzer, Vortrupp des Lebens, München 1975, S. 114. Vgl. auch den Kommentar von Walter Kreck, Kirche und Kirchenorganisation. Einige Fragen zu Helmut Gollwitzers Kirchenthesen, in: Evangelische Theologie 38 (1978), S. 518–526, hier S. 518. 95 Sölle, Christen für den Sozialismus, S. 20. 96 Vgl. Lepp, Helmut Gollwitzer, S. 236 ff. 97 Vgl. Jürgen Moltmann, Die Menschenrechte, in: ders., Das Experiment Hoffnung, München 1974, S.  162–176; ferner: Elaine Graham, Feminist Theology, Nothern, in: Peter Scott / William T. Cavanough (Hg.), The Blackwell Companion to Political Theology, Oxford 2004, S. 210–226; Kornelia Sammet, Feministische Theologie und die Politisie© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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demokratischer Tradition gegen Berufsverbote im Zuge des sog. Radikalen­ erlasses, und schließlich waren auch die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, das Schicksal des Staates Israels und das Verhältnis von Juden und Christen bevorzugte Gegenstände des Engagements der linksprotestan­ tischen Intellektuellen.98

Fazit Der intellektuelle Linksprotestantismus von Sölle, Gollwitzer oder Moltmann kann als Versuch einer neuen Definition des Verhältnisses von Politik, Kirche und Intellektuellen betrachtet werden, der auf die Transformation der bundesdeutschen Gesellschaft in den 1960er und 1970er Jahren reagierte. Als Impuls höher zu gewichten als die Revolte 1968 ist freilich das Krisendenken der frühen 1970er Jahre. In dieser Epoche, die als Orientierungskrise empfunden wurde, kam Intellektuellen in den Kirchen eine wichtige Funktion zu. Auch wenn Sölle und Gollwitzer heute in mancherlei Hinsicht als religiöse und politische »Eiferer« erscheinen mögen, haben sie dennoch erheblich zur intellektuellen Öffnung des bundesdeutschen Protestantismus beigetragen. Die Organisation der evangelischen Kirche wurde zu einem wichtige Handlungsfeld von »Intellektuellen« und die evangelische Kirche durch deren Interventionen maßgeblich verändert. Politisch waren die kirchlichen Intellektuellen allerdings Kinder ihrer Zeit, und im Grunde blieben sie mit ihren radikalen Sozialismusvorstellungen in den 1960er und 1970er Jahren noch einem religiös begründeten politischen Fortschrittsglauben verhaftet, den sie erst im folgenden Jahrzehnt abschüttelten.99

rung evangelischer Theologinnen, in: Klaus Fitschen u. a. (Hg.), Die Politisierung des Protestantismus, Göttingen 2011, S.  168–190; Kroll, Protestantismus; Jörg Herrmann, »Unsere Söhne und Töchter«. Protestantismus und RAF-Terrorismus in den 1970er Jahren, in: Wolfgang Kraushaar (Hg.), Die RAF und der linke Terrorismus, Bd.  1, Hamburg 2006, S. 644–656; Nochmals zum Thema Terrorismus, in: Junge Kirche 38 (1977), S. 564–571. 98 Lepp, Helmut Gollwitzer, S.  228 ff., 238 ff. Vgl. ferner Rolf Rendtorff, Hat sich unser Israel-Engagement gewandelt?, in: Andreas Baudis u. a. (Hg.), Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens. Für Helmut Gollwitzer, München 1979, S. 155–166; Walter Kreck, Kirche und Radikalenerlaß, in: Junge Welt 38 (1977), S. 382–385. 99 Vgl. Christiane und Ulrich Dannemann, Kurt Oesers Theologie verantwortlicher Zeitgenossenschaft, in: Kurt Oeser. Gemeindepfarrer und erster »Umweltpfarrer« Deutschlands, Waldkirchen 2008, S. 65–76. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Das politische Scheitern eines liberalen Hoffnungsträgers Ralf Dahrendorf und die FDP

Das Verhältnis des Intellektuellen zur Politik ist ein komplexes. Die Politik ist für ihn Objekt seiner Kritik, aber zugleich wirkt er selbst auf den politischen Diskurs ein, während seine Deutungen symptomatischer und repräsentativer Art sein können. Indem der Intellektuelle sich mit der Politik öffentlich befasst, tritt er überhaupt erst in seine Rolle. Vermutlich lassen sich, unter Verzicht auf feinere Differenzierungen, drei Typen des Intellektuellen voneinander unterscheiden: 1. der reine Kritiker, der ohne pragmatische Rücksichten urteilt und sich nicht gesondert um Alternativen müht; 2. der engagierte Intellektuelle, der mit dem Ziel der politischen Kursänderung vor Augen argumentiert und nach Problemlösungen sucht; 3.  der Intellektuelle als Anwärter auf die praktische Politik – er will nicht nur Richtungen aufzeigen, sondern auch selbst gestalten. Ralf Dahrendorf hat sich in seinem langen intellektuellen Leben nie auf eine dieser Rollen festgelegt. Theoretisch plädierte er mit Nachdruck für den kritischen Intellektuellen, der »am Rande seiner Gesellschaft« stehe, aber zugleich »in ihr« verbleibe: »Angelpunkt seiner Kritik ist seine Zugehörigkeit, in der auch die Hoffnung beschlossen liegt, durch die Kritik etwas auszurichten. Der kritische Intellektuelle wird nicht unmittelbar Akteur, seine Distanz reicht über die mit der Symbolwelt des Wortes gegebene hinaus zur absichtlichen Distanzierung von den obwaltenden sozialen und politischen Bedingungen.«1 Trotz der Vielfalt der Rollen, die dem Intellektuellen zur Verfügung stehen, um den Handelnden auf den Fersen zu bleiben (Experte, Kommentator, Kritiker, Berater, Analytiker, Mahner), wollte sich Dahrendorf selbst nicht dauerhaft in der von ihm skizzierten »Nachfolge des Hofnarren« verharren. Er ist einer der wenigen, der als Intellektueller die Politik gesucht hat. Er hat zwar jeweils nur recht kurz in der bundesdeutschen, der europäischen und der britischen Politik gewirkt, aber in Erinnerung bleiben die Jahre eines sozialliberalen Aufbruchs, als der junge Professor, streitbare Publizist und einflussreiche Stichwortgeber Dahrendorf wie wenige andere den Sprung in die Moderne verkörperte. In der Person Dahrendorfs spiegelten sich die Erwartungen und Hoffnungen, die eine jüngere 1 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, München 1965, S. 318. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Generation mit der Verwestlichung respektive einer zweiten intellektuellen Gründung der Bundesrepublik verbanden. Ihn ihm können wir eine Alternative zu den Achtundsechzigern erkennen, denn er setzte nicht auf Revolution, sondern auf Reform und liberale Erneuerung.2 Dahrendorf gehörte bekanntlich zur unerhört einflussreichen »langen Generation« derjenigen, die das Kriegsende als Heranwachsende erlebten und deren geistige Sozialisation in die Formationsphase der Bundesrepublik fiel. Aber anders als bei den meisten intellektuellen Vertretern der sogenannten »45er« war Dahrendorfs parteipolitisches Engagement für eine kurze Zeit lang wirklich spektakulär und mit großen Hoffnungen verbunden. Sicherlich, auch andere Professoren machten in den 1960 / 70er Jahren Ausflüge in die politische Praxis: Der Sozialdemokrat Hermann Lübbe agierte für einige Jahre als Staats­ sekretär in Nordrheinwestfalen; Hans Maier wurde (zunächst parteiloser) Kultusminister in Bayern, um den bis heute uneingeholten Rekord von 16 Dienstjahren im Amt aufzustellen; Kurt Biedenkopf reüssierte als Generalsekretär der CDU. Niemand wusste sich jedoch so in Szene zu setzen und die Medien zu bespielen wie der junge Dahrendorf, dessen parteipolitische Blitzkarriere in der FDP eine Resonanz ohnegleichen fand. Um einen erneuten Blick auf Dahrendorf als Intellektuellen in der Politik zu werfen, müssen wir uns allerdings erst einmal vom Bild des späten Dahrendorf lösen, dessen Prestige als elder statesman des Liberalismus und als hoch geehrter Repräsentant des geistigen Europa die absolvierten Mühen in der politischen Ebene mit ihren Irrungen und Enttäuschungserfahrungen überstrahlt. Das Urteil über den Politiker Dahrendorf fällt dabei vermutlich weit weniger schmeichelhaft aus als über seine beeindruckende Karriere als Soziologe, als Essayist, als Wissenschaftsmanager und als intellektueller Kommentator des politischen Geschehens. Dahrendorf als Politiker, das ist die Geschichte eines Scheiterns. Ein Scheitern gemessen an den eigenen Ambitionen und gemessen an der Bilanz, die der Amtsträger Dahrendorf in der Politik vorzuweisen hatte. Dahrendorf hat seine Irrwege in der politischen Praxis nicht beschönigt und gleichzeitig seine ursprünglichen persönlichen Ziele doch etwas heruntergespielt. Allerdings suchte er mit dem ihm eigenen Tempo so rasch neue Aufgaben und Herausforderungen, dass für eine Aufarbeitung gar keine Zeit zu bleiben schien. Vergegenwärtigt man sich das Urteil des Zeithistorikers Arnulf Baring (in seiner klassischen Studie »Machtwechsel«) über Dahrendorfs politische Laufbahn, so erstaunt immer noch die Schärfe der Kritik an dem kurzzeitigen parlamen­ tarischen Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Sie ist schwer in Einklang zu 2 Vgl. im Sinne einer Würdigung Jens Hacke, Der Originalitätsgehalt von politischen Ideen ist nebensächlich. Der Soziologe Ralf Dahrendorf hat die Planstelle des einzigen genuin liberalen Denkers der Bundesrepublik besetzt. Jetzt wird er achtzig, in: Süddeutsche Zeitung vom 30.4 / 1.5.2009, S. 13. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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bringen mit dem öffentlichen Ansehen des großen Liberalen, dessen Vermächtnis in letzten Jahren seit seinem Tod gepflegt und in Ehren gehalten wird. Baring sieht den Grund für Dahrendorfs politisches Scheitern in dessen »krasse[n] Fehleinschätzungen, die einen erstaunlichen Mangel an Selbsterkenntnis, an politisch-psychologischem Ausmaß verrieten«. »Niemals, in welcher Situation und Formation auch immer«, so Baring weiter, »hätte dieser unstete, hochfliegende Zugvogel eine Zentralfigur der Parteiführung abgeben können.« Ihm fehlten nämlich »Eigenschaften, die für Inhaber von Spitzenämtern entscheidend wichtig sind«: »Ausdauer, Stehvermögen, Geduld und Bescheidenheit im Umgang, vor allem Beliebtheit in der Partei, fehlten loyale Mitarbeiter, verlässliche Anhänger, eine feste Hausmacht. Dahrendorf stand allein. Wie viele Intellektuelle war er leicht verletzbar, rasch zu entmutigen.«3 Es hieße, sich die Sache zu leicht machen, wenn man Dahrendorfs resignierten Abgang aus der Politik, seine fehlende Durchsetzungsfähigkeit einzig und allein bestimmten Charaktereigenschaften zuschreiben würde. Es wäre vielmehr zu fragen, ob diese abgebrochene Karriere, die als großes Versprechen begann, etwas Grundsätzliches über das Verhältnis von Intellektuellen und Politik lehren kann – oder ob sich darin zumindest Ansätze finden lassen, noch einmal über das schwierige Verhältnis von Geist und Macht, mit dem sich Dahrendorf theoretisch und praktisch auseinandergesetzt hat, nachzudenken.

Dahrendorfs Weg zum Liberalismus Es war dem Sohn des sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Gustav Dahrendorf quasi in die Wiege gelegt, die Familientradition fortzusetzen. Dahrendorfs Sozialisation im verhalten oppositionellen Milieu, seine Erfahrung einer siebenwöchigen Gestapo- und Lagerhaft ließen ihn die NS-Diktatur anders erleben als die meisten seiner Altersgenossen. Dahrendorf war Mitglied einer jugendlichen Widerstandsgruppe, die Flugblätter gegen das Regime verteilte. Es handelt sich hier nicht lediglich um mythisch erhöhte Initiationserlebnisse, die ihm die Bedeutung von Freiheit und Selbstbestimmung vor Augen führten. Dahrendorf vermittelt doch sehr glaubhaft, welchen Eindruck die Extremsituation der Freiheitsberaubung bei ihm hinterließ: Die zehn Tage Einzelhaft hätten »jenen fast klaustrophobischen Drang zur Freiheit« in ihm geweckt, »den aus den Eingeweiden kommenden Widerwillen gegen das Eingesperrtsein, sei es durch die persönliche Macht von Menschen oder durch die anonyme Macht von Organisationen«.4 3 Arnulf Baring, Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, Berlin 1998, S. 352. 4 Ralf Dahrendorf, Die neue Freiheit. Überleben und Gerechtigkeit in einer veränderten Welt, Frankfurt a. M. 1980, S. 11 f. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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In jungen Jahren wurde Dahrendorf bereits Mitglied des SDS und der SPD, bevor er über Marx promovierte. Seine Konversion zum Liberalismus bringt er mit seinem ersten ausgedehnten Englandaufenthalt in Verbindung: »Ich ging sozusagen als Sozialist nach England und kam als Liberaler zurück.«5 Es waren zwei auslösende Momente: einerseits die Begegnung mit Karl Popper an der London School of Economics, andererseits der Direktkontakt mit der angelsächsischen politischen Tradition. Dahrendorf beschrieb seine Faszination für Popper mit den folgenden Worten: »Der Kern der Popperschen Position fand bei mir ein unmittelbares Echo. Wir leben in einer Welt der Ungewissheit. Niemand weiß genau, was wahr und was gut ist. Darum müssen wir immer neue und bessere Antworten suchen. Das geht aber nur, wenn Versuch und Irrtum erlaubt sind, ja ermutigt werden, also in einer offenen Gesellschaft. Sie wenn nötig zu verteidigen und sie jederzeit zu entwickeln ist daher die erste Aufgabe.«6

Auch wenn Dahrendorf gewisse Formen der Selbststilisierung nicht fern lagen, so ist seine England- und spätere Amerika-Begeisterung vor dem Hintergrund seiner intellektuellen Entwicklung gut nachvollziehbar. Ihm lag der pragma­ tische Zugriff auf politische Probleme, er empfand seine Aufenthalte in England und den USA als Befreiungen aus dem Muff der Adenauer-Bundesrepublik. Er strebte schon bald nach einer soziologischen Gegenwartsdiagnostik, die sozialen Wandel und Gesellschaftspolitik untrennbar verband. Als rast­loser Geist wollte er sich weder auf die Kritik der deutschen Sonderwegsmetaphysik, noch auf rein praxisorientierte empirische Soziologie á la René König beschränken oder »wirklichkeitswissenschaftliche« Gesellschaftsplanung im Stile Schelskys betreiben. Versteht man – in der von Dahrendorf insinuierten Weise – Liberalität als Offenheit, dann hat der Wissenschaftler Dahrendorf diese Offenheit allein durch die Vielfalt seiner Arbeiten belegt. Er hat sich dabei in allen Feldern als zupackender, optimistischer Modernisierer zu erkennen gegeben. Er suchte Belege für die Emanzipation aus der Klassengesellschaft, warb für die produktive Funktion des Konflikts, forderte eine Befreiung des Einzelnen aus konventionellen Rollenzumutungen und setzte sich für die Gewährleistung von Chancengleichheit durch Bildungsanstrengungen ein. Liberale Bürgerpflicht – das war für Dahrendorf die Aufgabe des Intellektuellen zur öffentlichen Einmischung. Und neben seinen fachsoziologischen Arbeiten über »Soziale Klassen und Klassenkonflikt in der industriellen Gesellschaft« (1957), über den »Homo Socio­ logicus« (1958) und über »Die Sozialstruktur des Betriebes« (1959) entstan5 Ders., Über Grenzen. Lebenserinnerungen, München 2002, S. 120. 6 Ebd. Vgl. zu Popper auch ders., Karl Popper. Offene Gesellschaft, in: ders., Liberale und andere. Portraits, Stuttgart 1994, S. 81–88. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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den die programmatischen Aufsätze, gesammelt in »Gesellschaft und Freiheit« (1961), und das Amerikabuch »Die angewandte Aufklärung« (1963). Zu diesem Zeitpunkt war der akademische und publizistische Shooting Star Dahrendorf gerade 34 Jahre alt. Dahrendorfs Liberalismus zielte aufs Grundsätzliche und transportiert ohne Einschränkung jene Begeisterung, die in den aufnahmewilligen Kreisen seiner Generation für den Westen vorhanden war. Leitend blieb für Dahrendorf die Frage: »Wie ist Freiheit heute möglich?« Dem Paradigma des Kalten Krieges verpflichtet gab Dahrendorf die Antwort: »durch die Stärkung jener politischen Kräfte, die ich im Gegensatz zu den autoritären und totalitären hier als repräsentativ oder liberal bezeichnet habe. Die Politik kann Menschen unfrei machen, aber sie kann Menschen niemals frei machen. Daß sie dies könne, ist eine der gefährlichen Utopien unserer Zeit. Politisches Handeln kann immer nur Rahmen schaffen, in dem jene Freiheit möglich wird, die jeder von uns versteht. […] Den Rahmen für so verstandene Freiheit aber geben nur jene politischen Institutionen, die sich darauf beschränken, Spielregeln der Auseinandersetzung und Entscheidungsfindung zu setzen, ohne den Inhalt der Entscheidungen selbst im Vorhinein festzulegen.«7

In dem gerade zitierten Aufsatz »Der repräsentative Staat und seine Feinde« aus dem Jahr 1960 skizziert Dahrendorf schließlich vier Ziele liberaler Politik: 1. die Durchsetzung staatsbürgerlicher Gleichheit aller Menschen, 2.  die Erhaltung einer pluralistischen Gesellschaftsstruktur, 3. die Anerkennung sozialer Interessengegensätze und die rationale Konfliktregelung, 4. die möglichst weite Verbreitung einer öffentlichen Tugend der Teilnahme am politischen Leben.8 Auffällig bleibt, insbesondere im Vergleich mit den in diesen Jahren intellektuell reüssierenden Neoliberalismen, die sich vor allem marktliberal zu begründen versuchten, die weitgehende Abwesenheit ökonomischer Überlegungen. Die Wirtschaft galt vor dem Hintergrund der trentes glorieuses, der dreißig glorreichen Nachkriegsjahre, als unproblematisch. Dahrendorf zitiert in diesen Jahren Hayeks politiktheoretisches Standardwerk »Verfassung der Freiheit« (Anfang der 1960er Jahre erschienen) bei vielen Gelegenheiten zustimmend, ohne sich für dessen ökonomische Vorstellungen, die Chicago School oder ihre ordo­liberalen Antagonisten überhaupt zu interessieren. Noch Dahrendorfs letztes Buch über die Erasmus-Intellektuellen verdeutlicht seine tiefe Verwurzelung in einem vom antitotalitären Konsens getragenen Cold War Liberalism, der für eine politische Ethik der Freiheit eintrat. Seine Heroen sind Raymond Aron, Isaiah Berlin und Karl Popper, auch wenn er zum Ende seines Lebens immer

7 Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit. Zur soziologischen Analyse der Gegenwart, München 1963, S. 256. 8 Ebd., S. 257. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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mehr zum skeptischen Kritiker eines Marktliberalismus wurde, der sich seinerseits in dieselbe Traditionslinie zu stellen versuchte.9 Es entsprach Dahrendorfs strategischer Positionierung, in späteren Jahren stets das Erbe der von ihm so apostrophierten Erasmier zu pflegen. Ganz so wie sie wollte er als Individualist in einer unabhängigen Gemeinschaft liberaler Geister wahrgenommen werden. Jede Form der Schulbildung blieb ihm fremd.10 Dahrendorf verzichtete auf einen Identifikationsversuch mit deutschen liberalen Traditionen (wenn wir von seiner lockeren Aneignung eines Kantischen Weltbürgertums einmal absehen11): Weder die 1848er hatten ihm Erhellendes zu sagen, noch der Kathedersozialist Friedrich Naumann.12 An einer liberalen Auslegung Hegels hatte er – vermutlich durch Popper-Lektüre beeinflusst – kein Interesse; einzig der Respekt vor Max Weber blieb uneingeschränkt, und dessen Herrschaftssoziologie hinterließ zumindest einige Spuren in Dahrendorfs Werk. Es sollte sich zeigen, dass dieser – bestens kultivierte – Blick von außen nicht unerheblich dazu beitrug, Dahrendorf als bekanntesten jungen Intellektuellen in der Aufbruchzeit der 1960er Jahre zu etablieren.

Dahrendorfs Profilierung als Intellektueller in den 1960er Jahren Dahrendorfs Nimbus als intellektuelles Schwergewicht fußt nicht zuletzt auf der Publikation eines epochalen Buches. 1965 veröffentlichte der 36jährige Konstanzer Professor für Soziologie seinen Großessay »Gesellschaft und Demokratie in Deutschland«. Als »politischer Traktat, Einführungsvorlesung und Theorie der Demokratie« (Habermas) in einem hatte der Soziologe eine Zeitdiagnose in nationalpädagogischer Absicht und mit sozialliberalem Impetus verfasst.13 9 Diese Skepsis kommt zum Ausdruck in: Ralf Dahrendorf, Die Krisen der Demokratie. Ein Gespräch, München 2002. Vgl. dazu Herfried Münkler, Sozio-moralische Grund­ lagen liberaler Gemeinwesen. Überlegungen zum späten Ralf Dahrendorf, in: Mittelweg 36 19,2 (2010), S. 22–37. 10 Zum Lob des Erasmus-Intellektuellen und zur eigenen Standortbestimmung vgl. Ralf Dahrendorf, Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, München 2006. 11 Zur Aneignung von Kant vgl. ders., Auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Vorlesung zur Politik der Freiheit im 21. Jahrhundert, München 2003. 12 So liest sich seine Würdigung aus Anlass des 125. Geburtstags Naumanns doch eher bemüht und gehorcht den institutionellen Erfordernissen einer Festrede zur Legitimation der Stiftung, die seinen Namen trägt. Vgl. ders., Friedrich Naumann, Der politische Volkserzieher, in: ders., Liberale und andere, S. 151–159. 13 Jürgen Habermas, Die verzögerte Moderne (1965), in: ders., Philosophisch-politische Profile. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt a. M. 21991, S. 453–457, hier S. 454. Vgl. zur Bedeutung von Dahrendorfs Buch auch Jens Hacke, Pathologie der Gesellschaft und liberale Vision. Ralf Dahrendorfs Erkundung der deutschen Demokratie, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 1,2 (2004),S. 324–328. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Seine Untersuchung verstand Dahrendorf selbst als »ein Plädoyer für das Prinzip der liberalen Demokratie«.14 In der Trias von historischer Erklärung, soziologischer Analyse und engagierter politischer Theorie bleibt »Gesellschaft und Demokratie« bis heute eine Ausnahme und kann wirkungsgeschichtlich kaum überschätzt werden. Von Dahrendorfs »ungewöhnlich einflußreichen Buch« (so Hans-Ulrich Wehler) ging eine Vielzahl von Impulsen aus. Dahrendorf stellte die »deutsche Frage« im Hinblick auf die gesellschaftliche Verfassung, die sozioökonomische Entwicklung und die politische Kultur: Nicht das tagesaktuelle Problem des geteilten Deutschlands, sondern die »Frage nach den Hemmnissen der liberalen Demokratie in Deutschland« stand im Zentrum seines Erkenntnisinteresses.15 Ursprünglich als Überblicksvorlesung konzipiert und in nur wenigen Monaten niedergeschrieben war Dahrendorf eine thesenstarke historische Ortsbestimmung gelungen. Er legte eine konturenscharfe Deutung der bundesrepublikanischen Gegenwart vor, die sich zwar am deutschen Sonderweg als Geschichte einer verspäteten Modernisierung abzuarbeiten hatte, aber zugleich auch Anlass zur Hoffnung bot, dass ein Anschluss an den Westen politischkulturell gelingen könnte. Dahrendorf bewerkstelligte zweierlei: Zum einen entwarf er die Zielvorstellung einer liberalen Zivilgesellschaft, zum anderen boten seine sozialgeschichtlich fundierte Analyse eine originelle Erklärung, warum die Chancen zur Verwestlichung gut standen. Die Tabula rasa des Nationalsozialismus hatte nämlich in seinen Augen die Bedingungen für den liberalen Staat geschaffen: »Der Nationalsozialismus hat für Deutschland die in den Verwerfungen des kaiserlichen Deutschland verloren gegangene, durch die Wirrnisse der Weimarer Republik aufgehaltene soziale Revolution vollzogen«, konstatierte Dahrendorf.16 Das »Dritte Reich« hatte die vormodernen gesellschaftlichen Strukturen beseitigt, die Macht des ostelbischen Adels gebrochen und einen sozialen Egalitarismus befördert. Unabhängig von der Richtigkeit dieser Aussagen ist Dahrendorfs These zum kontraintentionalen Modernisierungsschub einflussreich geworden  – die Geschichtswissenschaft hat sich jedenfalls daran abgearbeitet; Jeffrey Herfs These vom »reactionary modernism«, aber auch anders akzentuierte Kontinuitätsthesen, die die Auswirkungen der Volksgemeinschaftspropaganda bis in Wirtschaftswunderzeiten untersuchen, stehen auf den Schultern von Dahrendorf. Wichtiger noch für seine Reputation als wegweisender Intellektueller war Dahrendorfs Ausarbeitung einer liberalen politischen Theorie. Er unterstrich, dass die buchstabengetreue Befolgung des Grundgesetzes noch keine lebendige Demokratie ausmache, und plädierte deshalb mit Verve für eine politische 14 Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie, S. 27. 15 Ebd., S. 39. 16 Ebd., S. 432. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Kultur der Demokratie. Spätestens mit »Gesellschaft und Demokratie« besetzte Dahrendorf erfolgreich eine vakante Position: Er avancierte zum »bedeutendsten liberalen Denker, den Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hervorgebracht hat«, wie im Rückblick Hans-Peter Schwarz urteilt.17 Dahrendorfs erstaunliches Alleinstellungsmerkmal beruht auch auf dem merkwürdigen Umstand, dass er der einzige namhafte Intellektuelle war, der sich selbst immer wieder als Liberaler bekannte. Sicherlich, als liberal könnte man grundsätzlich viele politische Denker bezeichnen. Nur waren sie entweder eher liberalkonservativ oder sozialliberal und besaßen kein Interesse, den Liberalismus begriffspolitisch zu vereinnahmen. Man mag sich auch daran erinnern, dass Habermas als Kritiker spätkapitalistischer Verhältnisse trotz aller Verdienste um eine geistige Liberalisierung, eher an einer Rekonstruktion des Historischen Materialismus interessiert war als an einer Ehrenrettung des Liberalismus. Im selben Jahr – 1965 – veröffentlichte Dahrendorf dazu noch »Bildung ist Bürgerrecht«, sein »Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik«. Mit seinem Sinn für catch phrases, aber auch mit dem Instinkt für politisch relevante Themen, vorausgegangen war Georg Pichts alarmierende Schrift »Die deutsche Bildungskatastrophe«, setzte sich Dahrendorf für wichtige gesellschaftspolitische Diskurse in Szene.18 Dahrendorf stellte damit unter Beweis, dass man auch als Intellektuelle breitenwirksam und auf Niveau agieren konnte. Während sein Weggefährte und Kontrahent Habermas zwar Einfluss auf die Neue Linke übte und akademische Debatten prägte, wurde der unprätentiös und praktisch denkende Dahrendorf für die Politik interessant. Mit »nicht nur wissenschaftlich, sondern eher noch intellektuell und politisch bahnbrechenden Überlegungen«, so Paul Nolte, empfahl sich Dahrendorf für eine politische Karriere in der damals im Erneuerungsprozess befindlichen FDP.19 Dahrendorfs zur Überspitzung neigenden Thesen artikulierten Kritik an Ludwig Erhards »formierter Gesellschaft« der Post-Adenauer-Ära, bevor der studentische Protest der Achtundsechziger diese für alle sichtbar machte.

17 Hans-Peter Schwarz, Gemeinsam mit Washington. Auf dem Weg in das 21. Jahrhundert bei Tony Blair angelangt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3.4.2003, S. 10. 18 Ralf Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht. Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik, München 1965. 19 Paul Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 11. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Dahrendorfs Karriere in der FDP Kaum je ist ein Parteineuling schneller Mandatsträger geworden als im Falle Dahrendorfs. Wenige Wochen nach seinem Parteieintritt in die FDP im Oktober 1967 war er bereits Landtagsabgeordneter in Baden-Württenberg. Auf dem Freiburger Parteitag im Januar 1968, als Walter Scheel zum Nachfolger des nationalliberalen Erich Mende gewählt wurde, nahm man Dahrendorf bereits in den Bundesvorstand auf. Er wurde nicht nur als wegweisender Ideologe der Partei gehandelt, sondern brachte sich mit staunenswerter Chuzpe für Führungsämter ins Gespräch. »Der Spiegel« apostrophierte ihn als »den Propheten der radikalen Erneuerung«, der der FDP »die Vision großer liberaler Zukunft« zu vermitteln in der Lage sei. Scheel stand bei seiner Wahl zum Parteivorsitzenden im Schatten des 10 Jahre jüngeren Soziologen, der mit seiner Parteitagsrede brillierte: »Sie wählten den einen und umjubelten den anderen«, beobachtete der »Spiegel«.20 Wirft man einen Blick auf Dahrendorfs aufsehenerregende Parteitagsrede, so bekommt man eine Ahnung von der Wirkung, die dieser hellwache, jugendliche Geist auf seine Zuhörerschaft übte. Inhaltlich und rhetorisch bleibt Dahrendorfs Auftritt noch heute beeindruckend. Dahrendorfs Werben um eine »Politik der Liberalität« beinhaltete die Leitmotive seines Denkens und präsentierte die FDP als eine Partei, die »erstarrte Verhältnisse wieder in Bewegung bringen« sollte. Die Unbeweglichkeit in der deutschen Politik führte er auf die »Herrschaft eines falschen Begriffs von Sicherheit« zurück. Nachdrücklich forderte der das Wagnis des Wandels, eine Gesellschaftspolitik der Liberalität, der Bürgerrechte und der Mobilität. Dahrendorfs Lob der Konkurrenz und des geregelten Konflikts wird begleitet von einem unmissverständlichen Plädoyer für eine aktive Bildungspolitik, die als Hebel zur Gewährung von »Lebenschancen« für den Einzelnen zu verstehen ist. Er konturierte damit kraftvoll eine liberale Politik, die in ihren Grundzügen bis heute wenig an Aktualität eingebüßt hat.21 Abgesehen von Dahrendorfs glaubwürdigem Eintreten für Freiheit und Liberalismus, hatte ein Engagement für die FDP verglichen mit den beiden Volksparteien dem Quereinsteiger einen entscheidenden Vorteil zu bieten. Der Kar­ rierestart in der kleinen Partei ersparte dem Soziologieprofessor die Ochsen­tour durch Kommunal- und Landesverbände, denn aufgrund der dünnen Personal­ decke und kleinen Mitgliederzahl gelangte Dahrendorf schnell in die Führungs­ gremien der Liberalen. Dahrendorf strotzte in dieser parteipolitischen Anfangsphase vor Selbstbewusstsein, die Grenze zur Überheblichkeit manches Mal überschreitend. Zur 20 Der Spiegel, 5.2.1968, S. 32 f. 21 Ralf Dahrendorf, Politik der Liberalität, in: ders., Für eine Erneuerung der Demokratie in der Bundesrepublik, München 1968, S. 147–164. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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»grauen Eminenz« sei er nicht geboren und noch lange nicht am Ende seiner politischen Ziele, verkündete der »Senkrechtstarter« (»Der Spiegel«) bereits kurz nach dem besagten Parteitag.22 Auf die Frage, ob seine berühmte Diskussion mit Dutschke die Partei Prozentpunkte bei Wahlen kosten könnte, mutmaßte er, dass eine solche Aktion auch 5 bis 10 Prozent Wählerstimmen einbringen könne. Drei Wochen später verkündete er »lächelnd, aber ohne von Ironie«, Bundeskanzler werden zu wollen. Es war offensichtlich, dass sich jemand, der auf diese Weise auftrumpfte, angreifbar machte. »Sein größter Fehler ist wohl, dass er so brillant ist – und es weiß«, schrieb die »Frankfurter Rundschau«, als sein Abstieg im Mai 1970 begann.23 Dahrendorf hat die Episode seines parteipolitischen Engagements – denn es war eine Episode – in seinen Erinnerungen weitgehend ausgespart und nur verhalten kommentiert. Kein Wort zu den eigenen Ambitionen, kein Hinweis auf parteipolitische Machtkämpfe. »Als die Versuchung, selbst den parlamenta­ rischen Weg zu bestreiten, an mich herantrat, widerstand ich ihr nicht«, formuliert er mit reichlich aufgesetzter Bescheidenheit. »Als Abgeordneter der FDP zuerst im Bundestag sowie in einem scheinbar immerwährenden Wahlkampf 1968–69 trug ich mein Scherflein zum Machtwechsel bei.«24 Natürlich hatte Dahrendorf mehr im Sinn, als lediglich zum Machtwechsel beizutragen. Er zielte auf ein politisches Amt, das ihn mit Machtfülle ausstatten würde. Allerdings war die Zeit seines rasanten Aufstiegs für ihn wohl zu knapp, um sich eine realistische Strategie zurechtzulegen. Sein Wissen um die Not­wendigkeit politischer Führung blieb Theorie und hinterließ beim Politiker Dahrendorf wenig Spuren. Ganz im Gegenteil, er machte Fehler über Fehler und verkannte dabei die Realitäten des parteipolitischen Geschäfts, die ihm als Soziologen aus der Lektüre von Max Weber und Robert Michels hätten bekannt sein müssen. Weder achtete er auf die Erfordernisse innerparteilicher Verständigung und Gefolgschaftsbildung noch hatte er ein Gespür für parteitaktische Notwendigkeiten entwickelt. Als schwerster Fehler sollte sich erweisen, dass er sich den anderen Mitgliedern der liberalen Führungsgarde intellektuell überlegen wähnte, aber nicht begriff, dass Intellekt allein politischer Klugheit und machtbewusster Cleverness stets unterliegt. Vom Gespann Scheel / Genscher ließ er sich leicht ausmanövrieren. Als Parlamentarischer Staatssekretär im Auswärtigen Amt blieb er in Abhängigkeit des Außenministers Scheel. Nicht nur merkte er bald, dass die politischen Entscheidungen von anderen getroffen wurden. Dahrendorf vermochte es auch nur ungenügend, den Anforderungen effizienter Amtsführung gerecht zu werden. Vorlagen und Entwürfe zu formulieren, war seine Sache nicht, im diffizilen Für und Wider der 22 So im »Spiegel«-Interview nach dem Parteitag (Der Spiegel, 5.2.1968, S. 32). 23 Zitiert nach Baring, Machtwechsel, S. 350–353. 24 Dahrendorf, Über Grenzen, S. 121. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Ost­politik verhedderte er sich, gewieften Strategen und ausgebufften Unterhändlern wie Egon Bahr im Kanzleramt konnte er wenig entgegensetzen. Mög­ licherweise war es zudem der falsche Schachzug, sich überhaupt auf das Feld der Außenpolitik zu wagen, denn so universal Dahrendorf seine Zuständigkeit für alle möglichen gesellschaftspolitischen Fragen auffasste, so wenig war er bis dato als Vordenker der internationalen Beziehungen hervorgetreten.25 Kryptisch, aber wohl im Bewusstsein eigener Unzulänglichkeiten liest sich in diesem Kontext eine kolportierte Unterhaltung mit Willy Brandt: »›Haben Sie sich das auch gut überlegt?‹ fragte mich Brandt, als ich ein Jahr später nach Brüssel ging. Nein, das hatte ich nicht, aber Brandt verstand meine Entscheidung.«26 Arnulf Baring mutmaßt, dass Dahrendorfs Flucht nach Europa ihren Grund in der Furcht vor dem drohenden Absturz der FDP hatte. Denn der sozialliberale Aufbruch trug der Partei kaum Wählerstimmen ein und ließ sie weiterhin an der Fünfprozenthürde verweilen. Dahrendorf, so urteilt Baring, sah seine Partei am Rande des Abgrunds, den die neue Außenpolitik in der FDP aufgerissen hatte. »Hier lag das entscheidende, alle anderen Gründe überragende Motiv seines Wechsels: Dahrendorf wollte rechtzeitig vor dem Debakel der FDP, vor dem Absturz, aus diesem gewagt konstruierten, riskant gesteuerten Flugkörper aussteigen und sich in Sicherheit bringen.«27 Baring dürfte mit seiner Interpretation der Dinge so falsch nicht liegen. Jedenfalls zieht sich durch Dahrendorfs Karriere das Moment des Wankel­ mütigen. Anders als die Berufspolitiker Genscher und Scheel, dessen »eiserne Konsequenz, mit der er seine Absichten verfolgte«, Dahrendorf bewunderte,28 war er auf die Politik nicht zwingend angewiesen; er konnte sich eine kritische Haltung zum Establishment erlauben. Auch sein Engagement als EWG-Kommissar währte nur wenige Jahre, in denen sich Dahrendorf als zeitweise inkludierter Außenseiter gerierte. Als er in der Wochenzeitung »Die Zeit« seine Kritik an der Europapolitik in einer Artikelserie unter dem bald entschlüsselten Pseudonym Wieland Europa publizierte, hatte er jede parteipolitische Verlässlichkeit eingebüßt. Auch sein späteres »Plädoyer für die Europäische Union« konnte den eingetretenen Glaubwürdigkeitsverlust nicht mehr wirksam rückgängig machen.29 So war es konsequent, dass er 1974 die Chance nutzte, sich erst einmal aus der Politik zu verabschieden. Er wurde für zehn Jahre Direktor der London School of Economics. 25 Weder in »Gesellschaft und Demokratie in Deutschland« noch in seiner gesammelten politischen Publizistik vor dem »Machtwechsel« (Ralf Dahrendorf, Für eine Erneuerung der Demokratie in der Bundesrepublik, München 1968) finden sich Überlegungen zur Außenpolitik. 26 Dahrendorf, Über Grenzen, S. 121. 27 Baring, Machtwechsel, 352. 28 Ralf Dahrendorf, Reisen nach innen und außen. Aspekte der Zeit, Stuttgart 1984, S. 33. 29 Ders., Plädoyer für die Europäische Union, München 1973. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Gleichwohl war Dahrendorfs Liaison mit der FDP noch nicht zu Ende. Als er Anfang / Mitte der 1980er Jahre sich wieder noch Deutschland orientierte und schließlich an die Universität Konstanz zurückgekehrt war, erhoffte er sich, noch einmal Einfluss zu nehmen. Er ließ sich zum Vorsitzenden der parteinahen Friedrich-Naumann-Stiftung küren und stand dem Baden-Württembergischen Landesverband als programmatischer Berater zur Verfügung. Galt er einst als Mann des sozialliberalen Neubeginns, so sollte er nun die Partei nach »halbrechts stabilisieren«.30 Bald musste er erkennen, dass er keinen Fuß in die Führungsgremien der Partei bekam. Der Wind hatte sich gedreht. Mit Otto Graf Lambsdorff, Hans-Dietrich Genscher und Martin Bangemann führten wirtschaftsliberale Machtpraktiker das Wort, die keinen gesteigerten Wert auf feinsinnige intellektuelle Beiträge aus dem Südwesten legten. Einigermaßen desillusioniert legte er nach vier Jahren den Stiftungsvorsitz nieder, trat 1988 aus der FDP aus und ging nach London ans St. Antony’s College. Zum deutschen parteipolitischen Liberalismus hielt er in den letzten zwei Jahrzehnten seines Lebens Distanz und wirkte allenfalls in überparteilichen Kommissionen. Mit zunehmender Distanz zum politischen Tagesgeschäft wurde er dann mehr und mehr zum verehrten liberalen Intellektuellen, der auch in der FDP und den ihr nahestehenden Institutionen und Stiftungen in höchsten Ehren gehalten wurde, als hätte es nie Konflikte um seine politische Rolle gegeben.

Dahrendorf als Intellektueller in der Politik Die dargelegte Bilanz Dahrendorfs als Parteipolitiker lässt sich nicht anders als eine Serie von Enttäuschungen beschreiben. Für die praktische Politik fehlte Dahrendorf wahrscheinlich Beharrlichkeit, notwendige Zurückhaltung, Führungsfähigkeiten und diplomatisches Geschick. Man macht es sich aber zu einfach, sein Scheitern in der Politik lediglich auf gewisse Charaktereigenschaften zurückzuführen. Vielmehr offenbaren sich strukturelle Besonderheiten: Qualitäten, die dem Intellektuellen zupass kommen, nützen dem Politiker wenig. Die Beobachtungsgabe und sachliche Analytik des Kritikers versetzt jemanden noch lange nicht in den Stand, das politische Geschäft nach dem Rollenwechsel vom Intellektuellen zum Politiker selbst besser zu beherrschen. Dahrendorf wäre nicht der erste, der dieses Faktum am eigenen Leibe erfahren hat. Dahrendorf selbst hat vor und nach seiner politisch aktiven Zeit über das Verhältnis von Geist und Macht und über die Rolle des Intellektuellen in der Politik nachgedacht. Im Januar 1968 reflektierte er über seinen eigenen Schritt, den Schritt eines Professors, in die Politik. Ihm war klar: »[…] dadurch, dass die angeblich getrennten Sphären zuweilen treffen, entsteht noch keine Politik.« 30 Vgl. auch den Bericht in: Der Spiegel, 3.1.1983, S. 61 f. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Doch betonte er, dass die Politik in ihren Verfahren der Begründung prinzipiell auf »dieselbe Rationalität« angewiesen sei, »die der Wissenschaftler bei seinen Theorien braucht«. Insofern warb er in eigener Sache für einen neuen »Kontakt zwischen Rat und Tat«.31 Die Unterscheidung, die er in der Nachfolge Weberscher Kategorien unternahm, um die Einsicht des Wissenschaftlers von der Entscheidung des Politikers deutlich zu machen, fiel ihm selbst in der politischen Praxis schwer. Die dezidierte Vernunft des besseren Arguments fügte sich, wie er erkennen musste, nur selten dem tagespolitischen Geschäft, und nur in Ausnahmefällen vermag die Entscheidung des Politikers eins zu eins das umzusetzen, was ein Wissenschaftler rät. Die Grenze, die aus der Sicht des Intellektuellen Dahrendorf für Sein und Sollen, Theorie und Praxis sowie insbesondere für Wissenschaft und Politik galt, wollte er als Praktiker nicht immer anerkennen. Effektvolle Rhetorik mobilisiert, integriert und vermag grobe Richtungen aufzuzeigen – in diesem Sinn ist jede Rede eine politische Handlung. Sie führt aber kaum je politische Sachentscheidungen herbei. Vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrung ist es nicht allein Koketterie, sondern auch ein Zeichen für selbstkritische Einsicht, wenn Dahrendorf Autobiographisches unter dem Motto der Grenzüberschreitung verhandelt. Denn bei dem Versuch der Grenzüberschreitung kann man durchaus zu Schaden kommen. In späteren Jahren suchte er nach neuen Wegen, »um mit der Antinomie von Theorie und Praxis zu leben«, und fand sie z. B. in der »internationalen Beiratswelt wissenschaftlicher Unternehmen« oder in den Thinktanks. In dieser Sphäre, entlastet von unmittelbarer Verantwortung und aus dem Prozess demokratischer Politik herausgenommen, fühlte sich Dahrendorf als »Ehema­liger« durchaus wohl.32 Dahrendorf hat trotz seiner frühen parteipolitischen Niederlagen Spuren in der deutschen Politik hinterlassen. Er war zwar kein erfolgreicher Mover and Shaker  – dazu blieben ihm die Ämter versagt. Aber sein Einfluss als werbewirksame Integrationsfigur für eine sich dem sozialliberalen Zeitgeist öffnende FDP war immens. Noch heute erinnert man sich nostalgisch an die Zeiten, als die FDP attraktiv für Intellektuelle war und sogar einen Rudolf Augstein zum Parteieintritt bewegen konnte. Noch heute, da die Publicity-Strategen der Partei bisweilen einen »mitfühlenden Liberalismus« in Aussicht stellen, denkt man wehmütig an die mythisch verklärten Freiburger Thesen, an denen Dahrendorf übrigens gar nicht entscheidend beteiligt war.33 31 Ralf Dahrendorf, Zur Praxis: Geist und Macht, in: ders., Für eine Erneuerung der Demokratie, S. 165–167. 32 Ders., Grenzüberschreitungen, in: ders., Reisen nach innen und außen, S.  10–25, hier S. 22 ff. 33 Vgl. Theo Schiller, Der kurze Sommer des sozialen Liberalismus. Ein Rückblick auf die Freiburger Thesen, in: vorgänge 49 (2010), Heft 1, S. 69–77. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Seit seinem Abschied von hochfliegenden politischen Ambitionen ist Dahrendorf ein maßgeblicher öffentlicher Intellektueller geblieben. Es fiel dem Freigeist Dahrendorf schwer, sich in die Fronten des bundesrepublikanischen Lagerdenkens einzureihen. War er 1974 kritischer Sympathisant einer Tendenzwende, die von Hermann Lübbe, Robert Spaemann und anderen Liberalkonservativen ausgerufen wurde, so fand man ihn fünf Jahre später als Beiträger zu den von Habermas gesammelten »Stichworten zur geistigen Situation der Zeit«, die das Projekt der Moderne gegen eben jene Tendenzwendler zu verteidigen strebten. So saß er zwischen den Stühlen: Weder konnte er sich für den Rechtshegelianismus der Ritter-Schule erwärmen, obgleich er ihrer Common-SensePhilosophie nahestand, noch konnte er diskurstheoretisch befeuerte Utopien der Herrschaftsfreiheit ernst nehmen. Die Theorie allein lieferte ihm nie genug Atemluft, wie er einmal schrieb, und so wurde Dahrendorf im Gegensatz zu seinen Generationsgenossen Luhmann und Habermas nicht zu einem schulbildenden Theoretiker, sondern zu einem politisch urteilskräftigen unabhängigen Denker, der allerdings nicht immer leicht zu greifen war. Den Forderungen des Tages folgend variierte er als situativ-interventionistischer Liberaler seine politischen Positionen, war in England ein sozialliberaler Kritiker Thatchers und blieb in Deutschland ein Mahner gegen übermäßiges Staatsvertrauen. Dahrendorfs Kantianismus einer Weltbürgergesellschaft verließ sich niemals allein auf die Vormacht der Vernunft. Wie der bewunderte Isaiah Berlin hielt er es lieber mit der Königsberger Einsicht, dass der Mensch aus krummem Holz geschnitzt ist. Wichtiger als komplexe Theoriegebäude sind funktionierende politische Institutionen, die der Freiheit des Einzelnen dienen, und die Pflege öffentlicher Tugenden. Dahrendorf glaubte an Einsicht durch Erfahrung. Demokratie und Marktwirtschaft seien für ihn deswegen wünschenswert, »weil sie kalte Projekte sind, die keinen Anspruch erheben auf die Herzen und Seelen von Menschen«, bekannte er um die Jahrtausendwende.34 Dass Dahrendorf selbst nicht kalt blieb, sondern seine Begeisterung angesichts des Sieges der Zivil­gesellschaft in Osteuropa 1989 / 90 deutlich zum Ausdruck gebracht hat, darf man als einen angenehmen Widerspruch empfinden. Zuallererst hatte er gut liberal die Freiheit des Individuums im Sinn – und nicht den Sieg einer Idee. Während Habermas zugleich abschätzig und verunsichert von einer »nachholenden Revolution« sprach, weil die Wende keine neuen Ideen hervorbrachte, war Dahrendorf der Originalitätsgehalt von politischen Ideen nebensächlich – die »Bekräftigung alter Ideen« schien ihm verdienstvoll genug.35 In den letzten Jahren versuchte er die Sinne dafür zu schärfen, dass das kurze sozial­ 34 Ralf Dahrendorf, Der Wiederbeginn der Geschichte. Vom Fall der Mauer zum Krieg im Irak, München 2004, S. 86. 35 Vgl. ders., Betrachtungen über die Revolution in Europa in einem Brief, der an einen Herrn in Warschau gerichtet ist, Stuttgart 21991, S. 26 f. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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demokratische Jahrhundert zwar zu Ende gegangen ist, dass aber die Vorbeter des Neoliberalismus aufgerufen sind, zwischen den vielen möglichen Kapitalismen der Gegenwart zu unterscheiden. Aus dem optimistischen Liberalen war gegen Ende seines Lebens mitunter ein skeptischer Republikaner geworden, der die Demokratie nicht nur ökonomischen, sondern moralischen Krisen ausgesetzt sah. Der Weg Dahrendorfs zum quasi überparteilichen liberalen Denker zeigt allerdings auch den Wandel der politischen Kultur an. Einst war er als Modernisierer und Kämpfer für die Demokratie in einer als verkrustet empfundenen, konservativ geprägten Gesellschaften angetreten. Gleichzeitig hatte der Liberale den Feind im Osten fest im Visier und warnte vor denjenigen neuen Linken, die Pfade nach Utopia suchten. Mittlerweile sind die Ideen des Liberalismus in alle Parteirichtungen diffundiert, so dass nicht nur die FDP Mühe hat, einen liberalen Alleinvertretungsanspruch programmatisch zu begründen. Das Anliegen des Liberalismus, wenn man es nicht auf neoliberale Wirtschaftspolitik beschränken, sondern als aufklärerische und normative Idee begreifen will, ist kaum mehr ideologiefähig, sondern zu einer Universalie geworden. Dieser Umstand führt dazu, dass dem einstmaligen liberalen Avantgardisten Dahrendorf in der bundesrepublikanischen Ideengeschichte nunmehr der klassische Rang des konstitutiven Vordenkers und Demokratielehrers zukommt.

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Olaf Blaschke

Verlage als Katalysatoren von Schulbildungen?

Wird über Intellektuelle diskutiert, werden ihre Verleger meistens vergessen. Sie erscheinen oft bloß als Dienstleister jener, deren Werke sie drucken. Tatsächlich aber traten Verleger selber als Intellektuelle und Akteure hervor. Für die Mitte des 20.  Jahrhunderts wäre nur an Stanley Unwin, Frederic Warburg, Harold Macmillan, der britischer Premierminister wurde, an Rudolf Augstein, Siegfried Unseld, Klaus Wagenbach und seinen Freund Feltrinelli zu erinnern. Nicht alle Verleger beweisen sich freilich stets als Intellektuelle. Auch Silvio ­Berlusconi ist Verleger. Verlage als Katalysatoren von Schulbildungen? Bewusst steht hinter dem hier behandelten Thema ein Fragezeichen. Es bezieht sich vor allem auf den Begriff Schule, da umstritten bleibt, ob es überhaupt so etwas wie Schulen, Denkschulen, Denkstile, scientific communities gibt. Die sog. Hamburger Schule um den Historiker Fritz Fischer, der 80 Doktoranden betreute, hat nie auch nur im Ansatz existiert. Die Bielefelder Schule ist eine von außen angetragene Fremdbezeichnung gewesen, the Bielefeld school, was man in Bielefeld aber dankbar aufgriff. An der strengen Definition von »Schule« – verstanden als vertikal hie­ rarchisierte Kommunikationszusammenhänge mit kognitivem Programm  – scheitern selbst die bekannteren Beispiele.1 Im engeren Sinne besteht eine Schule aus einer Leitperson und einer Schülergruppe, die dem Anführer und einer gemeinsamen Programmatik bedingungslos folgt. Selbst die Frankfurter Schule oder die Marburger Schule um Wolfgang Abendroth wären in diesem Sinne keine solche. Rolf Wiggershaus, Christoph Hüttig und Lutz Raphael haben dieses Verständnis von »Schulen« vor 20 Jahren gründlich widerlegt. Entsprechend vermeidet Raphael auch bei den Annales-Historikern den Begriff Schule. Wann immer man in der Rückschau genauer hinschaut, zerplatzen Kohäsionsvorstellungen. Das übliche Verfahren ist, sich innere Querelen anzusehen oder die Schriften auszulegen, um festzustellen, dass die Positionen doch zu stark voneinander abweichen, als dass man von einer einheitlichen Schule sprechen könnte.2 1 Gabriele Lingelbach, Klio macht Karriere. Die Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft in Frankreich und den USA in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2003, S. 29. 2 Christoph Hüttig / Lutz Raphael, Der »Partisanprofessor« und sein Erbe. Wolfgang Abendroth und die »wissenschaftliche Politik« der »Marburger Schule(n)« im Umfeld der westdeutschen Politikwissenschaft 1951–1975, in: Dieter Emig u. a. (Hg.), Sprache und Politi© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Nun ist Wissenschaft aber auch ein Spiel, um es mit Pierre Bourdieu auszudrücken, ein Spiel um Positionen im Feld, ein Spiel um Reputation, um Geländegewinn und Grenzziehungen, ein Spiel von Gruppen, die nach außen so tun, als seien sie welche, oder ein Spiel von Forschern, die eine Projektionsfläche brauchen, um sich von den derart konstruierten Gruppen abzugrenzen. Sie weisen ihnen den Schulbegriff zu, um die eigene Position gegen einen auf diesem Wege geschlossen wirkenden, mächtigen Gegner zu stärken. Vor diesem Hintergrund wäre man geradezu Spielverderber, wollte man mit dem Bestimmbuch in der Hand benoten, dies sei wirklich eine Schule, jenes aber nicht. Ein solches aufklärerisches Verfahren verkennt, wie wichtig die Aufrechterhaltung der Illu­ sion von Schulen ist, sonst würde ja nicht allenthalben von Schulen die Rede sein, wenn auch in Anführungsstrichen. Wenn mithin Schulen in dem Sinne wichtig sind, dass deren Teilnehmer oder deren Gegner an ihre Existenz glauben, dann nehmen Verleger und Verlage eine tragende Rolle bei deren Konstruktion ein. Gerade durch die Verlage entsteht erst so etwas wie die Anmutung einer Schule. Volker Remmert und Ute Schneider haben demonstriert, wie sich bestimmte mathematische Schulen, die Berliner und die Königsberger Schule, um jeweils bestimmte Verlage wie Reimers, Teubner und Springer scharten.3 Auch anhand der Annales-Historiker konnte gezeigt werden, wie die gezielte Verlagspolitik mithalf, einen gewissen Eindruck von Homogenität zu erzielen. Während die traditionelle Historiographie Verlagen wie Hachette, Fayard oder der Presses universitaires de France verbunden blieb, scharten sich die Vertreter der nouvelle histoire wie Georges Duby, Jacques Le Goff und François Furet um Verlage wie Gallimard, Flammarion und Le Seuil. Pierre Nora war nicht nur Annales-Historiker, sondern seit den 1960er Jahren Lektor bei Gallimard, wo er die für seine Mitstreiter wichtigen Reihen »Bibliothèque des Sciences Humaines« und später die »Bibliothèque des Histoires« leitete.4

sche Kultur in der Demokratie. FS Hans Gerd Schumann, Frankfurt a. M. 1992, S. 23–75; Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, politische Bedeutung, München 31991. 3 Volker Remmert / Ute Schneider (Hg.), Publikationsstrategien einer Disziplin – Mathematik in Kaiserreich und Weimarer Republik, Wiesbaden 2008. 4 Vgl. Lutz Raphael, Die Erben von Bloch und Febvre. »Annales«-Geschichtsschreibung und »nouvelle histoire« in Frankreich 1945–1980, Stuttgart 1994, S.  438; ders., Die ­nouvelle histoire und der Buchmarkt in Frankreich, in: Olaf Blaschke / Hagen Schulze (Hg.), Geschichtswissenschaft und Verlagswesen in der Krisenspirale? Eine Inspektion des Feldes in historischer, internationaler und wirtschaftlicher Perspektive, München 2004, S. ­123–137, hier S. 130. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Verlage machen den Unterschied Lassen wir die Frage, ob diese oder jene Schule ihr Etikett verdient, beiseite und begnügen uns damit, dass der Glaube an Schulen im jeweiligen Feld seine ­Effekte erzielt, und dies auch deshalb, weil Verlage dafür instrumentalisiert werden oder umgekehrt, weil sich Verlage differierende Strömungen aneignen, sie bündeln und damit erst als Schulen in Szene setzen. Auf einer höheren Abstraktionsebene wird man davon ausgehen müssen, dass es durchaus Tendenzen und Gesinnungsgemeinschaften gibt. Ob man nun von Schulen, Strömungen, Perspektiven oder Positionen spricht: In der Wissenschaft, bei jeder Dissertation und jedem guten Aufsatz, geht es stets um die Herstellung von Differenz. Diese wird durch die Verlagslandschaft gespiegelt und verstärkt. Insofern sind Verlage Katalysatoren von Disziplinbildungsprozessen und Subdisziplinprofilierungen, von Schulen, von Tendenzen und von Unterscheidungen. Deshalb haben wir unbewusst eine Vorstellung davon, dass bestimmte Autoren zu bestimmten Verlagen passen oder nicht passen. Es erscheint uns ganz normal und bedeutet auch etwas, dass sämtliche Schriften von Jürgen Habermas seit 1968 bei Suhrkamp erscheinen und nicht bei Bastei-Lübbe oder im katholischen Herder Verlag. Umgekehrt würde es uns überraschen, ein Buch von Joseph Ratzinger bei Suhrkamp verlegt zu finden statt bei Herder in Freiburg.

