Integrative Medizin: Evidenzbasierte komplementärmedizinische Methoden [1. Aufl. 2019] 978-3-662-48878-2, 978-3-662-48879-9

Integration ist in der Gesellschaft zu einem Schlüsselbegriff geworden – auch in der Medizin. Die ganzheitliche Anwendun

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Integrative Medizin: Evidenzbasierte komplementärmedizinische Methoden [1. Aufl. 2019]
 978-3-662-48878-2, 978-3-662-48879-9

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XXI
Front Matter ....Pages 1-1
Integrative Medizin – die Wiederentdeckung der Ganzheit (Lothar Krenner)....Pages 3-21
Medizin – eine Disziplin zwischen Naturwissenschaft und Kunst (Herbert Pietschmann)....Pages 23-34
Die Bedeutung der Komplementärmedizin in Gesellschaft und Gesundheitssystem (Manfred Maier)....Pages 35-41
Front Matter ....Pages 43-43
Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin (Bernd Zeiger)....Pages 45-90
Medizin: naturwissenschaftlich-reduktionistisch vs. integrativ-ganzheitlich (Wolfgang Marktl)....Pages 91-92
Naturwissenschaftliche Modellierung physiologischer Prozesse: Rückkopplung, Nichtlinearität und Chaos (Karl W. Kratky)....Pages 93-116
Niederenergetische Bioinformation (Otto Bergsmann, Wolfgang Marktl, Roswitha Bergsmann)....Pages 117-135
Das System der Grundregulation – Drehscheibe mit Schlüsselfunktion für Organismus und Ganzheitsmedizin (Hartmut Heine, Otto Bergsmann, Roswitha Bergsmann)....Pages 137-171
Resilienz: der Weg der Krankheitsbewältigung (Raimund Jakesz)....Pages 173-178
Front Matter ....Pages 179-179
Herzratenvariabilität (Olaf Hoos)....Pages 181-197
Physioenergetik – holistische Kinesiologie (Margot Van Assche)....Pages 199-208
Funktionelle Myodiagnostik (Applied Kinesiology) (Margit A. Riedl-Hohenberger, Christian Kraler)....Pages 209-226
Elektroakupunktur nach Voll – ein ganzheitliches Diagnose- und Therapiesystem (Elisabeth Wernhart-Hallas)....Pages 227-235
Spezielle TAM-Diagnostik (Gertrude Kubiena, Florian Ploberger, Lothar Krenner)....Pages 237-250
Front Matter ....Pages 251-252
Pflanzenheilkunde (Ulrike Kastner, Wolfgang Kubelka, Petra Zizenbacher, Gerda Dorfinger, Woflgang Steflitsch, Iris Stappen et al.)....Pages 253-305
Behandlung des Bewegungsapparats (Richard Crevenna, Andreas Kainz, Michael Grössinger, Gabriele Von Gimborn, Hans Tilscher, Norbert Bachl)....Pages 307-379
Homöopathische Medizin – Methode und Anwendungen, Grenzen und Möglichkeiten (Michael Frass, Jutta Gnaiger-Rathmanner)....Pages 381-400
Homotoxikologie (Christian Plaue)....Pages 401-413
Mikroimmuntherapie (Ursula Bubendorfer, Petra Blum)....Pages 415-436
Kneippmedizin – traditionelle europäische Medizin (Gebhard Breuss, Rupert Klötzl, Heinz Schiller)....Pages 437-453
Anthroposophische Medizin (Harald Siber)....Pages 455-479
Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr (Sepp Fegerl, Alex Witasek)....Pages 481-519
Neuraltherapie – Grundlagen und Anwendung (Kurt Gold-Szklarski, Wolfgang Ortner, Johanna Osztovics)....Pages 521-539
Orthomolekulare Medizin (Rainer Schroth)....Pages 541-561
Musischer Ansatz (Gerhard Tucek, Harald Fritz-Ipsmiller)....Pages 563-589
Ganzheitliche Zahnheilkunde (Irmgard Simma-Kletschka, Eva Maria Höller)....Pages 591-639
Grundinformation zur medizinischen Anwendung von Ozon (Walter Pleyer, Renate Thiele)....Pages 641-666
Kurmedizin (Wolfgang Marktl, Petra Zizenbacher, Rainer Schroth, Florian Ploberger, Lothar Krenner)....Pages 667-698
Ernährung (Ludwig Kramer, Petra Zizenbacher, Gertrude Kubiena, Florian Ploberger, Lothar Krenner)....Pages 699-720
Komplementärmedizinische Methoden bei Krebserkrankungen (Leo Auerbach)....Pages 721-734
Front Matter ....Pages 735-735
Traditionelle chinesische Medizin (Alexander Meng, Michaela Bijak, Daniela Stockenhuber, Karin Stockert)....Pages 737-773
Traditionelle japanische Medizin (Bernd Kostner, Thomas Wernicke, Daniela Stockenhuber)....Pages 775-805
Tibetische Medizin (Florian Ploberger)....Pages 807-825
Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin (Lothar Krenner)....Pages 827-885
Front Matter ....Pages 887-887
Psychotherapeutische Medizin (Marianne Springer-Kremser)....Pages 889-902
Psychosomatische Medizin (Marianne Springer-Kremser)....Pages 903-918
Methoden zur Entspannung, Schmerzlinderung und Bewusstseinserweiterung (Heinrich Wallnöfer, Henriette Walter, Richard Crevenna, Lothar Krenner, Magdalena Singer, Julian Hannemann et al.)....Pages 919-974
Front Matter ....Pages 975-975
Tiergestützte Intervention mit landwirtschaftlichen Nutztieren (Walburga Siebenhofer)....Pages 977-990
Front Matter ....Pages 991-991
Komplementär- und integrativmedizinische Forschungsprojekte und Horizont 2020 (8. Europäisches Forschungsförderprogramm) (Hedda Sützl-Klein)....Pages 993-1035
Die universitäre Entwicklung von Naturheilkunde und Komplementärmedizin im deutschsprachigen Raum (Rainer Stange)....Pages 1037-1048
Die gesundheitsrechtliche Situation im Bereich der Komplementärmedizin (Susanne Weiss)....Pages 1049-1090
Medizinethik und Komplementärmedizin (Franz X. Lackner)....Pages 1091-1104
Back Matter ....Pages 1105-1124

Citation preview

Michael Frass · Lothar Krenner  Hrsg.

Integrative Medizin Evidenzbasierte komplementär­ medizinische Methoden

Integrative Medizin

Michael Frass Lothar Krenner Hrsg.

Integrative Medizin Evidenzbasierte komplementärmedizinische Methoden Unter Mitarbeit von Karin Dembowsky

Hrsg. Prof. Dr. Michael Frass Medizinische Universität Wien Wien, Österreich

Dr. Lothar Krenner Österreichischer Dachverband für ärztliche Ganzheitsmedizin Wien, Österreich

Unter Mitarbeit von Karin Dembowsky München, Deutschland

ISBN 978-3-662-48878-2    ISBN 978-3-662-48879-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Fotonachweis Umschlag: © charlinshots / Fotolia Umschlaggestaltung: deblik Berlin Springer ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

V

Geleitwort Seit vielen, vielen Jahren belegen Umfragen und statistische Erhebungen, dass ein zunehmender Anteil der Bevölkerung in Europa und den USA im Erkrankungsfall auch mit den Verfahren der Komplementärmedizin, der Naturheilkunde und der traditionellen Medizin behandelt werden möchte. Auch eine zunehmende Anzahl von Ärzten interessiert sich für eines oder mehrere Teilgebiete der traditionellen und modernen Komplementärmedizin. Hierbei ist es ein wichtiges Detail dieser Entwicklung, dass es nicht um eine alternative Medizin geht, sondern um eine ergänzende und verbindende Medizin. Das bringt der Terminus integrative Medizin zum Ausdruck. Integrative Medizin beinhaltet die Kombination von konventioneller Medizin (Schulmedizin) mit den besten Methoden der komplementären Medizin. Diese Form von integrativer Medizin kann Gutes zum Wohle des Patienten leisten und wird zunehmend durch Evidenz aus Studien differenzialtherapeutisch belegt, wenngleich die Forschungsfinanzierungen in diesem Bereich immer noch begrenzt sind. Inzwischen sind die Behandlungsanlässe in den Praxen und Ordinationen von Ärzten und Ärztinnen in der Mehrzahl durch die chronischen Erkrankungen bedingt, zumeist von Patienten mit hoher Krankheits- und Beschwerdekomplexität. In diesen chronisch multimorbiden Situationen stößt eine ausschließlich technische und medikamentös orientierte Medizin häufig an ihre Grenzen. Auf der anderen Seite kann die Komplementärmedizin und Naturheilkunde mit ihrem eher systembiologischen Ansatz und der bewussten Berücksichtigung eines ganzheitlichen Ansatzes oftmals gut helfen. Mit dem vorliegenden Buch der Kollegen Frass und Krenner wird eine wichtige Pu­ blikation für das wachsende Gebiet der inte-

grativen Medizin vorgelegt. Der Anspruch der akademischen Komplementärmedizin und Naturheilkunde ist es letztlich, auch zur Schulmedizin zu werden, allerdings zu einer ganzheitlichen und erweiterten Schulmedizin. Dazu ist es notwendig, das heterogene Spektrum der Verfahren zu sichten, zu strukturieren, die Methoden, ihre Anwendung, Wirksamkeit und Plausibilität zu beschreiben und damit Orientierung zu geben. Genau dieses leistet das vorliegende Werk. In verschiedenen Beiträgen wird der große Rahmen der integrativen Medizin deutlich, von Schnittmengen zur Medizingeschichte, Sozialmedizin, modernen Biologie und sogar der Kunst. Bei der Themenauswahl wird auch deutlich, dass es sich bei der integrativen Medizin um eine im besten Sinne globale Medizin handelt. Nicht nur europäische Verfahren wie die Kneipp-Therapie oder Fasten-Therapie werden zur gezielten Behandlung eingesetzt, sondern auch chinesische Medizin, tibetische oder ayurvedisch-indische Medizin. Das vorliegende Buch gibt somit einen hervorragenden Überblick über integrative Ansätze und komplementäre Medizin und ist ein wichtiger Beitrag für die Schaffung einer modernen integrativen Medizin, die unsere Patientinnen und Patienten letztlich auch wünschen. Ich wünsche diesem Buch eine angemessene Verbreitung; es wird die sicherlich weiter wachsende Anzahl von Kolleginnen und Kollegen, die Komplementärmedizin und Naturheilkunde für eine erfolgreiche und wirkungsvolle Behandlung ihrer Patienten erlernen, gut begleiten. A. Michalsen

Berlin

Herbst 2018

Vorwort Die zunehmenden Problembereiche in unserem Gesundheitssystem zeigen die Notwendigkeit einer Erweiterung des medizinischen Weltbildes an. Ärztliches Handeln muss zurückfinden zu einem ausgewogenen Verhältnis zwischen Medizin als Wissenschaft und Medizin als Heilkunst. Das vorliegende Kompendium hat u. a. den Zweck, die Grundlagen für eine Ergänzung des gegenwärtigen konventionell-schulmedizinischen Alltags zu schaffen. Es soll das große Potenzial und den Umfang der Medizinkunst aufzeigen und dazu beitragen, die Ganzheitlichkeit der Medizin wiederherzustellen und das umfangreiche Wissen der klinischen Erfahrungsheilkunde gleichwertig in die Medizin zu integrieren. Gesundheit wird in unserem gegenwärtigen Gesundheitssystem immer mehr zur Ware degradiert und zunehmend von Ökonomen bestimmt. In dieser Form wird dieses System früher oder später scheitern. Wenn wir dies verhindern wollen, ist es höchste Zeit, die weltanschaulichen Blockierungen immer größer werdender Bereiche der Medizin  – in erster Linie Naturheilkunde bzw. Komplementärmedizin – zu überwinden und zu einer ganzheitlichen Medizin zurückzufinden. Dieses Buch dokumentiert u. a. die Tatsache, dass im Bereich der ärztlichen Komplementärmedizin umfangreiches Studienmaterial vorliegt; es widerlegt damit das häufig anzutreffende Vorurteil, konventio­ nelle Schulmedizin gründe sich auf ob­ jektiven, wissenschaftlichen Studienergebnissen (evidenzbasiert), komplementäre Heilmethoden dagegen nicht. Abgesehen von diesem Missverständnis gibt es zum Thema evidenzbasierte Medizin (EbM) sehr unterschiedliche und teilweise gegensätzliche Meinungen. In der ursprüng-

lichen Diskussion wurde dieser Begriff in einer wesentlich umfassenderen Form verstanden, als dies heute der Fall ist (David L.  Sackett et  al., BMJ 1996; 312: 71). Gegenwärtig ist EbM primär eingegrenzt auf „best external evidence“. Dies führt zu einer Minderung der Behandlungseffizienz beim einzelnen, individuellen Patienten. Neben den unbestrittenen Vorteilen entsteht durch den einseitigen EbM-Ansatz, so wie er heute primär verstanden wird, Unsicherheit in der Ärzteausbildung, bei der Erstellung von Leitlinien und in der täglichen Arbeit der Ärzte in der Praxis. Trotz der Erfolge der modernen Medizin ist die Entwicklung des Gesundheitszustands der Bevölkerung nicht befriedigend. Laut WHO treten in Zukunft  – neben der Zunahme chronischer Erkrankungen (und Infektionskrankheiten mit neuen bzw. antibiotikaresistenten Keimen)  – die modernen Epidemien speziell im Bereich der Lebensstilmedizin auf (bis 2030 sollen über 50 % der europäischen Bevölkerung übergewichtig bzw. fettleibig sein, mit den daraus folgenden negativen Auswirkungen speziell auf das  Stoffwechsel- und Herz-Kreislauf-­ System) (European Congress on Obesity, Mai 2015, Prag, 7 http://easo.org). Ähnliche Voraussagen existieren im Bereich Stressbelastungen und Burnout-Symptomatik.  

Unser Gesundheitssystem erfordert eine Änderung der gegenwärtigen Rahmenbedingungen sowie ein zusätzliches, ganz­ heitliches medizinisches Know-how, das einerseits die Schwerpunkte auf Ge­ sundheitserziehung und Bewusstseinsbildung  – und damit auf der Prävention von Krankheiten  – hat, und das andererseits ganzheitliche Therapiezugänge zur Behandlung chronischer Erkrankungen anbietet. Die medizinische Ausbildung muss dem Arzt das Wissen vermitteln, den

VII Vorwort

Menschen in seiner Ganzheit und Individualität „zu begreifen“. In diesem Kompendium sind neben den etablierten Methoden der Komplementärmedizin die zusätzlichen Bereiche der traditionellen Erfahrungsheilkunde bzw. der nicht primär pharmakologisch orientierten und technisch-interventionellen Medizin dargestellt. Dies sind u.  a. Physiotherapie, ­ Sporttherapie, manuelle Medizin, Phytotherapie, Balneologie, psychotherapeutische und psychosomatische Medizin, ganzheitliche Zahnheilkunde, Kunst- und Musiktherapie. Einige diagnostische Methoden werden exemplarisch in einer eigenen Sektion vorgestellt. Weitere umfangreiche Informationen finden sich in den jeweiligen Beiträgen zu den spezifischen Methoden. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen ­verzichtet. Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für beiderlei Geschlecht. Links, bei denen das letzte Zugriffsdatum nicht explizit vermerkt ist, wurden im Juli 2018 auf ihre Gültigkeit überprüft. Wir glauben, dass dieses Projekt einen notwendigen und sinnvollen Beitrag leisten kann, um das gegenseitige Verständnis und die Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen „medizinischen Weltbildern“ zu fördern und zu vertiefen, den Bereich der Vorsorgemedizin auf eine neue Grundlage zu stellen sowie das konventionell-­ schulmedizinische Therapiespektrum zu erweitern, damit die medizinische Versorgung der Bevölkerung zu verbessern und die Finanzierung des Gesundheitssystems auf Dauer zu sichern. So hoffen wir, dass dieses Buch einen Anstoß gibt für ein grundsätzliches Umdenken bei den Entscheidungsträgern unseres Gesundheitssystems. Der Weg der „gewohnten Bahnen“ und der Kompromisse wird uns einer dauerhaften,

sinnvollen Lösung nicht näher bringen. Wir müssen bereit sein für „Neues“ – für neues ganzheitsmedizinisches Wissen, das im gegenwärtigen Gesundheitssystem in einem noch zu geringen Ausmaß angewendet wird. Mit dem Abschluss dieses besonderen Standardwerks mit Schwerpunkt auf der evidenzbasierten Komplementärmedizin möchten wir an dieser Stelle auch unserem Wunsch Ausdruck verleihen, dass die beiden „Ufer“ der integrativen Medizin in einem ergänzenden Werk über die Anwendung der konventionellen Schul- und der Komplementärmedizin in der Praxis verbunden werden sollten. Die Herausgeber danken allen Autorinnen und Autoren für ihre Mitarbeit. Besonders bedanken möchten wir uns bei Frau Karin Dembowsky; ihre engagierte Mitarbeit ging über die einer Lektorin weit hinaus. Nur durch ihre fachliche Kompetenz, ihren einfühlsamen Umgang mit den Autoren, ihre Initiative und ihre Ausdauer ist es möglich geworden, dieses Werk in dieser qualitativ hochwertigen Form zu vollenden. Wir haben ihr einstimmig den Titel „Herausgeberin h.c.“ verliehen. Den Mitarbeitern des Verlages gebührt Dank für den Mut und die Bereitschaft, dieses besondere Werk in dieser Form zu publizieren, sowie für die große Geduld, sodass es – trotz aller Konzept-Adaptierungen während der Entstehungsgeschichte und damit verbundenen Terminüberschreitungen  – zwar verzögert, dafür aber umfassend abgeschlossen werden konnte. Univ. Prof. Dr. Michael Frass Dr. Lothar Krenner

Österreichischer Dachverband für ärztliche Ganzheitsmedizin 7 www.­ganzheitsmed.­at  

Wien

Herbst 2018

IX

Inhaltsverzeichnis I Einführung 1

Integrative Medizin – die Wiederentdeckung der Ganzheit �������������������������    3 Lothar Krenner

2

Medizin – eine Disziplin zwischen Naturwissenschaft und Kunst�������������   23 Herbert Pietschmann

3

Die Bedeutung der Komplementärmedizin in Gesellschaft und Gesundheitssystem �����������������������������������������������������������������������������������������������������������������   35 Manfred Maier

II Grundlagen 4

Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin���������������������   45 Bernd Zeiger

5

Medizin: naturwissenschaftlich-­reduktionistisch vs. integrativ-­ ganzheitlich�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������   91 Wolfgang Marktl

6

Naturwissenschaftliche Modellierung physiologischer Prozesse: Rückkopplung, Nichtlinearität und Chaos ���������������������������������������������������������������   93 Karl W. Kratky

7

Niederenergetische Bioinformation�����������������������������������������������������������������������������  117 Otto Bergsmann, Wolfgang Marktl und Roswitha Bergsmann

8

Das System der Grundregulation – Drehscheibe mit Schlüsselfunktion für Organismus und Ganzheitsmedizin ���������������������������������������������������������������������  137 Hartmut Heine, Otto Bergsmann und Roswitha Bergsmann

9

Resilienz: der Weg der Krankheitsbewältigung�����������������������������������������������������  173 Raimund Jakesz

X Inhaltsverzeichnis

III

Spezielle diagnostische Methoden der Komplementärmedizin

10 Herzratenvariabilität���������������������������������������������������������������������������������������������������������������  181

Olaf Hoos 11

Physioenergetik – holistische Kinesiologie �������������������������������������������������������������  199 Margot Van Assche

12

Funktionelle Myodiagnostik (Applied Kinesiology)�������������������������������������������  209 Margit A. Riedl-Hohenberger und Christian Kraler

13

Elektroakupunktur nach Voll – ein ganzheitliches Diagnose- und Therapiesystem���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  227 Elisabeth Wernhart-Hallas

14

Spezielle TAM-Diagnostik ���������������������������������������������������������������������������������������������������  237 Gertrude Kubiena, Florian Ploberger und Lothar Krenner

IV

Methoden der integrativen Medizin – integrative Medizin im europäisch-­amerikanischen Kulturkreis

15 Pflanzenheilkunde �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  253

Ulrike Kastner, Wolfgang Kubelka, Petra Zizenbacher, Gerda Dorfinger, Woflgang Steflitsch, Iris Stappen, Barbara Našel und Bärbl Buchmayr 16

Behandlung des Bewegungsapparats�������������������������������������������������������������������������  307 Richard Crevenna, Andreas Kainz, Michael Grössinger, Gabriele Von Gimborn, Hans Tilscher und Norbert Bachl

17

Homöopathische Medizin – Methode und Anwendungen, Grenzen und Möglichkeiten�����������������������������������������������������������������������������������������������  381 Michael Frass und Jutta Gnaiger-Rathmanner

18 Homotoxikologie�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  401

Christian Plaue 19 Mikroimmuntherapie �������������������������������������������������������������������������������������������������������������  415

Ursula Bubendorfer und Petra Blum 20

Kneippmedizin – traditionelle europäische Medizin�����������������������������������������  437 Gebhard Breuss, Rupert Klötzl und Heinz Schiller

21

Anthroposophische Medizin ���������������������������������������������������������������������������������������������  455 Harald Siber

XI Inhaltsverzeichnis

22

Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr�������������������������������������������������������������������  481 Sepp Fegerl und Alex Witasek

23

Neuraltherapie – Grundlagen und Anwendung����������������������������������������������������  521 Kurt Gold-Szklarski, Wolfgang Ortner und Johanna Osztovics

24

Orthomolekulare Medizin���������������������������������������������������������������������������������������������������  541 Rainer Schroth

25

Musischer Ansatz�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  563 Gerhard Tucek und Harald Fritz-Ipsmiller

26

Ganzheitliche Zahnheilkunde�������������������������������������������������������������������������������������������  591 Irmgard Simma-Kletschka und Eva Maria Höller

27

Grundinformation zur ­medizinischen Anwendung von Ozon ���������������������  641 Walter Pleyer und Renate Thiele

28 Kurmedizin�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  667

Wolfgang Marktl, Petra Zizenbacher, Rainer Schroth, Florian Ploberger und Lothar Krenner 29 Ernährung���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  699

Ludwig Kramer, Petra Zizenbacher, Gertrude Kubiena, Florian Ploberger und Lothar Krenner 30

Komplementärmedizinische Methoden bei Krebserkrankungen�������������  721 Leo Auerbach

V

Methoden der integrativen Medizin – integrative Medizin im asiatischen Kulturkreis (traditionelle asiatische Medizin – TAM)

31

Traditionelle chinesische Medizin ���������������������������������������������������������������������������������  737 Alexander Meng, Michaela Bijak, Daniela Stockenhuber und Karin Stockert

32

Traditionelle japanische Medizin �����������������������������������������������������������������������������������  775 Bernd Kostner, Thomas Wernicke und Daniela Stockenhuber

33

Tibetische Medizin �������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  807 Florian Ploberger

34

Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  827 Lothar Krenner

XII Inhaltsverzeichnis

VI

Psychotherapeutische und psychosomatische Medizin

35

Psychotherapeutische Medizin�����������������������������������������������������������������������������������������  889 Marianne Springer-Kremser

36

Psychosomatische Medizin�������������������������������������������������������������������������������������������������  903 Marianne Springer-Kremser

37

Methoden zur Entspannung, Schmerzlinderung und Bewusstseinserweiterung ���������������������������������������������������������������������������������������������������  919 Heinrich Wallnöfer, Henriette Walter, Richard Crevenna, Lothar Krenner, Magdalena Singer, Julian Hannemann, Michaela Ott und Christian Schubert

VII Weitere Methoden 38

Tiergestützte Intervention mit landwirtschaftlichen Nutztieren���������������  977 Walburga Siebenhofer

VIII Forschung, Recht und Ethik 39

Komplementär- und integrativmedizinische Forschungsprojekte und Horizont 2020 (8. Europäisches Forschungsförderprogramm)���������  993 Hedda Sützl-Klein

40

Die universitäre Entwicklung von Naturheilkunde und Komplementärmedizin im deutschsprachigen Raum��������������������������������������� 1037 Rainer Stange

41

Die gesundheitsrechtliche Situation im Bereich der Komplementärmedizin ��������������������������������������������������������������������������������������������������������� 1049 Susanne Weiss

42

Medizinethik und Komplementärmedizin ��������������������������������������������������������������� 1091 Franz X. Lackner

Serviceteil Stichwortverzeichnis����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 1107

XIII

Herausgeber- und Autorenverzeichnis Über die Herausgeber Ao. Univ. Prof. Dr. med. Michael Frass war von 1981–2019 an der Medizinischen Universitätsklinik Wien als Internist, als internistischer Intensivmediziner in leitender Funktion sowie als Leiter der Spezialambulanz „Homöopathie bei malignen Erkrankungen“ tätig. Prof. Frass hat ein neues Gerät zur Sicherung der Atemwege sowie zur adäquaten Beatmung im Notfall entwickelt, das in die Richtlinien der American Heart Association und der American Society of Anesthesiologists aufgenommen wurde. Im Bereich der Forschung beschäftigte er sich neben der Evaluation mehrerer Atemwegshilfen auch mit Fragen der internistischen Intensivmedizin sowie mit der klinischen Erforschung der Homöopathie auf den Gebieten Intensivmedizin und begleitende Krebsbehandlung. Die Umsetzung klinischer Forschung in die Praxis auf dem Gebiet der Sicherung des schwierigen Atemwegs im Notfall sowie auf dem Gebiet der Homöopathie war und ist für ihn bis heute steter Anspruch und Herausforderung. Seine jahrzehntelangen klinischen Erfahrungen und wissenschaftlichen Kenntnisse an die Leser weiterzugeben, ist seine Motivation für die Herausgabe des vorliegenden Buches.

Dr. med. Lothar Krenner ist Arzt für Allgemeinmedizin mit eigener Praxis in Wien. Er beschäftigt sich seit seiner Studienzeit mit komplementärmedizinischen Methoden, in den letzten 40  Jahren speziell mit Maharishi AyurVeda Medizin in Theorie und Praxis. Er ist seit der Gründung der Österreichischen Ärzte-Gesellschaft für Ayurvedische Medizin  – Maharishi Vedische Medizin im Jahr 1995 durch Herrn Dr. Walter Mölk Mitglied des Vorstands. Er nahm an zahlreichen Ayurveda-Kongressen und Fortbildungsveranstaltungen in Indien, Europa und den USA teil. Neben seiner Tätigkeit in der Ordination und der Durchführung von Vorträgen und Seminaren auf dem Gebiet der Gesundheitserziehung und Bewusstseinsentwicklung liegt sein Schwerpunkt auf der Erarbeitung von Konzepten und Modellprojekten für eine gesunde, gewaltfreie, moderne Stadt der Zukunft.

Autorenverzeichnis Margot Van Assche, Dr. med. (Allgemeinmedizin)

Ursula Bubendorfer, Dr. med. (Allgemeinmedizin, Pädiatrie)

Internationale Akademie für Physioenergetik Wien, Österreich [email protected]

Medizinische Gesellschaft für Mikroimmuntherapie (MeGeMIT) Schwoich, Österreich [email protected]

Leo Auerbach, Univ.-Ass. Prof. Dr. med. (Gynäkologie und Geburtshilfe) Österreichische Gesellschaft für Begleitende Krebstherapien, Wien, Österreich [email protected]

Norbert Bachl, em. o. Univ.-Prof. Dr. med. (Medizinische Leistungsphysiologie) Institut für Sportwissenschaften, Grund- und Integrativwissenschaftliche Fakultät, Universität Wien, Wien, Österreich

Bärbl Buchmayr Eggelsberg, Österreich [email protected]

Richard Crevenna, Univ. Prof. Dr., MBA, MSc (Physikalische Medizin) Medizinische Universität Wien Universitätsklinik für Physikalische Medizin und Rehabilitation Wien, Österreich [email protected]

Roswitha Bergsmann, Dr. med. (Psychiatrie und Neurologie, Regulationsmedizin)

Gerda Dorfinger, Dr. med. (Labor- und Zytodiagnostik)

Internationale Akademie für Ganzheitsmedizin (GAMED) Wien, Österreich [email protected]

Praxisgemeinschaft Neuerlaa Wien, Österreich [email protected]

Michaela Bijak, Dr. med. (Allgemeinmedizin)

Sepp Fegerl, Dr. med. (Allgemeinmedizin)

Krankenhaus Hietzing mit neurologischem Zentrum Rosenhügel, Akupunktur-Ambulanz Österreichische Gesellschaft für Akupunktur (ÖGA), Wien, Österreich [email protected]

Internationale Gesellschaft der Mayr-­Ärzte Kurhotel und Ambulatorium Vollererhof Puch bei Hallein, Österreich [email protected]

Petra Blum, Dr. med. (Allgemeinmedizin) Medizinische Gesellschaft für Mikroimmuntherapie (MeGeMIT), Tegernsee, Deutschland [email protected]

Gebhard Breuss, Dr. med. (Allgemeinmedizin) Österreichische Gesellschaft für Kneippmedizin – traditionelle europäische Medizin Wien, Österreich [email protected]

Michael Frass, Ao. Univ.-Prof. Dr. (Innere Medizin, Intensivmedizin) Österreichischer Dachverband für ärztliche Ganzheitsmedizin Mödling, Österreich [email protected]

Harald Fritz-Ipsmiller, Mag. art. Akademie für Kunsttherapie (AKT) Wien, Österreich [email protected]

XV Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Gabriele Von Gimborn, Dr. D.O. (Allgemeinmedizin) Österreichische Ärztegesellschaft für Osteopathie Bad Vöslau, Österreich [email protected]

Raimund Jakesz, Univ.-Prof. Dr. med. Sekretariat für Allgemeinchirurgie/Ebene 7C Allgemeines Krankenhaus Wien Wien, Österreich [email protected]

Jutta Gnaiger-Rathmanner, Dr. med. (Allgemeinmedizin)

Andreas Kainz, Prim. Dr. D.O. (Physikalische Medizin und Allgemeine Rehabilitation)

Österreichische Gesellschaft für Homöopathische Medizin Feldkirch, Österreich [email protected]

Österreichische Ärztegesellschaft für Osteopathie Wien, Österreich [email protected]

Kurt Gold-Szklarski, Dr. med. (Allgemeinmedizin)

Ulrike Kastner, Univ.-Doz. DDr. (Pädiatrie)

Österreichische Medizinische Gesellschaft für Neuraltherapie und Regulationsforschung Wien, Österreich [email protected]

Michael Grössinger, Dr. med. (Allgemeinmedizin) Österreichische Ärztegesellschaft für Osteopathie Kaltenleutgeben, Österreich [email protected]

Julian Hannemann, M. Sc. Univ.-Klinik für Medizinische Psychologie Innsbruck, Österreich Medizinische Universität Innsbruck Institut für Psychologie Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Innsbruck, Österreich

Eva Maria Höller, OMR Dr. (Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde) Zahnärztlicher Interessenverband Österreichs – ganzheitliche Zahnheilkunde Wien, Österreich [email protected]

Olaf Hoos, Prof. Dr. phil. habil. Fakultät für Humanwissenschaften Julius-­Maximilians-­Universität Würzburg Würzburg, Deutschland [email protected]

Österreichische Gesellschaft für Phytotherapie (ÖGPHYT), Maria Enzersdorf, Österreich [email protected]

Rupert Klötzl, Mag. Dr. (Allgemeinmedizin) Österreichische Gesellschaft für Kneippmedizin – traditionelle europäische Medizin Wien, Österreich [email protected]

Bernd Kostner, Dr. med. (Allgemeinmedizin) Österreichische Gesellschaft für Akupunktur (ÖGA) Wien, Österreich [email protected]

Christian Kraler Univ.-Prof. Mag. rer. nat. Dr. phil. Institut für LehrerInnenbildung und Schulforschung, Universität Innsbruck Innsbruck, Österreich [email protected]

Ludwig Kramer, Prim. Prof. Dr. med. (Innere Medizin) I. Medizinische Abteilung mit Gastroenterologie Krankenhaus Hietzing mit neurologischem Zentrum Rosenhügel, Wien, Österreich [email protected]

XVI

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Karl W. Kratky, Univ.-Prof. Dr.

Wolfgang Marktl, a.o. Univ.-Prof. Dr.

Fakultät für Physik der Universität Wien Wien, Österreich [email protected]

GAMED – Wiener Internationale Akademie für Ganzheitsmedizin Wien, Österreich [email protected]

Lothar Krenner, Dr. med. (Allgemeinmedizin) Österreichische Ärzte-Gesellschaft für Ayurveda Medizin – Maharishi Vedische Medizin Wien, Österreich [email protected]

Wolfgang Kubelka, em. Univ.-Prof. Mag. pharm. Dr. Department für Pharmakognosie Pharmaziezentrum der Universität Wien Wien, Österreich [email protected]

Gertrude Kubiena, Prof. Dr. med. Mag. (HNO) Österreichische Gesellschaft für Akupunktur (ÖGA), Wien, Österreich [email protected]

Franz X. Lackner, Univ.-Prof. Mag. Dr. Klinik für Anästhesie und Intensivpflege Medizinische Universität Wien Wien, Österreich [email protected]

Alexander Meng, Prof. Dr. med. (Neurologie und Psychiatrie) Österreichische Gesellschaft für Akupunktur (ÖGA), Wien, Österreich [email protected]

Barbara Našel, Dr. Mag. pharm. Apotheke am Reumannplatz Wien, Österreich [email protected]

Wolfgang Ortner, Dr. med. (Frauenheilkunde u. Geburtshilfe) Österreichische Medizinische Gesellschaft für Neuraltherapie und Regulationsforschung Hof am Leithaberge, Österreich [email protected]

Johanna Osztovics, Dr. med. (Allgemeinmedizin) Österreichische Medizinische Gesellschaft für Neuraltherapie und Regulationsforschung Wien, Österreich [email protected]

Michaela Ott, M. Sc. Pierre Madl, Dr. Mag. Ing. Fachbereich Chemie und Physik der Materialien Universität Salzburg Salzburg, Österreich [email protected]

Manfred Maier, em. Univ.-Prof. Dr. med. Abteilung Allgemein- und Familienmedizin am Zentrum für Public Health Medizinische Universität Wien Wien, Österreich [email protected]

Univ.-Klinik für Medizinische Psychologie Medizinische Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich Institut für Psychologie Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Innsbruck, Österreich

Herbert Pietschmann, em. Univ. Prof. Dr. Institut für Theoretische Physik der Universität Wien, Wien, Österreich [email protected]

XVII Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Kristjan Plätzer, Priv.-Doz. Dr. Fachbereich Zellbiologie und Physiologie Universität Salzburg, Salzburg, Österreich [email protected]

Christian Plaue, Dr. med. (Allgemeinmedizin) Österreichische Ärztegesellschaft für Biologische Regulationsmedizin und Homotoxikologie Wien, Österreich [email protected]

Walter Pleyer, MR Dr. med. (Allgemeinmedizin) Österreichische Gesellschaft Ozontherapie Wien, Österreich [email protected]

Florian Ploberger, Dr. med. univ. B. Ac., MA (Allgemeinmedizin) Österreichische Gesellschaft für Akupunktur (ÖGA), Tibetische Medizin Wien, Österreich [email protected]

Margit A. Riedl-Hohenberger, Dr. med. Dr. med. dent. Internationale Ärztegesellschaft für Funktionelle Myodiagnostik – Applied Kinesiology, Innsbruck, Österreich [email protected]

Heinz Schiller, Dr. med. (Allgemeinmedizin) Österreichische Gesellschaft für Kneippmedizin – traditionelle europäische Medizin Feldkirchen an der Donau, Österreich [email protected]

Rainer Schroth, Dr. med. Die Schrothkur GmbH, Obervellach, Österreich [email protected]

Christian Schubert Univ.-Prof. Dr. med. Dr. rer. nat. M. Sc. Univ.-Klinik für Medizinische Psychologie Medizinische Universität Innsbruck Innsbruck, Österreich [email protected]

Harald Siber, Dr. med. (Innere Medizin) Gesellschaft für Anthroposophische Medizin in Österreich Wien, Österreich [email protected]

Walburga Siebenhofer, Dr. Verein Guat leb’n, Tiergestützte Intervention am Bauernhof, Weiz, Österreich [email protected]

Irmgard Simma-Kletschka, Univ. Lekt. Prof. DDr. (Zahnmedizin und Kieferorthopädie) Gesellschaft für ganzheitliche Zahnheilkunde Bregenz, Österreich [email protected]

Magdalena Singer, Mag. Univ.-Klinik für Medizinische Psychologie Medizinische Universität Innsbruck, Innsbruck, Österreich Institut für Psychologie Leopold-Franzens-Universität Innsbruck Innsbruck, Österreich [email protected]

Marianne Springer-Kremser, Univ.-Prof. Dr. (Psychiatrie, Psychotherapeutische und Psychosomatische Medizin, Neurologie) em. Vorstand der Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien Wien, Österreich [email protected]

XVIII

Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Rainer Stange, Dr. med. Abteilung Naturheilkunde Immanuel Krankenhaus Berlin, Berlin, Deutschland [email protected]

Jens Tönnemann, Dr. med. (Psychiatrie) Akademie für Traditionelle Tibetische Medizin Österreich, Innsbruck, Österreich

Iris Stappen, Ass.-Prof. Dr. Mag. pharm.

Nicole Tortik, MSc

Department für Pharmazeutische Chemie, Universität Wien Wien, Österreich [email protected]

Fachbereich Zellbiologie und Physiologie Universität Salzburg, Salzburg, Österreich [email protected]

Gerhard Tucek, FH-Prof. Priv. Doz. Mag. Dr. Woflgang Steflitsch, Dr. med. (Innere Medizin, Pneumologie) Otto Wagner Spital, Wien, Österreich [email protected]

Institut Therapiewissenschaften, IMC Fachhochschule Krems, Krems, Österreich [email protected]

Daniela Stockenhuber, Dr. med. (Allgemeinmedizin, TCM)

Heinrich Wallnöfer, OMR Dr. med. (Allgemeinmedizin, Autogenes Training, Psychotherapie)

Österreichische Gesellschaft für Akupunktur (ÖGA) Purkersdorf, Österreich [email protected]

Österreichische Gesellschaft für Angewandte Tiefenpsychologie und Allgemeine Psychotherapie Wien, Österreich [email protected]

Karin Stockert, Dr. med. (Allgemeinmedizin)

Henriette Walter, Univ.-Prof. Dr. med. (Psychiatrie und Neurologie, Psychotherapie)

Österreichische Gesellschaft für Akupunktur (ÖGA) Wien, Österreich [email protected]

Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien Wien, Österreich [email protected]

Hedda Sützl-Klein, MMag. DDr. Europäische Gesellschaft für Integrative Gesundheitsforschung Wien, Österreich [email protected]

Susanne Weiss, Dr. jur.

Renate Thiele, Dr. med. (Allgemeinmedizin)

Bundesministerium für Arbeit, Soziales Gesundheit und Konsumentenschutz Rechtsangelegenheiten Ärztinnen und Ärzte Psychologie, Psychotherapie und Musiktherapie Wien, Österreich [email protected]

Österreichische Gesellschaft Ozontherapie Leonding, Österreich [email protected]

Elisabeth Wernhart-Hallas, Dr. med. dent.

Hans Tilscher, Univ.-Prof. Dr. med. (Orthopädie) Österreichische Ärztegesellschaft für Manuelle Medizin, Geriatriezentrum am Wienerwald Wien, Österreich [email protected]

Zahnärztlicher Interessenverband Österreichs – ganzheitliche Zahnheilkunde Wien, Österreich [email protected]

XIX Herausgeber- und Autorenverzeichnis

Thomas Wernicke, Dr. med. (Allgemeinmedizin) Therapiezentrum therapeuticum rhein-main Hochheim-Massenheim, Deutschland [email protected]

Alex Witasek, Dr. med. (Allgemeinmedizin) Internationale Gesellschaft der Mayr-­Ärzte Velm bei Himberg, Österreich [email protected]

Bernd Zeiger, Dr. Vorm. Internationales Institut für Biophysik, Kaiserslautern, Bad Ems, Deutschland [email protected]

Petra Zizenbacher, Dr. med. (Allgemeinmedizin) Naturheilzentrum, Wien, Österreich [email protected]

Abkürzungsverzeichnis ÄApprO Approbationsordnung für Ärzte

EAV

Elektroakupunktur nach Voll

ACh Acetylcholin

EbM

evidenzbasierte Medizin

ACTH

adrenokortikotropes Hormon

ECM

extrazellulläre Matrix

AGE

 dvanced glycation end a products

EEG Elektroenzephalogramm

AK

Applied Kinesiology

APOA1

EMG Elektromyogramm

Apolipoprotein A1

EPA Eicosapentaensäure

APP Amyloid-Präkursor-Protein AT

autogenes Training

ATP

autogene Psychotherapie

EKG Elektrokardiogramm

ESBL Extended-Spectrum-βLactamasebildner

FMD BisGMA Bisphenolglycidylmethacrylat BPG Biphosphoglycerat BWS Brustwirbelsäule CAM

c omplementary and alternative medicine

CAN kardiale autonome Neuropathie CAVK zerebrale arterielle Verschlusskrankheit

CIM  complementary and integrative

funktionelle Myodiagnostik

FODMAPs fermentierbare Oligo-, Di- und Monosaccharide und Polyole

FP5 und FP7 5. und 7. Rahmenprogramm der Europäischen Forschungsförderung

GABA

γ-Aminobuttersäure

GEB

große Eigenblutbehandlung

GKV gesetzliche Krankenversicherung GMP

Good Manufacturing Practice

GPx1 Glutathionperoxidase

medicine

CMD kraniomandibuläre Dysfunktion

HAA heterozyklische aromatische Amine

CNV kontigente negative Variation der Hirnströme

COPD chronisch obstruktive Lungenerkrankung

CRH (syn. CRF) Kortikotropin-ReleasingHormon

CRP

C-reaktives Protein

CSPG Chondroitinsulfat-Proteoglykane

DAN diabetische autonome Neuropathie

DAO Diaminoxidase DEV Droge-Extrakt-Verhältnis DHA Docosahexaensäure DHEA Dehydroepiandrosteron DMPS Dimercaptopropansulfonsäure DMSA Dimercaptobernsteinsäure DMSO Dimethylsulfoxid DNA Desoxyribonukleinsäure DPPH 1,1-Diphenyl-2-Picrylhydrazyl

HDL

high-densitiy lipoprotein

HEMA 2-Hydroxyethylmethacrylat HFI

hereditäre Fruktoseintoleranz

HIK habituelle Interkuspidationsposition

HIT Histaminintoleranz HLA

humanes Leukozytenantigen

HPA-Achse Hypothalamus-Hypophysen-Nebennieren-Achse

HRV Herzratenvariabilität HSPG Heparansulfat-Proteoglykane HWS Halswirbelsäule IFN Interferon IL Interleukin IM

integrative medicine

KEB

kleine Eigenblutbehandlung

KHK

koronare Herzkrankheit

XXI Abkürzungsverzeichnis

KiSS-Syndrom kopfgelenkinduzierte

RAAS Renin-Angiotensin-Aldosteron-

Symmetriestörung

System

RAC LDL

low-densitiy lipoprotein

LPL

Low-power-Laser (Softlaser)

LTT Lymphozytentransformationstest

LWS Lendenwirbelsäule

Studie

RDS Reizdarmsyndrom RNA Ribonukleinsäure ROS reaktive Sauerstoffverbindungen RPE

MAPS Mikroakupunktursystem MBSR

Mindfulness-Based Stress Reduction

aurikulokardialer Reflex

RCT randomisierte kontrollierte

r ating of perceived exertion (Anstrengungsempfinden)

RR Blutdruck RSA respiratorische Sinusarrhythmie

MBT Mind-Body-Therapien MMA Methylmalonsäure

SAM S-Adenosyl-Methionin

MRSA methicillin-resistenter

SAM-Achse sympathoadrenomedulläre

Staphylococcus aureus

MRT (MRI) Magnetresonanztomographie

Achse

SGR System der Grundregulation (Grundsystem)

MTHFR MethylentetrahydrofolatreMWM

duktase

SNA

spezifische Nukleinsäuren

moderne westliche Medizin

SNPs

single nucleotide polymorphisms

SOD Superoxiddismutasen NF-κB

k appa light-chain-enhancer of activated B cells

SRK segmentalregulatorischer Komplex

NICO neuralgieinduzierende hohlraumbildende Osteonekrose

PAK polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe

PAVK periphere arterielle Verschlusskrankheit

PCI perkutane koronare Intervention

PDI photodynamische Inaktivierung

PECM perineuronale extrazelluläre Matrix

PEK Projekt Evaluation Komplementärmedizin

PG/GAG Proteoglykane und Glykosaminoglykane

PNI Psychoneuroimmunologie PNIEE-Komplex psychoneuroimmunoenteroendokriner Komplex

PNS

peripheres Nervensystem

PPI Protonenpumpenhemmer

TAM traditionelle asiatische Medizin TCM traditionelle chinesische Medizin TEGDMA Triethylenglykoldimethacrylat TEM traditionelle europäische Medizin TENS transkutane elektrische Nervenstimulation

TGI

tiergestützte Intervention

TIM

traditionelle indische Medizin

TM

transzendentale Meditation

TMD temporomandibuläre Dysfunktion TNF Tumornekrosefaktor VNS vegetatives (autonomes) Nervensystem

YNSA Yamamotos neue Schädelakupunktur

ZNS Zentralnervensystem

1

Einführung Inhaltsverzeichnis Kapitel 1 Integrative Medizin – die Wiederentdeckung der Ganzheit – 3 Lothar Krenner Kapitel 2 Medizin – eine Disziplin zwischen Naturwissenschaft und Kunst – 23 Herbert Pietschmann Kapitel 3 Die Bedeutung der Komplementärmedizin in Gesellschaft und Gesundheitssystem – 35 Manfred Maier

I

3

Integrative Medizin – die Wiederentdeckung der Ganzheit Lothar Krenner 1.1

 as gegenwärtige Gesundheitssystem ist D ein „Krankheitssystem“ – 4

1.2

 roblembereiche im gegenwärtigen P Gesundheitssystem – 7

1.2.1

 eispiele für den Einsatz der evidenzbasierten B Komplementärmedizin – 7 Allgemeine Überlegungen und statistische Fakten – 9

1.2.2

1.3

 orteile der Komplementärmedizin und damit V in Verbindung stehende offene Fragen – 12

1.4

 rundlagen eines neuen modernen medizinischen G Weltbildes – 13

1.4.1 1.4.2

 ie Ganzheitlichkeit der Medizin – 13 D Bewusstsein – die Grundbedingung für ganzheitliche Gesundheit – 15

1.5

Das Potenzial der Medizinkunst – 16

1.6

Definitionen – 18 Literatur – 20

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_1

1

4

1

L. Krenner

Diesen einleitenden Gedanken über die Notwendigkeit der Weiterentwicklung unserer modernen Medizin hin zu einem auf ganzheitlichem Wissen beruhenden Gesundheitssystem sei ein Satz vorangestellt, der einem der großen Ganzheitsmediziner des europäischen Mittelalters zugeschrieben wird  – Paracelsus (Theophrastus Bombastus von Hohenheim wurde 1493 in der Schweiz geboren, er verstarb 1541 in Salzburg):

»» „… Die höchste Form der Arznei ist die Liebe.“ (Paracelsus 1564)

Trotz aller positiven technologischen Entwicklungen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die ein zentraler, notwendiger Teil des modernen Medizinbetriebs geworden sind, sollte dieser Satz eine Erinnerung an die grundlegende Intention medizinischen Handelns sein mit der primären Absicht, den Patienten in seinem Mensch-Sein ganzheitlich zu erfassen. 1.1  Das gegenwärtige

Gesundheitssystem ist ein „Krankheitssystem“

Wir leben in einer naturwissenschaftlich orientierten Zeit mit umfangreichen technologischen Entwicklungen. Dies ist möglich geworden durch ein naturwissenschaftliches Weltbild, das ein modellhaftes Abbild der Naturprozesse als Grundlage hat und auf der Denklehre der Logik basiert; damit verbunden ist eine ­Reduktion der Lebensprozesse auf ein widerspruchsfreies, kalkulier- und berechenbares Maß (7 Kap. 4, 5, 6, 7, 8 und 9). Der technologische Fortschritt im „äußeren Bereich“ des Lebens hat ein neues Zeitalter entstehen lassen, mit vielen neuen Möglichkeiten, speziell im Bereich der Computer- und Informationstechnologie. Der „innere Bereich“ hat mit dieser Entwicklung jedoch nicht Schritt gehalten. Gerade bei den Lebenswissenschaften, besonders in der Medizin, hat die Übernahme des naturwissenschaftlichen Weltbildes zu ei 

nem Verdrängungsprozess in Bezug auf das Wissen über die Ganzheit des Lebens geführt. In der Medizin ist das Mainstream-Denken steckengeblieben im klassischen materialistischen Modell des 19. Jahrhunderts – naturwissenschaftlich orientierte Medizin sieht den Organismus als „mechanische Maschine“, deren Teile man reparieren, austauschen oder durch künstliche ersetzen kann. Mit der einseitigen Übernahme dieses mechanistischen Weltbildes entwickelten sich Problembereiche, mit denen nicht nur die moderne Medizin, sondern die Gesellschaft als Ganzes immer intensiver konfrontiert ist.