Verlage und Publikationskarrieren am Beispiel der Theologie Nun sind Konfessionen keine Schulen. Aber schon hier zeigt sich, dass sich die deutsche Verlagslandschaft verzweigt. Theologen und Kirchenhistoriker publizieren je nach Konfession bevorzugt in katholischen bzw. protestantischen Verlagen. Wo man publiziert, hat Bedeutung. Es war jahrzehntelang ein Unterschied, ob ein Buch bei Herder erschien oder als Siebenstern-TB, eine Serie, die Gerhard Mohn in den 1970er Jahren eigens als Gegengewicht gegen die HerderBücherei aufstellte. Nimmt man konfessionellen Zuordnungen genauer in den Blick, werden darin wiederum binnenkonfessionelle Unterscheidungen ersichtlich. Um die Verlagsverbindungen eines Autors transparent zu machen, helfen sog. Bibliogrammtafeln, auf denen das gesamte Lebenswerk eines Wissenschaftlers im DIN-A4-Format Platz findet, im Falle des Schweizer Theologieprofessors Hans Küng alle 66 Monographien (allerdings ohne die vielen Übersetzungen und Neuauflagen). Typisch für derart ermittelte Publikationskarrieren ist, dass der Verlag, der die Dissertation schulterte, verlassen wird. Küngs Buch über die Rechtfertigungslehre Karl Barths brachte 1957 sein Mentor Hans Urs von Balthasar als Verleger des elitär-theologischen Johannes Verlages heraus. Doch © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Abb. 1: Bibliogrammtafel Hans Küng (*1928; nur die 66 Monografien, nur dt. Erst­ auflagen) © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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der Johannes Verlag war zu klein für Küngs Ambitionen. Deshalb telefonierte Küng mit dem Herder Verlag in Freiburg, um zu »dem repräsentativen katholischen Publikumsverlag Deutschlands« zu wechseln, zumal ein Gespräch mit dem Chef der größten Universitätsbuchhandlung Münsters ihn davon überzeugt hatte, dass seine Dissertation nicht wegen, sondern trotz des Johannes Verlags ein Erfolg geworden war.5 Das Buch »Konzil und Wiedervereinigung« sollte weit höhere Auflagen erleben. Von nun an erschienen standesgemäß zehn Titel Küngs bei Herder. Doch nach kaum zehn Jahren fällt ein entscheidender Verlagswechsel auf: 1970 kam es zum Bruch mit Herder. Küng führt das in seinen Erinnerungen auf die »repressive Politik des römischen und deutschen ›Lehramts‹« zurück. Der 1807 gegründete Herder-Verlag, der auch von Meßbüchern und anderen Auftragsarbeiten lebte, sei massiv unter Druck gesetzt worden. Einen passenden Ersatz fand Küng bei Piper, einem liberalen Verlag, der Ralf Dahrendorfs Bücher verlegte und auch besser zu Küngs Ambitionen paßte. Dort erschien »Christ sein«.6 Anhand der Bibliogrammtafel lassen sich mehrere Zusammenhänge und Veränderungen erkennen: 1.  Küng muss 30 Jahre lang woanders publizieren als sein Studienkollege Joseph Ratzinger, der selbstverständlich bei Herder bleiben darf. 2. Küng erwies sich als ausgesprochen verlagstreuer Mensch und hat in Benzinger und Piper »seine« Verlage gefunden. Viele andere Wissenschaftler sehen beim Blick auf ihr Bücherregal zwanzig verschiedene Verlage vor sich, bei denen sie publiziert haben.7 3. In den 1960er und 1970er Jahren finden Brüche und Ausdifferenzierungen im Feld statt. Auch der konzilsfreudige Grünewald-Verlag hätte Küngs Schriften übernommen, wäre aber zu katholisch ge­ wesen und zu klein.

Verlage kanalisieren Strömungen – ein Beispiel aus dem Fach Geschichte Nun hat Küng aber keine Schule begründet. Widmen wir uns daher im Folgenden einem Fall, in dem eine innovative Gruppierung mit einem geradezu nach Erneuerung hungernden Verlag zusammenkam  – oder vielmehr umgekehrt: Ein Fall, in dem ein Verlag mit magerem historischem Programm schon in den 5 Hans Küng, Erkämpfte Freiheit. Erinnerungen, München 2002, S. 190, 267–269, 331. 6 Ders., Umstrittene Wahrheit. Erinnerungen, München 2007, S. 398–410; vgl. Ernst Piper /  Bettina Raab, 90 Jahre Piper. Die Geschichte des Verlages von der Gründung bis heute, München 1994; Edda Ziegler, 100 Jahre Piper. Die Geschichte eines Verlages, München 2004. 7 Ausführlichere Beispiele aus dem Historikerfeld: Olaf Blaschke, Verleger machen Geschichte. Buchhandel und Historiker seit 1945 im deutsch-britischen Vergleich, Göttingen 2010, S. 412–456. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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1960er Jahren erkannte, wohin der Zug ging, und versuchte, die entsprechenden Historiker zu rekrutieren. Gemeint ist die kongeniale Liaison zwischen Bielefeld und Göttingen. Auch hier ging es sowohl für den Verlag als auch für die Bielefelder um die Herstellung von Differenz auf dem Markt bzw. dem wissenschaftlichen Feld. Der Verlag half mit, diese zunächst heterogene Strömung zu kanalisieren. Die Vertreter der zweiten Generation der Sozialhistoriker in den 1960er und 1970er Jahren mussten sich einerseits von der herkömmlichen Historiographie abgrenzen, also zur wie auch immer konstruierten Orthodoxie, wobei sie sich dabei zugleich in ihre Tradition stellten. Andererseits mussten sie sich zur gegenüberliegenden Seite abgrenzten, zu Akteuren, die als zu links galten, wobei sie auch hier wiederum eine Tradition konstruierten, in der auch linke Historiker, die bislang vom Feld ausgegrenzt worden waren, reintegriert wurden. Durch diese Strategie, Differenz gegen »rechts« und »links« herzustellen und doch von beidem etwas aufzugreifen, gelang es dieser Gruppe, eine eigene Position einzunehmen und zu profilieren, ohne aus dem Feld herauszufallen. Ihre domestizierte Heterodoxie stand zwischen Orthodoxie und Häresie. Man kann drei Strategien unterscheiden, um bei dieser doppelten Grenz­ ziehung erfolgreich zu sein: Erstens waren es die Thesen und Methoden, in ­denen sich die Neue Sozialgeschichte von der älteren Sozialgeschichte und der etablierten Historiographie unterscheiden wollte. Um dieser Strategie nachzugehen, braucht man nur die schon publizierten Texte zu interpretieren. Ferner kann man sich, zweitens, die spezifische Semantik ansehen, mit der Distinktionen gezogen wurden. Drittens schließlich lohnt es sich, den Verbindungen mit den Verlagen nachzugehen. Der ausgesuchten Kooperation mit bestimmten Verlagen verdankt die Neue Sozialgeschichte ihren Erfolg. Zur Interpretation der Texte gibt es schon hinreichend viele Studien.8 Da der hier beschrittene Weg nicht ideen- und gedankengeschichtlich ist und nicht nochmals die Schriften und Ideen der Publikationen auslegt, können wir uns direkt der zweiten Strategie, der semantischen Kreativität und der Neubesetzung von Begriffen widmen. Geschickt verstanden es die jüngere Historikergruppe und ihre Verlage, entscheidende Begriffe wie »sozioökonomisch«, »Soziales«, »Strukturen« und »Gesellschaft« quasi zu kapern und neu zu besetzen. Vor allem gelang es ihnen, rechtzeitig den Kritikbegriff zu pachten. Genau dafür rügte Thomas Nipperdey 1975 die Kehrites, wie er die jungen Historiker wegen ihrer Anlehnung an Eckart Kehr nannte. Sie würden anders argumentierende Historiker als apologetisch bezeichneten. Wörtlich schrieb Nipperdey: »Man soll sich durch die von den Neokritikern stipulierte Alternative Kritik versus Apologie nicht ins Bockshorn jagen lassen. Die Alternative ist ein polari8 Vgl. zuletzt die Bestandsaufnahmen in: Pascal Maeder u. a. (Hg.), Wozu noch Sozial­ geschichte? Eine Disziplin im Umbruch, Göttingen 2012. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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sierendes Kampfinstrument.« Die Pointe des Kritikbegriffs, gegen den Nipper­ dey sich wehrte, war, dass man gar nicht sagen brauchte, die anderen seien apologetisch. Wer sich selber das Etikett kritisch anheftete, machte automatisch klar, dass die anderen zumindest unkritisch waren.9 Es ging denjenigen, die den Kritikbegriff für sich beanspruchten, um die Setzung von Unterscheidung, um Grenzmarkierungen. Die richtigen Duftmarken und Namen verliehen Existenz. Pierre Bourdieu erläutert, welchen Platz im, wie er schreibt, »Kampf ums Leben, ums Überleben den Distinktionszeichen zukommt […] Die Wörter, Namen von Schulen oder Gruppen, Eigennamen, sind nur deshalb so wichtig, weil sie die Dinge schaffen: Als distinktive Zeichen schaffen sie Existenz in einem Universum, in dem existieren differieren heißt, ›sich einen Namen machen‹, einen Eigennamen oder einen gemeinsamen Nenner.« Mit ihren Begriffserfindungen oder Begriffs­eroberungen schufen die Neuankömmlinge Distinktion und wiesen die Kano­niker in die Vergangenheit zurück, und dort war man eben »unkritisch«.10 Besonders der Verlag Vandenhoeck & Ruprecht nahm aktiv teil an dieser Konsekration, Profilbildung und Positionierung der Wissenschaftler. Er wurde damit selber ein Teil dieses Universums, da er sich nun spezifisch von anderen Geschichtsverlagen unterschied. Wovon man sich am stärksten abgrenzte war sozusagen der Zentralverlag der Historikerzunft, Oldenbourg in München. Welche Rolle nahmen also Verlage in der der Geschichtswissenschaft ein? Nicht nur die Historiker machen Geschichte, nicht nur Intellektuelle sortieren Gedanken, wie jede Rezension suggeriert, sondern auch die Verleger. Sie nehmen aktiv Teil daran, dass die Historiker wurden was sie wurden, dass ihnen Renommee und Anerkennung zugeschrieben wird. Auch Verleger produzieren die Historiker und die Intellektuellen samt ihrem Feld. Ohne Verleger wären Intellektuelle wenig. Wäre Sartre nicht publiziert worden oder in abgelegenen Verlagen erschienen, wäre er nicht als Intellektueller wahrgenommen worden.

9 Thomas Nipperdey, Wehlers »Kaiserreich«. Eine kritische Auseinandersetzung, in: ders., Gesellschaft, Theorie, Kultur, Göttingen 1976, S.  360–89, hier S.  367; zuerst in: Geschichte und Gesellschaft 1 (1975), S. 539–60. 10 Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a. M. 1999, S. 253. Ausführlicher zum Aufstieg von Vandenhoeck & Ruprecht, zu diesen Mechanismen sowie grundsätzlich zum im Hintergrund stehenden Ansatz von Pierre Bourdieu: Olaf Blaschke / Lutz Raphael, Im Kampf um Positionen. Änderungen im Feld der französischen und deutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, in: Jan Eckel / Thomas Etzemüller (Hg.), Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2007, S. 69–109. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Verlage fördern Strukturen innerhalb der Wissenschaften Das Verlagswesen übte auf doppelte Weise einen Einfluss auf die Verfertigung von Geschichte und auf die Geschichtswissenschaft aus: erstens unmittelbar, indem es durch seine Entscheidungen und Praktiken an der Produktion bzw. NichtProduktion, der Platzierung bzw. Deplatzierung, der Gestalt und Karriere eines Werkes einen erheblichen Anteil hatte. Zweitens wirkte das Verlagswesen mittelbar auf die Wissenschaft ein. Der mittelbare Einfluss von Verlagen stellt höhere Anforderungen an die empirische Analyse und ist überhaupt schwerer zu erläutern als der unmittelbare Einfluss, von dem jeder Wissenschaftler die eine oder andere Anekdote zu berichten hätte. Damit wären wir wieder bei den Bibliogrammtafeln als Beispiel struktureller Beziehungen. Tatsächlich gibt es strukturelle Verwandtschaften zwischen bestimmten Verlagen und bestimmten Historikern. Der Verlagsbuchhandel schuf Strukturen, in denen Historiker oder andere Wissenschaftler eine dem Feld homologe Austragungsebene für ihre Positionskämpfe fanden. Hier konnten sie ihre wichtigsten Hervorbringungen, die Werke, zur Geltung bringen, immer aber abhängig davon, welchen Namen der Verlag hatte und wie er wahrgenommen wurde. Verleger sorgten dafür, dass die Dinge richtig sortiert und sichtbar wurden, und zwar auf einem vertikalen und horizontalen Spektrum. Hierarchisch in ihrem Feld hochstehende Autoren wie Gerhard Ritter, 1949 bis 1953 Vorsitzender des Historikerverbands, waren am besten aufgehoben in einem angesehenen Verlag wie Oldenbourg, der die »Historische Zeitschrift« betreute und auch andere renommierte Autoren in der backlist führte, mithin ein hohes soziales und kulturelles Kapital mitbrachte. Man kann hier von hie­ rarchischer, vertikaler Ordnung reden: Spitzenverlage und Spitzenautoren kommen zusammen, Dissertationsverlage und Doktoranden. Nicht jeder schafft es, sein Buch bei C. H.  Beck, Suhrkamp, Oldenbourg oder Vandenhoeck & Ruprecht zu veröffentlichen. Dagegen ist der Zugang zu Steiner, Lit, Peter Lang und Duncker & Humblot (die 2009 Karl-Theodor zu Guttenbergs Mogel­ dissertation druckten) weitaus einfacher, und im Internet sind inzwischen alle Dämme gebrochen, über die nun sogar mittelmäßige Hausarbeiten aus dem Grundstudium hereinfluten. Umso wichtiger bleibt die Unterscheidungsfähigkeit. Die Teilnehmer eines spezifischen wissenschaftlichen Feldes haben unbewusst eine Vorstellung davon, dass bestimmte Verlage besonders angesehen sind, dass ihren Produkten eine bestimmte Qualität zugeschrieben wird. Eine Befragung von 250 Historikern, wo sie gerne veröffentlichen würden, hat gezeigt, dass sich keine willkür­ liche oder relativ gleichmäßige Streuung von Verlagen ergibt, sondern eine steile Pyramide, an deren Spitze C. H. Beck steht, während Piper im unteren Mittelfeld steht und Peter Lang weit abgeschlagen ist. In Wahrheit wollen gute Autoren © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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auch nicht freiwillig online publizieren. V&R steht sehr weit oben, noch höher bei den 50 befragten Professoren als bei den 50 Studienanfängern, die in einzelnen Fällen sogar Bastei-Lübbe hinschrieben.11 Was aber ist mit horizontalem Profil gemeint? Viele deutsche Verlage versuchten, ein stimmiges Horizontal-Profil zu bewahren, indem sie Versammlungsorte Gleichgesinnter sein wollten. So konnten sie, insbesondere auch in den bewegten 1960er Jahren, zu Katalysatoren von Meinungsprofilen und Schulbildungen werden. Beim Horizontalprofil sollte die Haltung auf einem linksrechts Spektrum zum Verlagsgesicht passen. Evident ist dies bei der SuhrkampKultur: In den Reihen des Frankfurter Verlages, der »edition suhrkamp« und »suhrkamp taschenbuch wissenschaft«, erwarten Leser Autoren wie Adorno, Habermas, Bourdieu etc. Auch Wehlers »Neue Historische Bibliothek« war hier in den 1980er Jahren bestens aufgehoben.12 Aber horizontale und vertikale Profile waren nicht nur bei so eindeutigen Fällen wie der Suhrkamp-Kultur identifizierbar, sondern auch bei Wissenschaftsverlagen wie Vandenhoeck & Ruprecht. Die Unterscheidung von Vertikal- und Horizontalprofil ist ein Vorschlag, Verlage zu kategorisieren, denn zentral für die Wahrnehmung von Verlagen sind vor allem diese beiden Kategorien auf je einem Spektrum, plakativ gesagt: oben bis unten und rechts bis links. Geht es beim Vertikalprofil um Qualität, um Reputation, um das wahrgenommene Anspruchsniveau, lassen sich auf dem horizontalen Profil Tendenzen und Gesinnungen identifizieren. Während sich bei der vertikalen Gliederung die Frage stellt, ob hochgestellte Autoren zu hochgestellten Verlagen passen, unterscheidet das horizontale Spektrum rechts und links, im politischen Sinne deutlich sichtbar bis in die 1970er Jahre. Aber man kann auch wissenschaft­ liche Schulen und Tendenzen, Orthodoxie und Häresie, Abweichungen zu dieser oder jener Richtung daran ablesen, wie der Fall Küng zeigte. Jeder Verlag in einem Feld hat zu einem bestimmten Zeitpunkt X einen Ort in diesem Kosmos. Oldenbourg hat sich seit 1858 viel soziales Kapital und Traditionskapital aufgebaut, blieb aber gediegen konservativ. Unter ihm stehen nichtssagende Dissertationsverlage, links von ihm etwa die 1946 gegründete Europäische Verlagsanstalt mit wenigen Autoren und klar auf dem sozialistischen Flügel beheimatet. Rechts würde Musterschmidt oder die Wissenschaft­ liche Buchgemeinschaft zu postieren sein. Selbstredend verändern sich die Positionen im Feld ständig. Als Historiker haben wir es ja immer mit beweglichen Zielen zu tun. Vandenhoeck & Ruprecht z. B. wanderte in den 1960er Jahren im Feld vom eher konservativen Theologenverlag nach links und bediente die da11 Vgl. Olaf Blaschke, Reputation durch Publikation. Wie finden deutsche Historiker ihre Verlage? Eine Umfrage, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 55 (2004), S. 598–620. 12 Vgl. Raimund Fellinger / Schopf, Kleine Geschichte der edition suhrkamp, Frankfurt a. M. 2003; Blaschke, Verleger, S. 266–270, 290–294. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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mals progressive Sozialgeschichte, die selbsternannte »kritische« Geschichtswissenschaft, ohne aber in die Nähe der sozialismusfreundlichen Europäische Verlagsanstalt rücken zu wollen. Zugleich wanderte Vandenhoeck & Ruprecht aus Historikersicht vertikal nach oben, weil der Verlag jetzt ein renommierter Geschichtsverlag wurde. Bücher sollen zum sog. Verlagsgesicht passen, sagte man in den 1960er Jahren. Gesinnungsverlage sind solche Verlage, die dauerhaft als Sympathisanten einer politischen, konfessionellen oder ideologischen Richtung oder wissenschaftlichen Strömung auftreten und deren Publikationen zu einem gegebenen Zeitraum mehrheitlich parteiisch sind und dieser Linie nie oder selten, außer für Selbstreflexionszwecke, widersprechen. In diesem weiteren Sinne lassen sich Gesinnungsaffinitäten bei den Verlagen S. Fischer und Suhrkamp identifizieren oder, auf der anderen Seite, bei Musterschmidt. Weitere Gesinnungsverlage sind Wagenbach und der 1973 aus ihm ausgekoppelte Rotbuch Verlag, der Pahl-Rugenstein Verlag, die Europäische Verlagsanstalt etc. Tendenzverlage sind schwächer als Gesinnungsverlage, da sie lediglich eine Tendenz verkörpern, wie etwa Vandenhoeck & Ruprecht oder die Deutsche Verlagsanstalt. Übrigens mussten schon die Junghegelianer im frühen 19. Jahrhundert woanders publizieren als die Hegelianer. Solche Zuordnungen waren nicht neu, verschärften sich jedoch in den 1960er Jahren erneut.

Verlagsbindung als Institutionalisierung neuer Tendenzen Der vielleicht bekannteste deutsche Historiker der 1950er und 1960er Jahre, Gerhard Ritter, publizierte viel bei konservativen und im Feld unumstrittenen Verlagen, mit großer Verlagstreue von 1923 bis zu seinem Tod 1967 in hohem Maße bei Oldenbourg. Ritter bediente, was ein renommierter »Normalhistoriker« um 1960 an Verlagen kannte. Die Sozialhistoriker wurden in den 1960er Jahren vor allem von Kiepenheuer & Witsch, Vandenhoeck & Ruprecht, später Suhrkamp betreut. Es gibt keine Überschneidungen mit den Verlagen Ritters. Der aufstrebende Starautor von Vandenhoeck & Ruprecht war seit etwa 1970 Hans-Ulrich Wehler. Vandenhoeck & Ruprecht wiederum wurde zu dessen Hausverlag. Schon der Lektor Arnold Fratzscher konnte Wehler als Autor gewinnen. Im Juli 1970 trat Winfried Hellmann in den Verlag ein und wurde für das Geschichtsprogramm zuständig. Fratzscher und Hellmann sind heute vergessene Akteure ihres Feldes. Doch ist es wichtig zu sehen, welch kongeniales Team Wehler und Hellmann bildeten. Beide wollten die junge Sozialgeschichte im Feld prominent platzieren, was ihnen auch gelang. Sie machten sie gerade dadurch sichtbar, dass sie nicht in allen möglichen Verlagen verstreut erschien, sondern vor allem bei Vandenhoeck & Ruprecht. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Abb. 2: Bibliogrammtafel Hans-Ulrich Wehler (*1931)

Wie aus einer Bibliogrammtafel Wehlers ersichtlich wird, verdichtete sich dessen Publikationstätigkeit bei Vandenhoeck & Ruprecht zwischen 1970 und 1980. Aber es ging nicht nur darum, viel zu publizieren, sondern auch das Richtige: Wehler gab ein Historikerlexikon heraus, am Ende in neun Bänden. Damit wurde für die Sozialgeschichte eine eigene Traditionslinie konstruiert, weil auch Außenseiter wie Eckhart Kehr aufgenommen wurden. Außerdem erschien in der Taschenbuchreihe der Deutschen Geschichte 1973 Wehlers berühmtes © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Kaiser­reichbuch. Die gesamte »blaue Reihe« wurde unter Hellmanns Ägide stärker sozialgeschichtlich eingefärbt. Dazu kam eine Buchreihe: Die »Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft«. Wenn man erst einmal eine Buchreihe hat, ist die eigene »Schule« schon stärker institutionalisiert. Abgerundet wurde die Angelegenheit durch die 1975 gegründete Zeitschrift »Geschichte und Gesellschaft«. Eine Tendenz oder Schule muss eine eigene Zeitschrift einrichten, um sich klar von der Mitte, also in diesem Fall von der 1859 gegründeten »Historischen Zeitschrift«, abzugrenzen. Diese konzertierte Aktion der Institutionalisierung der sog. Bielefelder Schule brachte die Sozialgeschichte nach oben. So erklärt sich auch der rasante Aufstieg von Vandenhoeck & Ruprecht als Geschichtsverlag und seine Linkswanderung. Die Abgrenzung nach links geschah gegen die 1946 gegründete Euro­päische Verlagsanstalt (EVA), eine zeitweilig gewerkschaftseigene Firma mit Mitarbeitern aus dem ehemaligen Sozialistischen Kampfbund. Hier gab es schon in den 1950er Jahren Bücher über Konzentrationslager. Seit 1967 erschienen die »Kritischen Studien zur Philosophie«, dann zielte die EVA auf die Politikstudenten und lancierte 1969 die »Kritischen Studien zur Politikwissenschaft«. Wahrschein­ lich hätte nicht viel gefehlt, dann hätte die Verlagsanstalt auch noch »Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft« eröffnet. Doch dem kam Vandenhoeck & Ruprecht zuvor. 1971 verhandelten Wehler und Hellmann bereits über eine solche Reihe. Name und Design der verschiedenen »Kritischen Studien« aus der EVA waren damals sehr präsent und »kritische« Studien damals in Mode. Gleich beim ersten Treffen zwischen Hellmann und Wehler waren die »Kritischen Studien zur Geschichtswissenschaft« 1971 Gesprächsgegenstand. Die Titelabfolge, der Name der Reihe, die Auflage und Kosten, all dies wurde im Vorfeld gemeinsam verhandelt. So hob Hellmann hervor: »Sehr wichtig ist der Name der Reihe. ›Kritische Beiträge zur Geschichtswissenschaft‹ finde ich zu farblos. Die meisten würden dann denken: Halt so eine Dissertationenreihe.« Obwohl tatsächlich ein großer Teil Dissertationen sein würde, sollte man das nach außen nicht gleich merken. »Darauf müssen wir auch beim ›Startprogramm‹ achten.« Wehler erwiderte, die Herausgeber hätten sich »allerdings bewusst für den Titel ›Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft‹ entschieden. Möglich wäre auch, dass wir nur ›Kritische Geschichtswissenschaft‹ sagten.« Außerdem wollen wir »versuchen, mit anderen Arbeiten den Eindruck erst gar nicht aufkommen zu lassen, dass wir dort primär Dissertationen druckten.«13 Bis Band 20 erschienen tatsächlich nur vier Dissertationen, danach erst wurden die Bände zur von Hellmann befürchteten Dissertationsreihe. Aber die Anfangsstrategie, eben dies zu verschleiern, hatte sich gelohnt. Der betreffenden »Kohorte« von Sozialhistorikern gelang es besser als ihren Vorgängern, ihr 13 Verlagsarchiv V&R (Göttingen), Autoren mit Mappe 1971–80 / 68, Hellmann an Wehler, 5.4.1971; Wehler an Hellmann, 21.4.1971. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Programm zu institutionalisieren: durch die neu konzipierte Kanonisierung der Disziplingeschichte, Buchreihen und die Zeitschrift, zunehmend auch durch die Vermehrung entsprechender Lehrstühle – vor allem jedoch auch dadurch, dass ihre wichtigsten Projekte, statt sie in etliche Geschichtsverlage zu verstreuen, primär bei Vandenhoeck & Ruprecht gebündelt auftraten. Dagegen verteilte etwa Hans Rothfels seine seit 1949 erschienenen Werke in sechzehn Jahren auf sechzehn Verlage, angefangen bei Koehler, Scherpe, Droste, der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, Vandenhoeck & Ruprecht, über Kohlhammer und die Deutsche Verlagsanstalt bis hin zur Westdeutschen Verlags­anstalt. Auch Werner Conze pflegte sehr heterogene Verlagsbindungen. Die nachfolgende Generation von Sozialhistorikern agierte weniger freigiebig. Das ist der Unterschied und dem kommt man nicht auf die Schliche, wenn man nur Text­exegese betreibt. Statt die Verlagslandschaft im Gießkannenprinzip zu bedienen, konzentrierten sich die Sozialhistoriker auf wenige strategisch zentrale Punkte. An dem Institutionalisierungsprozess partizipierte der Verlag Vandenhoeck & Ruprecht aktiv, wurde selber ein unverzichtbarer Part von ihm und profitierte reziprok von den dynamischen Veränderungen im Historikerfeld, was sich wiederum positiv auf den Umsatz dank eines sich wandelnden Marktes in Universität und Gesellschaft auswirkte. Teils getrieben, teils selber antreibend, machte der Verlag sich die seit 1970 eskalierenden Positionierungskämpfe im Historikerfeld zu Eigen. Er half entscheidend mit an der Reputationsproduktion, dem Setzen distinkter Zeichen, den semantischen Geländegewinnen und der Profilierung durch Abgrenzung. Damit wurde er zu einem Brennglas der neuen Tendenzen. Oder um im Anfangsbild zu bleiben: Verlage können zum Katalysator wissenschaftlicher Kräfte werden und ihnen helfen, nach außen das Bild einer geschlossenen Schule zu vermitteln. Wenn wir über Intellektuelle und Geisteswissenschaftler reden, dann sollte dies stets auch vor dem Hintergrund ihrer Verlagsverbindungen und dem mittelbaren und unmittelbaren Einfluss ihrer Verlage auf ihr »Schaffen« und dessen Anerkennung geschehen. Erst dieser Zusammenhang lässt die Autoren zu dem werden, als die sie uns bekannt sind.

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Andreas Ziemann

Vom Schreiben, Sprechen und Zeigen – intellektuelle Medienpraxis Einleitung Mit Recht wird die Sozialfigur des Intellektuellen als diskursives Phänomen bezeichnet, erfolgen doch seine normative Selbstfestlegung, seine funktionale Nobili­tierung wie Diskreditierung und nicht zuletzt die rituelle (Selbst-)Klage von seinem Verschwinden in zahllosen Diskursen über die Intellektuellen wie auch der Intellektuellen selbst. Mit gleichem Recht müsste der Intellektuelle als mediales Phänomen begriffen werden, da sich seine kulturellen Gegenentwürfe, gesellschaftlichen An- und Eingriffe, Parteinahmen für Minoritäten und Unterdrückte wie auch die (streitbaren) Diskurse über seine Rolle(n) allererst spezifischen medientechnologischen Bedingungen verdanken. Ohne Massen­medien wäre weder eine Verbreitung der intellektuellen Ideen und Appelle noch öffentliche Resonanz und kollektive Unterstützung bzw. Durchsetzung der intellektuellen An- und Absichten möglich. (Selbst-)Reflexionen auf die Wechselwirkung zwischen (Massen-)Medien und Intellektuellen sind jedoch erstaunlich selten und kaum hinsichtlich ihrer eklatanten technischen wie ästhetischen Differenzen und ihrer unterschiedlichen medienkulturellen Bedingungen aufgearbeitet. Dem will ich im Folgenden nachgehen und dabei tentativ die je eigene Medienpraxis des Schreibens, des Sprechens und des Zeigens auslegen.1 Dahinter steckt eine Transformation intellektueller Tätigkeit aufgrund der jeweils anders gelagerten Aneignung wie strategischen Ausnutzung von: Buchdruck und Presse, Redekunst und Hörfunk sowie schließlich Film und Fernsehen. Ich beginne mit einem Seitenblick auf die französische Intellektuellengeschichte und -praxis und leite von dorther 1 Explizit weist bereits Schumpeter auf die »Macht des gesprochenen und geschriebenen Wortes« hin (Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie. Zweite, erweiterte Auflage, München 1950, S. 237), und Lepsius ergänzt dies dann in seiner Studie mit der dreifachen Unterscheidung von der intellektuellen Macht des geschriebenen Wortes, des gesprochenen Wortes und des Bildes (M. Rainer Lepsius, Kritik als Beruf. Zur Soziologie des Intellektuellen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 16 (1964), S. 75–91, hier S. 89). Bei beiden werden allerdings diese Medienbedingungen und -verhältnisse weder ausgedeutet noch diskutiert. Die Intellektuellensoziologie sollte sich also, so mein Anliegen, aus guten analytischen Gründen mediensoziologisch begleiten und fundieren lassen. Vgl. dazu auch Andreas Ziemann, Medienkultur und Gesellschaftsstruktur. Soziologische Analysen, Wiesbaden 2011, S. 277 ff. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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wesentliche Charakteristika des »totalen« bzw. »universalen« Intellektuellen ab; eine prominente Rolle kommt dabei Zola zu. In einem zweiten Schritt extra­ poliere ich aus einschlägigen Intellektuellendiskursen des 20. Jahrhunderts (und mit besonderer Berücksichtigung Sartres) vier allgemeine Strukturbedingungen und drei spezifische Limitationen intellektuellen Engagements; dabei gilt mein besonderes Augenmerk (massen-)medialen Bedingungen. Den synthetischen Fluchtpunkt meiner Untersuchung bilden schließlich die intermedialen, gleichermaßen künstlerischen wie intellektuellen Werke und Studien Alexander Kluges. Dort kommt es zur bezeichnenden medialen Integration von Wort, Schrift und Bewegtbild wie auch zur Verschaltung von Produktions- und Rezeptionsästhetik, von intellektuellem Engagement und öffentlicher Anschlusskommunikation. In letzter Konsequenz wird mit und bei Kluge der Film selbst zum eigensinnigen Intellektuellen, zu einem kollektiven Akteur intellektueller Praxis – eine neue Konnotation und Auslegung des »Medienintellektuellen«. Die drei Schritte des Beitrags decken sich grosso modo mit seinen Leit­ begriffen: Lassen sich an Zola Grundzüge intellektuellen Schreibens und an Sartre zusätzlich Strategien erweiterter Mediennutzung im Dienst des gesprochenen Worts beobachten, kann Alexander Kluge für eine Zeit stehen, in der das bewegte Bild selbst als intellektuelles Medium entdeckt wird. Die 1960er und -70er Jahre erweisen sich damit nicht allein, wie der Sammelband insgesamt annimmt, als eine Zeit politischer Umbrüche, sondern auch als eine Phase, in der die Medienpraxis der Intellektuellen erneuert wird. Der allseitig versierte Medienintellektuelle, der gegenwärtig häufiger wahrgenommen und kritisiert wird, wurde erst durch die Experimente der Generation Kluges möglich gemacht.

Der historische Auftritt des universalen Intellektuellen und seine Selbstverpflichtungen Der Intellektuelle agiert als eine soziale (Gruppen-)Figur der modernen Gesellschaft, die in Personalunion das wissenschaftliche oder künstlerische Metier (kurz: den autonomen Geist der Kultur), juridische Kritik und politische Aufklärung sowie öffentlichkeitswirksame Medienkompetenz beherrscht und zusammengeführt hat. Historisch auf diesen Begriff und soziologisch zur Geburt einer besonderen Rolle gebracht wird der Intellektuelle bekanntermaßen 1898 im Kontext der Affäre um den französischen Hauptmann Alfred Dreyfus und die erfolgreiche Intervention Émile Zolas.2 So positiv sein Wirken und Selbst2 Siehe dazu ausführlich Eckhardt Fuchs / Günther Fuchs, »J’accuse!« Zur Affäre ­Dreyfus, Mainz 1994; Michel Winock, Das Jahrhundert der Intellektuellen, Konstanz 2003, S. 15–152. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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verständnis, so negativ ist von Anfang an und nachhaltig das Fremdurteil, das ihn als inkompetent, illegitim und landesfeindlich abstempelt.3 Das Politische, besser: die Politisierung, ist das Novum und das Vereinnahmende aller damals involvierten Protagonisten.4 Deshalb ist der Intellektuelle nie nur »Geistesarbeiter«, sondern eine durchweg politische Instanz. In der Verteidigung der Werte der Wahrheit und Gerechtigkeit – ausgehebelt von Seiten der französischen Justiz und Politik im 1894 / 95er Hochverratsprozess gegen Dreyfus – zeigen sich Wissenschaftler und Künstler nicht länger abgeschieden, desinteressiert und schweigend gegenüber der politischen Sphäre und Praxis. Sie brechen stattdessen aus dem Bereich ihrer Profession und Individualinteressen aus, um sich als »Gebildete ohne politischen Auftrag«5, als »hommes de conscience«6 für Politik und Menschenrechte zu engagieren. Der historischen Selbstlegitimierung folgend lauten die beiden zentralen Orientierungspole intellektueller Praxis: das humanistisch ausgeprägte Gewissen (mit einer unerschütterlichen Idee der Freiheit à la Sartre) und der unbedingte Glaube an den demokratischen Rechts- und Wohlfahrtsstaat. Kulturhistorischer Garant dessen  – und deshalb ebenfalls mit einem unerschütterlichen Glauben an deren Bewahrung versehen – ist die Autonomie der eigenen (beruflichen) sozialen Felder, denen die Intellektuellen entstammen: Kunst, Wissenschaft und Erziehung mitsamt ihren spezialisierten, autonomen Werten.7 Das politische Engagement und die Mobilisierung einer breiten Öffentlichkeit sind zudem aufs Engste gebunden an die (damalige französische8) Presse­ landschaft, die den Intellektuellen wie Gegenintellektuellen enormen Platz für ihre Positionen, Deutungsarbeiten und Stimmungsmache einräumt. Zola, France und Barrès schreiben nicht literarisch mit politischer Absicht, sondern politisch mit publizistischer Wirkung. Bei Zola ist besonders deutlich, wie er 3 Zum Wortkampf – prominent zwischen dem Anti-Dreyfusard Maurice Barrès und dem Dreyfusard Anatole France, jenen beiden äußerst einflussreichen Schriftstellern ihrer Zeit neben Zola – siehe ausführlich: Dietz Bering, Die Epoche der Intellektuellen 1898–2001. Geburt – Begriff – Grabmal, Berlin 2010, S. 35–60. Begriffsgeschichtlich weiterführend dann auch: Jutta Schlich, Geschichte(n) des Begriffs ›Intellektuelle‹, in: dies. (Hg.), Intellektuelle im 20. Jahrhundert in Deutschland, Tübingen 2000, S. 1–113. 4 Vgl. Bering, S. 44–55. 5 So die positive Bedeutungsbesetzung dessen, was Barrès eigentlich diskreditierend gemeint hatte (vgl. Bering, S. 48). Siehe ausführlich zur Selbstdeutung der historischen Ereignisse und zur eigenen anti-intellektuellen Position: Maurice Barrès, Scenes et doctrines du Nationalisme, Paris 1902. 6 Émile Zola, La Vérité en Marche, Paris 1901, S. 43. 7 Siehe dazu Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt a. M. 1999. 8 Führende (Intellektuellen-)Organe während der Dreyfus-Affäre sind »L’Aurore«, »Le ­Figaro«, »La Revue blanche«, »Le Temps«; während der 1950er Jahre (und allgemein in der Ära Sartres) sind es dann »Les Temps modernes« und »Esprit«, zu Teilen auch »Lettres françaises«, »L’Humanité«, »Liberté d’Esprit« oder »Arguments«. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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auf dem »Weg der journalistischen Massenansprache […] als Intellektueller eine Gegenmacht in doppelter Funktion bildete«9: eine Gegenmacht zur dominant antijüdischen und nationalistischen öffentlichen Meinung in Frankreich und eine Gegenmacht zu den dortigen gesellschaftlichen Institutionen des Militärs, der Justiz und der Kirche. In dieser (teils fast exklusiven) Kooperation mit Zeitungen, Zeitschriften und Verlagen sind die europäischen Intellektuellen Zola mindestens bis in die 1960er Jahre, teilweise bis in die aktuelle Gegenwart gefolgt. Kultur- und mediengeschichtlich kann das hinsichtlich der anfangs sehr geringen Ausbreitung des Fernsehers und der zunehmenden Radionutzung als »Nebenbeimedium« kaum verwundern. Historisch ist es in weiterer Hinsicht bezeichnend und konstitutiv, dass der Intellektuelle ein Kollektivphänomen ist.10 Wenngleich Zola mit seinem Sprechakt »J’accuse« eine wichtige Rolle bei der fulminanten Kritik am französischen Präsidenten und an der organisierten Gerichtsbarkeit sowie bei der Rehabilitierung von Dreyfus gespielt hat11, so verdankt sich dieser Erfolg insgesamt nur und erst einem Netzwerk und Zusammenwirken mit Georges Clemenceau, Anatole France, Scheurer-Kestner, Jean Psichari und allen Unterzeichnern der am 14. Januar 1898 in »L’Aurore« abgedruckten une protestation, dem so genannten »Manifest der Intellektuellen«. Dieses Merkmal der Kollektivität wird bei Michel Winock in seiner einschlägigen Studie »Das Jahrhundert der Intellektuellen« (2003) zum methodischen Schlüsselkriterium, anhand dessen er die Abfolge intellektueller Zeitalter rekonstruieren kann. Mögen Barrès, Gide und Sartre zwar als Namenspatron einer Ära fungieren, so wären sie doch ohne Mitstreiter und ohne Gruppenanbindung als Intellektuelle weder möglich noch erfolgreich gewesen. Von diesem Kollektivprinzip zehrt noch Bourdieus späte Ausformulierung des »korporativen Intellektuellen« und der internationalen Vernetzung von »committed scholars«.12 Nochmals ist auch hier in mediensoziologischer Hinsicht zu betonen: Keine Kollektivität, keine Netzwerkbildung und auch keine Öffentlichkeitswirkung ohne Publizität und ohne (elektronische) Massenmedien. 9 Jan Christoph Suntrup, Formenwandel der französischen Intellektuellen. Eine Analyse ihrer gesellschaftlichen Debatten von der Libération bis zur Gegenwart, Münster 2010, S. 38. 10 Dieser Aspekt wird bei den singulären Intellektuellenporträts von Jung und MüllerDoohm vollkommen unterschlagen. Sie zielen auf (mal mehr, mal weniger gut geschriebene und aussagekräftige)  Biografiestudien ab und behaupten gegen die historische Lage und meine analytische Überzeugung, dass die »Beschreibbarkeit des intellektuellen Handelns, Sprechens und Denkens […] nur ad personam möglich« ist (Thomas Jung / Stefan Müller-Doohm, Vorwort: Fliegende Fische. Zeitgenössische Intellektuelle zwischen Distanz und Engagement, in: dies. (Hg.), Fliegende Fische. Eine Soziologie des Intellektuellen in 20 Porträts, Frankfurt a. M. 2008, S. 9–17, hier S. 12). 11 Zur eigenen Dokumentation seiner damaligen zentralen Presseartikel und Briefe siehe: Zola, La Vérité. 12 Vgl. Pierre Bourdieu, Die Intellektuellen und die Macht, Hamburg 1991. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Diskursive (Selbst-)Festlegungen und Strukturbedingungen des Intellektuellen Aus der Praxis der Intellektuellen sind – in bedeutender Anzahl und Nachhaltigkeit vor allem ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – dezidierte Selbstverpflichtungen und Tugenderwartungen hervorgegangen und publik gemacht worden. Dauerhaft haben Intellektuelle nicht nur um die Menschenwürde, die menschliche Freiheit, den Bestand kultureller und demokratischer Werte und die Aussicht auf bessere Lebensverhältnisse und institutionelle Reformen gerungen, sondern immer auch um ihr Selbstverständnis und ihre eigene Legitimation. Die Praxis wurde zur Theorie  – begleitet von gesellschaftswissenschaftlichen (Fremd-)Beobachtungen und der Institutionalisierung einer Intellektuellensoziologie. Diesen Theoriediskursen sind wesentliche Modalitäten, Zielstellungen und Strukturprinzipien intellektuellen Engagements13 zu entnehmen, die ich im Folgenden – in dezidiert positiver und (selbst-)affirmierender Hinsicht14 – komprimiert darstellen will. Zu erinnern ist jedoch vorab daran, dass die Selbstlegitimierung und Institutionalisierung der (Links-)Intellektuellen erst spät in Gang kam. Bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein dominiert in Deutschland eine Abwehrbewegung gegenüber der historisch erfolgreichen wie folgenreichen französischen Intellektuellenidee und -praxis. Ein maßgeblicher Grund liegt nach Habermas darin, dass »nicht die Intellektuellenrolle, sondern allein das negativ besetzte Rollenstereotyp der Gegner rezipiert worden« ist.15 Im Ergebnis »ist 13 Die gesellschaftliche Rolle und ihre strukturellen Voraussetzungen sind ein wesentliches Indiz dafür, dass Intellektueller-sein weit mehr bedeutet, als eine moralische Einstellung zu haben bzw. zu entäußern oder eine (kritiksensible)  berufliche Geistesarbeit auszuüben. Siehe zur entsprechenden Diskussion: Schumpeter, S. 236 f. 14 Die anti-intellektuellen Stimmen, wie sie in den 1950er bis 1970er Jahren in Deutschland beispielsweise prominent von Gehlen und Schelsky vertreten werden, bleiben damit außen vor. Siehe Arnold Gehlen, Was wird aus den Intellektuellen? (1958), in: ders., Einblicke. Gesamtausgabe, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1978, S. 239–252; ders., Das Engagement der Intellektuellen gegenüber dem Staat (1964), ebd., S. 253–266; ders., Über die Macht der Schriftsteller (1974), ebd., S. 286–295. Helmut Schelsky, Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 1975. Zum Reibungspunkt und zur Kampfsemantik entwickelt sich (auf Intellektuellen- wie Gegenintellektuellenseite!) das Dual von Geist und Macht. Siehe dazu Lepsius, S. 78 ff. und Jürgen Habermas, Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland, in: ders., Eine Art Schadensabwicklung. Kleine politische Schriften VI, Frankfurt a. M. 1987, S. 27–54. Zu den spannungsreichen geistigen Signaturen der Intellektuellen und der Feuilletons in Deutschland während der 1950er und 1960er Jahre siehe einschlägig auch: Marcus M. Payk, Der Geist der Demokratie. Intellektuelle Orientierungsversuche im Feuilleton der frühen Bundesrepublik: Karl Korn und Peter de Mendelssohn, München 2008. 15 Habermas, Heinrich Heine, S. 31. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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in Deutschland eine Intellektuellenkritik ohne Intellektuelle entstanden«16 und damit eine Tradition der Selbstverleugnung. Die Intellektuellen, das sind (diskreditierend und despektierlich) immer nur die Anderen. Erst mit und nach der Gründung der Bundesrepublik »hat sich eine Intellektuellenschicht gebildet, die sich selbst als solche akzeptiert.«17 Eindrücklich abzulesen ist dies der »Gruppe 47« und den zahlreichen Aufsätzen und Auseinandersetzungen in den massenmedialen Plattformen der jungen Bundesrepublik, allen voran in den Zeitschriften »Merkur«, »Frankfurter Hefte« und »Monat«; aber auch das Radio bietet sich an, man denke an zahlreiche Sendereihen etwa des NWDR, Hessischen Rundfunks, Südwestfunks oder Radio Bern, in denen beispielsweise Adorno, Horkheimer, Habermas, Gehlen und Muschg sprechen und debattieren. Reflektierte Deutungs- und Ausdrucksarbeit, gesellschaftspolitische Aufklärung und öffentliche moralische Kritik18, ohne dass die herrschende oder arbeitende Klasse darum gebeten hätte, seien die originären Aufgaben des Intellektuellen – so der gemeinsame affirmative Tenor der französischen, deutschen und amerikanischen Diskurse. Er ist seit seiner Geburtsstunde aus dem juridischen Geist der wortgewaltige Ankläger, der »die Fähigkeit besitzt, weltgeschichtliche Verläufe wie auch geschichtliche Krisensituationen adäquat zu diagnostizieren und kritisch zu bewerten«.19 Er will Minoritäten oder der Masse dienen, indem er ihre Bedürfnisse versteht und ihre widersprüchlichen, entfremdenden Abhängigkeiten aufdeckt. Er hat im Idealfall mit den Benachteiligten und Unterdrückten gesprochen, um für sie zu sprechen. Er ist das personifizierte schlechte Gewissen einer säkularisierten, systemrationalen und polykontexturalen Gesellschaftsordnung. Er ist der chronisch Unzufriedene, der von Hegels unglücklichem Bewusstsein gepeinigte Einsame20 und an der Spannung zwischen Sein und Sollen, zwischen Denken und Praxis ewig Leidende. Sein Ziel ist eine »Politik der Reinheit«21, »die Entschleierung der fundamentalen gesellschaft­lichen Widersprüche« und politischen Ideologien22 sowie die Leistung, »immer aufs 16 Ebd., S. 32. 17 Ebd., S. 46. 18 »Kritik als Beruf« lautet die Leitformel bei Lepsius, S. 82. Gerade die legitime Kritik – »die sich auf Werte bezieht, über deren Gültigkeit als Leitbilder sozialen Verhaltens Konsensus besteht« (Lepsius, S. 87) – ist insofern eine prekäre Angelegenheit, als in den öffentlichen Auseinandersetzungen um Deutungshoheit und Zuständigkeitskompetenz den Intellektuellen abgestritten wird, in ihrer inkompetenten Kritik legitimiert zu sein, und Verrat an feldspezifischen Werten wie auch gesellschaftlichen Errungenschaften nachgesagt wird. Allemal aber folgt der Intellektuelle humanistischen Universalwerten ebenso wie gesellschaftlichen (Mittel-)Werten und nie einer privaten Ideologie. 19 Jung / Müller-Doohm, S. 15. 20 Vgl. Jean-Paul Sartre, Plädoyer für die Intellektuellen, in: ders.: Mai ’68 und die Folgen. Reden, Interviews, Aufsätze. Band 2, Reinbek 1975, S. 9–64, hier S. 44 ff. 21 Bourdieu, Intellektuellen und die Macht, S. 45. 22 Sartre, Plädoyer, S. 25. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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neue einen materiellen Konsensus in der Gesellschaft über die Gerechtigkeit bestimmter Wertstandards herbeizuführen und die Deutungsmöglichkeiten offenzuhalten«.23 Der Intellektuelle ist damit ein Repräsentant der Moderne, ihres Wandels und ihrer dauerhaften Dynamik, der dem Prinzip folgt: vom Verlieren, Suchen und Finden der Werte; also »grundlegende kulturelle Werte der Vergangenheit zu bewahren, neue für die Gegenwart zu schaffen und beides der Zukunft weiterzugeben«.24 Die Figur des »allgemeinen Intellektuellen« wurde zum Modell (wie auch zur Angriffsfläche). Es war Sartre, der diesen interventionistischen Intellektuellenbegriff präzisierte; und Bourdieu (obgleich alles andere als ein Anhänger ­Sartres) ist ihm darin gefolgt – mit der besonderen Betonung der Transgression des eigenen Berufsfeldes und der politischen (Interventions-)Absicht. »Der Intellektuelle ist ein bi-dimensionales Wesen. Um den Namen Intellektueller zu verdienen, muß ein Kulturproduzent zwei Voraussetzungen erfüllen: zum einen muß er einer intellektuell autonomen, d. h. von religiösen, politischen, ökonomischen usf. Mächten unabhängigen Welt (einem Feld) angehören und deren besondere Gesetze respektieren; zum anderen muß er in eine politische Aktion, die in jedem Fall außerhalb des intellektuellen Feldes im engeren Sinn stattfindet, seine spezifische Kompetenz und Autorität einbringen, die er innerhalb des intellektuellen Feldes er­worben hat.«25

Damit intellektueller Appell möglich ist und der Intellektuelle seine gesellschaftliche (Reflexions-)Rolle ausspielen kann, sind eine Reihe von Voraussetzungen notwendig. Als persönliche Voraussetzung notwendig sind: einerseits die Berufung zur Wahrheit und zur Kritik, andererseits die Gabe des Wortes, der Rhetorik und der Schrift. Aus diesen Gründen ist für viele der Schrift­steller der paradigmatische Typus des Intellektuellen. Der »engagierte« Schriftsteller weiß, so Sartre, »daß Sprechen Handeln ist: er weiß, daß Enthüllen Verändern ist und daß man nur enthüllen kann, wenn man verändern will. […] Ebenso ist es die Funktion des Schriftstellers, dafür zu sorgen, daß niemand über die Welt in Unkenntnis bleibt und daß niemand sich für unschuldig an ihn [sic!] erklären kann.«26

Die Personalunion des Schriftsteller-Intellektuellen kann besser als andere Forderungen und Appelle in Sprache formen und das allgemeine Interesse durch Sprache zu Bewusstsein bringen. Nicht zufällig behauptet Sartre für sich selbst: »Da meine Fähigkeiten intellektueller Natur sind, kann ich diese meine Pflicht 23 Lepsius, S. 90. 24 Harriet Hoffmann, Der Intellektuelle in der industriellen Gesellschaft, in: Wirtschaftspolitische Chronik 7 (1958), S. 57–68, hier S. 62. 25 Bourdieu, Intellektuellen und die Macht, S. 42. 26 Jean-Paul Sartre, Was ist Literatur?, Reinbek 1981, S. 26 f. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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nur schreibend erfüllen.«27 Und weiter: »Darum meine ich, ich sollte mich auch als Schriftsteller mit dem beschäftigen, wofür ich am besten geeignet bin  – mit dem, was andere nicht besser sagen können als ich.«28 Sartres Theorie des Schriftstellers ist zugleich eine Theorie des Intellektuellen – und umgekehrt.29 Unübertroffen deutlich bestimmt er den Schriftsteller als Intellektuellen seinem Wesen nach, während die anderen Intellektuellen es aus Zufall sind.30 Die Autonomie der modernen literarischen Kunst verschränkt sich, so der Kernpunkt der Argumentation, mit der Möglichkeit wie Verpflichtung zum autonomen öffentlichen Engagement des Intellektuellen. Wenn man Sartre so liest, zeigt sich eine geradezu systematische Verbindung einer Theorie des Ästhetischen mit einer des Intellektuellen, d. h. allgemein mit einer Theorie des Politischen.31 Eines aber ist wesentlich zu berücksichtigen: Jeder Schriftsteller ist der Gefahr ausgesetzt, missverstanden zu werden. Seinem Werk und An­sehen muss dies keinen Abbruch tun. Der Intellektuelle jedoch muss sich dagegen wappnen. Denn die Gefahr des Missverständnisses birgt die Gefahr falscher Umsetzungen. Als medientechnologische Voraussetzung intellektueller Praxis bedarf es geeigneter Verbreitungsmedien, welche die Kritik tragen und zu kollektivem Gegenhandeln, mindestens aber zu kollektiv geäußertem Protest motivieren. Die paradigmatischen Medien- und Kommunikationsgattungen, die auf dem Intellektuellengeschenk der Druckerpresse32 aufruhen, sind die in der Tagespresse veröffentlichten Manifeste und Petitionen, Kommentare und Essays.33 Gegenüber den neuen elektronischen Massenmedien verhalten sich die euro­päischen Intellektuellen längere Zeit skeptisch und nutzen nur zögerlich und in Ausnahmen Radio, Film und Fernsehen.34 Es ist wiederum Sartre, der avantgardistisch 27 Ders., Playboy-Interview (1965). »Wir müssen unsere eigenen Werte schaffen«, in: ders.: Gesammelte Werke. Autobiographische Schriften, Briefe, Tagebücher. Band 2, Reinbek 1988, S. 146–162, hier S. 154. 28 Ebd., S. 159. 29 Vgl. Sartre, Plädoyer, S. 48 ff. 30 Vgl. ebd., S. 64. 31 Vgl. Hauke Brunkhorst, Der entzauberte Intellektuelle. Über die neue Beliebigkeit des Denkens, Hamburg 1990, S. 111 ff. 32 Vgl. Schumpeter, S. 238. 33 Vor allem die französische Intellektuellengeschichte hat hier eine eigene Tradition aufgebaut: angefangen vom »Lettre au président de la République« (1898 in der Zeitung L’Aurore), über das »Manifeste aux Travailleurs« (1934) und das »Manifest der 121« (von Sartre während des Algerienkriegs lanciert), hin etwa zur »Petition der 59« (in der 1997 in »Le Monde« 59 Filmregisseure die Menschenrechte der in Frankreich lebenden Ausländer anmahnen und zum zivilen Ungehorsam gegen das neue Ausländergesetz und den Staat aufrufen). Siehe dazu Joseph Jurt, »Les intellectuels«: ein französisches Modell, in: Sven Hanuschek et al. (Hg.), Schriftsteller als Intellektuelle. Politik und Literatur im Kalten Krieg, Tübingen 2000, S. 103–133. 34 Zum (seltenen bis boykottierenden) Umgang der Intellektuellen in Frankreich mit Radio und Fernsehen während der 1960er Jahre: Suntrup, S. 226 ff. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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einen Medienmix betreibt und für das intellektuelle Engagement positiv bewertet. Ab Herbst 1947 tritt er regelmäßig in der Rundfunksendereihe »La Tribune des Temps Modernes« auf, um nicht zuletzt einem »sozialistischen Europa« das Wort zu reden und mit seinen Kollegen und Gästen über Kommunismus, Gaullismus, Gewerkschaftsbewegungen u. a. m. zu debattieren.35 Die Programmatik der »freien Tribüne«36  – mit offenem Meinungsaustausch, unzensierter Rede, rhetorischen Exzessen – war neuartig und verstieß gegen alle Erwartungen des politisch gewünschten Stils. Entsprechend hoch war die Einschaltquote  – bis nach einem skandalhaften Vergleich (der Propaganda­plakate)  de Gaulles mit Hitler aus dem Munde Sartres die Sendung im Dezember 1947 von der neuen Schuman-Regierung abgesetzt wurde. Geblieben ist aus der Nachkriegszeit das deutliche Plädoyer, dass die engagierten Schriftsteller parallel schreiben und sich alternativer Medienformen des Theaters, Rundfunks und Films zu bedienen hätten. An anderer Stelle, 1947 in »Qu’est-ce que la littérature«, votiert Sartre hellsichtig für den entschiedenen Zugriff auf alle mass media als Hilfsmittel, um das (kritisch-interessierte) Publikum zu erreichen und sich selbst in seiner Disparatheit (der Bedürfnisse, Ziele und Lebensformen) vertraut zu machen. In normativem Duktus schreibt Sartre: »man muß lernen, in Bildern zu sprechen, die Ideen unserer Bilder in diese neuen Sprachen umzusetzen […]: man muß direkt für den Film, für den Funk schreiben.«37 Als gesellschaftsstrukturelle Voraussetzung des Intellektualismus sind notwendig: erstens die Trennung der Sphären und Wertbindungen von Ökonomie, Politik, Wissenschaft und Kunst; zweitens die Professionalisierung der Kritik und moralischen Beobachtung, originär gelernt und ausgeübt im Rahmen der »geistigen« Berufssphäre; drittens eine demokratisch strukturierte Sphäre der Öffentlichkeit, in der ein Sensus für humanistische Appelle und politische Veränderung vorherrscht und die (bürgerlichen) Adressen entsprechend resonanzfähig für die kollektive Unterstützung und Umsetzung intellektueller Propaganda sind. Intellektuelle (und ihre Diskurse) hängen aber nicht nur von diesen Voraussetzungen ab, sondern bilden mit ihrem Engagement selbst wiederum eine Einflussgröße künftiger gesellschaftsstruktureller Änderungen. Der Intellektuelle ist also gleichermaßen Resultat wie Auslöser soziokultureller Evolution, nachgerade von Ideenevolution.38 Er ist aber als Produzent von Variation nicht auch automatisch mit besserer Überzeugungskraft oder privilegiertem Wahrheitszugang ausgestattet – obgleich die Intellektuellendiskurse dies selbst oft behaupten (müssen). 35 Vgl. dazu Annie Cohen-Solal, Sartre. 1905–1980, Reinbek 1988, S. 456 ff. 36 Ebd., S. 463. 37 Sartre, WiL, S.  205. Ein Aspekt, der bei Alexander Kluge wiederkehren und geradezu vielfältig eingelöst wird; ich werde darauf weiter unten zu sprechen kommen. 38 Vgl. Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1980, S. 60. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Dieser Aspekt führt (in Kombination mit der persönlichen Voraussetzung) zur vierten notwendigen Bedingung intellektueller Tätigkeit: utopisches Bewusstsein und Eigensinn. Als Initiator von Ideenevolution und Strukturveränderung benötigt der Intellektuelle einen Sensus und ein Potenzial, anderes, bisweilen das ganz Andere, denken und vermitteln zu können. Nicht von ungefähr korreliert dieses Moment mit der Profession von Schriftstellern und Künstlern und ihrer Aufgabe, innerhalb der aktuellen Welt andere Welten zu produzieren. Grundlegend hat Rüsen zum utopischen Bewusstsein ausgeführt: Es »basiert auf einem Überschuß von Bedürfnissen über die jeweils gegebenen Mittel zu ihrer Befriedigung. Es hat die lebensweltliche Funktion, menschliches Dasein an Vorstellungen seiner selbst und seiner Welt zu orientieren, die grundsätzlich über das hinaus sind, was mit ihm selbst und seiner Welt empirisch der Fall ist«.39

In Verbindung mit der Standortbestimmung und den Aufgaben des Intellektuellen in der deutschen Nachkriegszeit hat exemplarisch Walter Dirks 1946 im ersten der »Frankfurter Hefte« propagiert: »Wir brauchen die produktive Utopie«.40 Mit nicht geringem humanistischem Pathos schreibt Alexander Kluge den Menschen (jenseits prekären und fragilen Eigentums an Materiellem und Ökonomischem) zweierlei Eigentumsansprüche zu: auf ihre Lebenszeit und ihren Eigensinn.41 Zu bedenken bleibt allerdings, dass nicht alle gleichermaßen intensiv, authentisch und kritisch mit Lebenszeit und Eigensinn umgehen respektive sie autonom (aus-)gestalten. Deshalb wird der kritische Intellektuelle als Statthalter eines autonomen, besseren oder zumindest anderen Lebens eingesetzt. Er analysiert Bestehendes, fokussiert auf Überraschendes und Ungewissheiten und agiert dann letztlich als »verdeckter Ermittler«42 mit enormer Fähigkeit der Unterscheidung(sproduktion)  – und ineins damit auch für utopische 39 Jörn Rüsen, Utopie und Geschichte, in: Wilhelm Voßkamp (Hg.), Utopieforschung. Inter­disziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd. 1, Stuttgart 1982, S. 356–374, hier S. 358. 40 Zit. nach Bering, S. 307. Auch noch 1965 bleibt Rudolf Augstein – als Reaktion auf Gehlens 1964er Intellektuellenkritik – in seiner Rede zur 600 Jahrfeier der Universität Wien vorerst bei der Intellektuellenbestimmung, dass dieser »sich der Wirklichkeit nach einem vorentworfenen Bilde nähert, einem idealen Bilde, einer, sagen wir es ruhig, Utopie.« (Ebd., S. 374) Im Anschluss allerdings konstatiert Augstein, dass der egalitäre Fortschritt vollkommen sei, die Utopie entsprechend erreicht und zum Stillstand gebracht. Folglich wisse der Intellektuelle nicht mehr, welche alternativen Gesellschaftsmodelle er ausarbeiten könnte; es »fehlt der archimedische Punkt« (ebd., S. 376). Einschlägig zur Utopiefrage der Intellektuellen noch 1977 das Salzburger Symposium »Abschied von Utopia? Anspruch und Auftrag der Intellektuellen«. 41 Vgl. Alexander Kluge, Chronik der Gefühle. 2 Bde., Frankfurt a. M. 2000; Negt / Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 369, 765 ff. 42 Vgl. Alexander Kluge, Verdeckte Ermittlung. Ein Gespräch mit Christian Schulte und Rainer Stollmann. Berlin 2001. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Szenarien. Medial kann dieses Unterscheidungsvermögen in verschiedenen Formaten und Technologien realisiert und zur Anschauung gebracht werden; immer zielt es aber auf eine moralische Position (und entsprechende Selbst­ positionierung des Rezipienten) und auf eine massenhafte Verbreitung und Öffentlichkeitswirkung ab. In zwei markanten Äußerungen hat Kluge dazu festgehalten: »Ein Text ist dann moralisch, wenn er Unterscheidungsvermögen herstellt.«43 Und: »Massenproduktion solchen Unterscheidungsvermögens, das ist ein ganz ernsthafter Grund für Literatur«44 – wie auch für andere Mediengattungen und -formen, wird man zu ergänzen haben. Neben diesen vier Voraussetzungen sind drei spezifische Konsequenzen oder auch Begrenzungen zu nennen, welche die intellektuelle Praxis begleiten. In der Sozialdimension ist zu konstatieren, dass die soziale Position innerhalb des eigenen originären Professionsfeldes dominiert, die intellektuelle Rolle also eine sekundäre ist, zu deren Durchsetzung man das Reputationskapital der beruf­ lichen Anerkennung (in Forschung, Lehre oder Kunst) nutzt. Der Intellektuelle kümmert sich, um mit Habermas zu sprechen, »nur nebenberuflich um die öffentlichen Dinge«.45 Für die Zeitdimension bedeutet dies, man kann Intellektueller nicht permanent oder berufsmäßig sein. Man räsoniert, kritisiert und appelliert vielmehr nur situativ von Zeit zu Zeit – bei Anlass gravierender Gefahren und Wertverstöße. Entsprechend zeigt auch die Sachdimension eine Begrenzung der Themen auf gesellschaftliche Krisen und Wunschvorstellungen politischer Lebensformen respektive auf die »normative Infrastruktur des Gemeinwesens«.46

Der (Autoren-)Film als kollektiver Intellektueller – oder: über Ansichten Alexander Kluges Wieder einmal steht am Beginn einer neuen intellektuellen Ära und am Beginn der Transformation intellektueller Medienpraxis ein Manifest: aufgesetzt und unterschrieben am 28. Februar 1962 in Oberhausen. Festgelegt wird die Emanzipation vom traditionellen, konventionellen deutschen Film(werk), ausgerufen die dreifache Freiheit »von den brancheüblichen Konventionen«, »von der Beeinflussung durch kommerzielle Partner«, »von der Bevormundung durch In-

43 Ebd., S. 49. 44 Ebd., S. 48. 45 Jürgen Habermas, Ein avantgardistischer Spürsinn für Relevanzen. Was den Intellektuellen auszeichnet. Dankesrede bei der Entgegennahme des Bruno-Kreisky-Preises, 2006 (www.renner.institut.at/download/texte/habermas2006–03–09.pdf; aufgerufen am 25.10.2010), S. 5; vgl. auch ders., Heinrich Heine, S. 42. 46 Ders., Spürsinn für Relevanzen, S. 5. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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teressengruppen«; schließlich wird der unbedingte, wenn auch riskante Eigenglaube an den Neuen Deutschen Film beschworen. Als Idee wie auch Praxis von Intellektuellen ist dieses Gründungsdokument deswegen auszulegen, weil es für die damaligen bundesrepublikanischen Verhältnisse erstens Strukturen einer neuen lebendigen Öffentlichkeit fordert und initiiert:47 die Revitalisierung klassischen (synästhetischen) Geschichten­ erzählens, die Aufhebung der starren Blöcke von Privatheit / Öffentlichkeit, die Emanzipation des außengeleiteten Massenmedienrezipienten von (»versklavter«) passiver Konsumtion (der Produkte der Bewusstseins-Massenindustrie), seine Aktivierung zum innengeleiteten Mitproduzenten des (Autoren-)Films und zum (authentischen) Organ geschichtlich-gesellschaftlicher Erfahrung48, die legitime und demokratisch notwendige Polyphonie von Stimmen und Positionen. Zweitens wird eine Ästhetik des Anti-Realismus49 begründet, welche der etablierten und kulturell legitimierten Spaltung von Individuum versus Dingwelt entgegenwirkt, um Verblendungs- und Abhängigkeitsverhältnisse bloßzustellen, und an Gegenformen gesellschaftlicher Sinnlichkeit arbeitet. Einerseits kann die ästhetische Produktion von Traum, Phantasie, Utopie oder Negation (in verschiedenen Medien) dem Druck der Realität entgegenwirken, andererseits dienen (filmische) Erinnerung und Assoziation der Sichtbarmachung von Vor- und Nachgeschichten, die einer jeden Situation immanent sind. Drittens zeigt sich eine intellektuell produktive Integration differenter Medienformen und -technologien: von Buchdruck, Zeitungsartikel, Film und Fernsehen50, der Verbindung von Wort und Bild im Film51 sowie der Montage von dokumenta47 Die philosophische Studie, die das programmatisch ausformuliert und legitimiert, legen Negt und Kluge 1972 mit »Öffentlichkeit und Erfahrung« vor. Später folgt die Ausarbeitung der so genannten »Produktionsöffentlichkeit«, kategorial angesiedelt zwischen bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit und vom Phänomenbereich her auf Massenmedien bzw. Medienkonzerne bezogen. Vgl. Oskar Negt / Alexander Kluge, Geschichte und Eigensinn. 3 Teilbde., Frankfurt a. M. 1993, insbesondere Teilbd. 2. 48 Zur entsprechenden Rezeptionsästhetik und zum filmischen Produktionsbegriff, der Herstellung, Vorführung und Aneignung verschaltet, siehe u. a.: Alexander Kluge / Edgar Reitz / Wilfried Reinke, Wort und Film (1965), in: Alexander Kluge, In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik, Berlin 1999, S. 21– 40; Alexander Kluge, Die Medien stehen auf dem Kopf (1979), in: ebd., S. 139; Michael Dost / Florian Hopf / Alexander Kluge, Filmwirtschaft in der BRD und in Europa. Götterdämmerung in Raten, München 1973. Siehe ergänzend zur Debatte des Authentischen und zu seinen ästhetischen Erscheinungsformen in den 1960er und 1970er Jahren: Christoph Zeller, Ästhetik des Authentischen. Literatur und Kunst um 1970, Berlin 2010. 49 Alexander Kluge, Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frankfurt a. M. 1975, S. 215 ff. 50 Pointiert hören wir in Kluges 1968er Film (!) »Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos«: »Irgendwann einmal wächst dies zusammen: Die Liebe zur Sache, die Romane und die Fernsehtechnik.« 51 Vgl. Kluge / Reitz / Reinke, S. 31 ff. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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rischen und fiktionalen Produktionstechniken, Ästhetiken und Darstellungsformen. Zur programmatischen Einheit gebracht werden im Neuen Deutschen Film generell und bei Kluge im Speziellen die Erfahrungen von Filmemachern und Zuschauern einerseits und das Kino, der Autorenfilm und der politische Film andererseits. Man kann dies zusammenführen in der Bezeichnung »Intellektuellenfilm« oder besser noch ausweisen als: Transformation zum »Film als kollektiver Intellektueller«. Exemplarisch will ich dies im Folgenden anhand zweier ausgewählter Filme Kluges verdeutlichen. Zuvor gehe ich noch kurz auf Kluges eigenen Status als (Medien-)Intellektueller ein.52 Entgegen dem unerschütterlichen Glauben an die Macht und Praxis des geschriebenen Wortes, vor allem von Seiten des »engagierten« Schriftstellers, misstraut Kluge der exklusiven Macht des Wortes. Die menschliche Sprache schematisiere und harmonisiere, statt das Denken, die Anschauung und die Perspektiven herauszufordern. Genau dies aber vermag der Film, er »läßt eine radikale Erweiterung der literarischen Mittel zu«:53 »Sein großer Spielraum bezieht sich aber nicht nur auf die Grundeinheiten des Ausdrucks; der Film hat für die Organisation großer Stoffzusammenhänge der Polyphonie ähnliche Mittel. Er kann Sprachbewegungen und Bildbewegungen nicht nur gegeneinander setzen, sondern auch aus den Spannungsfeldern zwischen den filmischen Bewegungen eine weitere (im Film selbst gar nicht materialisierte) Bewegung im Hirn des Zuschauers erzeugen, die wiederum mit den Bewegungen des Films in Kontrast stehen kann usw.«54

Angespielt wird hier nicht zuletzt auf Kluges Idee, einen je individuellen KopfFilm des Zuschauers zu stimulieren. Die Erneuerung des Films hat unter der Regie des Dokumentarfilms zu erfolgen;55 dadurch kommt es zur pro­duktiven Integration von Fiktionalem und Nicht-Fiktionalem  – eine künstliche Unterscheidung, die die Zuschauer nach Kluge selbst gar nicht als gegensätzliches Bedürfnis kennen  – sowie zur Erneuerung einer allgemeinen Öffentlichkeit, die im Anschluss an die jeweiligen Wahrnehmungsweisen und Sinnerfahrungen einer Filmvorführung noch im Kino selbst Diskussion und Räsonnement unter Anwesenden betreibt, selbstredend aber auch jenseits des kinematogafischen Universums agiert. Das ist ein intellektuelles Engagement, das sich der Umgestaltung der Öffentlichkeit im Allgemeinen und einer regressiven Fern52 Aus Gründen der zeitlich dominanten Fokussierung des vorliegenden Sammelbandes auf die 1960er und 1970er (Intellektuellen-)Jahre klammere ich Kluges spätere Fernsehpraxis gezielt aus. 53 Alexander Kluge, Die Utopie Film (1964), in: ders., In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik, Berlin 1999, S. 42–56, hier S. 54. 54 Ebd. 55 Vgl. Alexander Kluge, Thesen 1–4 (1983), in: ders., In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik, Berlin 1999, S. 155–163, hier S. 157 f. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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sehöffentlichkeit im Besonderen verschreibt. Letztlich kann man dann Kluge in zweifacher Hinsicht als Medienintellektuellen apostrophieren: als einen, der Medien strategisch zur Kritik und Utopieverbreitung einsetzt, und als einen, der den Einfluss, die Produktivkraft und die Angebote der Massenmedien kritisiert. Im ersten Sinne ist Kluge Medienintellektueller der Form nach, im zweiten dem Inhalt nach. Bezogen auf die filmische Intellektualität(spraxis) Kluges zeigt sich vorderhand, dass Kluge nur ein Name inmitten zahlreicher Kollektivproduktionen ist, denen u. a. auch Schlöndorff, Aust und Fassbinder angehören. Analytisch deckt sich das mit der anfänglichen Ausweisung des Intellektuellen als Gruppenfigur und Kollektivphänomen. Man nehme beispielsweise »Deutschland im Herbst« aus dem Jahre 1977 / 78; ein Film, der die Ideologie der RAF und die Konsequenzen des Linksterrorismus thematisiert, die Felder der Wirtschaft und Politik mit denen studentischer Protestbewegungen und RAF-Sympathisanten kontrastiert, die politischen und rechtsstaatlichen Strukturen der jungen BRD ebenso reflektiert wie ihre Nachkriegsmentalität; der schließlich die Menschenwürde56 des entführten und ermordeten Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer ins Spannungsverhältnis setzt zu jener der Stammheiminhaftierten Raspe, Baader und vor allem Gudrun Ensslin, bis zu den öffentlichen Begräbnisrituale auf beiden Seiten, die er dokumentiert (und historisch kontextualisiert). Die filmische Wertbindung, der Sensus fürs politisch Richtige und für gesellschaftlich gewünschte wie unerwünschte Veränderung, aber auch die filmimmanent gezeigte machtpolitische und gegenpolitische Adressierung sind Insignien der Intellektualität und bilden damit eine ganz andere Kommunikations- und Medienform als etwa Spiel- oder Dokumentationsfilm für sich. Der Wechsel der Perspektive auf den politisch engagierten Autorenfilm und auf die Transformation intellektueller Praxis vom Sprechen zum Zeigen bedeutet einerseits eine Ausweitung intellektueller Möglichkeiten, zeigt andererseits aber auch eine erstaunliche, geradezu konservative Fortführung und Stabilität etablierter Maximen, Kompetenzen und Tugenden des universalen Intellek­ tuellen. Wer die prägnante Kanonisierung von Habermas aufgreift, kann dies bestens als Kommentar auf Kluge beziehen – beispielsweise auf das zweite Film56 In dem unbedingten Glauben an die Menschenrechte und der Anwaltschaft für die Menschenwürde sieht Bering das »unsterbliche«, die verschiedenen Positionen des Intellektuellen übergreifende Zentralmerkmal: »Mit der Kategorie Menschenwürde folgt der Intellektuelle einer vielleicht nie einzulösenden Minimalutopie. […] Sie wurzelt im hic et nunc alltäglicher Praxis. […] Es ist die unbeweisbare Unterstellung, dass der Mensch noch etwas anderes ist als bloße Biomasse.« (Bering, S. 573) Einzig auf der Glaubensbasis und dem Glaubenssprung, dass die Menschenwürde einen absoluten Wert besitzt – so Bering weiter –, lassen sich andere Wissenssysteme vergleichend respektieren, kritisches Engagement ableiten und Mut zur sprachlichen Intervention wie auch faktischen Handlungsänderung begreifen. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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beispiel »Krieg und Frieden« (1982). Habermas führt an intellektuellen Fähigkeiten und Erwartungen expressis verbis an: »eine argwöhnische Sensibilität für Versehrungen der normativen Infrastruktur des Gemeinwesens, die ängstliche Antizipation von Gefahren, die der mentalen Ausstattung der gemeinsamen politischen Lebensform drohen, der Sinn für das, was fehlt und ›anders sein könnte‹, ein bisschen Phantasie für den Entwurf von Alternativen, und ein wenig Mut zur Polarisierung, zur anstößigen Äußerung, zum Pamphlet.«57

Und Kluge selbst hat als Motivation zu »Krieg und Frieden« angegeben, dass die Aufrüstungsprozesse zu Beginn der 1980er Jahre, die Raketenkrise bis 1984 physische Angst in ihm ausgelöst haben, dass sich sein Gewissen gezwungen sah, mögliche Auslöschungsszenarien zur bildlichen Darstellung zu bringen, und dass er mit Schlöndorff, Böll und Aust einen »politischen Film« verwirk­ lichen wollte, obwohl keine seiner Vertrauenspersonen und keiner der ihn beeinflussenden Autoren ihn dazu beauftragt hatten.58 Kurz: eine Selbstreflexion, welche die idealtypischen intellektuellen Bindungen von Gewissen, Kritik, illegitimer Selbstbeauftragung und politischer Intervention erneuert. Kluge setzt in »Krieg und Frieden« kontinuierlich auf das filmische Prinzip des Gegenschusses von Gegenwart / Vergangenheit und jenes der »Gegenproduktion«: die Verunsicherung der Öffentlichkeit durch alternative Filmund Fernsehformate; auf die Kategorie des Eigensinns, der sich aus Lücken und Fragmenten ergibt; auf eine anti-realistische Parteinahme, die den alltagswelt­ lichen Gewohnheiten und Gewissheiten widerspricht; und auch auf eine entpersonalisierte Form intellektueller Kritik. In besonderer Weise integriert Kluge den Auftritt Bölls im Rahmen der legendären Bonner Friedensdemonstration so in seinen Film, dass hier einerseits ein klassischer Intellektueller im (Intellektuellen-)Film spricht, andererseits aber nicht Böll frontal gezeigt, sondern vielmehr aus seiner Rednerperspektive das Publikum gefilmt wird. Das ergibt eine Reflexionseinstellung für die Zuschauer (als ehemalige An- oder Abwesende im Bonner Schlossgarten und als konkrete politische Adresse), und es zeigt, wie der Film sich selbst als intellektueller Sprecher produziert. Insgesamt gilt es jegliche kognitive und kritisch-intellektuelle Wirkung weniger der Person Alexander Kluge zuzuschreiben als vielmehr dem Film als Kollektivproduktion. Und weitergedacht heißt das auch: Die Kritik und Aufklärung vollzieht sich nicht mehr klassisch vom Intellektuellen über ein Massenmedium an die Adresse der Öffentlichkeit, sondern liegt im Filmmedium selbst.59 57 Habermas, Spürsinn für Relevanzen, S. 5. 58 Alexander Kluge, Neonröhren des Himmels. Filmalbum, Frankfurt a. M. 2007, S. 58 f. 59 Vgl. dazu auch Carlos Becker u. a., Antirealistische Parteinahme: Möglichkeiten des Subjektiven im Werk Alexander Kluges, in: Thomas Jung / Stefan Müller-Doohm (Hg.), Fliegende Fische. Eine Soziologie des Intellektuellen in 20 Porträts, Frankfurt a. M. 2008, S. 387–407, hier S. 404, 406. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Rückblickend ist der Prototyp des Intellektuellen gleichermaßen an die Medientechnik des Buchdrucks und der Rotationspresse wie auch an die Kulturtechnik des kritischen Schreibens verwiesen. Ihm folgt mit Sartre dann jener Typus des Schriftstellerintellektuellen, der Philosophie, Politik und Literatur verbindet und seine Interventionen vielfältig auf dem Buch- und Zeitschriftenmarkt, im Hörfunk, im Fernsehen und auf öffentlichen Demonstrationen ausbreitet. Bei dieser Ausweitung intellektuellen Engagements auf alle verfügbaren Massenmedien zeigt sich jedoch (noch) eine Priorisierung und Prämierung der Schreib- und Lesekultur. Erst ab den 1960er Jahren setzt sich dann langsam – mit Kluge und anderen Protagonisten des Autorenfilms – ein medienbedingter Wandel intellektueller Praxis wie auch Rezeption durch. Seitdem ist das Bewegtbild als eigenmächtiger Faktor von Gegenerfahrungen, Gegenpositionen und alternativen (politischen) Lebensformen installiert und legitimiert. Geschrieben wird natürlich immer noch. Aber gerade mit und für Kluge – und dies sei auch als programmatisches Resümee verstanden – lässt sich die Unverzichtbarkeit des kritischen (Film-)Intellektuellen dahingehend begründen, dass die Gesellschaftsverhältnisse umso einsichtiger, besser und friedlicher werden, je intensiver und variantenreicher in und mit verschiedenen Medien Utopien und anti-realistische Erfahrungen zur Anschauung und Geltung gebracht werden. Oder anders, in Abwandlung einer Sentenz von Kluge selbst: Die Utopie wird immer besser, wenn und während wir gemeinsam und vielfältig an ihr arbeiten. Und das heißt ganz medienpraktisch: sie zeigen und darüber reden.

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Kreise mit schwachen Meistern Die Frankfurter und die Münsteraner Schule bundesdeutscher Sozialphilosophie

Mit der Intellektuellenforschung gedeihen die Denkschulen. Eine ›Münsteraner Schule‹ ist beispielsweise erst seit kürzerer Zeit im Gespräch;1 man muss hinzufügen, dass es sich um den Kreis des Philosophen Joachim Ritter handelt. Eine andere westfälische Gruppierung, das Umfeld von Helmut Schelsky, würde sich vielleicht sogar besser für das zweite beliebte Thema eignen, das ich hier verhandeln will, die sogenannte (langwierige, mehrfache) intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Ein Hauptzug der ›Schule‹ war jedoch im Ritter-Kreis deut­ licher ausgeprägt: die Autorität des Lehrers oder Meisters. Im Folgenden frage ich vergleichend, wie ihre Problematik in der Münsteraner und in der Frankfurter Schule die bundesrepublikanische Selbstverständigung geprägt hat. Ich nutze dabei stärker als in der Forschung üblich sozialpsychologische Argumente. Das scheint mir eine Möglichkeit (unter vielen), in der Intellektuellengeschichte nicht allein Publikationen nachzuerzählen, sondern Entwicklungen zu erklären. Dieser Versuch hat natürlich eigene Probleme;2 das pragmatisch größte ist hier, dass ich aus Platzgründen die Publikationen weitgehend aussparen muss. Gleich zu Beginn ist auch festzuhalten, dass ich mich bei den ›Meistern‹ grammatisch und sachlich auf ein patriarchales Schema beschränke – weibliche Varianten werden wohl erst nach dem Untersuchungszeitraum bedeutsam. Die weiteren nötigen Einschränkungen können bereits das Muster erläutern, das ich im Blick habe. Nicht überall, wo ein Kern von Themen, Überzeu1 Noch nicht einmal die Bezeichnung steht fest; ich vermeide die sperrige »Schule von Münster« (Ulrich Raulff) und die inhaltliche Festlegung »Liberalkonservatismus« (Jens Hacke). 2 Sehr schematisch kann man sie den beteiligten Disziplinen zuordnen: historiografisch ist schwierig, dass man entweder nicht dabei war oder noch etwas verarbeiten muss; soziologisch, dass psychische Vorgänge als solche nicht kommuniziert werden; psychologisch im Gegenzug, dass allein ihre Wirkung interessiert. Als einzige entschieden sozialpsychologische (auf Verarbeitung von Erlebtem ausgerichtete) Arbeit im Untersuchungsfeld ist mir bekannt: Christian Schneider / Cordelia Stillke / Bernd Leineweber, Trauma und Kritik. Zur Generationengeschichte der Kritischen Theorie, Münster 2000. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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gungen und Arbeitsweisen eine Intellektuellengruppe verbindet, gibt es auch Nachwuchs. Doch die Kultivierung eines geistigen Kernbestands über eine Generation hinaus ist wichtig, um die Schule von anderen Denkkollektiven zu unterscheiden  – und über sie wacht typisch eine zumindest begrenzte Zahl von Meistern. Häufig ist es, wie Beispiele aus der Ära der Universitäten und der Sozialtheorie zeigen, sogar nur einer: So verschiedene Denker wie Durkheim, Parsons, Lukács, Althusser, Foucault, Bourdieu und Luhmann hatten jeweils Schüler, die in Kooperation mit ihnen und miteinander ihre Lehre gefestigt und verbreitet haben. Zu diesen Fällen berühmter Einzelner, deren Werke teils auch ohne Nahkontakt Wirkung entfalten und deren Schüler sich oft umfassend mit ihnen identifizieren, kommen Meister-Verbünde. Den Eigennamen stellt dann meist ein Ort: Man kennt den Freiburger Neoliberalismus, die ökonomische und die soziologische Chicago School, den (aus der Abendroth-Schule entstandenen) Marburger Marxismus, die Bielefelder Sozialgeschichte – und natürlich die Frankfurter Schule. Dieser Ortsbezug deutet an, dass persönliche Bindungen auch bei Meistergruppen eine wichtige Rolle spielen, allerdings, wie zu sehen sein wird, institutionell moderiert. In jedem Fall geht es um mehr als bloß Wissenschaft. Die genannten Schulen sind nicht allein durch enge Binnenbeziehungen gekennzeichnet, sondern haben auch öffentliche Wirkung gesucht und erreicht. Sie stehen im Kampf um Deutungsmacht, zuweilen direkt gegenein­ ander. Das macht die psycho-soziale Dynamik akademischer Intellektuellenschulbildung politisch relevant – und rechtfertigt vielleicht, nicht einfach höflich über sie hinwegzusehen. Ich will an den gut erschlossenen Schulfällen Frankfurt und Münster prüfen, was ein weniger diskreter Blick zeigen kann – im ersten Fall gestützt auf die üppig vorhandenen Forschungen und Dokumente,3 im zweiten orientiert an der (durch etwas weiteres Material ergänzten) Darstellung von Jens Hacke.4 Er hat auch die zeitgeschichtlich markante Formel der »intellektuellen Gründung«, die Schüler Friedrich Tenbrucks für Frankfurt geprägt hatten,5 auf Münster bezogen, leicht abgeändert zur »intellektuellen Begründung«. So oder so ist nicht schwer zu erkennen, dass die psychischen Prägungen der Gründerväter auch sachlich eine Rolle spielen werden. Man hat häufig den Begriff Trauma verwendet – und er führt tatsächlich unmittelbar ins Thema.

3 Namentlich: Dubiel, Wiggershaus, Demirović, Albrecht u. a.; weiterhin die Adorno-Biografien von Jäger, Claussen und Müller-Doohm sowie einige Briefwechsel. Genaue Belege folgen an Ort und Stelle. 4 Jens Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik. Göttingen 2006 5 Clemens Albrecht u. a., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a. M. 1999. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Der institutionelle Kontext: Gründungsdiskurse, Denkschulen und die Universität 1. Falls man Gemeinwesen geistig gründen oder begründen kann, wird das in Zeiten geschehen, in denen sie auch institutionell erschüttert sind, umgestürzt oder neu aufgebaut werden. Politische Theorien und Gründungsdebatten können dann das Neue rechtfertigen und den Bruch verarbeiten. Beides geschieht oft nachträglich, manchmal mit einigem Abstand. Beispiele wie die amerikanische Verfassung, bei der Gründung und Gründungsdebatte zusammenfallen, sind selten, und selbst dort lag der Einschnitt des Unabhängigkeitskriegs länger voraus. Wo es nicht nur um geschriebenes Recht, sondern um Lebensverhältnisse geht, kommt die Reflexion fast notwendig später. Durkheims Feldzug für die Institutionalisierung der Soziologie begann erst zwei Jahrzehnte nach den Anfängen der Dritten Republik, und seine Schule hat erst seit den Krisenjahren der Dreyfus-Affäre gezeigt, was sie kann.6 Eine radikalere Möglichkeit stellt die Weimarer Republik dar, in der die Gründungsdebatte sozusagen nie zum Abschluss kam – und die wohl auch deshalb so viel Sozialphilosophie hervorgebracht hat.7 Ich will hier keine Theorie entwerfen, die alle derartigen Situationen abdeckt, sondern nur die Prozesse erläutern, die sie klären müsste: einerseits die intellektuelle Verarbeitung von Brüchen und Zusammenbrüchen, andererseits die Legitimierung neuer Ordnungsformen und Machtverhältnisse. Die erstere muss Geschehenes erklären und deuten, die letztere, nicht selten mit Bezug darauf, verschiedene Interessen und Einstellungen hinter einem institutionellen Arrangement vereinigen. Da der Aspekt der Interessenvermittlung in Debatten um die deutsche Nachkriegszeit oft vernachlässigt wird und auch im Folgenden nicht im Mittelpunkt steht, will ich ihn zumindest abstrakt in Erinnerung rufen. Nachgegangen ist ihm etwa Antonio Gramsci, der ebenfalls bei einer Gründungssituation, dem italienischen Risorgimento, ansetzt. Für ihn vermittelt Politik im Marxschen Sinn ökonomisch bestimmte Interessen, benötigt dabei aber normative Orientierungen als Medium von Bündnissen und Kompromissen: Jede herrschende Klasse muss eine »geistige, moralische und politische Hegemonie« (egemonia 6 Vgl. für Durkheim selbst Hans-Peter Müller, Wertkrise und Gesellschaftsreform. Durkheims Schriften zur Politik, Stuttgart 1983, zur direkten politischen Nachfolge Christian Gülich, Die Durkheim-Schule und der französische Solidarismus, Wiesbaden 1991, für weitere Anschlüsse (Duguit und Hauriou) Jacques Donzelot, L’invention du social. Essay sur le déclin des passions politiques, Paris 1984, S. 100–156. 7 Den ›ontologischen Ausnahmezustand‹ in der Gesellschaftstheorie dieser Zeit stellt prägnant Michael Makropoulos dar: Modernität und Kontingenz, München 1997, S. 101–145. Zum historischen Kontext: Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt a. M. 1987. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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intellettuale, morale e politica), d. h. Führung oder Vorherrschaft aufbauen und erhalten.8 Die Arbeit daran leisten ihre ›organischen Intellektuellen‹, wobei die führende Klasse oder stabilisierte Ordnung auch zunächst anderen Gruppen verbundene Konsenstechniker absorbiert. Die bundesdeutschen Intellektuellen werden längere Zeit vorwiegend in dieser Weise absorbiert, weil nach dem Krieg die politisch-soziale Ordnung maßgeblich von den Siegermächten und ihrer Konfrontation bestimmt ist – wir werden die klassenpolitische Zurückhaltung der Frankfurter und Münsteraner noch streifen. Im Lauf der 1960er und 70er Jahre entwickeln sie sich dann zu Vertretern einer Gruppe, die marxistisch kaum vorgesehen ist: der Staatsfunktionäre und Akademiker im weiten Sinn, der Lehrer, Rechtsanwälte und Priester, der Künstler, Studierenden und Professoren. Die geistige Arbeit im Wohlfahrtsstaat bringt anders gesagt ihre eigenen Sprecher hervor, sozusagen Intellektuelle zweiter Ordnung. Doch dieser Prozess soll hier wie angekündigt nicht näher verfolgt werden.9 Den Aspekt, dem ich mich stattdessen zuwende, hat Gramsci nicht als theoretisches Thema, sondern nur als praktisches Problem behandelt, indem er die Niederlage seiner Partei gegen die Faschisten verarbeitet hat: den Umgang mit den Brüchen, die der Neuordnung vorausgehen. Wo sie Katastrophencharakter hatten  – als militärische Niederlage, Gewaltherrschaft oder Umsturz  – bildet sich hegemoniale Macht nicht allein im Streit der Interessen, Weltsichten und Lebenslehren heraus, sondern auch auf dem Boden der Trauma- oder Trauer­ arbeit, die Schuld und Verluste zurechnet oder abstreitet, durch Beschweigen, symbolische Vergeltung oder Erklärungen, weshalb es so kommen musste. Für Deutschland nach 1945 ist das Repertoire noch begrenzter, weil die Schuldfrage recht deutlich geklärt und die ideologische Oberhoheit in Ost und West geregelt war. Die systematischen Möglichkeiten in der Bundesrepublik zeichnen sich ab, wenn man die möglichen Orte einer akademischen intellektuellen Gründung auflistet: Freiburg als Chiffre einer nicht politisch, sondern ökonomisch definierten Gesellschaft (so die These Foucaults),10 Frankfurt als Zentrum der Trauerarbeit, die seit Habermas in Reeducation übergehen kann

8 Antonio Gramsci, Quaderni del carcere, hg. v. Valentino Gerratana, Turin 21977, Bd. 3, S. 2010 (H 19, § 24). 9 Ich nenne nur zwei Bezugskonzeptionen in diesem Band, die mich nicht überzeugen: Schelskys häufig zitierte Theorie der Intellektuellenherrschaft – die stark über die beobachtbare Interessenvertretung der geistig Tätigen hinausgeht – und die von Wolfgang Eßbach mit Geiger ins Spiel gebrachte Einordnung aller geistig (Berufs)Tätigen als Intellektueller  – die am entscheidenden Geschehen öffentlicher Interventionen vorbeigeht. Die oben gewählte laxe Formel soll nicht behaupten, dass man bloß durch seinen Beruf zum ›Intellektuellen erster Ordnung‹ wird. 10 Michel Foucault, Geschichte der Gouvernementalität. Vorlesungen am Collège de France 1977–1979, 2 Bde., Frankfurt a. M. 2004, Bd.  2, S.  117–259; hier S.  154 mit Bezug zur Frankfurter Schule. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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(wie das die Tenbruck-Schüler vermuten),11 Orte wie Münster, Bielefeld oder Konstanz als Stätten »liberal-konservativer« Normalisierung, wo die politische Theorie selbst eher wenig vom Nationalsozialismus handelte (so meine freie Lesart von Hacke). Während der erste Ort somit, öffentlich nur begrenzt sichtbar, eine relativ frühe, mit der sozialen Marktwirtschaft erreichte Neugründung repräsentiert, stehen die Muster der anderen beiden längere Zeit in Konkurrenz – vor und nach 1968. Das heißt allerdings auch, dass das hegemoniale Grundmuster nur noch ausnahmsweise – etwa um 1968 – in Frage gestellt wird. Trotz aller Debatten um ›Negation‹ und ›Affirmation‹: Die therapeutische und die normalisierende Neugründung setzen nicht allein die institutionelle Ordnung und die Interessenkompromisse der sozialen Marktwirtschaft, sondern auch ihre bereits durchgesetzte Legitimität bzw. Akzeptanz voraus.12 Offen ist nur noch, wie man angesichts ihrer Vorgeschichte in ihr leben kann. 2. Wie wird eine koordinierte Vielzahl Intellektueller in solchen Situationen wirksam? Mit meiner Antwort bewege ich mich schrittweise aufs akademische Feld zu und zeichne zugleich Etappen der Kritischen Theorie nach: als Gruppe, als Vorbild-Cluster, als Schule. Gemeinsam ist allen drei Formationen, dass arbeitsteilig operiert wird und dennoch die Einheit eines intern verbindenden, außen erkennbaren und aufnehmbaren Programms gesichert bleibt. Die Arbeitsteilung ist nötig, wenn überhaupt Deutungshoheit erreicht werden soll. Man braucht Experten, die es mit denen anderer Lager aufnehmen können – in der Formierungsphase der Kritischen Theorie etwa Pollock und Grossmann mit den Ökonomen, Fromm mit den Psychologen, Kirchheimer und Rusche mit den Juristen, Marcuse, Adorno und Benjamin mit Philosophen und Kunstkritikern; später waren Mitscherlich und Hellmuth Becker Partner für die Kollektivpsychologie und die »Erziehung zur Mündigkeit«. Die Struktur der Verbindung richtet sich danach, wie die Gemeinsamkeit der beteiligten Fachleute gesichert und kommuniziert wird; das deutungspolitische Projekt – dem auch die Kompetenzüberschreitung einzelner Intellektueller gewidmet ist – muss hier zeitlich und sozial aufrechterhalten werden. Meine drei Stichworte umreißen die einfachsten Möglichkeiten. Die Gruppe ist dadurch gekennzeichnet, dass Verhältnisse Ebenbürtiger vorherrschen. Das heißt nicht, dass nicht einer die Machtmittel kontrollieren und die allgemeine Linie vorgeben kann. Aber es verlangt, dass jeder seinen substanziellen Beitrag leistet – und es setzt eine funktionale Gleichaltrigkeit vor11 Vgl. bes. Albrecht u. a., Intellektuelle Gründung, S. 168–188 sowie S. 387–404. 12 Ein gutes Indiz dafür ist, dass die Frankfurter Schule wesentlich in der Soziologie gewirkt hat, während ihre Rolle »in der Ökonomie […] eine zu vernachlässigende Größe blieb, völlig abgedrängt vom Siegeszug der neoliberalen Schulen« (Albrecht u. a., Intellektuelle Gründung, S. 172). Das Münsteraner Wirkungsfeld war demgegenüber (neben den historischen Geisteswissenschaften) vor allem das Staatsrecht. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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aus, einen Zustand vor der Rekrutierung von Schülern. Die erste Generation der Kritischen Theorie erfüllt dieses Kriterium als solche, und weil ihr nach 1933 ihr institutioneller akademischer Ort entrissen wird, bildet sie keine differenzierte Hierarchie aus. Man muss sich vielmehr über abstrakte Medien wie Geld (das von Max Horkheimer gehütete Institutsvermögen), Publikationen (die von Horkheimer geführte »Zeitschrift für Sozialforschung«), Überzeugungen (die von Horkheimer bejahte Form marxistischer Theorie)  und Weisungsmacht (Horkheimer) vergesellschaften. Die resultierende klare Zweiteilung in Chef und Untergebene weicht deutlich vom universitären Machtgefüge mit seinen vielen Vasallen und Lehnsherren ab. Anderen, teilweise weniger zentralisierten Intellektuellengruppen der Zeit gleicht die frühe Kritische Theorie durch das verbindende Bewusstsein, etwas substanziell Neues zu entdecken – einen politisch nicht mehr eng mit der Arbeiterbewegung verbundenen, theoretisch neu mit Psychoanalyse, Rechts- und Staatstheorie, Philosophie und Ästhetik verknüpften Marxismus. Als ein Teil dieser Gruppe Ende der 1940er Jahre nach Deutschland zurückkehrt, eignen sich die stärksten Repräsentanten (und die sozusagen mitgebrachten Verstorbenen) aus mehreren Gründen als Vorbilder. Namentlich Horkheimer und Adorno können für die ermordeten und vertriebenen Juden und Oppositionellen insgesamt stehen  – und sie können ihre Qualitäten lehrend vermitteln, anders als die belasteten oder farblosen Kollegen. Ihr institutioneller Status ist dabei ambivalent (die Kollegen konnten ihrerseits die Amts- und Fachautorität eines Wiedergutmachungs-Rektors und vor allem eines Wiedergutmachungs-Professors anzweifeln),13 die Chancen für individuelle Bindungen steigen damit nur (weil Horkheimer und Adorno ihre Autorität umso mehr persönlich ausbauen mussten). So ergibt sich ein asymmetrisches Lehrer-Schüler-Verhältnis, das später die Verwandlung zur Schule ermöglicht. Auf der einen Seite stehen die gelehrten, integren Vertreter der symbolisch und affektiv aufgeladenen Vergangenheit, an denen man zusehends rebellische Züge entdeckt,14 auf der anderen Studierende, die ihre Rolle und ihr Verhältnis zur Elterngeneration noch klären müssen. Eine Identifizierung mit den Vorbildern liegt damit nahe und war besonders im Fall Adornos extrem ausgeprägt – man 13 Für Adornos Stelle war die Bezeichnung »Wiedergutmachungslehrstuhl« verbreitet (Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte – Theoretische Entwicklung – Politische Bedeutung, München 1988, S.  520); Horkheimers Ernennung zum Rektor wurde vom Vertreter der Stadt Frankfurt als »Krönung unserer eigenen Wiedergutmachungspflicht« kommentiert (ebd., S.  419). Beide Bezeichnungen eigneten sich erkennbar zur fachlich-sachlichen »Diffamierung« (ebd., S. 520) der Remigranten. 14 Das löst dann bekanntlich auch Konflikte aus. Während Horkheimer und Adorno bis Ende der 1950er Jahre nicht als moderne Marxisten auftraten, wurden sie während der 60er teils wider Willen als solche wiederentdeckt (vgl. Albrecht u. a.., Intellektuelle Gründung, S. 169ff). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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denke an Schüler wie Hermann Schweppenhäuser, Gunzelin Schmid-Noerr, Rolf Tiedemann, Regina Becker-Schmidt, Heinz-Klaus Metzger und Elisabeth Lenk. Ebenso kann, wie zu sehen sein wird, die Identifizierung auf ganzer Linie scheitern. Zur Schulbildung kommt es jedenfalls, wie ich ebenfalls noch näher ausführen will, erst unter weniger individualistischen Vorzeichen und erst nach der Ära Horkheimer-Adorno. Sie verlangt eine mittlere Ebene der Kooperation und Gefolgschaft, zwischen den großen Vorbildern und ihnen nacheifernden Schülern. Eine solche Schicht, die aus Gleichaltrigen mit reduziertem Deutungsanspruch und teileigenständigem Nachwuchs besteht, hat erst Habermas nach seinem theoretischen Neuanfang organisieren können, und die Generation Honneth führt das Unternehmen erfolgreich fort. Strukturell lässt sich die Schule dadurch bestimmen, dass die Einbeziehung Untergeordeter einerseits die akademischen Institutionen voll zu nutzen erlaubt – durch Nachwuchsförderung, Lehrstuhlbesetzung, Forschungsprojekte, internationale Vernetzung – und andererseits die Weitergabe theoretischer Bestände über die Generationen gewährleistet. Inhaltlich sind diese Bestände dann oft nicht mehr leicht zu erkennen. Was man Frankfurter Schule nennt, besteht wesentlich in Versuchen, Gedanken der älteren Kritischen Theorie in den neuen institutionellen Rahmen zu überführen – exemplarisch etwa bei Albrecht Wellmer und dessen Schülern, Rainer Forst oder in vielen Arbeiten von Habermas und Honneth selbst. Erweitert wird der Komplex durch Bündnispartner wie Oskar Negt und Claus Offe, zugleich muss er gegen Angriffe im Namen der früheren Lehre verteidigt werden.15 Vielleicht kennzeichnet eine solche komplexe Gemengelage akademische Schulen insgesamt. Die institutionell vermittelte Generationenfolge wirft in jedem Fall Probleme der Autorität und Definitionsmacht auf, die es nun genauer zu fassen gilt. Vorher will ich kurz die strukturellen, auch über Frankfurt hinaus anwendbaren Züge der drei umrissenen Formierungen zusammenfassen: –– In der Intellektuellengruppe verbinden sich arbeitsteilig und tendenziell gleichrangig profilierte Theoretiker, die im Idealfall (für die Beteiligten oft der worst case) institutionell ungebunden sind und ein gemeinsames Neuerungsanliegen verfolgen. –– Zu einflussreichen Vorbildern können Intellektuelle werden, wenn sie durch eine zeitgeschichtlich relevante Lebensgeschichte und / oder theoretische Neuerungen herausgehoben sind; ihre Anhänger identifizieren sich, oft in Gestalt persönlicher Bindungen, mit dieser Sonderstellung, und vertreten entsprechend ungebrochen die reine Lehre.

15 Vgl. exemplarisch Gerhard Bolte (Hg.), Unkritische Theorie. Gegen Habermas, Lüneburg 1989. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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–– Zur akademischen Schule schließen sich innovative Gruppen, Vorbilder und Anhänger zusammen, wenn sie im institutionellen Apparat der Universität Fuß fassen und ihn für die Weitergabe ihres Programms zu nutzen ver­ mögen – wobei sich dieses Programm womöglich intern pluralisiert. 3. Die Analyse akademischer Denkschulen kann auch von der anderen Seite ausgehen: von der Institution, die Deutungsmacht verwaltet. Den »traditionellen Intellektuellen« (Gramsci) aus Klerus, Jurisprudenz und Medizin treten in der modernen Universität beamtete Philosophen, Ökonomen, Soziologen, Geschichts- und Literaturwissenschaftler zur Seite, die neben Fachkenntnissen Führungs- und Orientierungswissen vermitteln. Man kann noch so streng auf Wertfreiheit achten, Studierende und die interessierte Öffentlichkeit werden wissen wollen, ob Hegel die Revolution, Foucault die Sexualität und die Hirnforschung die Willensfreiheit richtig beurteilt, welche sozialen Probleme grundlegend sind, welche Ansätze zu ihrer Lösung verfolgt werden müssten und welche Deutungsmuster nichts taugen. Umgekehrt dürfte es nicht zuletzt die Befugnis zu »öffentlicher Seinsauslegung« (Karl Mannheim) sein, die den Beruf des Universitätslehrers attraktiv macht. Die Leitdisziplinen wechseln – momentan scheinen (noch) die Ökonomie und die Lebenswissenschaften den Stab zu halten –, die Nachfrage und die Bereitschaft, sie zu bedienen, reißen nicht ab, selbst wenn sie sich im Umfeld von kommerziell und hobbymäßig betriebenen Bild- und Tonmedien einrichten müssen. Ein sozialpsychologisch wichtiger Nebenaspekt dieses Geschehens ist die Nähe zwischen akademischen und ›echten‹ Eliten. Einerseits haben Führungspersonen in Wirtschaft, Politik und Recht, die »in der Lage sind, […] maßgeblichen Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen zu nehmen«,16 formal zweckfreies Deutungswissen und -personal nötig, um ihre Praxis öffentlich zu empfehlen und sich selbst von den Untergeordneten abzuheben; das gehört zu den klassischen Leistungen der Elite-Hochschulen in Frankreich oder Amerika und hat in Deutschland professorale Privilegien bedingt, die erst in der Massen­ universität abgeschmolzen sind.17 Andererseits neigt die »dominierte Fraktion 16 So die hilfreiche Definition von ›Elite‹, die Michael Hartmann verwendet (Eliten und Macht in Europa. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt a. M. 2007, S. 18). Anhand dieses Kriteriums lässt sich dann auch annehmen, dass führende Wissenschaftler allenfalls eine »untergeordnete Elite« bilden (ebd., 21f). 17 Vgl. fürs erstere Michael Hartmann, Elitehochschulen: Die soziale Selektion ist entscheidend, in: Prokla 34 (2004), S. 535–549, für die klassische Machtstellung der deutschen Professoren Fritz Ringer, Die Gelehrten. Der Niedergang der deutschen Mandarine, 1890–1933, Stuttgart 1987. Dass der ›Niedergang‹ zögerlich verlief, zeigen z. B. die bis in Berufungen der 1970er Jahre gültigen Emeritierungsregeln (Wegfall der Lehrverpflichtung bei etwa gleichbleibenden Bezügen). Das Thema ist bis heute akut, den bislang letzten Akt bildet das Verfassungsgerichts-Urteil über angemessene Professorenbesoldung (BVerfG, 2 BvL 4 / 10 vom 14.2.2012). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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der herrschenden Klasse« (Bourdieu), die für Wissenschaft und Kultur zuständig ist, ihre Deutungsmacht mit Entscheidungsgewalt zu verwechseln. Mal wird (im kritischen wie herrschaftsbejahenden Denken) die Führung der Regierenden oder die Erziehung des Volks angestrebt, mal bilden sich Geistesaristokratien aus, die es zumindest prinzipiell besser wissen und die Verfahren der Macht imitieren. Damit wären wir wieder bei den akademischen Schulen. Wie sie im Gefüge etablierter, aber historisch wechselnder Deutungsmacht stehen, lässt sich gut an den Münsteraner Akteuren verdeutlichen. Ein Seitenblick auf Schelsky macht einen Aspekt klar, der auch für Ritter wichtig wird: Da der Nationalsozialismus eigene Deutungsbedürfnisse hatte, waren die bereits unter ihm tätigen Wissenschaftler nach 1945 fast alle belastet, ob wie Schelsky (Jg. 1912) als überzeugte Jungnazis oder wie Ritter (Jg. 1903) als Mitläufer, die andere Überzeugungen aufgegeben hatten. Der Weg in die Bundesrepublik erforderte daher teils neue Umorientierungen, teils Spurenverwischung und Reinigungsorgane – wie etwa die an die Universität Münster angegliederte, seit 1960 von Schelsky geleitete Sozialforschungsstelle Dortmund, in der mit Förderung der USA empirische Verfahren erprobt wurden und zugleich zahlreiche frühere Nazis Beschäftigung fanden.18 Schelsky selbst hat sich auch theoretisch umorientiert. Bereits vor seiner Berufung nach Münster beginnt er mit Formeln wie »nivellierte Mittelstandsgesellschaft« (1953) oder »Die Skeptische Generation« (1957) am Diskurs des neuen Gemeinwesens mitzuwirken, indem er entschieden nicht polarisierte, ideologisch entschärfte Haltungen und Strukturen herausstellt. Diese Linie werden in den 1960er und 70er Jahren die Schüler Ritters weiterführen, am deutlichsten Hermann Lübbe, Odo Marquard und Robert Spaemann, außerhalb dieser philosophischen Kerngruppe (aus der einige wie Willms, Sandkühler und Gründer nach rechts, links oder ins Unpolitische ausscheren) auch die Juristen Böckenförde, Kriele und Seifert sowie der Historiker Vierhaus. Sie nehmen wie Schelsky wichtige Positionen im Wissenschafts- und Staatsapparat ein und verbinden wie er die Kritik politischer Intellektueller mit dem Wirken als politische Intellektuelle, teils auch Politikberatung. (Lübbe sitzt zusammen mit Schelsky und Vierhaus seit 1965 im Gründungsausschuss der Universität Bielefeld und arbeitet von 1966 bis 1970 sogar als Staatssekretär der nordhrein-westfälischen SPD-Regierung, bevor er zum Berater von Kohls CDU wird, im deutungspolitischen, akademischen Feld ist das von Ritter und Gründer herausgegebene »Historische Wörterbuch der Philosophie« ein Paradefall institutionell – vor allem durch Ordinarienvernetzung  – bedingter und einflussreicher Ordnungsarbeit.) Damit gehören die durch Ritters Kreis gegangenen Philosophen und 18 Vgl. Silke van Dyk / Alexandra Schauer, »… daß die offizielle Soziologie versagt hat«. Zur Soziologie im Nationalsozialismus, der Geschichte ihrer Aufarbeitung und der Rolle der DGS, o. O., 2010, S. 123–129. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Wissenschaftler, ob man sie nun geistige (Be-)Gründer der Bundesrepublik nennen will oder nicht, zu ihren engagierten Verteidigern und Funktionären. Zu klären bleibt, welcher Impuls sie aus dem philosophischen Kolloquium in diese Position gebracht hat. Bevor ich ihn (ansatzweise) rekonstruiere und mit der Frankfurter Dynamik vergleiche, will ich noch einen theoretischen Umweg machen. Er führt immerhin in die Sozialpsychologie und zu einem Punkt, an dem die beiden Schulen vergleichbar werden.

Das sozialpsychologische Problem: Bruderhorde ohne Vatermord Das Klima in Ritters Kreis wird von seinen Schülern höchst positiv dargestellt. Selbst ein Text, der rückblickend seiner dort ausgeblendeten NS-Zeit nachgeht, vergegenwärtigt es einleitend so: »Der Münsteraner Philosoph lässt seine Studierenden, die er keineswegs zu Epigonen zurichtet, an der für ihn wichtigen philosophischen Entdeckung teilhaben – Geschichtlichkeit. Er ist eine Autorität; autoritär zu sein, ist unnötig.«19 Erst recht geht bei der Kerngruppe die Solidarität untereinander mit der Würdigung des Meisters einher. Ich will im Folgenden theoretisch-allgemein darstellen, dass das einerseits erwartbar und andererseits bemerkenswert ist. Im Mittelpunkt steht dabei die Autorität, die der Schulvater ist und nicht eigens erzwingen muss. Beispiele werden aus Frankfurt und Münster kommen. Autorität hat in unserem Kontext zwei Seiten: Gruppeninterne Deutungshoheit und soziale Verfügungsgewalt. Die erstere wird akzeptiert, solange die Schülerschaft gelebt und betont wird – bei den Schülern Ritters etwa, wenn sie dessen wenige Lehren hochhalten: die Geschichtlichkeit der Philosophie, die moderne ›Entzweiung‹ von Herkunft und Zukunft, Individuum und Gemeinwesen, die Ansicht, dass die Geisteswissenschaften beides ›kompensieren‹ und dass Kunst aus Distanz zum natürlichen Leben entsteht.20 Die andere Seite beruht auf institutionellen Befugnissen, erschöpft sich aber nicht darin. Nachwuchsakademiker sind bekanntlich vielfach abhängig von ihren Lehrern: Wenn 19 Hans-Jörg Sandkühler, »Eine lange Odyssee«. Joachim Ritter, Ernst Cassirer und die Philosophie im ›Dritten Reich‹, in: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie 15,1 (2006), S. 139–179, hier S. 140. 20 Die ersten Thesen exponiert besonders Ritters Text »Hegel und die französische Revolution« (1956), in: ders., Metaphysik und Politik. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a. M. 2003, S. 183–255; die letzte findet sich in: »Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft« (1963), ebd., S. 407–437. Die ebenfalls verbreitete ›Kompensationsthese‹ hat nach eigenem Bekunden der Ritter-Schüler Marquardt in den Kanon eingeschmuggelt; vgl. ders., Zukunft und Herkunft, in: Ulrich Dierse, (Hg.) Joachim Ritter zum Gedenken, Stuttgart 2004, S. 111–122. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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es gut läuft, sind diese zugleich ihre Prüfer und Dienstherren, setzen in entscheidenden Situationen ihre Kontakte für sie ein und orientieren sie im wissenschaftlichen Feld. Sie verfügen also, mit Bourdieu gesagt, weitgehend über das ökonomische, kulturelle und soziale Kapital, das der Nachwuchs benötigt. Natürlich könnten sich diese Rollen auf verschiedene Personen verteilen; in Systemen wie dem deutschen laufen sie gewöhnlich zusammen.21 Spitzt man die Analyse probehalber auf nur einen Deutungs- und Ver­ fügungsgewaltigen zu  – abstrahiert also davon, dass er in der Vorbildgruppe oder der akademischen Schule selbst eingebunden ist –, hat er Autorität im starken Sinn eines Anerkennungsmonopols. Der Lehrer ist der, dem man folgt, weil man bei ihm in umfassender und konzentrierter Weise Bestätigung sucht. Je mehr der genannten Faktoren zusammenkommen, von institutioneller Abhängigkeit über theoretische Zustimmung bis zum Vorbildcharakter, desto deutlicher wird dieses Monopol ausgeprägt sein; ein Faktor kann jedoch auch für andere stehen – etwa wenn der mächtigen Person überlegener Geist unterstellt wird oder der originelle Theoretiker sozial führen soll. In jedem Fall hat das Phänomen zwei Seiten, Autoritätsbedürfnis und -ausübung. Um sie sozial­ psychologisch zu fassen, bietet sich eine Überlegung von Heinrich Popitz an: »Selbstwertgefühl, Selbstanerkennung […] braucht soziale Validierung, braucht einen Außenhalt, braucht Bestätigung durch andere. Das Streben nach solcher Bestätigung kann sich auf bestimmte Personen konzentrieren. Um ihre maßgebende Anerkennung zu erreichen, übernehmen wir ihre Perspektiven und Kriterien und bemühen uns zu tun, was sie von uns erwarten. Unser Selbstwertgefühl ist gefesselt an ihre Anerkennung und Anerkennungsentzüge. / Aus Bindungen dieser Art entsteht autoritative Macht. Autoritative Macht übt aus, wer die Anerkennungsfixiertheit anderer bewusst zur Steuerung ihrer Einstellung und ihres Verhaltens ausnutzt.«22

Ersetzt man die problematischen Worte »bewusst« und »ausnutzt« durch offenere wie »zielstrebig« und »nutzt«, scheint mir das die volle Wahrheit über die Autorität zu sein, die jemand ausüben kann, auch ohne sich autoritär zu gebärden. Im Fall akademischer Schulen macht die Passage etwa verständlich, weshalb die Perspektiven und Kriterien des Meisters so bereitwillig und dauerhaft übernommen werden. Sie entsprechen einem Bedürfnis, das im Zweifelsfall sogar auf die reale Anwesenheit der Bestätigungsinstanz verzichten kann (nicht alle Adorniten haben Adorno gekannt, Ritters Schüler halten ihm bis heute die Treue). Wenn sie allerdings ansprechbar ist, kommt als verstärkender Mechanismus gewöhnlich die Konkurrenz der vielen begabten Schüler um die exklu21 Dazu haben etwa die Freiräume der klassischen Assistentenrolle beigetragen: Wenige Zeit ist mit offiziellen Verpflichtungen besetzt, einige zum Forschen vorgesehen und die meiste Abstimmungssache  – der Zugriff des Dienstherrn hat also dehnbare Grenzen, nach mündlicher Auskunft aus dem Ritter-Kreis z. B. bis in den späten Samstagabend. 22 Heinrich Popitz, Phänomene der Macht, 2., erw. Auflage, Tübingen 1992, S. 133. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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sive Anerkennung des einen Lehrers hinzu. Als Beispiel kann ein früher Brief Elisabeth Lenks an Adorno dienen: »Nicht, dass ich mir einbildete, schon im intellektuellen Sinn moralisch zu sein, aber Sie haben bei Ihren Schülern das intellektuelle Gewissen geschärft, und ich glaube, dass das sehr wichtig ist, unendlich viel wichtiger, als wenn man nur die Ergebnisse Ihres Denkens nachplappern oder gar nur Ihren Stil imitieren würde (was leider auch die Gefahr einiger ›Adornoschüler‹ ist).«23

Hier ist das ganze Repertoire des Übernehmbaren beisammen  – Lehre, Stil, Kriterien für geistige und persönliche Urteile –, zugleich wird scharf zwischen (potenziell) echten Schülern und bloßen Nachahmern unterschieden, mit der stillen Bitte, als Teil der ersten Gruppe erwählt zu werden. Das alles ist nicht überraschend. Bemerkenswert ist jedoch der Schritt zur solidarischen Schülergruppe. Er läuft nicht allein der gerade angesprochenen Konkurrenz entgegen – erstaunlich ist auch, dass dabei die Lehrerfigur intakt bleibt. Ebenso erwartbar wären zwei andere Szenarien: Die fortgesetzte Einzelabhängigkeit der Schüler vom Meister oder ihr gemeinsames Aufbegehren gegen ihn. Zumal letzteres tritt jedoch selten ein. Das überrascht auch im Strukturvergleich. Selbstverständlich sind andere Kontexte bekannt, in denen sich horizontale Solidarität und vertikale Dominanz stabil verbinden, etwa Kirche und Militär. Doch in der akademischen Schülerschaft geht es wie gesehen um starke Einzelbindungen; der Vergleichsfall wäre also eher die Elternbeziehung mit ihren Ablösungsprozessen. Hinzu kommt, dass die institutionelle Selbstständigkeit an bestimmten Punkten  – Ortswechsel, eigener Lehrstuhl  – ansatzweise erreicht ist. Wenn die Schüler in solchen Umbruchsphasen ihr gemeinsames Selbstverständnis erneuern, wäre die Wendung gegen den Lehrer ein geeignetes Medium. Über ihn beschwert und lustig gemacht hat man sich ja schon vorher. Was stattdessen vorherrscht, ist Solidarität ohne Ablösung. Die Gruppe der Schüler bildet eine Art Bruderhorde ohne Vatermord. Weshalb das so ist, wäre eine eigene Analyse wert. Von der realistischen Einschätzung der Vatermacht in einem gerontokratischen System bis zu aufrichtiger Dankbarkeit für Einfälle, die man selbst nicht hat, ist einiges denkbar. (Ich vermute als Kerndynamik: geteilte Scham über die ständig verpasste Ablösung, Umwandlung von unausgelebtem Vaterhass in Zusammenhalt.) Und sobald man sich wieder Situationen hierarchisch abgestufter Macht zuwendet, wird die schrittweise Eingliederung immer neuer Adepten besser nachvollziehbar. Mir kommt es hier auf einen anderen Aspekt an: Der umrissene reine Typ akademischer Schülerschaft ist zugleich steril; er dürfte weder zu geistigen Innovationen fähig noch so sehr durch politisch-soziale Veränderungen irritierbar sein, wie 23 Brief vom 23.7.1963, in: Theodor W. Adorno u. Elisabeth Lenk, Briefwechsel 1962–1969, hg. v. E. Lenk, München 1962, S. 31 f. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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das für öffentliches Engagement nötig ist. Man hätte es nur mit Schulbildung, nicht mit Intellektuellen zu tun. Diese Aussicht ändert sich erst, wenn die Harmonie zwischen Meisterautorität und Schülerverbund in irgendeiner Weise gestört ist. Frankfurt und Münster zeigen eine der strukturellen Chancen dafür: die Schwächung der Meister. Es wird gleich konkret zu sehen sein, dass es dabei ebenso um Führungsschwäche wie auch um ein schwaches Programm gehen kann. Vorher will ich kurz festhalten, was von beidem zu erwarten ist. Eine gemeinsame Lehre verbindet nicht nur, sie muss auch selbst zusammengehalten werden. Es gilt immer neue Aussagen zu prüfen und ins System der beglaubigten einzugliedern, Gegenargumente und die Anfechtung anderer Denkweisen abzuwehren. Alles dies kann mit oder ohne Berufung auf eine Autorität geschehen – es setzt jedoch der Verbreitung der Lehre klare Schranken. Sie kann dann eigentlich nur (wie etwa der Marxismus-Leninismus) in einem Klima von Vorschriften, nicht (wie etwa die Dekonstruktion) in dem von Attraktionen und Moden gedeihen. Die schwachen Meister ermöglichen es dagegen, dass die Lehre diffundiert, dass sie also an Kontur verliert, sich mit anderen verbindet und ausbreitet. Hätte Adorno sein Haus im Griff gehabt, wäre Habermas kaum in die Lage gekommen, die Frankfurter Schule zur noch heute aktiven akademischen Macht auszubauen; hätte Ritter mehr veröffentlicht als »eine Handvoll Aufsätze« (Spaemann) zur Philosophiegeschichte, wären die Bedenken gestiegen, seine Schüler in wichtige Positionen zu lassen. Und in beiden Fällen hätte ihre Impulse nicht so vielschichtige affektive Resonanz gefunden.