»» „Wir fühlen, dass selbst, wenn alle mögli-

chen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“ (Ludwig Wittgenstein, Österreichisch-­britischer Philosoph, 1918)

>> Ganzheitsmedizin beinhaltet alle Bereiche der Medizin, konventionelle Schulmedizin genauso wie traditionelle Komplementärmedizin. Unser gegenwärtiges Gesundheitssystem fördert jedoch einseitig die konventionelle Schulmedizin, und dies führt zu wachsenden Problemen im Medizinbetrieb:

Die Schwachpunkte im gegenwärtigen Gesundheitssystem liegen primär in einer einseitigen Umsetzung, nicht so sehr an einem Mangel medizinischen Wissens. Ganzheitliches Wissen und jahrtausendealte medizinische Erfahrung werden vom rein naturwissenschaftlich orientierten „Gesundheits-­E stablishment“ überwiegend ­ignoriert. Diese Verhaltensweise ist nicht neu, denn wichtige medizinische Entwicklungen und Innovationen, die über die etablierten Konzepte hinausgingen, wurden in der Vergangenheit stets von Widerständen begleitet (dies ist u.  a. auch wiederzufinden in der Lebensgeschichte von Paracelsus). Diese Art von Widerstand sollten wir uns heute jedoch nicht mehr leisten. Im Rahmen westlicher Gesundheitssysteme findet derzeit eine Auseinandersetzung unterschiedlicher medizinischer Weltanschauungen

1

5 Integrative Medizin – die Wiederentdeckung der Ganzheit

statt. Die eigentliche Ursache ist die mangelnde Akzeptanz und Toleranz gegenüber anderem Denken und anderen medizinischen Weltbildern. Der Unterschied zwischen konventioneller Schul- und traditioneller, d. h. in der medizinischen Praxis etablierter Komplementärmedizin ist vergleichbar dem Unterschied zwischen klassischer Physik und Quantenphysik. Es führt zwangsläufig zu Missverständnissen, wenn die quantenphysikalische mit der „klassischen Realität“ beurteilt und verglichen werden soll. Die Wirkungsmechanismen der traditionellen Komplementärmedizin lassen sich zum großen Teil nicht mit der klassischen, wohl aber mit der modernen Quantenphysik erklären (7 Kap.  2,  4 und 6). Es ist nicht so sehr von Bedeutung, Komplementärmedizin „sympathisch zu finden“ – die überwiegende Mehrheit der Patienten hat dies für sich seit langem positiv entschieden (gezeigt für Österreich durch Karmasin.Motivforschung 2011; 7 Kap. 39) – die Integration ganzheitsmedizinischer Konzepte ist zu einer zentralen Frage der modernen Medizin geworden. Das Ziel eines Gesundheitssystems muss sein, den Menschen bestmögliche Medizin anzubieten. Und wenn Medizin wieder zu ihrer eigentlichen Aufgabe zurückkehren soll, nämlich Menschen zu heilen, d. h. sie (wieder) „ganz zu machen“, muss sie sich zu einer Ganzheitsbzw. integrativen Medizin entwickeln, indem sie den Menschen das Beste aus allen medizinischen Wissenstraditionen bzgl. Wirksamkeit bei geringsten Nebenwirkungen anbietet (z.  B.  



7 w w w.­d i a l o g fo r u m -­p l u r a l i s m u s i n d e r m edizin.­de, zuletzt abgerufen am 12.08.2018).  

Die Abhängigkeit von Wirtschaftlichkeitsmaximen und Bestrebungen der Gewinnmaximierung vonseiten der „Krankheitsindustrie“ müssen auf ein ausgewogenes und vernünftiges Maß beschränkt werden. Die Menschen – auch und besonders die Jugend  – müssen zu mündigen und für ihre Gesundheit verantwortlichen Mitgliedern einer gesundheitsorientierten Gesellschaft herangebildet werden. Der Arzt muss entsprechend seiner Berufung als Helfer und Heiler auf seinem Gebiet selbstverantwortlich arbeiten können.

>> Mit einem Gesundheitssystem, in dem die Quantität die Qualität erdrückt, wird es nur schwer möglich sein, den Gesundheitszustand der Menschen dauerhaft zu verbessern.

Die Situation erfordert nicht nur eine Änderung der gegenwärtigen, von der Politik vorgegebenen Rahmenbedingungen, sondern in erster Linie ein zusätzliches, ganzheitliches Know-how im etablierten Medizinbetrieb, das einerseits den Schwerpunkt auf Gesundheitserziehung, Bewusstseinsbildung und damit Prävention von Krankheiten legt und andererseits ganzheitliche Therapiezugänge zur Behandlung chronischer Erkrankungen anbietet. Die medizinische Ausbildung muss dem Arzt das Wissen vermitteln, den Menschen in seiner Ganzheit und Individualität zu „begreifen“. Die Erfolge der naturwissenschaftlich basierten konventionellen Schulmedizin, speziell in den Bereichen der modernen Diagnostik, der medizinischen Grundlagenforschung (z. B. Biochemie, Pharmakologie, Immunologie und ­Genetik), der Akut- und Intensivmedizin, der apparativen Medizin und der Chirurgie (minimalinvasive Operationen, computerunterstützte Operationen, Endoprothetik, Organtransplantationen etc.) sind unbestritten. Auftretende Probleme sind systemimmanent und resultieren aus der Anwendung von Teilwissen in spezialisierten Fachdisziplinen. Der Mensch wird in isolierte Teile – Organsysteme – aufgegliedert; seine Ganzheit und Einmaligkeit, die wesentlich mehr ist, als die Summe der Teile, bleibt oft im Hintergrund oder geht ganz verloren. Diese Art von „Reparaturmedizin“, die auf einem „objektiven“ Weltbild beruht, führt zwangsweise zu negativen Auswirkungen, u. a. in Form von Nebenwirkungen (7 Abschn. 1.2) und zusätzlich zu Unzufriedenheit bei Patienten und bei im Gesundheitssystem tätigen Menschen (Zeitdruck, Überbelastung und Frustration verstärken den bereits bestehenden Ärztemangel dramatisch). Außerdem entsteht eine Kostenspirale, die diese Art von Gesundheitssystem auf Dauer immer schwieriger finanzierbar macht.  

6

1

L. Krenner

Der einseitige Glaube an die „Allmacht“ der konventionellen Schulmedizin beinhaltet die Vorstellung, dass es nur eine Frage der Zeit und der Höhe der Forschungsgelder und des Gesundheitsbudgets sei, bis alle Krankheiten „besiegt“ sind und das gesunde Leben bis ins hohe Alter eine Realität für alle Menschen sein wird. Um jedoch dieses hehre Ziel realisieren zu können, wird die Bereitschaft benötigt, Medizin zu einer „Wissenschaft des Lebens“ zu erweitern und zu ihrer Ganzheitlichkeit zu führen, und zwar als gesellschaftliches Gemeinschaftsprojekt.

»» „Die moderne Medizin folgt immer mehr

den Kategorien des Marktes. Damit wird das ärztliche Handeln zunehmend wie ein Produktionsprozess behandelt und bewertet. … Die Ökonomie und mit ihr die Bestrebungen der Effizienzsteigerung zwingen unaufhaltsam zur Beschleunigung. Das Diktat des Marktes ist ein Diktat der Zeitökonomie; das heißt nichts anderes, als dass alle Abläufe in den Praxen und Kliniken so beschleunigt werden, dass am Ende das wegrationalisiert wird, worauf es bei der Gesundung von Menschen zentral ankommt, nämlich die Zeit, die Zeit für die Zuwendung. … Unter dem politisch verordneten Zeitdiktat verkümmert eine Kultur des Heilens, … Die Verbindung von Naturwissenschaft, Technik und Ökonomie, wie sie sich heute vollzieht, bringt einen neuen Arzttypus hervor, und das ist der Arzt als Ingenieur für den Menschen. Der Arzt soll als Angestellter eines Industriekomplexes ‚Gesundheitswesen‘ nicht mehr anbieten als Sachleistungen, die vorher vertraglich vereinbart werden. … Trotz dieser Gefahren der Ökonomisierung lässt sich nicht sagen, dass eine gute Medizin eine Medizin ohne Ökonomie sein müsste. Ganz im Gegenteil. Medizin und Ökonomie sind gerade keine Antipoden; ökonomisches Effizienzdenken kann für die Medizin sehr nützlich sein, wenn es um die Frage geht, wie sich ein medizinisches Ziel ohne Verschwendung, günstig und mit minimalem

Einsatz erreichen lässt. Wer den Markt aus der Medizin draußen haben möchte, wird einer Verschwendung von Ressourcen Vorschub leisten, und Verschwendung ist mit einer guten Medizin nicht vereinbar. Da medizinische Güter grundsätzlich knapp sind, ist das ökonomische Denken Voraussetzung dafür, dass möglichst vielen geholfen werden kann. Daher gehört das ökonomische Denken zu einer guten Medizin unabdingbar dazu. … Die Schlussfolgerung kann nicht lauten, dass wir keine Prozessqualität brauchen, denn diese kann Bestandteil einer vertrauenserweckenden Medizin sein, aber sie ist nur ein Teilaspekt unter vielen. … Daher ist es notwendig, dass die Medizin sich auf ihre eigene Identität besinnt und nicht nur das tut, was die Ökonomie von ihr verlangt. Die eigene Identität der Medizin erfordert, dass das belohnt wird, was zu dieser Identität gehört. Der Wert und der Kern des Arztberufs liegen nicht allein in einer ‚Produktion‘ von Gesundheit, sondern er liegt in elementarer Weise darin, dass sich ein professioneller Helfer eines anderen Menschen in seiner Hilfsbedürftigkeit als ganze Person annimmt. Dieses persönliche Engagement wird durch die gegenwärtigen Anreizsysteme der Medizin komplett entwertet. Daher müssen neue Anreize entwickelt werden, damit der Arzt, der sich als ganze Person für seinen Patienten einsetzt, auch strukturell unterstützt wird. Es müssen genau die Ärzte belohnt werden, die mit ihrer Einstellung dazu beitragen, die Medizin als personale Zuwendung erfahrbar zu machen. Das bedeutet auch, dass nicht nur das Resultat einer Maßnahme gemessen werden sollte, sondern auch die Persönlichkeit selbst als Kerngehalt der Therapie mitberücksichtigt werden muss. Dies jedoch wird nicht mit Zahlen gehen. So kommt es darauf an, den Stellenwert der Zahlen zu relativieren und damit zugleich die Vorstellung zu verabschieden, man habe über die Veröffentlichung von Zah-

7 Integrative Medizin – die Wiederentdeckung der Ganzheit

len bereits alles über die Güte einer medizinischen Einrichtung ausgesagt. Das ­Qualitätsmanagement erfüllt eine spezifische und in manchen Bereichen notwendige Funktion, aber wenn das Qualitätsmanagement alles diktiert und bestimmt, hat man die Seele der Medizin erstickt. Es gibt innerhalb der Medizin Werte, die auch im Zeitalter der Ökonomie nicht geopfert werden dürfen. Daher dürfen Ärzte die Realisierung der Medizin nicht der Ökonomie überlassen, sondern sie müssen darum kämpfen und werben, dass Medizin kein Gewerbe wird, sondern eine soziale Form der Zuwendung bleibt.“ (Prof. Dr. med. Giovanni Maio, M.A., Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Albert-Ludwigs-­Universität Freiburg, 2012)

1.2  Problembereiche im

gegenwärtigen Gesundheitssystem

Dazu ein Zitat von Univ. Prof. Dr. Gustav Dobos beim Zukunfts-Symposium der Universität Duisburg-Essen, 2015: Wie evidenzbasiert ist die Medizin? Mythen und Vorurteile in der Auseinandersetzung zwischen Naturheilkunde und Schulmedizin:

»» „Die Integrative Medizin ist nicht nur in

der adjuvanten Behandlung von Krebsund Palliativpatienten, vor allem bei der in Zukunft erwarteten großen Anzahl an ‚Cancer Survivors‘ das Modell der Zukunft. Beispielhaft sind auch die zu erwartenden häufigsten Erkrankungen einer alternden Gesellschaft zu nennen, chronische Schmerzen und Depressionen. Eine für diese Konferenz durchgeführte Auswertung der wissenschaftlichen Evidenz für Rücken- bzw. Arthrose-Schmerz und mittelgradige Depressionen durch das Leitlinien-­Team meines Lehrstuhls zeigt eine mindestens gleichwertige, häufig auch deutlich bessere Evidenz im Ver-

1

gleich zu den konventionellen, Leitlinien-orientierten Behandlungen. Insgesamt bietet die Integrative Medizin gerade dort Lösungen, wo die naturwissenschaftliche Medizin mit ihren standardisierten symptomorientieren Methoden an ihre Grenzen kommt. Sie setzt Naturheilkunde als Impuls zur Selbstregulation ein, vermittelt Techniken zur Selbsthilfe, informiert und schult, wirkt kurativ wie präventiv, indem sie auf eine nachhaltige Lebensstiländerung hinzielt. Dabei arbeitet sie sektorenübergreifend und multidisziplinär. Gerade in einer älter werdenden Gesellschaft mit ihrer hohen Zahl an chronisch Kranken bietet sie die Basis für künftige Modelle der stationären und ambulanten Versorgung.“

Univ. Prof. Dr. med. Andreas Michalsen (Stiftungsprofessur für klinische Naturheilkunde, Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Chefarzt Abteilung Naturheilkunde, Immanuel Krankenhaus Berlin) formuliert wie folgt:

»» „In Kenntnis der wachsenden Evidenz für

die Wirksamkeit von Naturheilkunde gerade bei chronischen Erkrankungen, ihrem Fokus auf Selbstwirksamkeit und gesundem Lebensstil und der konsekutiv geringen Kosten wird die Medizin der Zukunft Naturheilkunde besser implementieren müssen – oder ­scheitern.“

1.2.1  Beispiele für den Einsatz der

evidenzbasierten Komplementärmedizin

Die folgende Übersicht sowie die Informationen zum Thema Arthrose und Depression entstammen einem Vortrag von Herrn Univ. Prof. Dr. Gustav Dobos (Direktor der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin, Kliniken Essen-Mitte, Lehrstuhlinhaber der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-­Stiftungsprofessur für Naturheilkunde, Medizinische Fakultät der Uni-

8

1

L. Krenner

versität Duisburg-Essen), gehalten auf dem International Congress for Integrated Health and Medicine, ICIHM 2016, in Stuttgart. Die zentralen Probleme in den westlichen Gesundheitssystemen betreffen in erster Linie folgende Punkte: 55 Alternde Gesellschaft mit zunehmender Zahl an Patienten mit chronischen Erkrankungen, 55 zunehmende Probleme durch Nebenwirkungen moderner Therapien, 55 Ökonomisierung der Medizin mit der Folge einer Kostenexplosion im Gesundheitswesen; Folge davon ist die Entwicklung hin zur Gesundheit als Ware (Maio 2012), 55 Überforderung von Ärzten (und medizinischem Personal) und Verlust der Freude am Beruf; Symptome der chronischen Überbelastung nehmen zu; als Folge davon entwickelt sich ein zunehmender Ärzte(Personal)-Mangel. Erkrankungen, die in einer alternden Gesellschaft immer häufiger werden und deren Therapie von der konventionellen Schulmedizin nicht befriedigend abgedeckt ist kArthrose/Arthritis

Jede 2. Frau und jeder 3. Mann in Deutschland leidet unter Kniegelenkarthrose. Die konventionelle Therapie besteht in erster Linie aus 55 der Gabe von nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR); bezüglich der Nebenwirkungen von NSAR sind folgende Zahlen dokumentiert: 55number needed to kill 1:1200 (Tramèr et al. 2000), 5516.500 Todesfälle pro Jahr in den USA (Wolfe et al. 1999). 55 der arthroskopischen Operation; die Lavage des Kniegelenks führt bei Patienten mit Kniegelenkarthrose weder zu einer Schmerzreduktion noch zu einer Funktionsverbesserung (Reichenbach et al. 2010). Neben der unbefriedigenden Situation im Bereich der konventionellen Schulmedizin gibt es eine überzeugende positive Evidenz (Metaana-

lysen) komplementärmedizinischer Therapien für die Behandlung der Gonarthrose: 55 Akupunktur (Manheimer et al. 2010), 55 Blutegeltherapie (Lauche et al. 2014), 55 Bewegungstherapie (Tanaka et al. 2015), 55 Tai Chi (Kang et al. 2011). kDepression

Depression ist die häufigste psychiatrische Erkrankung in Deutschland. Antidepressive medikamentöse Therapien wirken offiziell bei ca. 50 % aller Patienten, aber es gibt einen hohen Anteil (31 %) an selective publications, d. h.: Studien, die nicht den gewünschten Outcome zeigen, werden nicht veröffentlicht (Turner et  al. 2008). Das bedeutet, die Wirksamkeit der Antidepressiva läge in etwa in der Größenordnung von Plazebo (34,5 %). Außerdem zeigt eine Studie, dass Antidepressiva/SSRI (selektive Serotoninwiederaufnahmehemmer) primär nur bei schweren Depressionen wirksam sind (Kirsch et al. 2008). Auch für Depression gibt es eine positive Evidenz (Metaanalysen) komplementärmedizinischer Therapien, speziell für 55 Johanniskraut, 55 Yoga und/oder Bewegungstraining, 55 tägliche Meditation, 55 Zufuhr von Omega-3-Fettsäuren (als Nahrungsmittel bzw. Nahrungsmittelzusatz), 55 Akupunktur als Monotherapie oder in Kombination mit SSRI, 55 Faszienmassagetherapie. kKrebserkrankungen

Obwohl Krebs nach wie vor eine lebensbedrohliche Erkrankung ist, zeigen neue Therapieansätze der konventionellen Schulmedizin durchaus positive Entwicklungen. Bei diesem Krankheitskomplex beschränken sich die komplementärmedizinischen Therapien in erster Linie auf die Behandlung der Nebenwirkungen und die Stärkung des Immunsystems. Das bedeutet: ­Anwendung von Vitaminen, Mineralstoffen und Mikronährstoffen sowie Gabe von Mistelpräparaten und pflanzlichen Nahrungsergänzungsmitteln (7 Kap. 30, Komplementärmedizinische Methoden bei Krebserkrankungen).  

9 Integrative Medizin – die Wiederentdeckung der Ganzheit

kHerz-/Kreislauf-Erkrankungen

Der Einsatz der evidenzbasierten Komplementärmedizin leitet sich aus den Studienergebnissen ab, die belegen, dass Herzinfarkt und Schlaganfall zu 80–90 % durch den Lebensstil bedingt sind (Yusuf et al. 2004). 1.2.2  Allgemeine Überlegungen

und statistische Fakten

zz Chronische Krankheiten

Ein therapeutischer Schwerpunkt in der konventionellen Schulmedizin liegt auf der symptomatischen Therapie, u.  a. durch medikamentöse Unterdrückung der Symptome, Substitution, Organaustausch (Transplantation) und mechanischen Ersatz, z. B. durch künstliche Gelenke. Die „Reparaturmedizin“ ist mit ihrem Alleinvertretungsanspruch für ein modernes Gesundheitssystem – ganz abgesehen vom medizinisch-ethischen Aspekt – zu wenig effizient und zu teuer. Eine vom Robert Koch Institut 2012 herausgegebene Statistik zeigt, dass ab dem Alter von 65 Jahren mehr als die Hälfte aller Menschen an (mindestens) einer chronischen Krankheit erkrankt sind (Nowossadeck 2012). zz Nebenwirkungen konventioneller schulmedizinischer Behandlungen und spezielle Problembereiche

Nebenwirkungen werden in den Gesundheitsstatistiken der modernen Industrienationen inzwischen als dritthäufigste Todesursache angegeben (Makary und Daniel 2016; Starfield 2000; Steel et al. 1981). Zu speziellen Problembereichen des gegenwärtigen Gesundheitssystems haben sich u. a. entwickelt: 55 Zunehmende Antibiotikaresistenzen (z. B. britischer Review on Antimicrobial Resistance, 2016: 7 https://amr-review.­org, zuletzt abgerufen am 12.08.2018); jedes Jahr sterben in der EU rund 25.000 Menschen durch bakterielle Infektionen, die durch resistente Keime hervorgerufen wurden (EFSA 2016), 55 neu und vermehrt auftretende Infektionskrankheiten (Hellenbrand 2003),  

1

55 ernährungsbedingte Krankheiten (Übergewicht, Nahrungsmittelunverträglichkeiten und allergische Erkrankungen), 55 die große Gruppe der stressbedingten Erkrankungen (nach einer Studie unter der Leitung von Univ. Prof. Peter Hofmann befinden sich über 50 % der österreichischen Ärzte in unterschiedlichen Phasen des Burnout; Mayrhofer 2011). Diese wachsenden Problembereiche zeigen deutlich den krankmachenden Einfluss unseres modernen Lebensstils (Stress, Bewegungsmangel etc.), mit der gleichzeitigen Vernetzung und Überlagerung unserer Ernährungssituation und der industrialisierten Landwirtschaft. >> Ganzheitliche Gesundheit schließt alle Lebensbereiche ein und erfordert einen verantwortungsvollen ethischen Umgang mit der Natur als Ganzem.

zz Folgen

Die Folge dieser Problembereiche sind enorme Kostensteigerungen und damit verbundene Finanzierungsprobleme innerhalb des bestehenden Gesundheitssystems. Die Entwicklung seit 1990 in Österreich illustriert einen realen Pro-Kopf-Anstieg der gesamten Gesundheitsausgaben von rund 60 %, die Gesundheitsausgabenquote in Relation zur Wirtschaftsleistung wuchs um 1,7 Prozentpunkte oder 20 % (Riedel und Röhrling 2009). Dies führt u. a. zum Verlust der selbstständigen Entscheidungsfähigkeit der im Gesundheitswesen tätigen Personen und zu vermehrter Abhängigkeit von externen Finanzexperten, der Krankenkassenbürokratie und v.  a. der Phar­ maindustrie: Als überwiegend börsennotierte wirtschaftliche Unternehmen muss es ihr Ziel sein, den Umsatz zu steigern und den Gewinn zu maximieren; ihr Interesse gilt einem möglichst großen „Markt“ an kranken Menschen.

 achweis des therapeutischen Nutzens zz N (Benefit)

Es sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, dass es Aussagen gibt, wonach sich die Anwendung der konventionellen Schul-

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medizin im medizinischen Alltag selbst nur zu einem Teil auf randomisierte klinische Studien (RCT) stützt bzw. ihr therapeutischer Nutzen nur teilweise nachweisbar ist. kZweifelhafter Nutzen von Antidepressiva bei Kindern und Jugendlichen

Antidepressiva sind für die Behandlung von schweren Depressionen bei Kindern und Jugendlichen häufig wirkungslos, manche möglicherweise sogar gefährlich. Zu diesem Schluss kommt eine Metaanalyse, veröffentlicht vom klinischen Psychiater Andrea Cipriani, Universität Oxford, im Fachjournal The Lancet (Cipriani et al. 2016). Die Wissenschaftler kritisieren in ihrer Metaanalyse auch die Qualität der Studien. Bei knapp einem Drittel der Untersuchungen (29  %) erkannten sie ein hohes Risiko in Bezug auf Befangenheit. 65  % der inkludierten Studien wurden von pharmazeutischen Unternehmen finanziert. Daraus ergibt sich den Forschern zufolge ein weiteres Problem: der Publikationsbias, wonach Ergebnisse nur selektiv veröffentlicht werden. Zudem seien suizidale Handlungen von Probanden oft nicht ausreichend dokumentiert worden.

EU-Mitgliedstaaten. Weiterhin steigend sind dagegen die Erkrankungsraten beim Bauchspeicheldrüsenkrebs und bei den bösartigen Tumoren der Leber (7 www.­rki.­de/krebs, zuletzt abgerufen am 12.08.2018). Mindestens 30 % aller Krebserkrankungen gelten weltweit als vermeidbar (es besteht hier ein Zusammenhang mit dem modernen Lebensstil): v. a. durch Verzicht auf das Rauchen, Vermeidung von starkem Übergewicht, ausreichende Bewegung sowie keinen oder maßvollen Alkoholkonsum. Zu den kritischen Arbeiten zählt z. B. eine Studie von Davis et  al. (2017), in der darauf hingewiesen wird, dass rund zwei Drittel der Krebsmedikamente ohne Nachweis einer längeren Überlebenszeit auf den Markt kommen. Neben den verbesserten Überlebensraten rückt immer mehr die Lebensqualität von Menschen mit Krebserkrankungen in den Vordergrund. Auch unter diesem Aspekt werden zukünftig Fortschritte in der Behandlung zu beurteilen sein. Gerade zur Reduktion der Nebenwirkungen der modernen Krebstherapien ist die begleitende Anwendung komplementärmedizinischer Methoden sinnvoll und nützlich (7 Kap. 30).  



kModerne Krebstherapien – positive und kritische Bewertung gleichermaßen

kGesundheitsrisiko durch Medikamente

Die Onkologie zählt zu den Bereichen der modernen Medizin, aus denen in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte im Bereich der Forschung und der Therapie berichtet werden. Die Chancen, eine Krebserkrankung zu überleben, sind seit dem Jahr 2000 weltweit gestiegen. Allerdings bestehen weiterhin große Unterschiede nach Ländern und nach Krebsarten. Das geht aus der internationalen Studie Concord-3 hervor, die in der Fachzeitschrift The Lancet veröffentlicht wurde (Allemani et al. 2018). Aus einem Bericht des Robert Koch Instituts und des Bundesgesundheitsministeriums aus dem Jahr 2016 geht hervor, dass für den Großteil der Krebserkrankungen die altersstandardisierten Sterberaten v.  a. seit Anfang der 1990er-Jahre in Deutschland deutlich gesunken sind. Die Entwicklung entspricht im letzten Jahrzehnt derjenigen in den meisten

Aus einer im Mai 2017 im Journal of the American Medical Association veröffentlichten Studie geht hervor, dass 71 von 222 und damit 32 % der von der amerikanischen Arzneimittelbehörde (FDA) zwischen 2001 und 2010 zugelassenen neuen Medikamente aufgrund von unerwarteten Nebenwirkungen entweder vom Markt genommen oder mit Warnhinweisen versehen wurden. Bei Anwendung am Menschen zeigten sich nach Zulassung unerwünschte Wirkungen wie schwere Hautreaktionen, Leberschäden, Krebs bis hin zur Todesfolge (Downing et al. 2017). Auch Vertreter der konventionellen Schulmedizin kritisieren u. a.: 55 die Dominanz der pharmazeutischen Industrie bei der Planung, Durchführung, Auswertung und Finanzierung wissenschaftlicher Studien (Forderung nach Offenlegung aller Rohdaten)

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55 das Ungleichgewicht bei Vertretern der Leitlinien-Kommissionen und ihre Nähe zur pharmazeutischen Industrie 55 die Rigidität bei der Festlegung von Grenzwerten (Blutdruck, Cholesterin, Blutzucker etc.). Sie fordern u. a. die Einführung neuer Medikamente erst nach umfangreicher und unabhängiger Prüfung (z.B. Antikoagulanzien, Psychopharmaka etc.). Die Werbemaßnahmen der pharmazeutischen Industrie müssen auf ein fachlich vertretbares Maß reduziert werden; die optimale medizinische Behandlung des Patienten muss oberste Priorität haben. Es ist z. B. mit der vielgepriesenen Wissenschaftlichkeit der konventionellen Schulmedizin nicht vereinbar, dass ältere und teilweise multimorbide Patienten mit Medikamenten-Cocktails überhäuft werden (bis zu 10 verschiedene Medikamente und mehr sind keine Seltenheit), obwohl mögliche Wechselwirkungen in dieser Situation nicht mehr seriös beurteilbar sind. Es wurde bereits mehrmals vorgeschlagen, dass die Forschung und Leitlinien-Erstellung in einen von der direkten Einflussnahme durch die pharmazeutische Industrie unabhängigen Bereich verlagert werden muss, der zum Großteil von der öffentlichen Hand finanziert wird. Daran knüpft sich die weitere Forderung, dass die Finanzierung von Studien aus dem Bereich der Komplementärmedizin gleichwertig behandelt wird. kEvidenz

Zur These, konventionelle Schulmedizin sei evidenzbasiert, Komplementärmedizin nicht, gibt es sehr unterschiedliche und teilweise gegensätzliche Meinungen. Mehrere Studien weisen auf mangelnde Evidenz in der medizinischen Praxis hin (durchschnittliche Angaben liegen bei 20–30  %): Cranney et al. (2001); Nooh et al. (2005); Kondov et al. (2012); van Diepen et al. (2007); Steen und Dager (2013). Einer der Begründer dieses Begriffs, David Sackett, veröffentlichte 1996 im British Medical Journal ein Editorial, in dem evidenzbasierte

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Medizin (EbM) u. a. folgendermaßen definiert wird:

»» „It’s about integrating individual clinical

expertise and the best external evidence.“ (Sackett et al. 1996).

David Sackett hat drei wesentliche Aspekte für die klinische Entscheidung hervorgehoben: 55 die Wünsche und Vorstellungen des Patienten, 55 die ärztliche Expertise, 55 die Evidenz aus klinischen Studien. In der gegenwärtigen Diskussion geht es fälschlicherweise primär nur noch um die best external evidence. EbM in dieser eingegrenzten Form anzuwenden, führt zu einer Minderung der Behandlungseffizienz beim einzelnen Patienten. Neben unbestrittenen Vorteilen entsteht durch den einseitigen EbM-Ansatz, so wie er heute primär verstanden wird, Unsicherheit in der Ärzteausbildung, bei der Erstellung von Leitlinien und in der täglichen Arbeit der Ärzte in der Praxis. Dies unterstreicht ein Zitat aus dem Jahr 2015 von Claudia M. Witt (Professorin für Komplementäre und Integrative Medizin) beim Zukunfts-Symposium der Universität Duisburg-Essen: Wie evidenzbasiert ist die Medizin? Mythen und Vorurteile in der Auseinandersetzung zwischen Naturheilkunde und Schulmedizin:

»» „In dieser Form wirft EbM mehr Fragen auf, als sie Antworten geben kann.“

Um die Berücksichtigung naturheilkundlicher Inhalte in medizinischen Leitlinien gezielt voranzutreiben, erfolgte 2011 die Gründung einer Task Force „Naturheilkunde und Komplementärmedizin in medizinischen Leitlinien“ am Stiftungslehrstuhl für Naturheilkunde an der Universität Duisburg-Essen unter der Leitung von Prof. Dr. Jost Langhorst. Ziel dieser Arbeit ist die Unterstützung von wissenschaftlichen Vertretern im Bereich der Komplementärmedizin und die Kooperation und die gemeinsame Erstellung fundierter und wissenschaftlich hochwertiger Leitlinien in Zusammenarbeit mit Vertretern der konventionellen Schulmedizin.

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1.3  Vorteile der

Komplementärmedizin und damit in Verbindung stehende offene Fragen

>> Durch die Komplementärmedizin wird der Arzt zu ganzheitlichem Denken und Handeln erzogen und ausgebildet und der Patient zu mehr Eigenverantwortlichkeit in Bezug auf seine Gesundheit.

zz Eigenschaften komplementärmedizinischer Methoden

Sie sind 55 nebenwirkungsarm, weil sie die natürlichen, ganzheitlichen Gesetzmäßigkeiten des Organismus nutzen, um die Selbstheilungskräfte zu stärken (der Organismus wird bei Prozessen, die ohnehin ablaufen, unterstützt, um diese effizienter zu machen), 55 nachgewiesenermaßen kosteneinsparend (Tahiragi 2012, Diplomarbeit zum Kostenvergleich zwischen konventioneller und Ayurveda-Medizin) (s. auch 7 Abschn. 39.8.2), 55 zum großen Teil verbunden mit alten medizinischen Traditionen und umfangreicher praktischer Erfahrung mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund, z. B. traditionelle europäische Medizin – TEM, traditionelle asiatische Medizin – TAM.  

zz Wissenschaftlicher Wirkungsnachweis für komplementärmedizinische Methoden

Hierbei handelt es sich um eine der noch nicht befriedigend gelösten Fragen, was im Folgenden näher ausgeführt wird. kStudienmaterial

Zum einen liegt zunehmend mehr Studienmaterial im Bereich der komplementärmedizinischen Methoden vor. Zum anderen gibt es ein Defizit bei wissenschaftlichen Lehr- und Forschungseinrichtungen für Komplementärmedizin. Den Forderungen nach Lehrstühlen für

Komplementärmedizin an den medizinischen Universitäten wurde bisher nur in Ausnahmefällen entsprochen (Links/Hinweise am Kapitelende und 7 Kap. 40).  

kFinanzierung von Studien

Da die Komplementärmedizin nicht mit wirtschaftlichen Interessen internationaler Großkonzerne verbunden ist, wäre es Aufgabe der Politik und der entsprechenden Gesundheitseinrichtungen, die diese Studien (durchaus zu Recht) einfordern, auch die organisatorischen und finanziellen Voraussetzungen dafür zu schaffen. Wenn für eine etablierte komplementärmedizinische Methode verlangt wird, dass ihre Wirkungen wissenschaftlich nachgewiesen wer­ den, so sind dafür entsprechende organisatorische und finanzielle Voraussetzungen nötig (Etablierung von Lehrstühlen an Medizinischen Universitäten und Studienfinanzierung durch die öffentliche Hand). Das positive Beispiel der Ayurveda-Medizin zeigt, wie dieser wissenschaftliche Wirkungsnachweis zum einen nur möglich gemacht werden konnte durch private Lehr- und Forschungseinrichtungen in den USA, Europa und Indien und zum anderen durch staatliche Fördergelder des Nationalen Gesundheitsinstituts der USA (NIH) (seit einiger Zeit auch durch das indische Gesundheitsministerium AYUSH). Aufgrund des vorliegenden umfangreichen Studienmaterials hat die amerikanische Kardiologengesellschaft (American Heart Association, AHA) – neben Biofeedback – die Anwendung traditioneller ayurvedischer Meditationstechniken (transzendentale Meditation) zur komplementären Behandlung von Hypertonie empfohlen (Brook et al. 2013). kStudiendesign

In den meisten Fällen erfordert Komplementärmedizin andere, komplexere Studiendesigns, als dies in der konventionellen Schulmedizin der Fall ist (Kiene et al. 2005; Kienle 2005). kZulassungsprozedere für neue Therapieformen

Die Problematik, die damit verbunden ist, die Zulassung neuer Therapieformen (speziell von

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13 Integrative Medizin – die Wiederentdeckung der Ganzheit

neuen Medikamenten) ausschließlich auf (kostenaufwendige) wissenschaftliche Studien zu gründen, zeigt sich u. a. in den Fällen, in denen Neuzulassungen konventioneller schulmedizinischer pharmazeutischer Mittel aufgrund gravierender Nebenwirkungen nach einiger Zeit wieder vom Markt genommen werden mussten (WITHDRAWN: A Resource for Withdrawn and Discontinued Drugs, 7 http://cheminfo.­charite.­de/withdrawn, zuletzt abgerufen am 28.06.2018). Dies dokumentiert, dass es kaum sinnvoll, verantwortungsvoll und ausreichend ist, sich im Rahmen der medizinischen Tätigkeit ausschließlich auf Studienergebnisse zu verlassen und traditionelle Erfahrungsheilkunde aus dem staatlichen Gesundheitssystem zu verbannen.  

zz Vorsorgemedizin/Public Health

Der Gesundheitszustand gerade von jungen Menschen verschlechtert sich dramatisch (Statistik Austria 2015; Currie et al. 2012). Spätestens wenn diese das Erwachsenenalter erreicht haben und ihre Lebensstil-­Erkrankungen voll entwickelt sein werden, besteht die Gefahr, dass das Gesundheitssystem kollabiert. Jeder Gesundheitsexperte spricht von der Wichtigkeit der Prävention; gegenwärtig werden jedoch nach wie vor viel zu wenige einfache, wirksame und in der Praxis erprobte Programme im Bereich der Gesundheitserziehung und Bewusstseinsbildung angeboten. Außerdem sind die finanziellen Mittel für die Etablierung vorsorgemedizinischer Programme, im Vergleich zur Kurativmedizin, verschwindend gering. In der traditionellen Komplementärmedizin steht auch in diesem Bereich ein großes Potenzial an Wissen und Erfahrung zur Verfügung. Wenn Angebote an die gesetzlichen Krankenkassen, dieses vermehrt zu nutzen, nicht angenommen werden, geschieht dies primär aus folgenden Gründen: Zum einen wird der Großteil der komplementärmedizinischen Methoden nicht anerkannt (7 Abschn.  1.3, Themenkreis wissenschaftliche Studien im Bereich der Komplementärmedizin), zum anderen ist kein Budget dafür vorhanden, auch wenn auf lange Sicht den Menschen Leid erspart werden könnte, sie mehr Lebensqualität haben könnten und über 

dies dem System finanzielle Einsparungen ermöglicht würden. Während teure konventionelle schulmedizinische Behandlungen von den gesetzlichen Krankenkassen in einem großen Ausmaß übernommen werden, gilt dies für günstige und ebenfalls wirksame komplementärmedizinische Behandlungen nur in Ausnahmefällen und für vorsorgemedizinische Maßnahmen nur in einem äußerst geringen Ausmaß. 1.4  Grundlagen eines neuen

modernen medizinischen Weltbildes

1.4.1  Die Ganzheitlichkeit der

Medizin

»» „In einem lebenden Organismus entwi-

ckelt sich kein Teil völlig isoliert und unabhängig von allen anderen Teilen, sondern in ständiger Beziehung zu diesen und zu dem Ganzen. Heil sein bedeutet ganz sein und ‚heil‘ heißt gesund. Wenn ich ‚heile‘, dann stelle ich ein ursprünglich Ganzes, das zerstört war, wieder her.“ (Taylor 2010)

Gesundheit kann nicht allein dadurch entstehen, dass „Teile“ des Körpers, des Geistes oder der Seele „repariert“ werden. Die vielen unterschiedlichen Ansätze in der Medizin benötigen die Integration einer dem Leben immanenten gemeinsamen, einheitlichen Basis. Ganzheit muss nicht geschaffen werden; das Leben ist Ganzheit, ausgedrückt als individuelle manifeste Erscheinungsformen eines unmanifesten, einheitlichen „Intelligenzfeldes“ an der Basis des Lebens. Gesundheit im eigentlichen Sinn kann sich daher nur dann entwickeln, wenn die einzelnen ausgedrückten Ebenen (Umwelt, Körper, Geist, Seele) mit dieser ganzheitlichen Grundebene des Lebens direkt verbunden sind, d. h. optimal mit ihr kommunizieren. Obwohl es nun fast seit einem Jahrhundert grundlegende Umwälzungen im Bereich der theoretischen Basiswissenschaften gibt – allem voran in der modernen Physik (7 Kap.  4)  –  

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verläuft das Denken in den angewandten Wissenschaften, auch in der Medizin, in den althergebrachten, klassischen, rein materialistisch orientierten, begrenzten Bahnen. Niels Bohr, Nobelpreisträger für Physik 1922, führt aus, dass die Physik noch Ende des 19. Jahrhunderts durch die „Klarlegung der Gesetzlichkeit der Mechanik“ die Überzeugung einer objektiven Gültigkeit physikalischer Beobachtungen gefestigt hätte. Die große Erweiterung des menschlichen Erfahrungsgebietes (z.  B. durch die Quantenphysik) habe jedoch die Unzulänglichkeit von einfachen mechanischen Vorstellungen klar zu Tage gebracht. Ein ähnliches Zitat existiert von Werner Heisenberg, Nobelpreisträger und einer der bedeutendsten Physiker des 20. Jahrhunderts:

»» „Die Quantentheorie lässt keine völlig objektive Beschreibung der Natur mehr zu …“ (Heisenberg 1977)

Das quantenphysikalische Modell der Medizin geht davon aus, dass sowohl Materie als auch Geist in unterschiedlichen Anregungszuständen vorhanden sind und dass diesen Anregungszuständen ein gemeinsamer Grundzustand zugrunde liegt (einheitliches Feld aller Naturgesetze, Vakuumzustand; 7 Kap. 4). Auf dieser transzendenten Ebene des Grundzustands ist das gesamte Know-how über ein harmonisches, gesundes Funktionieren aller Lebensvorgänge gespeichert. Jeder Mensch hat in sich die effizienteste und kostengünstigste Art von „Apotheke“, „Arzt“ und „Therapeut“ zur Verfügung. Das primäre Ziel der integrativen Medizin ist es, dieses Wissen besser zu nutzen und die Selbstheilungskraft des Organismus zu stärken.  

>> Ganzheitliche Gesundheit setzt eine Verbindung zwischen den einzelnen körperlichen und geistigen Anregungszuständen und dieser transzendenten Bewusstseinsebene an der Basis jedes Menschen voraus (Details 7 Kap. 34).  

Dazu ein Zitat von Univ. Prof. Dr. Dr. Dipl.Psych. Harald Walach, Professor für Forschungsmethodik komplementärer Medizin

und Heilkunde, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder):

»» „Heilung kann immer nur von innen

heraus kommen, wenn sie echt ist. Alles, was von außen kommt, dient nur der Unterstützung dieser Selbstheilung. Das klingt banal, ist es aber nicht, wenn wir Praxis und Theorie moderner Medizinsysteme betrachten. Die Schwierigkeiten hängen damit zusammen, dass wir nur das sehen, was wir bereits kennen, und alles ignorieren, was nicht in unsere Welt passt. Deshalb ist ein radikaler Perspektivenwechsel nötig.“ (Walach 2011)

Hippokrates von Kos (460 bis etwa 377 v. Chr.), dem bekannten griechischen Arzt, wird ein ähnliches Zitat zugeschrieben (Alt-Epping et al. 2017):

»» „Die wirksamste Medizin ist die natürliche Heilkraft, die im Inneren eines jeden von uns liegt.“

„Naturwissenschaftliche Medizin“, wie sie heute nach wie vor verstanden wird, ist „konservative Medizin“, d. h., ihr Weltbild gründet sich auf das klassische materialistische Modell des 19. Jahrhunderts. Ihre Modernisierung beschränkt sich auf die technischen Apparaturen, die theoretischen Grundlagenfächer (wie z. B. Biochemie und moderne Pharmakologie), sie bezieht jedoch das menschliche Bewusstsein als primären Denk- und Handlungsrahmen nicht mit ein. Dieses Missverständnis führt zum Teil so weit, dass quantenphysikalische Ansätze in den medizinischen Konzepten, wie sie zum Großteil in der Komplementärmedizin vorliegen, als veraltet oder als Scharlatanerie abgestempelt werden, weil sie nicht dem rein materialistischen Weltbild entsprechen (ein Beispiel hierfür ist das Hauptargument von Homöopathie-Gegnern, Homöopathie sei nicht wissenschaftlich erklärbar, und ohne Nachweis materieller Substanzen könne keine therapeutische Wirkung möglich sein). Im Mai 2007 erklärte Univ. Prof. Dr. Hans-­ Peter Dürr, langjähriger Direktor des Max-­

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15 Integrative Medizin – die Wiederentdeckung der Ganzheit

Planck-­Instituts für Physik, Schüler Heisenbergs und Schrödingers, Friedensnobelpreis 1995, Alternativer Nobelpreis 1987, in einem Interview mit Holger Fuß (P.M. Magazin):

»» „Im Grunde gibt es Materie gar nicht. Je-

denfalls nicht im geläufigen Sinne. Es gibt nur ein Beziehungsgefüge, ständigen Wandel, Lebendigkeit. Wir tun uns schwer, uns dies vorzustellen. Primär existiert nur Zusammenhang, das Verbindende ohne materielle Grundlage. Wir könnten es auch „Geist“ nennen [Anm. des Verfassers: ‚Bewusstsein‘]. Etwas, was wir nur spontan erleben und nicht greifen können. Materie und Energie treten erst sekundär in Erscheinung – gewissermaßen als geronnener, erstarrter Geist. Nach Albert Einstein ist Materie nur eine verdünnte Form der Energie. Ihr Untergrund jedoch ist nicht eine noch verfeinerte Energie, sondern etwas ganz Andersartiges, eben Lebendigkeit [Anm. des Verfassers: ‚Bewusstsein‘]. Wir können sie etwa mit der Software in einem Computer vergleichen.“

1.4.2  Bewusstsein – die

Grundbedingung für ganzheitliche Gesundheit

»» „Wer nach außen schaut, träumt. Wer nach innen schaut, erwacht.“ (C. G. Jung, Schweizer Psychiater und Begründer der analytischen Psychologie)

Nach einer langen Periode der Menschheitsgeschichte, in der wir uns primär mit den „äußeren“, materiellen Bereichen des Lebens beschäftigt haben (Materie ist primär, Geist ist sekundär), stehen wir nun an der Schwelle zu einer neuen Zeit – einem Bewusstseinszeitalter (Bewusstsein ist primär, Materie ist sekundär). Bewusstsein ist der Rahmen der Lebensrealität für den einzelnen Menschen und für die Gesellschaft als Ganzes. Jeder Bewusstseinszustand hat seine für ihn typische Realität. Die Realität des Wach-Bewusstseins ist die gegen-

wärtig dominierende Lebenswirklichkeit. Sie ist verbunden mit Begrenzung, Veränderung und Individualität. Ein Leben außerhalb dieser Realität des Wach-­ Bewusstseins ist für die Menschen  – solange sie keine andere Realität kennen  – nicht nachvollziehbar. Dies betrifft alle Lebensbereiche, sei es Wissenschaft, Wirtschaft, Erziehung, oder Medizin. Die Alltagsrealität des Wach-Bewusstseins ist ein isolierter Ausschnitt der Gesamtwirklichkeit des Lebens. Bewusstsein besitzt nicht nur jene vertraute Oberflächen-­Dimension, in der die veränderliche Welt des Denkens und Fühlens angesiedelt ist (Wach-, Traum- und Schlaf-Bewusstsein). Es umfasst auch einen abstrakten, ganzheitlichen und unveränderlichen Grundzustand, der als transzendentes Feld reiner kreativer Intelligenz beschrieben wird (transzendentales Bewusstsein, in der Yoga-Literatur als Turiya Chetana bezeichnet). Dieser Bereich ist definitionsgemäß noch jenseits des von der Freudschen Tiefenpsychologie definierten „Unbewussten“ und bildet die vollkommen harmonische „transpersonale“ Quelle aller Gedanken und Gefühle sowie aller Kreativität und allen Verhaltens. Bewusstsein in seinem transzendenten Grundzustand ist als unendliches, abstraktes Intelligenzfeld die Basis für jeden ordnenden, harmonisierenden, selbstheilenden und damit evolutionären Prozess in der Natur. Transzendentales Bewusstsein ist der eigentliche „Urheber“ jedes Gesundungs- und Lebensprozesses. Zum Großteil noch unbemerkt, stehen wir vor der wichtigsten Revolution in der Geschichte der Medizin: Die Entdeckung einer gemeinsamen, einheitlichen und ganzheitlichen Basis der Physiologie und des menschlichen Lebens, dem transzendenten Intelligenzfeld der Natur, von dem aus die Lebens- und Heilungsprozesse gesteuert werden. Diese Erkenntnisse, die in der vedischen Medizin seit Jahrtausenden bekannt sind, werden durch quantenphysikalische Modelle ­untermauert (7 Kap.  4). Die Erfahrung eines Zustands „ruhevoller Wachheit“ an der transzendenten Basis des Menschseins ist der entscheidende Schritt hin zu einer neuen ganzheitlichen Lebensrealität. Der Zustand des  

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spontanen Nicht-Denkens ist die Basis jedes angeregten geistigen Zustands. Der Vorgang des Transzendierens mithilfe einfacher, traditioneller Meditationsformen aus dem Bereich des klassischen Yoga wird zum Schlüsselprozess einer neuen ganzheitlichen Medizin (7 Kap.  37, Meditation, und 7 Kap. 34). Es gibt ein jahrtausendealtes Wissenschaftssystem das sich mit Bewusstsein, Bewusst­ seinsforschung und Bewusstseinsentwicklung beschäftigt – die vedische Wissenschaft. Sie wurde in unserer Zeit in ihrer V ­ ollständigkeit wiederentdeckt und in einer modernen wissenschaftlichen Sprache ausgedrückt. Dies ermöglicht die ­Integration objektiver und subjektiver Wissensansätze, die zu einer Wiederentdeckung der Ganzheit des Lebens führt (7 Kap. 34).  





>> Integrative Medizin bedeutet das Zusammenführen jahrtausendealter ganzheitsmedizinischer Gesundheitssysteme mit der auf der klassischen Naturwissenschaft gegründeten konventionellen Schulmedizin.

Der wesentliche Schritt hin zu diesem neuen medizinischen Weltbild ist die vollständige Entfaltung der Bewusstseinsressourcen der Menschen; damit verbunden ist die volle Entwicklung der Regenerations- bzw. Selbstheilungskräfte des Organismus als Voraussetzung für die Wiederherstellung und Erhaltung von Gesundheit. Dies erfordert ein Umdenken aller im Gesundheitsbereich tätigen Menschen und die Etablierung eines neuen ganzheitlichen Verständnisses von Gesundheit. >> Eine moderne Medizin muss ihr Credo grundlegend ändern: Ganzheit leben und nicht nur Teile des Körpers reparieren.

1.5  Das Potenzial der

Medizinkunst

Um die Effizienz der Medizin zu erhöhen, ist eine ganzheitliche Herangehensweise erforderlich, d. h. die subjektive der Medizin als Kunst und die objektive der Medizin als Wissenschaft.

Der subjektive Ansatz muss genauso bemüht sein, fundierte Wirkungsnachweise zu erbringen; dafür müssen allerdings die organisatorischen, personellen und finanziellen Voraussetzungen geschaffen werden (7 Abschn. 1.3). Der objektive Ansatz sollte die große Transformation des naturwissenschaftlichen Weltbildes, die mit der Entdeckung der quantenphysikalischen Wirklichkeit entstanden ist, in den medizinischen Alltag integrieren. Wie schon eingangs ausgeführt, liegt eines der zentralen Probleme unseres modernen Lebens darin, dass wir zum Großteil Erkenntnisse der modernen Wissenschaft zwar in der Entwicklung von Geräten, Messinstrumenten, Maschinen, Computern und Robotern anwenden, diese aber noch nicht in unser Denken und Handeln integriert haben; auch nicht in der Medizin  – und darin liegt die große Herausforderung für unsere Zukunft.  

Forderungen an ein modernes, ganzheitliches Gesundheitssystem 55 Bewusstseinsbildung und Bewusstseinsentwicklung zur Förderung des inneren Gesundheitspotenzials der Menschen müssen als ein zentraler Aspekt einer modernen ganzheitlichen Medizin in der Prävention und in der Therapie angeboten werden (u. a. auch den jungen Menschen in Schulen). 55 Der Arztberuf muss attraktiver werden: Der Arzt als Koordinationsstelle bzw. Primus inter Pares in einem ganzheitsmedizinischen Gesundheitsteam, das einen direkten Kontakt zu den Menschen in ihrem Arbeits- und Wohnbereich hat. Es werden den Menschen in ihrer Lebenssituation effiziente Technologien angeboten, gesund zu bleiben und Gesundheit von innen heraus zu stärken (Salutogenese). 55 Der Schwerpunkt der Therapie muss auf der Behandlung von kranken Menschen liegen und nicht primär auf dem Reparieren von kranken Organsyste-

17 Integrative Medizin – die Wiederentdeckung der Ganzheit

men. Spezialisierung ist notwendig, aber immer mit Blick auf den gesamten Menschen und seine Lebens- und Arbeitssituation sowie sein soziales Umfeld. Therapiemaßnahmen, die nicht die Ganzheit des Lebens umfassen, werden immer unvollständig und damit bis zu einem gewissen Grad unwirksam sein. 55 Medizin als Kunst sollte gleichberechtigt sein mit Medizin als Wissenschaft. Das bedeutet: –– eigene Programme in den Bereichen Gesundheitserziehung, Bewusstseinsbildung, Lebensstilmedizin (Stressmanagement, Ernährung, gesundes Wohnen etc.), –– Schwerpunkt auf dem ärztlichen Gespräch und dem persönlichen Kontakt mit den Patienten (Anamnese), –– Berühren und „Begreifen“ des Patienten (einschließlich einer ausführlichen physikalischen Untersuchung), –– für die Ärzte und das medizinische Fachpersonal müssen die entsprechenden finanziellen und organisatorischen Rahmenbedingungen geschaffen werden, –– ganzheitsmedizinische Therapieoptionen müssen im Vordergrund stehen. 55 Der freien Marktwirtschaft müssen Grenzen aufgezeigt werden, wenn es um nachweislich nicht gesundheitsfördernde Produkte, insbesondere in der Nahrungsmittelindustrie und speziell bezogen auf den Markt junger Menschen, geht. Gesundheit muss einen höheren Stellenwert haben als Umsatzsteigerung und Gewinnmaximierung. 55 Komplementärmedizin muss ein integrierter Teil in der medizinischen Lehre und Forschung sein. Die Einrichtung und eine ausreichende finanzielle Ausstattung von Lehrstühlen für integra-

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tive Medizin an den medizinischen Universitäten sollte gefördert werden. 55 Neben der etablierten konventionellen Schulmedizin sollten die Komplementärmedizin und Erfahrungsheilkunde als gleichberechtigte Partner in einem ganzheitlich orientierten Gesundheitssystem anerkannt sein. Dies bedeutet, dass in allen Fällen, in denen es Hinweise auf die Wirksamkeit der therapeutischen Anwendung komplementärmedizinischer Methoden gibt (durch wissenschaftliche Studien, durch Fallberichte und durch ausreichende medizinische Erfahrung), dieser ganzheitsmedizinische Ansatz allen Menschen, die dies wünschen, offen stehen sollte.

Komplementärmedizin sollte nicht ein Luxusprojekt des etablierten Gesundheitssystems sein und nur den Menschen zugänglich, die Pro­ bleme mit den Nebenwirkungen der konventionellen Schulmedizin haben sowie über genügend finanzielle Mittel verfügen, die Behandlungskosten selbst zu übernehmen; sie muss ein integraler und gleichwertiger Bestandteil eines erneuerten, zukunftsorientierten Gesundheitssystems und für alle Menschen leistbar sein. Die Frage, welche Therapieform bei welchen Patienten am sinnvollsten zum Einsatz kommen sollte, können nur Ärzte entscheiden, die eine fundierte Ausbildung im Bereich der Ganzheitsmedizin haben. Komplementärmedizin muss daher ein fester Bestandteil der bestehenden ärztlichen Ausbildung an den medizinischen Universitäten und der postgraduellen Fortbildung sein. >> Gerade die Integration sowohl der etablierten konventionellen Schulmedizin als auch der Komplementärmedizin bringt das Maximum an Vorteilen beider medizinischer Ansätze, und zwar sowohl für die Patienten als auch für das ­Gesundheitssystem als Ganzes.

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Auf Dauer gesehen, kann ein sinnvolles Ziel der Gesundheitspolitik nicht nur darin liegen, die statistische Lebenserwartung zu steigern. Es gilt, effiziente Maßnahmen zu ergreifen, um die Zahl der gesunden Menschen zu erhöhen und die der kranken Menschen zu senken. Die Lösung kann nicht sein, noch mehr Menschen „durch das System hindurch zu schleusen“, noch teurere Medikamente zu entwickeln und noch mehr, noch größere und noch teurere Krankenhäuser und Ambulanzen zu bauen und zu betreiben. Das Ziel für die Zukunft muss sein, Krankenhäuser und Ambulanzen schließen zu können, weil die Zahl der kranken M ­ enschen zurückgeht. Akutbetten müssten zu reduzieren, lebensgerechte Wohneinheiten für ältere Menschen hingegen auszubauen sein. Auch die Frage, wie den Ärzten ein gesundes und befriedigendes Arbeitsumfeld ermöglicht werden kann, muss gelöst werden. Das Wichtigste ist jedoch die Integration eines zusätzlichen, ganzheitsmedizinischen Know-hows, das den Menschen nicht nur mehr Lebensjahre sichert, sondern es ihnen ermöglicht, bis ins hohe Alter gesund, glücklich und menschenwürdig zu leben. Dies erfordert ein grundsätzliches Umdenken aller im Gesundheitswesen beteiligten ­Personen und muss mit einem Überdenken und einer Adaptierung des modernen westlichen Lebensstils einhergehen. Aus diesem Grund hat der Österreichische Dachverband für ärztliche Ganzheitsmedizin eine Modellvision für eine moderne, gesunde Zukunftsstadt entwickelt, die den Schwerpunkt auf gesundheitsfördernden Erziehungs-, Wohn-, Arbeits-, Lebens- und Umweltbedingungen legt. zz Fazit

Es gilt, ein neues ganzheitliches Weltbild in die Medizin zu integrieren und damit die Basis zu schaffen für ein zukunftsfähiges, modernes Gesundheitssystem, dessen Schwerpunkt die Verhütung von Krankheiten sowie eine nebenwirkungsarme Behandlung chronischer Erkrankungen ist. Es wäre dies zum Wohle aller Menschen und böte die einzig wirksame Möglichkeit, die zunehmenden organisatorischen und finanziellen Probleme im Gesundheitssystem dauerhaft in den Griff zu bekommen. Die

Zukunft der Medizin ist Ganzheitsmedizin: die Integration der unterschiedlichen medizinischen Konzepte auf einer einheitlichen Basis, die zu einer ganzheitlichen Sichtweise des Menschen führt. Das visionäre Ziel eines modernen Gesundheitssystems muss es sein, eine krankheitsfreie Gesellschaft entstehen zu lassen. Der Weg dorthin kann nur eine Medizin sein, nämlich Ganzheitsmedizin. Und der erste Schritt ist eine Ä ­ nderung unseres Denkens auf der Basis der Entwicklung unserer inneren Bewusstseins-­Ressourcen. Die Zeit ist reif für ein neues ganzheitliches Weltbild – auch in der Medizin.

1.6  Definitionen

Nachfolgend werden Definitionen einiger in diesem Buch verwendeten Schlüsselbegriffe gegeben (wobei es im komplementärmedizinischen Bereich mehrere Überschneidungen gibt): zz Grundbegriffe (7 Kap. 41 und 42)

Konventionelle Medizin - Auf naturwissenschaftlichen, objektiven Konzepten basierende, an medizinischen Universitäten gelehrte und vom staatlichen Gesundheitsversicherungssystem anerkannte Mainstream- bzw. Schulmedizin. Komplementäre Medizin - Sowohl auf alten medizinischen Traditionen beruhende und vorwiegend auf Erfahrungsheilkunde gegründete als auch auf modernen Konzepten basierende Medizin, die im Allgemeinen komplementär (ergänzend) zur konventionellen Medizin angewendet wird. Alternative Medizin - Teilbereich der komplementären Medizin, der nur bei wenigen ausgewählten Diagnosen eingesetzt wird, z. B. bei leichten HNO-­ Infektionen (Erkältungskrankheiten) als First-aid-Therapie, anstatt der sofortigen Anwendung von Breitbandantibiotika. Alternative Medizin kann auch Teilbereiche wie z. B. Osteopathie betreffen, wenn es keine adäquate Therapie im Bereich der konventionellen Medizin gibt. Complementary and Alternative Medicine – CAM - Im englisch-amerikanischen Sprachgebrauch werden komplementäre und alternative Medizin zusammengefasst. Traditionelle Medizin (traditional medicine) - Im Allgemeinen beinhaltet der Begriff das traditionelle medizinische Wissen in den einzelnen geographischen und kulturellen Regionen.

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19 Integrative Medizin – die Wiederentdeckung der Ganzheit

Naturheilkunde - Im Allgemeinen weist der Begriff auf nebenwirkungsarme, „natürliche“ Methoden hin, üblicherweise mit Schwerpunkt auf Phytotherapie. Geist-Körper Medizin (Mind-Body-Medizin) - Der Begriff wird inzwischen auch in der konventionellen Medizin verwendet (z. B. in der S3-Leitlinie „Diagnostik und Therapie der Colitis ulcerosa“, Cramer et al. 2014) und deutet darauf hin, dass Körper und Geist nicht getrennt funktionierende Einheiten sind, sondern dass das menschliche System ganzheitlich funktioniert (Seele, Geist, Körper und Umwelt). Die Geist-Körper-Medizin umfasst u. a. multimodale Lebensstilmodifikationsprogramme, psychosomatische und psychotherapeutische Methoden, aber auch Yoga und Entspannungstechniken wie autogenes Training, Biofeedback, Qigong und Meditation.

Integrative Medizin - Sie kombiniert (integriert) moderne wissenschaftliche Erkenntnisse und bewährte Methoden aus Komplementärmedizin, Psychologie, Ernährungs- und Sportwissenschaften, wobei sowohl bei der konventionellen als auch bei der komplementären Medizin neben der wissenschaftlichen Evidenz auch Wert auf Erfahrungswerte und Effektivität gelegt wird. Eine der Definitionen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für integrative Medizin lautet: konventionelle und komplementäre Therapieverfahren verschmelzen zu best practices (7 www.­who.­int/ traditional-complementary-integrative-­medicine/en, zuletzt abgerufen am 30.09.2018).  

Nach Univ. Prof. Dr. Dobos ist integrative Medizin die Art, einen Menschen als Ganzes zu betrachten und die emotionalen und spirituellen Bedingungen genauso zu berücksichtigen wie die Funktion der Organe. Sie reduziert einen Menschen nicht auf eine Krebserkrankung oder eine Funktionsstörung von Organen.

Ganzheitsmedizin - Der Begriff ist dem der integrativen Medizin verwandt, er soll jedoch speziell darauf hinweisen, dass es nur eine Form von Medizin geben kann, nämlich die, die nicht nur die Krankheit, sondern den kranken Menschen ganzheitlich erfasst und behandelt und die sowohl wissenschaftlich gewonnene Erkenntnisse als auch ärztliches Erfahrungswissen anwendet, um das Gesundheitssystem effizienter und kostengünstiger zu machen.

Links/Hinweise kÖsterreich

55 Der Österreichische Dachverband für ärztliche Ganzheitsmedizin (7 www.­ ganzheitsmed.­at) wurde 1989 gegründet mit dem Ziel, Komplementärmedizin auf eine wissenschaftliche Grundlage zu  

stellen, die Ausbildungsprogramme der Ärztegesellschaften mit dem enthaltenen Erfahrungswissen zu standardisieren und so die Grundlage einer modernen Integrativmedizin (= Ganzheitsmedizin) zu schaffen. Vergleichbare komplementärmedizinische Dachgesellschaften gibt es in Deutschland und in der Schweiz: kDeutschland

55 Hufelandgesellschaft, Dachverband der Ärztegesellschaften für Naturheilverfahren und Komplementärmedizin (7 www.­ hufelandgesellschaft.­de) 55 Zentralverband der Ärzte für Naturheilverfahren und Regulationsmedizin – ZAEN (7 www.­zaen.­org)  



kSchweiz

55 Dachverband Komplementärmedizin – Dakomed (7 www.­dakomed.­ch)  

zz ( Stiftungs-)Lehrstühle für Komplementärmedizin (s. auch 7 Abschn. 40.3)

55 In Deutschland: z. B. an der Charité in Berlin, an der Universität Duisburg-Essen, in Rostock, Witten/Herdecke und an der TU München. 55 In der Schweiz: ein Institut für komplementäre und integrative Medizin am Universitätsspital Zürich. 55 In Österreich: ein Lehrstuhl für Komplementärmedizin mit Schwerpunkt TCM an der Sigmund Freud Privatuniversität Wien. Zusammenfassung 55 Es ist keine Frage, dass die wichtige Rolle der naturwissenschaftlich orientierten konventionellen Schulmedizin in einem modernen Gesundheitssystem vorhanden ist und vorhanden bleibt. 55 Zusätzlich ist jedoch eine Verbreiterung der diagnostischen und therapeutischen Palette aus dem Bereich der ärztlichen Komplementärmedizin erforderlich.

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L. Krenner

55 Medizin als Wissenschaft und Medizin als Kunst müssen in einem gleichberechtigten und fairen Miteinander zusammenarbeiten und sich gegenseitig ergänzen und unterstützen. 55 Ausgelöst durch die moderne Physik (Quantenphysik) fließt die objektive und subjektive Annäherung an die Natur- und Lebenserkenntnisse ineinander und bildet eine neue wissenschaftliche Realität der Ganzheit (Einheitliche Feldtheorien). 55 Diese neue Realität hat sich jedoch in das Denken und Handeln der Menschen noch nicht integriert. 55 Die Aufgabe eines modernen Gesundheitssystems muss es sein, diese notwendigen Bewusstseinsentwicklungsprozesse für den einzelnen Menschen und für die Gesellschaft als Ganzes zu initiieren und durchzuführen. 55 Nur dadurch kann die Medizin ihrer primären Aufgabe gerecht werden, die Gesundheit der Menschen zu erhalten und der Entstehung von Krankheiten vorzubeugen. 55 Im Sinne einer effizienten und sparsamen Medizin ist es erforderlich, das Know-how aus allen unterschiedlichen Medizinsystemen zu einer ganzheitlichen Medizin zusammenzuführen.

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Medizin – eine Disziplin zwischen Naturwissenschaft und Kunst Herbert Pietschmann Literatur – 34

Der Beitrag geht zurück auf den Festvortrag des Autors auf dem 46. Kongress für Allgemeinmedizin der Steirischen Akademie für Allgemeinmedizin (Stafam) in Graz (November 2015). © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_2

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H. Pietschmann

Für den Naturwissenschaftler scheint es ganz selbstverständlich zu sein, dass sich die Medizin der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und der Erfolge, die Naturwissenschaft und Technik aufzuweisen haben, inhaltlich bedient. Für ihn ist es also keine Frage, dass die Naturwissenschaft und ihre technischen Konsequenzen für die Medizin ein wichtiges Hilfsmittel sind. Aber: Es gibt nichts in dieser Welt, das entweder gut oder schlecht ist, sondern alles hat Vor- und Nachteile. Die Frage darf nicht lauten, ob das gut oder schlecht sei, sondern es muss immer gefragt werden, wo die Nachteile um der Vorteile willen in Kauf genommen werden und wo nicht. Letzteres ist eine viel schwierigere Frage als die Gut-oder-schlechtFrage, weil es eine Grenzziehung ist, die noch dazu individuell verschieden sein kann, und weil es einer Konsensbildung bedarf, um zu einer einheitlichen Meinung zu kommen. Zur Betrachtung der möglichen Nachteile der Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden in der Medizin schreibt Wolfgang Pauli, Nobelpreisträger für Physik und Mitbegründer der Quantenphysik:

»» „Ich behaupte nicht, dass das Reproduzierbare an und für sich wichtiger sei als das Einmalige, aber ich behaupte, dass das wesentlich Einmalige sich der Behandlung durch naturwissenschaftliche Methoden entzieht. Zweck und Ziel dieser Methoden ist ja, Naturgesetze zu finden und zu prüfen, worauf die Aufmerksamkeit des Forschers allein gerichtet ist und gerichtet bleiben muss.“ (Pauli 1984)

Das wesentlich Einmalige kann also nicht Gegenstand der Naturwissenschaft sein. Nun ist aber das Entscheidende am Menschen, dass er wesentlich einmalig ist! Die Einmaligkeit gilt nicht nur oberflächlich (die Fingerabdrücke aller Menschen sind verschieden, ihre DNA ist verschieden), sondern sie geht viel tiefer und ist viel wesentlicher. Immanuel Kant, der oft Vater der Aufklärung genannt wird, bezeichnet die Menschheit, also die Gesamtheit aller Menschen, als das „Reich

der Zwecke“, weil er sagt, von einem Menschen dürfe man nicht fragen, was sein Zweck sei, denn er sei schon Zweck. Jeder Mensch ist also sozusagen Zweck der Schöpfung. Dazu macht Kant in seiner Ethik eine wesentliche Aussage:

»» „Im Reich der Zwecke hat alles entweder

einen Preis oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“ (Kant 2007, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 433 f )

Die Würde des Menschen ist seine Einmaligkeit, seine Unauswechselbarkeit. Dieser Unterschied zwischen Preis und Würde (oder Wert und Würde) zeigt sich sehr deutlich an der Sexualität: Wenn bei einem Akt der Sexualität die Partnerin oder der Partner austauschbar ist, dann hat er einen Preis, der zu bezahlen ist. Wenn bei derselben Handlung – die sich durch naturwissenschaftliche Methoden nicht unterscheiden lässt – die Partnerin oder der Partner als unauswechselbar angesehen wird, dann hat sie Würde, weil sie ein Ausdruck von Liebe ist. >> Medizin darf auf die Erkenntnisse der Naturwissenschaft nicht verzichten. Wenn sie sich aber nur darauf beschränkt, verletzt sie die Würde des Menschen, denn die Würde des Menschen besteht in seiner Einmaligkeit, die von der Naturwissenschaft nicht erfasst werden kann.

Um das zu vertiefen, folgt eine mögliche Betrachtung des menschlichen Schaffensdrangs insgesamt. Immanuel Kant hat die drei berühmten Fragen gestellt:

»» „Was kann ich wissen? Was darf ich hoffen? Was soll ich tun?“

Diese drei Fragen sind nach Kant letztlich zusammengefasst in einer einzigen Frage:

»» „Was ist der Mensch?“

Die Menschen, im Grunde die Menschheit als Ganzes, hat sehr viele Ziele in ihrem Schaffen,

25 Medizin – eine Disziplin zwischen Naturwissenschaft und Kunst

Allgemeingültiges

Einmaliges

Aporetisches ..      Abb. 2.1  Komponenten menschlichen Schaffensdrangs

aber es können drei wesentliche herausgegriffen werden (. Abb. 2.1): 55 Das Erkennen des Allgemeingültigen – wir wollen wissen, was für alle Menschen in gleicher Weise gilt. 55 Das Schaffen des Einmaligen – das nicht wie die Sandkörner vergeht, sondern für alle Zeiten bleibt. 55 Das Bedenken der Aporien – das meist nicht so tiefgründig betrachtet wird.  

Es ist ein Charakteristikum der abendländischen Kultur – und das soll wiederum nicht im Sinne von gut oder schlecht verstanden werden  – dass sie weltweit die einzige Kultur ist, die das Wort „Aporie“ aus ihrem Alltagssprachgebrauch verdrängt hat. Daher soll der Begriff hier definiert werden: Aporie ist ein Widerspruch, der nicht im Sinne des Entweder-­ Oder eliminiert werden kann, ohne den Gegenstand, an den gedacht wird, zu verlieren. Im Allgemeinen gilt nach Aristoteles, dass, wenn ein Widerspruch auftaucht  – beispielsweise sagt einer 2 × 2 = 4 und ein anderer behauptet 2  ×  2  =  5 –, einer recht hat und der andere nicht. Nach seinem Lehrer Platon und dessen Lehrer Sokrates gilt aber: Wenn wir die Welt verstehen wollen und sie nicht nur einer Behandlung unterziehen, so werden wir darauf kommen, dass es wesentliche Widersprüche gibt, die wir nicht eliminieren können, wenn wir den Gegenstand selbst nicht verlieren wollen. Dazu ein Beispiel: Ein zentraler Gegenstand im Denken der großen Philosophen So-

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krates, Platon und Aristoteles war die Frage, wie es möglich ist, dass sich etwas ändert, denn wenn sich etwas ändert, ist es ja nicht mehr dasselbe. Vor Sokrates und Platon gab es zwei große Zeitgenossen, Parmenides und Heraklit. Parmenides hat geschlossen, es könne sich nichts ändern, und dass sich etwas ändere, sei nur Schein. Nach Heraklit ist Ändern das Wesentliche der Welt, es ändere sich immer alles. Sokrates und Platon haben darauf erwidert, dass das ein wesentlicher Widerspruch (eine Aporie) sei, den wir zum Verständnis der Welt brauchten. Wenn sich etwas ändere, müsse es zugleich gleich bleiben, sonst habe es sich nicht geändert, sondern sei etwas anderes. Zum besseren Verständnis dieser tiefen philosophischen Einsicht dient folgender Witz:

»» „Jemand trifft auf der Straße jemand an-

deren und sagt: ‚Grüß Gott, Herr Müller, na Sie haben sich aber verändert. Sie waren früher viel größer, jetzt sind sie kleiner. Früher hatten Sie blaue Augen, jetzt haben Sie braune, früher hatten sie braune Haare und jetzt schwarze und so weiter.‘ Darauf der andere: ‚Entschuldigen Sie, ich heiße gar nicht Müller.‘ Darauf der erste: ‚Was Müller heißen Sie auch nicht mehr? Na, Sie haben sich aber verändert!‘“

Daran wird eine wesentliche philosophische Einsicht erkennbar: Das, was sich ändert, muss zugleich gleich bleiben, sonst hat es sich nicht geändert, sondern ist etwas anderes. Solche philosophischen Einsichten waren die Basis der sokratischen und platonischen Philosophie und haben den griechischen Namen Aporie. Eine Aporie ist ein Widerspruch, der nicht im Sinne des Entweder-Oder eliminiert werden kann. Und das Bedenken der Aporien ist die Philosophie (. Abb. 2.2).  

>> Das Allgemeingültige wird von der Naturwissenschaft behandelt, das ist der große Beitrag zur Geschichte der Menschheit, den Europa im 17. Jahrhundert geleistet hat. Das Schaffen des Einmaligen wird Kunst genannt. Nur

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H. Pietschmann

Allgemeingültiges Naturwissenschaft

Einmaliges Kunst

Allgemeingültiges Naturwissenschaft

Einmaliges Kunst „Seelsorge“

Aporetisches Philosophie und Glaube

..      Abb. 2.2  Naturwissenschaft, Kunst und Philosophie

wenn die Werke der Kunst einmalig sind, kann sie als echte Kunst betrachtet werden. Und das Bedenken des Aporetischen ist entweder Philosophie oder Glaube, je nachdem, ob es um die Welt oder um den Grund der Welt geht.

Der aus dem Griechischen stammende Begriff „Aporie“ bedeutet „logische Ausweglosigkeit“; im Sinne der Logik gibt es keinen Ausweg. Weil wir als einzige Kultur dieses Wort aus unserem Sprachschatz verdrängt haben, aber ohne den Begriff nicht auskommen, sagen wir dann meist, es handele sich wahrscheinlich um ein Problem von Henne und Ei. Jede andere Kultur hat ein entsprechendes Wort dafür, in unserer Kultur existiert dieser Begriff nur in der Fachsprache der Philosophie. Eine Aporie besteht also aus zwei einander widersprechenden Behauptungen (es können auch Bedürfnisse sein), die beide wahr sind; es lässt sich also nicht sagen, eines sei richtig und das andere falsch. Die Behauptungen (oder Bedürfnisse) müssen sich auf dasselbe beziehen (Henne und Ei bilden nur dann eine Aporie, wenn es sich um ein Hühnerei handelt). Nun wird dem Bild ein weiteres Wort hinzugefügt, und zwar „Seelsorge“ (. Abb. 2.3). Seelsorge beschäftigt sich mit der Unauswechselbarkeit des Menschen. Seelsorge ist in zweierlei Hinsicht zu verstehen, zum einen im Sinne der Psychotherapie, auf das Individuum bezogen; zum anderen im Sinne des Glaubens, ebenfalls auf den Einzelnen bezogen. Das Wort „Seelsorge“ wurde in . Abb. 2.3 in Anführungs 



Aporetisches Philosophie und Glaube

..      Abb. 2.3 Seelsorge

zeichen gesetzt, weil der Begriff „Seele“ manchmal auf Widerstände stößt, insbesondere von rein materialistisch orientierten Menschen. Um nicht esoterisch zu erscheinen, ist eindeutig klarzustellen: Die Frage „Hat der Mensch eine Seele?“ ist spätestens seit Virchow mit Nein zu beantworten, doch die Frage „Ist der Mensch beseelt?“ ist ebenso deutlich mit Ja zu beantworten. Die Seele ist nicht etwas, das zum Körper hinzukommt, sondern eine der fundamentalen Eigenschaften des Menschen aufgrund seiner Unauswechselbarkeit. Die Seele ist das, was uns Würde gibt, und die Würde ist diese Unauswechselbarkeit. Es schließt sich die Frage an, warum es – im Gegensatz zu anderen Kulturen – in der abendländischen Kultur ein Problem ist, dass sich die Medizin der naturwissenschaftlichen Methode bedienen muss, sich aber nicht darauf beschränken darf. Der Grund dafür liegt im 17. Jahrhundert, als im Abendland der Denkrahmen der Neuzeit oder das mechanistische Denken entwickelt wurde. Dadurch wurde unsere Kultur so wesentlich bestimmt, dass alle anderen Kulturen, die mit uns in wirtschaftlichen Wettbewerb traten, diesen Denkrahmen übernehmen mussten. Der Unterschied ist und bleibt nur der, dass die anderen Kulturen diesen Denkrahmen, diese Art zu denken, neben ihrer eigenen gelernt haben, während wir der Meinung sind, es gäbe nur eine vernünftige Art zu denken, und zwar die unsere. Ein persönliches Erlebnis Als ich 1977 das erste Mal in Japan war, hatte ich schon gewusst, aber noch nicht erfahren, dass Japaner anders

27 Medizin – eine Disziplin zwischen Naturwissenschaft und Kunst

denken. Ich sprach damals vom „buddhistischen Denken“; heute würde ich, „ostasiatisches Denken“ sagen, weil es ja nicht an den Buddhismus gekoppelt ist. Auf einer Physikerkonferenz fragte ich meine japanischen Kollegen, ob wir uns nicht am Abend über buddhistisches Denken unterhalten könnten, denn ich wollte es kennenlernen. Da Japaner nicht „Nein“ sagen dürfen, wenn sie um was gebeten werden, sagten meine Kollegen natürlich „Ja“, und sie schränkten ein: „Ja, aber wir sind dazu nicht die Richtigen, denn wir haben uns als Physiker ja für das abendländische Denken entschieden.“ Das ist einer der Gründe, warum ich seither wissen wollte, was das abendländische Denken ist. Bei uns weiß man das ja nicht explizit, und v. a. weiß man nicht, dass es möglich ist, zwischen verschiedenen Denkformen zu wechseln und sich für eine zu entscheiden, denn man erlernt es einmal und bleibt dabei. Ich spreche gerne von dem „Denkrahmen“ für das Abendland. Kollegen aus anderen Kulturen, die sich auch mit dem Denken befassen, sprechen oft von Denkwegen oder Denkformen. Wege können offen sein, die Grenze muss nicht so deutlich markiert werden, und Formen können sich ändern. Ein Rahmen ist jedoch eindeutig. Das Entweder-Oder ist wiederum ein Charakteristikum unserer Kultur; wir wissen genau, was innerhalb und was außerhalb des Rahmens ist.

Nun zur Formulierung des Denkrahmens. Er hat vier Forderungen, die wir ganz automatisch erfüllen: 55 Die erste Forderung geht auf Galilei zurück und wird ausgedrückt durch den berühmten Spruch „Alles, was messbar ist, messen!“. Er stammt nicht von Galilei, charakterisiert sein Werk aber recht gut. „Alles, was messbar ist, messen, und was nicht messbar ist, messbar machen!“ – also alles in Zahlen angeben – wird oft ergänzt. 55 Die zweite Forderung stammt von René Descartes, einem Zeitgenossen Galileis in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts: „Wenn wir ein Problem lösen wollen, dann müssen wir es in die kleinsten Teile zerlegen und von dort wieder aufbauen.“ Physiker zerlegen alles in Moleküle, diese dann in Atome und weiter in den Kern und die Hülle, und der Kern wird in Protonen und Neutronen zerlegt und diese weiter in Quarks. Quarks sind nach heutigem Wissensstand das Kleinste, aus dem alles aufgebaut wird. Biologen zerlegen den Organismus bis zu den Genen und

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versuchen dann, aus den Genen den ganzen Menschen wieder erklären zu können. Dieses Vorgehen ist bei uns selbstverständlich geworden, hat aber seine Tücken. 55 Die dritte Forderung stammt von Aristoteles und ist das berühmte „Entweder-­Oder“. Wie eingangs erwähnt, haben Sokrates und Platon Aporien gesucht, die zum Verständnis der Welt notwendig sind. Der Schüler Platons, Aristoteles, meinte, so könne keine Wissenschaft betrieben werden. Wenn wir Wissenschaft betreiben wollen, können wir Aporien nicht gebrauchen, dann gilt das Entweder-Oder, die sog. aristotelische Logik. 55 Die vierte Forderung stammt aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, von Isaac Newton: „Immer und überall Ursachen finden.“ Es war schon im 17. Jahrhundert selbstverständlich, dass hinunterfällt, was losgelassen wird. Newton war der Erste, der dafür eine Ursache angegeben hat: die Schwerkraft. Die Allgemeine Relativitätstheorie von Albert Einstein besagt dagegen, dass es die Schwerkraft gar nicht gibt, denn die Ursache des Hinunterfallens ist die Krümmung der Raum-Zeit. Als Beispiel sei hier das GPS genannt, ein Satelliten-Navigationssystem, das, würde die Route nach der Newtonschen Theorie der Schwerkraft berechnet, niemals ans Ziel führen würde. Dazu braucht es die Allgemeine Relativitätstheorie von Albert Einstein. Der mechanistische Denkrahmen 55 Alles was messbar ist messen (Galilei) 55 Alles in kleinste Teile zerlegen (Descartes) 55 Immer Entweder-Oder (Aristoteles) 55 Immer Ursachen finden (Newton)

Wie schon eingangs betont, ist nichts in dieser Welt entweder gut oder schlecht, und dies gilt auch für den Denkrahmen. Er ist weder gut noch schlecht, sondern hat Vor- und Nachteile,

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H. Pietschmann

und es stellt sich die Frage, wo die Nachteile um der Vorteile willen in Kauf genommen werden und wo nicht. Das „Ding an sich“, die Realität, kann nicht direkt erfasst werden, aber die Naturwissenschaft erlaubt es, in einer Wirklichkeit zu leben, die allgemein gültig ist. Wirklichkeitskonstruktion erfolgt nicht nur in der Naturwissenschaft, sondern auch im Alltag, und zwar mit den Werkzeugen der Naturwissenschaft, also mit dem mechanistischen Denkrahmen. Mediziner profitieren ganz besonders davon. Die Behauptung, die Naturwissenschaft sei Wirklichkeitskonstruktion lässt sich an einem einfachen Beispiel erläutern: Wenn jemand morgens aufwacht und sich ganz heiß fühlt, wird er denken, er habe Fieber. Das ist ein unmittelbares Erlebnis, aber er wird es nicht dabei bewenden lassen, denn der Denkrahmen verlangt „Alles was messbar ist, messen!“ Also wird er ein Fieberthermometer holen und messen. Angenommen, das Fieberthermometer zeigt 36,8  °C an, dann wird er schauen, ob der Wert mit einem zweiten Fieberthermometer reproduzierbar ist, denn das verlangt die Naturwissenschaft. Angenommen, das zweite Fieberthermometer zeigt ebenfalls 36,8  °C an, dann wird er denken: „Komisch, ich habe gedacht, ich habe Fieber, in Wirklichkeit habe ich aber keines.“ Denn das, was wir als Wirklichkeit bezeichnen, ist nicht mehr das unmittelbare Erlebnis, sondern das, was uns die Messwerte sagen. In der medizinischen Diagnostik können viele Messungen durchgeführt werden, und wenn sämtliche Messwerte im Normbereich liegen, dann wird der Patient als gesund betrachtet. Sagt dieser dann trotzdem, er sei krank, führt man das heute häufig auf ­psychische Ursachen zurück, früher nannte man ihn einen Hypochonder. Illustriert wird dies durch einen berühmten Witz aus der Medizin:

»» Die Krankenschwester kommt ganz auf-

geregt zum diensthabenden Arzt und sagt: „Herr Doktor, der Hypochonder von Zimmer 12 ist gestorben!“ Darauf der Arzt: „Na, jetzt übertreibt er aber!“

Es ist nur ein Witz, aber ein Witz hat immer auch einen wahren Hintergrund. Dass wir uns so auf diesen Denkrahmen stützen, haben wir uns selbst zu verdanken und auch einem berühmten Physiker, William Thomson, bekannt als Lord Kelvin (die absolute Temperatur wird in Kelvin gemessen). Lord Kelvin hat Mitte des 19. Jahrhunderts den Energiebegriff in die Physik eingeführt. Zuvor hatte die Physik den Energiebegriff nicht gekannt, und Energie war ein philosophischer Begriff. Robert Schumann hat z.  B. eines seiner Klaviertrios überschrieben mit der Anweisung „mit Energie vorzutragen“, womit er nicht die physikalische Energie meinte. Der Satz von der Erhaltung der Energie wurde von Max Planck als wichtigster Satz der Naturwissenschaft schlechthin bezeichnet. Er wurde, noch vor Kelvin, von Herrmann von Helmholtz gefunden, aber dieser nannte ihn „Satz von der Erhaltung der Kraft“. Lord Kelvin  – und das ist im Kontext dieses Beitrags wichtig – hat auch gesagt:

»» „Ich bin erst dann zufrieden, wenn ich von einer Sache ein mechanisches Modell herstellen kann. Kann ich mir nicht in jeder Hinsicht ein mechanisches Modell machen, dann kann ich sie auch nicht verstehen.“ (zitiert in Pietschmann und Wallner 1995)

Das ist bis heute unser Begriff von Verstehen geblieben. Nur das, was wir mithilfe dieses Denkrahmens erfassen können, können wir auch verstehen (deswegen heißt auch, wir könnten die Allgemeine Relativitätstheorie nicht verstehen). Es ist erstaunlich, wie weit dieses mechanistische Denken unser Leben, bis hin in die Wissenschaft, beherrscht. 55 Biologen sprechen vom „Mechanismus der Evolution“ (S. Dobler, öffentlicher Vortrag zum Thema „Mechanismus der Evolution“, 2009 in Hamburg). 55 Hirnforscher sprechen von der „neuronalen Synchronisation als Mechanismus“ (Uhlhaas 2008). 55 Sogar Psychoanalytiker sprechen von „psychischen Mechanismen der Integration“ (Plänkers 1993).