(Auf-)Lösungsmuster: Vorbild ohne Führungskompetenz, Führungsfigur ohne Aussage Damit sind meine schwachen Meister schon (oder endlich) beieinander. Die Paarung scheint mir aussagekräftig, da sich die Schwächen von Adorno und Ritter komplementär zueinander verhalten und dadurch konträre Geschichten in die bundesrepublikanische Selbstverständigung einschreiben: Ritter hat sich institutionell behauptet, aber dabei die Fähigkeit zur inhaltlichen Positionierung verloren, Adorno hat seine prekäre Situation in eine suggestive Lehre verwandelt, jedoch zu lange abhängig gearbeitet, um schließlich noch zu institutioneller Macht fähig zu sein. Daraus folgte im zweiten Fall der bekannte Bruch in der Schultradition bzw. bei der Bildung der akademischen Schule, im ersten die oben benannte Figur affirmativer Intellektueller bzw. anti-intellektuellen Engagements. Beide Thesen will ich abschließend näher ausführen. Ich beginne mit Adorno. 1. Wer Belege für die Machtstellung Horkheimers im Institut für Sozialforschung sucht, kann sie noch in Adornos Briefen der 1960er Jahre finden. Die © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Würdigung, die er Max zu dessen siebzigstem Geburtstag schreibt und in der »Zeit« publiziert, ist auch inhaltlich offen. »Patriarchalische Züge«, heißt es dort, »hast Du nie verleugnet, aber vergeistigt zu einem außerordentlichen flair für Machtverhältnisse, und damit zur Fähigkeit, dafür zu sorgen, dass Du und die Dir Nächsten im Widerstand gegen die Macht sich behaupten konnten.«24 Noch deutlicher als die Benennung der Vaterinstanz ist die Unterwerfung unter sie; wenn man ihr nah genug ist, setzt sie ihre Macht schützend ein. Adorno hat sichtlich auch nach der Remigration Horkheimers Autorität akzeptiert und spürt nach dessen Rückzug ins Tessin vor allem die Unmöglichkeit, eigenständig zu handeln. Das blockiert die politisch-theoretischen Ideen, die er anders als Horkheimer nach wie vor hat. Er plant eine Kritik des Godesberger Programms, bittet jedoch vorher um Rat: Soll er wirklich die Sozialdemokraten in der Großen Koalition angreifen und damit womöglich indirekt die NPD stärken? »[I]ch fühle mich überhaupt nicht mehr so sicher im politischen Urteil wie früher und solange wir zusammen waren.« Der Abschiedsgruß lautet: »jetzt schon tausend Dank von Deinem immer größeren G. R.«25 Um gleich zum zusammenfassenden Befund zu kommen: Adorno besetzt die Stelle der institutionell gedeckten Autorität nicht, weil er sie schon lange aufgegeben hat. Wirken kann er daher nur durch seine Lehre und durch seine individuellen Beziehungen. Das macht eine Schulbildung unter seiner Leitung unmöglich. Tatsächlich sind seine Schüler, von denen es ja nicht wenige gab, in verschiedenste Bereiche diffundiert: ins Feuilleton, zum Theater und Film (­Kaiser, Nagel, Kluge), in Literaturwissenschaft und Musikkritik (Szondi, Lenk, Metzger). Diejenigen, die auf philosophische und soziologische Lehrstühle gelangt sind, haben wenig miteinander kooperiert und sich später nicht selten vehement von Adorno abgewendet. Auch diesen Aspekt will ich nur kurz nennen. Adorno hat sich als hochgradig angreifbar erwiesen, weil er die Grundregel aller Autorität nach dem Ende der Vaterhorde nicht berücksichtigt hat, die Zurückstellung der eigenen Leidenschaften. Sein übergriffiges Verhältnis zu jungen Frauen ist bekannt; auch sonst hat er sich trotz aller betonten Höflichkeits-Schutzformen in Leben und Text als glücks- und leidensfähig exponiert. Man kann das als dauerhaft kindliche Ausstellung der eigenen Bedürftigkeit deuten;26 in jedem Fall bildet Adorno eine Ausnahme von der Regel, dass in akademischen Schulen der Vatermord aus24 Brief vom 12.2.1965, in: Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 18, Frankfurt a. M. 1996, S. 598 f. 25 Brief vom 8.12.1966, in: ebd., S. 630. »G. R.« steht für »großes Rindvieh« (einer der mehreren zwischen Adorno und Horkheimer kurrenten Tiernamen), hier mit der Doppel­ bedeutung, dass der kleine Teddy allmählich groß wird. 26 Adorno und Horkheimer bereiten dies durch ihre Selbststilisierung vor: ersterer ist betont das ewige Kind, letzterer der (angeblich) dauerhaft Pubertierende. Vgl. für Belege und Deutung Schneider / Stillke / Leineweber, S. 41–51. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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bleibt. Von seiner Quasi-Hinrichtung durch den Weiberrat bis zu den zahlreichen Hassattacken von Ex-Adorniten und Ex-Linken (Norbert Bolz, Friedrich Kittler, Lorenz Jäger …) ist wohl kein deutscher Intellektueller so oft symbolisch getötet worden – und dabei zähle ich nur potenzielle Verbündete oder ehemalige Anhänger. Der theoriepolitisch relevante Hauptpunkt ist, dass die Frankfurter Schule keineswegs, wie der Tenbruck-Kreis meint, zum Ort einer unabschließbaren Dauertherapie wurde. Mit dem faktischen Tod Adornos war die Trauerarbeit im Wesentlichen vorbei;27 die desorganisierten Schüler, am Frankfurter Institut und andernorts, waren unmittelbar (bzw. nach einer kurzen Phase marxistischer Radikalisierung) reif für die Übernahme oder Verdrängung durch Haber­mas. Und die Welle symbolischer Tötungen zeigt, dass wohl auch wenig Bereitschaft bestand, die Wunde Adorno länger zu pflegen. In jedem Fall baut die staatstragend gewordene Schule nicht mehr am Abgrund der deutschen Vergangenheit, sondern auf den universellen Normen der Demokratie. 2. Ritter war vorsichtiger als Adorno. Lübbe bemerkt selbst im Feld theoretischer Kritik eine starke Zurückhaltung und führt sie auf Überzeugung zurück: »Ritter war Institutionalist, was heißen soll, dass er die Funktionstüchtigkeit akademischer wie bürgerlicher Kommunitäten vom Verbot moralischer und intellektueller Bloßstellung ihrer Angehörigen abhängig wusste. Publizistisch entsprach dem der Verzicht auf Pamphletistik, und mir ist spontan nur ein einziger Fall gegenwärtig, der Ritter zum groben Mittel öffentlicher Kritik […] greifen ließ«28 (Popper hatte ­Hegel kritisiert).

Es fällt schwer, Lübbe auf seine Pointen festzulegen, aber wenn man das Gesagte ernst nimmt, sind dem Institutionalisten enge geistige Grenzen gesetzt. Ohne die Gefahr intellektueller Bloßstellung kann man ja nicht einmal die Gültigkeit von Argumenten prüfen. Und wenn die Kritik aus der Öffentlichkeit entfernt wird, bleibt im Grunde nur, sie hinter verschlossener Tür zu üben, etwa am Nachwuchs, bevor er auf akademische und politische Positionen gelangt. Jenseits der Überzeugungen hatte Ritter lebensgeschichtlichen Anlass zur Vorsicht. Wie immer man sein Verhalten als junger Dozent zwischen 1933 und 1945 beurteilt, es ist ihm nicht leicht gemacht worden. Weil er bis zu Beginn der 1930er dem Marxismus nahestand und teilweise sogar als Kommunist galt, 27 Natürlich gab es andere Instanzen, die sie weiter beförderten – vgl. in diesem Band Tobias Freimüllers Beitrag zu Mitscherlich. Adornos Ansatz war jedoch der einzige, der die Vergangenheit in ein umfassendes Theorieprogramm überführt hatte. Habermas hat daran nur noch als eine Art antifaschistischer Polizei angeknüpft (s. u.). 28 Hermann Lübbe, Affirmationen. Joachim Ritters Philosophie im Kontext der zweiten deutschen Demokratie (2004), in: ders., Philosophie in Geschichten. Über intellektuelle Affirmationen und Negationen in Deutschland, München 2006, S. 152–168, hier S. 157. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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musste sich sein Lehrer Cassirer stark einsetzen, um seine Habilitation durchzubringen. Und obwohl er nach 1933 als Nicht-Jude den aus der Universität vertriebenen Cassirer faktisch in der Lehre vertreten hat, kam weiteren Ambitionen seine unmittelbare Vergangenheit in die Quere  – samt seiner ersten Ehe mit einer (1928 verstorbenen) Jüdin. Das Engagement in zahlreichen NS-Organisationen und die Bemühung um eine deutsche Linie in der mittelalterlichen Philosophie halfen nur langsam; Hans Jörg Sandkühler hat die Verdächtigungen der Funktionäre dokumentiert. Erst 1943 hatte Ritter, der zu dieser Zeit an der Ostfront stand, einen Ruf nach Kiel.29 Und schon 1946 trat er seine Professur in Münster an, gehörte also von Beginn an zum wissenschaftlichen Personal der Bundesrepublik. Neben der institutionellen Vorsicht und Haltung, die Lübbe beschreibt, dürfte diese Vorgeschichte den auffälligsten Zug von Ritters Werk erklären: Es existiert kaum. Die wenigen Aufsätze, die er zu Aristoteles, Hegel, Petrarca und anderen publiziert hat, sind vor allem erläuternder und geschichtlich kontextualisierender Natur. Sie zeichnen klare Grundlinien der westlichen Moderne, sind aber erst von Ritters Schülern überhaupt für politische und philosophische Positionen fruchtbar gemacht worden. Ritter selbst hat offenkundig nicht mehr die Energie zum zweiten Orientierungswandel gehabt. Bei Lübbe, Marquard oder auch Böckenförde, in der Gruppe Poetik und Hermeneutik und in zahlreichen geisteswissenschaftlichen Theoriedebatten werden daraus: eine Bejahung von Kontingenz, Geschichtlichkeit und Common Sense, eine liberale Rezeption des Dezisionismus und Institutionalismus, die betonte Selbstrelativierung intellektueller Deutungsansprüche, ein Zwei-Fronten-Kampf gegen universelle Prinzipien und gegen Geschichtsphilosophie.30 Die politische Pointe verdeutlicht die »Argumentationskette Geschichtsphilosophie, Utopie, Ideologie, ›Endstation Terror‹«,31 die sich sowohl auf den Nationalsozialismus als auch auf die Linke anwenden lässt. Damit ist – selbst wo der zuletzt genannte Schritt fehlt – eine weitere NS-Verarbeitungsgeschichte beendet: Aus Beschweigen und Nicht-Positionierung ist eine geschichtliche Begründung liberaler Institutionen bzw. weltanschaulich neutraler Machtordnungen geworden. *** 29 Vgl. zum gesamten Absatz Sandkühler, »Eine lange Odyssee« sowie ders., Joachim Ritter. Über die Schwierigkeiten, 1933–1945 Philosoph zu sein, in: ders., Philosophie im Nationalsozialismus, Hamburg 2009, S. 219–252. Weniger informativ Thomas Weber, Joachim Ritter und die ›metaphysische Wendung‹, in: Wolfgang Fritz Haug (Hg.), Deutsche Philosophen 1933, Hamburg 1989, S. 219–243; knapp und uninteressiert Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit, S. 37 f. 30 Vgl. dazu umfassend Hacke, Philosophie der Bürgerlichkeit, bes. S.  45–134 sowie S. 174–256. 31 Ebd., S. 60. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Vermutlich habe ich mich trotz aller Skizzenhaftigkeit zu sehr auf die Profile Adornos und Ritters konzentriert. Um von ihnen zurück zur Gesamtkonfiguration der Schulen zu gelangen, sind wie angedeutet Ergänzungen notwendig. Für Ritter und Münster fällt das nicht schwer, da hier tatsächlich eine Art Minimal-Schulbildung mit nur einem Meister und nur einer Schülergeneration vorliegt. Zu ergänzen wären die Peers, mit denen Ritter vernetzt war und mit denen er häufig die spezifische Belastungssituation teilt – Hacke nennt seine »weitläufigen Verbindungen zu anderen einflussreichen Intellektuellen der 1950 / 60er Jahre wie Helmut Schelsky, Carl Schmitt, Hans Freyer oder Arnold Gehlen«.32 Nimmt man den Anlaufpunkt Heidegger in Freiburg dazu, den Lübbe, Gründer und Marquard zeitweilig gegen Ritters Rat aufsuchten, ist eine Gruppe bedeutender Ex-Nazis beisammen. Für die Schüler ist zusätzlich die Erfahrung von 1968 und der Folgejahre zentral, in der sie sich gemeinsam als Rechtshegelianer erkannten. Auch so ergänzt entspricht die Konstellation aber ziemlich genau dem entfalteten Idealtyp mit Abweichungen: Ein dauerhaft akzeptierter Meister und eine treue Schülergruppe, eine entscheidende Schwäche der Meisterfigur und die Diffusion ihrer Lehre im öffentlichen Engagement der Schüler, verzweigter Einfluss als Ende der Schultradition. Für Frankfurt wären komplexere Ergänzungen nötig – zumal wenn man annimmt, dass hier die akademische Schule erst nach Adorno Gestalt gewann. Vor 1969 ist so allererst ein Vorbild-Nachfolge-Cluster zu beobachten, das Außenwirkung entfalten konnte, gerade weil der Meister die Schüler nicht effektiv als akademische Macht organisierte. Die Zeit danach wurde hier kaum untersucht und soll nur noch perspektivisch beleuchtet werden. Bleibt man beim Kernstück der Meister-Schüler-Beziehung, wäre nunmehr die Stellung von Habermas zu analysieren – als Nicht-Schüler Adornos, nicht­ autorisierter Nachfolger Horkheimers und uncharismatisches Schulhaupt. Ich will an ihr statt aller beachtlichen institutionell-örtlichen Verlagerungen (von der nach Marburg verdrängten Habilitation bis zum Weggang an das Starnberger Max-Planck-Institut) nur eine doppelte inhaltliche Spannung hervorheben. Sie dürfte immerhin Habermas’ politischen Schwachpunkt und das Zentrum seiner öffentlichen Wirkung ausmachen: Er musste in Frankfurt sowohl die radikalen Außenseiterpositionen der Generation Benjamin-Adorno-Marcuse beerben als auch den (damit vielfach verknüpften) marxistischen Aufbruch von 1968 fortführen, ohne dass er die etablierte westliche Demokratie angreifen konnte und wollte. Diese Spannung tritt etwa hervor, wo Habermas die Vernunft- und Zivilisationskritik seiner Vorgänger verarbeitet – von der Marcuse-Verwindung in »Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹« (1968) bis zu den Adorno-Exerzitien im Hauptwerk.33 Ihr Ventil findet sie in öffent­lichem 32 Ebd., S. 40. 33 Vgl. Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns (1981), 2 Bde., Frankfurt a. M. 1995, Bd. 1, S. 505–518. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Engagement: Habermas’ bereits vor der Frankfurter Zeit bezogener, aber bis zum Historikerstreit ausgebauter Frontstellung gegen Ex-Nazis, Revisionisten, Nietzscheaner, Schmitt-und Heidegger-Anhänger, ›technokratische Konservative‹ und ›Jungkonservative‹. Überall hier kann er sein Projekt demokratischer Neugründung, solidarisch mit der alten Kritischen Theorie, betont gegen das rechte Lager wenden.34 Theoriepolitisch wirksamer ist die Strategie geworden, mit der er radikale Impulse absorbiert: die Ergänzung von Arbeit durch Interaktion, kommunikativ-herrschaftsfreier durch systemische Logik, freier Aushandlung durch rechtliche Institutionen. Die zweite und dritte Generation Kritischer Theorie hat hieraus ihre Mission entwickelt. Ihre Vertreter nehmen radikale Impulse auf, wo immer sie sich zeigen – im Feminismus, Postkolonialismus, Poststrukturalismus, Neomarxismus35 –, verbinden sie jedoch mit Standards der Diskursethik oder liberaler politischer Philosophie und brechen so ihre Spitze. Sie besetzen damit zusehends die Stelle, an der sich die Münsteraner seit Mitte der 1960er Jahre angesiedelt hatten – als organische Intellektuelle der geistigen Arbeit, der Funktionärs- und Deutungstätigkeiten im Wohlfahrtsstaat. Diese wenigen, ungedeckten Anmerkungen sollen hier ausreichen; der resultierende postheroische Zustand war nicht mein Thema. Für die vorangehende Krisenzeit lässt sich jedoch, wenn man verallgemeinern kann, ein Befund festhalten, der über die Mechanismen geistiger Autoritätsbindung hinausweist: Akademische Schülerkreise bringen nicht ohne weiteres die Lehre ihrer Meister in Umlauf, sie wirken gerade dann als Verstärker, wenn diese geschwächt sind und nur eingeschränkt funktionieren. So kann die geschichtliche Krise, die sich in den individuellen Lebenslauf einschreibt, wieder in die kulturelle Verständigung und die kulturell vermittelten Machtkämpfe zurückgespielt werden. Das hätte den Vorteil, dass auch die unschönen Mechanismen akademischer Vergesellschaftung für etwas gut sind – und es würde erlauben, dem kaum vermeidbaren Biografismus intellektuellengeschichtlicher Forschung strukturelle Pointen abzugewinnen. In der langen deutschen Nachkriegszeit wurde die Schwäche der Meister selbst zum Deutungsmedium. Da die Karten im hegemonialen Spiel wirtschafts- und geopolitisch bereits gemischt waren, gab es zunächst kaum Raum für intellektuelle Eingriffe, und viele Beteiligte sahen ohnehin nichtakademische Verständigungsformen vorrücken. Die Schwäche professoraler Deutungsarbeit ist dem Nachwuchs in dieser Lage jedoch nicht allein inhaltlich, in Theorien der Kulturindustrie oder Kompensation erklärt worden, sie stand auch personifiziert zur Übernahme und Abarbeitung bereit. Das An­gebot wurde angenommen. 34 Vgl. die Beiträge von Patrick Wöhrle und Thomas Biebricher in diesem Band. 35 Ablesbar ist dieses Projekt an einer Serie von Konferenzen: »Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption« (Frankfurt 2001), »Adorno-Konferenz« (Frankfurt 2003) und zuletzt »Rethinking Marx« (Berlin 2011), weiterhin an mehreren Monografien und Sammel­ bänden zu den Spielarten intellektueller Kritik. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Von der Kooperation zur Konfrontation Wolfgang Abendroth und Peter von Oertzen. Zur Struktur und Genese der »Marburger« und der »Hannoverschen« Schule

Die Geschichte der marxistischen Linken in der Bundesrepublik ist unlösbar mit den theoretischen Positionen von Wolfgang Abendroth und Peter von Oertzen sowie ihren politisch-wissenschaftlichen Interventionen verbunden. Auch im akademischen Sinne sind beide prägend und im bestimmten Sinne schulbildend gewesen. Mit dem Begriff der theoretischen Schule sind jedoch un­ vermeidlich schwer lösbare Probleme verbunden: Welche Personen und welche inhaltlichen Positionen rechnet man zu einer theoretischen Schule hinzu, was grenzt sie von anderen intellektuellen Strömungen ab und welchen Zeiträumen gilt die Betrachtung? Zudem ist der Begriff der »Schule« für Protagonisten einer »Philosophie der Praxis«, denen es nicht – zumindest nicht primär – um die Bildung eines akademischen Zusammenhangs, sondern um die Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit ging, nur bedingt fruchtbar zu machen; denn innerhalb des universitären Rahmens ist der Begriff der Schule, die auf einen oder mehrere Theoretiker zurückgeht und mit einem wissenschaftlichen Paradigma verbunden ist, angemessen. Innerhalb des Bezugsrahmens der sozialistischen, respektive marxistischen Arbeiterbewegung jedoch waren Theoretiker immer Exponenten breiterer gesellschaftlicher Strömung und hatten nur in eingeschränktem Maße auf deren Konstitution und Entwicklung Einfluss. Vor dem Hintergrund dieses Problemkomplexes soll der Begriff »Schule« im Folgenden nur provisorisch und annäherungsweise verwendet werden und zwar in dem Sinne, dass es weniger darauf ankommt, ein intellektuelles Revier zu markieren, sondern vielmehr darauf, die theoretischen Traditionslinien sowie die »spezifische Produktionsweise der Erkenntnis«1 von Protagonisten sozialer Bewegungen in den Blick zu nehmen, die nach einer wissenschaftlich begründeten politischen Orientierung suchen. Im spezifischen Fall der wissen1 Oskar Negt, Anmerkungen zum Verhältnis von Gesellschaftstheorie und Politik, in: Kritische Theorie der Gegenwart. Dokumentation der internationalen Konferenz am Institut für Soziologie der Universität Hannover am 27. und 28. November 1998, Hannover 1999. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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schaftlich-politischen Traditionen, die sich mit den Namen Wolfgang Abendroth und Peter von Oertzen verbinden, kommt erschwerend hinzu, dass im Gegensatz zur »Marburger Schule« der Begriff der »Hannoverschen Schule« weder geläufig noch irgendwo ernsthaft theoretisiert worden ist.2 Allenfalls beschreibt dieser eine Konstellation an den sozialwissenschaftlichen Instituten der Fakultät V der Universität Hannover in der Zeitspanne zwischen Ende der 1960er und den frühen 2000er Jahren, die mittlerweile Geschichte und nur noch in Ausläufern wirksam ist.3

Theorie-Traditionen und Schuldbildungen Sieht man einmal von diesen Unschärfen ab, so lassen sich deutlich unterschiedliche Traditionen theoretischer und politischer Herangehensweisen, die sich mit den Orten Marburg und Hannover verbinden, ausmachen. So ist Hanno­ver nicht ganz unzutreffend als eine Art »Siedlungsprojekt« der Frankfurter Schule bezeichnet worden. Diese Aussage kennzeichnet einen gewichtigen Unterschied in der Berufungspraxis, die im Zuge des Ausbaus der Hochschulen ab Ende der 1960er Jahre geübt wurde. Während in Marburg die Tradition der Kritischen Theorie wenig personelle Repräsentanz fand, hatten zahlreiche Hannoveraner Hochschullehrer bei Adorno und Horkheimer studiert. Die Freudsche Psychoanalyse rangierte in Form einer kritischen Sozialpsychologie – als herausragender Vertreter wäre Peter Brückner zu nennen – neben der Soziologie und der Politischen Wissenschaft als gleichberechtigtes Fach. Die Auseinandersetzung mit der Kritischen Theorie bildete einen zentralen Bestandteil in Forschung und Lehre. Die Sozialwissenschaften in Hannover waren gekennzeichnet von einer Mischkultur aus dem Marxismus der Arbeiterbewegung ohne Leninismus und der Frankfurter Schule ohne deren philosophische Überspitzungen. O ­ skar Negt, theoretisch selbst stark von Abendroth beeinflusst, repräsentiert mit seinem positiven Bezug auf die Gewerkschaften und die SPD diese politischwissenschaftliche Herangehensweise, wie sich sowohl in seinen frühen als auch seinen späten Texten zeigen lässt.4

2 Neben der Bezeichnung »Marburger Schule« wird mehr oder minder synonym auch der Begriff »Abendroth-Schule« verwendet. Vgl. Historisch-Kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 1, Hamburg 1994, S. 22–27. 3 Vgl. Marcus Hawel, Krise und Geschichte. Zum Entstehungszusammenhang kritischer Theorie, in: ders. / Moritz Blanke (Hg.), Kritische Theorie in der Krise, Berlin 2012. 4 Vgl. z. B. Oskar Negt, Keine Freiheit ohne Sozialismus. Über den Zusammenhang von Politik, Geschichte und Moral. Frankfurt a. M. 1976; ders., Adorno als Marxist, in: ­Joachim Perels (Hg.), Leiden beredt werden lassen. Beiträge über das Denken Theodor W. Adornos, Hannover 2006, S. 9.–26. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Marburg war und blieb dagegen wesentlich stärker vom ArbeiterbewegungsMarxismus geprägt, wobei Wolfgang Abendroths Bezug auf die organisierte Arbeiterbewegung im Kontext der hochschulpolitischen Konflikte ab Ende der 1960er Jahre in der Praxis nach dem Scheitern einer linkssozialistischen Parteigründung weitgehend auf ihren kommunistischen Teil verengt wurde. Es ist daher nur für die Zeit bis zur zweiten Hälfte der 1960er Jahre zutreffend, in Bezug auf Abendroth von einer »radikaldemokratischen Alternative zum Leninismus« zu sprechen.5 Abendroth akzentuierte Zeit seines Lebens mehr oder weniger stark einen positiven Bezug auf die Oktoberrevolution, freilich mehr im Sinne seines in der DDR verfemten politischen Lehrers Heinrich Brandler.6Auch seine Schüler – exemplarisch sei hier Frank Deppe genannt – blieben mehr oder minder dieser Linie treu. Die Hannoveraner hingegen grenzten sich scharf von der DDR und der DKP ab, es gab keine Berufung eines DKP-Mitglieds auf einen gesellschaftswissenschaftlichen Lehrstuhl; vorherrschend war eine Orientierung auf die Sozialdemokratie und / oder das Sozialistische Büro.7 Als exemplarisch für erstere kann Thomas von der Vrings Aussage gelten, der als stellvertretender JusoBundesvorsitzender feststellte: »Wir sind die SPD der 80er Jahre«.8 Für letztere Position ist Negts Forderung charakteristisch, sich »nicht nach Köpfen, sondern nach Interessen [zu] organisieren!«9 Aus diesen unterschiedlichen Positionierungen resultierten Konflikte zwischen Marburg und Hannover, die sich vor allem auf dem Feld der Gewerkschaften abspielten. So wurde der Vorwurf erhoben, eine DKP-nahe »Abendroth-Fraktion« wolle die Gewerkschaften unterwandern, während umgekehrt die mangelnde Kritik Peter von Oertzens am Radikalenerlass für Polemiken sorgte. Aber auch in Zusammenhang mit der Frage, inwieweit man sich mit den DDR-Dissidenten solidarisieren solle, gab es starke Differenzen, etwa im Fall Rudolf Bahros.10 Dieser starken politischen Polarisierung, die zeitweise die Ge5 Richard Heigl, Das Unbehagen am Staat. Staatskritik bei Wolfgang Abendroth und Johannes Agnoli, in: Christoph Jünke, Linkssozialismus in Deutschland. Jenseits von Sozialdemokratie und Kommunismus? Hamburg 2010, S. 171–185, hier S. 172. 6 Vgl. Uli Schöler, Die DDR und Wolfgang Abendroth  – Wolfgang Abendroth und die DDR. Kritik einer Kampagne, Hannover 2008. 7 Zum Sozialistischen Büro vgl. Gottfried Oy, Überfraktionelles Bewußtsein jenseits von Partei und Spontaneismus, in: Jünke, Linkssozialismus. S. 206–220. 8 Zit. nach Michael Vester, Zwischen Wissenschaft und Politik. Peter von Oertzen und die »Fakultät der gefährlichen Möglichkeiten«. In: Jürgen Seifert / Heinz Thörmer / Klaus Wettig (Hg.), Soziale oder sozialistische Demokratie? Beiträge zur Geschichte der Linken in der Bundesrepublik, Marburg 1989. S. 150–167, hier S. 160. 9 Zit. nach Negt, Kein Sozialismus, S. 300. 10 Vgl. Kristina Mänicke-Gyöngyösi (Hg.), Der Bahro-Kongreß. Aufzeichnungen, Berichte und Referate. Dokumentation des Bahro-Kongresses vom 16.–18. November 1978 in der TU Berlin, Berlin 1979. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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meinsamkeiten in den Hintergrund treten ließ, lagen grundlegende theoretische Differenzen zugrunde, wie im Folgenden gezeigt werden soll.

Wolfgang Abendroth und die »Marburger Schule« Das Bild von Wolfgang Abendroth ist bis heute stark von seinem Engagement in den 1970er Jahren geprägt, dies vor allem durch seine solidarisch-kritische Haltung zur DKP und seine Kooperation mit dem DKP-nahen Institut für Marxistische Studien und Forschung (IMFS). Wiederholt ist in diesem Kontext der Vorwurf geäußert worden, Abendroth habe im Dienst der SED bzw. der Staatssicherheit gestanden. Uli Schöler hat in seiner Studie »Die DDR und Wolfgang Abendroth, Wolfgang Abendroth und die DDR« detailliert nachgewiesen, dass dies nicht der Fall war, auch wenn Abendroth seine rechtsstaatlichen Positionen in Bezug auf die DDR teilweise relativierte.11 Aber auch seine eigenen Angaben, denen zufolge er in der Zeit der Weimarer Republik und während des Widerstandes vor allem in der KPD bzw. der Kommunistischen Partei-Opposition (KPO) aktiv gewesen und die Mitgliedschaft in der SPD nach 1945 taktischer Natur gewesen sei,12 sind durch die neueren Forschungen teilweise mehr als relativiert worden. Abendroth, geboren 1906 in Wuppertal-Elberfeld, stammte aus einer so­ zialistischen Lehrerfamilie. 1920 trat er der Freien Sozialistische Jugend bei, die sich bald in Kommunistischer Jugendverband Deutschlands umbenannte und in die KPD eingliederte. 1924 nahm er ein Jurastudium in Frankfurt am Main auf und wurde in der Rechtsschutzorganisation der Arbeiterbewegung, der Roten Hilfe, aktiv. Sein Hauptaktionsfeld war jedoch nicht die KPD, sondern der unabhängige Bund der Freien Sozialistischen Jugend (BFSJ), der seine Wurzeln in der Jugendbewegung hatte.13 Hans-Manfred Bock hat diesem Zusammenhang von einer »doppelten Sozialisation« in der Arbeiter- und Jugendbewegung gesprochen.14 Ernst Forsthoff schrieb ebenso abwertend wie teilweise zutreffend 1954 an Carl Schmitt, Abendroth sei ein »jugendbewegter Phantast und 11 Vgl. Heigl, Unbehagen am Staat sowie Uli Schöler, Wolfgang Abendroth und der »reale Sozialismus«. Ein Balanceakt. Berlin 2012. 12 Wolfgang Abendroth, Ein Leben in der Arbeiterbewegung. Gespräche, aufgezeichnet und hg. v. Barbara Dietrich / Joachim Perels, Frankfurt a. M. 1976. 13 Vgl. Wolfgang Abendroth, Gesammelte Schriften (GS), Bd. 1, Hannover 2006. 14 Hans Manfred Bock, Ein unangepaßter Marxist im Kalten Krieg. Zur Stellung Wolfgang Abendroths in der Intellektuellengeschichte der Bundesrepublik, in: Friedrich-Martin-Balzer / Hans-Manfred Bock / Uli Schöler, Wolfgang Abendroth. Wissenschaftlicher Politiker. Bio-bibliographische Beiträge, Opladen 2001, S. 216–267, hier S. 218. Im BFSJ stand Abendroth in kritischer Auseinandersatzung mit dem nationalrevolutio­nären Lager, etwa mit Karl-Otto Paetel, einem Schüler Ernst Jüngers, mit dem er bis ins Alter engen Kontakt hielt. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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in keinem Sinne ein Jurist«.15 Abendroth war eingebunden in die Diskussionen rund um das Frankfurt Institut für Sozialforschung und nahm jenseits frak­ tioneller Fixierungen zahlreiche zeitgenössische Positionen auf. Besondere Bedeutung hatte für den angehenden Juristen die sozialistische Staatsrechtslehre; von Hermann Heller übernahm er den Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaats; beim Arbeitsrechtler Hugo Sinzheimer verfasste er seine erste, aufgrund dessen Verhaftung nicht vollendete Dissertation über die Betriebsräte. Er befasste sich mit den programmatischen Positionen der Austromarxisten Otto Bauer und Max Adler ebenso wie mit August Thalheimers Faschismusanalyse, während er in Bezug auf die Sowjetunion der Argumentation der Gruppe Kommunistische Politik um den Jenaer Juristen Karl Korsch folgte. Die Kritik an der Sowjetunion wurde durch Berichte über die Moskauer Prozesse und den Hitler-Stalin-Pakt vertieft, obwohl die Informationslage unter den Bedingungen von Illegalität und Haft – Abendroth war 1937 wegen Hochverrats zu vier Jahren Zuchthaus verurteilt worden – mehr als eingeschränkt war. Er desertierte 1944 in Griechenland aus dem Strafbataillon 999 zur griechischen Befreiungsfront EAM und ging Ende 1944 freiwillig in britische Kriegsgefangenschaft. Noch während der Gefangenschaft trat er 1946 in die SPD ein und diskutierte mit Richard Löwenthal die Konsequenzen, die aus dem Wahlsieg der Labour Party 1945 und deren Reformpolitik zu ziehen seien. Löwenthals unter dem Pseudonym Paul Sering 1946 veröffentlichtes Buch »Jenseits des Kapitalismus«, in der das Konzept eines demokratischen Sozialismus in Europa zwischen der USA und der Sowjetunion entwickelt wird, ist die vielleicht wichtigste marxistische Programmschrift der unmittelbaren Nachkriegszeit. Man kann davon ausgehen, dass sich die dort vertretenen Positionen weitgehend mit denen Abendroths decken. Die rätedemokratischen Positionen, die er noch während der Weimarer Republik vertreten hatte, spielten hier keine Rolle mehr. Stattdessen vertrat er nun die klassischen sozialdemokratisch-marxistischen Positionen, wobei neben Marx, Adler und Hermann Heller einen wichtigen Anknüpfungspunkt Harold Laski bildete.16 Diese seien in aller Kürze skizziert: Der politische Sieg der bürgerlichen Klasse über den Feudaladel bedeutet, so Marx, dass das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung als Warenbesitzer in der Ökonomie seinen juristischen Ausdruck in der Anerkennung als formal gleichberechtigte Staatsbürger gefunden habe. Die Arbeiterbewegung reklamiere diese bürgerlichen Rechte für sich und trete für die Übertragung des formalen Gleichheitsprinzips auf die Gesellschaft, 15 Dorothee Mußgnug / Reinhard Mußgnug / Angela Reintal (Hg.), Briefwechsel Ernst Forsthoff – Carl Schmitt (1926–1974), Berlin 2007, S. 106. 16 Vgl. Uli Schöler, Erweiterung der politischen zur sozialen Demokratie. Wolfgang Abendroths programmatische Neuorientierung der frühen fünfziger Jahre, in: Klaus Kinner (Hg.), Die Linke – Erbe und Tradition, Bd. 2: Wurzeln des Linkssozialismus, Berlin 2010, S. 113–139. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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vor allem auf die Sphäre der von Antagonismen geprägten Ökonomie, ein. Damit gehe die Repräsentanz des gesellschaftlichen Allgemeininteresses von der Bourgeoisie auf die Arbeiterschaft über, denn das Bürgertum vertrete gegenüber allen anderen gesellschaftlichen Gruppen das Partialinteresse der Aufrechterhaltung der bestehenden Gesellschaftsordnung. Zwar würde die Arbeiterklasse auch ein gesellschaftliches Partikularinteresse vertreten, insofern sie aber dabei um allgemeine demokratische Rechte kämpfen müsse, vertrete sie das gesellschaftliche Allgemeininteresse der emanzipatorischen Trans­formation der gesamten Gesellschaft mit dem Ziel einer herrschaftsfreien sozialen Ordnung. Die Gewerkschaften, so Marx, würden dabei zu Sammelpunkten gegen die Gewalttaten des Kapitals, die Arbeiter mit fortgeschrittenstem Bewusstsein würden sich in der Arbeiterpartei vereinigen. Das politische Ziel bestehe in der Eroberung der politischen Macht; über den Staat solle die Emanzipation der Arbeiter durch eine Konzentration der Produktionsmittel und des Kredits in den Händen des Staates erfolgen.17 Diese Konzeption setzte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts innerhalb der erstarkenden Massenbewegung zunehmend durch. Die Differenzen innerhalb der marxistischen Arbeiterbewegung während der 1889 gegründeten Zweiten Internationale, die in Deutschland etwa im Revisionismus-Streit und der Debatte über den Generalstreik vor dem Ersten Weltkrieg ihren Ausdruck fand, drehten sich im Kern um die Frage, inwieweit das Ziel der gesellschaftlichen Emanzipation schrittweise über Reformen erreicht werden könne, oder ob dies nur in einer Phase einer allgemeinen revolutionären Krise möglich sei. Der positive Staatsbezug hingegen blieb weitgehend unstrittig. Erst mit der revolutionären Krise am Ende des Ersten Weltkrieges brach sich in Deutschland mit der Rätebewegung eine neue Tendenz innerhalb der Arbeiterbewegung Bahn, die Karl Korsch als »industriellen Konstitutionalismus« bezeichnete: Die Sphäre der Ökonomie müsse durch die direkte Aktion der Arbeiter auf betrieblicher Ebene und nicht erst vermittelt über den Staat demokratisiert werden. Das Betriebsrätegesetz von 1920 dokumentierte zwar die Niederlage der Räte­ bewegung, stellte jedoch gleichzeitig die Anerkennung der Mitbestimmungsforderungen der Arbeiterbewegung auf ökonomischer Ebene dar. Wolfgang Abendroth knüpfte nach 1945 konzeptionell zwar auch an die Ergebnisse der Rätebewegung an, wie sie in der Forderung des DGB nach betrieblicher und überbetrieblicher Mitbestimmung ihren Ausdruck gefunden hatte. Hinsichtlich des positiven Staatsbezugs bewegten sich jedoch seine Positionen programmatisch auf dem Boden der Zweiten Internationale. Die Arbeiter­ 17 Vgl. Michael Buckmiller, Gewalt und Emanzipation in der Arbeiterbewegung. Un­ erledigte Fragen, in: Loccumer Initiative Kritischer Wissenschaftler (Hg.), Gewalt und Zivilisation in der bürgerlichen Gesellschaft. Kritische Interventionen, Bd. 6, Hannover 2001, S. 242–257. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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bewegung sei in staatliche Machtpositionen vorgerückt, die nun gestützt auf die außerparlamentarischen Machtmittel der Arbeiterbewegung schrittweise zu erweitern seien. Das Bonner Grundgesetz stelle einen politischen Kompromiss mit dem Bürgertum dar, biete allerdings mit seiner Programmatik des sozialen und demokratischen Rechtsstaates die Möglichkeit einer sozialistischen Transformation. In diesem Kontext nahm die Konzeption einer revolutionären Transformation einen äußerst defensiven Charakter an: Wenn in einer ökonomischen und sozialen Krise die herrschende Klasse zum Angriff auf die sozialen und demokratischen Errungenschaften der Arbeiterklasse übergehe, müsse diese den Angriff zurückschlagen und selbst in die Offensive gehen. Im Gegensatz zu Abendroths späteren Darstellungen waren seine Kontakte zur SPD-Parteiführung und insbesondere zu dem von Stephan Thomas und später Siegfried Neumann geleiteten SPD-Ostbüro Anfang der 1950er Jahre sehr eng. Die Aufdeckung eines Kuriers des Ostbüros führte 1948 zu seiner Flucht aus der SBZ, in die er auf Anraten des hessischen Justizministers Georg August Zinn gegangen war, um sein juristisches Staatsexamen nachzu­holen. Abendroth war bei der SPD und den Gewerkschaften ein gefragter Diskussionspartner und Referent. Er erstellte für den DGB das Gutachten im Konflikt um den Zeitungsstreik, war Mitglied der Programmkommission und wurde in die Staatsgerichthöfe Bremens und Hessens gewählt. Wie kaum ein anderer vertrat Abendroth die staatsrechtlichen Positionen der Sozialdemokratie. Der Bruch mit der SPD erfolgte schrittweise, erst in der Debatte um die Wiederbewaffnung 1954 / 55, dann während der programmatischen Debatten im Vorfeld des Godesberger Programms und schließlich mit dem SDS-Ausschluss 1961.18

Peter von Oertzen und die »Hannoversche Schule« In wesentlichen Punkten teilte Peter von Oertzen Abendroths Positionen. Seine Kritik konzentrierte sich vor allem auf einen inhaltlich-strategischen Punkt: den Staatsbezug und in diesem Zusammenhang auf die Frage nach der Rolle und Aufgabe der politischen Partei. Peter von Oertzen wurde 1924 geboren.19 Sein Vater, der Journalist Friedrich Wilhelm von Oertzen, gehörte zum Umfeld der Mörder Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs und fungierte später als Organisationsleiter der Zeitschrift »Die Tat«. Obwohl von Oertzen bei seiner Mutter aufwuchs, bildete dieser 18 Vgl. Gregor Kritidis, Linkssozialistische Opposition in der Ära Adenauer. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Bundesrepublik. Hannover 2008, insbesondere S. 100 ff., 429 ff., 504 ff. 19 Vgl. ebd. S. 240 ff. sowie Peter von Oertzen, Demokratie und Sozialismus zwischen Politik und Wissenschaft, hg. v. Michael Buckmiller, Gregor Kritidis und Michael Vester, Hannover 2004, S. 7–14. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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national-revolutionäre Hintergrund seines Vaters einen wichtigen Bezugspunkt.20 Bis 1945 war Peter von Oertzen nach eigenem Bekunden vom »Endsieg« überzeugt. Erst nach seiner Rückkehr aus der US-Kriegsgefangenschaft erarbeitete er sich in der Bibliothek seines im Krieg getöteten Vaters im niedersächsischen Wendland anhand der Lektüre von Adorno, Horkheimer, L ­ ukács und Korsch ein eigenes Marx-Verständnis. In Göttingen trat er 1946 mit Aufnahme des Studiums in die SPD und den SDS ein, 1953 promovierte er bei Rudolf Smend mit einer Arbeit über die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus, in der er die Möglichkeiten staatlichen Handelns im demokra­ tischen Sinne auslotete. Im Wahlkreis Göttingen wurde er 1954 in den Niedersächsischen Landtag gewählt und knüpfte dadurch engen Kontakt zu seinem älteren Landtags­ kollegen Erich Gerlach, der den benachbarten Wahlkreis Northeim vertrat. Während der Zugfahrten von und nach Hannover diskutierten beide intensiv Fragen des Marxismus und der Arbeiterbewegung. Gerlach, ein Schüler Karl Korschs, war ein profunder Kenner der Marxschen Theorie, der damals vorherrschenden ökonomischen Lehren – insbesondere des Keynsianismus –, und der Geschichte der Arbeiterbewegung, vor allem auch der abweichenden Strömungen wie dem Anarchismus und dem Syndikalismus. Von Gerlach übernahm von Oertzen die durch Karl Korsch geprägte Kritik an der Zweiten und Dritten Internationale. Korsch hatte 1919 in der Zeitschrift »Arbeiterrat« das radikaldemokratische Selbstverständnis der Rätebewegung mit seiner Kritik an bloßen Verstaatlichungen und Kommunalisierungen formuliert: »Die Klasse der werktätigen Arbeiter wird als solche nicht freier, ihre Lebens- und Arbeitsweise nicht menschenwürdiger dadurch, daß an die Stelle des von den Besitzern des privaten Kapitals eingesetzten Betriebsleiters ein von der Staatsregierung oder der Gemeindeverwaltung eingesetzter Beamter tritt.«21

Gerlach radikalisierte diese Position vor dem Hintergrund des Phänomens der Bürokratisierung der Industriegesellschaften, das vor allem im Hinblick auf die Sowjetunion, aber auch auf die westlichen Länder diskutiert wurde. Die Tendenz zur kapitalistischen Konzentration, so Gerlach, habe in zentralen Teilen der Ökonomie zu einer Oligopolisierung und Monopolisierung geführt. Parallel dazu habe die Bedeutung des Staatsapparates zugenommen, einerseits um die Interessen innerhalb der herrschenden Klasse zu koordinieren, andererseits um die Ansprüche der Arbeiterklasse teils aufzunehmen, teils abzuwehren. Gleichzeitig nehme die Arbeiterklasse zahlenmäßig kaum noch zu. »Über einen lang20 Gegenwärtig arbeitet Philipp Kufferath an einer Biographie von Oertzens, die hier näheren Aufschluss zu geben verspricht. 21 Karl Korsch, Die Sozialisierungsfrage vor und nach der Revolution, in: ders., Rätebewegung und Klassenkampf. Schriften zur Praxis der Arbeiterbewegung 1919–1923. KorschGesamtausgabe, Bd. 2, hg. v. Michael Buckmiller, Hannover 1980, S. 161–165, hier S. 163. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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sam wachsenden Körper weitet sich in der spätkapitalistischen Gesellschaft ein riesiger bürokratischer Kopf aus. Diese Tendenz haben wir in Wirtschaft und Staat gleichermaßen.« Der Staat sterbe nicht von selbst ab: »Die moderne Gesellschaft ist eine arbeitsteilige Großorganisation, in der die Menschen nicht mehr in kleinen fast autarken Einheiten leben, sondern eng miteinander verflochten sind. Um diese differenzierte Organisation in Funktion zu halten, muß der Staat immer neue Aufgaben übernehmen. […] Träger dieser Aufgaben ist die Bürokratie.«22

Die SPD hätte »das Schwergewicht ihrer Arbeit auf die Bekämpfung der hypertrophen Entwicklung des Staatsapparates« legen müssen. Sie habe dagegen durch ihre »staats- und wohlfahrtsstaatliche Politik« ihre Basis macht- und zahlenmäßig verringert: »Sie rückte ab vom Sozialismus, nicht aber vom Kurs auf Ausdehnung der Staatstätigkeit«. Noch in der Programmatik der Ersten Internationale sei den Gewerkschaften unter anderem die Aufgabe zugewiesen worden, die Arbeiter auf die Übernahme der Betriebe vorzubereiten. »Für die Hauptrichtungen des späteren Sozialismus ist dagegen kennzeichnend die fortschreitende Verengung auf das rein politische Ziel der Eroberung der Staatsmacht und der Aberglaube, dass mittels des Staates alle gesellschaftlichen Probleme zu lösen seien. Die Aufgabe, die Arbeiter auf die Übernahme der Führung der Wirtschaft vorzubereiten, geriet völlig in Vergessenheit. Diese hatten keine andere Funktion, als entweder Wählervolk oder Sturmtruppe zur Eroberung der Regierungsgebäude zu sein. Die Gewerkschaften wurden zu bloßen Instrumenten des Lohnkampfes und damit bestenfalls ›Rekrutenschulen‹ der Partei.«23

Die Aufgabe der Sozialisten bestehe nun darin, die SPD und die Gewerkschaften  – Gerlach sprach in diesem Zusammenhang vom linken Flügel der staat­ lichen Bürokratie – von Fall zu Fall zu unterstützen, wobei er vor allem die Bildungspolitik im Auge hatte, weil sich das Problem der Dequalifizierung der Arbeiter durch die Automatisierung verschärfe. Im Prinzip waren hier alle wesentlichen Aspekte der Position von Oertzens versammelt: Marxismus, Anti­ etatismus, Rätesozialismus sowie der Fokus auf den Bildungsbereich. Abendroth, von Oertzen und Gerlach kooperierten ab Mitte der 1950er Jahre in der Redaktion der Zeitschrift »Sozialistische Politik« (SoPo), die sich ins­ besondere an Gewerkschafter und Sozialdemokraten richtete. Zur Redaktion gehörten zudem die Trotzkisten der IV. Internationale Ernest Mandel, Georg Jungclas und Willy Boepple sowie die Linkskatholiken Theo Pirker und Sieg22 Erich Gerlach, Referat auf der Unterbezirkskonferenz der SPD in Northeim 1950. Zit. nach Kritidis, Linkssozialistische Opposition, S. 89 f. 23 Stephan Thomas [Erich Gerlach], Mitbestimmung, Gewerkschaften und Sozialismus, in: SoPo 4 / 1954, S. 7 f. Zit. nach Kritidis, Linkssozialistische Opposition, S. 256. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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fried Braun. Erich Gerlachs Positionen blieben in diesem Kreis nicht unumstritten und wurden nur von Braun und von Oertzen geteilt. Abendroth selbst äußerte keine offene Kritik an Gerlachs antietatistischen Positionen, er warnte aber immer wieder vor »proudhonistischen«, sprich: anarchistischen Illusionen. Scharfer Widerspruch aus eher traditionell-marxistischer Sicht übte in den Spalten der SoPo hingegen Hermann Weber, der mit Willy Boepple kooperierte, nachdem man ihn aus der Haft entlassen hatte, zu der er wegen seiner Tätigkeit für die FDJ verurteilt worden war.24 Von Oertzen begann 1957 eine groß angelegte Studie über die Rätebewegung in der Novemberrevolution, in der er der Frage nachging, ob es eine historische Alternative zur Weimarer Republik und deren Scheitern gegeben habe  – mit wissenschaftlichen Mitteln suchte er nach den genuin demokratischen Potentialen in Deutschland und deren Traditionen. Diese Arbeit diskutierte er in allen Phasen mit Wolfgang Abendroth.25 Von diesem stammte der entscheidende Hinweis, dass zwischen 1918 und 1921 der demokratische Charakter der Revolution gar nicht zur Debatte gestanden habe: »In Wirklichkeit geht es um das Problem der Auseinandersetzung zwischen utopistischem Aktivismus und proletarischer Realpolitik. Eine Tendenz in Richtung auf Parteidiktatur einer leninistischen Partei existiert in der damaligen KPD (Spartakusbund) überhaupt nicht.«26

Diese Position sprengte die vorherrschend Deutung der Novemberrevolution, nach der die MSPD Deutschland vor der Bolschewisierung bewahrt habe. Von Oertzen konnte diese These in seiner Arbeit empirisch nachweisen und kritisierte an der MSPD, dass sie im Bündnis mit den alten Eliten die Rätebewegung niedergeschlagen habe, anstatt deren Potentiale für eine Demokratisierung von Staat und Wirtschaft zu nutzen. Während beide in diesem Punkt konform gingen, übte Abendroth hinsichtlich eines anderen Aspekts heftige Kritik. Der prinzipielle Mangel der Arbeit von Oertzens liege darin, »daß ganz allgemein das Problem des Scheiterns der Rätebewegungen an der politischen Macht des bürgerlichen Staatsapparates, also umgekehrt das Problem der Notwendigkeit der Eroberung der politischen Macht, falls man ernstliche wirtschafts­ demokratische Lösungen durchsetzen will, und daher bestimmter staatstheoretischer 24 Hermann und Gerda Weber, Leben nach dem »Prinzip links«. Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten, Berlin 2006, S. 180. 25 Michael Buckmiller hat diesen Diskussionsprozess sowie das Habilitationsverfahren von Oertzens detailliert nachgezeichnet: ders., Die Wiederentdeckung der Rätedemokratie. Peter von Oertzens Konzeption einer sozialistischen Räte-Demokratie und der Paradigmenwechsel in der Bewertung der Novemberrevolution. In: Loccumer Initiative Kritischer WissenschaftlerInnen (Hg.), Zur Funktion des linken Intellektuellen – heute, In memoriam Peter von Oertzen, Hannover 2009, S. 21–44. 26 Ebd., S. 30. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Erörterungen zu kurz kommt. […] Man kann institutionelle Änderungen von solcher Tragweite, daß sie die kapitalistische Gesellschaft ernstlich transformieren, nur in labilen revolutionären Situationen erzwingen, in denen der Einfluß der Ideologie der herrschenden Klassen auf die schwankenden Schichten in der Gesellschaft und auf die Arbeiterklasse weitgehend geschwunden ist und der politische Machtapparat des Klassengegners nicht voll funktioniert. Diese Situationen dauern aber nicht so lange, daß sich während dieser relativ kurzen Frist der spontane Selbstbetätigungsdrang der Massen Kombinationsorgane solchen Ausmaßes schaffen kann, daß sie die notwendige strategische Leitung ihrer Kämpfe und die Koordinierung ihres zunächst regional differenzierten Handelns ohne Hilfe einer vorher organisatorisch zusammengefaßten und bewußt operierenden Führungsschicht (also der Sache nach, wie das Kind auch sonst heißen möge, einer politischen Partei) durchsetzen könnte. Hier liegt der richtige Kern der Auffassungen Heinrich Brandlers.«27

In seiner Antwort räumte von Oertzen ein, dass auch er »eine irgendwie geartete ›politische‹ Organisation, also eine ›Partei‹ für nötig« erachte und fuhr fort: »Auf der anderen Seite kennen wir beide die Gefahren der Partei. Was Not tut, ist eine politische Organisation der Sozialisten, die genügend Abwehrkräfte gegen die Gefahren der Entartung enthält.« Ausgehend von dieser skeptischen Haltung gegenüber der Partei als Organisationsform entwickelte er die programmatische Konzeption einer modernen Arbeiterbewegung mit dem industriellen Großbetrieb im Zentrum, welche die »Klassensolidarität vor Parteiinteresse« stellte und in Einzelaspekten die demokratische Kontrolle exekutiver Organe zum Gegenstand hatte. Die soziale Bewegung, so die Quintessenz, müsse das sozialistische Ziel in ihren Organisationsprinzipien vorwegnehmen. Zustimmend zitierte er in diesem Zusammenhang Siegfried Braun: »Gesellschaftliche Macht ist […] kein Ding, das irgendwo in Bonn oder irgend­welchen Banktresoren aufbewahrt wird, und man erobert die Macht am sichersten, wenn man die alltäglichen sozialen Beziehungen verändert, die durch diese Machtverhältnisse reglementiert sind.«28 Es ist vor diesem Hintergrund wenig überraschend, dass im Vorfeld des Godesberger Programmparteitages der SPD sich die sozialistische Opposition nicht auf einen gemeinsamen Gegenentwurf einigen konnte. So gab es zwei alternative Programmentwürfe, einen von Abendroth und einen von Peter von Oertzen, den dieser jedoch kurz vor dem Parteitag zurückzog. Er gehörte aber zu den 16 Abgeordneten, die gegen den Entwurf des Parteivorstandes votierten. Die Konflikte, die sich hier abzeichneten, spitzten sich Anfang der 1960er Jahre zu und führten zum Ende der Kooperation in der Redaktion der SoPo. Mit Siegfried Braun, Erich Gerlach und jüngeren Sozialisten aus dem SDS, darun27 Brief Abendroths an von Oertzen vom 15.8.1958. Nachlaß Abendroth im Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam (IISG). Nr. 67. 28 Brief von Oertzens an Abendroth vom 20.8.1958. Ebd. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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ter Monika Mitscherlich, Jürgen Seifert, Michael Vester, Thomas von der Vring, Michael Schumann, Hans-Peter Riesche, Oskar Negt und Reinhard Hoffmann gründet von Oertzen 1960 die »Arbeitshefte der Sozialwissenschaftlichen Vereinigung Duisburg«. Der organisatorische Bruch, der durch den Austritt von Oertzens, Gerlachs und Brauns aus der Redaktion der SoPo erfolgt, bedeutete jedoch keineswegs das Ende der Kooperation oder gar ein Zerwürfnis zwischen Abendroth und von Oertzen. Im Gegenteil, Abendroth unterstützte von Oertzens Habilitation nach Kräften und versuchte, ihm ein wirtschaftliches Standbein zu verschaffen. Exemplarisch für seine Haltung gegenüber von Oertzen ist ein Brief an den Vorsitzenden des DGB-Landesbezirks Bayern, Ludwig L ­ insert, in dem er ihn folgendermaßen charakterisierte: »Er ist ca. 35 Jahre alt und hat – unter dem Einfluß des früheren Jenaer Arbeitsrechtlers Karl Korsch  – partiell syndikalistische Tendenzen, die sich aber durchaus in Schranken halten und deren utopische Seiten er sicherlich im Laufe seiner Weiterarbeit abstreifen wird.«29 Noch 1967 »beauftragte« Abendroth von Oertzen damit, die Festschrift für den IG-Metall-Vorsitzenden Otto Brenner herauszugeben.30 Dass von Oertzen nicht in der 1968 erschienenen Festschrift zu Abendroths 60. Geburtstag vertreten ist, hatte keinen politischen Grund, sondern ist auf Heinz Maus’ unzureichendes Organisationsgeschick als Herausgeber zurückzuführen.31 Zwischen Abendroth und Teilen des SDS auf der einen Seite und dem Kreis um die Arbeitshefte auf der anderen entwickelte sich in den frühen 1960er Jahren in der SDS-Zeitschrift »Neue Kritik« eine lebhafte politisch-theoretische Debatte, deren Kern die Organisationsfrage bildet. Während der Kreis um Abendroth an der Arbeitsteilung zwischen Partei und Gewerkschaften sowie einem grundsätzlich positiven Staatsbezug festhielt, nahm der Kreis um von Oertzen stärker die neuen Impulse der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung auf und aktualisierte anarchosyndikalistische Positionen. Die Gemeinsamkeit eines engen Theorie-Praxis Bezugs bildete jedoch eine starke Klammer, die erst

29 Brief Abendroths an Linsert vom 6.7.1960. Ebd. Nr. 62. 30 Brief Abendroths an von Oertzen v. 16.1.1967. Ebd. Nr. 91. 31 Brief Abendroths an von Oertzen vom 14.6.1966. Ebd. Vgl. Heinz Maus (Hg.), Gesellschaft, Recht und Politik. Wolfgang Abendroth zum 60. Geburtstag. Neuwied 1968. Diese Festschrift umfasst ein breites Spektrum von Autoren, u. a. Theodor Adorno, Rudolf Augstein, Ernst Bloch, Jürgen Habermas, Hans Mayer und Richard Schmid. Dagegen ist der Autorenkreis der gut zehn Jahre später erschienenen Festschrift wesentlich eingeschränkter. Vgl. Frank Deppe / Georg Fülberth / Reinhard Kühnl / Rainer Rilling u. a. (Hg.), Abendroth-Forum. Marburger Gespräche aus Anlaß des 70. Geburtstages von Wolfgang Abendroth, Marburg 1977. Die im gleichen Jahr vom »Marburger« Peter Römer herausgegebene Festschrift belegt hingegen die Bereitschaft zu einer breiteren Kooperation: ders. (Hg.), Der Kampf um das Grundgesetz. Über die politische Bedeutung der Verfassungsinterpretationen, Frankfurt a. M. 1977. Mit Beiträgen waren u. a. Wolfgang Däubler, Joachim Perels, Helmut Ridder und Jürgen Seifert vertreten. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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im Zuge der innerlinken politischen Polarisierung ab Anfang der 1970er Jahre gesprengt wurde.