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29 Medizin – eine Disziplin zwischen Naturwissenschaft und Kunst

55 Im Internet findet sich die kuriose Behauptung, Gott sei keine übernatürliche Kraft, sondern vielmehr ein Mechanismus, der die Motivation bestimme. – also, selbst Gott als Mechanismus. 55 Das seriöse Wissenschaftsmagazin Scientific American (auf Deutsch Spektrum der Wissenschaft) titelte im Oktober 2012 „The language of the brain. How the world’s most complicated machine processes and communicates information“ – das Gehirn wird also als komplizierteste Maschine der Welt bezeichnet. 55 Im Scientific American vom Mai 2015 gibt es einen sehr interessanten Artikel über cellular smalltalk, die „Unterhaltung von Zellen“. Dass Zellen sich miteinander unterhalten, ist wesentlich für das Verständnis des menschlichen Organismus und des Lebens überhaupt (Hamberger und Pietschmann 2015). Dargestellt wird das im Artikel mit ineinandergreifenden Zahnrädern. Hier zeigt sich unser mechanistisches Denken. In der Physik wurde das mechanistische Denken schon vor fast 100 Jahren überwunden  – einerseits in der Allgemeinen Relativitätstheorie (s. oben) und andererseits seit ungefähr 1925 in der Quantenmechanik. In der klassischen Mechanik gilt das Entweder-­Oder, etwas ist entweder eine Welle oder ein Teilchen. Das gilt aber nicht in der Natur kleinster Teilchen: In der Quantenphysik gibt es zwischen Welle und Teilchen kein Entweder-­Oder. In der Quantenphysik, die zu einem der faszinierendsten Gebiete der Physik geworden ist, spricht man nicht von Aporie (wie im philosophischen Bereich), sondern von Komplementarität. Welle und Teilchen stehen im Widerspruch, aber wir brauchen zum Verständnis der Natur im Kleinen trotzdem beide und nennen das Komplementarität (Pietschmann 2003). Das bedeutet allerdings, dass ein mechanisches Modell des Atoms unmöglich ist, denn das mechanistische Denken verlangt das Entweder-­ Oder. Generationen von Schülern

Allgemeingültiges Naturwissenschaft

Einmaliges Kunst

Quantenphysik

„Seelsorge“

Aporetisches Philosophie und Glaube

..      Abb. 2.4 Quantenphysik

haben in der Schule gelernt, dass das Atom einem Planetensystem vergleichbar sei, bei dem um einen Kern Elektronen herumfliegen. Dieses Planetenmodell ist das letzte mechanische Modell eines Atoms, von dem seit 1926 bekannt ist, dass es physikalisch falsch ist. Dennoch wird es in manchen Schulen heute noch unterrichtet mit der Begründung, es würde in unseren Denkrahmen passen. Das würde also bedeuten, dass unser Denkrahmen wichtiger als das Richtige ist. Sehen wir uns daher das Bild vom menschlichen Schaffensdrang (. Abb. 2.1) noch einmal genauer an. Das Allgemeingültige ist nicht die Naturwissenschaft schlechthin, sondern nur die mechanistische Naturwissenschaft. Die Quantenphysik kommt zwischen dem Allgemeingültigen und dem Aporetischen dazu (. Abb.  2.4), denn die Quan­ tenphysik ist nicht mehr mechanistisch verständlich und gilt daher gar nicht als Allgemeingültiges, weil sie nicht allgemein unterrichtet wird und die Komplementarität (also einen Widerspruch) enthält. Und noch etwas lernen wir aus der Quantenphysik. Es gibt den berühmten Satz, der manchmal fälschlicherweise auf Aristoteles zurückgeführt wird:  



»» „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile!“

Die Quantenphysik besagt, dieser Satz sei falsch (Pietschmann 2013) und formuliert wie Aristoteles:

»» „Das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile!“

30

2

H. Pietschmann

Das einfachste Atom (Wasserstoff) besteht aus einem Proton und einem Elektron, und wenn das Proton und das Elektron zusammenkommen, entsteht daraus nicht mehr, sondern das ursprünglich punktförmige Elektron wird eine große Kugel mit dem Proton im Mittelpunkt (die Elektronkugel ist etwa hunderttausendmal größer als das Proton!). Das Atom ist also etwas anderes als seine Teile. Nur so können wir vielleicht auch den Bezug zur Seele verstehen. Auf die Frage, ob der Mensch eine Seele habe, muss die Antwort (seit Virchow) Nein lauten. Nun gibt es aber Menschen, die meinen: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile und dieses Mehr ist die Seele.“ Diese Aussage ist aber nicht vernünftig! Nach Aristoteles haben wir, wenn zur Summe der Teile etwas dazukommt, einfach einen Teil mehr und damit wieder eine Summe von Teilen. Damit kommen wir in den sog. unendlichen Regress, der bis ins Unendliche weitergeht und der in der Philosophie immer der Hinweis da­ rauf ist, dass man falsch gedacht hat. Dieses Ganze ist etwas anderes, und dieses andere ist beseelt, wenn es ein Mensch ist, ohne eine Seele zu haben, die man sozusagen ablegen kann. Das sind sehr diffizile und wichtige Unterschiede. Daher entfallen in . Abb.  2.5 die Anführungszeichen beim Begriff Seelsorge, und das Schema wird mit „Der Mensch“ überschrieben. Der Mensch als das Ganze ist etwas anderes als die Summe seiner Teile. Der Mensch interessiert sich für das Allgemeingültige, das Einmalige und das Aporetische mit unterschiedli 

cher Gewichtung. Es kann nicht von jedem verlangt werden, sich für alles zu interessieren, und es kann jemand sagen, er interessiere sich nur für die mechanistische Naturwissenschaft. Das ist genauso ehrenwert, sofern er weiß, dass er einen Teil herausgenommen hat. Erst wenn er meint, das Ganze damit zu beschreiben, wird es kritisch. In . Abb. 2.6 kommt unter „Der Mensch“ das Gesundheitswesen hinzu. Das Gesundheitswesen darf sich grundsätzlich nicht auf einen Teilaspekt beschränken, wenn es den Menschen als Ganzes im Auge haben will. Dazu ein Beispiel: Bei Operationen wird sehr oft vorausgesagt, die Wahrscheinlichkeit, dass der Eingriff gut verlaufe, liege bei so und so viel Prozent. Solche Angaben sind aber völlig unsinnig, denn eine statistische Aussage ist grundsätzlich nicht auf einen Einzelfall anwendbar. Was der Arzt meint, wenn er dem Patienten sagt, die Operation hätte eine Erfolgschance von 90 %, ist etwas anderes: Sollte die Operation bei diesem einen Patienten schiefgehen, so wird sie voraussichtlich bei neun anderen gelingen, und das ist beruhigend. Aber für den Patienten ist das nicht die Antwort. Ein guter Chirurg kann etwa sagen: „Diese Operation hat eine Erfolgschance von 90 % und es wird von Ihnen abhängen, ob Sie zu den 90 % oder zu den 10 % gehören.“ oder, anders ausgedrückt: „Wir Ärzte machen der Natur ein Angebot, heilen tut sich der Patient selbst.“ Das ist medizinische Ethik.  

Der Mensch

Allgemeingültiges Naturwissenschaft Quantenphysik

Der Mensch Gesundheitswesen

Einmaliges Kunst Seelsorge

Aporetisches Philosophie und Glaube

..      Abb. 2.5  Der Mensch

Einmaliges

Allgemeingültiges Naturwissenschaft

Kunst

Quantenphysik

Seelsorge Aporetisches

Philosophie und Glaube

..      Abb. 2.6 Gesundheitswesen

31 Medizin – eine Disziplin zwischen Naturwissenschaft und Kunst

Es war in den o.  g. Ausführungen viel die Rede von Aporien, und nun folgt ein kleines Werkzeug, wie mit Aporien umgegangen werden kann. In unserer Kultur ist das unterdrückt, und es kommt im gesamtem Schul- und Bildungswesen (außer im Philosophiestudium) nicht vor. Nach Immanuel Kant ist der Mensch eine Schöpfung aus zwei unterschiedlichen, aporetisch zusammenzufügenden Bereichen, nämlich der Heteronomie und der Autonomie (auch die Begriffe Ordnung bzw. Entscheidung sind zulässig). Heteronomie ist der Bereich der Naturnotwendigkeit, Autonomie ist der Bereich der Willensbildung. Diesen beiden Bereichen, in denen jeder von uns wurzelt, lassen sich Begriffspaare zuordnen (. Tab. 2.1). Im Bereich der Heteronomie brauchen wir Experten (z. B. wenn der Fernseher kaputt ist). Im Bereich der Autonomie brauchen wir Entscheidungsträger (nach Ansicht des Autors wird in der Politik viel zu viel auf Experten übertragen). Eine wichtige Unterscheidung besteht zwischen Wissen und Gewissen, und ganz wichtig sind Sorgfaltspflicht und Verantwortung. Im Bereich der Heteronomie gibt es Voraussagen, im Bereich der Autonomie gibt es Bewährung. Das ist ein entscheidender Unterschied, der am Beispiel einer Eröffnungsfeier gezeigt werden kann. Wenn eine Brücke  

..      Tab. 2.1  Heteronomie und Autonomie Heteronomie

Autonomie

Naturnotwendigkeit

Willensbildung

Ordnung

Entscheidung

Experten

Entscheidungsträger

Voraussagen

Bewährung

Sorgfaltspflicht

Verantwortung

Wissen

Gewissen

Naturwissenschaft

Ethik

Lernen

Üben

Fremdbestimmung

Selbstbestimmung

2

eröffnet wird, muss bereits feststehen, dass die Konstruktion die vorausgesagte Belastung aushält. Wenn bei einer Hochzeit zwei Ringe ausgetauscht werden, dann steht noch nicht fest, ob daraus eine stabile Ehe werden wird, sondern sie muss sich erst im Laufe des Lebens bewähren. Im Bereich der Heteronomie können wir keine Verantwortung übernehmen. Beispielsweise trägt ein Flugkapitän nicht die Verantwortung für den Flug. Wenn er Verantwortung dafür übernimmt, muss er sofort entlassen werden, denn ein Flugkapitän darf nur das tun, was auf einer entsprechenden Checkliste vorgeschrieben ist. Er ist lediglich verpflichtet, sorgfältig vorzugehen, Verantwortung übernehmen, hieße dagegen selbst entscheiden. Im Bereich der Heteronomie sind wir fremdbestimmt, im Bereich der Autonomie sind wir selbstbestimmt. Die Unterscheidung zwischen Heteronomie und Autonomie scheint einfach zu sein, es handelt sich aber um eine Aporie, um einen grundlegenden Widerspruch, d. h., die Grenze zwischen den Bereichen kann nicht genau angegeben werden. Das eigentliche Problem besteht darin, dass sich nicht genau sagen lässt, wo die Heteronomie aufhört und wo die Autonomie beginnt. Es folgen zwei Beispiele, die aufzeigen, wo man Fehler machen kann: 55 Beispiel 1 aus dem Bereich der Heteronomie: Jemand fährt mit 130 km/h auf der Autobahn, und es leuchtet die Warnleuchte auf, dass Bremsflüssigkeit ausläuft. In dieser Situation gibt es ein eindeutiges Richtig und Falsch, der Fahrer muss auf den Pannenstreifen fahren und stehenbleiben. Falls der Fahrer weiterfährt, um seinen Termin wegen dieser kleinen roten Lampe nicht zu versäumen, so ist das nicht klug. Man mag dies für ein triviales Beispiel halten, doch es gibt ähnliche Fälle aus dem Flugwesen, bei denen es viele Tote gab, weil ein Pilot die Anzeige eines Instruments nicht entsprechend ernst genommen hatte (etwa der Absturz der Birgenair-Maschine über dem Atlantik im Februar 1996).

32

H. Pietschmann

­ elbstbestimmung im Bereich der S Heteronomie ist Dummheit.

2

55 Beispiel 2, wenn man im Bereich der Autonomie fremdbestimmt sein will: Angenommen, jemand lebt in einer guten Zweierbeziehung, und es tritt ein dritter Mensch in diese Beziehung ein. Dann muss eine Entscheidung gefällt werden – auch nicht entscheiden wäre eine Entscheidung. Wenn der Betroffene sich diese Entscheidung nicht zutraut und meint, er müsse den Pfarrer oder die Mutter fragen, dann ist das feige. Fremdbestimmung im Bereich der Autonomie ist Feigheit.

Selbstbestimmung

H Dummheit

»» „Nach meiner Ansicht ist es nur ein schmaler Weg der Wahrheit, der zwischen der Szylla eines blauen Dunstes von Mystik und der Charybdis eines sterilen Rationalismus hindurchführt. Dieser Weg wird immer voller Fallen sein, und man kann nach beiden Seiten abstürzen.“ (Pauli 1984, S. XXIII)

Es folgt ein kleines Modell für den Umgang mit Aporien. Selbstbestimmung und Fremdbestimmung sind so wie Henne und Ei. Sie gehören zusammen, und wenn man sie auseinanderreißt, wird daraus entweder Dummheit oder Feigheit (. Abb.  2.7). Und nun ist das Problem das Folgende: Dummheit ist der Schatten der Selbstbestimmung, die Fehlgestalt der Selbstbestimmung, und Feigheit ist der Schatten der Fremdbestimmung, die Fehlgestalt der Fremdbestimmung.  

Feigheit

..      Abb. 2.7  HX-Modell für den Umgang mit Aporien: Harmonie

Selbstbestimmung

Fremdbestimmung

X

>> Das Problem der Aporie besteht darin, dass wir die Grenze nicht genau angeben können.

Nach Ansicht des Verfassers ist der Weg des reifen Menschen eine Gratwanderung zwischen Dummheit und Feigheit, und es ist nicht schlimm, einmal auf der einen oder der anderen Seite von dem Grat abzurutschen. Schlimm ist nur, wenn er unten bleibt! Er muss wieder hinauf auf diesen Grat, denn es ist die Aufgabe seines Lebens, auf diesem Grat zu gehen. Dazu noch einmal der schon eingangs zitierte Wolfgang Pauli:

Fremdbestimmung

Dummheit

Feigheit

..      Abb. 2.8  HX-Modell für den Umgang mit Aporien: HX-Verwirrung

Im günstigen Fall steht „H“ für Harmonie; wenn Dummheit und Feigheit unterdrückt werden können, kann man zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung gut auf diesem Grat entlangwandern. Das Problem ist bei allen Aporien die „HX-­ Verwirrung“ (. Abb.  2.8): Der Teil von uns, der mehr für Selbstbestimmung ist, kämpft gegen die Feigheit, und der Teil von uns, der mehr für Fremdbestimmung ist, kämpft gegen die Dummheit. Es beginnt ein Kampf, der beliebig lange andauern kann, weil beide Seiten Recht haben. Wir wollen weder Dummheit noch Feigheit! Aber es wird jeweils der falsche Feind bekämpft, und erst wenn beide Seiten einsehen, dass sie den eigenen Schatten und nicht den Schatten des anderen bekämpfen müssen, kann es zu einem harmonischen Zusammenfügen kommen. Der Feind der Selbstbestimmung ist die Dummheit, und der Feind der Fremdbestimmung die Feigheit. Dieses HX-Modell, das vom Verfasser entwickelt wurde, um Aporien leichter bewältigen  

33 Medizin – eine Disziplin zwischen Naturwissenschaft und Kunst

offen

kritisch

H leichtgläubig

borniert

..      Abb. 2.9  HX-Modell für den Umgang mit Medizin und Naturwissenschaft: Harmonie

offen

kritisch

X leichtgläubig

borniert

..      Abb. 2.10  HX-Modell für den Umgang mit Medizin und Naturwissenschaft: HX-Verwirrung

zu können, ist generell anwendbar (Pietschmann 2016). Beispielsweise muss die Naturwissenschaft, und damit auch die Medizin, die sich auf Naturwissenschaft stützt, zugleich kritisch und offen sein. Wenn sie nur kritisch ist und nicht offen, wird sie borniert und ist mit Scheuklappen behaftet. Wenn sie nur offen ist und nicht kritisch, wird sie leichtgläubig (. Abb. 2.9). Mit der HX-Verwirrung gilt (. Abb. 2.10): Es besteht die permanente Auseinandersetzung zwischen Schulmedizin und Komplementärmedizin, wobei die Kritischen gegen die Leichtgläubigkeit kämpfen und die Offenen gegen die Borniertheit  – und beide haben Recht. Dieser Konflikt dauert schon sehr lange an. Er wird sich auch weiter fortsetzen, bis beide Seiten einsehen, dass sie jeweils den falschen Feind bekämpfen.  



>> Der Feind der kritischen Mediziner ist die Borniertheit und nicht die Leichtgläubigkeit, und der Feind der offenen Mediziner ist die Leichtgläubigkeit und nicht die Borniertheit. Wenn diese Einsicht

2

einmal möglich sein wird, kommen wir einen großen Schritt weiter.

Besonders wichtig für den Mediziner ist die Dialektik der Verantwortung. Sorgfaltspflicht und Verantwortung bilden zusammen eine Aporie. Der Schatten, die Fehlgestalt der Sorgfaltspflicht ist blinder Gehorsam, und der Schatten, die Fehlgestalt der Verantwortung ist Selbstherrlichkeit. Solche Probleme kommen gerade in der Heilkunst immer wieder sowohl auf die Ärzte als auch auf die Patienten zu. Soll ein Patient, wenn eine Diagnose vorliegt, sofort anfangen, dem vorgegebenen Rahmen zu folgen, oder soll er versuchen, eine Zeit lang irgendwie selbst zurechtzukommen? Für Ärzte gilt: Wenn ein Patient mit einer ungewöhnlichen Therapie-Idee kommt und sagt, er habe gehört, man könne dies und das machen, wollen sie sofort sagen, dass das schulmedizinisch nicht relevant sei. In dieser Situation befinden sie sich in einer Aporie. Dabei gibt es wie immer die HX-Verwirrung, die sie beachten müssen: Wer für Sorgfaltspflicht plädiert, kämpft gegen die Selbstherrlichkeit, und wer für Verantwortung ist, kämpft gegen blinden Gehorsam oder die Schranken des Denkrahmens. Ärzte müssen stets gewahr sein, dass sie sich zusammen mit ihren Patienten in einer Aporie befinden! Medizin – als Heilkunst – ist immer zwischen Naturwissenschaft und Kunst angesiedelt, die Patientenbeziehung ist ebenso zu beachten wie das erlernte Wissen, das auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen beruht. Sie befinden sich also stets auf einer Gratwanderung zwischen Naturwissenschaft und Kunst, wobei die zugehörigen Schatten (oder Fehlgestalten) entweder menschenverachtend (sofern die naturwissenschaftlichen Kenntnisse in den Vordergrund rücken) oder wissensverachtend sind (sofern die „Kunst“ in Form der Patientenbeziehung in den Vordergrund drängt). Zusammenfassung 55 Naturwissenschaft befasst sich mit Reproduzierbarem. 55 Nach Kant ist die Würde des Menschen seine Einmaligkeit.

34

2

H. Pietschmann

55 Medizin darf weder auf Naturwissenschaft verzichten noch sich darauf reduzieren. 55 Medizin muss dabei die Aporie von offenem und kritischem Verhalten berücksichtigen, d. h. weder leichtgläubig noch borniert werden.

Literatur Hamberger E, Pietschmann H (2015) Quantenphysik und Kommunikationswissenschaft – Auf dem Weg zu einer allgemeinen Theorie der Kommunikation. Alber Verlag, Freiburg Kant I (Kommentar von Christoph Horn, Corinna Mieth und Nico Scarano) (2007) Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Suhrkamp, Frankfurt am Main, S 433f Pauli W (1984) Physik und Erkenntnistheorie. Vieweg, Braunschweig, S XXIII, 94

Pietschmann H (2003) Quantenmechanik verstehen. Springer, Berlin/Heidelberg/New York Pietschmann H (2013) Das Ganze und seine Teile  – neues Denken seit der Quantenphysik. Ibera Verlag, Wien Pietschmann H (2016) Eris & Eirene  – Anleitung zum Umgang mit Widersprüchen und Konflikten, 2. Aufl. Ibera Verlag, Wien, S 22 Pietschmann H, Wallner F (1995) Gespräche über den Konstruktiven Realismus. Wiener Universitätsverlag, Wien, S 25 Plänkers T (Hrsg) (1993) Ein Volk  – ein Unbewusstes? Gruppenpsychologisches zum (Golf-)Krieg. In: Die Angst vor der Freiheit – Beiträge zur Psychoanalyse des Krieges. Edition Diskord, Tübingen, S 53 Uhlhaas PJ (2008) Neuronale Synchronisation als Mechanismus für Pathologie und Entwicklung in kortikalen Netzwerken. Forschungsbericht des Max-PlanckInstituts für Hirnforschung, Frankfurt am Main. https://www.­mpg.­de/373982/forschungsSchwerpunkt. Zugegriffen am 14.08.2018

35

Die Bedeutung der Komplementärmedizin in Gesellschaft und Gesundheitssystem Manfred Maier 3.1

Historischer Überblick – 36

3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.1.4 3.1.5

 SA – 36 U Australien – 36 Großbritannien – 37 Österreich – 38 Deutschland – 38

3.2

Aktuelle Forschungsergebnisse – 39

3.3

Neue Entwicklungen – 39 Literatur – 40

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_3

3

36

M. Maier

3.1  Historischer Überblick 3.1.1  USA

3

Eine überaus wichtige Studie erschien im Jahr 1993 im New England Journal of Medicine (Eisenberg et al. 1993). Das Ziel dieser Untersuchung war es, für die USA das Ausmaß der Verwendung von unkonventionellen medizinischen Methoden oder Therapien und die dafür aufgewandten Kosten zu erfassen. Dazu war es unter anderem notwendig, eine Definition des Begriffs „unkonventionelle medizinische Methoden“ vorzunehmen: Es handelt sich dabei nach der vorliegenden Arbeit um

»» „… medizinische Interventionen, die

weder in den medizinischen Fakultäten gelehrt werden, noch in Krankenhäusern angeboten werden.“

Diese Definition ist in den folgenden Jahren vielfach übernommen worden, hat jedoch in letzter Zeit durchaus auch Anlass zu Kritik und zu Änderungsvorschlägen geboten. In der landesweit durchgeführten Studie wurden 1500 Personen mittels Zufallsauswahl aus dem Telefonbuch anhand eines standardisierten Fragebogens interviewt. Die wesentlichen Ergebnisse dieser Befragung sind in . Tab. 3.1 zusammengefasst. Etwa ein Drittel der Studienteilnehmer hatte im letzten Jahr unkonventionelle Therapien verwendet, wobei der überwiegende Teil dies ohne Empfehlung seitens eines Arztes und auch ohne fachliche Betreuung, z.  T. auch ohne jegliche Art der Supervision durchführte. Wichtig erscheint, dass der betreuende Arzt nicht informiert wurde. Interessanterweise handelte es sich um eine eher junge Altersgruppe mit gehobener Bildung und gehobenem Einkommen. Sehr spezifisch für die USA ist die Liste der zum damaligen Zeitpunkt verwendeten Methoden: angeführt wird sie von Entspannungstechniken und chiropraktischen Methoden, gefolgt von Massage, Diättherapie, Hypnose, Homöopathie und Akupunktur. Die häufigsten Einsatzgebiete waren Rückenschmerzen,  

..      Tab. 3.1  Inanspruchnahme unkonventioneller Therapien in der Studie von Eisenberg et al. (1993) Rahmenbedingungen

Studienteilnehmer

Verwendung unkonventioneller Therapien

34 %

Ohne „Fachmann“

64 %

Ohne ärztliche Empfehlung

89 %

Ohne jegliche Supervision

47 %

Ohne Mitteilung an den Hausarzt

72 %

Altersgruppe

25–49 Jahre

Akademische Ausbildung

44 %

Einkommen

> 35.000 US$

Angststörungen, Kopfschmerzen, Depression und Arthritis. Mehr als die Hälfte der Anwender bezahlten die Kosten gänzlich aus eigener Tasche, den übrigen wurde ein Teil der Kosten durch eine Versicherung erstattet. Auf der Basis dieser Daten haben die Autoren auf die Gesamtsituation in den USA hochgerechnet: Demzufolge verwenden etwa 61 Mio. Amerikaner pro Jahr unkonventionelle Therapien, wobei sie in 425 Mio. Fällen Anbieter („Fachleute“ und auch Heilpraktiker) aufsuchen; dem stehen lediglich 388 Mio. Besuche bei ärztlichen Primärversorgern (Hausärzten) gegenüber. Allein für Honorare, ohne die Kosten für Arzneimittel, wurden etwa 11,7 Mrd. US$ ausgegeben, und insgesamt dürften etwa 10,3 Mrd. US$ aus eigener Tasche für Honorare und verschiedene Arzneimittel aufgewandt werden. 3.1.2  Australien

Im Jahr 1996 wurde in Lancet eine vergleichbare Untersuchung über die Situation in Aus-

3

37 Die Bedeutung der Komplementärmedizin in Gesellschaft und…

tralien publiziert (MacLennan et  al. 1996). Auch hier wurden durch Zufallsauswahl telefonisch 3000 Interviews anhand eines ­ standardisierten Fragebogens durchgeführt. Die Ergebnisse waren sehr ähnlich: Etwa 48  % der Befragten hatten im Verlauf des letzten Jahres eine alternative Therapie/Arznei verwendet, und etwa 20 % der Befragten hatten einen alternativen Therapeuten aufgesucht. Auch in Australien lag das Alter der Anwender zwischen 15 und 35 Jahren, und die für Arzneien und Honorare aufgewandten Kosten wurden mit etwa 1 Mrd.  A$ errechnet, wobei allein für Medikamente etwa 360 Mio.  A$ an Selbstkosten aufgewandt wurden.

..      Tab. 3.2  Einsatz von komplementärmedizinischen Methoden in Großbritannien (Thomas et al. 2001) Methode

Anteil (%)

Akupunktur

21,2

Homöopathie

16,8

Hypnotherapie

08,3

Chiropraktische Methoden

07,1

sich, dass Akupunktur und Homöopathie die Liste der komplementärmedizinischen Methoden deutlich anführen. Die folgende Übersicht zeigt die Einsatzgebiete für diese Methoden:

3.1.3  Großbritannien

In einer Veröffentlichung im British Journal of General Practice aus dem Jahr 2001 (Thomas et al. 2001) wurde die Frage analysiert, inwieweit Hausärzte/Allgemeinärzte den ­Zugang zu komplementärmedizinischen Methoden vermitteln. Dazu wurden allgemeinärztliche Praxen nach dem Zufallsprinzip ausgewählt und die Praxisinhaber mit einem standardisierten Fragebogen befragt. Die Ergebnisse von insgesamt 964 Praxen zeigen, dass etwa 40  % der Hausärzte in Großbritannien ihren Patienten den Zugang zu komplementärmedizinischen Behandlungen ermöglichen. Etwa ein Fünftel davon bietet selbst innerhalb des Praxisteams eine oder mehrere der komplementärmedizinischen Therapien an. Ein weiteres Fünftel der befragten Praxen überweist seine Patienten an Spezialisten für komplementärmedizinische Methoden, wobei diese Überweisungen im Rahmen des britischen Gesundheitssystems erfolgen. In . Tab. 3.2 sind die wichtigsten komplementärmedizinischen Methoden, die zur Zeit dieser Untersuchung in Großbritannien verwendet wurden, zusammengefasst. Im Vergleich zu den USA und zu Australien zeigt

Einsatzgebiete komplementärmedizinischer Methoden in Großbritannien (Thomas et al. 2001) 55 Akupunktur: ȤȤ Rauchen ȤȤ Rückenschmerzen ȤȤ Gelenkschmerzen ȤȤ Migräne 55 Homöopathie: ȤȤ Depression ȤȤ Migräne ȤȤ Diabetes ȤȤ Schmerzen 55 Hypnotherapie: ȤȤ Rauchen ȤȤ Angststörungen ȤȤ Psychische Probleme ȤȤ Stress ȤȤ Zahnextraktion 55 Chiropraktische Methoden: ȤȤ Rückenschmerzen



Eine weitere Studie gibt Aufschluss über die Einstellungen der Allgemeinärzte in Großbritannien zu komplementärmedizinischen Methoden (White et al. 1997). Es zeigt sich, dass

38

3

M. Maier

mehr als zwei Drittel der Ärzte während einer Arbeitswoche in irgendeiner Form etwas mit komplementärmedizinischen Methoden zu tun haben, wobei etwa 16  % der Ärzte eine oder mehrere Methoden selbst anwenden. Dabei ist interessant, dass etwa 60 % der Ärzte an die Wirksamkeit von Akupunktur, Chiropraktik und Osteopathie glauben, etwa 40 % an die Wirksamkeit von Homöopathie und Hypnotherapie und etwa 20  % an die Wirksamkeit der Reflextherapie. Andererseits fühlen sich nur weniger als 20 % der Ärzte kompetent genug, um mit ihren Patienten über die wichtigsten Methoden sachkundig diskutieren zu können. 3.1.4  Österreich

Aus Österreich liegen erst seit vergleichsweise kurzer Zeit erste Daten zur Inanspruchnahme von komplementärmedizinischen Methoden vor. In einer in der Wiener Klinischen Wochenschrift im Jahr 2003 veröffentlichten Untersuchung mit Krebspatienten wurde erhoben, welche komplementärmedizinischen Behandlungsmethoden diese verwenden, welche Motive sie haben, und wer die jeweiligen Behandler sind (Spiegel et al. 2003). Die Ergebnisse zeigen, dass etwa ein Drittel der Patienten komplementärmedizinische Therapien erhalten haben. Die wichtigsten Motive für die Patienten waren dabei „die Unterstützung der natürlichen Heilung“ und eine Empfehlung durch den Hausarzt. Hausärzte führten in 44  % der Fälle selbst diese komplementärmedizinischen Behandlungen durch, in 40 % der Fälle waren es die Patienten selbst. Trotz einer in Österreich eindeutigen Rechtslage, die Heilpraktikern die Berufsausübung untersagt, hatten etwa 6  % der Patienten einen Heilpraktiker gegen Entgelt aufgesucht. . Tab. 3.3 zeigt die von onkologischen Patienten am häufigsten verwendeten komplementärmedizinischen Methoden in Österreich.  

..      Tab. 3.3  Einsatz von komplementärmedizinischen Methoden bei Krebspatienten in Österreich (Spiegel et al. 2003) Therapiemethode

Anteil (%)

Phytotherapie, inkl. Mistel

33 (52,4)

Homöopathie

29 (46,0)

Bioresonanz

10 (15,9)

Ayurveda

9 (14,3)

Kinesiologie

6 (09,5)

Diät/Fastenkur

2 (03,2)

Traditionelle Chinesische Medizin

2 (03,2)

Ozon-Sauerstoff-Therapie

1 (01,6)

Eigenblutbehandlung

1 (01,6)

Chelat-Therapie

1 (01,6)

3.1.5  Deutschland

Auch in Deutschland wurde die Inanspruchnahme von komplementärmedizinischen Methoden erfasst (Bücker et al. 2008). Dabei wurden im Rahmen von populationsbasierten Telefoninterviews Informationen zu Demographie, Gesundheitszustand, Häufigkeit der Inanspruchnahme und Art des Alternativverfahrens sowie die Motivation dafür erfasst. Von den Teilnehmern hatten 42,3 % schon jemals ein Alternativverfahren angewandt. Die Anwender waren signifikant häufiger weiblichen Geschlechts und besser ausgebildet als Nichtanwender. Am häufigsten wurden komplementärmedizinische Verfahren zur Behandlung chronischer Schmerzen (36,3  %), unkomplizierten Erkältungskrankheiten (16,9  %) oder zur allgemeinen Gesundheitsstärkung eingesetzt. Akupunktur, Homöopathie und Phytotherapie waren die häufigsten Verfahren. Die Hauptmotivation für die Anwendung der Verfahren lag in dem Wunsch, auf Arzneimittel weitest möglich verzichten zu wollen (31,7 %). 23,9 % gaben unbefriedigende Ergebnisse mit ihrer herkömmlichen medizinischen Behandlung an.

39 Die Bedeutung der Komplementärmedizin in Gesellschaft und…

3.2  Aktuelle

3

gehalten, dass die existierenden Regeln für die Verwendung von CAM äußerst unterschiedlich Forschungsergebnisse sind. In manchen Ländern gibt es Verbote und In einem EU-Forschungsprojekt (CAMBRELLA, Gesetze, in anderen Ländern existieren über7 http://www.­cambrella.­eu/home.­php) wurden haupt keine Regeln oder Restriktionen. In einigen Ländern werden nach Absolvieebenfalls die Rahmenbedingungen für die Verrung spezieller Ausbildungskurse Diplome für wendung von CAM ­(complementary and alterbestimmte Methoden an Ärzte vergeben; diese native medicine) in Europa erfasst und Strategien werden jedoch nicht notwendigerweise auch für die Forschung in diesem Bereich entwickelt von anderen Mitgliedstaaten der EU aner(7 Kap. 39). Weiter wurde für die Zusammenarkannt. Dieser Erhebung zufolge verfügen etwa beit von Forschungszentren 180.000 Ärzte in Europa über eine spezielle 55 ein EU-weites Netzwerk gebildet, Ausbildung in einer oder mehreren Methoden 55 eine gemeinsame Terminologie entwickelt, der Komplementärmedizin. In einigen Länum die CAM-Interventionen zu beschreiben, dern werden auch Vorlesungen und Kurse für 55 eine Basis für das Verstehen der PatientenMedizinstudenten angeboten. Meist ist der Bebedürfnisse für CAM geschaffen und such dieser Veranstaltungen optional, in man55 der derzeitige Stand zur juristischen und chen Ländern oder Universitäten auch obligapolitischen Situation für die Verwendung torisch. In 9 EU-Mitgliedstaaten wurden von CAM in Europa erfasst. Lehrstühle für Komplementärmedizin eingeDie Ergebnisse (Walach und Weidenhammer richtet, in manchen Mitgliedstaaten gibt es sie 2012) zeigen eine große Variationsbreite und sogar für spezifische komplementärmedizinidie Schwierigkeiten, sich auf eine gemeinsame sche Methoden. Sprache und ein gemeinsames Vorgehen zu eiIn einem systematischen Review aus dem nigen. Grundsätzlich wurde bei den EU-­ Jahr 2014 (Italia et  al. 2014) zeigte sich, dass Bürgern eine positive Haltung gegenüber CAM der Einsatz von CAM auch bei Kindern und konstatiert, sie wünschen Zugang zu diesem Jugendlichen sehr hoch ist, obwohl auch dort Bereich, möchten über verlässliche Informati- eine große Variationsbreite existiert. Mithilfe onen verfügen können und transparente Re- einer Metaanalyse wurde im letzten Jahr in geln für die Verwendung und auch für die Aus- Europa für die Homöopathie eine Prävalenzbildung der Praktizierenden haben. rate von 9 % und für pflanzliche Medikamente Die Verwendung von pflanzlichen Inhalts- von 13,5 % errechnet. Prädiktoren für die Verstoffen steht europaweit im Vordergrund, und wendung von CAM waren ein höheres Familimuskuloskeletale Probleme sind die am häu- eneinkommen, ein höherer Ausbildungsgrad figsten berichteten Konditionen, für die sowie ein höheres Alter der Kinder. CAM-Methoden verwendet werden. Sehr uneinheitlich bis komplett fehlend sind allgemeine Richtlinien oder Vorgaben hinsichtlich 3.3  Neue Entwicklungen der Ausbildung von CAM-Anwendern. Auch die CAMDOC-Alliance, ein Zusam- Neben Lehrstühlen für Komplementärmedizin menschluss von vier größeren europäischen an Medizinischen Universitäten wurden auch InCAM-Vereinigungen, hat die Situation in Europa stitute gegründet, die die Förderung der Forerfasst (CAMDOC Alliance 2012–2015, 7 http:// schung im Bereich der Komplementärmedizin www.­c amdoc.­e u/Pdf/CAMDOCRegulator y­ zum Ziel haben. Dazu gehört insbesondere das Status8_10.­pdf). Nach dieser Dokumentation ste- US-amerikanische nationale Zentrum für Komhen Akupunktur, Homöopathie, Phytotherapie plementär- und Alternativmedizin, wel-ches an und anthroposophische Medizin an der Spitze die National Institutes of Health (NIH) der der verwendeten Methoden. Auch dort wird fest- USA angeschlossen ist. Mit Beginn des Jahres  





40

M. Maier

2015 wurde dieses Zentrum in National Center for Complementary and Integrative Health (NCCIH) umbenannt (7 https://nccih.­nih.gov/). Begründet wird dieser Schritt damit, dass die echte Alternativmedizin – die Anwendung von unbewiesenen ­Behandlungsmethoden anstelle von konventioneller medizinischer Behandlung – äußerst selten ist. Hingegen ist der umfassende, meist interdisziplinäre Zugang zu Behandlung, Prävention oder Gesund­heitsvor­sorge, bei dem komplementärmedizinische und konventionelle Therapien gemeinsam angewendet werden, viel gebräuchlicher. Dieser integrative Zugang zu Gesundheit und Wohlbefinden hat deutlich zugenommen und findet sich in Krankenhäusern, Hospizen und auch militärischen Gesundheitsund Service-Einrichtungen gleichermaßen. Ziel des NCCIH ist es, die Sinnhaftigkeit und Sicherheit von komplementären und integrativen ­Zugängen zu Gesundheit durch rigorose wis­ senschaftliche Untersuchungen zu definieren. Im dritten strategischen Plan dieser Institution werden die Ziele bis zum Jahr 2015 festgelegt (National Center for Complementary and Integrative Health NCCIH 2016, 7 https://nccih.­ nih.­gov/about/plans/2011). Die Ausgangssituation basiert auf groß ­angelegten Untersuchungen, die zeigen, dass in den USA 38,2  % der Erwachsenen und etwa 12 % der Kinder innerhalb des letzten Jahres eine komplementärmedizinische Methode verwendet haben. Dafür werden 33,9 Mrd. US$ privat bezahlt – ein Betrag, der ungefähr 1,5 % der gesamten Gesundheitsausgaben der USA und 11,2 % der privat aufgebrachten Kosten entspricht. Der überwiegende Teil dieser Ausgaben entsteht in Eigenverantwortung, d. h., nicht auf Basis einer Empfehlung oder unter Anleitung eines „Fachmanns“. Die Duke University in Durham, NC, trägt dem offensichtlichen Bedarf der Gesellschaft Rechnung und hat Duke Integrative Health gegründet, ein krankenhausähnliches Institut, in dem konventionelle mit komplementären Methoden evidenzbasiert kombiniert und durch ein interdisziplinäres Team von Fachleuten angeboten werden ( 7 https://www.dukeintegrativemedicine.org, zuletzt aufgerufen am 25.08.2018).  

3





Zusammenfassung 55 Insgesamt zeigen die Publikationen der vergangenen 20 Jahre und die Entwicklungen seither, dass die Verwendung von komplementärmedizinischen Methoden weltweit eine hohe Prävalenz aufweist, obwohl die wissenschaftliche Evidenz im herkömmlichen Sinn in vielen Bereichen nicht gegeben ist. 55 Darüber hinaus werden viele Methoden oder Maßnahmen selbstständig von den Patienten in Anspruch genommen, ohne Anweisung oder Supervision durch medizinische Fachleute. 55 In vielen Ländern werden die Methoden allerdings auch durch Ärzte empfohlen und selbst bei Patienten angewandt. 55 Gemeinsam ist auch die Tatsache, dass die Patienten ihrem Arzt selten von sich aus über die Verwendung solcher Methoden berichten. Sie müssen danach spezifisch gefragt werden. 55 Diesen Gegebenheiten wird in sehr unterschiedlicher Form im Gesundheits- und Rechtssystem und in der Aus- und Weiterbildung von Gesundheitspersonal Rechnung getragen. 55 Sie rechtfertigen die Forderung nach seriöser Forschung und akademischer Lehre in diesem Bereich, wobei ein interdisziplinärer Zugang, der Sozial- und Naturwissenschaften sowie die klinische Forschung einschließt, wünschenswert ist und anzustreben wäre.

Literatur Bücker B, Groenewold M, Schoefer Y, Schäfer T (2008) The use of complementary alternative medicine (CAM) in 1001 German adults: results of a population-­based telephone survey. Gesundheitswesen 70:e29–e36 CAMDOC Alliance (2012–2015) The regulatory status of complementary and alternative medicine for medical doctors in Europe. http://www.­camdoc.­eu/ Pdf/CAMDOCRegulatoryStatus8_10.­pdf. Zugegriffen am 25.08.2018 Eisenberg DM, Kessler RC, Foster C et al (1993) Unconventional medicine in the United States. ­ Prevalence, costs, and patterns of use. N Engl J Med 328:246–252 Italia S, Wolfenstetter SB, Teuner CM (2014) Patterns of complementary and alternative medicine (CAM) use in children: a systematic review. Eur J Pediatr 173(11):1413–1428

41 Die Bedeutung der Komplementärmedizin in Gesellschaft und…

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3

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43

Grundlagen Inhaltsverzeichnis Kapitel 4 Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin – 45 Bernd Zeiger Kapitel 5 Medizin: naturwissenschaftlich-reduktionistisch vs. integrativ-ganzheitlich – 91 Wolfgang Marktl Kapitel 6 Naturwissenschaftliche Modellierung physiologischer Prozesse: Rückkopplung, Nichtlinearität und Chaos – 93 Karl W. Kratky Kapitel 7 Niederenergetische Bioinformation – 117 Otto Bergsmann, Wolfgang Marktl und Roswitha Bergsmann Kapitel 8 Das System der Grundregulation – Drehscheibe mit Schlüsselfunktion für Organismus und Ganzheitsmedizin – 137 Hartmut Heine, Otto Bergsmann und Roswitha Bergsmann Kapitel 9 Resilienz: der Weg der Krankheitsbewältigung – 173 Raimund Jakesz

II

45

Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin Bernd Zeiger 4.1

Einführung – 47

4.2

I nterdisziplinäre Forschung: kreative Intelligenz als Motor des Fortschritts – 49

4.3

 hysik und Medizin: die Entdeckung der P quantenmechanischen Realität – 52

4.4

 uanten als Repräsentanten der Q Selbstwechselwirkung – 55

4.5

 uanten als Brücke zu den traditionellen Q Medizinsystemen – 58

4.6

Der Bewusstseinsbezug der Quantenmechanik – 60

4.7

 ieben Sprachen der Natur als Grundlage der S integrativen Medizin – 62

4.7.1 4.7.2 4.7.3 4.7.4

 lassische Sicht der klassischen Realität – 63 K Quantenmechanische Sicht der klassischen Realität – 64 Klassische Sicht der quantenmechanischen Realität – 64 Quantenmechanische Sicht der quantenmechanischen Realität – 64

Herr Dr. Zeiger arbeitete in den Jahren 1994‑2001 am Internationalen Institut für Biophysik in Kaiserslautern (Prof. Dr. Popp); von 1976‑1993 an der Maharishi European Research University in der Schweiz (MERU). Von dem Vedischen Gelehrten Maharishi Mahesh Yogi stammen die Einsichten in die Strukturen der Ganzheit des Bewusstseins. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_4

4

4.8

Sprachen der Transformation: Informationsmedizin – 65

4.9

I nformationsmedizin als Bücke zur integrativen Medizin – 68

4.10

Strukturen der Ganzheit des Bewusstseins – 69

4.11

 ohärenz und einheitliches Feld in der integrativen K Medizin – 72

4.12

 oga und Veda in der interkulturellen integrativen Y Medizin – 76

4.13

 yurveda und die Beseitigung des Irrtums des A Intellekts – 79

4.14

Begriffliches System der integrativen Medizin – 82

4.15

 editation als wissenschaftliche Methode der M integrativen Medizin – 85

4.16

 hance der integrativen Medizin: Gesundheit in allen C Lebensbereichen – 87 Literatur – 89

47 Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin

4.1  Einführung

In dem Buch Komplementäre Medizinsysteme von K. W. Kratky (2003) gibt es eine Tabelle, in der die an den Hochschulen gelehrte konventionelle Medizin (auch Schulmedizin oder akademische Medizin genannt) mit der komplementären Medizin verglichen wird, mit der Konsequenz, dass die Verbindung beider zur integrativen Medizin führt. Die von Kratky an der Universität Wien seit den 1980er-Jahren durchgeführten interdisziplinären Forschungen bilden den Ausgangspunkt der hier vorgestellten quanten­ physikalischen Begründung der integrativen Medizin. K.  W. Kratky konnte nachweisen, dass die von ihm exemplarisch verglichenen komplementärmedizinischen Systeme 55 sich auf gesicherte Naturgesetze zurückführen lassen und 55 zwar unterschiedliche Sprachen und Blickwinkel benutzen, aber über eine interkulturelle, zeitenübergreifende Struktur miteinander verbunden werden können. Der für das 20.  Jahrhundert charakteristische Konflikt zwischen konventioneller und komplementärer Medizin kann dadurch aufgelöst und eine Verständigungsbrücke zwischen Zeitaltern und Kulturen geschaffen werden. Inte­ grative Medizin bedeutet, dass das älteste Heilwissen auch das modernste ist. K.  W. Kratky erläutert das explizit am uralten Ayurveda. Das auf dem klassisch-objektiven Naturverständnis beruhende Modell von K.  W. Kratky wird hier durch Einbeziehung der Erkenntnisse der Quantenmechanik erweitert. In diesem Beitrag bezieht sich die Unterscheidung von konventioneller und komplementärer Medizin auf die zeitgenössische gesellschaftliche Situation, während die Begriffe „klassisch“ und „quantenmechanisch“ unterschiedliche, zeitunabhängige Sichtweisen bezeichnen. Die Quantenmechanik benutzt zur theoretischen und praktischen Annäherung an die Wirklichkeit einen ganzheitlichen Ansatz,

4

der die strenge Subjekt-Objekt-Trennung überwindet. Der ganzheitliche Ansatz der Quantenmechanik bedeutet aber auch, dass Wahrheit nur bezogen auf den Bewusstseinszustand des Beobachters definiert werden kann. >> Die Frage „Was ist Wahrheit?“ wird in den verschiedenen Bewusstseinszuständen unterschiedlich beantwortet – eine Tatsache, die für die Medizin von fundamentaler Bedeutung ist.

Für den mathematisch ausgerichteten Physiker ist die Quantenmechanik ein formales Schema, das es ermöglicht, die fundamentalen Verhaltensmuster der Natur (Wechselwirkungen, Beziehungen) vollständig zu beschreiben. Vollständig heißt formal, dass die Beschreibung die Selbstwechselwirkung (Selbstbezug, Selbstidentität, Selbstreflexivität) mit einschließt. Da Selbstbezug das Kennzeichen von Bewusstsein ist, kann das formale Schema der Quantenmechanik auch bewusstseinsbezogen gedeutet werden. Das wiederum bedeutet, dass Bewusstsein und materielle Schöpfung als verschiedene Ebenen der Natur anzusehen sind. Alles, was von der Natur gesagt werden kann, lässt sich nicht nur in Begriffen der Erfahrungswelt ausdrücken, sondern auch in Begriffen von Bewusstsein; es bleibt dieselbe Natur. Eine konkrete Vorstellung von der Einheit der Natur, die sich in letzter Konsequenz aus der formalen Analyse unterschiedlicher Phänomenbereiche ergibt, vermitteln die 3 × 3-Ma­ trizen, in die sich 55 die empirischen Faktoren der Eigendynamik des Bewusstseins, 55 die grundlegenden Konzepte der Quantenmechanik und 55 die thermodynamischen Größen zur Charakterisierung des Gleichgewichts anordnen lassen (. Abb. 4.1). Die semi-empirische Matrix, die die Bewusstseinsdynamik als Zusammenspiel von Subjekt, Beobachtungsvorgang und Objekt beschreibt,  

48

B. Zeiger

Bewusstseinsdynamik semi-empirisch Beobachter sieht Beobachter

4

Beobachtung sieht Beobachter

Objekt sieht Beobachter

Beobachter Beobachtung Objekt sieht sieht sieht Beobachtung Beobachtung Beobachtung

Beobachter sieht Objekt

Beobachtung sieht Objekt

Objekt sieht Objekt

4 logische Operatoren (Verknüpfungen) legen den Wahrheitswert von Aussagen fest

Quantenmechanik semi-klassisch unitärer Raum Hilbert-Raum

Drehimpuls Algebra

Ort-Impuls Raum Phasenraum

GesamtEnergie Operator

AuswahlRegeln

SpinStatistik

EnergieZeit Unschärfe

Drehimpuls QuantenZahlen

ZustandsSumme

Thermodynamik klassisch Information- Innere Energie Entropie -S U Enthalpie

4 Quantenzahlen beschreiben die stationären Zustände des atomaren Elektronensystems

H

Druck -P

Volumen V

Teilchen-Kraft Freie Energie µ Teilchen-Zahl F N Freie Enthalpie Temperatur -G T

4 thermodynamische Potenziale U, II, G, F charakterisieren das Gleichgewicht

..      Abb. 4.1  Entsprechung zwischen verschieden formalen Beschreibungen der Natur

leitet sich aus den Erkenntnissen des Logikers G. Günther ab (Günther 1957); auf Überlegungen des Quantenmechanikers J.  Hagelin beruht die Systematik der semi-­ klassischen Konzepte der Quantenmechanik (Hagelin 1989), und das Merkschema, das zu den vier Energie-Größen U, H, G, F der klassischen Thermodynamik die zugehörigen Zustandsvariablen angibt, beschreibt A. Guggenheim (Guggenheim 1959). Wie in diesem Beitrag ausführlich dargestellt wird, verbirgt sich in diesen drei unabhängig voneinander aufgestellten tabellarischen Schemata eine universelle dynamische Struktur, die als Transformationsmatrix in einem verallgemeinerten Raum verstanden werden kann. Es wird sich zeigen, dass bei der biologisch-physiologischen Deutung der Formalismen die Erkenntnisse der Neurophysiologie richtungweisend sind, mit der praktischen Konsequenz, dass die Art und Anzahl der Komponenten des menschlichen Körpers als unmittelbarer Ausdruck der mathematischen Struktur der Natur verstanden werden kann. Die von der Quantenmechanik beschriebene Ebene der Wirklichkeit ist der universelle Aspekt des Naturgesetzes, der seit A.  Einstein (1879–1955) als „einheitliches Feld“ aller Naturgesetze bezeichnet wird. Die quantenmechanische Ebene drückt sich in den verschiedenen Bereichen der Natur aus, in denen spezifische

Naturgesetze wirken, die von der klassischen Physik beschrieben werden. Da die vereinheitlichte, quantenmechanische Ebene die Grundlage der klassischen ist, hat ein Operieren auf der quantenmechanischen Ebene automatisch Wirkungen in beiden Bereichen. Das ist der theoretische und praktische Kern der hier entwickelten Begründung der integrativen Medizin. Das Verständnis der Beziehung zwischen dem einheitlichen Feld aller Naturgesetze und einzelner, spezifischer Naturgesetze hat große praktische Bedeutung, sowohl für die Medizin als auch für jeden anderen Bereich des Lebens. Die universell gültigen Naturgesetze sind unabhängig von Zeit, Ort und Orientierung. Was sich aber ständig verändert, sind die äußeren und inneren Bedingungen, auf die die kreative Intelligenz des Menschen reagieren muss, um das Leben im Gleichgewicht zu halten. Eine optimale Lebenskultur, zu der auch das Gesundheitssystem gehört, sollte fähig sein, die zeit- und ortsbedingte Auswahl bestimmter spezifischer Naturgesetze in Übereinstimmung mit der Gesamtheit aller Naturgesetze zu treffen. Die an den Hochschulen gelehrte objektiv ausgerichtete Medizin klammert das Subjekt und seine permanenten Wechselbeziehungen mit der Umwelt weitgehend aus und ist deshalb eine im Wesentlichen „klassische Medizin“.

49 Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin

Demgegenüber ist die Komplementärmedizin überwiegend quantenmechanisch ausgerichtet, worauf Formulierungen hinweisen wie „alles ist mit allem verbunden“. Auf der Grundlage dieser Einordnung von konventioneller Medizin und Komplementärmedizin kann ihre Integration exakt begründet und dadurch gefördert werden – was das Ziel dieses Beitrags ist. Voraussetzung für den Integrationsprozess ist, dass die Komplementärmedizin auf tragfähige Weise zur Quantenmedizin weiterentwickelt wird (Walach 2006). Es mag sein, dass der Begriff Quantenmedizin keinen guten Ruf hat, weil er oft allzu naiv benutzt und zu Werbezwecken missbraucht wird, dennoch wird (Walach 2006) er hier verwendet, weil er exakt das bezeichnet, worum es geht. Der große Sprung, den die objektbezogene Medizin dabei vollziehen muss, bedeutet eine grundlegende Erweiterung des Bewusstseins bei all denen, die in der medizinischen Praxis, Lehre und Forschung tätig sind. Die Integration der objektbezogenen naturwissenschaftlichen Medizin mit einer quantenmechanisch begründeten Komplementärmedizin ist unvermeidlich, denn der Subjekt und Objekt verbindende Ansatz der Quantenmechanik schließt die objektbezogene klassische Realität mit ein, aber nicht umgekehrt: das Klassische ist niemals quantenmechanisch. Ohne eine quantenmechanische Begründung ist die inte­ grative Medizin nur ein loses und kontroverses Nebeneinander oft unvereinbar erscheinender Standpunkte und Ansätze. >> Integrative Medizin, die diese Bezeichnung verdient, geht von einer Quantenmedizin als absolutem Fundament aus und bezieht systematisch die konventionelle akademische Medizin und die verschieden Methoden der Komplementärmedizin mit ein.

Da die Integration von klassischer, konventioneller und quantenmechanischer Medizin die vorderste Front der Forschung zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist, kann dieser Aufsatz nur ein Präzisierungsversuch des programmatischen Impulses sein, der von der Idee einer Quanten-

4

medizin ausgeht. Vor allem durch Vergleich mit den entsprechenden Entwicklungsschritten in der Physik wird sich zeigen, dass die Integration des Klassischen mit dem Quantenmechanischen weitreichende Konsequenzen für alle Bereiche des Lebens hat. Durch Integration mit der Quantenmedizin kann die konventionelle Medizin ihre vollkommene Ausprägung erreichen. Die konventionelle Medizin ist also nicht etwas, das überwunden oder abgeschafft werden soll, sondern das durch die Quantenmedizin ein sicheres Fundament erhält und auf diese Weise einen unverzichtbaren Platz in einer integrativen Medizin. Das quantenphysikalische Fundament der integrativen Medizin ist absolut in dem Sinne, dass alle möglichen Sichtweisen und therapeutischen Ansätze berücksichtigt werden. Die integrative Medizin ist eine bedeutende wissenschaftliche Aufgabe; damit dabei aber etwas prinzipiell Neues und Zukunftsweisendes entsteht, ist zunächst eine quantenmechanische Begründung der Komplementärmedizin erforderlich. >> Existiert eine solche Quantenmedizin, ist der Schritt zur integrativen Medizin ein automatischer Vorgang – das ist die These dieses Beitrags.

Eine erste Rechtfertigung für diese These ergibt sich aus der Geschichte der Physik. Zunächst entwickelte sich die klassische Physik zu einer hohen Blüte. Als niemand mehr eine Weiterentwicklung für möglich hielt, entstand Anfang des 20. Jahrhunderts durch einen unerwarteten und unvorhergesehen kreativen Akt das Programm der Quantenmechanik, das sofort viele Wissenschaftler faszinierte (. Tab. 4.1).  

4.2  Interdisziplinäre Forschung:

kreative Intelligenz als Motor des Fortschritts

Im quantenmechanischen Bereich tätig zu sein, ist nicht gleichbedeutend mit dem Nachdenken über diesen Bereich oder mit dem Durchführen entsprechender Berechnungen mittels

Beziehung zwischen dynamischen Größen

Vertauschbarkeit (konservativ)

Korrespondenzprinzip

Nichtvertauschbarkeit ist erlaubt (kreativ)

Selbstbezug

Klassische Mechanik

Quantisierung

Quantenmechanik

Quanteneigenschaft

Verbundenheit, Verschränkung

Funktionen über Koordinaten

Bildung der Potenzmenge

Koordinaten

Zustandsbeschreibung der betrachteten Gegenstände

Höhere Dimensionen (Freiheit)

Komplexe Zahlen

Algebraische Zahlenerweiterung

Reelle Zahlen

Zahlenbereich

Integrierend, Mehrwissen

Sowohl-als-auch-Logik

Nichtklassische Erweiterung der Logik

Ja-nein-Logik

Logik

4

Bereiche der Mechanik

..      Tab. 4.1  Quantisierung: Übergang von der klassischen zur quantenmechanischen Beschreibung

50 B. Zeiger

51 Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin

Digitalcomputer. Vielmehr ist Operieren im Quantenmechanischen ein realer Vorgang, durch den der jeweilige Bereich der Aktivität mit dem ihm innewohnenden universellen Bereich des Naturgesetzes verbunden wird. Keine Art von Aktivität ist prinzipiell davon aus­ geschlossen. Das gilt für physikalische oder chemische Vorgänge ebenso wie für Gefühle, Gedanken sowie verbale und motorische Aktivitäten, insbesondere auch für zwischenmens­ch­ liches Verhalten. Wesentliches Kennzeichen jeder quantenmechanischen Tätigkeit ist der unmittelbare Bezug zur selbstbezogenen Eigendynamik der quantenmechanischen Realität, dem Heim aller Naturgesetze. Zugänglich ist diese Realität in ihrer einfachsten Form im quantenmechanischen Grundzustand jedes Systems. Quantenmedizin bedeutet Nutzung des quantenmechanischen Grundzustands. 55 In der Quantenmechanik wird das beschrieben mit dem Begriff der „unitären Transformation“, d. h. Aktivität ohne Verlust der Selbstbezogenheit, also ohne dass Unordnung entsteht. 55 Eine andere adäquate Beschreibung der realen quantenmechanischen Tätigkeit ist „Forschung im Bereich des Bewusstseins“ – vorausgesetzt, Bewusstsein wird dabei nicht als Objekt gesehen, sondern Subjekt und Objekt treffen sich auf derselben Ebene. 55 Eine weitere passende Beschreibung wäre „interdisziplinäre Forschung“, wenn dabei das Subjekt nicht nur „horizontal“ verschiedene Bereiche verknüpft, sondern sie auch „vertikal“ durch Übergang zur zugrunde liegenden quantenmechanischen Ebene so zu einer Einheit verbindet, dass etwas qualitativ Neues entsteht. >> Die Quantenmedizin ist also weder ein Weltbild, das rein intellektuell eingenommen oder verworfen werden kann, noch irgendein „-ismus“ oder ein willkürliches Regelwerk oder Glaubenssystem, sondern bezieht sich auf reale therapeutische Verfahren, die strengen Gesetzmäßigkeiten unterliegen.

4

Wie K. W. Kratky gezeigt hat, spielt bei der Aufdeckung der inneren Verwandtschaft der verschiedenen Bereiche der Komplementärmedizin das Prinzip der Rückkopplung (Regelung, Feedback, Steuerung, Nichtlinearität) eine zentrale Rolle. Als Homöostase liegt dieses Prinzip auch bereits wichtigen Aspekten der naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin zugrunde. Um zur Quantenmedizin vorzudringen, ist es jedoch notwendig, noch einen Schritt weiterzugehen. Dem klassischen Phänomen der Rückkopplung entspricht auf der quantenmechanischen Ebene der Selbstbezug bzw. die Selbstwechselwirkung. Der Unterschied zwischen Rückkopplung und Selbstwechselwirkung besteht darin, dass die klassische Rückkopplung immer mit einem Energieverlust verbunden ist, während Selbstwechselwirkung, als typisch quantenmechanisches Phänomen, völlig reibungslos verläuft. Selbstwechselwirkung drückt sich quantenmechanisch als uneingeschränkte Korrelation und unitäre Transformation aus, und klassisch als Kohärenz und Langlebigkeit – was in diesem Beitrag im Detail erläutert wird. Strenge Grenzen  – wo immer sie bestehen – z. B. in Form fest umrissener akademischer Disziplinen, haben niemals dauerhaften Bestand, weil sie zu Grenzüberschreitungen herausfordern, z. B. in Form von Transdisziplinarität und Interdisziplinarität, die willkürliche Beschränkungen aufweichen. Der Grund dafür ist, dass Intelligenz viele Qualitäten hat, neben der differenzierenden und separierenden auch Qualitäten der Kreativität, Integration und Weiterentwicklung. Ausgangspunkt dieses Beitrags ist die Erkenntnis, dass echte integrative Medizin eine Erweiterung des Naturverständnisses bedeutet in Richtung der Qualitäten der Intelligenz, die Subjekt und Objekt verbinden. Die fünf Merkmale des durch kreative Impulse angetriebenen Fortschritts 55 Stabilität 55 Flexibilität

52

B. Zeiger

55 Integration 55 Reinigung 55 Wachstum

4

Die fünf Qualitäten des Fortschritts sind ständig wirksam, und in den verschiedenen Phasen des kreativen Entfaltungsprozesses dominiert eines dieser fünf Merkmale, die deshalb auch als Grundlagen des Fortschritts bezeichnet werden. Die fünf Grundlagen des Fortschritts erlauben eine objektive und mathematisch exakte Kennzeichnung des Phänomens der Kreativität als Ausdruck des geistigen Potenzials des Menschen. Dieses geistige Potenzial und damit die Grundlagen des Fortschritts können durch eine besondere, die Kreativität fördernde Denkmethode unmittelbar im Bewusstsein belebt werden. Das ist die praktische Konsequenz der Argumentation dieses Beitrags (7 Abschn. 4.14). Die Denkmethoden der klassischen Naturwissenschaft (Bochenski 1954) sind demgegenüber ausschließlich sachbezogen und formalisierend. Subjektive Fähigkeit wie Selbstbezug, Aufmerksamkeit, Intelligenz, Gedächtnis, Kreativität werden zwar vorausgesetzt und kultiviert, aber nicht systematisch erweitert. Deshalb nutzen die klassischen Denkmethoden zwar das vorhandene geistige Potenzial, aber entfalten dieses nicht gezielt. Die integrative Medizin setzt die Entfaltung des geistigen Potenzials voraus und damit die Erweiterung des Vorstellungsvermögens und des Erfahrungsbereichs. Dieser Entfaltungsprozess des Bewusstseins hat sein erstes klar definiertes Ziel in einem Bewusstseinszustand, der die Voraussetzung für alle möglichen Erfahrungen und Vorstellungen ist und aus dem durch kreative Impulse alle ganzheitlichen Strukturen hervorgehen. Seit I.  Kant (1724–1804) wird dieser Bewusstseinszustand als transzendentales Bewusstsein bezeichnet. Bezüglich der klassischen Mechanik heißt dieser Erweiterungs­ prozess der Erkenntnis „Quantisierung“ (. Tab.  4.1). Analog zum Übergang von der klassischen Physik zur Quantenphysik ist an 



zunehmen, dass durch die Ausarbeitung der Quantenmedizin die auf dem Denken der klassischen Naturwissenschaft basierende Medizin einen Entwicklungsschritt macht, der alle ihre Aspekte grundlegend verändert – von den logischen über die inhaltlichen bis hin zu den methodischen und praktischen (Primas 1992). Insgesamt wird durch die Quantisierung eine Beschreibungsebene erreicht, die von unbegrenzter Reichhaltigkeit ist und die das spontane Entstehen von Neuem, also Kreativität, zulässt. Wie die Entwicklung von der klassischen Physik zur Quantenphysik, ist auch die Entwicklung von der akademischen zur inte­ grativen Medizin eine Geschichte der Kreativität. Die Begründer der Homöopathie hatten den Mut zu neuen Wegen, ebenso wie alle Pioniere der Naturheilkunde.

4.3  Physik und Medizin: die

Entdeckung der quantenmechanischen Realität

Den Lehrbüchern zum Thema Physik für Mediziner ist zu entnehmen, dass Anfang des 21. Jahrhunderts an den Hochschulen v. a. folgende physikalischen Kenntnisse vermittelt werden: 55 Mechanik starrer Körper zum Verständnis des Bewegungsapparats, 55 Mechanik deformierbarer Körper zu Fragen der Elastizität und Zirkulation, 55 Wärmelehre zur Analyse des Energiehaushalts, 55 Schwingungen und Wellen bei Fragen der Kommunikation, 55 Aufbau der Materie mit Blick auf den Stoffwechsel, 55 Elektrizität zur Begründung der Funktionsweise von Nerven und Gehirn, 55 Magnetfelder zur verfeinerten Diagnostik in der Neurologie, 55 Optik, weil Farben informativ sind, 55 Wechselwirkung zwischen Materie und Strahlung zur Bestimmung der Grenzwerte für die Belastbarkeit des Organismus.

53 Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin

Alles das gehört zur medizinischen Grundausbildung an den Hochschulen. Kaum ein Arzt aber weiß, dass es zum Verständnis und zur Berechnung dieser Phänomene neben Raum und Zeit nur einer weiteren Größe bedarf und nur eines einzigen Prinzips. Schon der Name der Grundgröße ist den wenigsten geläufig: die Aktion. Eine Größe, die auf Deutsch auch „Wirkung“ genannt wird. Mathematisch korrekt wird sie als Wirkungs-­ Funktional bzw. Aktions-Funktional bezeichnet, weil sie eine „Funktion von Funktionen“ ist. Wie alle Funktionale ist die Aktion eine skalare Größe, d. h., sie wird durch einen reellen Zahlenwert beschrieben, zusammen mit der Angabe der Einheiten des benutzten Systems der Messgrößen. Die Aktion ist die zentrale Größe der Physik. Im natürlichen Maßsystem der Mechanik ist die Aktion die dritte Grunddimension neben Zeit und Länge. Die Aktion charakterisiert das gesamte Aktivitätsvermögen eines Systems, und es gibt drei Alternativen sie durch Messgröße zu beschreiben: 55 Energie × Zeit, 55 Drehimpuls, 55 Impuls × Weglänge. Alle spezifischen Naturgesetze der klassischen Physik lassen sich mithilfe der Aktion auf ein einziges Naturgesetz zurückführen, nämlich das Prinzip des geringsten Aufwands oder, genauer gesagt, die Stationarität der Aktion. Dieses Ökonomieprinzip der Natur besagt, dass alles in der Natur automatisch abläuft. Die Physik beruht bis in das 20.  Jahrhundert auf einer rein objektiven Nutzung der Aktion. Der letzte bedeutende Vertreter des klassischen Weltbildes war A. Einstein, der es in der Formulierung zusammenfasste:

»» „Gott würfelt nicht.“ (Einstein et al. 1972)

Dieses klassische Weltbild gilt jedoch nur eingeschränkt, wie die Phänomene der Reibung und des Verschleißes belegen, und wurde deshalb im 19.  Jahrhundert durch ein weiteres Naturgesetz ergänzt: Das Prinzip von der Unmöglichkeit eines Perpetuum mobile, d. h. einer Maschine, die ständig funktioniert. Die

4

Unmöglichkeit von Maschinen, die sich ständig bewegen, ist neben dem Prinzip des geringsten Aufwandes die Quintessenz der klassischen Physik. Sie wird als Zweiter Hauptsatz der Thermodynamik bezeichnet, und besagt, dass in einem abgeschlossenen System die Unordnung (Entropie) zwar spontan zunehmen, aber niemals abnehmen kann. Soll eine Maschine ständig funktionieren, muss der unvermeidliche Verschleiß durch Phasen der Regeneration und Wartung wieder ausgeglichen werden, also durch gezielte Einbeziehung von Zeiten der Ruhe und Erneuerung. Das Naturgesetz, das spontane Erneuerung möglich macht, ist der 1905 von W.  Nernst (1864–1941) entdeckte Dritte Hauptsatz der Thermodynamik, das universelle Prinzip der Zunahme der Ordnung durch Verringerung der Anregung. Nimmt die Aktivität eines Systems ab, dann wächst die Ordnung, und nähert sich das System dem Nullpunkt der absoluten Temperaturskala, tritt spontan hoch geordnetes Verhalten auf. Die absolute Temperatur ist dabei ein Maß für die mittlere Bewegungsenergie der Teilchen eines Systems. Der Dritte Hauptsatz der Thermodynamik regelt den Einfluss der Temperatur auf die innere Geordnetheit von Viel-Teilchen-Systemen. Das Prinzip gilt auch, wenn der Temperaturbegriff so abgeändert wird, dass er biologisch relevante Änderungen im Anregungszustand beschreibt, wie z. B. als Temperatur der Energie-Entropie-­Kompensation. Erreicht das System den Zustand der geringsten Anregung, treten völlig neue Verhaltensmuster auf, die klassisch nicht mehr zu verstehen sind und auf die stille Welt der Quantenmechanik hinweisen, in der alles mit allem verbunden ist. Der reinste Repräsentant der quantenmechanischen Welt ist der quantenmechanische Grundzustand, der Zustand, in dem ein System reibungslos funktioniert und in dem – im Unterschied zur klassischen Physik  – alle Möglichkeiten des Verhaltens einbezogen sind. Die unbegrenzte Vielfalt der Ausdrucksformen des Lebens können dann als „makroskopische Quantenzustände“ verstanden werden (Cochran 1971).

54

B. Zeiger

>> Der Dritte Hauptsatz der Thermodynamik und das Zusammenspiel von Deaktivierung und Aktivierung gehören zu den zentralen Forschungsthemen der integrativen Medizin.

4

Auf klassischem Weg ist es unmöglich, den absoluten Nullpunkt der Temperaturskala zu erreichen. Dieser kennzeichnet die Grenze zu einer eigenständigen Realität, die außerhalb und unabhängig von der klassischen existiert, jedoch das Klassische mit einschließt – das ist die quantenmechanische Realität. Die Quantenphysik begann mit der Entdeckung, dass die Aktion keine kontinuierliche, „lückenlose“ Größe ist, sondern eine kleinste Einheit besitzt: das von M. Planck (1858–1947) um 1900 entdeckte elementare Aktionsquantum, das auch „Wirkungsquantum“ genannt wird. Abgekürzt wird das Plancksche Wirkungsquantum mit dem Buchstaben h, was in dem hier entwickelnden Verständnis für „harmonisierend“ steht. Das Wirkungsquantum ist eine Naturkonstante. Naturkonstanten charakterisieren immer Verbindungen zwischen Bereichen der Realität, die scheinbar getrennt voneinander sind. Im Fall des Aktionsquantums sind es Ruhe und Aktivität. Die Aktion (Wirkung) spielt eine zentrale Rolle bei der Vereinheitlichung der Wechselwirkungen in der Natur, denn sie vereinigt in sich die gesamte Dynamik eines Systems. Die Existenz des Planckschen Wirkungsquantums bedeutet, dass es im Geschehen der Natur fundamentale Ruhephasen gibt. Aus Sicht der Dynamik heißt das, dass das Naturgeschehen immer im Wechsel von Ruhe und Aktivität erfolgt, und das Wirkungsquantum charakterisiert die kleinste Einheit eines solchen Wechsels. Ruhe ist im physikalischen Naturverständnis das Kennzeichen des Subjekts. Typisch für die klassische Weltsicht ist deshalb, dass der Beobachter als unbeteiligter Zeuge jenseits allen Geschehens ruht. Das entsprechende Bezugssystem wird als Laborsystem bezeichnet. Im Laborsystem werden der Beobachter und seine Messgeräte zusammen als ruhend angenommen.

Die Quantenmechanik behält den Ruhestatus des Beobachters bei und damit seine Raum-­ Zeit-­ Struktur. Was abgeändert wird, ist die Rolle des Messvorgangs. In der Quantenmechanik wird die für jede Messung charakteristische Wechselbeziehung zwischen Subjekt und Objekt explizit berücksichtigt, d.  h., der Beobachtungsvorgang bekommt einen eigenständigen Status. Da der Beobachter durch die Wahl einer bestimmten Sichtweise die Art der Beobachtung festlegt, hat schon die Tatsache, dass gemessen wird, eine Wirkung auf den Zustand des Objekts.

»» „Der Beobachter verändert durch den

Beobachtungsvorgang das Objekt der Beobachtung.“

Wesentlich dabei ist, dass Messvorgang und gemessenes Objekt auf die stille Ebene des Beobachters angehoben werden. In diesem Sinn wird aus dem unbeteiligten Zeugen der klassischen Physik der „Teilnehmer“ der Quantenphysik (Wheeler und Patton 1974). W. Böcher (1987) kommt zu folgender Einschätzung dieser Entwicklung für die akademische Medizin:

»» „… während die Physik Mängel und

Schwachstellen in ihrem klassischen Denkmodell erkannte und gegen z. T. erheblichen Widerstand behob, hat die Medizin diese moderne Entwicklung weitgehend ignoriert. Sie ist noch an dem Ideal einer exakten Abgrenzbarkeit und einer strengen Gesetzmäßigkeit von Ursache und Wirkung orientiert.“

Eine ähnliche Entwicklung, wie sie unter dem Einfluss der Quantenmechanik im klassischen Naturverständnis stattfand, begann in der Medizin unter dem Einfluss komplementärmedizinischer Ansätze. Bei Therapien der Komplementärmedizin ist die Wechselbeziehung zwischen Therapeut und Patient ein entscheidender Faktor. In dem Maß, in dem der Patient als ein gleichermaßen subjektives und objektives Ganzes gesehen wird, ist die Dia­ gnostik vielschichtig und die Kommunikation zwischen Arzt und Patient ein eigenständiger

55 Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin

4.4  Quanten als Repräsentanten

Wirkungsfaktor. Der ganzheitliche Ansatz der Quantenmechanik wird dann ­gültig und betrifft alle drei klassischen Therapieansätze gleichermaßen: 55 die psychophysiologischen Therapien, 55 die medikamentösen und manuellen bzw. operativen Behandlungen und 55 die Regulationstherapien, die sich physikalischer Reize bedienen.

der Selbstwechselwirkung

Die physikalische Größe der Aktion bzw. Wirkung erlaubt einen medizinisch relevanten Zugang zur Realität der Quanten, bei dem die organisierende Kraft von Anfang an im Mittelpunkt steht. Der entsprechende Formalismus wurde von R.  Feynman (1918–1988) ausgearbeitet (Feyn­man und Hibbs 1965) und wird auch benutzt, um Fragen der Biophysik und Medizin zu untersuchen (Pease und Austin 2011). Grundlage des Feynmanschen Formalismus ist die Verschmelzung des Gegensatzpaars von Ruhe und Aktivität zu einer dynamischen Einheit. Formal geschieht das durch die Beschreibung des Wechsels von Ruhe und Aktivität als Welle und damit als kreisförmige Drehungen in einem zugrunde liegenden Raum (mindestens einer Ebene). Die zyklische Dynamik des Wechsels von Ruhe und Aktivität wird als selbstbezügliche Dynamik bezeichnet, weil dadurch die dynamische Einheit erhalten bleibt. Die einfachste mathematische Beschreibung der selbstbezogenen Dynamik ist der Einheitskreis in der komplexen Zahlenebene. Die komplexe Ebene wird von zwei wesensfremden (orthogonalen) Richtungsgrößen (Pfeile, Zeiger, Vektoren) aufgespannt. Wie auf dem Zif-

Aus diesem Grund wird in diesem Aufsatz die Entsprechung (Korrespondenz) zwischen physikalischer Aktion und medizinischer Therapeutik als Zugang zur Quantenmedizin benutzt (. Tab. 4.2). Wie im Fall des Wirkungsquantums werden durch einen ganzheitlichen Therapiebegriff die Übergangs- und Zwischenzustände zu den eigentlichen Wirkungsfaktoren. Mit den „Lücken des Geschehens“ kann dann auf exakte Weise gerechnet werden, und die „Übergangsbereiche“ gehorchen streng determinierten Gesetzmäßigkeiten (Gleichungen). Ruhe ergänzt die Aktivität und Aktivität ergänzt die Ruhe als zwei Aspekte einer Realität, die als „dynamische Stille“ bezeichnet werden kann. Bestätigt wird das durch das Schwergewicht auf schrittweisen Vorgehensweisen in der modernen Therapeutik.  

..      Tab. 4.2  Entsprechung von Physik und Medizin: Aktion und Therapie

Physik: Aktion

t1

ò L dt

a

Ù

s

j

b

∫p ‧ dqc

t2

Messgrößen

Energie × Zeit

Drehimpuls

Impuls × Länge

Allgemeine Bedeutung

Übergänge

Verhaltensmuster, Feldtypen

Dynamische Weglänge

Entsprechung in der Physiologie

Körper-Geist-­ Wechselbeziehung

Gestaltung, Strukturbildung

Reiz-Reaktions-­ Mechanismus

Medizin: Therapie

Psychophysiologische Therapien

Medikamentöse und manuelle Therapie

Regulationstherapie

aL = Energie

4

(Lagrange-Funktion), t = Zeit, b Drehimpulskomponente, c p = Impuls, q = Ort

56

4

B. Zeiger

ferblatt einer Uhr kann sich in der komplexen Ebene ein Zeiger (Zahlenpaar, Pfeil) um den Ursprung (Zahlenpaar 0,0) um einen Winkel α (auch Phasenwinkel genannt) drehen. Die Länge des Zeigers bleibt dabei unverändert und kann deshalb ohne Einschränkung der Allgemeinheit gleich Eins gesetzt werden (daher die Beschränkung auf den Einheitskreis). Die Drehung um den Ursprung erfolgt gemäß der Formel exp(i α), die auch als Phasenfaktor bezeichnet wird. Das Rechnen mit komplexen Zahlen, d. h. mit Zahlen, die in Erweiterung der reellen Zahlen die imaginäre Einheit i  =  (√–1) einschließen, und der Phasenfaktor sind charakteristisch für die Quantenmechanik. Die Erzeugenden von Drehungen sind in der Dynamik immer Drehimpulse. Die Quanten des Drehimpulses, als dynamische Repräsentanten des Selbstbezugs, sind immer endliche Vielfache des elementaren Wirkungsquantums. Deshalb hat das Wirkungsquantum die Maßeinheit des Drehimpulses. Das besondere Wesen der Quanten, als Repräsentanten selbstbezüglicher Dynamik, wird meist nicht explizit ausgesprochen, was einer der Gründe dafür ist, dass die Quantenphysik im Alltagsdenken und in der Medizin kaum Eingang gefunden hat. Speziell in der Medizin sind Quanten die Präzisierung der uralten Erfahrungstatsache, dass Ruhe die erste, wichtigste und beste Therapie ist, weil dadurch die Bedingung geschaffen wird, dass sich gestörte Verbindungen innerhalb eines Organismus regenerieren können. Als Repräsentanten des Selbstbezugs sind Quanten der Schlüssel zum Verständnis und zur Belebung jeder Art von Beziehung durch die Erkenntnis und Verwirklichung des Bereichs uneingeschränkter Verbundenheit. Mit dem Konzept der Quanten ist das Verständnis der Natur zum allgegenwärtigen Bereich der Schöpfung vorgedrungen, die selbstwechselwirkende quantenmechanische Realität. „Quantum“ bzw. „Quant“ kennzeichnet das integrierende Wesen der dynamischen Einheit von Ruhe und Aktivität. Die praktischen Methoden und Therapien der komplemen­ tären Medizin können als Einbeziehung der mit dem Begriff der Quanten verbundenen

Erkenntnisse in die Medizin verstanden werden. Darauf beruht die Präzisierung der Komplementärmedizin als Quantenmedizin. Quanten und Quantenmechanik leiteten einen Prozess der Umgestaltung und des Neuaufbaus der Naturwissenschaft ein, durch den die Ruhepunkte und Phasen der Stille zu den Schaltstellen des Geschehens werden. In manchen Bereichen ist dieser Neuaufbau schon weit fortgeschritten, in anderen steht er erst am Anfang, und in vielen Bereichen hat er noch gar nicht begonnen. Für die Neubegründung der modernen Wissenschaften auf quantenmechanischer Grundlage hat sich zu Beginn des 20.  Jahrhunderts die Bezeichnung „absolute Theorie“ eingebürgert, die besagt, dass das von den klassischen Naturwissenschaften beschriebene Verhalten der Natur ein spezieller Ausdruck der umfassenden organisierenden Kraft der quantenmechanischen Realität ist. Erst die Quantenmechanik führt zur Erkenntnis der Ebene der Natur, auf der alle Naturgesetze im Bereich der Stille ihren gemeinsamen Ursprung haben. Erst durch den Bereich der Stille werden Bewegungen und Veränderungen zur Dynamik. Die Präzisierung des „Faktors Ruhe in der Medizin“ ermöglicht eine Zurückführung der Physiologie auf die Gesetze der Dynamik. Ein entscheidender Schritt in Richtung der quantenmechanisch begründeten integrativen Medizin ist die klare Unterscheidung von Mechanik und Dynamik. I. Newton (1642–1726) gilt als Begründer der klassischen Mechanik, während G.  W.  Leibniz (1646–1716) den Begriff der Dynamik geprägt hat. Beide Begriffe haben sich seitdem ständig wechselseitig beeinflusst, sodass sich ihre inhaltliche Bedeutung je nach Forschungsschwerpunkt im Lauf der Zeit veränderte. Richtungweisend für die Entwicklung der Physik wurde die Begriffsbestimmung, die F. W. J. Schelling (1775–1854) um 1800 durchgeführt hat. Nach Schelling beruht die Dynamik auf einem unbegrenzten, lückenlosen Kontinuum „lebendiger“ Stille, das die Wechselwirkung der Grundkräfte der Natur vermittelt, während die elementarste Realität der Mechanik aus Massen-

57 Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin

punkten (Punktteilchen) besteht, die sich in Raum und Zeit bewegen. Zur Deduktion des Verhaltens der Materie (Schellings System der Chemie) charakterisiert Schelling die gesamte Dynamik, die auch die Mechanik einschließt, durch eine Drei-in-Eins-Struktur, die er als „dynamischen Atomismus“ bezeichnet, weil dabei die Kräfte als die fundamentalen Einheiten („Atome“) der Naturvorgänge angesehen werden. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde mit der Supersymmetrie die formale Struktur entdeckt, die es erlaubte, die Vereinheitlichung der Grundkräfte der Natur mit den fundamentalen Materieteilchen mathematisch zu verwirklichen. Schelling benutzte zur Vereinheitlichung eine graphische Vorgehensweise, wobei die beiden extremen Aspekte der Dynamik – Ruhe und Bewegung – durch parallele Linien unterschiedlicher Qualität beschreiben werden. Das stetige Kontinuum der Selbstwechselwirkung wird mit dem mechanischen Kontinuum der Punkte durch den von Schelling geprägten Begriff des „Indifferenzpunktes“ im Gleichgewicht gehalten. Dies führt auf die Charakterisierung der gesamten Dynamik als „Drei-in-Eins-Struktur“, die geometrisch durch ein Dreieck dargestellt wird (. Abb. 4.2). Ein Indifferenzpunkt repräsentiert die Wechselbeziehung zwischen der Aktivität der Materie und dem Kontinuum der Stille. Das ist gleichbedeutend mit der Einführung einer dritten parallelen Linie als integrierende Struktur. Die dadurch definierte „Kraft der Entwicklung“ (in  

A

stetiges Kontinuum

M

I

dynamische Stille Selbstwechselwirkung

Punkt-Kontinuum Mechanik der Massenpunkte

quantenmechanischer Terminologie der „Evolutionsoperator“) bewirkt durch den ständigen Rückbezug zur Stille während der Aktivität, dass die produktive Kontinuität erhalten bleibt. Schellings Konzept der Dynamik wurde der theoretische Rahmen für die im 19. Jahrhundert entstanden drei Grundpfeiler der alternativen Medizin: 1. der Reiz-Reaktions-­Mechanismus, 2. die Homöopathie und 3. die Psychosomatik (Fischer-­Homberger 1977). Schellings Dynamik spielte auch eine große Rolle in der Entwicklung von Elektrodynamik und Thermodynamik sowie den damit verbunden mathematischen Methoden. Aus der Elektrodynamik entwickelte A.  Einstein Anfang des 20.  Jahrhunderts das Programm der Vereinheitlichung der Grundkräfte. Die Thermodynamik lieferte M. Planck den theoretischen Rahmen für seine Quantenhypothese, die den Beginn der Quantenmechanik markiert. Eine explizite Renaissance erfuhr die Schellingsche Dynamik in der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts durch die Forschungsgruppe von H. Haken zur Theorie der Selbstorganisation (Heuser-Keßler 1986), in der Arbeitsgruppe für theoretische Chemie von H. Hartmann (Zeiger 1975) und am Internationalen Institut für Biophysik von F.-A. Popp bei der Erforschung der Licht-Materie-­Wechselwirkung (Zeiger 1998). Die mechanische und die dynamische Sichtweise entstanden zwar zeitgleich, entwickelten sich aber unterschiedlich. Den Grund für ihr zunehmendes Auseinanderdriften und die damit verbundene Kluft zwischen konventioneller und alternativer Medizin sieht E. Mach in der akademischen Betonung der formalen und technischen Mittel unter dem Eindruck der Erfolge der klassischen Physik (Mach 1883):

»» „… Durch die unverhältnismäßig größere Indifferenz-Punkte Gleichgewicht der Kräfte

..      Abb. 4.2  Die Drei-in-Eins-Struktur der Dynamik (nach Schelling)

4

formelle Entwicklung der (klassischen) Physik gegenüber den anderen Naturwissenschaften ist ein derartiger Zustand unseres Erachtens wirklich geschaffen worden, …, dass allen Erfahrungen über räumliche und

58

4

B. Zeiger

zeitliche Verhältnisse ein größeres Vertrauen entgegengebracht wird, dass man ihnen einen objektiveren, realeren Charakter zuschreibt. Als Erfahrungen über Farben, Töne, Wärmen usw. … Doch kann man bei genauer Betrachtung sich nicht darüber täuschen, dass … Raum und Zeit wohlgeordnete Systeme von Empfindungsreihen sind.“

Die mechanistische und technische Ausrichtung der akademischen Medizin wird durch das Entstehen einer quantenmechanisch begründeten integrativen Medizin eine Bereicherung und Umwandlung erfahren. Richtungweisend ist die Integration der klassischen Physik mit der Quantenphysik. In der Mechanik, dem Kerngebiet der klassischen Physik, gibt es genau zwei formale Vorgehensweisen zur Analyse der Aktion und damit zur Beschreibung von Mechanismen (Abläufen): Das eine Schema geht auf den Französischen Mathematiker J.-L. Lagrange (1736–1813) zurück, das andere auf den irischen Physiker und Mathematiker W. R. Hamilton (1805–1865). Der Lagrange-Formalismus führt jeden Mechanismus auf ein kinetisches Potenzial (Lagrange-Funktion) zurück; der Hamilton-­Formalismus beschreibt Mechanismen durch die Gesamtenergie (Hamilton-Funktion). In der Medizin ist das kinetische Potenzial vergleichbar mit der funktionellen Anatomie und die Gesamtenergie mit der regulativen Physiologie. Kinetisches Potenzial (Lagrange-­ Funk­ tion) und Gesamtenergie (Hamilton-Funk­tion) gehen durch Transformation der Koordina­ten ineinander über, sind also zwei sich wechselseitig bedingende Aspekte der Mechanik. Der Lagrange-Formalismus ermöglicht den Einstieg in die einheitliche Feldtheorie, und der Hamilton-Formalismus gibt Einblicke in die Organisationskraft der Natur, insbesondere in ihre dynamische Geometrie. Letzteres ist für die Medizin wichtig, weil die Physiologie als Teilgebiet der Biologie eine morphologische Terminologie besitzt, die sich auf die Struktur und Form der Organe und Gewebe bezieht. Voll zugänglich wird die in den klassischen Strukturen angelegte Intelligenz erst durch den Übergang von der Teilchenmechanik zur „Me-

chanik der Quanten“. Bei der Quantisierung zeigt sich, dass der Lagrange-Formalismus besonders geeignet ist, die hochenergetische Welt der Grundkräfte der Natur einheitlich zu behandeln, während der Hamilton-­Formalismus die Organisationskraft erfasst, die für das Verhalten im Niedrigenergiebereich verantwortlich ist. Die Quantenmechanik, die den Hamilton-Formalismus benutzt, ist ein Zugang zur organisieren Kraft der Quanten (Kraft der Stille), während die Quantenfeldtheorie ein Zugang zur selbstbezogenen Dynamik der Quanten (unendliche Dynamik) ist. >> Das kann auch so ausgedrückt werden, dass in der Quantenmechanik der Grundzustand ein Zustand der geringsten Anregung ist, während in der Quantenfeldtheorie der Grundzustand als Vakuumzustand unendliche Energie besitzt, weil er alle möglichen, „virtuellen“ Wechselwirkungen repräsentiert.

Diese Unterscheidung ist für die integrative Medizin von zentraler Bedeutung, denn die materiellen Strukturen – Kernbausteine, Atom­ kerne, Moleküle, Zellen, Zellsysteme bis hin zum ganzen Körper und zur Gesellschaft  – sind immer an Felder gekoppelt, die für kollektive Ordnungszustände verantwortlich sind (Preparata 1995; Zeiger 1998). In der akademischen Medizin hat die Quantenmechanik zunächst nur im molekularen und atomaren Bereich Anwendung gefunden, während kol­ lektiv-­ kohärente Phänomene, die auf der Wechselwirkung von Materie und Feldern beruhen, d. h. die Domäne der Quantenfeldtheorie, vernachlässigt wurden (7 Abschn. 4.15).  