Berufungspraxis und Schulbildungen Insbesondere die Berufungspraxis durch Abendroth in Marburg einerseits, durch von Oertzen in Hannover andererseits, traf auf den erbitterten Widerstand konservativer Ordinarien, die vor allem durch die Marburger Hausberufungen sich in dem Generalverdacht der Bildung einer »Parteihochschule« bestätigt sahen,32 während in Hannover die Konflikte insofern milder ausfielen, als es keine etablierten Geisteswissenschaften gab und es sich quasi um universitäre Neugründungen handelte. Dieser Widerstand gewann auch deswegen an Schärfe, weil es für die konservativen und liberalen Ordinarien bis dato selbstverständlich gewesen war, dass sie über die Rekrutierung des akademischen Nachwuchses exklusiv entscheiden konnten und wissenschaftliche Ansätze, die grundlegende methodische Einwände gegen die vorherrschenden Positionen erhoben, als unwissenschaftlich und parteilich betrachteten. Selbst die Habilitation von Jürgen Habermas konnte nur mit großem taktischem Geschick von Abendroth in der Fakultät durchgesetzt werden.33 Die Wissenschaftspolitik Abendroths hatte sich von Beginn der 1950er Jahre an auf seine institutionellen Möglichkeiten an der Marburger Universität sowie die sozialdemokratisch geführte hessische Landesregierung stützen können. Mit einer engeren Kooperation verschiedener Lehrstühle in Hessen versuchte Abendroth, einen Ersatz für das Frankfurter Institut zu schaffen, das nach 1945 – er sprach in diesem Zusammenhang vom Funktionswandel des Frankfurter Instituts – nicht mehr die zentralen Fragen der sozialistischen Arbeiterbewegung thematisierte. Intensiv betrieb er ab 1957 die Berufung von Heinz Maus, der am Frankfurter Institut studiert hatte und nach 1945 Assistent von Ernst Niekisch an der Berliner Humboldt-Universität geworden war. Nach seinem erneuten Wechsel nach Frankfurt 1951 wurde Maus nach einer Zwischenstation in Weilburg 1959 nach Marburg auf den Lehrstuhl für Soziologie berufen. Die Berufung des Wirtschaftshistorikers und Soziologen Werner Hofmann nach Marburg folgte 1966, sodass sich Abendroths Kooperationsmöglichkeiten erheblich erweiterten. Ab den 1960er Jahren bekam dann der eigene akademische Nachwuchs zunehmend an Gewicht. 32 Vgl. Oliver Schmolke, Revision: nach 1968 – vom politischen Wandel der Geschichtsbilder in der Bundesrepublik, Berlin 2006, S. 41 ff. 33 Briefwechsel Abendroth – Habermas in den Akten des Instituts für Politische Wissenschaften. Universitätsarchiv Marburg; Brief Abendroths an Gerd Sälzer v. 8.12.1969. Nachlaß Abendroth im IISG Nr. 50. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Abendroths Schüler lassen sich in eine ältere sowie eine jüngere Generation aufteilen. Sieht man einmal von Rüdiger Altmann, seinem ersten Assistenten ab, den er noch aus Wilhelmshaven nach Marburg mitbrachte und der später als Berater Ludwig Erhards den Begriff der »Formierten Gesellschaft« prägte, wurden die älteren Schüler Abendroths überwiegend in der SPD aktiv oder blieben dem parteipolitischen Feld gegenüber eher distanziert. Zu nennen wären hier Kurt Kliem und Hanno Drechsler, der von 1970 bis 1992 Oberbürgermeister Marburgs war, aber auch Karl Hermann Tjaden und Werner Link – beide wurden an die Gesamthochschule Kassel berufen – sowie Arno Klönne. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch Kurt Lenk, der 1956 in Frankfurt bei Adorno promovierte, in Marburg habilitierte und 1966 einen Ruf nach Erlangen-Nürnberg erhielt. Die jüngere Generation der Schüler Abendroths teilte sich in diejenigen auf, die in Marburg blieben und diejenigen, die einen Ruf an andere Hochschulen erhielten. Ein Beispiel für letztere ist Hans-Manfred Bock, der in Marburg und Paris studierte, 1967 bei Abendroth promovierte und 1972 einen Ruf an die Gesamthochschule Kassel erhielt. Erstere bilden nach heute üb­ lichem Verständnis den Kern der Marburger Schule. Zu nennen wäre hier Frank Deppe, der 1968 in Marburg promovierte, eine Stelle als akademischer Rat inne hatte und nach seiner Habilitation 1972 den Lehrstuhl für politische Wissenschaft übernahm, aber auch Georg Fülberth, Reinhard Kühnl oder Dieter Boris. Politisch besonders umstritten war ausgerechnet die Berufung des DDRFlüchtlings Hans Heinz Holz, der bei Ernst Bloch in Leipzig promovierte, wegen dessen Position zum Ungarn-Aufstand jedoch keine Promotionsurkunde mehr erhielt. Nach jahrelanger journalistischer Tätigkeit – unter anderem beim Hessischen Rundfunk – setzte er Ende der 1960er Jahren seine akademische Karriere fort und wurde 1971 in Marburg auf den Lehrstuhl für Philosophie berufen. Gegen Holz’ Berufung wurde öffentlich scharf polemisiert; so erschien in der Süddeutschen Zeitung ein Beitrag Iring Fetschers, der in Zusammenhang mit der geplanten Berufung den Generalverdacht erhob, in Marburg werde eine »auf ein Monopol abzielende Kaderpolitik«34 betrieben. Diese Polemik ist insofern charakteristisch für die Polarisierung des politischen und akademischen Feldes, als Fetscher lange Zeit mit Abendroth kollegial zusammengearbeitet hatte. In dieser Phase war die Kooperation zwischen Marburg und Hannover noch nicht durch die Auseinandersetzungen über die Berufsverbote und die DDR-Dis­ sidenten belastet, wie ein Brief Oskar Negts an Hans Heinz Holz zeigt, in dem er in Bezug auf Fetschers Artikel scharf gegen den Bund Freiheit der Wissenschaften polemisierte und für einen praktisch orientierten Marxismus an den Hochschulen eintrat.35 34 Süddeutsche Zeitung, 21./22.2 1971. Zit. nach Schmolke, Revision, S. 45. 35 Einen Durchschlag dieses Briefes v. 22.3.1971 ließ er Abendroth zukommen. Nachlass Abendroth im IISG Nr. 100. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Die inhaltlichen Differenzen schlugen sich dennoch deutlich in der Berufungspraxis nieder, von den engeren Schülern Abendroths wurde niemand nach Hannover berufen. Der Kern der Gesellschaftswissenschaften in Niedersachsen entstand aus dem Kreis um die Arbeitshefte. Von Oertzen rekrutierte, nachdem er einen Lehrstuhl an der TU Hannover übernommen hatte, seine Assistenten aus diesem Diskussionszusammenhang. Dazu gehörten Michael Vester, HansPeter Riesche, Thomas von der Vring und Wolfgang Hindrichs. Von der Vring wurde später Gründungsrektor der Universität Bremen, Riesche Vorsitzender des Gründungsausschusses der Universität Oldenburg und Reinhard Hoffmann Vorsitzender der Errichtungskommission der Juristischen Fakultät in Hannover. Mit Michael Schumann und Horst Kern prägten Mitglieder des Arbeitshefte-Kreises maßgeblich die Göttinger Industriesoziologie. Die Mehrzahl der Hannoveraner hatte zumindest zeitweise in Frankfurt bei Adorno studiert, so Thomas von der Vring, Michael Vester, Oskar Negt, Gudrun Axeli-Knapp und Regina Becker Schmidt. Es gab aber auch zahlreiche Querverbindungen zu Abendroth. Hans-Peter Riesche war beispielsweise ein politischer Schüler Fritz Opels, der, obwohl nur wenige Jahre jünger, selbst bei Abendroth promoviert hatte und als Berater Otto Brenners und Mitherausgeber der linkssozialistischen Zeitschrift Funken eng mit seinem Doktorvater zusammenarbeitete. Oskar Negts Positionen waren maßgeblich von Abendroth geprägt,36 beide kannten sich seit Ende der 1950er Jahre über den SDS. Und Jürgen Seifert, vor seinem Ruf nach Hannover Assistent von Arkadij Gurland in Gießen, hatte in der Redaktion der SoPo und im Kampf gegen die Notstandsgesetzgebung eng mit Abendroth kooperiert. Mit dem Umschlagen der antiautoritären Revolte Ende 1969 setzte ein Prozess ein, der zu einer Fraktionierung der Oppositionsbewegung führte und mit einer zunehmenden Verhärtung der politischen Positionen einherging. Damit aktualisierten und schärften sich auf unterschiedlichen Ebenen die Differenzen, die bereits in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre zwischen Abendroth und von Oertzen zu Tage getreten waren. Bis Ende der 1980er Jahre blieben diese konträren Positionen prägend. Die durch das Ende des Ost-West-Konflikts ausgelöste tiefe ideelle Krise der politischen und intellektuellen Linken führten schließlich zur Auflösung dieser Konfliktlinien; mit der Transformation der Universitäten im Zuge des Bologna-Prozesses sind sie weitgehend gegenstandslos geworden. Die mit »Marburg« und »Hannover« verbundenen Traditionslinien bilden jedoch eine Inspirationsquelle politischen Denkens, die möglicherweise im Zuge der gegenwärtigen Krise der vorherrschenden Gesellschaftswissenschaften aus ihrer Randstellung wieder stärker ins Zentrum der Debatten rücken könnten. 36 Exemplarisch: Oskar Negt, Gesellschaftsbild und Geschichtsbewußtsein der wirtschaftlichen und militärischen Führungsschichten. Zur Ideologie der autoritären Leistungs­ gesellschaft, in: Gerd Schäfer / Carl Nedelmann (Hg.), Der CDU-Staat, Bd. 2. Analysen zur Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik, Frankfurt a. M. 1967, S. 359–424. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

Tobias Freimüller

Psychoanalyse und Selbstaufklärung Alexander Mitscherlich und die Gründung des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts

Nach dem Tod Alexander Mitscherlichs im Sommer 1982 würdigte ihn sein Freund Jürgen Habermas in einem Nachruf in dem von Mitscherlich gegründeten psychoanalytischen Zentralorgan »Psyche«. Habermas sah in Mitscherlich nicht nur den Arzt und Psychoanalytiker, den Wissenschaftsmanager und Bestsellerautor, sondern vor allem einen Intellektuellen mit unvergleichlicher Wirkung: »Ich kenne in der Bundesrepublik keinen zweiten Wissenschaftler, der eine mentalitätsprägende Kraft in einem so breiten Publikum hätte entfalten können.«1 Mitscherlichs erster Biograph Hans-Martin Lohmann bezeichnete ihn wenige Jahre später als »moralisch-öffentliche Instanz« und als »Gewissen der Nation«2 Warum aber geriet Alexander Mitscherlich – ganz anders als sein Freund Theodor W. Adorno – nach seinem Tod so schnell in Vergessenheit? Worauf gründete sich seine große öffentliche Präsenz in den 1960er und 1970er Jahren und warum war diese offensichtlich so zeitgebunden? Wofür stand Mitscherlich und welche Bedeutung kam dabei seiner Operationsbasis zu, dem von ihm selbst gegründeten Sigmund-Freud-Institut?3

Von Jünger zu Freud Alexander Mitscherlich wurde 1908 geboren, er gehört damit zu jener »Generation des Unbedingten«, die Michael Wildt folgendermaßen charakterisiert hat: »Zukunft hieß für die Kriegsjugendgeneration, die bis dahin nur Instabi1 Jürgen Habermas, In memoriam Alexander Mitscherlich, in: Psyche 36 (1982), S. 1060– 1063, hier S. 1061. 2 Hans-Martin Lohmann: Alexander Mitscherlich, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 106. 3 Dieser Text beruht auf meinem Buch: Alexander Mitscherlich. Psychoanalyse und Gesellschaftsdiagnosen nach Hitler, Göttingen 2007. Zur Biographie Mitscherlichs bis in die frühe Nachkriegszeit vgl. auch: Martin Dehli, Leben als Konflikt. Zur Biographie Alexander Mitscherlichs, Göttingen 2007. Timo Hoyer hat die Lebensgeschichte Mitscherlichs später in einem »Portrait« noch einmal dargestellt: Timo Hoyer, Im Getümmel der Welt. Alexander Mitscherlich – ein Portrait, Göttingen 2008. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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lität, Diskontinuität und Zusammenbruch erlebt hatte, vor allem radikale Kritik am bürgerlichen Mummenschanz, an den hohlen Versprechungen liberaler Politiker, hieß Mißtrauen in die Steuerungsmedien bürgerlicher Gesellschaft, wie parlamentarische Demokratie, Gewaltenteilung und durch Gesetz verbürgtes Recht. Zukunft konnte in den Augen dieser Generation nur ein Gegenmodell zum Bestehenden, eine neue, radikal andere Ordnung sein, die ›wahre‹ Gemeinschaft stiftete und dem einzelnen einen verlässlichen Sinn gab.«4 Was Wildt hier auf das politische Engagement der von ihm erforschten Angehörigen des Reichssicherheitshauptamtes im NS-Staat bezog, lässt sich ebenso auf Alexander Mitscherlich anwenden. Auch er war ein Gegner der Weimarer Demokratie, auch er suchte nach einem radikalen Gegenmodell – und selbst als er nach 1945 längst zu einem der prominentesten linksliberalen Intellektuellen geworden war, behielt Mitscherlich den Gestus der Kritik, den Handlungsmodus des Protests und das Misstrauen gegenüber staatlicher Ordnung bei. Die Wurzel seiner Sozialisation zu einem Gegner der Demokratie erblickte Mitscherlich in seinen Memoiren in seinem Vater, den er als »brutal und erniedrigend« und als »große Angstquelle meiner Kindheit«5 empfand. Unter dessen strenger protestantisch-autoritären Erziehung habe er ebenso gelitten wie unter einer bis zur offenen Aggression reichenden Entfremdung der Eltern. Politisch war Harbord Mitscherlich ein klassischer Vertreter des wilhelminischen Bürgertums, dem Kaiserreich nachtrauernd, die Weimarer Republik ablehnend, der Sohn bezeichnete ihn rückblickend als »reaktionär«6 und als »rechtsextrem«7. Mit diesem Vorbild erklärte Mitscherlich rückblickend auch seine eigene »außerordentliche politische Unreife«8. Damit meinte er die Tatsache, dass er sich als Medizinstudent in Berlin (zuvor hatte er zwei Jahre in München Geschichte studiert) zuerst dem Kreis um Ernst Jünger, und dann – als sich Jünger im Straßenkampf als weit weniger heroisch erwies als erwartet – an Ernst Niekisch annäherte, der die Zeitschrift »Der Widerstand« redigierte und den so genannten Widerstandsverlag führte. Mitscherlich stellte Niekischs Buch »Hitler. Ein deutsches Verhängnis« im November 1932 im Schaufenster der Buchhandlung aus, die er neben dem Studium betrieb. Seine Hinwendung zum Nationalbolschewismus Niekischs hat Mit-

4 Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2002, S. 850. 5 Alexander Mitscherlich, Ein Leben für die Psychoanalyse. Anmerkungen zu meiner Zeit, Frankfurt a. M. 1980, S. 11, 32 f. 6 Ebd, S. 13. 7 Manuskript der Sendung »Das Portrait. Alexander Mitscherlich« des Norddeutschen Rundfunks, Erstausstrahlung am 18.11.1975, Alexander Mitscherlich Archiv (AMA) IX, 42. 8 Mitscherlich, Leben, S. 9. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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scherlich rückblickend als »schwerste politische Fehldiagnose meines Lebens«9 bezeichnet, ohne allerdings auszuführen, dass Niekischs »Widerstand« vor allem als Ablehnung der Weimarer Republik zu verstehen war. Wenn es einen gemeinsamen Nenner zwischen Mitscherlich und seinen »Mentorfiguren«10 Niekisch und Jünger gab, so war es die Utopie der Revolution, des Umsturzes, des Neubeginns. Alle drei waren Gegner der Nationalsozialisten, aber vor allem Gegner der Demokratie von Weimar. Mit der Verhaftung des Niekisch-Kreises 1937 geriet auch Mitscherlich in Gestapo-Haft, kam allerdings schnell wieder in Freiheit und setzte dann sein Medizinstudium in Heidelberg bei Viktor von Weizsäcker fort. Bis Kriegsende arbeitete er (für den Wehrdienst zunächst untauglich, später unabkömmlich) in Heidelberg als Neurologe. 1941 wurde er mit einer Arbeit »Zur Wesensbestimmung der synaesthetischen Wahrnehmung« promoviert11. In Heidelberg knüpfte Mitscherlich Kontakte zu den dortigen sogenannten Widerstandskreisen, namentlich zu Karl Jaspers. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass er die Zeit des Dritten Reiches fast ausschließlich in Deutschland verbrachte, an einer außerordentlich nazifizierten Universität und in einer außerordentlich nazifizierten Fakultät. Nur die Wirren des Kriegsendes ver­ hinderten die Durchführung seines Habilitationsverfahrens 1945. Zu Recht wurde Mitscherlich in der Nachkriegszeit als »Antifaschist der Stunde Null«12 wahrgenommen. Seine Ablehnung Hitlers und des National­ sozialismus hatte sich durch die Erfahrung der Haft und durch den Kontakt zu intellektuellen Kreisen in Zürich und Heidelberg verstärkt. Als einer der wenigen politisch Unbelasteten seiner Generation geriet er 1945 in eine Schlüsselstellung in Heidelberg. Er war einer der wichtigen Ansprechpartner der amerikanischen Besatzer, wenn es um die Entnazifizierung und Wiedereröffnung der Universität ging; für einige Wochen wurde er gar Gesundheitsminister in einer Provinzialregierung des amerikanisch besetzten Gebiets Mittelrhein / Saar. Wenig später sollte Mitscherlich Gesundheitsminister in Hessen werden. Hier hätte eine aussichtsreiche politische Karriere beginnen können, doch Mitscherlich sah sich als Arzt – und lehnte ab. Das Wort vom »Antifaschisten der Stunde Null« wäre allerdings irreführend, wenn man damit eine Identifikation Mitscherlichs mit der Demokratie assoziieren würde. Ein Rückgriff auf positiv besetzte politische Ordnungsvorstellungen war ihm 1945 kaum möglich. Ein Denken in radikalen politischen Alternativen 9 Ebd. S. 85. 10 Ebd. S. 88. 11 Alexander Mitscherlich, Zur Wesensbestimmung der synaesthetischen Wahrnehmung. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde in der Medizin der Hohen Medizini­schen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität zu Heidelberg. Referent Viktor von Weizsäcker. Promotion am 12.5.1941 (unveröffentlicht, AMA VII, 45.1). 12 Hans-Martin Lohmann: Alexander Mitscherlich. Der Antifaschist in der Stunde Null, in: Frankfurter Rundschau, 11.5.1985. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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war die Folge. Mit Alfred Weber entwickelte er das Modell eines so genannten »freien Sozialismus«, das eine Kombination aus bürgerschaftlich organisierten Kleineinheiten und einer europäischen Integrationsperspektive entwarf, und die Idee des Nationalstaates gleichsam ausklammerte. Eine gleichnamige Broschüre erschien im Februar 1946, blieb allerdings ohne nennenswertes Echo.13 Wissenschaftlich stand Mitscherlich in der Tradition Viktor von Weizsäckers und dessen »biographischer Medizin«, die sich letztlich als Teil einer neuen Anthropologie verstand. Noch zu Kriegszeiten hatte Mitscherlich zwei Bücher geschrieben: Seine Habilitationsschrift »Vom Ursprung der Sucht«14, sowie »Freiheit und Unfreiheit in der Krankheit«15, das 1946 erschien. Mitscherlich erwies sich nicht erst in den 1960er Jahren als Meister der einprägsamen Formulierung und der schlagenden Überschriften. Schon dieser frühe Titel bezeichnet präzise die zugrunde liegende Interpretation von psychosomatischer Krankheit. Die Krankheit entsteht, so Mitscherlich, indem der Kranke einen seelischen Konflikt in die Sphäre des Körperlichen verschiebt. Der Konflikt werde dann nicht in einem Prozess der Entscheidungsfreiheit ausgetragen, sondern im Kampf gegen die körperlichen Schmerzen. In diesem Sinne war für Mitscherlich die Neurose der Weg von der Freiheit in die Unfreiheit der Krankheit. Aufgabe des Therapeuten war es demzufolge, den Betroffenen zur Umkehr zu zwingen, um ihn zurück zur Freiheit führen. An die Psychoanalyse knüpfte der Neurologe Mitscherlich dabei zunächst nicht an, sondern an anthropologisches Gedankengut von Arnold Gehlen und Max Scheler.16 Frisch habilitiert, konnte er an der Heidelberger Universität ein kleine psychosomatische Abteilung durchsetzen: allerdings in zähem Streit mit unwilligen Ordinarien (aus der Medizin, vor allem aus der Psychiatrie), die die »biographische Medizin« misstrauisch beäugten – zudem galt Mitscherlich in Folge seiner kritischen Berichterstattung über den Nürnberger Ärzteprozess17 als Nestbeschmutzer seiner Zunft. 13 Alexander Mitscherlich / Alfred Weber, Freier Sozialismus, Heidelberg 1946. 14 Alexander Mitscherlich, Vom Ursprung der Sucht. Eine pathogenetische Untersuchung des Vieltrinkens, Stuttgart 1947. 15 Ders., Freiheit und Unfreiheit in der Krankheit. Das Bild des Menschen in der Psycho­ therapie, Hamburg 1946. 16 Vgl. Alfred Krovoza / Christian Schneider, Politische Philosophie – politische Psychologie. Über das Verhältnis von Kritischer Theorie und Psychoanalyse nach 1945, in: Tomas Plänkers u. a. (Hg.), Psychoanalyse in Frankfurt am Main. Zerstörte Anfänge, Wiederannäherung, Entwicklungen. Tübingen 1996, S. 630–653, hier S. 644, Anm. 3; Thomas Henkelmann, Zur Geschichte der Psychosomatik in Heidelberg. Viktor von Weizsäcker und Alexander Mitscherlich als Klinikgründer, in: Psychotherapie, Psychosomatik, Med. Psychologie 42 (1992), S. 175–186, hier S. 177. 17 Alexander Mitscherlich / Fred Mielke, Das Diktat der Menschenverachtung. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Quellen, Heidelberg 1947; dies., Wissenschaft ohne Menschlichkeit. Medizinische und eugenische Irrwege unter Diktatur, Bürokratie und Krieg, Heidelberg 1949; dies., Medizin ohne Menschlichkeit, Frankfurt a. M. 1960. Vgl. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Die 1950 eröffnete Abteilung für allgemeine Therapie der klinischen Universitätsanstalten Heidelberg wurde zur Keimzelle der Psychosomatik in der Bundesrepublik. Damit ging auch eine Emanzipation Mitscherlichs von Viktor von Weizsäckers philosophisch aufgeladener »neuen Heilkunde« einher. Von ihr war in Heidelberg fortan nicht mehr viel zu hören. Stattdessen wurde der Kurs der Klinik zunehmend orthodox freudianisch. Auf einer langen Reise durch die Vereinigten Staaten hatte Mitscherlich 1951 gesehen, dass die Psychoanalyse in den USA als Instrument zur Heilung spezifischer Krankheiten verstanden wurde und auf breiter Front in die Krankenhäuser vorgedrungen war. Der Preis für diese Integration in die Medizin war allerdings die weitgehende Ent­ politisierung der Psychoanalyse, mancher sprach gar von ihrer Degradierung zur »Dienstmagd der Psychiatrie«18. Seelische Konflikte galten jenseits des Atlantiks zunehmend als »Störfälle«, als Fehlanpassung des Ich an die Umwelt. Gleichwohl nahm Mitscherlich im Laufe der 1950er Jahre die Psycho­analyse als Leitlinie medizinischen Handelns an und suchte seine wissenschaftlichen Anknüpfungspunkte im Ausland. Von der deutschen Tiefenpsychologie, die den NS-Staat mit einiger moralischer Beschädigung überstanden hatte,19 hielt er sich in vorsichtiger Entfernung; er reimportierte stattdessen die Psycho­ analyse aus ihrem Exil. Es gelang ihm, regelmäßig führende Kollegen aus dem Ausland zu Vorträgen und Diskussionen nach Heidelberg zu bringen und dort eine neue Generation von Psychosomatikern auszubilden. Bereits in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre schien in Heidelberg der Rückstand gegenüber dem Ausland weitgehend aufgeholt.

auch Angelika Ebbinghaus / Klaus Dörner (Hg.), Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Folgen, Berlin 2001; Thomas Gerst, »Nürnberger Ärzteprozeß« und ärztliche Standespolitik. Der Auftrag der Ärztekammern an Alexander Mitscherlich zur Beobachtung des Prozeßverlaufs, in: Deutsches Ärzteblatt 91 (1994), Heft 22 / 23, S. 1200–1210; Jürgen Peter, Der Nürnberger Ärzteprozess im Spiegel seiner Aufarbeitung anhand der drei Dokumentensammlungen von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke, Münster ²1998. 18 Paul Parin, Bemerkungen zur Beschädigung der Psychoanalyse, in: Karl Fallend u. a. (Hg.), Der Einmarsch in die Psyche: Psychoanalyse, Psychologie, Psychiatrie im Nationalsozialismus und die Folgen, Wien 1989, S. 53–59; Russell Jacoby, Die Verdrängung der Psychoanalyse oder Der Triumph des Konformismus, Frankfurt a. M. 1985. 19 Zur Geschichte der Psychoanalyse im Nationalsozialismus: Geoffrey Cocks, Psyche and Swastika. Neue Deutsche Seelenheilkunde 1933–1945, Diss. University of California, Los Angeles / Ann Arbor 1975; ders., Psychotherapy in the Third Reich. The Göring Institute, New York 1997 (zuerst 1985); Karen Brecht u. a., »Hier geht das Leben auf eine sehr merkwürdige Weise weiter…« Zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland, Hamburg 1985; Regine Lockot, Erinnern und Durcharbeiten. Zur Geschichte der Psycho­a nalyse und Psychotherapie im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1985. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Die Gründung des Sigmund-Freud-Instituts In der jungen Bundesrepublik kämpfte Mitscherlich wissenschafts- und universitätspolitisch als »one man army«20 (Erik Erikson) für die Psychoanalyse. Ohne selbst eine regelrechte Lehranalyse vorweisen zu können, wurde er Geschäftsführender Vorsitzender der »Deutschen Gesellschaft für Psychotherapie und Tiefenpsychologie«. Als solcher verhandelte er federführend über die Übernahme psychotherapeutischer Behandlung durch die Krankenkassen, über die 1956 schließlich erfolgte Einführung eines ärztlichen Zusatztitels »Psycho­ therapie« und vor allem über die Berechtigung psychosomatischer und psychoanalytischer Institute, Psychotherapeuten auszubilden. Auch Letzteres gelang ihm, allerdings war die Psychoanalyse – anders als die etablierte Psychiatrie – vorerst kaum in der Lage, tatsächlich Psychotherapeuten auszubilden, denn es fehlten in dramatischem Ausmaß Lehranalytiker. Das war der Hintergrund für Mitscherlichs Bestreben, ein Ausbildungs­ institut zu gründen. Seine Verbündeten fand er in Frankfurt. Max Horkheimer war durch Mitscherlichs Report über den Ärzteprozess auf ihn aufmerksam geworden und hatte ihn 1951 zu einer Konferenz über Perspektiven sozialpsychologischer Forschung in der Bundesrepublik eingeladen. 1952 wäre Mitscherlich, verzweifelt über die Widerstände, denen er in Heidelberg begegnete, fast an das Institut für Sozialforschung gewechselt. Es kam zwar nicht dazu, doch Mitscherlich blieb Horkheimer und Adorno eng verbunden, mit letzteren war er persönlich eng befreundet. 1956 mündete die Zusammenarbeit in eine Vortragsreihe zum 100. Geburtstag Freuds, eine (so Jürgen Habermas) »Oase in der intellektuellen Nachkriegswüste Deutschlands«21. Es gelang Mitscherlich und Horkheimer, bei den Universitäten Frankfurt und Heidelberg und bei der Rockefeller-Foundation die unvorstellbare Summe von 75.000 DM einzuwerben und die Crème de la Crème der internationalen Psychoanalyse aus Amerika, England und der Schweiz für Vorträge in Frankfurt und Heidelberg einzuladen. Die Vorlesungsreihe war ein Durchbruch für die Psychoanalyse in der Bundesrepublik und fand ein breites Echo. Jürgen Habermas erinnerte sich, ihm sei damals schlagartig klar geworden, dass hinter dem Namen Freud eine s­ eriöse

20 Fritz Redlich teilte Mitscherlich diese Charakterisierung seiner Person mit (Redlich an Mitscherlich, 25.5.1958, AMA III). 21 Mündliche Mitteilung Habermas an Falk Berger. Zit. nach Falk Berger, »Das Tragen eines Smokings wäre ein Fauxpas«. Die Veranstaltung zum 100. Geburtstag Sigmund Freuds im Jahre 1956, in: Tomas Plänkers u. a. (Hg.), Psychoanalyse in Frankfurt am Main. Zerstörte Anfänge, Wiederannäherung, Entwicklungen. Tübingen 1996, S.  335–348, hier S. 337. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Wissenschaft stehe. Ein »ganzer Kontinent von Wissenschaft war den deutschen Studenten bislang nicht zur Kenntnis gebracht worden!«22 Mitscherlich konnte an Anna Freud nach London vermelden, dass die gesamte Hessische Landesregierung, die Lehrkörper der Universitäten Heidelberg und Frankfurt, fünf Rektoren anderer Universitäten und der Bundespräsident unter den Teilnehmern gewesen waren. Schließlich hatte Ministerpräsident Zinn der Universität Frankfurt gar einen Lehrstuhl für Psychoanalyse geschenkt23 – und es war deutlich, wer ihn besetzen sollte. Dieser Lehrstuhl hätte das Ergebnis der seit Jahren von Mitscherlich und Horkheimer betriebenen Bemühungen um eine Ansiedlung der Psychoanalyse in Frankfurt sein sollen – doch die Universität lehnte die Einrichtung der Professur ab, um statt dessen einen Lehrstuhl für Erbgenetik zu fordern. Ein weiteres Indiz dafür, dass aus der Universität sowohl die Psychoanalyse, als auch Mitscherlich sabotiert wurden. Mitscherlich, Horkheimer und Zinn gaben aber nicht auf. 1957 überzeugte man den Forschungsrat Hessens und 1958 die DFG von der Notwendigkeit eines psychoanalytischen Instituts. Das 1960 eröffnete Institut und Ausbildungszentrum für Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin war dann ein klar psychoanalytisch orientiertes Ausbildungs- und Forschungsinstitut, und es hatte die Rechtsform einer Landesbehörde, denn nach allen Erfahrungen, die er in Heidelberg gesammelt hatte, erschien Mitscherlich die Universität nicht als geeignete Operationsbasis. Er wollte so unabhängig wie möglich arbeiten. Weil der Lehrstuhl für Mitscherlich in Frankfurt abgelehnt wurde, bleib er in Doppelfunktion Klinikleiter in Heidelberg und Institutsleiter in Frankfurt, Lange versuchte er, einen Direktor für das Frankfurter Institut zu gewinnen, doch niemand der Exilanten konnte sich entschließen, dauerhaft zurückzukehren. Infolge hartnäckiger Überzeugungsarbeit Adornos wurde Mitscherlich schließlich 1967 (im Alter von 59 Jahren) nach Frankfurt berufen. Sein Lehrstuhl für Psychologie, insbesondere Psychoanalyse und Sozialpsychologie war aber bezeichnenderweise nicht in der Medizinischen, sondern in der Philosophischen Fakultät angesiedelt. Was in Baden-Württemberg unmöglich blieb, gelang im sozialdemokra­ tischen Vorzeigeland Hessen. Mitscherlich, das Sigmund-Freud-Institut und die Psychoanalyse wurden mit großen Hoffnungen und offenen Armen empfangen. Ministerpräsident Georg August Zinn betonte in seiner Ansprache zur Er­ öffnung die demokratisierende Wirkung der Psychoanalyse: »Ein Staat, in dem die Erkenntnisse und das Verfahren der Tiefenpsychologie nicht nur bis tief in die Kliniken und ärztlichen Praxisräume, sondern auch in die Straf­gesetze, in den Strafvollzug, in die Schulzimmer und in die sozialen Berufe eindringen 22 Jürgen Habermas, Arzt und Intellektueller, in: Die Zeit, 23.9.1978; ders., Sigmund Freud – der Aufklärer, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.6.1956. 23 Lohmann, Mitscherlich, S. 85 f.; Mitscherlich, Leben, S. 190. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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können, ist wahrscheinlich irgendwie immun gegen Diktatoren«24, vermutete Zinn. Das Institut stützte sich noch auf Jahre vor allem auf Gastdozenten aus dem Ausland (zumeist Juden), bis allmählich wieder deutsche Lehranalytiker ausgebildet waren. Als das Institut 1964 in einen Neubau im Westend umzog und in Sigmund-Freud-Institut umgetauft wurde, nahm Mitscherlich in seiner Ansprache explizit darauf Bezug und dankte dem Ministerpräsidenten Zinn dafür, dass Hessen der lange verfemten Wissenschaft »Asyl gewährt« habe. »Um zu verstehen, wie uns zumute ist, muß man sich in die Lage der immer wieder des Landes verwiesenen Juden einfühlen und in ihre Dankbarkeit, wenn ihnen ein aufgeklärter oder wenigstens ein toleranter Staat eine Bleibe bot.«25 Anders als in Heidelberg verfügte man in Frankfurt nicht über Betten für psychosomatische Medizin. Ziel war neben der Ausbildung vor allem, die Psychoanalyse in gesellschaftlichen Zusammenhängen anzuwenden und Berufsgruppen wie Ärzten, Lehrern und Juristen psychoanalytische Erkenntnisse zu vermitteln. Doch während sich eine psychologische und eine Ambulanzabteilung unmittelbar in die Arbeit mit Patienten begeben konnten, blieb die Aufgabe der Sozialpsychologen unscharf umrissen.26 Man veranstaltete universitäre Seminare mit den Kollegen vom Institut für Sozialforschung, aber insgesamt gelang die Übersetzung der spezifisch Mitscherlichschen Verbindung von Psychoanalyse, Sozialpsychologie und Zeitkritik in institutionelle Struk­ turen nicht.

Alexander Mitscherlich als Intellektueller Mitscherlich wurde in den 1960er Jahren (wie sein Mitarbeiter Helmut Dahmer sagte)  zu der »marginalen Gruppe von oppositionellen Intellektuellen in der Bundesrepublik«27 gezählt. Er erschien als Arzt der deutschen Seele, als scharfsichtiger Diagnostiker einer Gemengelage deutscher Mentalitäten, der den Deutschen den Spiegel vorhielt, ob sie dies wünschten oder nicht. Seine Präsenz im Bildungsprogramm des Rundfunks, in der Presse und später im Fernsehen nahm seit den frühen 1950er Jahren stetig zu und konnte sich seit Mitte

24 Akten zur Eröffnungsfeier des Instituts und Ausbildungszentrums für Psychoanalyse und Psychosomatische Medizin in Frankfurt am 27.4.1960, AMA IIa, 11. 25 Alexander Mitscherlich, Eröffnungsansprache zum »1. Frankfurter psychoanalytischen Kongreß«, 14.10.1964, AMA VII, 35. 26 Hermann Argelander, Zur Geschichte des Sigmund-Freud-Instituts, in: Tomas Plänkers u. a. (Hg.), Psychoanalyse in Frankfurt am Main. Zerstörte Anfänge, Wiederannäherung, Entwicklungen. Tübingen 1996, S. 335–348, hier S. 380. 27 Helmut Dahmer, In memoriam Alexander Mitscherlich. In: Psyche 36 (1982), S. 1071 f. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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der 1960er Jahre durchaus mit der Adornos messen28. Für Radio- und Zeitungs­ macher war er eine Idealbesetzung. Seine Formulierungsgabe, seine Lust an polemischer Zuspitzung, aber natürlich auch sein Fachgebiet machten ihn interessant. Der gravitätische Ernst seines Freundes Adorno war ihm fremd – und der Verzicht auf eine theoretische Fundierung seiner psychologischen Deutungen erleichterte deren Verständnis beim Publikum ungemein. Und Mitscherlich machte auch klar, dass Sozialpsychologie keineswegs eine Wissenschaft war, die sich im Diskurs weniger Eingeweihter erschöpfte. Jedes Thema konnte psychologisch betrachtet werden: Er sprach beispielsweise zur Zukunft des geteilten Deutschlands29, über »Möglichkeiten und Gefahren moderner Kunst«30, oder (durchaus autobiographisch) zu der Frage: »Warum fährt man in Bayern so leicht aus der Haut?« Die Titel seiner Bücher (Medizin ohne Menschlichkeit, Die Vaterlose Gesellschaft, Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Die Unfähigkeit zu trauern) gingen in den Sprachschatz der Republik ein. Der Weg vom Neurologen zum kritischen Intellektuellen war dabei weniger umwegreich, als es scheinen mag. Schon die »biographische Medizin«, die Weizsäcker und Mitscherlich in den 1940er Jahren betrieben hatten, reichte über die Perspektive des kranken Individuums hinaus. Die Erfahrung des Nationalsozialismus säte umso mehr Zweifel an der Kultureignung des Menschen und führte Mitscherlich zu einem anthropologischen Pessimismus, den er nie mehr ablegte. Staat und Politik konnten die moderne, desintegrierte Massengesellschaft ganz offenbar nicht vor dem »Massenwahn« schützen, sondern nur die Mündigkeit und Freiheit des Individuums. Und Freiheit hieß schon auf der Ebene von Krankheit Rückgewinnung von Selbstverantwortlichkeit und Mündigkeit. Als Mitscherlich nach 1950 die Psychoanalyse reimportierte, etablierte er sie in der Bundesrepublik nicht als bloße medizinische Hilfswissenschaft. Sie behielt für ihn ihren Anspruch, Erkenntnisse über massenpsychologische Fragen bereitzuhalten, und letztlich half sie ihm, seine zunächst sehr traditionelle – dann stark an David Riesmans »The lonely Crowd«31 orientierte  – »Massen­ psychologie« (in die sich immer auch antibürgerliche Reflexe der konservativen Revolution mischten) zumindest teilweise von ihrem Kulturpessimismus zu 28 Vgl. die Aufstellung über die Auftritte Adornos, Horkheimers und Mitscherlichs bei Clemens Albrecht, Die Massenmedien und die Frankfurter Schule, in: ders. u. a., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a. M. 1999, S. 203–246, hier S. 228–232. 29 Alexander Mitscherlich, Das Jahr verging  – was blieb? Vortrag im Radio Stuttgart, 30.12.1949, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Klaus Menne, 10 Bände, Frankfurt a. M. 1983, Band VI, S. 140 f. 30 Diskussion im Rahmen der Reihe »Das Menschenbild unserer Zeit« im HR, 20.7.1950. 31 David Riesman / Reuel Denney / Nathan Glazer, The lonely Crowd. A Study of the changing American Charakter, New Haven 1950 (dt.: Die einsame Masse. Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters, Darmstadt 1956). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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lösen. Betrachtete man sie nämlich psychoanalytisch, war die Massengesellschaft nicht mehr Ausdruck eines notwendigen geschichtlichen Verfallsprozesses, sondern ein anthropologisches und psychologisches Problem, das unter den Bedingungen der Moderne neu beantwortet werden musste. Die Therapie bestand in der Tiefenpsychologie, einer »Methode der Selbstvergewisserung in therapeutischer Absicht«.32 Die Methode Mitscherlichs, von individueller Psychologie umstandslos zur Massenpsychologie überzublenden, ist schon von den Zeitgenossen kritisiert worden. Und seinen Anspruch, das Allgemeine aus der einzelnen Kranken­ geschichte abzuleiten, löste er kaum jemals ein, so dass seine Texte »in den Augen eines theoretisch versierten Lesers mitunter rührend naiv und undurchdacht wirken«33. Fluchtpunkt der Sozialpsychologie Mitscherlichs war der Appell, die individuelle »kritische Ich-Leistung« zu stärken, nachdem ältere soziale Bindekräfte entweder (wie die Religion) von der Aufklärung hinweggespült, oder ihre nachlassende Kraft in der Katastrophe des Nationalsozialismus bewiesen hatten. In dem Appell an die kritische Mündigkeit des Individuums verbarg sich aber nur in zweiter Linie ein politischer Anspruch. Zunächst ging es um die individuelle und kollektive Suche nach der »Wahrheit über uns selbst«, wie Mitscherlich bei der Eröffnung des Sigmund-Freud-Instituts formulierte. Der Mensch stand in gleich doppelter Weise in Gefahr, die Zukunft zu verspielen: Einerseits drohte dem Individuum in der verwalteten Welt der Moderne die Orientierungslosigkeit und die Vergewaltigung durch die bewusstlos geschaffenen Verhältnisse – andererseits (und das unterschied ihn von Adorno) drohten in jedem Moment verborgene Affekte und Triebe die dünne Schale der Zivilisation zu sprengen. Zur zentralen Metapher der Zeitdiagnosen Mitscherlichs wurde der (von Freud und Paul Federn34 entlehnte)  Begriff der »vaterlosen Gesellschaft«, der seinem Bestseller von 1962 den Titel gab. Der Titel sprach ein ganzes Bündel von Vorerfahrungen an: Die des im modernen Arbeitsleben für Kinder unsichtbar werdenden Vaters, den Verfall väterlicher Autorität angesichts eines beschleunigten gesellschaftlichen Wertewandels, insbesondere bei den Jüngeren, die ihre Väter (wie Micha Brumlik geschrieben hat) als »Versehrte, Verbrecher

32 Alexander Mitscherlich, Ödipus und Kaspar Hauser. Tiefenpsychologische Probleme in der Gegenwart, in: ders., Gesammelte Schriften, Band VII, S. 151–163, hier S. 163 (zuerst in: Der Monat 3 (1950), S. 11–18). 33 Helmut König, »Die allezeit und immer wieder unterschätzte Gewalt der Triebnatur«. Alexander Mitscherlichs Ideen zur Sozialpsychologie, in: Herbert Bareuther u. a. (Hg.), Forschen und Heilen. Auf dem Weg zu einer psychoanalytischen Hochschule. Beiträge aus Anlaß des 25-jährigen Bestehens des Sigmund-Freud-Instituts, Frankfurt a. M. 1989, S. 210–233, hier S. 215. 34 Paul Federn, Zur Psychologie der Revolution. Die vaterlose Gesellschaft, Wien 1919. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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oder Abwesende«35 erlebten, schließlich die reale Vaterlosigkeit einer ganzen Generation infolge des Krieges (obwohl diese eigentlich naheliegendste Dimension von Mitscherlich überhaupt nicht erwähnt wurde). Doch es war noch mehr gemeint: »Der Abschnitt der Geschichte, an dessen Beginn wir teilnehmen, leitet das Ende der Vorherrschaft paternitärer Herrschaftsgebilde ein, es zeichnet sich eine Epoche der vaterlosen Gesellschaft  – umfassender: einer Gesellschaft, die der Vormundschaft entwachsen ist – in vielen Einzelerscheinungen ab. Was von den alten Ufern aus wie anarchische Entzügelung sich ausnimmt, kann auch als Probierhandeln auf der Suche nach neuen Lösungen gedeutet werden.«36

Das Bild einer vater- und orientierungslosen Gesellschaft entstand, die der Gefahr ihres Untergangs in Desintegration und Entmündigung nur entgehen könne, wenn sie das Projekt einer »Fundamentaldemokratisierung« in Angriff nähme. Es gehe, so hieß es wörtlich, um eine »Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse« und um die »Evolution zum Bewusstsein«. Mit seinen Darlegungen zu einer modernen Erziehungspraxis, zur Ausbildung der Toleranz als Leitwert und zur Überwindung des so genannten »Dressatgehorsams« schien Mitscherlich sogar eine Art Programm zur kollektiven Bewusstseinsbildung zu formulieren, just als die Debatten über strukturelle politische und moralische Defizite wie die »unbewältigte Vergangenheit« oder die »Bildungskatastrophe« zunahmen, und einige Jahre bevor Karl Jaspers 1966 fragte: »Wohin treibt die Bundesrepublik«37 Diese Vision einer Zukunftsgewinnung durch Mündigkeit am Ende der Adenauer-Ära meinte Jürgen Habermas, wenn er in einer Rezension schrieb, Mitscherlichs Buch leiste eine »psychoanalytische Konstruktion des Fortschritts«38. Wo Mitscherlich die Gefahren einer Gesellschaftsordnung beschrieb, die durch Vorurteile der Menschen unwissend stabilisiert werde, stand er nahe bei der Kritischen Theorie und bei Herbert Marcuses »repressiver Toleranz«. Andererseits waren Mitscherlichs Idealbegriffe des selbständigen Gewissens und des kritischen Bewusstseins im Grunde Charaktereigenschaften des bürgerlichen Individuums früherer Jahrhunderte, die in der Massengesellschaft verloren zu gehen drohten und unter den veränderten Bedingungen der Moderne gleichsam zurückerobert werden sollten. In diesem Sinne erscheinen Buch und Autor dem 35 Micha Brumlik, Abwesende Väter. Über das Fehlen der realen Vaterlosigkeit in Alexander Mitscherlichs »Vaterloser Gesellschaft«, in: Mittelweg 36, 15 / 4 (2006), S. 61–72. 36 Alexander Mitscherlich, Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozial­ psychologie, München 1963, S. 247 f. 37 Karl Jaspers, Wohin treibt die Bundesrepublik? Tatsachen, Gefahren, Chancen, München 1966. 38 Jürgen Habermas, Eine psychoanalytische Konstruktion des Fortschritts, in: Merkur 17 (1963), Heft 7, S. 1105–1109. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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heutigen Leser durchaus (wert)konservativ. Mitscherlich gelangte nach 1945 gleichsam von der konservativen Seite zu einem Begriff von Individualisierung, der sich in den 1960er Jahren bruchlos mit radikaldemokratischen Vorstellungen amalgamieren ließ – auch deshalb, weil Mitscherlich nach wie vor jedem gesellschaftlichen Ordnungsentwurf misstraute, auch der Bonner Demokratie. Er verteidigte nicht die Bundesrepublik, sondern ermunterte dazu, sich gegen herrschende Umstände kritisch zur Wehr zu setzen. Die Anknüpfungspunkte für Mitscherlichs Denken lagen wissenschaftlich wie politisch in der Weimarer Republik. Sowohl der Reimport der Psycho­ analyse nach 1945 wie der Impetus des kritischen Intellektuellen, der sich gegen die Gefahren des politischen »Massenwahns« und gegen staatliche Ordnungsvorstellungen wappnen und gegebenenfalls zur Wehr zu setzen hatte, lassen sich als Versuche lesen, eine Brücke nach Weimar zu bauen. Damit stand Mitscherlich quer zum soziologischen Diskurs der Zeit, der (nicht nur in Helmut Schelskys »skeptischer Generation«39) mit Empirie und Fortschrittsoptimismus die moderne Industriegesellschaft durchaus versöhnlich und positiv betrachtete. Die Erfahrung, dass auch Regeln, Verfahren und Institutionen die Demokratie stabilisieren können, war Mitscherlich fremd. Er richtete seine Hoffnungen immer auf das »politisch aktivierbare Individuum«40. Auch sein eigenes politisches Engagement entfaltete sich folgerichtig nicht in der ihm nahestehenden SPD, sondern in öffentlichem Protest und tagesaktuellen Stellungnahmen – schließlich auch in der von ihm mit gegründeten »Humanistischen Union«, die als kritische überparteiliche Sammlungsbewegung an vielen Fronten beharrlich für die Liberalisierung der Bundesrepublik kämpfte. Als sich der außerparlamentarische Honoratiorenverein einiger Intellektueller aber im Laufe der 1960er Jahre mit vermeintlich sektiererischen Bestrebungen seiner rasch wachsenden Ortsgruppen und der Humanistischen Studentenunion (HSU) konfrontiert sah, verlor Mitscherlich das Interesse. Im konkreten Fall konnte er die basisdemokratischen Ansprüche der Mitglieder nicht als hoffnungsvolles Zeichen für deren Emanzipation zu kritischem Bewusstsein deuten, sondern empfand sie als hemmend für die öffentlichkeitswirksamen Interventionen der HU, die vor allem durch die Namen der prominenten Unterzeichner und Unterstützer ihre Schlagkraft erhielten. Dieses letztlich elitäre Rollenverständnis des Intellektuellen spiegelt sich auch in Mitscherlichs sozialpsychologischen Schriften. Woher das Individuum Ansatzpunkte und Kraft für die Emanzipation zum kritischen Bewusstsein überhaupt gewinnen sollte, wenn es doch im Sinne des Gehlen’schen »Mängel39 Helmut Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf 1957. 40 Karola Brede, Alexander Mitscherlich. Leben, Zeitgeschichte und psychoanalytische Aufklärung, in: Günther Böhme (Hg.), Die Frankfurter Gelehrtenrepublik, Idstein 1999, Neue Folge, Idstein 2002, S. 61–86, hier S. 79. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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wesens« die Erosion traditioneller Ordnungen als Orientierungsverlust empfinden musste, blieb unklar. Therapie und ihr Ziel fielen in eins: die Stärkung der kritischen Ich-Leistungen,41 und die Vision der fundamentaldemokratisierten Massengesellschaft blieb ein hoffnungsvoller Appell – der Erfolg blieb fraglich. Der Weg in die vaterlose Gesellschaft konnte in einer durch individuelle Bewusstseinsbildung neu integrierten Gesellschaft enden, er konnte aber auch fehlgehen. Diese Doppelung aus düsterer Diagnose und Therapiehoffnung machte wohl nicht zuletzt den Reiz des Buches in den 1960er Jahren aus.