4.5  Quanten als Brücke

zu den traditionellen Medizinsystemen

Die mit der Quantenmechanik verbundene ganzheitliche Sichtweise führte auch zu einer Renaissance traditioneller Medizinsysteme. Im europäischen Kulturkreis wurde im 20. Jahrhundert in breitem Umfang damit begonnen, die

59 Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin

chinesische Medizin und den indischen Ayurveda für das moderne Leben zu nutzen. Gleichzeitig fand weltweit eine Stärkung der lokalen bodenständigen Systeme der Medizin statt. Diese globale Entwicklung charakterisiert H.  Primas von der Technischen Hochschule Zürich 1984 in seinem Lehrbuch für Studenten der Chemie folgendermaßen (Primas und Müller-Herold 1984):

»» „Die Parallelen zwischen den überlieferten

Ideen des Fernen Ostens und der Quantenmechanik sind faszinierend. Im Gegensatz zur kartesischen mechanistischen Weltauffassung ist die östliche Weltsicht organisch, sie betont die Einheit des Universums und betrachtet die von unseren Sinnen wahrgenommenen Dinge lediglich als verschiedene Aspekte ein und ­derselben Realität. Ähnlich lehrt uns die Quantenmechanik, die Welt nicht als eine Ansammlung einzelner für sich selbst existierender Dinge zu sehen, sondern als Einheit, in welcher Objekte nur in Zusammenhang mit ihrer Wechselwirkung mit dem Beobachter und seinen Abstraktionen existieren.“

Die Quantenmechanik ist Teil einer globalen kulturellen Entwicklung, die die moderne Wissenschaft zunehmend in Übereinstimmung mit den uralten Erkenntnissen der Menschheit gebracht hat. Die damit einhergehende Erneuerung traditioneller und bodenständiger Medizinsysteme zählt zu den wichtigsten Konsequenzen dieser Entwicklung. Die Quantenphysik ist aber nicht nur symptomatisch für diese Entwicklung, sondern auch eine treibende intellektuelle Kraft. Die ganzheitliche Sicht der Quantenmechanik eröffnet die Möglichkeit, die bisherige Vorgehensweise der Naturwissenschaften grundlegend zu verändern, sodass deren negative Auswirkungen gestoppt werden können. So haben die Entdeckungen der klassischen Physik und Chemie nicht nur Vorteile, sondern auch Schäden und Störungen der Umwelt hervorgebracht, die Anwendung der Erkenntnisse der Molekularbiologie durch Genmanipulation birgt die Gefahr unkontrollierbarer Ver-

4

änderungen der DNA, und die bisherigen Einsatzformen der Kernenergie haben die Menschheit an den Rand der Zerstörung geführt. Solche Auswirkungen der einseitigen Anwendungen der Naturgesetze können durch die integrierte Berücksichtigung aller Naturgesetze beseitigt bzw. verhütet werden. Praktisch verwirklicht wird das durch die Verbindung jedes speziellen Bereichs der Aktivität mit dem absoluten Bereich der Ordnung. Das wird in der Quantenmechanik als unitäre Transformation bezeichnet. Der Begriff der unitären Transformation bildet die intellektuelle Brücke zum quantenmechanischen Verständnis der traditionellen Medizinsysteme und deren erfolgreicher Anwendung. Charakteristisch für die alten Kulturen ist, dass ihre Annäherung an die Wirklichkeit immer sowohl den objektiven als auch den subjektiven Blickwinkel mit einschließt. Dieselbe Sichtweise findet sich auch ansatzweise in der Quantenmechanik, in der objektive Größen wie Impuls, Energie und Drehimpuls als komplementär zu den subjektiven Größen Raum, Zeit und Richtung im Raum beschrieben werden, mit dem Wirkungsquantum als integrierender Konstante. Am Beginn der modernen Wissenschaft steht die Unterscheidung von absoluter Zeit und relativer Zeit. Unter absoluter Zeit versteht I. Newton das Phänomen der Dauer und unter relativer Zeit die gemessene Zeit, d. h. ein bestimmtes Maß der Dauer. Das Konzept der absoluten Zeit oder Dauerhaftigkeit führte historisch von der klassischen Teilchenmechanik zur Quantenstatistik und den makroskopischen Quantenzuständen, die auch für das Leben charakteristisch sind. Entsprechend bringt das in Indien überlieferte Wissen vom Leben „Ayurveda“ die Bedeutung der absoluten Zeit für ein gesundes Leben mit der Bezeichnung „Ayu“ zum Ausdruck, was in Sanskrit Langlebigkeit bedeutet. Das Konzept der gemessenen Zeit führte in der Entwicklung der modernen Wissenschaft über die Relativitätstheorie zur Supergravitation und zum einheitlichen Feld aller Naturgesetze. Dieselbe vereinheitlichte Weltsicht findet

60

4

B. Zeiger

sich in allen traditionellen Medizinsystemen nicht nur im Ayurveda, sondern auch in der chinesischen Medizin, der griechisch-­ ara­ bischen Medizin und vielen anderen traditionellen Medizinsystemen weltweit. Das Problem, das ein Mediziner Anfang des 21. Jahrhunderts mit der Quantenmechanik hat, ist ihre hoch spezialisierte mathematische Sprache. Erst wenn diese Hürde genommen wurde, kann damit begonnen werden, die differenzierten Erkenntnisse der Anatomie und Physiologie in die „Quantensprache“ zu integrieren. Was das Eindringen in die Struktur der Quantenmechanik erleichtert, ist einerseits die Beschäftigung mit den überlieferten Weisheiten und anderseits die bewusstseinsbezogene Interpretation der Quantenmechanik. Wie R. Oppenheimer (1955) feststellte,

»» „… sollten wir uns dabei vor Augen halten, dass die allgemeinen Vorstellungen vom Denken und von der menschlichen Gemeinschaft, die durch die Entdeckungen der Quantenphysik beleuchtet werden, keineswegs völlig unbekannt, völlig unerhört und neu sind. Auch in unserer Kultur haben sie ihre Geschichte, und im buddhistischen und im hinduistischen Denken nehmen sie einen noch wichtigeren und zentraleren Platz ein. Was wir finden werden, ist eine Bestätigung, Belebung und Vertiefung alter Weisheit. Und wir werden uns nicht darüber zu unterhalten brauchen, ob sie in dieser veränderten Form alt oder neu ist.“

4.6  Der Bewusstseinsbezug der

Quantenmechanik

Einem Physiker stellt sich die Frage nach der Deutung der Quantenmechanik meist nicht. Die Quantenmechanik ist für ihn ein gesichertes formales Schema, das erwiesenermaßen geeignet ist, auf computerunterstützte Weise Vo­raussagen über das Verhalten der Materie zu machen. Anders ist die Situation, wenn versucht wird, die Quantenmechanik auf die Biologie, Soziologie

und Psychologie zu übertragen. In diesem Fall werden als Übersetzungshilfen die Deutungen des Formalismus der Quantenmechanik wichtig. Der Anstoß, ganzheitliche Ansätze zum Verständnis des Lebens zu nutzen, ging v. a. von Ärzten und Therapeuten aus, die bestrebt waren, die engen Grenzen der klassischen Weltsicht zu überwinden. Zu diesen Bestrebungen, die bereits im 19. Jahrhundert begannen, gehören Naturheilmethoden und Homöopathie  – jedes für sich ist inzwischen ein sehr umfangreiches Gebiet. Nachdem sich Mitte des 20. Jahrhunderts die ganzheitliche Sichtweise der Quan­ tenmechanik in der Physik etabliert hatte, wirkte das zusätzlich als Katalysator für die Entwicklung in Richtung Ganzheitsmedizin. Ein Blick auf die Anfang des 21. Jahrhunderts existierenden Ansätze zur quantenmechanischen Begründung einer integrativen Medizin zeigt jedoch, dass auf dem Gebiet der Quantenmedizin immer noch Forschungsbedarf besteht. Konsens herrscht darüber, dass Ganzheitlichkeit das Kennzeichen der Quantenmechanik ist. Die Ganzheitlichkeit der Quantenmechanik drückt sich in folgenden charakteristischen Merkmalen ihres Formalismus aus: 55 Selbstbezug (Selbstwechselwirkung), 55 Feld aller Möglichkeiten (Freiheit), 55 Nichtreduzierbarkeit (es gibt nichts Grundlegenderes), 55 Verschränkung (uneingeschränkte Verbundenheit), 55 Superposition (Gleichwertigkeit der Zustände), 55 Unitarität (Erhaltung des Gesamtwissens). Da dies auch Eigenschaften von Bewusstsein sind, ist die denkbar allgemeinste Deutung der Quantenmechanik eine bewusstseinsbezogene. Das lässt eine Bewusstseinsinterpretation der Quantenmechanik prinzipiell sinnvoll erscheinen (Zeiger 1983a). Damit diese ohne subjektive Willkür verwirklicht werden kann, verlangt die wissenschaftliche Vorgehensweise ein ständiges Zusammenspiel von Theorie und Erfahrung. Aus rein wissenschaftlichen Gründen war es deshalb wichtig, dass die überwiegend

61 Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin

objektiv ausgerichtete moderne Wissenschaft den überwiegend subjektiven Zugang zu den Naturgesetzen durch die uralte vedische Wissenschaft kennenlernte, die das gesamte Potenzial des Naturgesetzes unmittelbar im Bewusstsein entdeckt (7 Kap. 34, Ayurveda, Yoga und Meditation – Maharishi Vedische Medizin). Die einfachste Form von Bewusstsein  – auch reines Bewusstsein genannt  – ist selbstbezogenes Bewusstsein, d. h., Bewusstsein erkennt sich selbst und nur sich selbst. Selbstbezug ist die elementarste Form der Subjekt-­Objekt-­Beziehung, in der das Subjekt und das Objekt und damit auch der Erkenntnisprozess auf derselben Ebene agieren, also fast identisch sind. Eine andere Bezeichnung für die einfachste Form des Bewusstseins ist transzendentales Bewusstsein, der Zustand des Bewusstseins, der die Voraussetzung bzw. Bedingung für Erfahren und Erkennen ist. Die transzendentale Realität ist nicht außerhalb oder „jenseits von Welt und Wirklichkeit“, sondern als deren einfachste Form ihr Innerstes und gleichzeitig ihr Ursprung. Der Begriff „transzendentales Bewusstsein“, so wie er seit I.  Kant und der europäischen Aufklärung verwendet wird, kennzeichnet sehr genau das, was mit der Quantenmechanik Eingang in das wissenschaftliche Denken gefunden hat. C. F. von Weizsäcker wurde durch die Überlegungen von I. Kant zum Programm einer transzendentalen Begründung der Quantenme­ chanik angeregt, was gleichbedeutend mit einer bewusstseinsbezogenen Begründung ist (von Weizsäcker 1974). Das gilt unabhängig davon, ob es direkt ausgesprochen wird, wie es C. F. von Weizsäcker tut, oder nicht. Eine Bewusstseinsinterpretation der Quantenmechanik ermöglicht, 55 die Quantenmechanik jedem Menschen unmittelbar verständlich zu machen – ohne die Brücke über die physikalischen Experimente, 55 jede einzelne Disziplin über den Bewusstseinsbezug mit jeder anderen Disziplin zu verbinden und zu Zweigen einer vollständigen Wissenschaft des Lebens zu machen,  

4

55 jeder einzelnen Disziplin den fehlenden quantenmechanischen Aspekt hinzuzufügen. Durch drei Entdeckungen ist die Bewusstseinsinterpretation der Quantenmechanik ein sicheres Fundament jenseits aller Deutungswillkür: kDie subjektbezogene Entdeckung, dass das vereinheitlichende Element in der Natur der Selbstbezug ist

»» „Das Sein und das Geschehen sind

untrennbare Vorstellungen aufgrund des Phänomens der Selbstwechselwirkung.“ (Ford 1966)

kDie auf den Erkenntnisprozess bezogene Entdeckung, dass es unterschiedliche Sichtweisen gibt, die unterschiedlichen Zuständen des Bewusstseins entsprechen

»» „Wir sind vom Beobachter zum Teilnehmer befördert worden.“ (Wheeler und Patton 1974)

kDie objektbezogene Entdeckung, dass die letzte Entscheidung darüber, was objektiv erkannt wird, im Bewusstsein getroffen wird

»» „Es hat sich herausgestellt, dass es nicht

möglich ist, ohne Bezug auf das Bewusstsein die Prinzipien der Quantenmechanik auf völlige widerspruchsfreie Weise zu formulieren.“ (Wigner 1967)

>> Das alles bedeutet, dass die Natur des Bewusstseins dieselbe ist wie die ganze Natur.

Quanten charakterisieren die ganze Natur, denn sie sind 55 die Repräsentanten des Selbstbezugs, 55 das einheitsstiftende Element der drei Paare komplementärer Größen: 55 Energie-Zeit, 55 Drehimpuls-Winkel, 55 Impuls-Ort,

62

B. Zeiger

55 das Mehrwissen, das über die klassische Welt hinausführt (was oft irreführend als „Unbestimmtheit“ bezeichnet wird). 4.7  Sieben Sprachen der Natur als

4

Grundlage der integrativen Medizin

Die bewusstseinsbezogene Deutung der Quantenmechanik erlaubt es, das Wechselspiel von Wirklichkeit und Sichtweise systematisch zu erfassen und dadurch praktisch zu nutzen. Die Beziehungen zwischen Realität und Bewusstsein bilden den sprachlichen Kern der integrativen Medizin. Bei der Aufklärung der sprachlichen Konsequenzen, die sich aus dem Zusammenwirken von Bewusstsein und Wirklichkeit ergeben, hat H.  Primas, Zürich, in den 1970er-Jahren Pionierarbeit geleistet. Er schreibt:

»» „Die Quantenmechanik eröffnet grund-

sätzlich neue Möglichkeiten, sich mit der Vielschichtigkeit der Natur ganzheitlich auseinanderzusetzen. Sie zeigt uns, dass selbst im Bereich der engeren Naturwissenschaft die ganze Wirklichkeit nicht global fassbar ist, sondern eine Vielfalt von klassischen Naturbeschreibungen unvermeidlich ist. Die gängige Hoffnung, dass eine bestimmte Betrachtungsweise letztlich stimmiger und einleuchtender ist als alle anderen, hat sich als trügerisch erwiesen.“ (Primas und Gans 1979)

Das Subjekt kann entweder die klassische oder die quantenmechanische Sichtweise annehmen. Synonyme für Sichtweise sind Standpunkt oder Betrachtungsweise. Es gibt zwei extreme Sichtweisen: 55 In der klassischen Sicht bleibt das Subjekt unbeteiligt im Hintergrund, und es dominiert die Betrachtung der Objekte oder Systeme. Typisch für die klassische Sichtweise ist der Begriff eines bestimmten fest umrissenen Weltbilds mit Objekten, die

durch Raum, Zeit und Orientierung bestimmt werden. 55 In der Quantenmechanik wird aus dem unbeteiligten Beobachter ein Teilnehmer. Die Standpunkte liegen nicht fest, sondern sind frei wählbar, und es dominiert die uneingeschränkte Verbundenheit. Alles ist mit allem korreliert und bildet über die Realität der Selbstwechselwirkung eine Einheit. Es gibt kein Weltbild das für alle und jeden gilt. Wird die undifferenzierte Einheit von Subjekt und Objekt in irgendeiner Form einschränkt, entstehen Systeme, Objekte, Teilchen, Wechselwirkungen und Felder, und es lassen sich drei Arten von Realität unterscheiden 55 klassische, teilchenbezogene Realität 55 quantenmechanische, ganzheitliche Realität, 55 die Lücke oder der Übergang zwischen quantenmechanischer und klassischer Realität. Das Zusammenwirken der zwei extremen Sichtweisen mit den drei Arten von Realitäten führt insgesamt auf sieben Sprachen, die für jedes integrierte Wissenssystem typisch sind, also auch für die integrative Medizin: Sieben Sprachen der Natur 1. Klassische Sichtweise der klassischen Realität 2. Quantenmechanische Sichtweise der klassischen Realität 3. Klassische Sichtweise der quantenmechanischen Realität 4. Quantenmechanische Sichtweise der quantenmechanischen Realität 5. Lücke zwischen quantenmechanischer und klassischer Realität 6. Klassische Sichtweise der Lücke 7. Quantenmechanische Sichtweise der Lücke

Durch das Zusammenspiel von Sichtweise und Realität, den Bewusstseinsbezug, wird eine fä-

63 Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin

cherübergreifende Gesamtstruktur sichtbar, die in Form der sieben Sprachen die Grundlage jedes integrativen Wissenssystems bildet. Die sieben Sprachen sind die sprachliche Mindestvoraussetzung für jedes vollständige Wissenssystem (Zeiger 1983b). Im Fall der Medizin entsprechen den einzelnen Sprachen unterschiedlichen Ansätzen der Medizin und damit verschiedenen Funktionsebenen der Physiologie. Das Gesamtsystem der sieben Sprachen führt zum begrifflichen System der integrativen Medizin (7 Abschn.  4.13). Grundlage der integrativen Medizin ist deshalb ein Prozess der Bewusstseinsentwicklung, der systematisch alle möglichen Bewusstseinszustände durchläuft und damit alle Sprachen der Natur zugänglich macht, indem die entsprechenden Qualitäten der Intelligenz entwickelt werden. Die sieben Sprachen werden zur detaillierten Darstellung in drei Gruppen aufgeteilt entsprechend der Drei-in-Eins-Struktur der Dynamik. Zunächst werden in diesem Abschnitt die drei ersten Sprachen erläutert, die die klassischen Strukturen in Bezug zur quantenmechanischen Realität behandeln. Im darauffolgenden Abschnitt werden die drei letzten Sprachen erläutert, die ­schwerpunktmäßig der Organisationskraft des Übergangs vom Klassischen zum Quantenmechanischen darstellen, was die Domäne der Informationsmedizin ist, deren besondere Rolle in 7 Abschn. 4.8 behandelt wird. Schließlich wird unter dem Gesichtspunkt der Strukturen der Ganzheit die vierte Sprache ausführlich dargestellt (7 Abschn. 4.9).  





4.7.1  Klassische Sicht der

klassischen Realität

Sie steht durch die Dominanz der klassischen Physik im Mittelpunkt der akademischen Ausbildung eines Mediziners. Die Bedingungen des zeitunabhängigen dynamischen Gleichgewichts sind das Hauptthema der klassischen Thermodynamik. Wie die wissenschaftliche Forschung im 20. Jahrhundert ergab, gilt die Thermodynamik nicht nur für Maschinen, wozu sie ursprünglich entwickelt wurde, sondern auch für die energeti-

4

schen Verhältnisse bei Lebewesen. Zur Charakterisierung des Gleichgewichts benutzt die Thermodynamik insgesamt vier energiebezogene Potenziale, und die inneren und äußeren Bedingungen für das Gleichgewicht werden durch variable Größen (Freiheitsgrade) spezifiziert, zu denen neben Druck und Temperatur die Größen gehören, die das Verhalten der Stoffe charakterisierenden und die als „chemische Potenziale“ bezeichnet werden. Mithilfe eines von E. Guggenheim benutzen quadratischen Schemas lässt sich leicht ermitteln, welche Variablen zu einem bestimmten thermodynamischen Potenzial gehören (. Abb.  4.1). Die elementaren Systeme der biologischen Thermodynamik sind Zellen und Zellverbände, die als offene Systeme in ständigem Stoff- und Energieaustausch mit der Umgebung stehen. Das Gleichgewicht ist in diesem Fall ein Fließgleichgewicht. Jedes Lehrbuch der Physiologie enthält ein Kapitel über den Energiehaushalt der Zellen aus thermodynamischer Perspektive. Prinzipiell wird das Gleichgewicht von Vielteilchensystemen durch drei Merkmale zahlenmäßig festgelegt: 55 die Anzahl der homogenen Bereiche eines Systems (Phasen), 55 die Anzahl der unabhängigen stofflichen Komponenten (Stoffe), 55 die Zahl der unabhängig voneinander veränderlichen Freiheitsgrade des Verhaltens wie chemische Potenziale.  

Zwischen diesen drei Größenarten besteht ein gesetzmäßiger Zusammenhang (Gibbs-­Regel): Homogene Bereiche  – Stoffe + Freiheitsgrade = 2 Dieses Grundgesetz regelt das Zusammenwirken innerhalb eines von der Umwelt unterscheidbaren, aber mit ihr im Austausch stehenden Systems. Die klassische Unterscheidung von System und Umwelt führt auf Begriffspaare wie „offen“ und „geschlossen“, „innen“ und „außen“ sowie zu dem daraus abgeleiteten Begriff des „Randbereichs“, z.  B.  Systemgrenzen, Oberflächen, Membranen. Die klassische Sicht der klassischen Realität wird in 7 Abschn. 4.12 in Verbindung mit dem Ayurveda erneut aufgegriffen und vertieft.  

64

B. Zeiger

4.7.2  Quantenmechanische Sicht

der klassischen Realität

4

Als semi-klassisch werden alle Theorien und Formalismen bezeichnet, in denen die klassische Realität quantenmechanisch gesehen wird. Die quantenmechanische Sicht des Klassischen bringt die alles verbindende, quantenmechanische Realität ans Licht, die im Klassischen verborgen ist. Die semi-klassische Vorgehensweise findet ihren Niederschlag in den Formalismen, die den Rückbezug vom Klassischen zum Quantenmechanischen exakt beschreiben. Typisch für diese Sichtweise ist das Doppelspalt-Gedankenexperiment. In der „Doppelspalt-Anordnung“ erreicht ein Teilchen, das sich von einer Quelle als Startpunkt (Ausgangszustand) in viele Richtungen bewegen kann, über den aus mehreren Spalten versehenen Durchgangsbereich (Selektionsbereich) den Zielbereich(Endzustand). Da das Teilchen mehrere Spalten passieren kann, hat es mehrere Wege zur Auswahl, um das Ziel zu erreichen. Verhält sich das Teilchen klassisch, gibt es genau einen Weg bzw. Pfad, den es immer wieder nimmt, nämlich den, bei dem der Aufwand (die Aktion) gleich bleibt bzw. niedrig ist. Ist sich aber ein Teilchen aller Möglichkeiten „bewusst“, so wird es jeden der möglichen Pfade berücksichtigen, d. h., es hat subjektiv gesehen ein „unbegrenztes Bewusstsein“. Unbegrenztes Bewusstsein bedeutet formal die Überlagerung von Wellen unendlicher Ausdehnung (Posser 1974). Der semi-­ klassische Zugang zur quantenmechanische Realität wurde u.  a. zur Untersuchung des Lichttransports im Gewebe und der Elektronenbewegung im Gehirn benutzt (Miranker 2006).

tion spezifischer Verhaltensmuster in den quantenmechanischen Bereich erfolgt in Form unitärer Transformationen und hebt deshalb den holistischen Charakter nicht völlig auf. Die Semi-Empirik dominierte im 20.  Jahrhundert die computerunterstützte Anwendung der Quantenmechanik, insbesondere in der Chemie (Computerchemie, Chemoinformatik). Uni­ täre Transformationen vereinfachen die mathematische Beschreibung von Naturgesetzen. Ihre Bedeutung für die Quantenmedizin besteht darin, dass Therapien dieser Art keinerlei schädliche Nebenwirkungen haben, weil ständig eine direkte Beziehung des Klassischen zum quantenmechanischen Bereich vollkommener Ordnung besteht. Typisch für diese drei Sprachen ist das Auftreten von neun verhaltensbestimmenden Größen, die sich zu 3 × 3-Matrizen zusammenfassen lassen, wie es . Abb.  4.1 veranschaulicht. Eine besondere Bedeutung hat dabei die 3 × 3-Matrix des Zusammenspiels von Beobachter, Beobachtungsvorgang und Beobachtungsobjekt, die in 7 Abschn.  4.9 genauer behandelt wird. Dort wird die vierte Sprache ausführlich dargestellt, die der quantenmechanischen Sicht der quantenmechanischen Realität entspricht.  



4.7.4  Quantenmechanische Sicht

der quantenmechanischen Realität

Die reine quantenmechanische Realität kennt keine klassischen Phänomene. Als Bewusstsein erkennt sich die quantenmechanische Realität selbst, sie steht in Wechselbeziehung mit sich selbst. Die Selbstwechselwirkung bringt die fundamentalen Strukturen der Ganzheit hervor (7 Abschn. 4.9). In der Quantenmechanik wird die holistische Symmetrie der reinen quantenmechanischen Realität durch die Gruppe sämtlicher unitärer Transformationen eines unendlich dimensionalen Zustandsraums beschrieben. Für die quantenmechanische Sicht der quantenmechanischen Realität ist der menschliche Körper ein unteilbares Ganzes.  

4.7.3  Klassische Sicht der quan-

tenmechanischen Realität

Sie bringt das Klassische in Form beobachtbarer Größen (Empirie) in die Quantenmechanik hinein, weshalb solche Sprachen auch als semi-empirisch bezeichnet werden. Die Integra-

65 Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin

>> Ziel der Quantenmedizin ist die exakte quantenmechanische Beschreibung der ganzheitlichen Strukturen des menschlichen Körpers.

Die vier Sprachen können unterschiedlichen Ebenen der Physiologie zugeordnet werden (. Tab. 4.3). Die vier Sprachebenen bilden die Grundlage der drei Sprachen der Lücke zwischen klassischer und quantenmechanischer Realität, auf der die Informationsmedizin beruht (7 Abschn. 4.7). Insgesamt findet durch die Beschäftigung mit dem System der sieben Sprachen eine bewusstseinsmäßige Belebung der Wissens- bzw. Informationsstruktur statt, die der Physiologie zugrunde liegt. Diese Belebung erfolgt durch Transformationen in der Lücke zwischen klassischer und quantenmechanischer Realität, was die Aufgabe der Therapien der Informationsmedizin ist.  



4.8  Sprachen der Transformation:

Informationsmedizin

Durch die Unterscheidung von klassischer und quantenmechanischer Realität existiert ein Verbindungsbereich oder Zwischenbereich, in dem der Übergang vom Klassischen zum Quan-

4

tenchemischen stattfindet. Der Zwischenbereich oder Übergangsbereich zwischen klassischer und quantenmechanischer Realität wird oft kurz Lücke (engl. gap) genannt. Der Verbindungsbereich ist für die integrative Medizin von zentraler Bedeutung, denn in diesem Bereich finden die Transformationen statt, durch die alle Störungen in der geordneten Funktionsweise der Bestandteile des Körpers beseitigt werden, aber auch Störungen in der Geist-Körper-Koordination. >> Der Verbindungsbereich ist die Angriffsstelle der Informationsmedizin, die auf der Kernaussage der Informationstheorie beruht, dass Wissen organisierende Kraft hat bzw. dass Information gleich Energie ist.

Diese Kernaussage der Informationstheorie wird durch die drei Sprachen der Lücke präzisiert: 55 Eigenständige Sprache der Lücke zwischen klassischer und quantenmechanischer Realität, z. B. die Sprache der gemischten Zustände, zur Spezifizierung der Erinnerung als charakteristisches Phänomen der Lücke (5), 55 klassische Sicht der Lücke, z. B. die Übergangswahrscheinlichkeiten zwischen Zuständen (6),

..      Tab. 4.3  Vier Ebenen der Sprache in der Physiologie Ebene der Sprache

Charakter der Sprachebene

Physikalische Sprache

Ebene der Physiologie

Klassische Realität – klassisch gesehen

Manifeste Teilchen und Systeme

Klassische Thermodynamik

Zellen, Gewebe, Gefäße, DNA

Klassische Realität – quantenmechanisch gesehen

Unterscheidend, spezifizierend, aufzählend, vereinigend, analysierend, integrierend

Semi-klassische Quantenmechanik

Wahrnehmungssystem, Unterscheidungsvermögen, Thalamus

Quantenmechanische Realität – klassisch gesehen

Spontaner Ausdruck, transformierend, expandierend, selbstbezüglich, quantifizierend, regulierend

Semi-empirische Quantenmechanik

Autonomes Nervensystem, Hormonsystem, Hypothalamus

Quantenmechanische Realität – quantenmechanisch gesehen

Transzendentale Ebene der Sprache: reines Bewusstsein

Quantenmechanischer Grundzustand

Ganzer Organismus, „quantenmechanischer Körper“

66

B. Zeiger

Informationsmedizin

klassische Umgebung

4

1. Erinnerung an das Quantenmechanische, 2. Erinnerung an das Klassische im Quantenmechanischen 1. Rückbezug zur Quantenrealität

Klassisches quantenmechanisch gesehen reine Quantenrealität

quantenmechanische Umgebung klassisches System

quantenmechanisches System

klassisches System in klassischer Umgebung

reine Quanten- GrundRealität zustand 2. Neuaufbau des Klassischen aus dem Quantenmechanischen

Therapie Vier Schritte der Informationstherapie Wahrnehmung, Diagnose

Grundzustand

Entspannung, Stressabbau

Quaternäre Struktur der Informationsmedizin

Zwei Therapierichtungen der Informationsmedizin:

kollektive Kohärenz Synergie

Theorie

unitäre Transformation Gleichgewicht, Ordnungszentrum

quantenmechanisches klassisch gesehen

..      Abb. 4.3  Theorie und Praxis der Informationsmedizin

55 quantenmechanische Sicht der Lücke, z. B. die vollständige Charakterisierung der Information der Lücke durch Überlagerung reiner Zustände (7). Die Beziehung zwischen den drei organisationsbezogenen Sprachen der Lücke und den vier strukturbedingten Sprachbereichen wird von B. Köhler als 3 + 1-Prinzip bezeichnet, und er sieht darin den Kern der Informationsmedizin (Köhler 1997) (. Abb. 4.3). Die Basis der Therapien der Informationsmedizin ist die Belebung aller möglichen Beziehungen auf der Grundlage der Ebene, auf der alles mit allem verbunden ist. Diese typisch quantenmechanische Eigenschaft der uneingeschränkten Verbundenheit wird in der Physik auch als EPR-Korrelation bezeichnet. EPR sind die Anfangsbuchstaben der Namen von Einstein, Podolsky und Rosen, die 1935 ein Gedankenexperiment veröffentlichten, das die Besonderheit des quantenmechanischen Formalismus erstmals klar benennt: nämlich dass sogar zwischen räumlich weit entfernten Zuständen, selbst wenn es keine Wechselwirkungen zwischen ihnen gibt, trotzdem eine Verbindung besteht. Voraussetzung für diese „geisterhafte Fern­ wirkung“ (A.  Einstein) ist, dass die Zustände einen gemeinsamen Ursprung haben. Eine sol 

che nichtklassische und nichtlokale Verbindung kann als Erinnerung an den Ursprung angesehen werden und besagt, dass im Universum kein Objekt von seiner Umgebung völlig isoliert werden kann: Das Universum ist ein unteilbares Ganzes. Diese typisch quantenmechanische Eigenschaft wird auch als Verschränkung bezeichnet, weil dann der Zustand eines Systems nicht durch seine Teile allein bestimmt ist. A. Einstein und allen klassisch denkenden Naturwissenschaftlern bereitet diese Fernwirkung durch Verschränkung Verständnisschwie­ rigkeiten, denn sie widerspricht anscheinend der Erfahrung, dass Objekte und Phänomene unabhängig voneinander auftreten. Dieser Widerspruch wird durch den Formalismus der Quantenmechanik dadurch aufgelöst, dass die Eigenschaft der unendlichen Korrelation, die in der Wellenfunktion auf der quantenmechanischen Ebene enthalten ist, allein nicht genügt, um die Strukturen und Aktivitäten zu begründen, die auf der klassischen Oberflächenebene der Wirklichkeit beobachtet bzw. hervorgebracht werden. Es sind zusätzliche Vorgehensweisen erforderlich, die die spezifische, klassische Ebene der Wirklichkeit mit dem unspezifischen, quantenmechanischen Bereich absoluter Ordnung verbinden. Das er-

67 Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin

möglichen die überall wirksamen und zeitlosen Naturgesetze. Im formalen Schema der Quantenmechanik gibt es deshalb zusätzlich zur Beschreibung der unendlichen Korrelation durch die Wellenfunktion noch bestimmte Regeln (Gesetzmäßigkeiten, Formeln, Gleichungen, Effekte), die genauer spezifizieren, wie die Wellenfunktion alles Verhalten bis hin zu den klassisch-beobachtbaren Phänomen reguliert. Die Quantenmechanik umfasst also zweierlei: 55 die Beschreibung des Bereichs uneingeschränkter Verbundenheit und 55 Regeln bzw. Gesetzmäßigkeiten für den Übergang zu den beobachteten Phänomenen. Beides gehört zusammen. Der Übergang vom universellen Aspekt der Naturgesetze zu bestimmten spezifischen Ausdrucksformen der Naturgesetze entspricht formal dem Übergang zu bestimmten Untergruppen der umfassenden Symmetrie, was auf einer Entscheidung darüber beruht, von welchen EPR-­Korrelationen abgesehen wird. Diese Korrelation existiert zwar nach wie vor, rückt aber durch die gewählte Betrachtungsweise in den Hintergrund. Nur dadurch, dass von bestimmten Korrelationen abgesehen wird, sind beobachtbare Phänomene und Strukturen erst möglich. Die elementarste klassische Unterscheidung erfolgt zwischen einem System und seiner Umgebung sowie innerhalb eines Systems zwischen einem klassischen und einem quantenmechanischen Bereich. Die zentrale biologische Erkenntnis der Quantenmechanik besagt, 55 dass es kein quantenmechanisches System in einer quantenmechanischen Umgebung gibt und 55 dass die Unterscheidung zwischen System und Umwelt nur in den folgenden Situationen sinnvoll ist: 55 klassisches System in quantenmechanischer Umgebung, 55 quantenmechanisches System in klassischer Umgebung, 55 klassisches System in klassischer Umgebung.

4

>> In einer quantenmechanisch begründeten Medizin sind also insgesamt vier Situationen therapeutisch relevant, die sich paarweise ordnen lassen in die beiden Extreme der rein quantenmechanischen Realität einerseits und des rein klassischen Systems in klassischer Umgebung andererseits sowie dem Klassischen eingebettet in das Quantenmechanische und umgekehrt.

Die Lücke zwischen klassischer und quantenmechanischer Realität hat als Bereich der Erinnerung und des Gedächtnisses den Status einer eigenen Realität. Das Verständnis der Transformationsmechanismen in den Übergangsbereichen ergänzt somit sowohl die Betrachtung des Gleichgewichts durch die Thermodynamik als auch die quantenmechanische Dynamik. In der akademischen Wissenschaft wird der Blickwinkel der Transformationsdynamik im Übergangsbereich als kinetische Theorie bezeichnet. Die kinetische Theorie verbindet die mikroskopische Welt mit dem Makroverhalten. Der Denkansatz der kinetischen Theorie entstand als Beschreibung der Mechanismen des Übergangs zwischen Gleichgewichtszuständen im 19.  Jahrhundert. Diese Transformationsdynamik lässt sich immer durch einen vierstufigen Mechanismus beschreiben, der als kinetisches Elementarschema bezeichnet werden kann (Zeiger 1975). Kinetisches Elementarschema 55Übergang vom klassischen zum quantenmechanischen Verhalten (Eintauchvorgang) 55 Ruhezustand der Wechselwirkung (Zusammenstoß) 55 Belebung spezifischer Arten der Wechselwirkung (Erinnerung) 55 Ausdruck der Wechselwirkung im Verhalten (Auftauchvorgang)

Die kinetische Theorie als Brücke zwischen makroskopischem Verhalten und mikroskopischen Wechselwirkungen ist mit dem Namen

68

4

B. Zeiger

L.  Boltzmann (1844–1906) verknüpft und führte zur Entdeckung der nach Boltzmann benannten Naturkonstante, die mit dem Buchstaben k abgekürzt wird. Mithilfe der Boltzmann-Konstanten lässt sich aus der Zahl der unabhängigen Mikrozustände einer Gesamtheit von Teilchen die makroskopische Entropie als Maß für die innere Unordnung des Systems berechnen. Die Boltzmann-­Konstante charakterisiert auch die Energieeinheiten von Systemen, für die eine Temperaturskala T als Maß des Aktivitätszustands definiert werden kann. Die kleinste Einheit der mittleren Energie eines Teilchens ist dann das Produkt k • T. Diese Beziehung gilt nicht nur für die Gastemperatur, sondern auch für die Temperatur schwarzer Löcher oder für die Temperatur von Photonen und anderen kollektiven Systemen. Der eigenständige Blickwinkel der kinetischen Theorie ist bisher nur ansatzweise im allgemeinen Denken angekommen, was eine Haupthürde bei der Einordnung und beim Verständnis bestimmter Verfahren der stofflichen Aufschließung und Aktivierung ist, wie sie in Homöopathie, Spagyrik und auch im Ayurveda beschrieben werden. Diese Potenzierungsverfahren widersprechen zwar der klassischen Vorstellung vom Wirkstoff, aber nicht dem Konzept des Übergangszustands, wie er für die chemische Kinetik typisch ist. Übergangszustände haben nur kurzzeitige Existenz und deshalb verschwindende Konzentration im Gleichgewichtszustand, den sie aber letztlich bewirken. Im Gleichgewicht als dynamischer Zustand von Hin- und Rückreaktion ist der Übergangszustand nur als Erinnerung lebendig. Durch die kinetische Theorie des Übergangsbereichs lassen sich die Homöopathie und damit verwandte Methoden nahtlos in den Gesamtrahmen des modernen Naturverständnisses einordnen. Sie sind Verfahren, um die Materie auf ihren Informationsgehalt zu reduzieren. Die Reduktion der Materie auf Information bedeutet eine Belebung der Naturgesetze, die für die Beziehung zwischen den klassischen Teilchen und der alles verbindenden quantenmechanischen Realität verantwortlich sind. Im Fall der Homöopathie bedeutet das, dass das Lö-

sungsmittel als „Quasi-Vakuum“ eine doppelte Funktion hat; einerseits repräsentiert es die Stille der quantenmechanischen Realität und andererseits die Erinnerung an die Natur der gelösten Stoffe (Leick 2006). Das Homöopathikum wird in das flüssige Milieu des Organismus aufgenommen und verändert sein Quasi-Vakuum, das Zellmilieu. Das Zellmilieu steht in enger Wechselbeziehung zu den Proteinen, die wiederum in Wechselbeziehung zur DNA, dem „Gedächtnis“ der Zelle, stehen. Auf dieser Kette von Wechselwirkungen beruht gemäß dem aktuellen Erkenntnisstand die Wirkung von homöopathischen Mitteln (Dei und Bernardini 2015). 4.9  Informationsmedizin als

Bücke zur integrativen Medizin

Im System der sieben Sprachen der Natur drückt sich ein Entfaltungsprozess der Erkenntnis aus, der von unmittelbarer medizinischer Bedeutung ist, weil sich darin der Prozess der Bewusstseinsentwicklung widerspiegelt, der jeder Gesundung und Heilung vorausgeht. H. Primas (Primas und Gans 1979; Primas 1981) von der ETH Zürich hat als erster nachgewiesen, dass sich dieser Entfaltungsprozess aus der Existenz der quantenmechanischen Wirklichkeit ableitet:

»» „Die empirisch gegebene Schichtenstruk-

tur der Natur ist eine Folge des ganzheitlichen Charakters der Quantenmechanik als Basissprache, die auf Einschränkung mit Strukturbildung reagiert. Das Entstehen von qualitativ Neuem, d. h. von neuen Kategorien des Seins und Geschehens, ist zwar nicht deterministisch voraussagbar, kann aber systematisch beschrieben werden. Die quantenmechanische Basissprache gilt für alle Theorien und Klassifizierungen. Bei ihrer Aktualisierung treten immer unvereinbare Beschreibungsweisen auf und es gibt keine für alle Zwecke geeignete Klassifizierungen. Klassifizierungen sind immer zweckbezo-

69 Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin

gen (Pragmatik) und die Beschreibung in Begriffen der fundamentalen Sprache ist niemals die einfachste Beschreibungsweise für einen bestimmten Phänomenbereich.“

Jedem Erfahrungsbereich entspricht eine besondere Sichtweise, und jeder erfordert eine eigene Sprache. Die Namen von Theorien geben einen Hinweis auf die jeweils benutzte Sichtweise, aber auch die Phänomene, bei denen sich eine bestimmte Sprache bewährt hat. >> Insgesamt gilt, dass die Vielfalt der Sichtweisen unvermeidlich ist.

Für die Medizin folgt daraus, dass es nicht genügt, eine Sprache der Natur zu kennen. Vielmehr sind alle Sprachen erforderlich, um die Ausgewogenheit des Bewusstseins und die Gewissheit in der Urteilsfähigkeit zu entwickeln, die zur Verwirklichung dauerhafter Gesundheit erforderlich sind. In der Vielschichtigkeit des Informationsbegriffs spiegelt sich der Prozess, wie sich Bewusstsein entfaltet, wider, denn Information ist der Wert, den ein Subjekt („Empfänger“) einer Nachricht zuordnet. Nachrichten sind alle wahrnehmbaren Sachverhalte, insbesondere aber von einem Sender produzierte sprachliche Gebilde. Die Intention, warum ein Sender Nachrichten produziert, und der Blickwinkel, unter dem ein Empfänger solche Nachrichten versteht, hängen beide vom Bewusstseinszustand ab. Da ein Subjekt jeder Folge von Wahrnehmungen spontan einen Informationswert zuordnet, ist Information das Wissen, das unter einem bestimmten Blickwinkel gewichtet wird. Weil Information eine mentale Struktur ist, die durch den Beobachter in Abhängigkeit vom Bewusstseinszustand bestimmt wird, ist die Informationsmedizin die natürliche Brücke zur integrativen Medizin (. Tab.  4.4). Um alle möglichen Sichtweisen und Bewusstseinszustände integrieren zu können, erfordert die Informationsmedizin den Rückbezug zur quantenmechanischen Realität. Vorbild- und Modellfunktion bei der Kultivierung des Bewusstseins der Ganzheit haben für die Informationsmedizin die bestehenden  

4

Systeme der Weisheitsmedizin, wie die anthroposophische Medizin von Rudolf Steiner, die Paracelsus-Medizin, die Medizin der Hildegard von Bingen, die ursprüngliche hippokratische Medizin und der Ayurveda als ältestes verfügbares Medizinsystem. Diese bewährten Erkenntnisse sind eine große Hilfe, um grundlegende Begrenzungen im Verständnis der Wirklichkeit zu benennen. Integrative Medizin in ihrer höchsten Bedeutung ist die Belebung der gesamten Reichweite des Bewusstseins und seines organisatorischen Potenzials in Form von Strukturen der Ganzheit, um exakt definieren und begründen zu können, was ein normales und gesundes Leben ist. 4.10  Strukturen der Ganzheit des

Bewusstseins

Die quantenmechanische Sicht der quantenmechanischen Realität, mit dem quantenmechanischen Grundzustand bzw. quantenmechanischen Vakuumzustand als reinstem Repräsentanten, führte im 20.  Jahrhundert zum ganzheitlichen Neuaufbau der bis dahin einseitig objektbezogenen Physik, was sich zunehmend auch auf andere Bereiche der Naturwissenschaft auswirkte (Zeiger und Bischof 1998). Eine Sprache, die die quantenmechanische Sicht der quantenmechanischen Realität optimal erfasst, ist für die integrative Medizin von zentraler Bedeutung. In diesem Abschnitt wird eine solche Sprache vorgestellt, die die Strukturen der Ganzheit an der Nahtstelle von Bewusstsein und Physiologie beschreibt. Die gemeinsame Grundlage der Wechselbeziehung zwischen Quantenmechanischem und Klassischem und damit der sieben Sprachen der Natur ist die Drei-in-Eins-­Struktur der Dynamik, die wiederum durch 3  ×  3  =  9 verhaltensbestimmende Größen näher spezifiziert wird. Zu diesem Ergebnis kommen übereinstimmend die Untersuchungen in den Bereichen der Logik, der Quantenmechanik und der Thermodynamik.

70

B. Zeiger

..      Tab. 4.4  Informationsmedizin als Brücke von der konventionellen Medizin zur integrativen Medizin

4

Drei Entwicklungsstufen der Medizin

Konventionelle Medizin: naturwissenschaftlich begründete Medizin

Informationsmedizin: Einbeziehung der Quantenphysik

Integrative Medizin: Medizin auf quantenmechanischer Grundlage

Sichtweisen und Realität

Überwiegend klassisch

Verbindung von Klassischem und Quantenmechanischem

Integration vieler Sichtweisen und Realitäten

Historischer Stellenwert

Dominantes medizinisches System im 20. Jahrhundert

Innovative methodische Weiterentwicklung der konventionellen Medizin

Geordnete Gesamtheit aus vielen Sprachen und Systemen

Schwerpunkt der Behandlung

Medikamente

Therapievielfalt

Bewusstseinsentwicklung

Gesellschaftlicher Kontext

Kollektive Entwicklung, „Mainstream“

Persönliche therapeutische Erfahrung

Bewusstsein der Ganzheit

Allgemeine Vorgehensweise

Regulativ-rational (feste Richtlinien)

Innovativ-kreativ

Bewusstseinsbezogen

Therapeutische Kriterien

Krankheitssymptome

Unwohlsein, Befindlichkeit

Lebensstil und Lebenssituation

Heilmittel

Durch Inhaltsstoffe definierte Pharmaka (Rezept)

Vom Therapeuten als wirksam anerkannte Mittel und Methoden

Natürliche Transformationsprozesse (Selbstheilung)

Wirkprinzip

Stoffbezogener Ursache-­ Wirkungs-­Mechanismus

Patient-Therapeut-­ Wechselwirkung (Aufmerksamkeit)

Ganzheitlicher Lebenszusammenhang

Diagnostik

Objektive technische Nachweisverfahren

subjektbezogen, unter Verwendung technischer Innovationen

Kultivierung der Wahrnehmung

Ebene der Intelligenz

Objektbezogene Intelligenz

Kreative Intelligenz

Ganzheitliche Intelligenz

Wird Bewusstsein als grundlegender Bereich angesehen, so erhält die 3 × 3-Matrix des Zusammenspiels von Beobachter, Beobachtungsvorgang und Beobachtungsobjekt eine Schlüsselrolle. Die resultierenden 9  Matrix-­ Elemente lassen sich als Bestimmungsgrößen einer Transformationsdynamik verstehen, durch die eine aus 10  Basiselementen bestehende Struktur zu einer dynamischen Einheit wird, indem alle 9  Lücken gefüllt werden. Da die 10 Basiseinheiten per Voraussetzung ebenfalls Ausdruck der Eigendynamik des Bewusst-

seins sind, findet durch das Zusammenspiel der 9 Bestimmungsgrößen mit den 10 Basiselementen ein Vorgang der Selbstentfaltung durch die Selbstwechselwirkung des Bewusstseins statt, während dem sich die Realität des Bewusstseins als ein Ganzes in Form von Strukturen der Ganzheit entfaltet. Die unterschiedlichen Eigenschaften der Strukturen der Ganzheit ergeben sich dabei durch die unterschiedliche Qualität der Transformationsdynamik in den Lücken und umgekehrt, sodass insgesamt eine sich selbst erklärende Struktur vorliegt (Zeiger

71 Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin

2009). Die Strukturen der Ganzheit sind somit der objektive Ausdruck der Transformationsdynamik in den Lücken; sie machen die unmanifeste Dynamik manifest. Für sich genommen, beschreiben die 10 Strukturen die schrittweise Selbstentfaltung der Eigendynamik des Bewusstseins in zunehmend differenzierte Ausdrucksformen, die sich auch im menschlichen Körper nachweisen lassen. Der Entfaltungsprozess geht aus von der reinen quantenmechanischen Realität als der einfachsten, undifferenzierten Form der Ganzheit. Bei ihrer Nummerierung können die natürlichen Zahlen beginnend mit der Null benutzt werden oder die römischen Zahlen, die mit der Eins beginnen. Beides ist sinnvoll, allerdings besteht zwischen beiden Repräsentationen der Strukturen der Ganzheit ein Gangunterschied von Eins. Dieser Gangunterschied charakterisiert das bei der Selbstentfaltung der Strukturen der Ganzheit wirkende N  +  1-Prinzip, das besagt, dass jede Struktur der Ganzheit dadurch entsteht, dass auf jeder Stufe der Entfaltung die unmanifeste Dynamik der Lücken aus einer gegebenen Ganzheit N die nächste hervorbringt. die Gültigkeit dieses Prinzip in der Informationsmedizin hat B. Köhler festgestellt. Es tritt dort als 3 + 1-Gesetz auf. Die Strukturen der Ganzheit sind das Fundament der integrativen Medizin, denn sie repräsentieren die grundlegende Regulationsebene, auf der Bewusstsein und Physiologie eine Einheit bilden, d. h., wo Bewusstsein seine eigene Physiologie ist. >> Die Untersuchung der Strukturen der Ganzheit stellt das zentrale Thema der integrativen Medizin dar.