Der Intellektuelle und sein Publikum Der Leserschaft ging es, liest man die zahlreichen Zuschriften, die Mitscherlich erreichten, nicht um eine kohärente psychoanalytische Theorie. Die Anschlussfähigkeit der Diagnosen einer »vaterlosen Gesellschaft« und einer »Unfähigkeit zu trauern«42 (1967) lag nicht in ihrer theoretischen oder empirischen Beweiskraft, sondern in der scharfen Beobachtung und unerschrocken-kritischen Beschreibung eines in der Luft liegenden Problems. Insofern hat Detlev Claussen mit seiner kritisch gemeinten Bemerkung in doppelter Weise Recht, wenn er sagt, dass in der psychologischen Betrachtung eines Kollektivs eine »schon überwunden geglaubte Völkerpsychologie« sichtbar werde, die »unmittelbar anschlußfähig für jeden (Nicht)experten« ist.43 Mitscherlichs Texte trafen nicht den Ton der abgewogenen Analyse, sie kamen im Modus der Kritik daher, der den früheren an Karl Jaspers angelehnten pathetischen Grundton abgelöst hatte. Das psychoanalytische Vokabular entfaltete beim Publikum den Reiz des Unbekannten und die psychologische Deutung ermöglichte die faszinierende Entdeckung, dass es eine Beschreibungsebene individueller und kollektiver Prozesse, Probleme, Nöte und Ängste jenseits des Rationalen gab. In diesem Sinne wurde Mitscherlich nicht als Arzt oder als Psychoanalytiker zu einem öffentlichen Intellektuellen. Das interessierte linksliberale Publikum schätzte den kritischen Geist, der unerschrocken unbequeme Wahrheiten aussprach und die Probleme der Zeit psychologisch ergründete, zeigte aber wenig Neigung, die Psychoanalyse als Instrument gesellschaftlichen Fortschritts so ernst zu nehmen, wie Mitscherlich dies tat. Einen disziplinären Ort in den Koordinaten des Wissenschaftsbetriebs gab es für Mitscherlichs Standpunkt zwi41 König, Sozialpsychologie, S. 230. 42 Alexander Mitscherlich / Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grund­ lagen kollektiven Verhaltens, München 1967 43 Detlev Claussen, Über Psychoanalyse und Antisemitismus, in: Psyche 41 (1987), S. 1–21. Wiederveröffentlicht in: Alfred Krovoza (Hg.), Politische Psychologie. Ein Arbeitsfeld der Psychoanalyse, Stuttgart 1996, S. 94–116, hier S. 97. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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schen Psychoanalyse, Sozialpsychologie, Anthropologie und Soziologie ohne­ hin nicht. Eine Tradition, eine wissenschaftliche Schule, gar eine Theorie einer gesellschaftskritischen Psychoanalyse hinterließ er nicht. Mit den Analysen der Kritischen Theorie aus dem benachbarten Institut für Sozialforschung habe er als »ziemlich unphilosophischer Kopf« nicht mithalten können, schrieb Mitscherlich in seinen Memoiren. »Mein Denken […] ging immer von sinnlich konkreten Anlässen aus, vom ›Patienten und seiner Krankheit‹«44. Auf der »freundschaftlichen und politischen Ebene« zählte er sich dagegen sehr wohl zur Frankfurter Schule – und zu dem diffus definierten linksliberalen Milieu kritischer Oppositioneller. Liest man die hier ausgetauschten Briefe, gewinnt man den Eindruck, dass die den Beteiligten klar vor Augen stehende »gemeinsame Sache« ihre Konturen durch Abgrenzung gewann – und innerhalb eines Bedrohungsszenarios. René König etwa schrieb 1969 an Mitscherlich bezeichnenderweise im Duktus des politischen Widerstands: »Heute noch sehe ich in so vielen öffentlichen Stellungnahmen gegen unsinnige Entscheidungen in der Bundesrepublik Ihren Namen, meinen Namen und die Namen von einigen anderen, die ich manchmal gar nicht kenne, die ich aber präsumtiv als meine Freunde betrachte, genau wie Sie. Die Zahl derer, die nach wie vor den Kopf oben halten, ist bedauerlich zusammengeschrumpft.«45 Die Generation König-Mitscherlich-Adorno bezog sich auf die Erfahrung des Untergangs der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus. Das Zutrauen in die Stabilität der Demokratie war labil. So wurde Mitscherlich auch zu einem der engagiertesten öffentlichen Fürsprecher und Verteidiger der Acht­ undsechziger. Wo, wenn nicht hier, schien die »Stärkung der kritischen IchKräfte« und die Evolution zum Bewusstsein tatsächlich in Angriff genommen zu werden? Sowohl Margarete Mitscherlich als auch der Chronist der Frankfurter Schule Clemens Albrecht haben den Einfluss der Psychoanalyse auf die Protest­ bewegung höher eingeschätzt als den der Kritischen Theorie.46 Doch tatsächlich richtete sich das Interesse der studentischen Jugend, so musste Mitscherlich erkennen, nur im Sinne einer instrumentellen Aneignung auf die Psychoanalyse als Revolutionswissenschaft – Antworten wurden aber nicht bei Freud und Mitscherlich, sondern bei Erich Fromm, Herbert Marcuse und vor allem bei

44 Mitscherlich, Leben, S. 206. 45 René König, Psychoanalyse und Zeitkritik, in: Psyche 37 (1983), S. 921–934, hier S. 921. 46 Clemens Albrecht, Die Frankfurter Schule in der Geschichte der Bundesrepublik, in: ders. u. a., Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a. M. 1999, S.  497–529, hier S.  525; Margarete Mitscherlich-Nielsen, Das Sigmund-Freud-Institut unter Alexander Mitscherlich – ein Gespräch, in: Tomas Plänkers u. a. (Hg.): Psychoanalyse in Frankfurt am Main. Zerstörte Anfänge, Wiederannäherung, Entwicklungen, Tübingen 1996, S. 385–412, hier S. 410 f. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Wilhelm Reich gesucht.47 Mitscherlichs Vorlesungen waren chronisch überfüllt, aber nur wenige gingen den mühsamen Weg der psychoanalytischen Ausbildung, sondern – so klagte Horst-Eberhard Richter – »lasen schnell hier und dort in die psychoanalytische Literatur hinein und übten sich unverzüglich in einem dilettantischen wechselseitigen Herumanalysieren in ihren Kommunen und WGs«.48 Am Ende erwies sich für Mitscherlich, dass die Achtundsechziger sich eben nicht aufgemacht hatten, die kollektive Schärfung des Bewusstseins zu betreiben, sondern sich ihrerseits irrationalen Heilslehren hingegeben, sich in Konflikten ausagiert und schließlich zum Teil  den Weg in die Gewalt gefunden hatten. Die Jüngeren (auch im Sigmund-Freud-Institut) warfen ihrem Mentor umgekehrt mangelnde revolutionäre Konsequenz vor. An der Hauswand stand eines Tages geschrieben: »Mitscherlich ist ein Papiervater«. Im Sigmund-Freud-Institut gab es aber auch die entgegengesetzte Kritik. Vielen Psychoanalytikern missfiel Mitscherlichs öffentliche Präsenz, die in ihren Augen dem Ideal der seriösen, wissenschaftlich fundierten Arbeit mit den Patienten hinter verschlossener Tür zuwiderlief, der Psychoanalyse möglicherweise gar schade  – etwa eine unerbetene psychologische Analyse des aufstrebenden CDU-Politikers Rainer Barzel, die Mitscherlich im Fernsehmagazin »Report« ablieferte. Selbst über die These einer »Unfähigkeit zu trauern« sei es leichter gewesen mit ausländischen Gästen ins Gespräch zu kommen als mit den Institutsangehörigen, erinnerte sich Margarete Mitscherlich49 Im Institut war es allenfalls Klaus Horn, der in ähnlicher Weise wie der Direktor eine explizit gesellschaftskritische Sozialpsychologie vertrat.50 Tatsächlich war es nicht leicht, wissenschaftliche Beiträge Mitscherlichs zur Sozialpsychologie oder Psychoanalyse zu entdecken. Was er leistete, war deren institutionelle Verbreiterung und öffentliche Verteidigung. Beharrlich versuchte er auch, internationale psychoanalytische Literatur und Freuds gesammelte Schriften in der Bundesrepublik zu publizieren. Während dies bei Klett wegen Erfolglosigkeit schließlich eingestellt wurde, gelang bei Suhrkamp ab 1970 die Herausgabe der Reihe »Literatur der Psychoanalyse«, die durchaus ein 47 Als Raubdruck und ab 1966 in einer Neuauflage kursierte: Wilhelm Reich, Die sexuelle Revolution, Frankfurt a. M. 1966 (zuerst 1936 u. d. T. »Die Sexualität im Kulturkampf«). Vgl.: Horst-Eberhard Richter, Vorwort, in: Tomas Plänkers u. a. (Hg.): Psychoanalyse in Frankfurt am Main. Zerstörte Anfänge, Wiederannäherung, Entwicklungen, Tübingen 1996, S. 14–19, hier S. 15. 48 Ebd., S. 15. 49 Mitscherlich-Nielsen, Gespräch, S. 405 f. 50 Klaus Horn, Wie kommen wir zu einer »konstitutionellen Intoleranz« gegen den Krieg? Anmerkungen zum Einstein-Freud-Briefwechsel 50 Jahre danach, in: Psyche 38 (1984), S.  1083–1104; ders., Aggression und Gewalt. Vom gegenwärtigen Schicksal mensch­ licher Expressivität, in: Alfred Schöpf (Hg.): Aggression und Gewalt, Würzburg 1985, S. 123–145. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Gegengewicht bildete zu der Flut populärwissenschaftlicher Literatur, die den »Psycho-Boom« der 1970er Jahre begleitete. Bei Fischer konnte Mitscherlich ab 1969 eine deutsche Gesamtausgabe der Schriften Freuds herausgeben.51 Schon zur Zeit seiner Emeritierung 1973 war Mitscherlich gesundheitlich angeschlagen, 1976, sechs Jahre vor seinem Tod, zog er sich von der Leitung des Sigmund-Freud-Instituts zurück. Unter seinem Nachfolger Clemens de Boor sank der Stern des Instituts rapide und die öffentliche Wahrnehm­barkeit kam an ein plötzliches Ende, auch weil de Boor im Kampf um knapper werdende öffent­liche Gelder den praktischen Nutzen der Psychoanalyse zu erweisen s­ uchte.52 Das Unbehagen mancher Analytiker an der sich daraus ergebenden »Medizinalisierung« des Instituts artikulierte sich 1983 / 1984 in zwei ­k ritischen Publikationen53, die aber keine Wende herbeiführten. Die Rolle des gesellschafts­ kritischen Psychoanalytikers übernahm nach Mitscherlichs Tod der in der Friedens­bewegung sehr aktive Horst-Eberhard Richter, der später selbst Direktor des Sigmund-Freud-Instituts wurde. Der seit den 1980er Jahren immer wieder geäußerten Kritik an einem vermeintlichen Desinteresse der psychoanalytischen Zunft an gesellschaftspolitischen Fragen wird man entgegnen müssen, dass die Politisierung der Psychoanalyse in der Bundesrepublik in den 1960er Jahren nicht die Normalität war, von der man später abwich, sondern ihrerseits eine singuläre Entwicklung, die wesentlich mit der Person Mitscherlichs zu tun hatte. Nimmt man die gesamte Nachkriegszeit in den Blick, so zeigt sich, dass die Psychoanalyse in der Bundesrepublik die im Ausland längst geschehene Integration in Psychologie, Soziologie, Medizin und Alltagssprache nachvollzog – ironischerweise wesentlich betrieben durch die wissenschaftspolitische »one man army« Mitscherlich und gleichzeitig gegen den eigentlichen Impetus des Intellektuellen Mitscherlich. In den 1980er Jahren erschien vielen jüngeren Analytikern die politische und moralische Aufladung der Psychoanalyse bereits wieder als befremdlich. Das war in den 1960er Jahren ganz anders gewesen, wie sich eine Mitarbeiterin des Sigmund-Freud-Instituts der ersten Stunde erinnert: »Das ›Institut und Ausbildungszentrum für Psychoanalyse und psychosomatische Medizin‹ […] war von Männern gegründet, die den Faschismus bewußt erlebt und aus ihm gelernt hatten, die entschlossen waren, Bausteine für eine neue Republik zu setzen, und tatkräftig genug, ihre Absichten zu verwirklichen. Die leitenden Mit­ arbeiter waren Leute mit langer, umwegreicher und vielschichtiger Bildung und Er51 Alexander Mitscherlich u. a. (Hg.): Sigmund Freud. Studienausgabe in 10 Bänden, Frankfurt a. M. 1969 ff. Siehe dazu auch: Ilse Grubrich-Simitis, Zur Geschichte der deutschsprachigen Freud-Ausgaben, in: Psyche 43 (1989), S. 773–802 und S. 889–911, sowie dies., Zurück zu Freuds Texten. Stumme Dokumente sprechen machen, Frankfurt a. M. 1993. 52 Mitscherlich-Nielsen, Gespräch, S. 408 ff. 53 Hans-Martin Lohmann (Hg.), Das Unbehagen in der Psychoanalyse. Eine Streitschrift, Frankfurt a. M. 1983; ders. (Hg.), Psychoanalyse auf der Couch, Frankfurt a. M. 1984. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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fahrung, berühmte Gäste aus dem Ausland verkehrten auf vertrautem Fuß. Wem kam dies alles mehr zugute als uns, dem wissenschaftlichen Nachwuchs des Hauses? Kinder aus der Zeit des Faschismus und des Krieges, herangewachsen und ausgebildet im deutschen Wirtschaftswunder, hatten wir Studien ergriffen, von denen unsere Eltern nichts wußten und wir selbst nur eine dunkle Ahnung in unserer Seele trugen.«54

54 Gemma Jappe, Klaus Horn und manche Anfänge im Sigmund-Freud-Institut. Ein Versuch, sich zu erinnern, in: Herbert Bareuther u. a. (Hg.), Forschen und Heilen. Auf dem Weg zu einer psychoanalytischen Hochschule. Beiträge aus Anlaß des 25jährigen Be­ stehens des Sigmund-Freud-Instituts, Frankfurt a. M. 1989, S. 302–304. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

IV. »Institutionen in einem Fall«: Öffentliche Intellektuelle

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Intellektueller als Nebenberuf: Jürgen Habermas

Wird in Feuilletons und öffentlichen Diskussionsrunden in regelmäßigen Abständen über das Fehlen kritischer Intellektueller geklagt,1 die mit einsichtsreichen Diagnosen und einer gewissen Autorität etwa die gegenwärtigen politökonomischen Krisen einordnen und verständlich machen könnten, so wird ebenso regelmäßig eine Ausnahme hervorgehoben: Jürgen Habermas. Zu seinem 80. Geburtstag erschien er gar als ›Supermacht Habermas‹ auf der ersten Seite der »Zeit«. Tatsächlich ragt Habermas unter allen, die sonst zwischen Richard David Precht und Peter Sloterdijk im deutschen Sprachraum als öffentliche Intellektuelle gelten, hervor wie kein anderer. Der Ruf des streitbaren Intellektuellen, der auch zu polemisieren versteht und Konfrontationen nicht aus dem Weg geht, ist Habermas seit den 60er Jahren zu eigen und angesichts der unzähligen Auseinandersetzungen, in die er verwickelt war, wohlbegründet. Schon sein allererste Veröffentlichung – ein 1953 unaufgefordert bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung eingereichter Artikel, in dem er sich kritisch zur unveränderten Neuauflage von Heideggers »Einführung in die Metaphysik« aus den 1930er Jahren äußert2  – verrät die Eigenständigkeit seines Urteils, die er 1967 mit dem indirekten Vorwurf des Linksfaschismus an Teile der Studierendenbewegung auf streitbare Weise bestätigt. Mitte der 80er Jahre ist es dann der sogenannte Historikerstreit, in dessen Mittelpunkt Habermas mit seiner Kritik an den Thesen Ernst Noltes gerät,3 und in den 90er Jahren reicht die Agenda des Intellektuellen von der Kritik am ›Asyl-Kompromiss‹4 bis zum geschichts­ politischen Normalisierungsdiskurs, der die neue Ära der Berliner Republik begleitet.5 Schon zu jener Zeit, aber vor allem nach den gescheiterten Referenden 1 Habermas hat mit Blick auf diese schon rituelle Klage auch sich selbst mit eingeschlossen: »Ich gestehe, dass ich davon nicht ganz frei bin.« Jürgen Habermas, Ein avantgardistischer Spürsinn für Relevanzen. Die Rolle des Intellektuellen und die Sache Europas, in: ders., Ach, Europa, Frankfurt a. M., S.77–87, hier S. 81. 2 Vgl. Stefan Müller-Doohm, Jürgen Habermas. Leben, Werk, Wirkung. Frankfurt a. M. 2008, S. 21. 3 Vgl. Jürgen Habermas, Apologetische Tendenzen, in: ders., Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt a. M. 1987, S.120–136. 4 Vgl. ders., Die zweite Lebenslüge der Bundesrepublik, in: Die Zeit 23 (1993). 5 Vgl. ders., 1989 im Schatten von 1945. Zur Normalität einer künftigen Berliner Republik, in: ders., Die Normalität einer Berliner Republik, 1995, S. 167–188. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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über eine europäische Verfassung in den Niederlanden und Frankreich, ist es insbesondere die europäische Entwicklung, die Habermas beschäftigt und in vielfältige Debatten verwickelt hat – von der Frage, ob sie eher einer konstitutionalistischen oder einer neoliberalen Logik folgen wird,6 über die Diskussion um die Existenz und Erforderlichkeit eines europäischen Demos7 bis hin zur deutschen Reaktion auf die derzeitige europäische Schuldenkrise.8 Mit alledem sind nur einige Interventionen Habermas’ in öffentlichen Auseinandersetzungen benannt. Sein Wirken ist nicht nur aufgrund seiner inhaltlichen Stellungsnahmen in Leitartikeln, Interviews und öffentlichen Vorträgen interessant, sondern auch, weil er ein öffentlicher Intellektueller ist, der zugleich eine klar umrissene Vorstellung darüber hat, was diese Figur und ihre Aufgaben ausmacht. Der erste Abschnitt des folgenden Beitrags ist der Rekonstruktion dieser Konzeption bzw. Habermas’ Selbstverständnis als Intellektueller gewidmet, das besondere Aufmerksamkeit verdient, da es, so zumindest die hier vertretene These, integraler Bestandteil seiner eigenen Gesellschafstheorie ist. Im folgenden Abschnitt wird diese These dahingehend erläutert und spezifiziert, als gezeigt wird, wie sich Habermas’ Selbstverständnis zwischen den späten 1960er Jahren und den frühen 1980er Jahren wandelt. Am Ende dieser Entwicklung steht eine Unterscheidung zwischen den Rollen des Wissenschaftlers und des Intellektuellen, die in gewisser Weise der Logik der Diskurstheorie geschuldet ist. Zum Ende meines Beitrags soll die vorgestellte Konzeption problematisiert werden, wobei ich in erster Linie immanent vorgehe, da der kritische Abgleich mit alternativen Konzeptionen des Intellektuellen von Gramsci bis Foucault zu weit in grundsätzliche theoretische Differenzen hineinführen und den gege­benen Rahmen sprengen würde. Die genannten Alternativen werden hier nur illustrativ herangezogen.

Der Habermassche Intellektuelle – Habermas als Intellektueller Habermas gehört zu den Theoretikern, die den Begriff des Intellektuellen nicht nur in allgemeiner Weise verwenden, sondern eine spezifische ­Konzeption von dessen Rolle und Aufgabengebiet entwickelt haben. Prominente Vertreter dieser Gruppe sind Georg Lukács mit dem Konzept des (sozialistischen) Partei­ intellektuellen, Antonio Gramsci mit der Theorie des organischen Intellektuellen, der im Gegensatz etwa zu Karl Mannheims wissenssoziologischen Vorstellungen nicht der mehr oder weniger freischwebenden Intelligenz, son6 Ebd., S.85. 7 Vgl. etwa Jürgen Habermas, Braucht Europa eine Verfassung, in: ders., Zeit der Übergänge, Frankfurt a. M. 2001, S. 104–129. 8 Vgl. ders., Ein Pakt für oder gegen Europa, in: ders., Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Frankfurt a. M. 2011, S. 120–129. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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dern der Klasse angehört. Dazu gehört zuletzt auch Michel Foucault, der in den 1970er Jahren die Idee des spezifischen Intellektuellen entwickelt, der weder im Namen einer Klasse noch im Auftrag einer Partei das Wort ergreift, sondern einzig auf der Grundlage seines Experten-Status in der Lage ist, strategisches Wissen über konkrete (institutionalisierte)  Mechanismen der Macht in den Diskurs einzuspeisen und vor allem auch selbst direkt tätig werden kann.9 Foucault hat den spezifischen Intellektuellen in Abgrenzung zum besonders in Frankreich etablierten Traditionsmodell des Intellektuellen beschrieben, das von Emile Zola und seinem berühmten »J’accuse!« bis hin zu den öffentlichkeitswirksamen Interventionen Albert Camus’ und vor allem Jean-Paul ­Sartres reicht. Bezeichnenderweise bleibt dieses Modell, das von Foucault als das des ›allgemeinen‹ Intellektuellen bezeichnet wird, im Gegensatz zu allen anderen (Partei-, organisch, spezifisch) unmarkiert, spricht der Angehörige dieses Typs doch vermeintlich im Namen der Vernunft und / oder Gerechtigkeit im Allgemeinen. Habermas’ Konzeption lässt sich dieser zuletzt genannten Vorstellung des Intellektuellen zuordnen, weist aber eine besondere Ausformung auf, die aus der grundsätzlichen Theorieanlage heraus erklärbar wird, die weiter unten noch genauer erläutert wird. Schließlich gilt Habermas’ besondere Aufmerksamkeit seit seiner Habilitationsschrift »Strukturwandel der Öffentlichkeit« der politischen Öffentlichkeit und ihrer Funktion für das, was er ab Anfang der 1990er Jahre als deliberative Demokratie bezeichnet. Der Intellektuelle ist der natürliche Bewohner dieser Sphäre, die sich in der späteren Theorie zwischen zweckrationale Systeme und Lebenswelt schiebt, aber auch zwischen Kultur und Politik vermitteln soll. Jene beiden Bereiche, so Habermas im Rückblick auf die deutsche Geschichte des Intellektuellentums und seiner Widersacher, seien in einer Arbeitsteilung zwischen den »Weimarer Meistern und Mandarinen« und den Experten des als reiner Machtkampf aufgefassten politischen Betriebs strikt voneinander getrennt worden: »Zwischen der Kultur der einen und der Politik der anderen bleibt für die politische Öffentlichkeit, und den Intellektuellen in ihr, kein Raum«.10 Dies verweist auf ein zentrales Merkmal von Habermas’ Konzeption: Der Intellektuelle ist für ihn ein Grenzgänger, der gleichzeitig die Grenzen zu verwischen sucht. Mit Blick auf das Verhältnis von Kultur und Politik bedeutet dies eine Absage sowohl an das Selbstverständnis einer akademischen Elite des Geistes, die sich nicht am profanen Geschäft der Politik die Hände schmutzig machen will, als auch an die komplementären Selbstabschottung der professio­ nellen Politikberater, die den politischen Betrieb für zu ernst halten, als dass 9 Vgl. dazu die Ausführungen in Michel Foucault, Truth and Power, in: ders., Power /  Knowledge. Selected Interviews and other Writings 1972–1977, New York 1980, S. 109– 134, hier S. 126 ff. 10 Jürgen Habermas, Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland, in: ders., Eine Art Schadensabwicklung, Frankfurt a. M. 1987, S. 25–54, hier S. 42. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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vor sich hin räsonnierenden Nicht-Praktikern Einfluss gewährt werden dürfte. Vermittelt über eine politische Öffentlichkeit soll nicht zuletzt durch das Wirken des Intellektuellen selbst die Durchlässigkeit jener Bereiche und die Rezeptivität für Argumente und Diskurse, die nicht ihrer eigenen Domäne entstammen, erhöht werden. Der Aufgabenbereich des Intellektuellen lässt sich hieran anschließend in zwei Dimensionen unterteilen, eine allgemein-strukturelle und eine spezifische. In der ersteren gilt es die Bedingung der Möglichkeit des Intellektuellentums selbst, d. h. die politische Öffentlichkeit, performativ zu produzieren und zu reproduzieren. Zwar gehört zu den Ermöglichungsbedingungen für intellektuelle Einmischungen auch der Rechtsstaat mit den durch ihn gewährten subjektiven Rechten, die unter anderem Privatpersonen bzw. solche des öffentlichen Lebens auch bei unbequemen Wortmeldungen gegen eine übergriffige Staatsmacht schützen. Aber dies allein reicht nicht aus, denn nur über eine politische Öffentlichkeit kann der Intellektuelle sich an ein »mehr oder weniger liberal gesinntes Publikum« wenden, welches ebenso zu seinen Ermöglichungsbedingungen zu zählen ist.11 Die strukturelle Aufgabenbeschreibung darf nicht dahingehend missverstanden werden, dass die Intellektuellen die ›eigensinnigen‹ Diskurse unterschiedlicher Sphären restlos in einen allumfassenden Austausch in der politischen Öffentlichkeit zu überführen hätten. Sie sollen vielmehr zwischen Sphären, Diskursen und Expertenkulturen vermitteln; deren Entdifferenzierung wäre für Habermas gleichzusetzen mit gesellschaftlicher Regression. Dem entspricht die spezifische Dimension des Aufgabenbereichs des Intellektuellen: »dieser engagiert sich nämlich (was ihn gleichermaßen vom Journalisten wie vom Dilettanten unterscheidet) für öffentliche Interessen gleichsam im Nebenberuf, ohne dafür seinen professionellen Umgang mit den eigensinnig strukturierten Sinnzusammenhängen aufzugeben, aber auch ohne sich andererseits vom politischen Betrieb vereinnahmen zu lassen.«12 Wie auch in anderen Bereichen seiner Theorie betont Habermas im Hinblick auf die Arbeit des Intellektuellen die Notwendigkeit, gesellschaftliche und kulturelle Ausdifferenzierungen anzuerkennen, soll nicht der wünschenswerte Prozess der lebensweltlichen Rationalisierung unterminiert werden. Gleichzeitig dürfen sich jene ausdifferenzierten Diskurse, Kulturen oder Systeme aber nicht gänzlich gegenüber externen Impulsen verschließen, wie Habermas es der Systemtheorie immer wieder als Perspektive unterstellt hat. Es gilt somit in einem Balanceakt Differenzierungen zu respektieren, aber doch einer kulturell-gesellschaftlichen Fragmentierung oder Segmentierung entgegenzuwirken. Eine Möglichkeit, dies zu erreichen, besteht nun eben in den produktiven Irritationen, die von den Interventionen des Intellektuellen ausgehen können. Gerade weil er zwar möglicherweise über fachliche Autorität in seiner eigenen 11 Ders., Spürsinn, S. 80. 12 Ders., Heine, S. 42. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Disziplin, aber nicht über Expertenwissen in dem in Frage stehen Bereich verfügt und sich ›nebenberuflich‹ in Debatten einmischt, kann er dem tendenziellen Autismus von Expertendiskursen entgegenwirken und sie für Anstöße offenhalten: Er »ist heute notwendiger denn je, um das Spektrum der strittigen Themen und Gründe zu erweitern und die politische Kommunikation offen zu halten.«13 Habermas hebt also den Intellektuellen immer wieder vom Experten ab, und es scheint so, als ob beider Ziele geradezu einander entgegengesetzt sind. Der Experte steht für einen im Fachjargon geführten Spezialdiskurs, dessen Logik sich von umfassenderen Gesichtspunkten zumindest in Teilen entkoppelt hat und für das Laien-Publikum opak bleibt, nicht zuletzt um die Definitionsund Deutungsmacht der Experten zu wahren. Diese Schließung von Diskursen versucht der Intellektuelle zumindest punktuell zu verhindern, nicht zuletzt mit einer Sprache, die allgemeinverständlich bleibt, aber auch den »Mut zur Polarisierung, zur anstößigen Äußerung, zum Pamphlet« aufbringt.14 Habermas selbst hat immer wieder versucht, die von ihm skizzierte Rolle des Intellektuellen auszufüllen. Das beste von vielen möglichen Beispielen ist möglicherweise der Historikerstreit, denn hier ist die Irritation auf Seiten der Fachhistoriker über die Einmischung eines vermeintlich dilettierenden Philosophen deutlich zu spüren. Umgekehrt geht von den zu erwartenden scharfen Reaktionen auch ein Irritationspotential für den Intellektuellen selbst aus: »Für den einzelnen ist das nicht nur ein Vergnügen; ich empfinde die Intellektuellenrolle oft als störend und irritierend für meine wissenschaftliche Arbeit.«15 Bevor wir uns aber die Bedeutung von Habermas’ eigenen Interventionen für seine wissenschaftlichen Arbeit und Theoriebildung ansehen, lohnt zum Abschluss dieser kurzen Phänomenologie des allgemeinen Intellektuellen Habermasscher Prägung noch ein Blick auf seine Krisendiagnostik bezüglich des Intellektuellentums. In einem Vortrag über Heinrich Heine umreißt Habermas eine Geschichte des deutschen Intellektuellen, die deutlich macht, dass deren Krise, so sie denn tatsächlich existiert, im historischen Rückblick eher den Normalzustand beschreibt. Denn Deutschland bilde im Gegensatz zu Frankreich erst spät eine Intellektuellenkultur heraus, die dann im frühen 20.  Jahrhundert massiver 13 Ders., Interview mit Hans-Peter Krüger, in: ders., Die nachholende Revolution. Frankfurt a. M. 1990, S. 82–98, hier S. 96 f. 14 Ders., Spürsinn, S. 84. Der als »Bürgerphilosoph« bezeichnete Richard David Precht sieht ebenfalls in der Sprache eine Barriere des Austauschs zwischen universitärer und politischer Öffentlichkeit: »Wie Platons Höhle schützt das schlechte Deutsch aus Passivsätzen, Substantivierungen und Fremdwörtern die Fakultäten vor dem Tageslicht der Gesellschaft.« Richard David Precht, Sie wollen nur spielen. Warum uns neue öffentliche Denker fehlen, in: Der Spiegel 45 (2008), S. 170–171. Vgl. zum Wirken des öffentlichen Intellektuellen Precht selbst: Ursula März, Unser Bürgerphilosoph, in: Die Zeit 2 (2011). 15 Habermas, Interview Krüger, S. 97. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Kritik ausgesetzt sei, welche sich in der schon oben angedeuteten Arbeitsteilung zwischen Mandarinen des Geistes und Experten der Praxis vollziehe. Erst nach dem Krieg trete mit Figuren wie Heinrich Böll oder Alexander Mitscherlich eine Generation von Intellektuellen an, die für eine gewisse Zeit tatsächlich prägend auf den politischen Diskurs von ›Vergangenheitsbewältigung‹ bis OstPolitik wirken könne. In den 70er Jahren setze dann ein Backlash gegen dieses vornehmlich links-liberale Intellektuellentum ein, der mit Versatzstücken der Intellektuellenschelte der 20er Jahre in erster Linie von konservativer Seite vorgebracht werde (Gehlen, Schelsky, Lübbe) aber nicht auf einen konservativen Gegenentwurf abziele, sondern auf eine Problematisierung des Intellektuellen als ›soziale Pathologie‹. Eine letzte, vor allem auf ostdeutsche Intellektuelle abzielende ›Welle‹ der Intellektuellenschelte verzeichnet Habermas dann im Gefolge der deutschen Einheit.16 Nicht zuletzt aufgrund dieser eher brüchigen Tradition des Intellektuellen in Deutschland folgert Habermas mit Bezug auf Foucaults Postulat des spezifischen Intellektuellen, dass man hier schon mit der halbwegs gelungenen Etablierung des allgemeinen Intellektuellen zufrieden sein müsse.17 Im Übrigen ist natürlich das Phänomen der Intellektuellenschelte auf interessante Weise verquickt mit der eingangs erwähnten Klage über das Fehlen von Intellektuellen, in jüngerer Vergangenheit beispielsweise in einem Essay der Publizistin Thea Dorn, die zwar fordert, dass Philosophen sich ins Hand­ gemenge der öffentlichen Auseinandersetzung begeben sollten, aber im gleichen Atemzug zumindest den Kandidaten unter 70 Jahren mehr oder weniger die Eignung abspricht: »Das Defizit der Jüngeren ist nicht, dass die Welt, in der sie aufgewachsen sind und jetzt leben, so harmlos wäre, dass nichts Erschütterndes mehr geschieht. Das Problem ist, dass sie sich von nichts erschüttern lassen.«18 Die grundsätzliche Forderung, sich von gesellschaftlich-politischen Entwicklungen affizieren zu lassen, deckt sich teilweise mit dem, was Habermas vom Intellektuellen erwartet: »Eine argwöhnische Sensibilität für Versehrungen der normativen Infrastruktur des Gemeinwesens. Die ängstliche Antizipation von Gefahren, die der mentalen Ausstattung der gemeinsamen politischen Lebensform drohen.«19 Dorn ist der Meinung, dass vor allem die zeitgenössische 16 Vgl. ders., Nützlicher Maulwurf, der den schönen Rasen zerstört. Lessing-Preis für Alexander Kluge in: ders., Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck. Philo­ sophische Essays. Frankfurt a. M. 1997, S. 136–149, hier S. 139. 17 »Die Rolle des Intellektuellen hat sich in Deutschland eigentlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt. Gemessen an der Dreyfus-Affaire bedeutet das eine Verzögerung von zwei Generationen. Wir können schon zufrieden sein, wenn sich bei uns mehr oder weniger das Sartresche Selbstverständnis des ›allgemeinen Intellektuellen‹ (­Foucault) verbreitet.« Jürgen Habermas, Interview mit Robert Maggiori, in: ders., Revolution, S. 29–36, hier S. 36. 18 Thea Dorn, Deutschland, keine Denker, in: Der Spiegel 42 (2008), S. 168–170, hier S. 169. 19 Habermas, Spürsinn, S. 84. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Philo­sophie im Zeichen von Postmoderne bis Postkolonialismus buchstäblich den Charakter der jüngeren Proto-Intellektuellen verdorben hat. »Und ist es nicht gerade das, was uns an ›den Alten‹ beeindruckt: dass sie ausgeprägte Charaktere sind, leidenschaftliche ›Ichs‹ …«, wogegen die jüngeren Zeitgenossen so sehr von des Gedankens Blässe und intellektuellem Ennui angekränkelt seien, dass sie sich nicht mehr emphatisch festzulegen vermöchten: »Wie soll ich mit Verve eine Position verteidigen, wenn ich mir von den Poststrukturalisten habe weismachen lassen, dass es nicht um Wahrheit gehe, sondern lediglich darum, die ›Sprecherposition‹ einzunehmen?«20 Doch diese Diagnose macht sich Habermas nicht zu eigen, obgleich auch er bekanntlich seit Anfang der 80er Jahre vor dem vermeintlichen ›Jungkonservatismus‹ warnt, dem die Philosophie der französischen Poststrukturalisten Vorschub leiste, und diesen Jungkonservatismus in die Nähe des Neokonservatismus rückt, der der zeitgenössischen Intellektuellenkritik in vielen Fällen zugrunde liege.21 Selbst dieser Habermas spricht mit Blick auf Foucault von der »leidenschaftlichen, selbstverzehrenden Teilnahme an der Aktualität des geschichtlichen Augenblicks«, die ein wichtiger Teil seines Denkens und Wirkens gewesen sei.22 Und angesichts der intellektuellen Biographien sowohl Foucaults als auch Derridas mit ihren unzähligen öffentlichen Einmischungen23 wirkt die These eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen postmodernem Denken im weitesten Sinn und der Unfähigkeit der öffentlichen Positionierung  – eine modifizierte Version des altbekannten Motivs der Klage über die fehlende Ernsthaftigkeit und Unverortbarkeit des Intellektuellen – auch nicht recht überzeugend. Habermas’ eigene Diagnose der zeitgenössischen ›Krise‹ der Intellektuellen betont dem gegenüber stärker strukturelle Entwicklungen, von denen hier zwei hervorzuheben sind. Mit dem Aufkommen digitaler Kommunikationsmedien sei erstens eine »Entformalisierung der Öffentlichkeit« verbunden, welche wiederum diese Öffentlichkeit – die ohnehin natürlich nur im Plural existiert – zu fragmentieren und segmentieren droht. Die Möglichkeit von Individuen, sich in internetbasierten maßgeschneiderten Selektiv-Öffentlichkeiten zu bewegen, in denen die interne Meinungshomogenität hoch und das Risiko kognitiver Dissonanzerfahrungen entsprechend niedrig ist, erschwert die Arbeit des Intellektuellen schon deshalb, weil er sich als Grenzgänger gerade derartigen

20 Dorn, S. 169. 21 Vgl. beispielsweise Jürgen Habermas, Die Kulturkritik der Neokonservativen in den USA und in der Bundesrepublik, in: ders., Die neue Unübersichtlichkeit, S. 30–56. 22 Ders., Mit dem Pfeil ins Herz der Gegenwart. Zu Foucaults Vorlesung über Kants Was ist Aufklärung, in: ders., Die neue Unübersichtlichkeit, S. 126–137. 23 Vgl. zu Foucault als öffentlichem Intellektuellen auch Thomas Biebricher, Habermas and Foucault as Public Intellectuals, in: Philosophy and Social Criticism 37 (2011), S. 709–734. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Selbst­abschottungen verweigern muss.24 Darüber hinaus führt aber die Entformalisierung insbesondere der digitalen Öffentlichkeit auch zu Verschiebungen in deren Aufmerksamkeitsökonomie, welche schon auf den öffentlichkeitsstrukturellen Kontext des zweiten von Habermas erwähnten Punktes verweist. Denn in »diesem Medium [dem Internet, T. B.] verlieren Beiträge von Intellektuellen die Kraft, einen Fokus zu bilden.«25 In der Unübersichtlichkeit der Selektiv-Öffentlichkeiten verpuffen etwa Leitartikel allzu leicht, wenngleich darauf hinzuweisen ist, dass das Internet auch die Möglichkeit beeindruckender ›NachrichtenKar­rieren‹ umfasst, jüngst etwa in der Kampagne gegen den Kriegsverbrecher Kony in Afrika.26 Bezeichnenderweise handelt es sich dabei allerdings um ein Video und die tendenzielle Verdrängung des Wortes durch das Bild als Medium, die sich auf einen ›Iconic Turn‹ zuspitzen lässt, führt uns nun zur zweiten Entwicklung, welche die Prägekraft des Intellektuellen auf gesellschaftliche Debatten schwächt. Denn bildvermittelte Diskurse rücken bestenfalls die Sprechenden in den Mittelpunkt, was laut Habermas zu einer Vermischung von Diskurs und Selbstdarstellung führt. Dies wiederum trage zu einer »Entdifferenzierung entsprechender Rollen« des Intellektuellen, Prominenten und Experten bei. Gerade letztere wären heute auch in der Lage, nicht nur ›technische‹ Daten, sondern auch die dazugehörigen »meinungsstarke[n] Interpretationen anzubieten«27 und können diese schließlich im digitalen Zeitalter auch ohne weitere Vermittlung beispielsweise über einen Blog einer virtuellen Öffentlichkeit zugänglich machen. Ruft man sich in Erinnerung, dass Habermas den Typus des Intellektuellen ­gerade in Abgrenzung zum Experten entwickelt hat, so muss die zunehmende Ununterscheidbarkeit zwischen beiden als veritable Krise des Intellektuellen betrachtet werden, welche durch die geschilderten strukturellen Bedingungen einer zusehends in die ›Blogosphäre‹ verlagerten Öffentlichkeit noch verschärft wird. Gleichwohl will Habermas an der speziellen Rolle des Intellektuellen festhalten und bindet dies letztlich an eine bestimmte Fähigkeit, sozusagen die intellektuelle Kerntugend: »Damit berühren wir die einzige Fähigkeit, die den Intellektuellen auch heute noch auszeichnen könnte – den avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen. Er muss sich zu einem Zeitpunkt über kritische Entwicklungen aufregen können, wenn andere noch beim business as usual sind.«28 Ob dies allerdings ausreicht, um das Verschwinden des Intellektuellen zugunsten des meinungsstarken Experten zu verhindern, muss fraglich bleiben. 24 Vgl. zu den Problemen des Internets im Hinblick auf öffentliche Diskurse Cass Sunstein, Republic.com, Princeton 2001. 25 Habermas, Spürsinn, S. 82. 26 http://www.youtube.com/watch?v=Y4MnpzG5Sqc, abgerufen am 18.07.2012. 27 Habermas, Spürsinn, S. 83. 28 Ebd., S. 84. Neben den schon erwähnten, führt Habermas noch folgende Tugenden auf: »Den Sinn für das was fehlt und ›anders sein könnte‹. Ein bisschen Phantasie für den Entwurf von Alternativen.« © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Philosoph und Intellektueller – Eine philosophisch-politische Arbeitsteilung Wie eingangs erwähnt verdienen Habermas’ Ausführungen zur Rolle des Intellektuellen auch deshalb besondere Aufmerksamkeit, weil er diesem auch in seiner Gesamttheorie eine klar definierte Aufgabe zuweist. Diese These soll hier zunächst erläutert, aber auch spezifiziert werden, um dann einige problematisierende Bemerkungen anzufügen, die auch die im vorigen Abschnitt dargelegte Krisendiagnostik noch einmal aufnehmen.29 Die Spezifizierung bezieht sich auf die Entwicklung in Habermas’ Denken, die sich auch auf sein (Selbst-) Bild des Intellektuellen niederschlägt. Denn in dem Maße, in dem Habermas seine reife Diskurstheorie entwickelt, kommt es auch zu einer immer expliziteren Differenzierung der Rollen des Philosophen auf der einen Seite und des Intellektuellen auf der anderen. Zeitlich verorten lässt sich diese doppelte Entwicklung zwischen dem Ende der 60er Jahre und dem Anfang der 80er Jahre. Erst im Rahmen der ausformulierten Diskurstheorie spielt der öffentliche Intellektuelle also eine systematische Rolle. Diese Rolle soll nun zunächst genauer erläutert werden. Im weiteren Verlauf werde ich kurz auf Habermas’ Wirken im Zusammenhang von Studierendenprotesten und Hochschulreform Ende der 60er Jahre zu sprechen, um den Kontrast mit Blick auf Habermas’ eigene Interventionen deutlich zu machen. Ein noch nicht ausdrücklich erwähntes Merkmal des Intellektuellen, das ­Habermas im deutschen Kontext erstmals bei Personen wie Alexander Mitscherlich oder Heinrich Böll gegeben sieht, ist für die Rolle des Intellektuellen von besonderer Bedeutung: »Der zugleich egalitär und fallibilistisch gewordene ›Geist‹, der sich in solchen Personen verkörperte, hatte beides abgelegt – den elitären Bildungshumanismus und den emphatischen Wahrheitsbegriff der platonisch gebliebenen Philosophie.«30 In einem anderen Kontext charakterisiert Habermas die Intellektuellen folgendermaßen: »Ohne Anspruch auf einen elitären Status können sie sich auf keine andere Legitimation berufen als die Rolle eines demokratischen Staatsbürgers.«31 Gerade weil der Intellektuelle neben­ beruflicher Grenzgänger ist, kann er nicht den Wahrheitsanspruch eines Experten erheben, sondern muss sich zurückziehen auf den Status eines hinreichend informierten und interessierten Citoyen unter vielen, deren Stimmen die wünschenswerte Kakophonie des öffentlichen Diskurses ausmachen. Diese Rolle erfüllt eine wichtige Funktion im Habermasschen Theoriehaushalt. Zwar wird man den Proponenten des ›nachmetaphysischen Denkens‹ nur schwerlich des 29 Vgl. zum folgenden auch Biebricher, S.719–721. 30 Habermas, Heine, S. 48. 31 Ders., Spürsinn, S. 80. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Platonismus bezichtigen können, und entsprechend soll ihm auch keineswegs ein metaphysischer Wahrheitsbegriff unterstellt werden. Aber zweifellos erhebt der Philosoph Habermas stärkere Wahrheitsansprüche als der Intellektuelle. Dies hat einen systematischen Grund, der am Beispiel einer Einmischung des öffentlichen Intellektuellen Habermas erläutert werden soll: die Rechtfertigung des Kosovo-Bombardements durch die NATO. Das NATO-Bombardement war bekanntlich nicht gedeckt durch eine UN-Resolution und wurde von Habermas mit einem zumindest bedenklichen Argument als humanitäre Intervention quasi im Vorgriff auf einen zukünftigen weltbürgerlichen Zustand im Sinne Kants gerechtfertigt.32 Hier lässt sich nun die Arbeitsteilung zwischen dem Philosophen und dem Intellektuellen Habermas aufzeigen. Als Philosoph hat Habermas eine Vielzahl von Argumenten für die normative Wünschbarkeit eines weltbürgerlichen Zustands aufgeboten. Diese Argumente basieren auf den Grundlagen seiner Diskurstheorie, die Habermas mit einem entsprechenden philosophisch gedeckten Wahrheitsanspruch vorzutragen und gegen Einwände zu verteidigen bereit ist. Aber es handelt sich hier – beim weltbürgerlichen Zustand wie beim Ideal der herrschaftsfreien Verständigung  – um zukünftige Zustände, was die schwierige Frage offen lässt, wie sie zu erreichen sind. Es bedürfte dessen, was zeit­ genössisch oftmals als ›Theorie des Übergangs (theory of transition)‹ bezeichnet wird. Eine solche Theorie ist jedoch nur schwer zu erstellen, müsste man sich doch anmaßen, die Kontingenz des Werdens im Zusammenhang mit hoch­ politischen und entsprechend konfliktträchtigen Prozessen in theoretischer Form zu fassen. Dies, so die hier vertretene These, traut sich aber gerade der Nachmetaphysiker und Diskurstheoretiker Habermas nicht (mehr) zu, geht es doch im Extremfall wie der Kosovo-Intervention um Fragen von Leben und Tod. Zwar hat man es hier nicht mit existenziellen Entscheidungen im emphatischen Sinn zu tun, die letztlich jenseits rationaler Erwägungen getroffen werden müssten, wie ein Schmittscher Dezisionismus nahelegen würde, doch der Philosoph muss zurückstehen, und an seiner Stelle ergreift der Intellektuelle Habermas das Wort. Auch er trägt Argumente vor und versucht in diesem Sinne durchaus Meinungs- und Willensbildungsprozesse rational zu gestalten. Dennoch agiert er mit einem geschärften Bewusstsein der eigenen Fallibilität und will für sich und die von ihm vertretenen riskanten politischen Umsetzungsstrategien nicht mehr Autorität in Anspruch nehmen als alle anderen Bürgerinnen und Bürger. 32 Ders., Bestialität und Humanität. Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral, in: Die Zeit 29 (1999). http://www.zeit.de/1999/18/199918.krieg_.xml, abgerufen am 18.07.2012. Vgl. zur Einordnung dieser Positionierung Habermas’ Thomas Blanke, Der Philosoph im Handgemenge, in: Stefan Müller-Doohm (Hg.), Das Interesse der Vernunft. Rückblicke auf das Werk von Jürgen Habermas seit ›Erkenntnis und Interesse‹, Frankfurt a. M. 2000, S. 486–521. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Blicken wir vor diesem Hintergrund zurück auf Habermas’ Engagement Ende der 60er Jahre, das von öffentlichen Vorträgen, über Podiumsdiskussionen, Gastbeiträge in Zeitungen und offene Briefe bis hin zu gemeinsam mit anderen Wissenschaftlern formulierten Gesetzesvorschlägen zur Hochschulreform reicht.33 Was hier vor allem ins Auge fällt, ist das Fehlen jeder Art von Rollendifferenzierung zwischen Wissenschaftler / Philosoph und Intellektuellem. Die Unterscheidung zwischen politisch-strategischen Fragen einerseits und philosophischen Fragen andererseits, die im Zusammenhang der Diskurstheorie eine Beantwortung von unterschiedlichen Sprecherpositionen erforderlich macht, bleibt hier noch gänzlich folgenlos. Die Analyse des philosophisch orientierten Sozialwissenschaftlers Habermas geht über in Empfehlungen zur politischen Praxis, deren Risiken Habermas schon damals gerade in der Auseinandersetzung mit ›aktionistischen‹ Studierendengruppen herausstellt, die ihn aber damals noch nicht zu den expliziten Differenzierungen veranlassen, wie sie hier für den Diskurstheoretiker Habermas herausgearbeitet wurden. Exemplarisch sei hier beispielsweise auf die Einleitung von Protestbewegung und Hochschulreform verwiesen, in der auf die soziologische Gesellschafts­analyse das abschließende Unterkapitel mit dem Titel »Was tun?« folgt.34 Zwar beginnt Habermas’ Antwort mit der Einschränkung, dass diese Frage »heute nicht eindeutig beantwortet werden könne«,35 doch allein die Verquickung von ana­ lytischen und strategischen Fragen verdeutlicht den Unterschied zu den späteren Auffassungen. Als zusätzliches Indiz für den Wandel in Habermas (Selbst-)Verständnis des Intellektuellen lässt sich anführen, dass es bis zu dem schon mehrfach zitierten Vortrag über Heinrich Heine als Intellektuellen von Anfang der 80er Jahre keinerlei Auseinandersetzung mit der spezifischen Rolle des Intellektuellen bei Habermas gibt. Zwar schreibt er schon Ende der 60er Jahre über die Problematik einer Entfremdung zwischen technokratischen Experten, politischen Entscheidungsträgern und der Öffentlichkeit im Ganzen, doch die diesbezüglichen Vermittlungs- und Übersetzungsaufgaben, die ab den 80er Jahren vor allem dem Intellektuellen zukommen sollen, werden hier nur benannt.36 Zugespitzt formuliert existiert der Intellektuelle damals im Denken Habermas’ noch nicht als Akteur, dem klar umrissene Aufgaben zukommen. 33 Vgl. dazu Jürgen Habermas, Protestbewegung und Hochschulreform, Frankfurt a. M. 1969. 34 Ders., Protestbewegung, S. 43. 35 Ebd. 36 So spricht Habermas schon 1968 von der »Übersetzung praktischer Fragen in wissenschaftlich gestellte Probleme und der Rückübersetzung wissenschaftlicher Informationen in Antworten auf praktische Fragen.« Jürgen Habermas, Verwissenschaftlichte Politik und öffentliche Meinung, in: ders., Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, Frankfurt a. M. 1968, S. 120–145, hier S. 132. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Auf der Grundlage der Klärung dieser Verschiebung bzw. Rollenausdifferenzierung im Zuge der Entwicklung der Diskurstheorie im Laufe der 70er Jahre bis Anfang der 80er Jahre, soll nun abschließend die Rolle des Intellektuellen im Rahmen dieser Diskurstheorie noch einmal kritisch betrachtet werden.

Die Aufgabe des Intellektuellen: Eine Paradoxie? Die Arbeitsteilung zwischen Philosoph und Intellektuellem speist sich aus dem Gefälle zwischen den Geltungsansprüchen, die vom Philosophen einerseits und dem Intellektuellen andererseits legitimerweise erhoben werden können. Voraussetzung für das Funktionieren dieses Arrangements ist damit auch ein streng egalitaristisches (Selbst-)Verständnis des Intellektuellen, wie Habermas es auch immer wieder betont hat. An diesem Egalitarismus möchte ich abschließend ansetzen, um eine kleine, aber doch entscheidende Problematisierung vorzunehmen. Denn so konsequent wie von Habermas gefordert kann der Egalitarismus des Intellektuellen überhaupt nicht gedacht bzw. umgesetzt werden, ohne dessen eigene Rolle in Frage zu stellen. Blicken wir zurück auf Habermas’ Krisendiagnose bezüglich des vermeintlichen Verschwindens der Intellektuellen. Ein Grund hierfür liegt gerade in den Effekten der Demokratisierung der Öffentlichkeit. Der Egalitarismus der entformalisierten Öffentlichkeit, den Habermas nach dem hier Vorgebrachten eigentlich begrüßen muss, schlägt sich aber auch nieder in einer Fragmentierung pluralisierter Teilöffentlichkeiten, in denen Rollen verwischt werden und der Intellektuelle eben nicht mehr wie einstmals Debatten wie durch ein diskursives Brennglas zu fokussieren und zu prägen vermag. Insoweit die digitale Erweiterung der Öffentlichkeit tatsächlich demokratisch-egalitäre Wirkungen zeitigt – und natürlich lassen sich hier auch Gegenthesen beispielsweise mit Bezug auf den sogenannten Digital ­Divide formulieren  –, führt dies auch zu einer Unterminierung des Intellektuellentums in seiner traditionellen Form. Dieser Punkt lässt sich auch noch einmal in etwas anderer Form im Hinblick auf Habermas’ eigenes Wirken formulieren. Denn genau genommen handelt es sich bei seinen Beiträgen natürlich nicht um eine Stimme unter vielen inmitten einer in bester Weise lärmenden Öffentlichkeit. Wäre dies der Fall, so wäre es gelinde gesagt überraschend, dass Gastbeiträge aus seiner Feder immer wieder einzig aufgrund ihrer argumentativen Güteklasse in den Feuilletons auflagenstarker Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht werden. Die Autorität des Philosophen strahlt auch auf den Intellektuellen Habermas ab – und in gewisser Weise ist dies auch in Habermas’ eigener Intellektuellen-Konzeption vorgesehen. Schließlich sollen Intellektuelle sich im eigenen Metier einen Namen machen, um von diesem »beruflichen Wissen jenseits ihrer Profession einen öffentlichen Gebrauch zu © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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machen.«37 Dann ist der Intellektuelle aber im Gegensatz zum Postulat Habermas’ beinahe zwangsläufig mehr als nur einer unter vielen. Die Schlussfolgerungen aus diesen vorläufigen Überlegungen lassen sich folgendermaßen knapp zusammenfassen. Erstens bedarf die hier vertretene Hauptthese der Arbeitsteilung zwischen Philosoph und Intellektuellem weiterer Unterfütterung. Zu untersuchen wäre beispielsweise, inwieweit sich auch anderen öffentliche Interventionen Habermas’ in diesen Interpretationsrahmen einfügen lassen und welche Rückschlüsse bezüglich des Verhältnisses zwischen Philosoph und Intellektuellem die Fälle, in denen dies nicht möglich ist, zulassen. Zweitens muss genauer geklärt werden, ob es sich bei der Vorstellung des »folgenlos räsonnierenden Staatsbürgers«38 als Intellektuellem wirklich in gewisser Weise um ein Paradox handelt, wie hier argumentiert wurde. Würde eine tatsächliche Demokratisierung der Öffentlichkeit verbunden mit einem radikal-egalitären Selbstverständnis das Wirken des Intellektuellen geradezu unmöglich machen? Die ausführlichere Beschäftigung mit Habermas als Intellektuellem würde also weiterhin lohnen, nicht zuletzt, weil gerade die Gedanken, die im Namen eines bloßen Citoyens vorgetragen werden und die Autorität des Experten von sich weisen, möglicherweise auf besonders instruktive Weise auf ihre Machteffekte hin zu befragen sind.

37 Ders., Spürsinn, S. 80. 38 Ders., Europapolitik in der Sackgasse. Plädoyer für eine Politik der abgestuften Integration, in: ders., Ach Europa, S. 96–127. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

Reinhard Mehring

Der esoterische Diskurspartisan: Carl Schmitt in der Bundesrepublik

Vor 1933 entwickelte Carl Schmitt (1888–1985) eine wirkmächtige Theorie politischer Öffentlichkeit, die das liberale »System« polemisch mit den außerparlamentarischen politischen Bewegungen der Weimarer Republik konfrontierte. Er war hier vom deutschen Nationalismus und italienischen Faschismus besonders beeindruckt und verband beides zu einem antiliberalen Modell eines plebiszitär und populistisch getragenen caesaristischen Führerstaates, das er 1933 dann bekanntlich im Nationalsozialismus realisiert fand. Schmitt strebte in die öffentliche Rolle des »Staatsrats« und »Kronjuristen«. Andererseits hatte er als Jurist auch viel Sinn für die Waffen des Intellektuellen und das schleichende Gift subtiler Analysen und Dekonstruktionen. Als Jurist beherrschte er das advokatorische Verfahren immanenter Kritik, geltende Prinzipien und Begriffe gegen die herrschende Auslegung in Stellung zu bringen. Vor 1933 war er ein erfolgreicher Mineur und Zersetzer des Liberalismus und Parlamentarismus. Nach 1945 verstand er sich als einer der »großen Jasager von 1933« und »Besiegten« von 1945 und 1949. Die Bundesrepublik lehnte er zeitlebens ab. Als Intellektueller wurde er deshalb auch nach 1949 nicht mehr so einflussreich wie vor und nach 1933. Er verschwand aus der Öffentlichkeit und erzielte nur noch eher unterströmige akademische Wirkungen. Man könnte sagen, dass er erst nach 1945 ein »freischwebender« Intellektueller wurde: frei vom professoralen Eid und Amt, von starken Überzeugungen und einer politisch-praktischen Mission.