Die Reihenfolge der absoluten Zahlen repräsentiert dabei die sequenzielle Entfaltung der Ganzheit mit der unmanifesten Realität reinen Bewusstseins, dem Selbst, als Ausgangs- und Bezugspunkt. Gleichzeitig beschreibt die Sequenz der Ganzheiten auch die Stufen, die bei der zeitlichen Entfaltung der Ganzheit durchlaufen werden. Ganzheitliche Strukturen entfalten sich immer schrittweise gemäß der durch absolute Zahlen gekennzeichneten Lo-

4

gik der Selbstentfaltung. J. W. v. Goethe hat das in folgendem Satz zusammengefasst:

»» „Die Geschichte der Wissenschaft ist die Wissenschaft selbst.“ (Pauli 1979)

Die absoluten Zahlen als Repräsentanten von Strukturen der Ganzheit lassen sich geome­ trisch deuten, sodass jede ganzheitliche Struktur durch eine charakteristische Geometrie repräsentiert wird. Dadurch wird es möglich, rein geometrisch von der Struktur der Ganzheit auf ihre Entsprechung im menschlichen Körper zu schließen. Schritte bei der Selbstentfaltung der Ganzheit I. Der erste Schritt der sequenziellen ganzheitlichen Selbstentfaltung ist die Festlegung der unveränderlichen Basisstruktur: der quantenmechanische Grundzustand als undifferenzierte Einheit. II. Der zweite Schritt charakterisiert die gesamte Natur der Einheit: das einheitliche Feld aller Naturgesetze. III. Der dritte Schritt bestimmt die Beziehungen zwischen der unveränderlichen Basis und ihrer dynamischen Natur. IV. Der vierte Schritt charakterisiert die selbstbezügliche Eigendynamik als zyklische Dynamik in Form einer Welle bzw. Schwingung; Zyklen sind immer durch einen Winkel bzw. Drehwinkel charakterisiert, der die vier Phasen eines Zyklus zu unterscheiden erlaubt. V. Der fünfte Schritt unterscheidet die möglichen Arten der zyklischen Eigendynamik voneinander; damit Teile beobachtet werden können, müssen sie in charakteristischer Weise miteinander wechselwirken, was wiederum voraussetzt, dass es etwas gibt, das unverändert bleibt – die Erhaltungsgrößen; bei Teilchenwechselwirkungen gibt es

72

4

B. Zeiger

fünf Erhaltungsgrößen entsprechend den fünf Arten der Sinneswahrnehmung. VI. Der sechste Schritt bestimmt die sechs Phasen einer Rückkopplungsschleife: drei nach außen gerichtete und drei nach innen gerichtete. VII. Der siebte Schritt in der Abfolge der Entfaltung des Bewusstseins charakterisiert den Status des Beobachters, der zur Erkenntnis der siebenstufigen Entfaltung des Bewusstseins bzw. den sieben Sprachen der Natur führt. VIII. Der achte Schritt charakterisiert die ganze Natur durch vier objektive und vier subjektive Elemente. IX. Der neunte Schritt erfasst die 9 Bestimmungsgrößen der sich ständig erneuernden Eigendynamik des Bewusstseins. X. Der zehnte Schritt charakterisiert den Endzustand ganzheitlicher Entwicklung; er ist erreicht, wenn die ursprüngliche unmanifeste Ganzheit ihre gesamte innere dynamische Struktur entfaltet hat und so die Entwicklung einen Ruhe- bzw. Haltepunkt erreicht als voll entfaltete Ganzheit.

Zur Nummerierung der Entfaltungsschritte der Ganzheit wurden römische Zahlen benutzt, weil diese durch ihren graphischen Aufbau die innere Struktur der einzelnen Schritte veranschaulichen. In jedem Schritt erhält die ursprüngliche Einheit eine neue Bedeutung. Auf diese Weise gehen durch additive Erweiterungen (Inkremente) die Ganzheiten schrittweise auseinander hervor, wobei in jedem Schritt etwas qualitativ Neues entsteht (. Tab. 4.5). Indem absolute Zahlen für die Entfaltungsschritte der Ganzheit des Bewusstseins benutzt werden, hören sie auf, reine Zahlen zu sein, sondern werden zu Repräsentanten einer bestimmten Ausdrucksform der selbstbezogenen Dyna 

mik des Bewusstseins. Das heißt, die Zahlen werden zu Trägern einer bestimmten Information, die sich auf die dynamische Natur des Bewusstseins bezieht. Dieselbe Funktion haben die Eigenwertwerte eines dynamischen Systems oder die Quantenzahlen eines quantenmechanischen Systems. Entsprechend kennzeichnen die Strukturen der Ganzheit die Eigendynamik des Bewusstseins als absolute Zahlen. Formal sind alle diese Zahlen in dem jeweiligen Kontext, auf den sie sich beziehen, Faktoren, die angeben, wann ein charakteristischer Systemzustand wieder in sich selbst übergeht. Der Zahlenwert erlaubt Rückschlüsse auf die Qualität des jeweiligen Zustands. >> Die Darstellung der Strukturen der Ganzheit durch absolute Zahlen ist eine Verallgemeinerung des Konzepts der Quantenzahlen auf den Bereich des Bewusstseins. Der dabei gewählte Blickwinkel beruht auf der aufzählenden Fähigkeit bzw. Qualität der Intelligenz.

Dieser Hinweis ist deshalb wichtig, weil es die Qualitäten der Intelligenz sind, die das eigenständige Fundament einer integrativen Medizin bilden (7 Abschn.  4.13). Das soll im Folgenden begründet werden.  

4.11  Kohärenz und einheitliches

Feld in der integrativen Medizin

Für die Wissenschaft des 20. Jahrhunderts sind zwei Begriffe von besonderer Bedeutung: 55 einheitliches Feld aller Naturgesetze und 55 Kohärenz im Verhalten individueller Einheiten. Beide Begriffe beinhalten Strategien, um Ordnung im Leben hervorzubringen und zu erhalten. Das gilt sowohl für das individuelle Leben des Menschen als auch für die gesellschaftliche Lebenskultur. Kohärenz und einheitliches Feld sind deshalb Schlüsselbegriffe der integrativen Medizin. Alles Leben, auch das des Menschen, spielt sich im Wirkungsbereich von Kohärenz und einheitlichem Feld ab, und die Informati-

1

2

Objekt sieht Objekt

Beobachtung sieht Beobachtung

4

Subjekt sieht Objekt

6

7

Objekt sieht Subjekt

Beobachtung sieht Subjekt

8

9

10

Subjekt sieht Beobachtung

Subjekt sieht Subjekt

Ganzheit sieht Ganzheit

Subjektivität

5

Objekt sieht Beobachtung

Rückbezug zum Subjekt

3

Beobachtung sieht Objekt

Objektbezug

0

+ I = integrative Ganzheit

+ I = allumfassend

+ I = Unterscheiden

+ I = Regulation

+ I = Erfüllung, Belohnung

+ I = Erinnerung

+ I = Wahrnehmung

+ I = Vermittlung

+ I = Lücke, Spalt, Morphismus

+ I = sequenzielle Mengenbildung

+ I = Stille, Leere

Zahl Übergang zur Ganzheit: + I

Ganzheit sieht Ganzheit

Selbstbezug

Dynamik des Bewusstseins

Differenzierte Ganzheit

Ganzheit des Beobachters: Ego

Ganzheit des Unterscheidens: Intellekt

Ganzheit des Rückbezugs: Geist

Ganzheit des Erkennbaren

Alle Beziehungen (Wahrscheinlichkeiten)

Ganzheit des Erkennens: „Sehen“

Ganzheit der Kohäsion: „Flüssigkeit“

Ganzheit der Verbindung: „Festigkeit“

Aktive Natur der Ganzheit

Undifferenzierte Ganzheit

Ganzheitliche Struktur

XI

X

IX

VIII

VII

VI

V

IV

III

II

I

Nr.

Totalität

Kreuzungen

Regulationszentrum

8fache Regulation

Raum

Sechseck

Fünfeck

Quadrat

Dreieck

Zwei parallele Linien

Unbegrenzte Linie

Geometrisches Modell

Organisationsstruktur des Nervensystems

I + 9 = zehn Hirnnerven mit Ursprung im Hirnstamm

1 + 8 = neun Gruppen von Thalamus-­ Kernen

I + 7 = acht Hormone des Hypothalamus

1 + 6 = mesolimbisches System

1 + 5 = sechs Lappen der Großhirnrinde, I = limbisches System

1 + 4 = fünf Hirnbereiche, 1 = Mittelhirn

I + 3 = vier Arten von Neuronen, I = Interneuronen

I Synapse + 2 Neuronen = drei Funktionen

I + 1 = zwei Zustände des Nervensystems

Kollektiver Grundzustand

Nervensystem

..      Tab. 4.5  Schrittweise Entfaltung der Strukturen der Ganzheit aus der Eigendynamik des Bewusstseins über das Nervensystem

Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin 73

4

74

4

B. Zeiger

onsmedizin ist das erste moderne System der Komplementärmedizin, das bewusst auf diesem begrifflichen Fundament entwickelt wurde. Das einheitliche Feld ist eng mit dem Bestreben von A.  Einstein verknüpft, die Be­ wegungsgesetze in Raum und Zeit mit den Gesetzen der inneren Wechselwirkungen der Materie zu einer „Weltformel“ zu vereinigen. Der Begriff der Kohärenz tauchte als Fachbegriff unabhängig in verschiedenen Bereichen auf, u. a. in der Physik als Zusammenspiel von Schwingungen bzw. Wellen, in der Psychologie und Psychiatrie als Kennzeichen geordneten Denkens und Fühlens und in der Sprachwissenschaft und Philosophie als Textbzw. Begriffskohärenz. Die Beziehung zwischen Kohärenz im Verhalten und dem einheitlichem Feld der Naturgesetze ist für jeden Arzt bedeutsam, denn er ist in der Praxis ständig mit dem Wechselspiel von Struktur und Funktion konfrontiert. In der Geordnetheit der Körperstrukturen manifestiert sich die Kohärenz, und in der Reibungslosigkeit der Körperfunktionen drückt sich das einheitliche Feld der Naturgesetze aus. Der eine Phänomenbereich kann benutzt werden, den andere zu verstehen. Ziel der integrativen Medizin ist die Erschließung der übergeordneten, vereinheitlichten Ebene der Intelligenz des Körpers, von der aus Struktur und Funktion simultan beeinflusst werden können. Kohärenz bzw. Synchronizität im Verhalten wird bei Zellpopulation beobachtet, aber auch in der Beziehung zwischen Kommunikationssignalen oder bei Wechselwirkungen zwischen den Teilchen eines materiellen Systems – also immer dann, wenn der Zusammenhang von Teilen in einem Ganzen betrachtet wird. Zusammenwirken ist, wie der Name besagt, ein Ausdruck der verbindenden Qualität der Intelligenz und setzt eine vorausgegangene Spezifizierung der Bestandteile und zahlenmäßige Bestimmung der Komponenten voraus. Auf eine ganz andere Qualität der Intelligenz bezieht sich das Konzept des einheitlichen Feldes aller Naturgesetze, das am besten als „ganzheitliche Qualität“ bezeichnet werden kann, wenn auch dieser Begriff etwas abgegriffen ist

und deshalb gelegentlich diskreditiert wird. Auf der Ebene der Intelligenz, d. h. der Fähigkeit der Unterscheidung, ist eine Ganzheit die Einheit der elementaren Gegensätze von Stille und Dynamik. Im Selbstbezug wird der Intellekt transzendental. Was bleibt, ist das einheitliche Feld als Einheit in der Vielfalt. Weil jeder Organismus eine Ganzheit ist, ist die Entwicklung von der konventionellen Medizin zur integrativen Medizin ein unvermeidlicher Prozess. Integrative Medizin, die auf der Ebene der Intelligenz agiert, schafft eine Verbindung zwischen der ganzheitlichen Qualität der Intelligenz und der verbindenden Intelligenz, d.  h. zwischen dem einheitlichen Feld aller Naturgesetze und der verhaltensbezogenen Kohärenz, die der objektive Ausdruck des einheitlichen Feldes ist: Das einheitliche Feld ist dynamische Stille, während Kohärenz die Koexistenz von Stille und Dynamik ist, d. h., in der Kohärenz werden Stille und Dynamik als getrennt voneinander gesehen, während sie im einheitlichen Feld eine untrennbare Einheit bilden. Der Übergang vom einheitlichen Feld zur Kohärenz bedeutet eine Verringerung der Symmetrie durch das Entstehen geordneter Verhaltensmuster und Strukturen im objektiven Bereich. Die Wiederherstellung der ganzheitlichen Symmetrie ist demgegenüber ein notwendiger Schritt zur Erneuerung und Regeneration. Damit Stille und Dynamik nicht auseinanderfallen, muss die Einheit bewusst gepflegt werden. Grundkenntnisse in theoretischer Physik erleichtern das Vordringen zu klaren Vorstellungen über die Beziehung zwischen Kohärenz und einheitlichem Feld. Der Vorteil der theoretischen Physik beruht auf der mathematischen Sprache, denn da, wo die sinnlichen Erfahrungen fehlen, können formale Manipulationen die Lücke schließen. Da aber nur wenige Mediziner die mathematische Sprache beherrschen, ist es notwendig, die für die Medizin relevanten Mechanismen und Qualitäten auf unmittelbar einsichtige Weise darzustellen, ohne allzu detailliert auf die verschlungenen Wege einzugehen, die die Physik bei ihren Entdeckungen genommen hat. Welcher Zugang zum Verständnis der Beziehung zwischen Kohärenz und einheitlichem

75 Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin

Feld auch gewählt wird, der integrierende Mechanismus lässt sich umgangssprachlich folgendermaßen zusammenfassen: >> Durch Einschränkung oder Begrenzung eines unbegrenzten Bereichs entstehen strukturbildende Kräfte.

Ohne die Existenz eines uneingeschränkten Bereichs aller Möglichkeiten bzw. eines unendlich ausgedehnten Systems als Bezugspunkt fehlen jeder Integration das absolute Fundament und das unerschöpfliche Reservoir an Verhaltensmustern. Erst die Quantenphysik hat den begrifflichen Rahmen zur Integration der unbegrenzten Realität in den Bereich der Begrenzungen geschaffen. Zur Veranschaulichung der Beziehung zwischen Kohärenz und einheitlichem Feld reichen bereits elementare Vorstellungen der Quantenmechanik aus, die auch unmittelbar experimentell überprüfbare Konsequenzen haben. Ein 1948 von H. Casimir (1909–2000) vo­ rausgesagter und nach ihm benannter Effekt besagt, dass zwischen zwei sehr nahe beieinander befindlichen Metallplatten allein aufgrund der quantenmechanischen Fluktuationen des elektromagnetischen Feldes (Nullpunktsenergie, Vakuumenergie) eine anziehende Kraft entsteht. Diese anziehende Casimir-Kraft wurde wiederholt experimentell bestätigt. Ebenfalls bekannt ist das Auftreten von entsprechenden Abstoßungskräften zwischen ungeladenen Objekten, wenn das Vakuum durch geeignete Materialien verändert wird. Bedingung für die Kraftwirkung des Vakuums ist allein die Existenz einer makroskopischen Begrenzung. Die mathematische Herausforderung des Effekts war der korrekte Umgang mit Differenzen zwischen zwei unendlichen Größen: 55 die räumlich begrenze Unendlichkeit und 55 die unbegrenzte Unendlichkeit. Umgang mit Unendlichkeiten ist der Schlüssel zum Meistern der Symmetriebrechung in einheitlichen Feldtheorien. Immer sind Mechanismen der Symmetriebrechung für das Entstehen von kohärenten dynamischen Strukturen verantwortlich. Alle Kohärenzphänomene gehen aus dem zugrunde

4

liegenden Feld durch Verringerung oder Einschränkung der Symmetrie (Symmetriebruch) hervor. Die Hauptschritte, in denen sich die ganzheitliche Intelligenz des einheitlichen Feldes als kollektive Kohärenz ausdrückt, spielen beim Entstehen einer integrativen Medizin eine wesentliche Rolle. Dabei wirken drei Faktoren in acht Schritten zusammen, die den Entwicklungsschritten der Quantenphysik entsprechen: Hauptschritte der Entfaltung vollständigen Wissens im Bewusstsein I.

Erkenntnisprozess: Wissen als Struktur des Bewusstseins (Theorie) 1. Erkenntnis des unbegrenzten Bereichs der Intelligenz: einheitliches Feld aller Naturgesetze 2. Entdeckung des Mechanismus, wie die individuelle Intelligenz aus der unbegrenzten Intelligenz hervorgeht: Symmetriebrechung II. Belebung der Strukturen des Wissens in vier Schritten (Integration ) 3. Mechanismus des Rückbezugs der individuellen Intelligenz zur unbegrenzten Intelligenz 4. Belebung spezifischer Impulse der Intelligenz aus der unbegrenzten Intelligenz 5. Belebung der vollständigen Struktur des Naturgesetzes im individuellen Bewusstsein 6. Integration des gesamten Potenzials des Naturgesetzes mit allen seinen spezifischen Ausdrucksformen (Selbstbezug) III. Belebung der organisierenden Kraft (Praxis) 7. Unbegrenzte Intelligenz als Grundlage geordneten Verhaltens des Individuums 8. Kollektive Kohärenz als Koexistenz von Stille und Dynamik

76

B. Zeiger

Auf diese Weise bilden Kohärenz und einheitliches Feld das Fundament einer integrativen Medizin, die letztlich eine Medizin der Intelligenz bzw. des Bewusstseins ist und die alle Erkenntnisse der Physik, Biophysik, Molekularbiologie und Informationstheorie integriert.

4

4.12  Yoga und Veda in der inter-

kulturellen integrativen Medizin

Die wissenschaftliche Entwicklung in Richtung einheitliches Feld aller Naturgesetze sowie von Kohärenz im Zusammenwirken hat die moderne Wissenschaft zunehmend in Übereinstimmung mit dem ältesten Wissen der Menschheit gebracht: 55 mit den überlieferten Ausdrücken des Veda einerseits und 55 mit der Erweiterung des Erfahrungsbereichs durch die Techniken des Yoga andererseits. Kohärenz kann mit Yoga und das einheitliche Feld mit Veda identifiziert werden. Die Übereinstimmung der modernen objektiven Wissenschaft mit der uralten vedischen Wissenschaft, deren Annäherung an die Wirklichkeit Objektbezug und Subjektbezug inte­ griert, zeigt, dass die geschichtliche Entwicklung die Menschheit an eine Schwelle zu ganz neuen Erkenntnissen geführt hat: Bisher als unüberwindbar angesehene Grenzen können überwunden und scheinbar unversöhnliche Gegengensätze können integriert werden. Das Erstarken der Komplementärmedizin im 20.  Jahrhundert ist ein Symptom dieser Entwicklung. Der Stand der mathematisch-formalen Entwicklung am Beginn des 21.  Jahrhunderts bestätigt die Übereinstimmung von moderner und vedischer Wissenschaft und zeigt, dass die systematische Einbeziehung des Subjekts in das wissenschaftliche Verständnis des Lebens eine lange Tradition hat. Den sprachlich-klanglich ausgerichteten Menschen bietet die Übereinstimmung von Wissenschaft und Veda eine echte Alternative

zum überwiegend objektiven Ansatz der klassischen Naturwissenschaft. Durch ihre Parallelität mit der Quantenmechanik hat die vedische Wissenschaft das Potenzial einer modernen, international akzeptierten und interkulturell vermittelnden Wissenschaftssprache. Die Techniken des Yoga ergänzen den objektiven Zugang zum Naturgesetz durch systematische Entwicklung des Bewusstseins, und die Entsprechungen zwischen Veda und einheitlichen Quantenfeldtheorien fördern die Weiterentwicklung der Denkweisen und Weltanschauungen. Durch die Einbeziehung des Wissens alter Kulturen in das moderne Leben und die Stärkung der lokalen bodenständigen Traditionen wandelt sich gegenwärtig das Bild der Welt grundlegend. Am Beginn des 21.  Jahrhunderts zeichnet sich eine von Wissenschaft und Technik geprägte, international vernetzte, globale Einheitskultur ab, die bestrebt ist, durch vollständige Belebung der universellen Natur des Bewusstseins alle kulturellen Überlieferungen zu integrieren. Das Gleichgewicht von Tradition und Moderne bedarf v. a. deshalb der besonderen Aufmerksamkeit und Pflege, weil sich der wis­ senschaftlich-­ technische Fortschritt seit der Aufklärung ständig beschleunigt hat. Die zunehmende Kreativität einer wachsenden Zahl von Menschen, die ihr Leben selbstbewusst gestalten, nimmt zunächst wenig Rücksicht auf Traditionen. Damit aber der überlieferte Wissensschatz der Menschheit nicht verloren geht, ist es notwendig, diesen Schatz ständig gemäß den modernsten wissenschaftlichen Erkenntnissen neu zu sichten und in die Lebenswirklichkeit zu integrierten. Der moderne Wissenstransfer zwischen Orient und Okzident begann im 19. Jahrhundert zunächst mit der Sammlung und Zugänglichmachung der Originalquellen sowie der Übersetzung ausgewählter Texte. Vor allem deutsche Sanskrit-Forscher haben hier einen wichtigen Beitrag geleistet. Die Liste der bekannten Namen ist lang und reicht bis in das 20.  Jahrhundert hinein. Aus naturwissen-

77 Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin

schaftlicher Sicht besonders hervorzuheben ist H. G. Grassmann (1809–1877), der sowohl in der Mathematik (Grassmann-Zahlen) als auch in der Sanskrit-Forschung (Wörterbuch zum Rig-Veda) als auch in der Sprachforschung (Grassmannsches Hauchdissimilationsgesetz) Zukunftsweisendes geleistet hat. Diese Entwicklung markiert einerseits den Beginn der vergleichenden Sprachforschung, und andererseits übten die dabei zugänglich gemachten Texte einen bedeutenden Einfluss auf das wissenschaftliche Denken aus, insbesondere auf die Pioniere der Quantenmechanik. Folgende Bereiche der vedischen Literatur sind dadurch bekannt geworden: 55 Bhagavad Gita (A. Einstein, R. Oppenheimer), 55 Upanishaden (A. Schopenhauer, E. Schrödinger), 55 Grammatik des Panini (L. Bloomfield), 55 Manu Smriti (F. Nietzsche). Der umfangreiche Gesamtbereich der vedischen Literatur wurde schließlich im 20. Jahrhundert durch Maharishi Mahesh Yogi in seiner wissenschaftlichen Bedeutung erschlossen (die vedische Wissenschaft für unsere moderne Zeit theoretisch zugänglich und praktisch erfahrbar zu machen, ist das große Verdienst des vedischen Gelehrten Maharishi Mahesh Yogi 1999a). Maharishi Mahesh Yogi unterscheidet in seiner Systematik insgesamt 40  Gebiete der vedischen Wissenschaft. Dazu gehören u.  a. 9  Werke des Ayurveda (7 Abschn. 4.13, 7 Kap. 34). Was die vier Veden betrifft, Rig-Veda, Sama-Veda, Yajur-Veda und Atharva-Veda, so galt bis in das 20. Jahrhundert hinein das, was schon G.  W.  F.  Hegel (1770–1831) in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte freimütig bekannte:  



»» „Die Vedas sind sehr schwer zu verstehen.“ Den praktischen Grund dafür, warum in der Vergangenheit das intellektuelle Verständnis am Veda kapitulieren musste, bringt C. F. von Weizsäcker in seinem Buch Der Garten des Menschlichen auf den Punkt:

4

»» „Die abendländische Kultur ist mehr von

der Reflexion, die asiatischen Kulturen sind mehr von der Meditation bestimmt.“ (von Weizsäcker 1977, S. 434)

>> Das heißt, der Schlüssel zum Veda ist nicht im reflektierenden Denken zu finden, sondern in der selbstrückbezüglichen Erfahrung transzendentalen Bewusstseins.

Der seit Urzeiten mündlich weitergegebene Veda versteht sich selbst als die Gesamtheit (Samhita) der überlieferten phonetisch-klanglichen Darstellungen der Kräfte der Natur. Das entspricht der Sichtweise der String-Theorien der Physik, wonach die Welt aus schwingenden Saiten, „Strings“, besteht und sämtliche Naturgesetze in einem selbstwechselwirkenden einheitlichen Feld zusammengefasst werden können. In dem 2003 von der UNESCO in die Liste des immateriellen Weltkulturerbes aufgenommen Rig-Veda heißt es entsprechend:

»» „Die Ausdrücke des Veda existieren im

transzendentalen Bereich des Bewusstseins, wo auch alle Impulse der kreativen Intelligenz zu Hause sind, die als Naturgesetze (Deva) das ganze manifeste Universum regieren. Ohne Zugang zu diesem Bereich können die Ausdrücke des Veda nichts bewirken. Wer aber diesen Bereich der Realität kennt, dessen Leben ist im Gleichgewicht.“ (Rig-Veda 1.169.39; Aufrecht 1955)

Mehr noch als die Kultivierung des Denkens bedarf die Erfahrung transzendentalen Bewusstseins der Anleitung durch einen Lehrer. Typisch für die vedische Kultur sind deshalb erfahrene Lehrer der Yoga-Techniken, um die Anstrengungslosigkeit und Natürlichkeit des Zugangs zum transzendentalen Bewusstsein sicherzustellen. Durch die Initiative bedeutender Yogis sind im 20. Jahrhundert die vedischen Techniken der Bewusstseinsentwicklung weltweit bekannt geworden, speziell die Technik der transzendentalen Meditation (Origi-

78

B. Zeiger

nalmethode nach Maharishi Mahesh Yogi). Wie Maharishi Mahesh Yogi (erstmals 1967) erläutert, ist es der Zweck von Yoga, Wissen durch unmittelbare Erfahrung zu erlangen:

»» „Yoga ist die praktische Wissenschaft des 4

Lebens, die nicht nur den Bereich des absoluten Seins, sondern alle verschiedenen Schichten der relativen Schöpfung der unmittelbaren Erfahrung zugänglich macht.“ (Maharishi Mahesh Yogi 1999b)

Das traditionelle Standardwerk des Yoga sind die ca. 3000 Jahre alten Lehrsätze (Sutra) des Patanjali. In ihnen wird betont, dass sich durch Yoga alle Bereiche des Lebens simultan entwickeln – von der Umwelt über Körper und Geist bis hin zum transzendentalen Bewusstsein. Das ermöglicht den objektiven Wirkungsnachweis der Yoga-Techniken über die synchrone Verbesserung psychologischer, physiologischer, biochemischer, soziologischer und ökologischen Kenngrößen. Ein Lehrsatz des Patanjali beschreibt die praktische Bedeutung von Yoga als

»» „Vermeidung von Problemen, die noch

nicht gekommen sind.“ (freie Übersetzung Yoga Sutra 2.16; Vivekananda 1978)

Die Einrichtung eines internationalen Tages des Yoga durch die Vereinten Nationen, der erstmals 2015 begangen wurde, hat auf beeindruckende Weise gezeigt, dass es zu Anfang des 21. Jahrhunderts in jedem Land zahlreiche Yoga-Praktizierende gibt. Insgesamt wird ihre Zahl weltweit auf 200 Mio. geschätzt. Durch die globale Verbreitung von Yoga und Mediation haben die klassischen wissenschaftlichen Denkmethoden eine echte Erweiterung erfahren:

»» „Die Erlangung eines reinen Bewusstseins

ist die einzige Aufgabe, der man sich unterziehen kann ohne die Gefahr, auf ungewisses Gebiet zu gelangen.“ (Haas 1967)

Mit der Erfahrung des transzendentalen Bewusstseins ist die Hürde gefallen, die bisher einen Zugang zum Veda verhindert hat. Veda ist nichts mehr und nichts weniger als das Wissen von der Evolution des Bewusstseins, also das

Wissen, wie Wissen im Bewusstsein entsteht. Der Veda beschreibt die Meilensteine der Bewusstseinsentwicklung in Begriffen 55 der dabei möglichen Sichtweisen (Rishi), 55 der dabei wirkenden Impulse der kreativen Intelligenz (Deva) und 55 der dabei entstehenden Strukturen (Chhandas) in Form einer höchst geordneten und sich selbst erklärenden Sequenz von Sprachlauten. Veda ist die klangliche Darstellung der Eigendynamik bzw. Selbstwechselwirkung des Bewusstseins. Damit ist auch klar, welche Rolle die Quantenphysik beim Verständnis des Veda spielt: sie liefert die modernen Begriffe, um die Erfahrung transzendentalen Bewusstseins rational zu erfassen. Gleichzeitig kann damit auch die praktische Bedeutung des Veda und seiner Literatur für den Bereich der Gesundheit genau angegeben werden: Die unmittelbare Heilwirkung des Veda erfolgt über den Klang. Die einfachste Form der Medizin ist also eine Klangmedizin: Hören oder Rezitieren der Klänge des Veda löst Spannungen auf und hat einen harmonisieren Effekt auf Geist, Körper und Umwelt. Veda als Klangdarstellung der Natur reinen Bewusstseins und Yoga-Techniken als die praktische Methode zur Verwirklichung der ganzen Reichweite reinen Bewusstseins gehören zusammen. Das Hören der Klänge des Veda im Zustand transzendentalen Bewusstseins beseitigt die grundlegende Ursache von Störungen in der Physiologie. Diese Ursache ist aus der Sicht des Ayurveda ein „Irrtum des Intellekts“, der dadurch bereinigt wird, dass durch den Veda die reibungslose Beziehung zwischen Bewusstsein und Körper wiederhergestellt wird. Dazu ist es hilfreich zu wissen, welcher vedische Ausdruck welchem Aspekt der Physiologie zugeordnet ist. Diese Zuordnung hat der Mediziner und Neurophysiologe T. Nader unter Anleitung des vedischen Gelehrten Maharishi Mahesh Yogi im Detail ausgearbeitet (Nader 2001).

79 Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin

Gemäß der Entsprechung zwischen Veda und Physiologie ist dem Rig-Veda die fundamentale ganzheitliche Struktur des Bewusstseins dem ganzen menschlichen Körper zugeordnet. Das hat zur Folge, dass den einzelnen Ausdrücken des Veda exakt bestimmte Teilbereiche des menschlichen Körpers entsprechen. Damit ist der Veda sowohl Klangmedizin als auch anthropomorphe Medizin: Der menschliche Körper ist Repräsentant der ganzheitlichen Qualität reinen Bewusstseins, und die verschiedenen Zweige der vedischen Literatur spezifizieren diese ganzheitliche Qualität (wie es in 7 Abschn. 4.9 über die Strukturen der Ganzheit erläutert wurde). Hören oder Rezitieren der Klänge des Veda löst Spannungen auf und hat einen harmonisieren Effekt auf Geist, Körper und Umwelt (Schrott 2001; Travis et al. 2017).  

4.13  Ayurveda und die

Beseitigung des Irrtums des Intellekts

Von allen überlieferten komplementären Medizinsystemen wird der Ayurveda am häufigsten in Verbindung mit integrativer Medizin genannt (Sharma und Clark 1998). Der Beitrag des Ayurveda bei der Entwicklung einer integrativen Medizin verdient deshalb genaue Betrachtung. Durch interkulturelle Vergleichsuntersuchungen hat K. W. Kratky die Beziehungen zwischen verschiedenen Medizinsystemen aufgedeckt und dabei folgende Besonderheiten des Ayurveda festgestellt: Besonderheiten des Ayurveda nach K. W. Kratky (2003) 55 Der Ayurveda versucht, Krankheit in einem viel früheren Stadium zu erkennen als die konventionelle Medizin. 55 Der Ayurveda basiert auf der Lehre von den fünf Elementen, die in ähnlicher Form auch im antiken Griechenland, China und Japan zu finden ist und die mit der in Europa bis in das 18. Jahrhundert vorherrschenden 4-Elemente-Lehre

4

übereinstimmt, wenn das Raum-Element nicht berücksichtigt wird 55 Der Ayurveda beschreibt drei Regulationsprinzipien – Vata, Pitta und Kapha genannt – ähnlich wie die Paracelsus-­ Medizin und die Homöopathie, auch besteht Übereinstimmung zu den Regulationsprinzipien der chinesischen Medizin; K. W. Kratky empfiehlt, die wertneutralen und aussagekräftigen ayurvedischen Bezeichnungen zu benutzen 55 Im Ayurveda wie auch in der traditionellen chinesischen Medizin, der griechisch-­arabischen Medizin (Unani) und der tibetischen Medizin hat die Pulsdiagnose einen hohen Stellenwert 55 Nach K. W. Kratky ist der Bewusstseinsbezug charakteristisch für die von Maharishi Mahesh Yogi begonnene Erneuerung des Ayurveda im 20. Jahrhundert

Alle diese Eigenschaften weisen darauf hin, dass sich der Ayurveda auf universell gültige Gesetzmäßigkeiten bezieht, was seine herausragende Bedeutung bei der Entwicklung einer integrativen Medizin begründet. Die wichtigsten überlieferten ayurvedischen Texte werden als Samhita (Sammlungen) bezeichnet und bilden 3 Gruppen aus je 3 Werken, wobei sich der Name der einzelnen Werke auf deren Autor bezieht: Die Samhita des Ayurveda Die sog. Kleine Dreiheit des Ayurveda besteht aus 55 Bhava Prakash Samhita, das hauptsächlich die im Ayurveda verwendeten Pflanzen beschreibt 55 Sharangadhar Samhita mit Schwergewicht auf der Herstellung und Anwendung ayurvedischer Arzneien 55 Madhav Nidan Samhita, das besonders die Diagnose behandelt

80

4

B. Zeiger

Die sog. Große Dreiheit des Ayurveda umfasst das 55 Charaka Samhita als Hauptwerk des Ayurveda mit Schwergewicht auf der Theorie und Praxis der inneren Medizin 55 Sushruta Samhita, worin Operationen und die dabei benutzten Instrumente beschrieben werden 55 Ashtanga Hridayam des Vagbhatt, eine systematische und übersichtliche Darstellung der acht Teilbereiche des Ayurveda Dazu kommen noch 3 ergänzende Werke: 55 Kashayap Samhita, das – soweit noch verfügbar – Geburtshilfe und Kinderheilkunde behandelt 55 Bhel Samhita, das Reinigungsverfahren beschreibt 55 Harita Samhita mit der Nahrung als Schwerpunkt

Die Anordnung der 9 ayurvedischen Hauptwerke ist nicht willkürlich, sondern folgt einer inneren Logik, die sich erst durch die quadratische Darstellung in Form einer 3 × 3-Matrix erschließt. Ein Vergleich mit der Anordnung der thermodynamischen Zustandsgrößen im Guggenheim-Quadrat weist auf eine strukturelle und funktionelle Übereinstimmung beider Anordnungen hin. Da die Thermodynamik die dynamische Grundlage für die Struktur und Funktion der Gewebe, Zellen und Gefäße im Organismus ist, bildet sie eine natürliche Brücke zwischen der Matrix des Ayurveda und der Physiologie. Das begründet auf einen Blick die unmittelbare naturgesetzliche Beziehung, die zwischen dem Ayurveda und der Struktur und Funktion des menschlichen Körpers besteht. Die Namen der ayurvedischen Gebiete und ihre Anordnung sagt bereits alles über die Qualitäten der Intelligenz bzw. über die Naturgesetze, die bei der Erhaltung des physiologischen Gleichgewichts eine Rolle spielen (. Abb. 4.4).  

>> Die Übereinstimmung der 3 × 3-Matrizen von Ayurveda, Thermodynamik und Physiologie begründet die fundamentale

Rolle, die den Qualitäten der Intelligenz in der Medizin zukommt.

9 grundlegende Qualitäten werden von den 9 Bereichen des Ayurveda behandelt, wobei jede Qualität im Namen des jeweiligen Textes des Ayurveda explizit ausgedrückt ist. Der Vergleich der Matrizen ergibt auch (zusammen mit den Überlegungen von 7 Abschn.  4.6 über die Sprachen der Natur), dass die Gruppierung und Anordnung der 9 ayurvedischen Hauptwerke einem Muster folgt, das auf die Dreiheit von Beobachter, Beobachtung und Beobachtungsobjekt im Bewusstsein zurückgeführt werden kann. Das heißt, im Ayurveda drücken sich die Strukturen des Veda aus. Aus thermodynamischer Sicht sind die Zellen, Gewebe und Gefäße das natürliche Wirkungsfeld des Ayurveda, was die physiologische Deutung des Ayurveda von T.  Nader bestätigt. Die 3 × 3-Matrix der ayurvedischen Gebiete ist eine detaillierte und gleichzeitig leicht zu merkende Darstellung des Verbindungsbereichs von Materie und Bewusstsein. Der Ayurveda ist somit ein Medizinsystem, das an der Nahtstelle von Materie und Bewusstsein (Veda) den Schlüssel für Gesundheit und Langlebigkeit erkennt. V. J. Thakar, Gründungsrektor der Gujarat Ayurveda Universität in Jamnagar, fasst die wechselseitige Befruchtung von Ayurveda und Naturwissenschaft in der folgenden Forderung zusammen:  

»» „It is necessary to review and revive ancient Indian knowledge in light of modern science.“ (Thakar 2010)

In der Naturwissenschaft ist der Verbindungsbereich von Materie und Bewusstsein erstmals durch die Verlagerung von der klassischen Physik zur Quantenphysik zugänglich geworden. Insbesondere wurde mit dem Konzept der Wellenfunktion die Ebene erreicht, auf der Materie und Energie zu Information werden und umgekehrt. Vereinheitlichende Feldtheorien wie die Supergravitation führen schließlich alle Arten des Verhaltens der materiellen Welt auf die Selbstwechselwirkung eines einheitlichen Feldes zurück. Damit kann die Verbindung zwischen Bewusst-

4

81 Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin

Ayurveda Qualitäten der 9 Hauptwerke Bhava-Prakash erleuchten

Sharngadhar

Madhav Nidan

synthetisieren diagnostizieren

Charak

Sushruta

Vagbatt

balancierend

trennen

kommunizieren

Kashyap

Bhel

Harita

gleichwertig

unterscheiden

nähren

Thermodynamik Eigenschaften der Zustandsgrößen

Physiologie Rolle der Gewebe, Zellen und Gefäße

Entropie

Innere Energie

Volumen

Ektoderm

Entoderm

Mesoderm

Neg-Entropie Information

innere Beziehungen

Größe des Systems

NervenGewebe

LeberGewebe

MuskelGewebe

Enthalpie

Teilchen-Kraft Teilchen-Zahl

Freie Energie

Zellkern

Zellplasma Aufteilung in Reaktionsräume

Membrane

Reaktionen der Stoffe

Arbeitsleistung

reguliert das Gleichgewicht

Druck

Freie Enthalpie

Temperatur

Arterien

Lymphe

Venen

DruckAusgleich

energetische Trennung

AktivitätsNiveau

DruckAusgleich

reinigende Funktion

Versorgung mit Nährstoffen

Wärmeinhalt Verdichtung

interzelluläre Kommunikation

..      Abb. 4.4  Übereinstimmung der Eigenschaften von Ayurveda, Thermodynamik und Physiologie

sein und der materiellen Welt exakt beschrieben werden (Hagelin 1987; Sharma und Clark 1998). >> Die Quantenphysik führt so zu einem Verständnis des zentralen therapeutischen Ansatzes des Ayurveda: Beseitigung des Irrtums des Intellekts, der die Verwirklichung eines Lebens in Übereinstimmung mit allen Naturgesetzen blockiert.

Der ayurvedische Ausdruck für „Irrtum des Intellekts“ ist Pragya-aparadha. Pragya bedeutet Intelligenz und a-paradha bedeutet un-rein oder fehlerhaft. Pragyaparadh ist im Ayurveda die letzte Ursache für Ungleichgewichte in der Physiologie und damit von Krankheiten und Beschwerden. Aus ayurvedischer Sicht hat der Intellekt drei Aspekte: 55 Unterscheidungsvermögen (Dhi), 55 Fixierung der Aufmerksamkeit (Dhriti), 55 Gedächtnis (Smrti). Entsprechend unterscheidet die Quantenmechanik drei Arten von Information bzw. Kohärenz (. Tab. 4.6). Der Ayurveda beruht also letztlich auf demselben Naturverständnis wie die moderne Naturwissenschaft, und die Beseitigung des Irrtums des Intellekts bedeutet in Begriffen der Quantenphysik die Herstellung einer bewussten Verbindung zwischen dem Verhalten der Materie und der Selbstwechselwirkung des einheitlichen Feldes. Ist das einheitliche Feld aller Naturgesetze, der Veda, der Aufmerksamkeit zugänglich, hat der

Mensch Zugang zur gesamten Organisationskraft der Natur, die das Verhalten der Materie reguliert. Die Beziehung zwischen Bewusstsein und Materie besteht subjektiv gesehen aus der Bewegung der Aufmerksamkeit vom Allgemeinen zum Spezifischen und zurück zum Allgemeinen. Auf der Ebene der Intelligenz sind das die für das Gedächtnis charakteristischen Vorgänge des Erinnerns und Vergessens. In der Quantenfeldtheorie wird das in Begriffen von Erzeugungs- und Vernichtungsoperatoren beschrieben, was wiederum den physikalischen Prozessen der Emission und Absorption von Teilchen entspricht. Der wesentliche Punkt bei der Beseitigung des Irrtums des Intellekts ist, dass beim Vergessen von etwas Spezifischem die allgemeine Fähigkeit des Bewusstseins nicht aufhört und umgekehrt das Bewusstsein immer die Fähigkeit zur Erinnerung an das Spezifische mit einschließt. Die Beseitigung des Irrtums des Intellekts bedeutet also eine Stärkung des Gedächtnisses in seiner grundlegenden Bedeutung als ausgewogenes Wechselspiel von Bewusstsein und Bewusstheit (Aufmerksamkeit).



>> Der Irrtum des Intellekts ist dann beseitigt, wenn Spezifisches (Klassisches) und Allgemeines (Quantenmechanisches) sich nicht gegenseitig stören oder aufheben, sondern ergänzen.

Ein ausgewogener Zustand des Intellekts ist die Grundlage für das geordnete Zusammenspiel von Vata, Pitta und Kapha:

82

B. Zeiger

..      Tab. 4.6  Intelligenz als Verbindung von Materie und Bewusstsein

4

Aspekte des Intellekts im Ayurveda

Regulationsgrößen des Ayurveda

Arten der Quantenintelligenz

Art der Information

Optimale Kohärenz

Formalismus der Quantenmechanik

Dhi: Unterscheidung

Vata: Bewegungsregulation

Reine Zustände

Wahrscheinlichkeitsdichte

Quantenkohärenz: Wellenverhalten

Wellen, Mechanik (Schrödinger)

Dhriti: Willensimpuls

Pitta: energetische Regulation

Übergangswahrscheinlichkeit

Unitäre Transformation

Optische Kohärenz

Operator-Formalismus (Heisenberg)

Smriti: Gedächtnis

Kapha: stoffliche Regulation

Gemischte Zustände

Informationsentropie

Kollektive Kohärenz (Feldverhalten)

WegintegralFormalismus (Feynman)

55 Die Stille reiner Intelligenz (Dhi) kontrolliert die bewegungsbezogene Regulationsgröße (Vata). 55 Die dynamische Natur der Intelligenz (Dhruti) steuert die energetische Regulation (Pitta). 55 Die optimale Funktionsweise des Gedächtnisses (Smrti) garantiert die strukturelle Kohärenz der (Kapha).

mischen Gesundheitszentren (Academic Health Centers), die sich der integrativen Medizin verpflichtet fühlen (Ehrlich et al. 2013). Es werden v.  a. die folgenden komplementärmedizinischen Methoden angewandt: 55 Akupunktur (96 %), 55 Massage (92 %), 55 Yoga (85 %) und 55 Meditation (79 %).

Durch seine große Rationalität und Übereinstimmung mit den modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen nimmt der Ayurveda eine Vorreiterrolle bei der anstehenden Integration von Tradition und Moderne ein. Schlüsselfunktion haben dabei die universellen Qualitäten der Intelligenz, die für die „Intelligenz der Zellen“ ebenso gelten wie für die Intelligenz des Menschen.

Teilbereiche eines medizinischen Systems in ein anderes zu übernehmen oder Methoden zu kombinieren, die von verschiedenen Grundlagen ausgehen, bedarf einer in sich stimmigen begrifflichen Gesamtstruktur, um im Vorfeld entscheiden zu können, inwieweit die Systeme sich gegenseitig stören, ergänzen oder gleichrangig sind. Allein aufgrund des Leidensdrucks der Patienten oder aus wirtschaftlichen Gründen oder nur auf gut Glück Therapien zu kombinieren, kann problematisch sein. In einer Entwicklungsphase, in der unterschiedliche Sichtweisen, Fragestellungen, Prinzipien und Interessen koexistieren bzw. konkurrieren, ist eine Klärung der begrifflichen bzw. naturgesetzlichen Grundlagen essenziell, um ein geordnetes Zusammenwirken der verschieden therapeutischen Ansätze und medizinischen Systeme sicherzustellen. Was dabei vorrangig der Präzisierung bedarf, ist die zwischen Physiologie und Bewusstsein vermittelnde Struktur (Hameroff und Mar-

4.14  Begriffliches System der

integrativen Medizin

Die Hauptherausforderung der integrativen Medizin am Beginn des 21. Jahrhundert besteht darin, die wachsende Vielfalt der wiederentdeckten und neu entwickelten medizinischen Methoden und Systeme in einen rationalen und praxisrelevanten Gesamtzusammenhang zu bringen. In welcher Richtung dieser Gesamtzusammenhang zu suchen ist, darauf weist eine Befragung von 136 US-­amerikanischen akade-

83 Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin

cer 1998). Erst durch die systematische Erkenntnis der intelligenten Verbindungen von Geist und Körper wird integrative Medizin zu mehr als nur einer willkürlichen Ansammlung von Systemen; sie wird zu einem systematisch strukturierten Gesamtprogramm, das wirkungsvoll in der medizinischen Praxis implementiert und auf akademischem Niveau in Forschung und Lehre etabliert werden kann. Ein entsprechender vereinheitlichender Rahmen ist zu Beginn des 21.  Jahrhunderts u.  a. von Bell et  al. (2002) angemahnt worden: Drei Hauptströmungen zur Begründung eines begrifflichen Systems der integrativen Medizin lassen sich ausmachen:

55 K. W. Kratky, der bis zu seinem Ruhestand 2012 Leiter der Arbeitsgruppe Physik physiologischer Prozesse an der Fakultät für Physik der Universität Wien war, hat nach langjährigen Forschungen über selbstorganisierte Systeme die verschiedenen medizinischen Richtungen aus systemtheoretischer Sicht miteinander verglichen und in ein interkulturelles Modell integriert. 55 T. Nader, führender Repräsentant der von Maharishi Mahesh Yogi erneuerten vedischen Wissenschaft, hat in den 1990er-Jahren eine physiologische Deutung für das von Maharishi ausgearbeitete System des Veda und der vedischen Literatur vorgestellt (Nader 1995); seine Deutung kann zur systematischen Begründung der integrativen Medizin herangezogen werden, weil dabei jedem Bereich der Physiologie eine bestimmte Qualität der Intelligenz zuordnet wird

Entwicklungen einer theoretisch begründeten integrativen Medizin 55 Erste Überlegungen in Richtung einer quantenmechanisch begründeten integrativen Medizin stammen v. a. von D. Chopra (1990), A. Goswami (2004), H. Walach und H. Atmanspacher (Atmanspacher et al. 2002). Ein detailliertes Begriffssystem, das Quantenmechanik und Physiologie miteinander verknüpft, konnte jedoch bisher nicht entwickelt werden.