Formierung und Formwandel des »Systems Plettenberg« Wenn man Schmitt in die Geistesgeschichte der Bundesrepublik stellt und als signifikante Figur betrachtet, ist eine strikte Beschränkung auf den Umbruch der 60er und 70er Jahre nicht plausibel. Der alte Schmitt repräsentiert mehr den Umbruch nach 1945 und 1949 und die Haltung eines nationalsozialistisch belasteten Intellektuellen zur frühen Bundesrepublik. Im Nationalsozialismus war Schmitt ein Funktionär der »Gleichschaltung« der Rechtswissenschaft mit großer Werbungskraft für kooperierende Eliten und Einflussnahme auf die Be­ setzung der Lehrstühle. Er agierte auch als scharfer Antisemit. Das »völkisch© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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rassische« Paradigma, das Frank-Rutger Hausmann1 jetzt als flächendeckende ideologische Revolution des Nationalsozialismus neu identifiziert, war für ihn aber sekundär. Ein ganz typischer Fall eines Altnazis war er nicht. Dazu war der Bohèmien, der erst nach dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 zu den Nationalsozialisten wechselte und deshalb in der Sprache der Zeit ein »Märzgefallener« war, politisch viel zu angreifbar, positionell offen, schwankend und vieldeutig. Schmitt war kein glasklarer und linientreuer Nationalsozialist gewesen und kann in seiner Haltung nach 1945 und 1949 auch nicht nur auf nationalsozialistischen Trotz festgeschrieben werden. Stärker war seine »liberale« Rezeption und Wirkung, die Dirk van Laak2 erstmals aus den Quellen rekonstruiert hat. Für die Wirkungsgeschichte unterscheidet man gerne zwischen Rechts-, Links- und auch Establishment-Schmittianern. Das waren aber schon Facetten des Autors selbst. Schmitt zerfiel in seine Fraktionen und wusste selbst nicht immer genau, wo er stand. Als politisches Chamäleon wechselte er bisweilen schon innerhalb eines Gesprächs die Farbe. Grundsätzlich verweigerte er aber jede positive Zustimmung zur Bundesrepublik und eindeutige und offene Kritik am Nationalsozialismus und seiner Haltung. Mehr oder weniger strategisch knüpfte er nach 1945 in Plettenberg erneut die Kreise seiner Wirksamkeit. Ein besonders sichtbares und eindrückliches Dokument dieser Steuerung ist eine nachgelassene dicke Kladde,3 in die er u. a. sämtliche Empfänger seiner größeren und kleineren Publikationen bis in die 60er Jahre hinein sorgfältig verzeichnete. Für die größeren Publikationen finden sich Hunderte von Empfängern mit exaktem Datum. Auch später noch führte Schmitt genaue Listen über die Empfänger seiner Widmungsexemplare und Sonderdrucke. So sind seine Adressaten über Jahrzehnte hinweg nachweisbar. Dabei variierte er je nach Publikation nuanciert. Er führte in seinen Taschenkalendern und Tagebüchern auch Besucherlisten. So lassen sich die Gäste und Korrespondenzpartner des »Systems Plettenberg« qua Prosopographie erstaunlich exakt rekonstruieren. Nicht alles sondierte er rein politisch. Er muss einfach bis ins hohe Alter von großer Kontaktfreude, Neugier und Kommunikationsbereitschaft gewesen sein. Das »System Plettenberg« wirkte primär durch den Habitus, Alltag und das Charisma des Gesprächs. Schmitt experimentierte in den 50er Jahren auch mit der literarischen Form des politischen Lehrdialogs. Sein »Gespräch über die Macht« von 1954 ist aber mehr autoritativ als sokratisch und dialogisch. Schmitt lenkte das Gespräch durch thematische Vorgaben, pflegte starke Legenden von 1 Frank-Rutger Hausmann, Die Geisteswissenschaften im ›Dritten Reich‹, Frankfurt a. M. 2011. 2 Dirk van Laak, Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin 1993. 3 Landesarchiv Nordrhein-Westfalen, Abteilung Rheinland, Standort Düsseldorf, Nachlass Carl Schmitt (RW 265-19600). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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seiner Rolle und spiegelte sich in seinem Spätwerk unentwegt selbst. Er beschrieb sich als verfolgter und geächteter Outlaw und »Sündenbock«, als skrupulöser Intellektueller wie Hamlet, als christlicher Hoftheologe wie Eusebius und als putschistischer Soldat und Partisan wie Salan. Viele bundesdeutsche Intellektuelle bezogen sich positiv oder negativ auf ihn: nicht nur Rechtsintellektuelle wie Gehlen und Schelsky, sondern auch die liberalen Münsteraner und die »linke« Frankfurter Schule bis hin zu Habermas. Konzentriert man sich aber auf den Umbruch der 60er in die 70er Jahre, so ist die Formierung des »Systems Plettenberg« mehr die Vorgeschichte für den langsamen Rückzug des alten Partisanen aus der Öffentlichkeit. Bei Gründung der Bundesrepublik war Schmitt bereits über 60 Jahre alt. Bis 1949 hatte er Publikationsverbot; bis 1951 lebte er nach Berliner und Nürnberger Haft finanziell ungesichert in seiner westfälischen Heimatstadt Plettenberg. Eine Rückkehr an die Universität blieb ihm verwehrt. Schmitt arbeitete zwar nicht mehr in irgendeiner festen Tätigkeit. In den 50er Jahren übernahm er aber noch gutachterliche juristische Auftragsarbeiten. Er reaktivierte auch gezielt seine Kontakte zu Journalisten und publizierte in überregionalen Zeitungen. Nach diversen Widerständen und Enttäuschungen zog er sich aber Mitte der 50er Jahre aus der Tagespublizistik weitgehend zurück. Eine breite pseudonyme Tätigkeit entfaltete er nicht. Schmitt trat nach 1949 auch nicht offen oder verdeckt in politische Parteien oder Netzwerke ein und organisierte sich nicht in nationalsozialistischen Seilschaften. »Der Spiegel« war ihm wichtiger als die »Nationalzeitung«. Als Jurist trat er nach 1949 kaum noch auf. Seine publizistische Situation war nach 1945 zunächst nicht einfach. Zwar erhielt er zahlreiche Angebote von diversen Verlagen. Schmitt gab ein Intermezzo in der Dominikanerzeitschrift »Die neue Ordnung«, publizierte kleinere Beiträge in der »Universitas« und experimentierte dann mit dem GrevenVerlag, Neske und Diederichs, bevor er zu seinem alten Hausverlag Duncker & Humblot zurückkehrte. Seine ersten Nachkriegspublikationen provozierten aber einigen Widerstand und wurden keine größeren Erfolge. Mitte der 50er Jahre war die publizistische Zukunft seines Werks gänzlich offen. Es organisierte sich ein Freundeskreis »Academia Moralis«, der Schmitt finanziell unterstützte, seine Schriften aufkaufte und ihm ein Vortragsforum gab. Schmitt entfaltete in den 50er Jahren noch eine rege Vortragstätigkeit. Die Universitäten und großen Fachzeitschriften blieben ihm aber verschlossen. Zwischen 1954 und 1967 verfasste er immerhin 12 Kurzrezensionen in dem Rezensionsorgan »Das historisch-politische Buch«, das von dem Ex-SS-Mann Günther Franz herausgegeben wurde. In der Zeitschrift »Der Staat«, von Schülern auch als Carl Schmitt-Zeitschrift und Forum gegründet,4 publizierte Schmitt ab 1965 drei 4 Dazu jetzt Ernst-Wolfgang Böckenförde, Wissenschaft, Politik, Verfassungsgericht. Aufsätze. Biographisches Interview mit Dieter Gosewinkel, Frankfurt a. M. 2011, S. 384–391. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Abhandlungen. Schon die ersten Nachkriegspublikationen waren nicht ohne Unterstützung von Weggefährten und Schülern erschienen. Es bedurfte starker Anlässe und fürsorglicher Belagerungen, damit Schmitt weitere Texte verfasste und publizierte. Tilman Reitz sprach auf unserer Jenaer Tagung von der kreisbildenden Kraft »schwacher« Meister. Schmitt war nach 1945 politisch, ökonomisch, institutionell, vital und ideologisch »schwach«. Er war nationalsozialistisch belastet, finanziell lange ungesichert, ziemlich alt und hatte viele Positionen und Überzeugungen begraben. Intellektuell aber brillierte er weiterhin. So war ein Ausgleich von Geben und Nehmen möglich. Schmitt repräsentierte nicht nur ein Stück Zeitgeschichte und ein Theoriedesign, sondern überantwortete seinen scharfen Intellekt und seine große Originalität und Kreativität auch fast rückhaltlos dem Gespräch. So formte er einen Kreis brillanter Nachwuchswissenschaftler, die sein Werk nutzen, fördern und auch steuern wollten. Der alte Partisan ließ sich aber nur begrenzt von seinem Weg abbringen. So verweigerte er eine Kanonisierung zum juristischen »Klassiker«. Umgekehrt gingen seine Meisterschüler nicht allen Legenden auf den Leim. Schmitt pflegte jenseits diverser Autoren­masken (Identifikation mit Donoso Cortés, Hobbes u. a.) insbesondere die Legende vom Etatisten: vom »Aufhalter« des Untergangs Weimars und etatistischen »Staatsrat«, der für kurze Zeit an der Seite Görings preußische Formen bewahren wollte. Die Staatsrat-Legende blendete dabei die engere und längere Zusammenarbeit mit Hans Frank ab.5 Gewiss blieben diese Legenden bis in die jüngste Forschung hinein nicht wirkungslos. Den jungen Schülern war Schmitts Skandalbiographie und seine politische Verstrickung auch nur vage bekannt. Die Ablehnung des Nationalsozialismus aber war ihnen selbstverständlich. Posi­tionell folgten sie dem Radikalismus von Schmitts Werk nicht und wurden zentrale Vertreter der Staatsräson der Bundesrepublik. Seit den späten 50er Jahren vereinte Ernst-Wolfgang Böckenförde6 dabei die Rollen des Sokrates, Eckermann und Platon in einer Person. Unermüdlich regte er Schmitt bei seinen Publikationen an und half ihnen redaktionell ans Licht. Auch andere bedeutende Gelehrte wie Reinhart Koselleck und Helmut Quaritsch betreuten die späten Schriften im Hilfsdienst. Dieser starke Einsatz integrer, selbständiger und bedeutender Gelehrter für Schmitts Werk7 hat 5 Dazu vgl. ›Solange das Imperium da ist‹. Carl Schmitt im Gespräch mit Klaus Figge und Dieter Groh 1971, in Zusammenarbeit mit Gerd Giesler herausgegeben, kommentiert und eingeleitet von Frank Hertweck / Dimitrios Kisoudis, Berlin 2010, dazu meine Besprechung in: Göttingische Gelehrte Anzeigen 263 (2011), S. 57–72. 6 Dazu äußert Böckenförde sich jetzt autobiographisch eingehend in: ders., Wissenschaft, Politik, S. 359 ff. 7 Zusammenfasssend: Reinhard Mehring, Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, München 2009; vgl. auch ders., Carl Schmitt, Jacob Taubes und das »Ende der Geschichte«, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 48 (1996), S.  231–248; © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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immer wieder verwundert. Böckenfördes eigenes Werk ist eine prägnante liberale Transformation von Schmitts Denken. Auch Kosellecks Geschichtstheorie lässt sich als liberale Transformation von Schmitts »Politischer Theologie« betrachten. Roman Schnur und Ernst Forsthoff schrieben Schmitts Verfassungsgeschichte weiter. Als Lehrer hat Schmitt diese Schüler in ihrer Selbständigkeit gefördert. Überhaupt wirkte er, anders als vor 1945, nach 1949 in einer dritten Schülergeneration, insbesondere bei den akademischen Schülern Joachim Ritters, im liberalen und linken Lager stärker als in der extremen »Rechten«. Schon Mitte der 50er Jahre war ihm die bundesrepublikanische Öffentlichkeit aber durch diverse Streitigkeiten verleidet. Anfang der 60er Jahre zog er sich aus seinen Vortragstätigkeiten zurück. Nur zu Forsthoffs Ebracher Seminaren ging er bis 1968 noch. Schon durch die politischen Wendungen hatte es immer wieder gravierende Umbrüche in Schmitts Freundesnetz gegeben. Auch relativ unabhängig von politischen Fragen kam es zu Zerwürfnissen: so Mitte der 20er Jahre mit Hugo Ball, Erich Kaufmann und Waldemar Gurian. Ein Einschnitt war um 1930 die Option für das Präsidialsystem und parallele antisemitische Radikalisierung. Rudolf Smend beispielsweise ging nun als Kollege auf Distanz. Der nächste Einschnitt kam 1933. Franz Blei, Ludwig Feuchtwanger und Georg Eisler, Moritz Bonn, Erwin Jacobi und viele andere brachen mit Schmitt. Im Nationalsozialismus kam es zu weiteren Brüchen, auch mit eigenen Schülern (E. Friesenhahn, W. Becker). Die Nachkriegszeit brachte dann weitere Trennungen. So war die Beziehung zu Ernst Jünger stark belastet und lange förmlich verstummt.8 Erst nach 1945 traten Hans Barion und Ernst Forsthoff ins engste Freundesnetz ein. Heinrich Popitz und Nikolaus Sombart, Hanno Kesting und Reinhart Koselleck, Roman Schnur und Ernst-Wolfgang Böckenförde fanden auf diversen Wegen zu Schmitt. Armin Mohler trat in engen Kontakt. Aus dem Ritter-Kreis und den Ebracher Seminaren kamen seit den späten 50er Jahren weitere junge Wissenschaftler hinzu. Der intensive Briefwechsel mit dem Rechtsausleger HansDietrich Sander wurde inzwischen veröffentlicht. In den 70er Jahren nahm Schmitt die Korrespondenz mit Hans Blumenberg und Jacob Taubes auf. Der gerade erschienene Briefwechsel zeigt Taubes als Weichensteller für die neueren Diskussionen um Schmitts Politische Theologie.

Begriffsgeschichte mit Carl Schmitt, in: Hans Joas / Peter Vogt (Hg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Frankfurt a. M. 2010, S. 138–168; Thomas Hobbes im konfessionellen Bürgerkrieg. Carl Schmitts Hobbes-Bild und seine Wirkung im Kreis der alten Bundesrepublik, in: Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 36 (2008), S. 518–542. 8 Dazu jetzt Reinhard Mehring, Don Capisco und sein Soldat. Carl Schmitt und Ernst Jünger, in: Stephan Müller-Doohm / Thomas Jung (Hg.), Prekäre Freundschaften. Über geistige Nähe und Distanz, München 2011, S. 173–185. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Nach 1968 traf aber eine Ermüdung alter Beziehungen ein. Schmitts Inte­ resse an der Studentenbewegung verstimmte »rechte« Weggefährten. Schmitt signalisierte kaum Interesse an der deutschen Teilung und dem Schicksal der Bürger in der DDR. Verglichen etwa mit seinem wichtigsten Bonner Schüler Ernst ­Rudolf Huber war stets ein Vorrang des Etatismus oder der Option für die politische Diktatur vor dem Nationalismus sichtbar. Nimmt man die von Quaritsch9 betonten Grundprägungen  – Katholizismus, Etatismus, Nationalismus und Ästhetizismus –, so ist nur das Interesse an Literatur und Kunst bei Schmitt durchgängig da. Der Etatismus wurde durch die These vom Ende der »Epoche der Staatlichkeit« relativiert. Ein dogmatisch oder praktisch verlässlicher Katholik ist Schmitt niemals gewesen. Nach 1949 vertrat er auch keine eindeutigen politischen Positionen. Zwar schätzte er weiter die Diktatur; er vertrat aber in der Logik seiner Verfassungsgeschichte keine starke Option für eine Staatsform und einen neuen »Nomos der Erde« mehr. Er bot keine politische Antwort und Alternative an. Mit der neuen Linken teilte er zwar das Interesse an radikaler Systemkritik und scharfer Konfrontation von Legalität und Legitimität.10 In seinen Gesprächen suchte er die 1968er aber vom marxistischen Paradigma der »Politischen Ökonomie« zu seiner »Politischen Theologie« zu führen. Die Erinnerung an Hugo Ball und Walter Benjamin11 war ihm dabei auch ein strate­ gisches Mittel. In den 60er Jahren etablierten sich Schmitts Nachkriegsschüler akademisch: Koselleck, Böckenförde und Christian Meier wurden zu intellektuellen Stars und Vordenkern der Bundesrepublik. Die begriffsgeschichtliche Forschung wurde damals von Schmitt intensiv angeregt. Schmitt prägte auch das verfassungsgeschichtliche Bild vom säkularen Staat der Neuzeit und von Thomas Hobbes, die strategische Spaltung zwischen Staats- und Verfassungsdenkern, die Rückzugsposten der Theorieorientierung im öffentlichen Recht, einen weiten politisch-theologischen Sinn und Theorierahmen, einen geistesgeschicht­ lichen Gegenkanon, eine scharfe Sicht des Vormärz und anderes mehr. Seit den 60er Jahren verlor das »System Plettenberg« aber an Vitalität, Dynamik und Enthusiasmus. Die Vernetzungen seiner Teilnehmer untereinander wurden trotz des Sammlungspostens der »Ebracher Festspiele«, wie es gelegentlich spöttisch hieß, schwächer. Die politischen Vorbehalte gegenüber der Bundesrepublik wechselten, soweit vorhanden, von rechts mehr nach links über. Schmitts Gesprächskultur geriet in den Sog des Zeitgeistes der neuen Linken. Das Charisma 9 Helmut Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, Berlin 1989. 10 Die Debatten um die Schmitt-Rezeption von Habermas sind hier nicht einschlägig. Vgl. aber Ulrich K. Preuss, Carl Schmitt – auch ein Lehrer der Studentenbewegung?, in: Ästhetik & Kommunikation 39 (2008), S. 65–76. 11 Dazu Reinhard Mehring, »Geist ist das Vermögen, Diktatur auszuüben«. Carl Schmitts Marginalien zu Walter Benjamin, in: Daniel Weidner (Hg.), Benjamin-Studien II, München 2011, S. 239–256. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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des Systems Plettenberg lebte nun verstärkt vom Außenhalt historischer Erinnerung, sekundärer Karriereinteressen, fürsorglicher Organisation. Schmitt publizierte immer weniger und verzichtete auch auf seine früheren Serienbriefe mit satirischen Gedichten und Glossen. Die Korrespondenzen wurden unregelmäßiger. Schmitt kommunizierte im hohen Alter nicht zuletzt über Buchsendungen und Widmungen. Seine letzten Publikationen blicken auf die Weimarer Republik und die nationalsozialistische Machtergreifung zurück. Publikationsstrategisch fallen Neuauflagen von Schriften aus der nationalsozialistischen Zeit auf. Insbesondere die Wiederveröffentlichung des antisemitisch profilierten »Leviathan«-Buches, von Schmitt lange erwogen, war eine letzte Volte des Werkes. Schmitt wollte in der Bundesrepublik nicht mehr primär als juristischer Autor wirken. Jenseits der Epoche der Staatlichkeit entdeckte er die prekäre Legitimität des Partisanen, der auf eigenes Risiko handelt und sich nationalistisch und religiös gerechtfertigt glaubt.

Die Identifikationsfigur des Partisanen »1968« war ein westliches, international vernetztes Ereignis.12 Die Aktivisten der Studentenbewegung standen miteinander im Kontakt und agierten transnational. Politische Traumata und ökonomische Prosperität waren Ermög­ lichungsbedingungen für den Massenerfolg der »Bewegung«. Die USA hatten Vietnam, Frankreich hatte Korea und Algerien, Deutschland trug das schwere Gepäck des Nationalsozialismus. Dazu kamen die Expansion des Universitätssystems und der soziale Wandel der Studentenschaft. Für Schmitt war das alles Déjà-vu. Einerseits teilte er die verbreitete Ablehnung des Ökonomismus, Imperialismus und Interventionismus der »Westlichen Hemisphäre«; andererseits sah er in den Studentenprotesten die Schatten Weimars und des Nationalsozialismus, lehnte das anarchistische Neue-Mensch-Pathos und allen Utopismus ab. Seine alten Erfahrungen erleuchteten und überblendeten dabei seine aktuellen Wahrnehmungen. Seine letzten größeren Publikationen betrafen die »Theorie des Partisanen« und die »Politische Theologie«. Schmitt führt die Identifikationsfigur des Partisanen 1962 zunächst in einem Artikel über Jean-Jacques Rousseau ein.13 Er preist Rousseau als ein modernes, widersprüchliches Individuum, das gegen die Tendenzen zum Demokratismus und Kollektivismus rebelliert. In der »Theorie des Partisanen«14 skizziert er das eigentlich ablehnende Verhältnis Preußens zu 12 Ingrid Gilcher-Holtey, 1968. Eine Zeitreise, Frankfurt a. M. 2008. 13 Carl Schmitt, Dem wahren Johann Jakob Rousseau. Zum 28. Juni 1962, in: Zürcher Woche Jg. 14 vom 29. Juni 1962, S. 1–2. 14 Ders., Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1963. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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dieser Gestalt und kritisiert die Gefährdung der nationalistischen Legitimität des Partisanen durch die marxistische Ideologie und die Technik. Schmitt betrachtet Mao Tse-tung und Raoul Salan dabei als jüngste Grenzgänger der Legitimität des Partisanen. Die Lage im maoistischen China erörtert er noch einmal eingehender 1970 in einem »Gespräch über den Partisanen«15. Zwar scheint er Mao damals einige nationalistische Legitimität zuzusprechen und China als »terrane« Macht und Großraum gegen die universalistischen Tendenzen zum »Weltstaat« zu schätzen. Seine Überlegungen sind aber nicht ohne strategische Rücksicht auf den damaligen »Maoismus« gesprochen und sollten nicht überschätzt werden. Anders als Rousseau und Salan war Mao für Schmitt keine positive Identifikationsfigur. Seine Ablehnung der weltrevolutionären Instrumentalisierung des Partisanen ist durchgängig. So unterschied er zwischen einem legitimen nationalistischen Partisanen und dem weltrevolutionären Stadtguerillero und Terroristen. Er problematisierte die Legitimität des modernen Partisanen und die Möglichkeit eines defensiven und legitimen Nationalismus im technischen Zeitalter. Seine Überlegungen zum Partisanen entwickelt Schmitt damals nicht zuletzt aus Beobachtungen des Algerienkrieges. Herfried Münkler schreibt dazu: »Der Algerienkrieg, der von den Franzosen politisch entschlossen und militärisch kompetent geführt worden war, hatte gezeigt, dass Kolonialmächte politisch auch dann zu bezwingen waren, wenn man sie militärisch nicht schlagen konnte. Mit den Mitteln des Partisanenkriegs war es gelungen, Frankreich wirtschaftlich und psychologisch zu zermürben. Der Algerienkrieg wurde zum Muster sämtlicher antiimperialer beziehungsweise antikolonialer Kriege der 1960er bis 1980er Jahre«.16 Schmitt hat hier demnach noch eine aktuelle historische Wegscheide grundsätzlich erfasst. Dabei entdeckt er erneut die Spannung von Legalität und Legitimität. Der französische General Raoul Salan ­(1899–1984) wird ihm zum jüngsten Märtyrer des partisanischen Natio­nalismus. Salan putschte im Mai 1958 in Algerien gegen die französische Regierung, um eine Dekolonialisierung Algeriens zu verhindern, und ermöglichte de Gaulle dadurch die Machtübernahme. Schmitt bejaht diese Aktion – auch im Gespräch mit dem Frankreichexperten Armin Mohler17  – im Horizont der Spannung von Legalität und Legitimität. Er konfrontiert den Putsch in einem Hand­ exemplar von »Legalität und Legitimität« als »Republikanische Legalität« mit

15 Ders., Gespräch über den Partisanen, in: ders., Staat, Großraum, Nomos. Arbeiten aus den Jahren 1916–1969, hg. v. Günter Maschke, Berlin 1995, S. 619–636. 16 Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005, S. 180. 17 Dazu vgl. Armin Mohler, Die Fünfte Republik. Was steht hinter de Gaulle?, München 1963. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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einer Bonner »Ent-Legalisierung« durch »demokratische Legitimität«.18 De Gaulle nutzte Salans Putsch, um an die Macht zu kommen, und legitimierte Salans Vorgehen als außerordentliches Handeln im Rahmen der »republikanischen Legalität«; er ließ sich außerordentliche Vollmachten übertragen und setzte dann im September 1958 per Plebiszit eine neue Verfassung durch. Schmitt bejaht diesen Musterfall einer verfassungsprägenden »kommissarischen Diktatur« gegen die Tendenz zur »Ent-Legalisierung« durch die »demokratische Legitimität«, die er in der Bundesrepublik beobachtet. Als Salan 1961 auch gegen de Gaulle putscht und als Hochverräter vor Gericht kommt, erörtert Schmitt ihn in der »Theorie des Partisanen« ausführlich als jüngsten Helden und Märtyrer des nationalistischen Partisanentums. Er betont Salans »Schweigen« vor Gericht, der zu seiner Verteidigung nur bemerkt: »Ich werde den Mund nur öffnen, um Vive la France! zu rufen, und dem Vertreter der Anklage erwidere ich einfach: que Dieu me garde!«19 »Es gibt eine republikanische Legalität«, übernimmt Schmitt seine Überlegungen von 1958 in die »Theorie des Partisanen«; »und das eben ist in der Republik die einzige Form der Legitimität.«20 Schmitt scheint Salans Berufung auf »eine höhere Art Legitimität« oder ein anderes Recht gegen die Legalität und Legitimität der Republik zu billigen. Die »Theorie des Partisanen« feiert Salans partisanisches Handeln als einen nationalistisch gerechtfertigten und insoweit legitimen Legalitätsbruch. Salan ist die letzte politische Identifikationsfigur im Werk, der stärkste Beleg für die Koketterie mit einem partisanischen Selbstverständnis, einem unabhän­ gigen religiösen Gewissen und souveränen Schweigen. Schmitts Titel ist bewusst doppelsinnig: Er meint nicht nur eine analytische Theorie und Problem­ geschichte über den Partisanen als politischen Akteur, sondern es ist auch die gezielte diskurspolitische Aktion eines Partisanen. Schmitt spricht vom Parti­sa­ nen, nach einer Unterscheidung Jan Assmanns, »beschreibend« und »betreibend«. 18 Carl Schmitt, Legalität und Legitimität, München 1932 (Handexemplar RW 265-24831). – Neben den Besitzvermerk notiert Schmitt auf die erste Titelseite: »Scheinbare Legalität ist Schein? Auch der Schein hat seine Funktion und seine Folgewirkungen, die effektiver sind […] als Prämien wie die des Bürgerkrieges: / nam consul uno die (Vitellius Canisius Rebilus) et ante fureat Caninius Rebilus C. Caesare dictatore, cum belli civilis praemia festinarentur. Tacitus, Hist. III.37«. Schmitt klebt Zeitungsartikel zu de Gaulle und dem Algerienkrieg in die Titelei und ins Inhaltsverzeichnis ein und verdichtet seine Überlegungen zu einer tabellarischen Konfrontation »Republikanische Legalität de Gaulle  – Sozialdemokratische Legitimität der Volksbefragung«, die er »Pfingst. Diptychon vom 28. Mai 1958« überschreibt. Er arbeitet die tabellarische Konfrontion als Seriensendung aus (RW 265-20478) und verschickt sie auch im Kreis. In der »Theorie des Partisanen« erörtert er Salan dann weiter (S. 66–69, 83–86), nicht mehr im Rahmen der »republikanischen Legitimität«, sondern als einen Partisanen, der sich nationalistisch gegen de Gaulle stellte. Schmitts Diptychon ist jetzt in der 8. Aufl. von Legalität und Legitimität (Berlin 2012, S. 96 f.) faksimiliert. 19 Carl Schmitt, Theorie des Partisanen, S. 69. 20 Ebd., S. 85. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Im »Gespräch über den Partisanen« nennt Schmitt das Urchristentum eine »revolutionäre Bewegung«: »Jeder, der sich zum Christentum bekannte, war in unserem Sinne ein Partisan.«21 Schmitt vereint so den Partisanen mit dem Christentum. Vier Kriterien für den Partisanen nennt er: Irregularität, »gesteigerte Mobilität der Kampfführung«, politisches Engagement und einen »tellurischen Charakter« heimatlicher Identität. Metaphorisch verstanden treffen sie auch auf den Diskurspartisanen zu, der als Intellektueller subversiv agiert. Schmitt betont damit, wie schon 1922 in seiner »Politischen Theologie«, erneut die religiösen Ressourcen revolutionären Handelns. Sein Werk endet in der »Politischen Theologie II« mit einer Apologie der eigenen »politischen« Theologie in der Abgrenzung von Erik Peterson und auch Hans Barion.22 Die aktuellen Auseinandersetzungen um die »Befreiungstheologie« sind ihm dabei ein Anlass der Erinnerung und Klärung alter Weimarer Debatten. Schmitt agiert damals nicht mehr als »Kirchenintellektueller«. Die politischen Theologen des Protestantismus bezogen sich, wie Thomas Kroll zeigte, auf die Tradition und den Mythos der »Bekennenden Kirche«. Schmitt hatte dagegen in der Epoche der »Gleichschaltung« mehr mit den »Deutschen Christen« sympathisiert. Mit deren »Bischof« Heinrich Oberheid blieb er lebenslang befreundet. Von den katholischen Theologen stand er um 1933 insbesondere Karl Eschweiler23 und nach 1945 dann Hans Barion nahe, die beide die Vereinbarkeit des Katholizismus mit dem Nationalsozialismus vertraten und in einen Streit mit der Amtskirche gerieten. Schon vor 1933 richtete Schmitt seinen »Laienkatholizismus« gegen die Amtskirche. Auch die katholischen Kontroversen der 60er Jahre waren ihm deshalb sehr fremd. Das Zweite Vatikanum lehnte er ab. In Ebrach gab er im Oktober 1965 eine Erklärung ab, die die »moralische Anerkennung der UNO durch den Papst« kritisierte.24 Nach dem Katholizismus-Essay von 1923 / 25 findet sich bei Schmitt kein elaborierter Staat-Kirche-Dualismus und keine Suche nach alternativen Ordnungen der Liebe und Gerechtigkeit jenseits des Staates mehr. Anders als einige seiner Schüler (Forsthoff, Huber, Werner Weber) schrieb er niemals staatskirchenrechtliche Beiträge. Er beteiligte sich deshalb auch nicht an den gegensätzlichen Auslegungen des Vatikanischen Konzils, deren Auslegungspole innerhalb seines Kreises Hans Barion25 21 Carl Schmitt, Gespräch über den Partisanen, S. 633. 22 Ders., Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder Politischen Theologie, Berlin 1970. 23 Dazu jetzt ausgezeichnet Thomas Marschler, Karl Eschweiler (1886–1936). Theologische Erkenntnislehre und nationalsozialistische Ideologie, Regensburg 2011. 24 Carl Schmitt, Persönliche Erklärung vom 16. Oktober 1965 gegenüber dem Ebracher Seminar, abgedruckt bei: Ernst Forsthoff-Carl Schmitt. Briefwechsel 1926–1974, Berlin 2007, S. 463–464. 25 Dazu jetzt Wolfgang Spindler, »Humanistisches Appeasement«? Hans Barions Kritik an der Staats- und Soziallehre des Zweiten Vatikanischen Konzils, Berlin 2011. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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einerseits und Ernst-Wolfgang Böckenförde andererseits vertraten. Schmitts Religiosität stand jenseits von Staat, Kirche und Dogma. Ein echter Kirchen­ intellektueller war er niemals. Die apokalyptische Religiosität hatte für ihn nicht zuletzt die Funktion radikaler Infragestellung der institutionellen Ordnungen.

Esoterischer Spätstil als bildungsaristokratisches Kriterium In der historischen Forschung wird heute verstärkt von einer interaktiven »Erfindung« des Charismas gesprochen.26 Das Charisma einer Person meint eine komplexe soziale Beziehung, Wirkung und Zuschreibung. Die Attraktion einer »charismatischen« Person auf eine bestimmte Gruppe entsteht multifaktoriell in einem dichten Geflecht von strategischen und nichtintentionalen Interaktionen. Keine einzelne Person verfügt über Charisma. Die Wirkung einer Person verstärkt und stilisiert sich aber in sozialen Gefügen in einer bestimmten Weise. Die Mitwelt spiegelt einem Akteur seine Wirkung und bestärkt ihn in seiner Rolle. Niemand »hat« Charisma als substantielle Eigenschaft. Das Charisma einer Person entwickelt sich interaktiv als ein asymmetrisches, aber wechsel­ seitiges Anerkennungsverhältnis. Max Weber unterscheidet die »charismatische« Herrschaft als revolutionäre Macht von der traditionalen und der bürokratischen Herrschaft. Dabei betont er die Tendenz zur »Veralltäglichung« und Organisation des Charismas. Hannah Arendt spricht vom Handeln »zwischen« den Menschen. Dieses Zwischenreich sozialer Wirkung stiften alle Beteiligten. Eine charismatische Person wirkt deshalb nicht »auf« eine Gruppe, sondern innerhalb einer Gruppe. An der Inszenierung des Charismas sind alle beteiligt. Unwillkürliche Signale wie körpersprachliche Gesten spielen ebenso mit wie strategische Kommunikationen von sozialem Prestige. Schmitt war nach 1945 ein institutionell, disziplinär, politisch, ökonomisch und auch religiös »freischwebender« Intellektueller mit akademischen Netz­ werken und publizistischen Möglichkeiten. Sein Wirkungsraum lebte vom Charisma des Gesprächs und den persönlichen Bindungen, die daraus entstanden. In einem relativ präzisen Sinne ist er als Intellektueller zu bezeichnen.27 Schmitt kannte die deutschen Pioniere der Intellektuellensoziologie persönlich: Max Weber, Robert Michels und Karl Mannheim. Mannheim28 sah im sozial und politisch ungebundenen »Intellektuellen«, kraft dessen liberaler Kommunikati26 Dazu vgl. Thomas Karlauf, Stefan George. Die Entdeckung des Charismas, München 2007; Ludolf Herbst, Hitlers Charisma. Die Erfindung eines deutschen Messias, Frankfurt a. M. 2010. 27 Dazu vgl. Reinhard Mehring, Machiavelli oder Odysseus? Über alte und neue Intellektuelle, in: Harald Bluhm / Karsten Fischer / Marcus Llanque (Hg.), Ideenpolitik. Geschichtliche Konstellationen und gegenwärtige Konflikte, Berlin 2011, S. 545–561 28 Karl Mannheim, Ideologie und Utopie, Bonn 1929. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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onsfreude und synthetischer Begabung, die »Avantgarde« des Fortschritts jenseits aller Parteien. Schmitt lehnte diese »freischwebende« Bindungslosigkeit ab und fragte – programmatisch in seiner Rede über »Das Zeitalter der Neutralisierungen und Entpolitisierungen« – nach den »führenden Eliten« in der »Stufenfolge der wechselnden Zentralgebiete«. Im »Zeitalter der Technik« herrschen die Technokraten. Schmitt hoffte dagegen auf eine »Wiedergeburt« des Urchristentums: auf eine »Rückkehr zur unversehrten, nicht korrupten Natur« und eine »neue Elite« aus »Askese und freiwilliger oder unfreiwilliger Armut«.29 Viel sagte er über diese Elite nicht. Anders als Mannheim setzte er nicht auf die synthetische Kraft der Diskussion, sondern auf Dezision, die er wiederum in religiöser Erwählung und Verantwortung fundiert sah. Schmitt wurde deshalb zutreffend immer wieder als Esoteriker wahrgenommen und verstand sich als Vertreter einer intellektuellen Elite und Avantgarde. Schon Goethe und Schiller priesen in ihren »Zahmen Xenien« die asymmetrischen Waffen der Intellektuellen im Verhältnis zum Staat. Unter der Überschrift »Der Leviathan und die Epigramme« schrieben sie: »Fürchterlich bist du [der Leviathan] im Kampf, nur brauchst du etwas viel Wasser, / Aber versuch es einmal, Fisch! In den Lüften mit uns.«30 Stets betrachtete Schmitt die intellektuelle Auseinandersetzung als eine Form des Kampfes. Die Waffen des Diskurspartisanen beschrieb er aber nicht genau, und auch die Inhalte wurden nicht immer klar. Als Partisan in der Bundesrepublik verteidigte er eigentlich nichts mehr. Katholizismus, Etatismus, Nationalismus, National­ sozialismus waren ihm dogmatisch abhanden gekommen. Andererseits mochte er sich mit den neuen Realitäten auch nicht abfinden und der Legalordnung der Bundesrepublik die Weihen der Legitimität zusprechen. Seine Strategien waren nicht nur destruktiv. Sie waren, grob gesagt, eher korrektiv, kompensatorisch und pädagogisch. Als Jacob Taubes das Spinoza-Kapitel des »Leviathan«Buches als »Kassiber im KASSIBER«31 veröffentlichen wollte, stellte Schmitt klar: »Ich bin Berufs-Jurist und kein Berufsrevolutionär.«32 Schmitt griff das Dispositiv der Bundesrepublik nicht frontal an, sondern setzte seine Herme­ neutik der Dekonstruktion an marginalen Schwachpunkten an. Der Diskurs­ 29 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, 1932, Berlin 1963, S. 93; dazu vgl. ders., Der Mut des Geistes, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Dezember 1950; Wiederabdruck in: Briefwechsel Carl Schmitt-Rudolf Smend 1921–1961, Berlin 2010, S. 177–178. 30 Xenien 1796. Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs, hg. v. Erich Schmidt u. Bernhard Suphan, Weimar 1893, S. 93. 31 Taubes an Schmitt am 17. November 1977, in: Jacob Taubes-Carl Schmitt. Briefwechsel mit Materialien, München 2012, S. 34. 32 Schmitt an Taubes am 27. November 1977 (Entwurf), in: Taubes-Schmitt. Briefwechsel, S. 41; dazu auch die Briefe zwischen Blumenberg und Schmitt vom 28. und 31. Dezember 1977, in: Hans Blumenberg-Carl Schmitt. Briefwechsel 1971–1978 und weitere Materialien, Frankfurt a. M. 2007, S. 152–154. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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partisan irritierte einfache Antworten und beließ es bei seiner informellen und indirekten Wirkung im Kreis. Hermetik schafft einen Bedarf an Hermeneutik. Schon Kant wusste: »Das Skotison (macht’s dunkel) ist der Wahlspruch aller Mystiker, um durch gekünstelte Dunkelheit Schatzgräber der Weisheit anzulocken. Aber überhaupt ist auch ein gewisser Grad des Rätselhaften in einer Schrift dem Leser nicht unwillkommen; weil ihm dadurch seine eigene Scharfsinnigkeit fühlbar wird, das Dunkele in klare Begriffe aufzulösen.«33

Auf diesen hermetischen Zauber setzte Schmitt. Akademische Kommunikation läuft oft indirekt und durch Texte vermittelt. Man könnte spöttisch sagen: Sie funktioniert systematisch »verzerrt«. Schmitt pflegte einen Stil der Andeutungen und Verknappungen. Jenseits der individuellen Äußerungen sind hier die Serienbriefe und Einlagen besonders signifikant, die er im Kreis verschickte. Er legte seinen Briefen oft umfangreiche Materialien bei, politische Dossiers geradezu, und verdichtete seine Beobachtungen in einfache Formen. So verschickte er gerne sarkastische und ironische Spottgedichte.34 Einige veröffentlichte er in den 50er Jahren pseudonym. Manche seiner Überlegungen übersetzte er in seine Publikationen. Es wurde ausgeführt, wie sein »pfingstliches Diptychon« in die »Theorie des Partisanen« einwanderte. Schmitts Seriensendungen sind ein besonders charakteristisches und prägnantes Beispiel kommunikativer Kreisbildung. Auch diese literarischen Zuspitzungen traten aber seit den späten 60er Jahren zurück. Die Widmung von Büchern und Sonderdrucken jenseits der Publikationen und halböffentlichen Serienbriefe war eine letzte intime Kommunikationsform, die er pflegte. Die Widmungsrhetorik scheint literaturwissenschaftlich nicht sonderlich gut erforscht zu sein. Vorformen sind Stammbuchblätter und »Poesie­a lben«. Schmitts Widmungen gehören literarisch ins weite Feld der »Sprüche«: der Sinn- oder Denksprüche (Apophthegmata). Während Maximen oder Sentenzen dabei geläufige Vorstellungen prägnant formulieren, herrscht bei Gnomen der Aspekt des Gedankenanstoßes vor. Den schon von Lessing literaturgeschichtlich reflektierten »Sinngedichten«35 und von Goethe und Schiller weiter gepflegten Xenien36 in der Linie Martials eignet eine bestimmte lyrische Form. Goethe war ein Meister des nahezu volkstümlichen und sentenziösen 33 Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: Immanuel Kants Werke, hg. Ernst Cassirer, Berlin 1923, Bd. VIII, S. 22. 34 Dazu jetzt Gerd Giesler / Ernst Hüsmert / Wolfgang Spindler (Hg.), Gedichte für und von Carl Schmitt (Plettenberger Miniaturen 4), Plettenberg 2011. 35 Dazu insgesamt Gotthold Ephraim Lessing, Vermischte Schriften. Erster Teil, Berlin 1771. 36 Dazu vorzüglich Frieder von Ammon, Ungastliche Gaben. Die Xenien Goethes und Schillers und ihre literarische Rezeption von 1796 bis in die Gegenwart, Tübingen 2005. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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personen- und anlassgebundenen Spruchgedichts. »Die alten Sprachen sind die Scheiden, / Darin das Messer des Geistes steckt.« Schmitts Widmungen sind an den römischen Autoren geschult. Die Radikalisierung des Denkspruchs steigert sich hier bisweilen bis hin zu kryptographischen Stilelementen. Formelhafte Wendungen und leitmotivische Schlusszitate finden sich schon in den Publikationen. Vom »Begriff des Politischen« bis zu den »Positionen und Begriffen« zitierte Schmitt abschließend aus Vergils vierter Ekloge (»Ab integro nascitur ordo«) die Verheißung eines neuen Weltalters herbei. Alte Mythen von der Erneuerung der Welt und Wiederherstellung eines verlorenen Urzustands klingen an. Den Übergang von der völkerrechtlichen zur weltgeschichtlichen Betrachtung und vom »Reich« zu den vier mythischen Elementen von Land und Meer, Luft und Feuer markierte Schmitt mit Hölderlin-Versen. Er zitierte aus der späten Elegie »Der Wanderer« die tröstliche Botschaft der Natur: »Auch hier sind Götter und walten, / Groß ist ihr Maß.«37 In der Hellingrath-Ausgabe heißt es: »Aber du sprachst zu mir: auch hier sind Götter und walten, / Gross ist ihr Maas, doch es misst gern mit der Spanne der Mensch. / Und es trieb die Rede mich an, noch Andres zu suchen«. Hölderlins Wanderer kehrt vom »nördlichen Pol« in das »seelige Thal des Rheins« zurück und sucht als Fremder seine »Lieben«. Er kommt als verlorener Sohn. Doch die Zeit hat alles geschieden und so ist der Wanderer »allein« in der heimatlichen Landschaft, wo er »der Mühn und aller Leiden vergesse / Heut und morgen und schnell unter den Heimischen sei«. Schmitt kündigt hier 1942 im leitmotivischen Zitat seine Rückkehr in seine westfälische Heimat, seine »Welt großartigster Spannung« wohl schon an. Schmitts Esoterik lebte im Charisma des Gesprächs. Die enigmatische Widmungsrede wurde ihm dabei auch immer wichtiger, je mehr er aus der fach­ lichen Publizistik in das intime Gespräch zurücktrat. Schmitt kommunizierte intensiv über Buchgeschenke und Sonderdrucke. Oft schrieb er aussagekräfte Widmungen. Dabei ergänzte er Standardwidmungen um individualisierende Wendungen. Seine Widmungen enthalten Klassikerzitate, historische Anekdoten und Parallelen, antithetische Zuspitzungen, politische Provokationen und Rätsel. Einige setzen starke Impulse. Den »Nomos der Erde« legte Schmitt seiner Frau Duška 1950 noch mit einer trotzigen Widmung aufs Sterbebett: »Trotz Bomben und trotz Morgenthau, / Trotz Terror und trotz Heldenklau, /  Trotz Auto­matik und Verrat, / Trotz Nürnberg und trotz Stacheldraht, / Trotz allem entstand dies Buch und wuchs ein Segen aus dem Fluch«.38 Den Rechtsanwalt Heinz Weitzel, mit dem zusammen er ein Rechtsgutachten »Rechtsstaatlicher Verfassungsvollzug« schrieb, sprach er 1953 in einer Widmung als

37 Carl Schmitt, Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung, Leipzig 1942. 38 Schmitts Handexemplar vom 11. November 1950 klebt die Widmung an Duška ein (RW 265-28259). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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»Con-Trahenten am Themis-Karren« an. Mit ihm zusammen zog er das Recht aus dem Dreck. Die Kette der Widmungen lässt sich im Briefwechsel mit Armin Mohler gut verfolgen. Wie mancher andere erhielt Mohler das »Hamlet«-Büchlein mit einer »Hieroglyphe der westlichen Welt«.39 Solche Krpytogramme entwarf er ge­legentlich. Anfang der 60er Jahre schrieb er einen leicht rätselhaften »­Hobbes-Kristall« in Widmungsexemplare.40 Den Hobbes-Aufsatz »Die vollendete Reformation« schickte er Mohler u. a. mit den Worten: »Der Name des Leviathan wirft einen langen Schatten«.41 Zur Clausewitz-Abhandlung schrieb er: »le combat spirituel est plus / brutal que la bataille des / hommes«.42 Zur erweiterten Ausgabe der »Tyrannei der Werte« notierte er: »alles, was Adolf gemacht hat, war / nur ein Un-Wert; der / Un-Wert ist der höchst- / verwertbare Wert. Theodor Heuss hat / das begriffen«.43 Er spielte damit auf seine vermeinte Verfemung an. Die »Politische Theologie II« sandte er mit der ironischen Wendung: »Dieu s’en va, / la Théologie reste.«44 Oft spielte er auf sein hohes Alter an. So zitierte er gerne: »Wir, die wir Schatten Wesen einst verliehen / sehn Wesen jetzt als Schatten von uns ziehen«.45 Schmitt zitierte damit Adalbert von Chamissos Widmung des Erzählers an seinen »alten Freund Peter Schlemihl«: »Die wir dem Schatten Wesen sonst verliehen / Sehn Wesen jetzt als Schatten sich verziehen.« Ein Schlemihl und Schelm, »Traumweltbeherrscher« war Schmitt wohl, wenn auch nicht im Sinne des jüdischen Pariabewusstseins, das Hannah ­Arendt46 als »verborgene Tradition« skizzierte. Resigniert schickte Schmitt seine letzte Abhandlung über »Die legale Weltrevolution« mit dem Selbstzitat: »Docui, sed frustra«.47 1980 brach der Briefwechsel mit Mohler ab. Dem befreundeten Schmitt-Forscher George Schwab schrieb er Anfang der 80er Jahre noch die kühne Behauptung ins Stammbuch: »Ich bin nicht entnazifizierbar, /  weil ich nicht nazifizierbar bin.«48 In eine Neuausgabe des »Leviathan«-Buches schrieb er 1982 hinein: »Jeder alte Mann wird ein König Lear!«49 Er zitierte damit Goethe:

39 Carl Schmitt, Briefwechsel mit einem seiner Schüler, hg. v. Armin Mohler, Berlin 1995, S. 220. 40 Ebd., S. 299. 41 Ebd., S. 344. 42 Ebd., S. 390. 43 Ebd., S. 388. 44 Ebd., S. 401. 45 Ebd., S. 402. 46 Hannah Arendt, Die verborgene Tradition. Essays, Frankfurt a. M. 2000, S. 50–79. 47 Carl Schmitt, Briefwechsel mit einem seiner Schüler, S. 424. 48 Zit. nach der Faksimilierung bei Martin Tielke, Der stille Bürgerkrieg, Berlin 2007, S. 68. 49 Werner Böckenförde, Predigt im Requiem für Carl Schmitt. Reprint zum 25. Todestag Carl Schmitts am 7. April 1985, Privatdruck der Carl Schmitt-Gesellschaft Plettenberg e. V. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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»Ein alter Mann ist stets ein King Lear! Was Hand in Hand mitwirkte, stritt, Ist längst vorbei gegangen; Was mit und an Dir liebte, litt, Hat sich wo anders angehangen; Die Jugend ist um ihretwillen hier, Es wäre törig zu verlangen: Komm, ältele du mit mir«50

Ein komplexes Widmungsexemplar der »Leviathan«-Neuauflage schickte Schmitt 1982 an den Freiburger Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis.51 Es beginnt mit einem lateinischen Bibelzitat und formuliert dann ein historisches Rätsel: »Max Weber war kein / Gelimer / und Kaiser Wilhelm in Berlin war kein Justinian in Konstantinopel«. Schmitt ergänzt: »Ich habe Weber nie unbefangen lachen sehen.« Und: »Richtigstellung einer gelegentlichen Kennzeichnung Max Webers; ich habe einmal von Webers ›Gelimerischem Lachen‹ gesprochen; sein Lachen war zornig / und Wilhelm II. war kein Justinian«. Häufig zitierte er das sardonische Lachen des besiegten Vandalenkönigs und arianischen Christen Gelimer vor dem Feldherrn Belisar in Karthago und dessen Kaiser Justinian. Er konstruiert eine Analogie, betont aber auch einen Unterschied in der politisch-theologischen Situation: Weber fehlte mit dem christlichen Glauben die ironische Unabhängigkeit und Distanz zur Niederlage. Schmitt erneuert hier in der Parallele und Brechung eine nationalistische Lesart von Webers politischen Schriften und stimmt implizit auch der umstrittenen These Wolfgang Mommsens52 zu, dass er selbst ein »legitimer Schüler« Webers war. Seine verschachtelte und bewusst rätselvolle Antwort pointiert die veränderte politischtheologische Situation und empfiehlt eine stärkere Rezeption von Christentum und Nationalismus. Der Leser ist gezwungen, solchen Anspielungen nachzugehen und sie geradezu detektivisch zu kombinieren. So gibt Schmitt seinen Hermeneuten das elitäre Bewusstsein besseren Verständnisses. Stets wurde Schmitt als Autor der Zwischenkriegszeit und »Kronjurist« des Dritten Reichs wahrgenommen. In der bundesdeutschen Öffentlichkeit lebte er mit dem Stigma des rechtsintellektuellen »Totengräbers«. In der breiteren Öffentlichkeit stand er für antiliberales Denken. Im juristischen Fachdiskurs repräsentierte er aber auch eine akademisch anregende, theoriegeleitete interdisziplinäre Rechtswissenschaft. Schmitt verwies die Geisteswissenschaften auf eine politische Betrachtungsweise und gab ihnen den religiösen Nimbus zurück. Er schloss die staatsrechtliche »Legitimität« mit dem »Geist« der Geis50 Zit. nach Goethes Sprüche in Reimen. Zahme Xenien und Invektiven, hg. Max Hecker, Leipzig 1908, S. 69. 51 Ausführlicher analysiert Reinhard Mehring, Das Lachen der Besiegten. Carl Schmitt und Gelimer, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 6,1 (2012), S. 32–45. 52 Wolfgang Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik, Tübingen 1959. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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teswissenschaften zusammen und erhob seine Betrachtungsweise zum Organon der Geschichte. Gerade im religiösen Anspruch blieb er ein unzeitgemäßer Autor. Die christliche Selbstauffassung aber war wenig glaubhaft und die neue Linke wollte die Revolution ohne Bürgerkrieg und Ausnahmezustand. Jenseits der Rechtswissenschaft stand Schmitt für eine integrale Geisteswissenschaft. Sein Werk kompensierte dabei den öffentlichen Bedeutungsverlust der Geisteswissenschaften. »Schmitt« wurde zur Chiffre verlorener Bedeutsamkeiten und zu einem Kriterium der Unterscheidung vom neomarxistischen Mainstream; »Schmitt« führte die Geisteswissenschaftler auf der Suche nach Relevanz über die schöne Literatur hinaus. Trotz aller Esoterik wirkte er noch im hohen Alter als anregender Stachel im linksliberalen Mainstream der Bundesrepublik; er erinnerte an verdrängte Problembestände und Hypotheken der Staats­raison. Wirkungsgeschichtlich betrachtet diente seine späte Esoterik einer elitären Trennung zwischen dem Massenbetrieb und einer Bildungsaristokratie, die die »Einheit« der Geisteswissenschaften in den auseinanderdriftenden Fächern für sich reklamierte. Der positivismuskritische Staatsrechtler, der den »Geist« des Rechts über den Buchstaben gesetzt hatte, wurde zum Garanten des Geistes der Geisteswissenschaften und der Universität gegen den Massenbetrieb ausdifferenzierter Wissenschaften. Um zu rekapitulieren: Schmitt suchte als »Besiegter von 1945« eine sub­ versive Gegenöffentlichkeit. Sein »System Plettenberg« formierte sich dabei bereits in den 50er Jahren und wechselte in den 60ern die Form. Schmitt verstand sich nun stärker als Diskurspartisan. Starke Überzeugungen waren ihm zwar nach 1945 abhanden gekommen. Gegen das marxistische Paradigma der neuen Linken forderte er aber im Spätwerk erneut Religiosität und »Theologie«. Er vertrat eine apokalyptische Religiosität ohne Kirche und Dogma und kann somit gegen die »Kirchenintellektuellen« um 1968 auch als ein »Religionsintellektueller« bezeichnet werden. Schmitt wirkte in seinem Kreis charismatisch und prägte eigene Formen aus. Das lyrische Spottgedicht, die Rezension bzw. Rezensionsabhandlung, der Brief und die verrätselte Widmung waren letzte hermetische und asymmetrische Kommunikationsformen des »Meisters« gegenüber seinen Schülern. Seine Hermetik verhieß seinen Anhängern das stolze Selbstbewusstsein der Zugehörigkeit zu einer Bildungselite in der Epoche der Massenuniversität. Den nicht-öffentlichen Intellektuellen im strikten Sinne gibt es nicht. Ein gewisses Niveau an Öffentlichkeit und Publizität gehört zum Intellektuellen. Der öffentliche Intellektuelle scheint heute aber nur noch als Dilettant möglich. So ist Schmitts esoterische Wendung der Geisteswissenschaften auch für die Krise des Intellektuellen signifikant.

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Der Schriftsteller als Intellektueller Hans Magnus Enzensbergers Problematisierungen eines zweihundertjährigen Denkmusters

Ein Gespräch im Schreibwarenladen In Berlin-Friedenau betritt ein Mann im Trenchcoat einen Schreibwaren­laden, er trägt ein Tonbandgerät in der Hand und will den Inhaber des Geschäftes, Herrn Holzapfel, interviewen. Er kommt gleich zur Sache: »Herr Holzapfel, wie sehen Sie die Rolle des Schreibwarenhändlers in der Gesellschaft?«1 Obwohl offensichtlich ist, dass sich Herr Holzapfel etwas überrumpelt fühlt und ihm die Frage unangenehm ist, lässt der Interviewer nicht locker: »Glauben Sie, Sie könnten mit Ihrem Schreibwarenhandel die Welt verändern?«2 – Herr Holzapfel findet, das sei wohl ein bisschen zu hoch gegriffen, auch wenn er sogar Künstlerkreiden in seinem Sortiment führe. Mit denen, entgegnet der Reporter, erreiche er aber doch wohl nur eine »winzige Minderheit«, ob denn da nicht sehr schnell die »Gefahr des Elitären« drohe, ob es nicht wichtiger sei, mit seinem Laden »an die Unterprivilegierten«3 heranzukommen. Herr Holzapfel geht darauf inhaltlich nicht ein: »Was wollen Sie eigentlich von mir?«4 – Referiert wurde hier der Anfang eines fiktiven Gesprächs, das Hans Magnus Enzensbergers am 29. Dezember 1978 in der Wochenzeitung »Die Zeit« publiziert hat. Die satirische Redeabsicht des Textes ist offensichtlich. Sie zeigt sich schnell in der Absurdität der gestellten Fragen und in der deshalb völlig misslingenden Kommunikation, ebenso in zahlreichen Anspielungen auf den intellektuellen Jargon der zwei Jahrzehnte von 1960 bis 1980. Der Leser identifiziert freilich sofort das eigent­ liche Thema; die Frage, in welchem Verhältnis Kunst und Literatur zu Politik und Gesellschaft stehen, welche Geltungsansprüche Kunst eigentlich formulieren kann. Der Interviewer vertritt dabei die Norm, dass der Dichter als engagierter Intellektueller zu gelten habe, der Einfluss auf individuelle Einstel­ 1 Hans Magnus Enzensberger, Interview, in: ders., Zu große Fragen. Interviews und Gespräche 2005–1970, hg. v. Rainer Barbey, Frankfurt a. M. 2007, S. 7–11, hier S. 7. Erstmals 1978 erschienen. 2 Ebd. 3 Ebd., S. 7 f. 4 Ebd., S. 8. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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lungen und auf soziale Entscheidungsprozesse nimmt. Demgegenüber betont Herr Holzapfel die künstlerische Autonomie, den Eigenwert des Ästhetischen. So kann die Passage über die Künstlerkreiden als eine Anspielung auf Kunstwerke verstanden werden, die keinen starken Bezug zur außerliterarischen Welt herstellen, die einen eigenen, rein ästhetischen Erfahrungsraum schaffen und die deshalb aus der Sicht des Interviewers nur ein Nischendasein führen, nur für eine kleine Gruppe von Menschen zugänglich sind, die hier pejorativ als Elite qualifiziert wird. Die Spannung zwischen diesen hier satirisch pointiert gegenübergestellten Kunst- bzw. Literaturauffassungen ist kennzeichnend für Hans Magnus Enzensbergers Werk, das dieses Spannungsfeld immer wieder neu vermisst und durchschreitet. Im Werk Enzensbergers – so kann man thesenartig behaupten – konzentriert sich ein sehr altes Problem, mit dem die Literatur in der Moderne konfrontiert ist und dessen verschiedene Lösungsmöglichkeiten Enzensberger durchspielt. Hier geht es um die Frage, wie sich die Autonomie der Literatur, ihre Freiheit von inhaltlichen und formalen Vorgaben bewahren lässt, wie aber zugleich ein allgemeiner, überindividueller Geltungsanspruch umgesetzt werden kann. Dass Enzensberger dabei ganz unterschiedliche Positionen einnimmt, sich dann und wann für die Rolle des kritischen und engagierten Schriftstellers entscheidet, diese aber auch als ungerechtfertigt zurückweist, ist bekannt, das Bild eines ›wankelmütigen Intellektuellen‹, auf den ideologisch kein Verlass ist, gehört zu den Allgemeinplätzen der Enzensberger-Forschung.5 In meinem Beitrag geht es mir zunächst darum, die Äußerungen Enzensbergers in das intellektuelle Feld der 1960er und 70er Jahre einzuordnen, sein Selbstverständnis als Intellektueller genauer zu beschreiben und typologisch zu fassen. Der Schriftsteller als Intellektueller, als politisch denkender und mit seinem Werk handelnder Zeitgenosse kann dabei als ein prominentes und traditionsreiches Denkmuster identifiziert werden, auf das sich Enzensberger bezieht, wenn er seine Rolle zu bestimmen versucht. Allerdings ist dieser Bezug nicht nur positiv, sondern es finden auch dezidierte Abgrenzungen statt. Grundlage sind Texte, die das intellektuelle Selbstverständnis Enzensbergers deutlich werden lassen, weil sie entweder einer bestimmten Rolle entsprechen oder die Frage nach dem Verhältnis von Kunst und Gesellschaft explizit in den Blick nehmen, die Rolle des Schriftstellers als Intellektuellem reflektieren. In einem zweiten Schritt wird nach möglichen Erklärungen für Enzensbergers häufige Ortswechsel im intellektuellen Feld gefragt, um über die reine Beschreibung dieser Dyna­mik ein Stück hinauszukommen.6 Um diese Erklärungsmöglichkeiten 5 Einen Überblick über die Wandlungen, aber auch über die Reaktionen darauf gibt die Biographie von Jörg Lau, Hans Magnus Enzensberger. Ein öffentliches Leben, Berlin 1999, besonders S. 35–64, 161–198. 6 Dass sich Enzensbergers intellektuelles Selbstverständnis und auch sein Literaturverständnis oft gewandelt hat, ist in der Forschung häufig beschrieben worden. Vgl. die ent© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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plausibel zu machen, ist es wichtig, den Blick historisch auszuweiten. Denn das Spannungsfeld, in dem sich Enzensberger bewegt, ist – wie unten gezeigt werden wird – kennzeichnend für die gesamte Literatur der Moderne seit 1800. Das Selbstverständnis des kritisch-engagierten Schriftstellers bildet hier nur eine von vielen möglichen Positionen. Im zitierten »Interview« kommt Enzensbergers Bedürfnis, die eigene Rolle immer wieder neu zu reflektieren, bildhaft und konzentriert zum Ausdruck, und zugleich werden die Reaktionen thematisiert, die den häufigen Wandel dieser Rolle begleitet haben. Es stellt also eine Art poetologischer Selbstauskunft in fiktiver Form dar. Man kann die Konstellation des Textes so verstehen, dass sich hinter dem Schreibwarenhändler Enzensberger selbst verbirgt und der Interviewer für einen Teil der literarischen bzw. medialen Öffentlichkeit steht. Das lässt sich in erster Linie dadurch plausibilisieren, dass im Interview auf eine Reihe von Enzensbergers Texten angespielt wird. So behauptet der Interviewer etwa, dass Herr Holzapfel in Deutschland einer der ersten gewesen sei, »die den Schreibwarenhandel als Institution radikal in Frage gestellt haben. Vor zehn Jahren sollen Sie sogar erklärt haben, Sie könnten sich eine Welt ohne Büroklammern vorstellen.«7 Hier ist der Essay »Gemeinplätze, die neueste Literatur betreffend« gemeint, eine von Enzensbergers bekanntesten Äußerungen zur Funktion und Aufgabe von Literatur, die im November 1968 in der vom Autor auch herausgegebenen Zeitschrift »Kursbuch« (Nr. 15) erschien. Der Essay vertritt die These: »Für literarische Kunstwerke läßt sich eine wesentliche gesellschaftliche Funktion in unserer Lage nicht angeben.«8 Und diese Festsprechenden Bände aus Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur: Ludwig Fischer (Hg.), Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, München u. a. 1986, Klaus Briegleb / Sigrid Weigel (Hg.), Gegenwartsliteratur seit 1968, München 1992; Ingrid Eggers, Veränderungen des Literaturbegriffs im Werk Hans Magnus Enzensbergers, Frankfurt a. M. 1981. Man hat auch schon festgestellt, dass diese Wandlungen zwar konstatiert, aber kaum erklärt wurden, vgl. Henning Marmulla, Poesie, Politik und das Politische in der literarischen Sprache der 1960er Jahre: Das Beispiel Hans Magnus Enzensberger, in: Willibald Steinmetz (Hg.), Politik. Situationen eines Wortgebrauchs im Europa der Neuzeit, Frankfurt a. M. 2007, S. 479–497, hier S. 480. 7 Ebd., S. 9. 8 Hans Magnus Enzensberger, Gemeinplätze, die neueste Literatur betreffend, in: Kursbuch 15 (1968), S. 187–197, hier S. 195. Auf diesen Text wird weiter unten noch genauer eingegangen. Die vom Interviewer gemeinte radikale Infragestellung des Schreibwarenhandels als Institution spielt zudem auf ein populäres Missverständnis an, das die Rezeption des Textes von Anfang an begleitet hat. Weil Enzensberger, um den gesellschaftlichen Stellenwert der Literatur zu diskutieren, auf das literarische Motiv vom »Tod der Literatur« verweist, ordnet v. a. die zeitgenössische Rezeption den Text häufig selbst in diese Argumentation ein, unterstellt Enzensberger also, er habe seinerseits den ›Tod der Literatur‹ verkündet. Vgl. dazu die Bemerkungen Enzensbergers im Interview mit Alfred Andersch von 1979: Die Literatur nach dem Tod der Literatur, in: Enzensberger, Zu große Fragen, S. 302–321, hier S. 310 ff. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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stellung ist durchaus mit einem klagenden Unterton versehen. Im »Interview«Text wird weniger auf diese Diagnose eingegangen als auf die Entschlossenheit, mit der Holzapfel seine Position vertreten hat: »auf unsere Generation hat Ihre entschiedene Haltung damals einen nachhaltigen Eindruck gemacht. Wir fanden das Klasse!«9 Dass sich Herrn Holzapfels Ansichten inzwischen ein wenig verändert haben, wird vom Interviewer deshalb beklagt: »Aber wenn ich mich in Ihrem Laden so umsehe … Das sind mir einfach zu viele Glückwunschkarten … Geschenkartikel … Dekopapiere … Wissen Sie, was mir hier fehlt? Das Subversive! Ein Schreibwarenhändler, der sich nicht kritisch engagiert, der nicht Sprengstoff ist für die Gesellschaft … Ich frage Sie, Herr Holzapfel: Wo bleibt Ihr Outsidertum, Ihre Revolte? Haben Sie resigniert?«10

Tatsächlich ist auch Enzensberger immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert worden, ein auf Kritik und gesellschaftliches Engagement gerichtetes Literaturverständnis aufgegeben und sich mit Themen und literarischen Formen beschäftigt zu haben, deren sozialer Nutzwert aus Sicht seiner Kritiker fragwürdig ist.11 Der eigentliche Problemgegenstand des Gesprächs ist also die Festlegung von Literatur auf ihre Rolle als kritische Instanz, deren Aufgabe es ist, gesellschaftliche Fehlentwicklungen herauszustellen und sich für ihre Korrektur einzusetzen. Interessant ist, dass Enzensberger mit diesem knappen satirischen Text eine Metaperspektive zum intellektuellen Diskurs der 1960er und 70er Jahre einnimmt und auch die eigene Rolle darin thematisiert. Denn die Festlegungen und Überzeugungen zur Aufgabe von Literatur, die Enzensberger hier mit Spott überzieht, hatte er selbst schon mit einigem Engagement vertreten. Allerdings erhält der Text durch seinen Schluss noch eine zusätzliche Bedeutung. Die zitierten Äußerungen des Interviewers erwecken zunächst den Eindruck, als solle in erster Linie die von ihm vertretene Norm disqualifiziert werden.12 Wenn Herr Holzapfel aber am Ende, nachdem er ihn seines Ladens verwiesen 9 Enzensberger, Interview, S. 9. 10 Ebd., S. 9. 11 Als Beispiel für den zeitgenössischen Diskurs vgl. etwa den erstmals 1968 publizierten Beitrag von Peter Hamm, Opposition – am Beispiel H. M. Enzensberger, in: Joachim Schickel (Hg.), Über Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt a. M. 1970, S. 252–262. 12 Hinzu kommen noch Anspielungen auf prägende Positionen des literarischen Diskurses der 1960er und 70er Jahre, die diese als völlig abstrus erscheinen lassen. Etwa wenn von einem Herrn Croque, dem »führenden Kopf der Pariser Gruppe Nouvelle Papeterie« die Rede ist, der die »systemkonformen Schreibwarenhändler« für »historisch obsolet« erklärt habe. Hinter »Knorkes Streitschrift ›Zum Warencharakter der Schreibware‹« verbergen sich mit einiger Sicherheit Theodor W. Adornos marxistische Thesen zum Warencharakter der Literatur. Adornos ästhetische Schriften avancierten zu den einflussreichsten poetologischen Äußerungen der Nachkriegszeit, deren Geltungskraft für weite Teile des literarischen Diskurses bis in die 1980er Jahre hinein kaum zu überschätzen ist. Vgl. dazu Gerhard Plumpe, Ästhetische Kommunikation der Moderne, Bd.  2, Von Nietzsche bis zur Gegenwart, Opladen 1993, S. 203–245. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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hat, hinter dem Reporter die Tür abschließt, auf einen Stuhl sinkt und bitterlich zu weinen anfängt,13 dann wird hier nicht einfach die entgegen gesetzte Norm etabliert. Denn diese emotionale Äußerung bringt zum Ausdruck, dass persönliche Verunsicherungen und Identitätsfragen aufgeworfen werden, wenn die sichere Überzeugung, mit der Literatur sei ein gesellschaftlicher Sinn verbunden, problematisiert wird. Für Enzensbergers Werk ist diese Ambivalenz kennzeichnend. Wenn er die Rolle des Schriftstellers als kritisch engagiertem Intellektuellen hinterfragt, geht es ihm nicht darum, diese Rolle gänzlich zu verabschieden, sondern um einen Hinweis auf deren historische und normative Bedingtheit. Zugleich kann die Gefühlsregung Herrn Holzapfels als Sinnbild für Enzensbergers solitäre Stellung in der jüngeren Literaturgeschichte gelesen werden: Weil er sich keiner ideengeschichtlichen oder ästhetischen Strömung eindeutig zuordnen lässt, weil er seine Haltungen immer wieder neu bestimmt, hat sich die Literaturgeschichtsschreibung mit diesem Autor immer sehr schwer getan.14 Hans Magnus Enzensberger und mit ihm Herr Holzapfel sind also auch etwas allein auf weiter Flur.

Zornige Anfänge und frühe Abwege Hans Magnus Enzensberger betrat die literarische Bühne zunächst als Lyriker mit den Gedichtbänden »verteidigung der wölfe« (1957) und »landessprache« (1960). Beide Textsammlungen schlugen einen neuen Ton in der Lyrik der Nachkriegszeit an, die noch stark von den ästhetischen Positionen des späten Gottfried Benn geprägt war. Benn hatte in einem Vortrag über »Probleme der Lyrik« von 1951 die formale Gestaltung eines Gedichts in den Vordergrund ge-

13 Vgl. Enzensberger, Interview, S. 10 f. 14 Dass die Verortung Enzensbergers in literaturgeschichtliche Kategorien schwierig zu sein scheint, zeigt sich bereits daran, dass die vielen Einzeluntersuchungen zu seinem Werk sich meistens auf begrenzte thematische oder formale Aspekte konzentrieren oder an literaturwissenschaftlichen Theorien orientierte Modellanalysen bieten. Die brauchbarste Monographie, die eine Einbettung in übergreifende historische Kontexte vornimmt, ist nach wie vor die Biographie von Jörg Lau. Neuerdings liegt ein Sammelband vor, der Enzensbergers Werk ideengeschichtlich erschließt: Dirk von Petersdorff (Hg.), Hans Magnus Enzensberger und die Ideengeschichte der Bundesrepublik, Heidelberg 2010. Man kann dieses Manko freilich nicht Enzensberger anlasten, sondern den dominanten literaturgeschichtlichen Periodisierungskategorien. Dass eine auch normativ eingeschränkte Perspektive Autor und Werk nur schwer gerecht wird, zeigt sich an älteren Literaturgeschichten, z. B. Ralf Schnell, Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945, Stuttgart 2003. – Eine ähnliche solitäre Stellung im literarischen Feld der Nachkriegszeit kommt allenfalls noch Peter Rühmkorf zu; vgl. Peter Bekes, Zwei Solisten im Doppelpass. Peter Rühmkorf und Hans Magnus Enzensberger, in: Literatur im Unterricht 7 (2006), S. 23–37. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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stellt und den Inhalt abgewertet.15 Der damit formulierte Gedanke der ästhetischen Autonomie fand in der Literatur der unmittelbaren Nachkriegszeit viele Anhänger, sie grenzte sich ab von ihrer Umwelt und schuf einen ästhetizistischen Gegenraum. Damit kam sie offenbar einem nach dem Ende des Nationalsozialismus weit verbreiteten Bedürfnis entgegen, die Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit zu vermeiden. Eine jüngere Generation von Lyrikern, zu der auch Enzensberger gehörte, grenzte sich nun bewusst von dieser Haltung ab. Ähnliche Positionen hatte die wichtigste literarische Gruppierung der Nachkriegszeit, die von Hans Werner Richter initiierte »Gruppe 47« bezogen, wo man für eine stärkere Auseinandersetzung mit politischen und gesellschaftlichen Prozessen in der Literatur plädierte. Inhaltlich kann hier – bei allen weltanschaulichen und ästhetischen Unterschieden, die die Gruppe prägten, – der kleinste gemeinsame Nenner »in einer Distanz zu den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Fünfziger- und frühen Sechzigerjahre«16 gesehen werden. Allerdings wird auch die Autonomie der Literatur verteidigt, wird der Preis der Gruppe an Autoren wie Günter Eich (1950), Ingeborg Bachmann (1953) oder Johannes Bobrowski (1962) verliehen, deren Interessen eher auf dem Gebiet der Sprachartistik lagen und die nicht für ein gesellschafts­ kritisch orientiertes Literaturverständnis standen. Die Spannung zwischen den Ansprüchen, Literatur einerseits gesellschaftlich und politisch relevant erscheinen zu lassen, andererseits den Anschluss an die literarische Tradition und damit den ästhetischen Wert der Literatur zu sichern, zeigt sich auch schon in Enzensbergers frühen Gedichten. So betont Alfred Andersch in einer 1958 erschienenen, berühmt gewordenen Rezension das kritische Element von Enzensbergers erstem Gedichtband. Die Texte seien im »Ton revolutionärer Aufrufe«17 gehalten, hinter ihnen stehe ein »zorniger junger

15 Benn spricht dort über »das absolute Gedicht […], das Gedicht an niemanden gerichtet.« Weiter heißt es: »Die Inhalte eines Gedichtes […] die hat ja jeder […], aber Lyrik wird daraus nur, wenn es in eine Form gerät, die diesen Inhalt autochthon macht, ihn trägt, aus ihm mit Worten Faszination macht. […] Form ist der höchste Inhalt.« Gottfried Benn, Probleme der Lyrik, in: Lyriktheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart, hg. v. Ludwig Völker, Stuttgart 1990, S. 357–365, hier S. 359, 363 f. Wenigstens wurden Benn und seine Lyrik der unmittelbaren Nachkriegsphase größtenteils so rezipiert. Man kann in der letzten Phase aber auch Gedichte finden, in denen das lyrische Subjekt sich – zwar fragend und staunend – dem Alltag zuwendet, sich nicht mehr daraus zurückziehen muss. Vgl. Dirk von Petersdorff, Geschichte der deutschen Lyrik, München 2008, S. 96 f. 16 Von Petersdorff, Literaturgeschichte der Bundesrepublik, S.  24. Zur Entwicklung der Gruppe 47 und zu einzelnen Positionen in der Frage nach dem Verhältnis von Literatur und Politik vgl. Heinz Ludwig Arnold, Die Gruppe 47, München 2004 (= Sonderband Text + Kritik). 17 Alfred Andersch, I (in Worten ein) zorniger junger Mann, in: Schickel, S. 9–13, hier S. 12 (zuerst 1958). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Mann«, dessen Kritik sich von keiner Richtung einvernehmen lasse. Zugleich stellt Andersch die poetische Qualität der Gedichte heraus: »Gedichte heißen telegrammschalter null uhr zwölf oder bitte einsteigen türen schließen, und wer es nicht glaubt, daß sie trotzdem Gedichte bleiben, mag sie bei Enzensberger nachlesen.«18 Aber die poetische Virtuosität sei kein Selbstzweck: »Sein Bewußtsein gestattet es seiner leichten Hand nicht, sich zu emanzipieren […]. Was ihn beherrscht, ist ein Gefühl, das zwischen wildem Haß und hellem Zorn, zwischen hochmütiger Verachtung und Empörung pendelt.«19

Tatsächlich wird der Gesellschaft der jungen Bundesrepublik kein gutes Zeugnis ausgestellt, Enzensberger sieht einen autoritären Geist und ein enges, konformistisches Normgefüge, in dem Überzeugungen und soziale Praktiken aus der Phase des Nationalsozialismus weitergeführt werden: »Der Tag kommt, wo sie wieder Listen ans Tor / schlagen und malen den Neinsagern auf die Brust / Zinken.«20 Neben die Gedichte treten schon bald essayistische Äußerungen, für die der Autor ebenso bekannt wird wie für seine lyrischen Anfänge. Hier ist die EssaySammlung »Einzelheiten« (1962) zu nennen, deren 23 zwischen 1956 und 1962 entstandene Texte zum größten Teil kritische Deutungen der Gegenwartskultur bieten und dabei nicht nur die Hochkultur in den Blick nehmen, sondern auch große Medien (»FAZ«, »Der Spiegel«, »Wochenschau«), die Konsumentwicklung in der jungen Bundesrepublik (»Das Plebiszit der Verbraucher«) und den Massentourismus (»Eine Theorie des Tourismus«, 1958). Die Perspektive, unter der sich Enzensberger diesen Erscheinungen nähert, fasst er selbst mit dem thesenartigen Begriff der »Bewußtseins-Industrie« zusammen, der titelgebend ist für den ersten Text der Sammlung. »Bewußtseins-Industrie« meint dabei aus Enzensbergers Sicht die ›industrielle Induzierung‹21 von Denken und Handeln in seiner Gegenwart, etwa durch Medien oder Konsumgüter. Er entwickelt damit den von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno geprägten Begriff der »Kulturindustrie« weiter, um die strukturellen Eigenschaften der Kultur der Nachkriegszeit benennen zu können. Enzensberger reflektiert dabei die eigene Position immer mit, ist sich also etwa bewusst, durch die Veröffentlichung seines Textes selbst Produzent im Rahmen der »Bewußtseinsindustrie« zu sein. Er vertritt daher nicht ein simples kulturkritisches Muster, das die Abschaffung der industriellen Strukturen der Kultur fordern würde: »jede Kritik an der 18 Ebd., S. 11, Hervorhebungen im Original. 19 Ebd., S. 12. 20 Hans Magnus Enzensberger, Ins Lesebuch für die Oberstufe. Zit. nach Hans Magnus Enzensberger, Die Gedichte, Frankfurt a. M. 1983, S. 22. 21 Vgl. ders., Bewußtseins-Industrie, in: ders., Einzelheiten I: Bewußtseins-Industrie, S. 7–17, hier S. 12. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Bewußtseins-Industrie, die deren Abschaffung fordert, ist hilf- und sinnlos. Sie läuft auf den selbstmörderischen Vorschlag hinaus, Industrialisierung überhaupt rückgängig zu machen«.22 Enzensberger folgt vielmehr einem aufklärerisch zu nennenden Impuls, der ein kritisches ›Bewusstsein‹ für die Zusammenhänge schaffen will, von denen er glaubt, dass sie die moderne Gesellschaft strukturell und von der Mehrheit ihrer Mitglieder unerkannt bestimmen. Zentral ist dabei die Rolle des Intellektuellen als Kulturproduzent. Dieser Produzent müsse lernen, mit den Herausforderungen der industriellen Prozesse um­ zugehen, »sich auf ihr gefährliches Spiel einzulassen.«23 Unter dieser Metaperspektive rücken die anderen Texte des Bandes konkreten Gegenstände zu Leibe. Kennzeichnend für diese Aufsätze ist eine starke Wahrheitsgewissheit. Es gibt für den Intellektuellen Enzensberger in dieser frühen Phase klar bestimmbare Normen, die allgemeine Gültigkeit beanspruchen können, allerdings nicht einfach grundlegenden Überzeugungen entspringen. Zwar zeigen die Texte sehr deutlich eine von Adorno beeinflusste kulturkritische Attitüde, die den manipulativen Charakter von »Massenmedien« bzw. »Konsumgütern« anprangert. Der Maßstab, den Enzensberger anlegt, wird aber in erster Linie aus dem Anspruch des jeweiligen Gegenstandes selbst gewonnen. So weist er dem Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« durch eine detaillierte Stilanalyse nach, »daß die Sprache der Zeitung unkenntlich macht, was sie erfaßt.«24 Der Anspruch des Magazins auf investigativen Journalismus25 werde nicht eingelöst, das Interesse an der Sache, die aufklärerische Funktion in der Medienlandschaft, die sich der »Spiegel« selbst zuweise, werde konter­ kariert, weil die Sprache der Texte eine »Trübung durch Jargon und verstecktes Vorurteil« in sich trage. Die »angestrengte Humorigkeit«, erinnert Enzensberger darüber hinaus »an die albtraumartigen Bunten Abende, die vor zwei Jahrzehnten unter dem Motto ›Kraft durch Freude‹ sich so viele Freunde gewinnen konnten.«26 Gleichzeitig wird deutlich, dass Enzensberger die Rolle journalistischer bzw. intellektueller Äußerung nicht darauf beschränken will, auf Missstände hinzuweisen. Kritik solle vielmehr für Veränderungen sorgen, was dem »Spiegel« nicht gelingen könne, weil er keine klar benennbare Position besitze: »Wer nicht bereit ist, Stellung zu beziehen […], der schränkt seine Kritik von vornherein auf bloße Taktik ein und gesteht, noch ehe er sie übt, daß sie nichts aus den Angeln heben soll«27 Die Rolle, die der »Spiegel« im journalistischen

22 Ebd. 23 Ebd., S. 17. 24 Enzensberger, Die Sprache des »Spiegel«, in: ders., Einzelheiten I, S. 74–105, hier S. 80. 25 Der eigene Anspruch der Zeitschrift wird anhand eines Statuts, von Webebroschüren und von Äußerungen des Herausgebers Rudolf Augstein nachgewiesen. 26 Ebd., S. 83 f. 27 Ebd., S. 91. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Feld beansprucht, fällt auf diese Weise eher Enzensbergers Text selber zu.28 Ganz ähnlich geht der Autor in seiner Kritik der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung« vor, die er durch einen groß angelegten empirischen Vergleich mit anderen internationalen Tageszeitungen von ihrem Sockel holen will. Dies geschieht vor allem durch den Nachweis, dass sie entgegen dem eigenen Anspruch nicht unabhängig, nur lückenhaft oder zu spät berichte: »wem an zuverlässiger Unterrichtung gelegen ist, wer keine Lust hat, sich Tag für Tag durch einen grauen Berg von Zweideutigkeiten und Suggestion zu lückenhaften Informationen durchzubeißen, und keine Lust, sich bevormunden zu lassen; kurz, wer eine brauchbare Zeitung sucht;  – der wird gut daran tun, sich auf eins der großen Blätter dieser Welt zu abonnieren, die sich an die alten, vom Bürgertum erkämpften und in wahrhaft freien Ländern heute noch behaupteten Spielregeln halten.«29

Während in diesen medienkritischen Texten eine am Aufklärungsgedanken orientierte Intervention gesehen werden kann, die beide Zeitungen an ihren Auftrag erinnern möchte und dadurch die politisch-moralische ›Besserung‹ der Gesellschaft bezweckt, gerät die Mehrheit dieser Gesellschaft im konsum­k ritischen Essay »Das Plebiszit der Verbraucher« von 1962 selbst in den Blick. Das Angebot, das der »Neckermann-Katalog« bereithält, wird als Zeichen für den moralisch-ästhetischen Zustand der westdeutschen Bevölkerung verstanden: »Es ist nicht möglich, von dem Ergebnis dieses Plebiszits mit ein paar dürren Worten eine auch nur halbwegs ausreichende Vorstellung zu geben. Dazu ist es allzu trostlos. Die Mehrheit unter uns hat sich für eine kleinbürgerliche Hölle entschieden, aus der es kein Entrinnen zu geben scheint. Diese Welt ist vollkommen geschlossen und gegen jede Störung abgedichtet. Jeder neue Gegenstand, der in sie eindringt, wird von ihr sofort assimiliert und adaptiert.«30

Es gehört zur Logik solcher Kulturkritik, dass nicht klar wird, wie sich der Kritiker ein ›richtiges‹ bzw. besseres Leben eigentlich vorstellt und wie es möglich sein könnte, letztlich ästhetische Urteile, auch wenn sie hier politisch ausgedeutet werden, zu verallgemeinern. 28 Eine besondere Pointe erhält die Kritik am »Spiegel« noch dadurch, dass der Text – nachdem er im Rahmen einer Radiosendung des SDR 1957 erstmals veröffentlicht wurde – von seinem Gegenstand selbst nochmals publiziert wurde. Dies verrät ein von Enzensberger für eine spätere Publikation geschriebener Zusatz: »Die Redaktion des Magazins bat wenige Tage nach der Sendung um die Erlaubnis zum teilweisen Abdruck des Manuskripts in seinen Spalten. Sie wurde erteilt.« (Enzensberger, Sprache, S. 103) 29 Enzensberger, Journalismus als Eiertanz. Beschreibung einer Allgemeinen Zeitung für Deutschland, in: ders., Einzelheiten, S. 18–73, hier S. 73. 30 Enzensberger, Das Plebiszit der Verbraucher, in: Enzensberger, Einzelheiten, S. 167–178, hier S. 168. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Man kann sich nach der Lektüre dieser Texte sehr genau vorstellen, was Alfred Andersch in seiner Rezension mit dem »zornigen jungen Mann« gemeint hat. Enzensbergers Sprache ist mit einem für die literarische und intellektuelle Szene der späten fünfziger und sechziger Jahre untypischen Furor und Sendungsbewusstsein ausgestattet. Versucht man Enzensberger aufgrund dieser Äußerungen in Typologien der Intellektuellen-Forschung einzuordnen,31 dann erscheint es am plausibelsten, sein Selbstverständnis mit dem von Ralf Dahrendorf entwickelten Modell des »öffentlichen Intellektuellen« zu benennen. Kennzeichnend für deren Vertreter ist, dass sie ihren »Beruf darin sehen, an den vorherrschenden Diskursen der Zeit teilzunehmen, ja deren Thematik zu bestimmen und deren Richtung zu prägen.«32 Sie sind jedoch nicht Kämpfer für eine bestimmte Partei, sondern agieren als externe, gleichwohl engagierte Beobachter, die für die Geltung übergeordneter, unabhängiger Normen wie Vernunft und Wahrheit streiten und in erster Linie das Ziel verfolgen, »den Durchblick zu behalten.«33 Diese Kennzeichnung kann für Enzensbergers frühes Werk vom Ende der fünfziger bis Anfang der sechziger Jahre gelten. Eine greifbare Selbstreflexion dieser Rolle findet an zwei Stellen statt: Erstens im Rahmen einer Kontroverse mit dem Schriftsteller Peter Weiss (1916–1982), zweitens in den Frankfurter Poetik­vorlesungen von 1964 / 65. Der Auseinandersetzung mit Weiss vorausgegangen war Enzensbergers 1965 im Kursbuch erschienener Artikel »Euro­päische Peripherie«, in dem er sich mit den Befreiungsbewegungen in kolonialisierten Gesellschaften um 1960 und zugleich mit den an sie gerichteten Solidaritätsbekundungen auseinandersetzt, die Politiker aus der westlichen Welt zu dieser Zeit häufig formulieren. Dabei unterstellt er gerade den links orientierten Akteuren Heuchelei und idealistische Rhetorik: »Alle diese Haltungen stellen gescheiterte Versuche zur Schau, sich mit dem Los der Armen Welt zu solidarisieren. […] Alle Vorsätze von idealistischen Helfern, die Lebensbedingungen jener ›Anderen‹ zu teilen, bleiben letzten Endes fiktiv, und es haftet ihnen eine Spur von privater Seelen-Hygiene an.«34 Seine analytische Schlussfolgerung lautet: »Ein gemeinsames ›Klassenbewußtsein‹ zwischen armen und reichen Völkern ist nicht möglich.«35 Das Ziel des Autors besteht 31 Ingrid Gilcher-Holtey hat vier dieser Positionen im Prolog zu dem von ihr herausgegebenen Sammelband Zwischen den Fronten. Positionskämpfe europäischer Intellektueller, Berlin 2006, S. 9–21, dargestellt. Neben Dahrendorfs Modell des »öffentlichen Intellektuellen« zählen dazu die Bestimmungen von Michel Foucault, Jean-François Lyotard und Pierre Bourdieu. 32 Ralf Dahrendorf, Versuchungen der Unfreiheit. Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung, München 2006, S. 22. 33 Vgl. ders., S. 31 f., S. 86. 34 Enzensberger, Europäische Peripherie, in: Enzensberger, Deutschland, Deutschland unter anderm, Frankfurt a. M. 1996, S. 152–176, hier S. 172 (zuerst 1965). 35 Ebd., S. 173. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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auch hier darin, die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit aufzudecken, sprachliche oder mora­lische Unzulänglichkeiten bewusst zu machen, es finden sich keine konkreten Handlungsanweisungen. Für Vertreter der deutschen Linken ist das politisch höchst unkorrekt und kein akzeptables Verhalten. In einer Replik wirft ihm Peter Weiss Unentschiedenheit vor, in Enzensbergers »Ausweichen vor einer persönlichen Stellungnahme [liege] eine Doppelmoral auf der Lauer.«36 Aus Weiss’ Sicht ist es unverzichtbar, dass auch die Intellektuellen auf »eine grundlegende soziale Veränderung der Welt« hinwirken, weshalb er von Enzensberger eine eindeutige Positionierung verlangt: »Auf wessen Seite stellen wir uns? […] Sind wir fähig, unsere Zweifel und unsere Vorsicht aufzugeben und uns zu gefährden, indem wir eindeutig aussprechen: Wir sind soli­ darisch mit den Unterdrückten und wir werden als Autoren nach allen Mitteln suchen, um sie in ihrem Kampf […] zu unterstützen?«37 Darauf antwortet Enzensberger, indem er alle Festlegungen zurückweist: »Die Moralische Aufrüstung von links kann mir gestohlen bleiben. Ich bin kein Idea­ list. Bekenntnissen ziehe ich Argumente vor. Zweifel sind mir lieber als Sentiments. Revolutionäres Geschwätz ist mir verhaßt. Widerspruchsfreie Weltbilder brauche ich nicht. Im Zweifelsfall entscheidet die Wirklichkeit.«38

In dieser Auseinandersetzung zwischen zwei Vertretern unterschiedlicher intellektueller Selbstverständnisse wird Enzensbergers schon beschriebene Metaperspektive nochmals deutlich. Ebenso in einer expliziten Reflexion über die Aufgaben von Literatur und ihrer Urheber in den Poetikvorlesungen, die Enzensberger im Wintersemester 1964 / 65 an der Universität Frankfurt hält. Hier stellt er die zweideutige Frage »Spielen Schriftsteller eine Rolle?« und formuliert eine ernüchternde Antwort, die der seit Ende der 1950er Jahre dominanten Auffassung zur politischen Funktion und zum politischen Engagement von Schriftstellern entgegentritt:39 Die Aussagen, der Schriftsteller habe »ein 36 37 38 39

Peter Weiss, Enzensberger Illusionen, in: Schickel, S. 239–245, hier S. 239 (zuerst 1965). Ebd., S. 244 f. Enzensberger, Peter Weiss und andere, in: Schickel, S. 246–251, hier S. 251 (zuerst 1966). Mitte der 1960er Jahre dominiert ein auf Engagement und Gesellschaftskritik gerichtetes Literaturverständnis, das in älteren literaturgeschichtlichen Darstellungen (vgl. etwa Schnell) unhinterfragt geteilt wird und die kaum reflektierte Bemessungsgrundlage der Literatur in Deutschland nach 1945 bildet. Neuere Darstellungen arbeiten die Dominanz heraus, vgl. von Petersdorff, Literaturgeschichte, S. 30 f., ebenso Axel Schildt / Detlef Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, S.  223 f. Aus der Perspektive des früheren Teilnehmers bestätigt Andersch den Befund: »Ich möchte sagen, daß die Literatur in den 50er Jahren eine Art Vorläuferfunktion zur Studentenbewegung […] gehabt hat. Man wußte seinerzeit, daß die Schriftsteller ›dagegen‹ waren. […] Von daher gesehen kommt dieser Literatur eine erhebliche kritische Bedeutung zu« (Enzensberger, Die Literatur nach dem Tod der Literatur, S. 305). © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Anliegen oder eine Verantwortung oder eine Aufgabe oder eine Verpflichtung«, seien, so Enzensberger »weder richtig noch falsch«.40 Auch sei das Verständnis des Schriftstellers als »Outsider« keinesfalls verallgemeinerbar: »Ein Outsider ist vielmehr immer nur derjenige Autor, der diese Charakteristik auf sich bezieht; das heißt, derjenige, der die Rolle eines Outsiders akzeptiert hat, und der sie spielt.«41 Über die Rolle der littérature engagée heißt es demgemäß: »Das Engagement ist nur ein Beispiel. Es ist eines von vielen landläufigen und beliebig verfügbaren Rollenfächern, die für jeden, der schreibt, kostenlos bereitstehen, ähnlich wie im traditionellen Theaterbetrieb die Fächer des Charakterhelden, des jugendlichen Liebhabers, des Bonvivants«.42

Man kann diese Sätze als eine sehr klare Analyse der literarischen Situation um 1960 bezeichnen, die in einem starken Wandlungsprozess begriffen war: Das Verständnis des Schriftstellers als Intellektuellem, der für Kritik und Veränderungsvorschläge zuständig ist, verfestigt sich in diesen Jahren und wird dominant. Positionen, die stattdessen die Vorzüge der neuen Gesellschaft betonen, die gestiegenen Freiheitsspielräume beschreiben und die Pluralisierung der Lebensformen begrüßen, sind nur selten zu finden.43 Der ›zornige junge Enzensberger‹ scheint auf den ersten Blick das dominante Rollenverständnis mitzutragen und zu erfüllen, die gesellschaftskritischen Kollegen betrachten ihn als einen der ihren und sind irritiert, wenn sich andere Töne in seine Texte mischen. Aber besonders die Debatte mit Peter Weiss und die Frankfurter Poetikvorlesungen geben explizit kund, dass dieser Autor einen anderen Blick auf das Gemeinwesen der Bundesrepublik und vor allem auf seinen Berufsstand hat. Zwar sieht auch er sich bemüßigt, in erster Linie die Defizite dieser Gesellschaft zu beschreiben.44 Allerdings bezieht er diese Position im Bewusstsein, dass sie nicht die einzig mögliche und keineswegs mit eindeutigen Handlungsanweisungen verbunden ist. So lassen sich jedenfalls die Formulierungen verstehen, die die erste Frankfurter Poetikvorlesung abschließen: »Inzwischen steht fest, dass es heute für einen, der schreibt, keine richtige Rolle gibt. Ein sicherer Port ist nicht zu erreichen.« Die Frage, ob sich Schriftsteller in einer Rolle bewegen, bejaht Enzensberger darüber hinaus mit dem Argument, dass es keinen Standpunkt jenseits der Vielheit der veränderlichen Normen gibt: »Keine Rolle mehr 40 Enzensberger, Frankfurter Poetikvorlesungen 1964 / 65, in: ders., Scharmützel und Scholien. Über Literatur, hg. v. Rainer Barbey, Frankfurt a. M. 2009, S. 7–82, hier S. 9. 41 Ebd., S. 11. 42 Ebd., S. 17. 43 Vgl. dazu nochmals Schildt / Siegfried, S.  223–237 und von Petersdorff, Literaturgeschichte, S. 44–55. 44 Die für ihn persönlich so gewichtig zu sein scheinen, dass er nicht mehr in Deutschland leben möchte und sich ab Ende fünfziger Jahre für einige Zeit auf eine Insel im OsloFjord zurückzieht, vgl. Lau, S. 44 f. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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zu spielen, hinter dem zu verschwinden, worauf es einzig ankäme: Das ist kein erfüllbarer Wunsch.«45 Vergleich man diese Passage mit einem nur wenige Jahre zuvor erschienenen Text, der sich derselben Problemstellung gewidmet hatte, dann lassen sich deutliche Verschiebungen in Enzensbergers Literaturverständnis feststellen, die allerdings erklärbar werden, wenn man sein Rollenbewusstsein in die Bewertung mit aufnimmt. In »Poesie und Politik« von 1962 beschäftigt sich der Essayist und Lyriker mit der Frage der literarischen Autonomie und den Wirkmöglichkeiten von Lyrik. Dabei wird ein politisches Gedicht in enger Anlehnung an bekannte Äußerungen Adornos46 dialektisch so bestimmt, dass es »sein politischer Auftrag ist, sich jedem politischen Auftrag zu verweigern und für alle zu sprechen noch dort, wo es von keinem spricht, von einem Baum, von einem Stein, von dem was nicht ist.«47 Als subversive Funktion der Literatur gilt, dass sie »im Angesicht des gegenwärtig Installierten […] an das Selbstverständliche, das unverwirklicht ist«, gemahne. Interessant ist nun, dass Enzensberger diese Annahmen über eine politische Funktion von Literatur auch nach den Poetikvorlesungen, die sie als kaum legitimierbar darstellen, nicht verabschiedet, sondern spätestens 1968 umso deutlicher auf sie zurückgreift.

Die Rolle des literarischen Revolutionärs In den Jahren zwischen 1966 und 1969 wechselt Enzensberger sehr eindeutig ins Rollenfach des eingreifenden Intellektuellen. In zahlreichen Stellung­ nahmen, die häufig auf konkrete politische Entwicklungen oder Ereignisse reagieren, greift er ins Tagesgeschehen ein und bedient sich dabei auch einer Rhetorik, die er in der Entgegnung auf Peter Weiss’ Kritik als »revolutionäres Geschwätz« bezeichnet hatte. Einen ersten großen Auftritt hat der engagierte Intellektuelle Enzensberger auf dem Frankfurter Kongress »Notstand der Demokratie« vom 30.  Oktober 1966, der vor allem von Gewerkschaften initiiert 45 Enzensberger, Poetikvorlesungen, S. 25 f. 46 In seiner »Rede über Lyrik und Gesellschaft« von 1951 hatte Adorno die Autonomie der letzteren wie folgt verteidigt: »Diese Forderung an die Lyrik jedoch, die des jungfräu­ lichen Wortes, ist in sich selbst gesellschaftlich. Sie impliziert den Protest gegen einen gesellschaftlichen Zustand, den jeder Einzelne als sich feindlich, fremd, kalt, bedrückend erfährt, und negativ prägt der Zustand dem Gebilde sich ein: je schwerer er lastet, desto unnachgiebiger widersteht ihm das Gebilde, indem es keinem Heteronomen sich beugt und sich gänzlich nach dem je eigenen Gesetz konstituiert. […] Im Protest dagegen spricht das Gedicht den Traum einer Welt aus, in der es anders wäre.« Theodor W. ­Adorno, Rede über Lyrik und Gesellschaft, in: ders. Noten zur Literatur, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 2005, S. 49–68, hier S. 51 f. 47 Enzensberger, Poesie und Politik, in: ders., Einzelheiten II: Poesie und Politik, Frankfurt a. M. 1964, S. 113–137, hier S. 136. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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und organisiert worden war und zu dem sich mehr als 20.000 Menschen auf dem Römerberg einfanden. Die Kundgebung ist gegen die von der Großen Koalition auf Bundesebene geplanten Notstandsgesetze gerichtet, und Enzensberger kann in dieser Konstellation ein bewährtes Denkmuster wieder aufgreifen. Aus seiner Sicht stellen diese Notstandsgesetze einen Ausverkauf der Demokratie dar, die es zu verteidigen gilt, auch hier fallen – per Grundgesetz verbriefter – Anspruch und politische Wirklichkeit auseinander. Daher ruft Enzensberger nach einer wehrhaften demokratischen Gemeinschaft: »Wir, die Leistungspflichtigen, die Dienstpflichtigen, die Meldepflichtigen, die Selbstschutzpflichtigen, wir können uns und die Verfassung am Ende wirklich selber schützen. Dem Notstand, der sich selber zum Gesetz erhebt, ist nur auf eine Weise zu begegnen: mit Widerstand, mit Streik und mit Sabotage.«48 Auf einer Protestveranstaltung, die zwei Tage vor der entscheidenden Abstimmung über diese Gesetze, am 28. Mai 1968 in Frankfurt stattfand, veschärfte Enzensberger seinen Ton und zog aus den Diskussionen über die Notstandsgesetzgebungen einen klaren Schluss: »Die Lehre ist klar: Bedenken sind nicht genug, Mißtrauen ist nicht genug, Protest ist nicht genug. Unser Ziel muß sein: Schaffen wir endlich, auch in Deutschland, französische Zustände.«49

Enzensbergers Reflexion seiner neuen Rolle ließ nicht lange auf sich warten und lieferte poetologische Argumente für ihre Rechtfertigung. In einem zunächst September 1967 im »Times Literary Supplement« unter dem Titel »The Writer and the Politics« veröffentlichten, 1970 in Enzensbergers eigener Übersetzung unter der Überschrift »Klare Entscheidungen und trübe Aussichten« wieder­ abgedruckten Text blickt er auf die Geschichte der deutschen Nachkriegsliteratur zurück und bilanziert deren politische Wirkungen und konkrete Ergebnisse. Es habe eine gewisse Logik gehabt, dass sich die überwiegende Mehrheit der Autoren in der Nachkriegszeit »von vornherein und beinahe ohne eine

48 Ders., Was da im Bunker sitzt, das schlottert ja, in: Der Spiegel 46 (1966) vom 7. November 1966, S. 78. Enzensberger konnte sich als Revolutionsredner der Unterstützung seiner Schriftstellerkollegen durchaus nicht sicher sein, wie der inzwischen edierte Briefwechsel mit Uwe Johnson deutlich macht. Johnson wirft Enzensberger eben das vor, was dieser selbst häufig als Argument gegen plattes intellektuelles Engagement verwendet hatte, die nicht überbrückbare soziale Distanz zwischen Intellektuellen und »Leistungspflichtigen«, die in der modernen Gesellschaft kaum zu erreichen seien. Vgl. Enzensberger, Uwe Johnson, fuer Zwecke der brutalsten Verstaendigung. Hans Magnus Enzensberger – Uwe Johnson. Der Briefwechsel, hg. v. Henning Marmulla / Claus Kröger, Frankfurt a. M. 2009, S. 142 f. 49 Enzensberger, Kampf gegen die Notstandsgesetze, in: Bernhard Pollmann (Hg.), Lesebuch zur deutschen Geschichte. Vom deutschen Reich bis zur Gegenwart, Dortmund 1984, S. 253–254, hier S. 254. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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eigene Entscheidung in der Rolle der Opposition vorfand.«50 Da viele dieser Autoren eng an die Sozialdemokratie gebunden gewesen seien, gebe es jedoch »in Deutschland keine organisierte Opposition mehr«,51 seit die SPD in der Großen Koalition in die Regierungsverantwortung eintrat. Für Enzensberger ist die Schlussfolgerung klar: »was auf der Tagesordnung steht, ist nicht mehr der Kommunismus, sondern die Revolution. Das politische System der Bundesrepublik ist jenseits aller Reparatur. Man kann ihm zustimmen, oder man muß es durch ein neues ersetzen. Tertium non dabitur.«52 Was das für die Literatur bedeutet, lässt der Text freilich offen. Fest steht für Enzensberger nur, dass »die Zeiten der diffusen, der halbangepaßten, einer literarischen Opposition, die alle fünfe gerade sein läßt«,53 vorbei seien, doch mehr als »trübe Aussichten« will er an dieser Stelle der Literatur in ihrem Verhältnis zur Politik nicht vorhersagen. Anders sieht es schon in den berühmten »Gemeinplätzen die neueste Literatur betreffend« aus, die das »Kursbuch« Ende 1968 bringt. Hier versucht Enzensberger Beispiele für Formen engagierter und zugleich praktisch-revolutionärer Literatur zu finden, nachdem er festgestellt hatte: »Für literarische Kunstwerke läßt sich eine wesentliche gesellschaftliche Funktion in unserer Lage nicht angeben.«54 Enzensberger geht es nun darum, eine gesellschaftliche Funktion der Literatur zu gewinnen, ihren praktischen Beitrag zu sozialen Veränderungen zu stärken. Die Autonomie des literarischen Systems ist dabei der erste Störfaktor: »Heute liegt die politische Harmlosigkeit aller literarischen, ja aller künstlerischen Erzeugnisse überhaupt offen zutage […]. Ihr aufklärerischer Anspruch, ihr utopischer Überschuß, ihr kritisches Potential ist zum bloßen Schein verkümmert.«55

Zugleich sieht er das Problem, dass ein literarischer Text sich nicht ohne weiteres als Agitationstext eignet, dass gerade diejenigen Merkmale, die ihn als literarisch ausweisen (z. B. Fiktionalität, Polyvalenz) dieser Funktion entgegenstehen. Enzensberger thematisiert das, als er die Forderung Régis Debrays aufgreift, die Literatur solle als bloßes Instrument der Agitation fungieren  – als Zeugnis des Kampfes, in Form von Fetzen und Schreien, einfacher Berichte, 50 Enzensberger, Klare Entscheidungen und trübe Aussichten, in: ders., Scharmützel, S. 305–312, hier S. 307. 51 Ebd., S. 309. 52 Ebd., S. 311, Hervorhebung im Original. Ganz ähnliche Forderungen erhob Enzensber­ ger in dem Essay »Berliner Gemeinplätze«, der im Frühjahr 1968 im »Kursbuch« erschien. Darin bekennt er sich klar zur Notwendigkeit von Revolutionen, um eine tatsächlich demokratische Gesellschaft entstehen lassen zu können, da von der parlamentarischen Demokratie nur noch die Fassade stehe, vgl. Enzensberger, Berliner Gemeinplätze, in: Kursbuch 11 (1968), S. 151–169, hier S. 153–156. 53 Ebd., S. 312. 54 Enzensberger, Gemeinplätze. S. 195. 55 Ebd., S. 124. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Lieder für den Marsch, Hilferufen, Losungen für den Tag. In Europa sei davon zur Zeit nichts zu sehen, sagt Enzensberger, die bisherigen literarischen Versuche in diese Richtung (Agitprop-Songs, Straßentheater) seien alle gescheitert, und zwar eben aufgrund der Eigenart literarischer Texte: »Die Adressaten durchschauen […] mühelos die schlechte Unmittelbarkeit, das hilflos Kurzschlüssige, den Selbstbetrug solcher Versuche und fassen sie als Anbiederung auf.« Dieses »revolutionäre Gefuchtel«56 führe keineswegs weiter  – immerhin seien schon einige Versuche zu erkennen, die in die richtige Richtung zeigen, z. B. Günter Wallraffs Reportagen oder Ulrike Meinhofs Kolumnen. Es besteht also noch Hoffnung: »Wenn die intelligentesten Köpfe zwischen zwanzig und dreißig mehr auf ein Agitationsmodell geben als auf einen experimentellen Text […] wenn sie darauf pfeifen, Belletristik zu machen und zu kaufen: Das sind freilich gute Zeichen.«57 Wie man sich unter diesen Bedingungen als Schriftsteller verhalten könne, um Literatur und Gesellschaft zusammenzuführen, davon hat Enzensberger eine mehr oder weniger klare Vorstellung: Es komme darauf an, einen Dialog zwischen den Literaturproduzenten und ihren Rezipienten herzustellen, es ist ein Interaktionsmodell, das ihm vorschwebt: Wenn man sich von den überkommenen Modellen des literarischen Systems löse, wenn andere Produktions-, Distributions- und Rezeptionsformen ausprobiert würden, also die Produk­ tionsverhältnisse verändert würden, dann könne der Schrifsteller mit seinen Texten etwas bewirken und zugleich etwas erfahren, das Enzensberger mit dem simplen Begriff »Folgen« kennzeichnet. Wenn der Schriftsteller von seinen Lesern »Korrekturen, Widerstände, Beschimpfungen, Gegenbeweise« erhalte, dann könne er darauf reagieren und dafür sorgen, dass seine Texte anwendbar werden, dass aus ihren Praxis wird, vielleicht »sogar eine gemeinsame Praxis«.58 Sieht man vom marxistischen Argumentationsstrang ab und konzentriert sich auf die Frage nach dem Verhältnis von Literatur zu Politik und Gesellschaft, die Enzensberger auch in diesem Text verfolgt, wird deutlich, dass er ein klares Beeinflussungsverhältnis fordert. Welche Folgen diese Bestimmung für das literarische System und seine ästhetischen Gesetze hat, bleibt jedoch ungeklärt. Die ästhetische Autonomie, die Enzensberger in anderen Texten immer wieder betont, tritt hier stark in den Hintergrund, und es fragt sich, wie Enzensbergers Vorstellungen zu einem literarischen Traditionsgefüge passen, in dem ästhetische Strukturen eine wesentlich Rolle spielen.

56 Ebd., S. 126. 57 Ebd., S. 122. 58 Ebd., S. 131. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Nach der ausgebliebenen Revolution Schon bald nach 68 ist es bei Enzensberger wieder vorbei mit der Beschränkung auf nur ein literarisches Rollenfach. Im Essay »Literatur als Institution oder Der Alka-Seltzer-Effekt« von 1974 findet sich ein zurückhaltenderer Ton, dort will er »keine Definitionen festlegen, keine Gesetze verkünden, keine Grundsätze aufstellen«,59 wenn er die Kompetenzen und Aufgaben der Literatur beschreibt. Diese Kompetenzen lägen nämlich nicht im politischen Bereich, von ihnen sei keine unmittelbare gesellschaftliche Wirkung zu erwarten: »Die Leistungen der Literatur sind unscheinbarer, aber auch subtiler und nachhaltiger. Ihr Werk war es, historisch neue Gefühle und Wahrnehmungen zu erfinden und herzustellen.«60 Mit diesen Gefühlen sind begreifbare, aber nicht-dis­kursive Lernprozesse gemeint. Enzensberger vergleicht die Funktionsweise der Literatur in der Gesellschaft mit dem Prozess, der sich in einem Wasserglas beim Auflösen einer Alka-Seltzer-Tablette abspielt: »Die Institution löst sich auf, doch sie verschwindet nicht. Sie ist immer noch vorhanden, aber sie fällt nicht mehr auf. Feinverteilt, als Lösung und als Disperion existiert sie weiter. Ihre Konzentration hat abgenommen, aber dafür ist sie nun allgegenwärtig.«

Hinzu komme der Bodensatz, der sich bildet, ein Rückstand der ursprünglich vorhandenen Konzentration, den man als bloßes Überbleibsel ansehen könne, »das im Vergleich zum großen Alka-Seltzer-Haupstrom keine Rolle zu spielen scheint. Aber wer weiß…«61 Diese Positionen sind charakteristisch für Enzensbergers Werk der 1970er Jahre, die Literatur wird nicht mehr als Künderin einer einzelnen, allgemeingültigen Wahrheit angesehen. Was in den Framnkfurter Poetikvorlesungen schon angedeutet war, wird in dieser Phase theoretisch reflektiert, etwa durch die Auseinandersetzung mit systemtheoretischen Positionen Niklas Luhmanns, so dass im Denken und Schreiben Enzensbergers zunehmend ein auf Pluralität und funktionale Differenzierung gegründetes Gesellschaftsbild in den Vordergrund tritt.62 59 Enzensberger, Literatur als Institution oder Der Alka-Seltzer-Effekt, in: ders., Scharmützel, S. 111–119, hier S. 111. 60 Ebd., S. 114. 61 Ebd., S. 118. 62 Vgl. Markus Schroer, Gesellschaft und Eigensinn. Hans Magnus Enzensbergers literarische Soziologie, in: von Petersdorff, Enzensberger, S.  9–36; Björn Bühner, Erneute Kämpfe. Zu Enzensberger Normativität, in: ebd., S. 65–79. Bei diesem Verständnis von Gesellschaft und der Rolle des Schriftstellers darin bleibt es freilich nicht, auch in den 80er und 90er Jahren ändern sich die Positionen stark. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Moderne Literatur in der modernen Gesellschaft Im literarischen Feld der 1960er und 70er Jahre nimmt Hans Magnus Enzensberger eine Sonderstellung ein, keiner Gruppierung, keiner politischen Richtung gehört er wirklich an, weder seine politischen noch seine ästhetischen Überzeugungen lassen sich festlegen. Zur Erklärung lassen sich biographische Faktoren anführen, die von Enzensberger selbst immer wieder angeführte Kategorie des ›Eigensinns‹ ist sicher relevant.63 Man kann seine häufigen Standortwechsel aber auch vor dem Hintergrund ideengeschichtlicher Entwicklungen der Literatur verstehen. Folgt man geschichts- und sozialwissenschaftlichen Beschreibungen der gesellschaftlichen Moderne, die die Periodisierungsgrenze um das Jahr 1800 ansetzen, dann zeigen sich verschiedene starke Umstrukturierungen, aus denen sich Richtungskriterien der Modernisierung ableiten lassen. Dazu gehören, schlagwortartig gesagt, Rationalisierung, Individualisierung, funktionale Ausdifferenzierung, kapitalistische Ökonomisierung usw.64 Diese Basisprozesse haben auch für das System Kunst erhebliche Folgen.65 Die Befreiung von heteronomen Vorgaben stellt die Künstler vor die Aufgabe, ihr Verhältnis zu anderen Bereichen der Gesellschaft selbst zu definieren. Wie in anderen Systemen auch steht dafür ein spannungsreiches Spektrum von Möglichkeiten zur Verfügung: Wenn im Bereich der Wissensgeschichte szientistische Welt­ bilder mit solchen konkurrieren, die wissenschaftliche Erklärungsmuster ablehnen, so stehen auch im Kunstsystem unterschiedliche Orientierungen zur Verfügung, um das Verhältnis von Kunst zur Gesellschaft und ihre Aufgabe darin zu bestimmen. Die Möglichkeiten reichen hier von der Schaffung ästhetizistischer Gegenräume zur außerliterarischen Wirklichkeit bis zum explizit politischen Engagement in literarischen Texten.66 Auch wenn sich die Optionen ausgeweitet haben, sind dominante Positionen in diesem Spannungsfeld feststellbar. Ich will abschließend nur eine davon näher bestimmen, um Enzens63 Etwa durch die Darstellungen in seinem Buch Hammerstein oder Der Eigensinn, Frankfurt a. M. 2008. 64 Vgl. etwa Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 1: Vom Feudalis­ mus des Alten Reichs bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815, München 1987, S. 22–48. 65 Eine grundlegende und lebendige Diskussion über dieses Verhältnis und die daraus abgeleiteten Begriffe von Moderne in der Literaturwissenschaft hat ein Aufsatz von AnkeMarie Lohmeier ausgelöst: Was ist eigentlich modern? Vorschläge zur Revision literaturwissenschaftlicher Modernebegriffe, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 32,1 (2007), S. 1–15, und die Reaktionen darauf in den folgenden Heften. 66 Diese Perspektive auf die Entwicklung der ästhetischen Kommunikation findet sich bei Dirk von Petersdorff, Die Öffnung des ästhetischen Feldes, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 32,2 (2010), S. 228–234. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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bergers Stellungnahmen einzuordnen. In vielen ästhetischen Selbstverständnissen zeigt sich ein skeptischer Blick auf die gesellschaftliche Moderne, eine Haltung, die eher die Lasten des Modernisierungsprozesses betont und seine Errungenschaften in den Hintergrund treten lässt. Das war keineswegs erst in der Nachkriegszeit der Fall, die Tradition beginnt mit den ästhetischen Schriften Friedrich Schillers und mit den Positionen der Frühromantiker. Bereits dort wurde die Kunst auf die Rolle festgelegt, erstens eine als defizitär empfundene Moderne kritisch darzustellen, zweitens jedoch Zumutungen des Modernisierungsprozesses zu heilen, dem modernen Menschen zumindest eine Auszeit zu bieten aus der universellen Dissoziation, Vereinzelung und Heimatlosigkeit. An diese Tradition knüpfen in der Folge zahllose Theoretiker und Schriftsteller an. Man kann diese Entwicklung möglicherweise als Bewältigung von Marginalisierungsängsten erklären: Mit der Durchsetzung ihrer Autonomie hatte die Kunst Freiheiten gewonnen, sie wurde von heteronomen Vorgaben befreit – konnte ab jetzt aber keine allgemeine Verbindlichkeit mehr für sich beanspruchen, hatte keine feste Funktion mehr. Diese Perspektive, dass in der Moderne die Beanspruchung übergeordneter Wahrheiten in der Literatur prinzipiell problematisch geworden ist, ist in der Literaturgeschichte eher selten anzutreffen. Man findet sie etwa bei Friedrich Schlegel, wenn er die »Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung«67 behauptet, oder bei Thomas Mann, wenn er in den »Betrachtungen eines Unpolitischen« von 1918 alle funktionalen Festschreibungen der Kunst, wie sie etwa sein Bruder Heinrich vornimmt, zurückweist und eine Volks- und Jugenderziehung durch die Kunst als ein »gewagtes, zu verbietendes Unternehmen«68 bezeichnet. Auch Hans Magnus Enzensberger reflektiert die Bedingungen moderner Gesellschaft so, dass er deren Offenheit, den Freiheitsgewinn für den Einzelnen zumindest zeitweise betont. Er verlegt sich aber auch auf die gegenteilige Position und orientiert sich damit im Spannungsfeld der Moderne, in dem die Literatur unterschiedliche Funktionen einnehmen kann, immer wieder neu, verwirft Gewissheiten, um nach neuen Beobachtungen zu anderen Überzeugungen zu gelangen. Er entspricht damit nur in Teilen dem Bild eines Intellektuellen, wie es in der Bundesrepublik der 1960er und 70er Jahre dominant war.

67 Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe, hg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von JeanJacques Anstett, Hans Eichner u. a., Paderborn u. a. 1958 ff., Bd. 2, S. 160. (Lyceum 108). 68 Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen, in: ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, hg. v. Heinrich Detering u. a., Bd. 13.1, S. 623. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Autorinnen und Autoren

Dr. Thomas Biebricher vertritt derzeit die Professur für Internationale P ­ olitische Theorie am Exzellenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnungen« der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Prof. Dr. Olaf Blaschke lehrt Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Universität Heidelberg. Prof. Dr. Regina-Maria Dackweiler, Politikwissenschaftlerin, lehrt zu gesellschaftlichen und politischen Bedingungen Sozialer Arbeit an der Hochschule RheinMain Wiesbaden-Rüsselsheim. Prof. em. Dr. Wolfgang Essbach, Soziologe an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Dr. des. Jens Ewen ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistische Literaturwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dr. Tobias Freimüller ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Prof. Dr. Ingrid Gilcher-Holtey lehrt Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der der Universität Bielefeld. Dr. Jens Hacke arbeitet als Politikwissenschaftler im Arbeitsbereich »Die Gesellschaft der Bundesrepublik« des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Dr. Christoph Henning arbeitet im Drittmittelprojekt »Politische Philosophie des Perfektionismus« an der School of Humanities and Social Sciences der Universität St. Gallen. Dr. Gregor Kritidis, Politikwissenschaftler, arbeitet gegenwärtig in der Erwachsenenbildung in Hannover. Prof. Dr. Thomas Kroll lehrt Westeuropäische Geschichte an der FriedrichSchiller-Universität Jena. © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525300459 — ISBN E-Book: 9783647300450

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Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Reinhard Mehring lehrt Politikwissenschaft und ihre Didaktik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Prof. Dr. Tilman Reitz lehrt Wissenssoziologie am Forschungszentrum Laboratorium Aufklärung und am Institut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dr. Patrick Wöhrle ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Technischen Universität Dresden und Kollegiat am Max-Weber-Kolleg für kultur-und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt. Prof. Dr. Andreas Ziemann lehrt Mediensoziologie an der Bauhaus-­Universität Weimar.

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