4

Der Vergleich der Ansätze von K.  W.  Kratky und T. Nader (. Tab. 4.7) ergibt eine Reihe von Verwandtschaften:  

..      Tab. 4.7  Vergleich der Ansätze von K. W. Kratky und T. Nader in Richtung einer integrativen Medizin Vergleichskriterien

K. W. Kratky

T. Nader

Ordnungsprinzip

Rückkopplung und Nichtlinearität

Entsprechung von Physiologie und Intelligenz

Kultureller Kontext

Abendländisch, rational

Vedisch, strukturierend

Darstellungsweise

Mathematisch-formal

Klangbezogen-analog

Methodische Zielsetzung

Auswahl der geeigneten Therapie zur Wiederherstellung des Gleichgewichts

Auswahl therapeutisch geeigneter Klänge (ordnende Schwingungen)

Integrierende Struktur

2 × 6 = 12 Typen eines interkulturellen Modells

6 × 6 Matrix der 36 Qualitäten der Intelligenz

Kennzeichnung des Gleichgewichts

2 × 3 = 6 Regulationsstufen eines Regelkreises

3 × 3 Matrix der 9 ayurvedischen Gebiete

Basissystem: ganzheitliche Intelligenz

4 Sichtweisen der Erkenntnis

4 Aspekte des Eigendynamik des Bewusstseins (Veda)

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4

B. Zeiger

55 K. W. Kratky beschreibt ein Modell, das auf drei Regulationsgrößen beruht – entsprechend den ayurvedischen Vata, Pitta und Kapha. Die Berücksichtigung der Erkenntnisse verschiedener Medizinsysteme führte ihn auf eine 12-gliedrige Aufteilung des Wirkungsbereichs der drei Regulationsprinzipien Das entspricht im System der 40 vedischen Gebiete, von dem T. Nader ausgeht, den 12 Bereichen des angewandten Veda (Upaveda), zu denen auch der Ayurveda zählt. 55 Gemäß der Deutung von T. Nader befasst sich der Ayurveda mit den Aspekten der Physiologie, die von der modernen allgemeinen Medizin behandelt werden. Die drei elementaren Regulationsgrößen in dem von T. Nader benutzten vedischen System sind Beobachter (Rishi), Beobachtungsvorgang (Devata) und Beobachtungsobjekt (Chhandas). 55 Beide Forscher stimmen in der 6-stufigen Beschreibung von Rückkopplungsschleifen überein. Die 6-Stufigkeit leitet sich aus dem Zusammenspiel der 3 Regulationsgrößen ab, aus denen durch Paarbildung ein Zyklus aus 6 Schritten entsteht. 55 Während sich K. W. Kratky nur auf eine Rückkopplungsschleife bezieht, kennt das vedische System insgesamt 7 hierarchisch-­ sequenziell angeordnete Schleifen. Die elementarste Schleife bilden die vier Veden, die die Eigendynamik des Bewusstseins beschreiben. Die Einbeziehung des Bewusstseins und seiner schrittweisen Selbstentfaltung ist der entscheidende Schritt zum Verständnis der Rolle und Wirkung der Qualitäten der Intelligenz in der integrativen Medizin. Über die Qualitäten der Intelligenz und deren physiologische Merkmale besteht eine Beziehung zwischen den möglichen Bewusstseinszuständen und den sieben Sprachen der Natur. Die möglichen Zustände des Bewusstseins bilden die einheitliche Grundlage des Begriffssystems der integrativen Medizin, die in ihrem Kern eine Bewusstseinsmedizin ist. Die im Zuge

der Entwicklung der integrativen Medizin anstehende begriffliche Neuordnung ist deshalb eng verbunden mit der Entwicklung einer modernen Wissenschaft vom Bewusstsein. Die Terminologie, die sich dabei durchsetzen wird, ist dann auch für die integrative Medizin entscheidend. Immer bestimmt die Entscheidung über die Qualität der Intelligenz, was erkannt bzw. was therapeutisch angesagt ist. Eine systematische Präsentation aller Qualitäten der Intelligenz ist deshalb die vorrangige Aufgabe der integrativen Medizin. Auf der Grundlage eines solchen intelligenzbezogenen Begriffssystems der integrativen Medizin kann erst entschieden werden, welche Behandlungs- oder Dia­ gnosesysteme miteinander verträglich sind, und was ihr Gültigkeitsbereich ist. Insgesamt bilden 55 Bewusstsein, 55 Qualitäten der Intelligenz und 55 Physiologie drei sich wechselweise bedingende Stränge bzw. Achsen, wobei die Achse des Bewusstseins und die Achse des materiellen Körpers (Physiologie) durch das Wirken der verschiedenen Qualitäten der Intelligenz zusammengehalten werden, wobei die allem zugrunde liegende ganzheitliche Qualität der Intelligenz (Veda) bewirkt, dass jedes Individuum ein unteilbares Ganzes ist. Ein auf die Qualitäten der Intelligenz bezogenes Begriffssystem ist für die integrative Medizin in zweifacher Weise bedeutsam: 55 Zum einen ist das Ideal der integrativen Medizin die optimale Integration von Geist und Körper bzw. von Bewusstsein und Physiologie. Aus dieser Perspektive ist die integrative Medizin die Neuformulierung des Ideals jedes Medizinsystems, insbesondere aber eine Weiterentwicklung und Verwirklichung der psychosomatischen Medizin. 55 Zum anderen ist die integrative Medizin ein zeitgenössisches Programm, die naturwissenschaftlich ausgerichtete Medizin mit den sog. komplementärmedizinischen Ansätzen und Systemen zu integrieren.

85 Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin

4.15  Meditation als wissenschaft-

liche Methode der integrativen Medizin

Nach allem, was bisher über die Grundlagen einer integrativen Medizin gesagt wurde, könnte der Eindruck entstehen, dass das dazu erforderliche Wissen ein umfangreiches Studium Generale erfordere. Das ist aber nicht der Fall, denn bei der anstehenden Integration geht es weniger um Inhalte, sondern um die im Bewusstsein angelegte Fähigkeit, die verschiedenen möglichen Sichtweisen zu erkennen und in eine geordnete Wechselbeziehung treten zu lassen. Alle Ströme der Entwicklung  – moderne und uralte, klassische und quantenmechanische – streben heute einer Synthese zu. Dabei ist es nicht notwendig, alle verschlungenen Wege und Umwege nachzuvollziehen, die zum modernen ganzheitlichen Verständnis der Welt geführt haben. Jeder muss nur den persönlichen Schritt machen zur „Mitwahrnehmung“, wie C. F. von Weizsäcker es nennt, oder zum „Teilnehmer“, ein Begriff den A. Wheeler geprägt hat. Bereits das Entstehen der Quantenmechanik wäre nicht möglich gewesen, wenn ihre Pioniere, bei aller Intelligenz, nicht unmittelbaren Zugang zu den ganzheitlichen Strukturen des Wissens im eigenen Bewusstsein gehabt hätten – jeder auf seine Weise und mehr oder weniger ausgeprägt. Dies ergibt sich aus den dokumentierten persönlichen Gesprächen, veröffentlichten Briefwechseln und autobiographisch gefärbten Texten, in denen die Pioniere der Quantenmechanik von ihren inneren Erfahrungen berichten (Dürr 1991). Das Bewusstsein der Ganzheit entwickelt sich nämlich nicht allein durch Beschäftigung mit den Phänomenen der Außenwelt oder durch Nachdenken über Fakten. Vielmehr muss eine bestimmte Geisteserfahrung hinzukommen, die mit Begriffen wie Innenschau, innere Wahrnehmung oder Meditation beschrieben wird, also ein vom üblichen Denken klar zu unterscheidendes innere Erleben (Görnitz 1999). Die praktische Frage stellt sich, was der tatsächliche geistige Prozess war, der die Pioniere der Quantenmechanik zu ihren ganzheitlichen

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Erkenntnissen geführt hat, denn darüber haben sie in ihren, nach vorgegebenen Richtlinien verfassten, wissenschaftlichen Veröffentlichungen nichts geschrieben. Kann dieser Erkenntnisprozess von jedem nachvollzogen oder erlernt werden? Ist es möglich, völlige Klarheit und Gewissheit über Ganzheiten zu erlangen, oder bleibt immer ein Makel von Überinterpretation, verblüffenden Analogien, gespensterhaften Fernwirkungen? Die praktische Beantwortung dieser Fragen erfordert, dass der einseitig objektive Zugang zu den Naturgesetzen durch die Entfaltung und Kultivierung des Subjekts ergänzt wird. Verstärkte Kultivierung des Subjekts bedeutet aber auch, dass nicht nur die vorhandenen geistigen, intellektuellen und emotionalen Fähigkeiten voll ausgeschöpft, sondern dass sie systematisch erweitert werden. Damit ist Folgendes gemeint: In Lehrbüchern und an Universitäten wird der Dritte Hauptsatz der Thermodynamik, das universelle Prinzip der Zunahme der Ordnung durch Verringerung der Anregung, zwar aus objektiver Sicht behandelt, viel wichtiger ist es jedoch, Schülern und Studenten die konkrete Fähigkeit zu vermitteln, das Anregungsniveau ihres Geistes abzusenken. Erst durch die Verwirklichung der inneren Ruhe eines weiten Bewusstseins werden Gefühle, Gedanken, Handlungen und Verhaltensweisen von innen her geordnet und dem Einfluss der Ungeordnetheit entzogen. So, wie die klassische Sichtweise dadurch kultiviert wird, dass man sich immer wieder und systematisch mit den Objekten beschäftigt, wird die quantenmechanische Sichtweise dadurch kultiviert, dass die Aufmerksamkeit regelmäßig der ganzheitlichen Realität zugewandt wird. Für die Aufmerksamkeit gilt immer das Prinzip der Identifikation: „Du wirst, was Du siehst.“ Wendet der Mensch seine Aufmerksamkeit überwiegend den Objekten der Sinne zu und ordnet er diese Eindrücke mit den Denkmethoden der objektiven Wissenschaft, dann kultiviert er die klassische Sichtweise. Klassische Wissenschaft ist „Reflexion über das Faktische“. Demgegenüber die Aufmerksamkeit dem Bewusstsein zuzuwenden heißt nicht, über das Be-

86

B. Zeiger

wusstsein nachzudenken oder darüber zu reden, sondern heißt „bewusst zu sein“. Was „zu sein“ bezüglich des Denkens theoretisch und praktisch bedeutet, beschreibt Maharishi Mahesh Yogi in der folgenden unmissverständlichen Definition:

»» „Der Zustand des Seins ist der Ursprung der Gedanken.“ (Maharishi Mahesh Yogi 1999a)

4

Übersetzt in die Sprache der Quantenmechanik heißt das: Der Ursprung der Gedanken ist der Zustand der geringsten Anregung des bewussten Geistes, d. h. ein Zustand ohne gedankliche Aktivität, der Ruhe aber voll bewusst. Das ist selbstbezogenes Bewusstsein. Es gibt nur eine einzige denkbare Art, wie selbstbezogenes Bewusstsein verwirklicht werden kann, nämlich durch bewusstes Abklingenlassen jeder geistigen Aktivität. Der Fachausdruck lautet „transzendieren“, und der dadurch erreichte Zustand des Bewusstseins wird „transzendentales Bewusstsein“ genannt. Der Inhalt der Gedanken hat für den Übergang zum Ursprung der Gedanken keine Bedeutung. Jeder, der denken kann, kann auch das Denken wieder zum Ursprung der Gedanken transzendieren. Der Ursprung der Gedanken als Zustand der geringsten Anregung des Bewusstseins bestätigt die Erkenntnis der Quantenmechanik, dass jedes Objekt einen Grundzustand hat, der als reinster Repräsentant der quantenmechanischen Realität mit allem und jedem verbunden ist. Aufgrund seiner physiologischen, neurophysiologischen und biochemischen Merkmale unterscheidet sich transzendentales Bewusstsein eindeutig vom Wach-, Schlaf- und Traumzustand. Transzendentales Bewusstsein wird deshalb auch als 4. Hauptbewusstseinszustand bezeichnet und als Zustand ruhevoller Wachheit beschrieben. >> Aus quantenmechanischer Sicht ist Meditation der spontane oder induzierte Übergang in den Grundzustand der mentalen (gedanklichen) Aktivität. Als Zustand der geringsten Anregung des bewussten Geistes ist das ein selbstbezogenes Bewusstsein, d. h., der Beobachter ruht ohne gedankliche oder sinnliche Anregung in sich.

Die Wissenschaftlichkeit der Technik der transzendentalen Meditation wurde besonders gründlich erforscht und erfüllt alle wissenschaftlichen Kriterien. Die Technik ist universell, weil sie von jedem Menschen erfolgreich angewandt werden kann, und sie ist wissenschaftlich, weil sie ein systematischer Vorgang ist, der bei jedem zum gleichen Ergebnis führt. Auch kann sie jederzeit durch persönliche Erfahrung nachvollzogen werden, steht nicht im Widerspruch zur wissenschaftlichen Forschung und ist unabhängig von Sprache, Kultur und Denksystem gleichermaßen wirkungsvoll. Die Pionierforschung auf diesem Gebiet stammt von R. K. Wallace (1970). Bemerkenswert ist, dass die Ruhe während der Erfahrung transzendentalen Bewusstseins um Vieles tiefer ist als im Tiefschlaf. Die Veränderungen der physiologischen Messgrößen, die tiefe Ruhe anzeigen, sind deshalb während des Zustands ruhevoller Wachheit hoch signifikant, Der Zustand ruhevoller Wachheit erweist sich so als wirkungsvolles Antidot bei Stress. Typische Veränderungen im EEG bei Aufzeichnung der Gehirnaktivität im Zustand ruhevoller Wachheit sind vermehrte alpha-Wellen sowie eine größere Synchronisation und Kohärenz in allen Frequenzbereichen, was auf eine erhöhte Integration der Hirnfunktion hinweist. Auf eine Verbesserung in der Lernfähigkeit deutet u. a. der Nachweis einer Belebung latenter Gehirnreserven (Lyubimov 1992). Die klassischen wissenschaftlichen Denkmethoden  – die phänomenologische Methode, die axiomatisch-deduktive Methode, die reduktive Methode und die sprachlich-­ semiotische Methode (Bochenski 1954)  – hängen in ihrer Wirksamkeit wesentlich davon ab, wie geordnet das Denken funktioniert. Die meditative geistige Technik, die die Klarheit und Geordnetheit des Denkens erhöht, löst die klassischen Denkmethoden nicht ab, sondern optimiert sie. Es ist zu erwarten, dass die wissenschaftlichen Forschungsmethoden erst ihre volle Wirkung entfalten, wenn der Geist sein kreatives Potenzial voll nutzen kann.

87 Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin

4.16  Chance der integrativen

Medizin: Gesundheit in allen Lebensbereichen

Industrie und Technologie dominieren zu Beginn des 21. Jahrhunderts das individuelle und gesellschaftliche Leben des Menschen. Als Folge davon sind technische Geräte ein wesentlicher Aspekt der an den Hochschulen gelehrten Mainstream-Medizin, was ihr die Bezeichnung Apparatemedizin eingetragen hat. Diese Entwicklung hat eine positive und eine negative Seite. Positiv an dieser Entwicklung ist die verstärkte und intelligente Nutzung von Naturgesetzen, sodass die Lebensqualität wesentlich verbessert werden konnte. Die von A.  Einstein sehr klar formulierte Chance, die der technische Fortschritt für die persönliche und die kulturelle Entwicklung haben kann, blieb weitgehend auf der Strecke:

»» „Die Entwicklung der Technik fordert von

dem Individuum immer weniger Arbeit für die Befriedigung des Bedarfes der Gesamtheit. … die freie Zeit und Kraft, die dem Individuum übrig bleiben werden, vermögen der ­Entwicklung der Persönlichkeit günstig zu sein. So kann die Gemeinschaft wieder gesunden, und wir wollen hoffen, dass spätere Historiker die sozialen Krankheitserscheinungen unserer Zeit als Kinderkrankheiten einer höher strebenden Menschheit deuten werden.“ (Einstein 1956)

Die Schattenseiten des technischen Fortschritts beruhen darauf, dass von Wirtschaft, Industrie und Technik überwiegend nur einzelne Naturgesetze genutzt werden, nicht jedoch der ganzheitliche Wert aller Naturgesetze, das einheitliche Feld. Dieser Mangel hat in der Medizin zum Erstarken der Komplementärmedizin geführt. Wenn es darum geht, die Wirkung spezifischer Naturgesetze durch das volle Potenzial des Naturgesetzes zu ergänzen und so Fehler und Krankheit im Leben systematisch abzubauen bzw. zu verhindern, gilt aber bereits in der objektiv ausgerichteten Naturwissenschaft ein uni-

4

verselles Prinzip: der Dritte Hauptsatz der Thermodynamik. Dieses weitgehend vernachlässigte Prinzip liefert einen Zugang zur organisierenden Kraft der quantenmechanischen Realität, der für alle Vielteilchensysteme gültig ist. Durch die Gültigkeit des Dritten Hauptsatzes der Thermodynamik für kollektive Systeme bekommen Methoden des Yoga, die in der Komplementärmedizin benutzt werden, um das reibungslose Zusammenwirken in der Physiologie des Einzelnen zu fördern, eine gesellschaftliche Dimension. Weitblickende Mediziner betonen deshalb die Parallelität und Wechselbeziehung, die zwischen der Gesundheit des Einzelnen und der Gesundheit der Gesellschaft besteht. Die wohl bemerkenswerteste Konsequenz der Quantenphysik ist, dass die Gesundheit der Gesellschaft nach denselben Naturgesetzen verwirklicht wird wie die Gesundheit des Einzelnen. Das liegt daran, dass beides kollektive Systemen sind, d. h. aus einer Vielzahl von Individuen bestehen, die gemäß ihren Fähigkeiten bestimmte Aufgaben erfüllen. Unabhängig vom Zusammenspiel individuellen Einheiten hängt die Geordnetheit des Kollektivs von dem Grad ab, mit dem die Individuen Zugang zur quantenmechanischen Realität haben. Ausgehend von den Bedingungen, unter denen bei einem Laser kohärentes Licht entsteht, wurden diese Zusammenhänge fächerübergreifend für alle Vielteilchensysteme erforscht. Diese interdisziplinären Forschungen ergaben, dass kollektive Kohärenz immer dann auftritt, wenn ein bestimmter Anteil von Individuen eines Kollektivs geordnet agiert. Mathematisch ausgedrückt, gilt ein „Wurzel-­aus-­NGesetz“. Das Gesetz besagt, dass es zur Verwirklichung von Geordnetheit in einem System aus N Einheiten nur notwendig ist, dass in dem System die „Wurzel-aus-N-Einheiten“ auf geordnete Weise tätig sind. Immer besteht eine Wechselbeziehung zwischen individueller und kollektiver Kohärenz. Die Strategie, diese Kohärenz zu fördern, besteht darin, die Angeregtheit des Systems zu vermindern, wie es der Dritte Hauptsatz der Thermodynamik erfordert. Alles das ist theoretisch und praktisch sehr genau erforscht und von Medizinern aufgegriffen wor-

88

4

B. Zeiger

den (Lipton 2010). Eine weitere Konsequenz des Dritten Hauptsatzes der Thermodynamik ist der Meissner-Effekt bei Supraleitern. Er illustriert das universelle Prinzip, dass kohärente Systeme vor äußeren Einflüssen geschützt sind. Die wichtigste Aufgabe der integrierten Medizin ist deshalb, den Bezug zum Bereich uneingeschränkter Verbundenheit und vollkommener Geordnetheit, der Ebene der Quantenmechanik, sicherzustellen, sodass sie ständig als lebendige Wirklichkeit unmittelbar im Bewusstsein zur Verfügung steht. Im reinen Bewusstsein gibt es keine Probleme:

»» „… da wusste ich im Blitz: ‚Ja das ist es.‘

Eigentlich waren schon alle Fragen beantwortet.“ (C. F. von Weizsäcker, zitiert in M. Drieschner 1992)

Ebenso schließt die Quantenmechanik Pro­ bleme aus:

»» „Die Quantenmechanik ist kein Problem,

sondern die Lösung von Problemen, nämlich die Lösung für das Verhältnis vom Teil zum Ganzen zu einem holistischen Zusammenhang.“ (Görnitz 1999)

Nach dem hier entwickelten Verständnis hat die integrative Medizin zwei Standbeine: die alles verbindende Realität des Bewusstseins und die Quantenmechanik als exakte Sprache des Bewusstseins. kFazit

Die Quantenmechanik erlaubt prinzipiell immer mindestens vier Interpretationen: (1) eine ganzheitlich-bewusstseinsbezogene, (2) eine subjektbezogene, (3) eine auf den Erkenntnisprozess bezogene und (4) eine auf das objektive Geschehen bezogene Perspektive. Dieser Buchbeitrag benutzt die erkenntnisbezogene-wissenschaftstheoretische Perspektive, auf der auch die vergleichenden Betrachtungen von K. Kratky beruhen, den der Autor als Ausgangspunkt für seine Darstellung benutzt hat. Der Ansatz von Kratky ist typisch für das Denken des Wiener Kreises (R. Carnap u. a.), sodass die Erweiterung des Autors in Richtung der quantenmechanischen Grundlagen als eine „Verbeu-

gung“ vor diesem für das 20. Jahrhundert typischen Denkansatz angesehen werden kann. Ziel des Wiener Kreises war eine empirisch-logische Begründung der von F.W.J. Schelling antizipierten „Einheits-­Wissenschaft“, was in der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts ansatzweise auf zweifache Weise realisiert wurde: Einerseits mathematisch mit der Theory of Everything (einheitliche Feldtheorie) und anderseits pädagogisch mit der Wissenschaft der kreativen Intelligenz (Maharishi Mahesh Yogi 1982). In der Medizin korrespondiert diese Entwicklung mit dem Entstehen der integrativen Medizin. Die Erneuerung des Ayurveda wird heute meist als zentraler Teil dieser Entwicklung interpretiert, wie z. B. das Journal of Ayurveda and Integrative Medicine durch seinen Titel nahelegt (s. auch Mitterer 2013). Zusammenfassung 55 Die ganzheitliche und gleichzeitig mathematisch exakte Vorgehensweise der Quantenmechanik erlaubt es, die Strukturen und Funktionen des menschlichen Körpers sowohl als Ausdruck von Naturgesetzen als auch von Qualitäten der Intelligenz zu verstehen, was unmittelbare methodische Bedeutung für die ärztliche Praxis besitzt. Das begriffliche System einer integrativen Medizin auf ganzheitlicher Grundlage ist gleichzeitig Methode und Philosophie. 55 Damit Theorie und Praxis immer eine inte­ grierte Einheit bilden, darf der Faktor Bewusstsein niemals unberücksichtigt bleiben, weder beim Arzt und Therapeuten noch beim Patienten. Die Realität des Bewusstseins spielt eine Schlüsselrolle bei der Auswahl und Anwendung der medizinischen Methoden. Vor dem Hintergrund der Entsprechung von Physiologie und Naturgesetz ergeben sich folgende Aufgaben und Ziele der integrativen Medizin: 55 Integrative Medizin sollte allen verfügbaren methodischen und diagnostischen Ansätzen einen naturgesetzlich genau definierten Platz zuweisen und gleichzeitig kreative Weiterentwicklungen und Anpassungen aufgrund veränderter Umstände ermöglichen.

89 Quantenphysikalische Grundlagen der integrativen Medizin

55 Integrative Medizin sollte bewusstseinsbezogene, praktische Kriterien zu Verfügung stellen, die eine Beurteilung des Gültigkeitsbereichs jedes medizinischen Ansatzes erlauben. 55 Im Rahmen der integrativen Medizin sollte eine naturgesetzlich begründete, systematische Terminologie für alle medizinischen Methoden und Heilweisen entwickelt werden, die die praktische Anwendung unterstützt und die sprachliche Kluft zwischen Arzt und Patient beseitigt. 55 In Form einer ständig aktualisierten elek­ tronischen Enzyklopädie sollten die Methoden der integrativen Medizin auf dreierlei Weise dargestellt werden: 55 subjektbezogenen, d. h. in Begriffen der Qualitäten der Intelligenz, 55 objektbezogen, d. h. in physiologischen Begriffen sowie 55 methodisch, d. h. in Begriffen der Naturgesetze zur Begründung der Wirksamkeit der Methoden.

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Medizin: naturwissenschaftlich-­ reduktionistisch vs. integrativ-­ganzheitlich Wolfgang Marktl

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_5

5

92

5

W. Marktl

Die konventionelle Medizin beruht auf der Basis des naturwissenschaftlichen Denkens. Die Akzeptanz naturwissenschaftlicher Denkprinzipien in der Medizin und deren konsequente Anwendung können als Basis für beeindruckende Fortschritte in der Diagnostik und Therapie verschiedener Erkrankungen anerkannt werden. Ein wesentliches Grundelement der Naturwissenschaft ist das auf Galileo Galilei zurückzuführende Experiment als Methode des Erkenntnisgewinns. Die bis zum Beginn der Anwendung naturwissenschaftlicher Methoden praktizierte Heilkunst wurde damit auch in den Rang einer naturwissenschaftlichen Disziplin erhoben. Die als Heilkunst praktizierte Medizin war gekennzeichnet von subjektiver Erfahrung mit starker individueller Prägung. Die naturwissenschaftlich fundierte Medizin ersetzt Subjektivität durch Objektivität und Individualismus durch Allgemeingültigkeit. Hand in Hand damit stellen Messbarkeit und Reproduzierbarkeit in der Naturwissenschaft ein wesentliches Erfordernis dar. Die naturwissenschaftliche Denkweise ist aber bekanntlich auch reduktionistisch. Um Irrtümer auszuschließen, wird eine möglichst einfache Ursache-Wirkungs-­Beziehung angestrebt, wobei Störeinflüsse durch experimentelle Versuchsbedingungen nach Möglichkeit ausgeschaltet werden sollten. Die Aussagen und Erkenntnisse, die bei solchen Versuchsansätzen getroffen bzw. gewonnen werden können, sind daher gut abgesichert, treffen aber eigentlich nur für die gewählten Versuchsbedingungen zu. Gerade das praktische ärztliche Handeln findet aber unter unkontrollierbaren und ständig wechselnden Bedingungen statt. Die analytisch-dissoziierende Methodik und der reduktionistische Denkansatz in der Naturwissenschaft haben die Subspezialisierung in der Medizin gefördert. Damit geht aber auch eine eher mechanistische Vorstellung von der Funktion und Dysfunktion des Organismus einher. Diese methodischen Ansätze haben hinsichtlich der Diagnose und Therapie

vieler Erkrankungen ganz unleugbar große Erfolge erbracht. Es kann andererseits auch nicht übersehen werden, dass diese Aussage nicht für alle Arten von Erkrankungen zutrifft. Vor allem dann, wenn bei der Entstehung und Entwicklung von Krankheiten mehrere exogene und endogene Faktoren eine Rolle spielen, erscheint nicht ein reduktionistischer, sondern ein systemischer Ansatz angebracht. Für chronische Zivilisationskrankheiten muss eine Multikausalität geradezu als Charakteristikum aufgefasst werden. Darüber hinaus kann die Naturwissenschaft bei Befindlichkeitsstörungen, psychischen Erkrankungen etc. weder bei der Diagnostik noch bei der therapeutischen Intervention eine entscheidende Hilfestellung bieten. Dieses sowohl von Ärzten als auch von Patienten erkannte Defizit spielt eine nicht unwesentliche Rolle bei der seit Jahren zu beobachtenden und zunehmenden Akzeptanz von sog. „ganzheitsmedizinischen“ Verfahren. Integrative Medizin gewinnt international auch auf universitärer Ebene immer mehr an Bedeutung. In Wien vertritt u. a. die GAMED (Wiener Internationale Akademie für Ganzheitsmedizin) seit ca. 30 Jahren die Intentionen einer integrativen Medizin. Es geht dabei auch um eine rationale Beziehung zwischen der konventionellen und komplementären Medizin unter Berücksichtigung der Art und des Stadiums einer bestehenden Gesundheitsstörung. Besondere Berücksichtigung finden dabei Aspekte einer präventiven Medizin. Es erscheint angesichts der derzeitigen Entwicklung nicht unberechtigt, die integrative Medizin als jene Medizin zu betrachten, die das Bild des Gesundheitswesens in der Zukunft prägen wird. Zusammenfassung 55 Kennzeichen des menschlichen Organismus sind u. a. Komplexität und Dynamik. 55 Ein ausschließlich reduktionistischer Zugang zu Gesundheit und Krankheit missachtet diese Tatsache und sollte durch eine integrative Denkweise ergänzt werden.

93

Naturwissenschaftliche Modellierung physiologischer Prozesse: Rückkopplung, Nichtlinearität und Chaos Karl W. Kratky 6.1

Einführung – 95

6.2

Rückkopplung und (Nicht-)Linearität – 96

6.2.1 6.2.2

 ückkopplung – 96 R Linearität/Nichtlinearität – 96

6.3

 arstellung der Dynamik: gewöhnliche D Differenzialgleichungen 1. Ordnung – 99

6.4

I nterpretation der Ergebnisse im Sinne der Physiologie – 100

6.5

Fixpunkte und Ljapunov-Exponenten – 102

6.5.1 6.5.2

F ixpunkt – 102 Ljapunov-Exponent – 103

6.6

 eispiel einer stückweise linearen iterierten B Abbildung – 104

6.7

 ehrere gekoppelte lineare Differenzialgleichungen: M Nebenwirkungen – 106

6.8

 ekoppelte nichtlineare Differenzialgleichungen: G Grenzzyklen – 108

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_6

6

6.9

Chaotischer Attraktor der Lorenz-Gleichungen – 110

6.10

Diskussion – 112 Literatur – 116

95 Naturwissenschaftliche Modellierung physiologischer Prozesse

6.1  Einführung

Die westliche Medizin bezieht sich von ihrem Selbstverständnis her auf die Naturwissenschaften. Das gilt insbesondere auch für die Physiologie, die schon dem Namen nach der Physik nahesteht. In diesem Buchbeitrag sollen dem Leser neuere naturwissenschaftliche Erkenntnisse nähergebracht werden, die auch für die Medizin von Relevanz sind. Es geht dabei um ein Gebiet, das unter unterschiedlichen Namen bekannt ist, z. B. 55 Komplexitätstheorie, 55 Chaos- und Systemforschung, 55 Chaostheorie. Hier wird der Begriff „Chaosforschung“ verwendet. Warum sich noch keine einheitliche Bezeichnung durchgesetzt hat, liegt u. a. daran, dass es dieses interdisziplinäre Forschungsgebiet erst seit ca. 1975 gibt. Dass keine eindeutige Geburtsstunde ausgemacht werden kann (anders als z. B. bei der Allgemeinen Relativitätstheorie, deren 100. Geburtstag kürzlich gefeiert wurde), liegt an Folgendem: Die Chaosforschung ist nicht mit einer neuen  – womöglich einzigen  – Gleichung verbunden, sondern es wurden teilweise schon bekannte Gleichungen auf neue Art  – nämlich „richtig“ – gelöst, was zu völlig neuen Einsichten geführt hat. Darauf wurden – und werden weiterhin  – neue Modelle entwickelt, und deren Verhalten wird untersucht. Demgemäß handelt es sich eher um ein großes, spannendes Forschungsprojekt als um eine Theorie im eigentlichen Sinn. In den Naturwissenschaften geht es nicht in erster Linie darum, die Wirklichkeit abzubilden – das ist streng genommen auch gar nicht möglich. Stattdessen werden Modelle erstellt – oft auch in Form von Gleichungssystemen. Deren Lösung wird dann mit den Ergebnissen von Experimenten verglichen. Dabei gibt es oft Überraschungen: Gleichungen können zu Voraussagen führen, die ursprünglich überhaupt nicht vorhergesehen worden waren. Die Naturwissenschaften, speziell die Chaosforschung, sind immer wieder mit Modellbildung und der „Konstruktion der Wirklich-

6

keit“ verbunden. Dabei ist es das Ziel, ein zunehmend tieferes Verständnis der modellierten Systeme zu bekommen  – und sei es auch nur, immer besser zu verstehen, weshalb oft etwas „nicht in den Griff zu bekommen ist“. Im Laufe der Jahrhunderte sind die Ansätze der neuzeitlichen Naturwissenschaften und die damit verbundenen Gleichungen immer komplizierter geworden, und es war in den meisten Fällen nur eine näherungsweise Lösung möglich. Damit diese Vorgehensweise überhaupt einen Sinn ergibt, ist die sog. starke Kausalität nötig: Nicht nur soll die exakte Lösung zum richtigen Ergebnis führen (schwache Kausalität), sondern auch eine Näherungslösung zu einem annähernd richtigen Ergebnis. Das wird i. Allg. auch angenommen – nur trifft es leider oft nicht zu, wie die Chaosforschung gezeigt hat. Bei fehlender starker Kausalität können ähnliche Eingriffe in ein System durchaus unterschiedliche Resultate zeigen. Genau zu untersuchen, worauf es dabei ankommt, ist ein zentrales Thema der Chaosforschung. Im Zusammenhang damit hat sich der Fokus von komplizierten zu komplexen Prozessen verschoben: Statt komplizierte Modelle zu betrachten und sich darin zu verlieren, wird probeweise auf einfache, nicht unbedingt realistische Modelle zurückgegriffen, die genau untersucht werden. Typische Verhaltensweisen dieser Modelle werden dann mit der Wirklichkeit verglichen. Mit diesem Zugang kann man viel lernen. Aktuelles Beispiel: Die globale ökonomische Krise Wie ist es möglich, dass selbst Fachleute kein wirksames Rezept dagegen haben? Schlimmer noch: Sie geben einander widersprechende Ratschläge. Es ist reizvoll, sich das einmal durch die Brille der Chaosforschung anzuschauen. So sind zwei Vorschläge – auch wenn sie einander zu widersprechen scheinen – eventuell beide sinnvoll. Bei fehlender starker Kausalität gilt nämlich auch, dass unterschiedliche Eingriffe in ein System ähnliche Resultate hervorrufen können. Das gilt in besonderer Weise auch für Schulmedizin und Homöopathie: Obwohl sie gewissermaßen gegensätzlich vorgehen, kommt es im besten Fall bei beiden Zugängen zu Heilungserfolgen. Ein weiterer Punkt ist, dass viele ökonomische Modelle letztlich Gleichgewichtsmodelle sind. Sobald es zu Krisen kommt, versagen die Modelle zumindest teilweise.

96

K. W. Kratky

Hierzu ein Vergleich mit der Thermodynamik („Wärmelehre“): Sie beschäftigte sich bis gegen Mitte des 20. Jahrhunderts vorwiegend mit Gleichgewichtszuständen und war daher eher eine „Thermostatik“. Dann ging man zu einer Thermodynamik nahe dem Gleichgewicht über, bis es, in logischem Zusammenhang und parallel zur Entwicklung der Chaosforschung, zu einer echten Nichtgleichgewichts-Thermodynamik (fern vom Gleichgewicht) kam. Dieser Schritt steht der Ökonomie offenbar noch bevor.

kHinweis

6

Die im Folgenden verwendeten Gleichungen sollen die wesentlichen Aussagen dieses Kapitels untermauern bzw. plausibel machen. Wer nicht mathematikaffin ist, kann die mathematischen Teile querlesen und versuchen, möglichst viel davon zu verstehen. Es wird immer wieder Wichtiges erklärt. Als „Lohn“ winkt ein tieferes Verständnis davon, warum vieles in der Welt so schwer voraussagbar ist (nicht nur Wirtschaftskrisen, sondern auch die Wirksamkeit von Therapien). Wenn eine langfristige Prognose nicht möglich ist, muss das nicht an unwägbaren oder gar zufälligen Einflüssen liegen. Es lässt sich auch am Verhalten von im Grunde genommen recht einfachen Modellgleichungen studieren, wenn nur zwei „Zutaten“ gegeben sind: Rückkopplung und Nichtlinearität. Auf diese beiden Begriffe wird daher im Folgenden genauer eingegangen. 6.2  Rückkopplung und (Nicht-)

55 Beim logisch-systematischen Blickwinkel 1 handelt es sich um eine logische oder auch zeitliche Abfolge (wie auf einer Geraden bzw. einer Einbahnstraße): Im medizinischen Idealfall ergibt sich aus den Symptomen der Krankheit die Diagnose, daraus die Therapie und schließlich die Gesundung. 55 Beim kybernetisch-systemischen Blickwinkel 2 ist es komplizierter, hier kommt es zu Rückwirkungen. Greift die Therapie nicht, sucht der Patient den Arzt nochmals auf, und es wird daraufhin vermutlich eine neue Therapie veranlasst. In unserem Denken werden die allgegenwärtigen Rückwirkungen ausgeblendet und oft gerade die jeweils eigenen Aktionen als Auslöser einer Kette von Ereignissen gesehen. Dabei lautet schon seit Newton ein wesentlicher Grundsatz (. Tab. 6.1, Symbol für BW 2):  

Wechselwirkung: actio = reactio 

(6.1)

So, wie die Schwerkraft der Sonne auf die Erde wirkt, so gilt das auch umgekehrt – sogar quantitativ in gleichem Ausmaß! Dass die „Rückwirkung“ der Erde auf die Sonne in erster Näherung vernachlässigt werden kann, liegt daran, dass sie sich wegen der wesentlich größeren Sonnenmasse auf deren Bewegung relativ wenig auswirkt – das ist aber erst eine Folgeerscheinung.

Linearität

Um diese Begriffe zu verstehen, ist es nötig, einiges an Handwerkszeug erarbeiten. Es fängt schon damit an, dass oft von Nichtlinearität die Rede ist, wenn eigentlich „Rückkopplung“ (Rückwirkung, Feedback) gemeint ist. Diese Verwechslungsgefahr beruht darauf, dass beide Begriffe mit einer „Abweichung von der Geraden“ zu tun haben, wenn auch in unterschiedlicher Weise. 6.2.1  Rückkopplung

6.2.2  Linearität/Nichtlinearität

Nun zur Linearität bzw. Nichtlinearität: In geometrischer Sprechweise (Ebene: x, y) entspricht dem im 1. Fall eine Gerade, im 2. Fall jede Art von Kurve, die von einer Geraden abweicht, beispielsweise ein Kreis. Betrachtet werden dazu folgende Spezialfälle: 1. Gerade: y = x; 2. Gerade: 2 y = - x + 9; 2

Kreis: x 2 + ( y - 1) = 4

Zunächst zur Rückkopplung (. Tab.  6.1): Es geht hier v.  a. um den Unterschied zwischen den Denkweisen bzw. Blickwinkeln 1 und 2.  



(6.2)

Die in Gl.  6.2 gezeigte algebraische Schreibweise findet ihr Gegenstück in der geometrischen Darstellung von . Abb.  6.1. Die beiden  

6

97 Naturwissenschaftliche Modellierung physiologischer Prozesse

..      Tab. 6.1  Verschiedene Blickwinkel bzw. Denkweisen (mod. nach Kratky 2003) BW

Symbol

Vorkommen

Kennzeichnung

Charakteristik

Beispiele

1

Klassische Naturwissenschaften

Logisch/ Systematisch

Entweder – oder Wenn – dann

Objektivität Hierarchie Reproduzierbarkeit Vorhersagbarkeit

2

Chaosforschung Sozialwissenschaften

Kybernetisch/ Systemisch

Sowohl – als auch

Subjektivität Rückbezüglichkeit Vernetzung Komplexität

3

Geisteswissenschaften

Konstruktivistisch/Symbolisch

Einerseits – andererseits

Analogiereihen Rituale Metaphern Spiegeln Plazebo

Zwei Seiten einer Medaille BW Blickwinkel

..      Abb. 6.1 Zwei Geraden und ein Kreis im Vergleich

y 5 4 3 2 1 0 –1

–1

0

1

Geraden von Gl.  6.2 sind durchgezogen und haben den Schnittpunkt (x  =  3, y  =  3), was durch die gestrichelten dünnen Geraden verdeutlicht wird. 55 Die 1. Gerade, y = x, entspricht der Diagonalen (Anstieg 1), sie verläuft durch den Ursprung (x = 0, y = 0) und z. B. durch den Punkt (x = 3, y = 3). 55 Die 2. Gerade ist abfallend (ungleiches Vorzeichen bei x und y, Anstieg –½). Sie schneidet mit den Werten 4,5 bzw. 9 die y- bzw. die x-Achse (Verhältnis 1:2). Der

2

3

4

5

6

7

8

9

10

x

Ausdruck „negativer Anstieg“ ist dabei vergleichbar mit „Minuswachstum“. Der Schnittpunkt der Geraden ist algebraisch in folgender Weise zu finden: y=x



(6.3a)

2 y = -x + 9 

(6.3b)

3 y = 0 + 9 bzw. y = 3; dann mittels (6.3a ): x = 3 

(6.3c)

98

K. W. Kratky

Dabei entsteht Gl.  6.3c durch die Summenbildung der Gleichungen Gl. 6.3a und 6.3b. Wie schon aus der Schule bekannt, lassen sich auf diese Art „2 Gleichungen mit 2 Unbekannten“ lösen. Genau genommen sind es 2 lineare Gleichungen, die somit Geraden darstellen, die außerdem (rück-)gekoppelt sind (x und y hängen miteinander zusammen). Ob dabei y als von x abhängig angesehen wird oder x von y, ist Geschmackssache. In symmetrischer Schreibweise von Gl.  6.3a und  6.3b wird das klarer:

6

x- y =0

(6.4a)

x + 2y - 9 = 0 

(6.4b)

Anmerkungen 1. Es gibt einen eindeutigen Schnittpunkt der beiden Geraden. Das gilt nicht nur für diese beiden Geraden, sondern – bis auf Sonderfälle – allgemein: Wenn beide Geraden identisch sind (sind es dann noch 2 Geraden?), gibt es unendlich viele Lösungen, nämlich die Gerade(n) selbst. Wenn die beiden Geraden parallel sind, gibt es keinen Schnittpunkt, oder er liegt im Unendlichen (je nach Definition). 2. Bei Schnittpunkten von Kurven (auch mit einer Geraden) ist der Fall hingegen viel komplizierter: So hat die 1. Gerade in . Abb. 6.1 zwei Schnittpunkte mit dem Kreis, die 2. Gerade hingegen keinen. 3. Die exakte Lösung x = 3 und y = 3 kommt beim Zeichnen naturgemäß nur näherungsweise („in Zeichengenauigkeit“) heraus. Das entspricht den in 7 Abschn. 6.1 ausgeführten Überlegungen zur starken Kausalität, ist aber nicht selbstverständlich. So kann der Schnittpunkt ziemlich ungenau sein, wenn die beiden Geraden fast denselben Anstieg haben.  



4. Hier wurde die Lösung intuitiv bzw. durch Ausprobieren ermittelt. Bei 3 linearen Gleichungen mit 3 Unbekannten (lineare Beziehungen stellen dann Ebenen im Raum dar, nicht Geraden in der Ebene) wird es schon mühsamer. Trotzdem gibt es allgemein wieder einen einzigen Schnittpunkt. Bei N linearen Gleichungen mit N Unbekannten (jede Gleichung: Hyperebene im N-dimensionalen Hyperraum) wird es noch viel komplizierter – aber eben nicht komplexer: Es lässt sich nämlich ein Algorithmus (eine Rechenvorschrift) angeben, der automatisch und eindeutig zum Ziel führt (bis auf Sonderfälle wie parallele Hyperebenen). Im Prinzip ändert sich am Problem und seiner Lösung mit zunehmender Dimension N nichts. Durch die Linearität der Gleichungen stören also die vielen Variablen und damit die vielen Kopplungen letztlich nicht. Bei Schnittpunkten von Kurven bzw. von gekrümmten (Hyper-)Flächen gibt es hingegen nur für besondere Fälle Lösungen, keine allgemeinen Algorithmen. Dieses Problem ist also komplexer und kann schon bei wenigen Gleichungen mit wenigen Variablen unlösbar sein. 5. Was heißt überhaupt „Lösung“? Es gibt ganz allgemein zwei Arten von Lösungen: analytische (exakte) und numerische (näherungsweise). Die erste Art ist bei linearen Gleichungssystemen zu finden, die zweite Art üblicherweise bei allen anderen Problemstellungen. Viele numerische Lösungsverfahren sind so kompliziert, dass sie erst mit der Entwicklung des Computers zugänglich geworden sind (algebraische Seite). Die geometrische Darstellbarkeit

6

99 Naturwissenschaftliche Modellierung physiologischer Prozesse

Die Änderungsrate x′ im Laufe der Zeit soll nun wieder von x selbst abhängen (einfache Form der Rückkopplung) sowie eventuell auch direkt von t. Das kann folgendermaßen ausgedrückt werden:

wurde durch die stetige und rasche Verbesserung der Computergraphik ebenfalls sehr weit vorangetrieben.

x¢ = f ( x): autonom

6.3  Darstellung der Dynamik:

gewöhnliche Differenzialgleichungen 1. Ordnung

x¢ = F ( x,t ) : nichtautonom

Bisher wurden algebraische Gleichungen betrachtet. In den Naturwissenschaften geht es aber v. a. um die Dynamik von Prozessen, die mit sog. Differenzialgleichungen beschrieben wird (Heuser 2009; Sigg 2012). So können z. B. die Veränderungen von Kenngrößen (wie etwa des systolischen Blutdrucks) dargestellt werden. Das soll nun in möglichst einfacher Weise geschehen. Beginnen wir mit einer einzigen Variablen x, die einen eindimensionalen Raum aufspannt. Von der Physik ausgehend kann ein bestimmtes x  =  x(t) als Ort eines Teilchens zum Zeitpunkt t interpretiert werden. Dann bezieht sich seine Geschwindigkeit v = v(t) auf die Änderung der Position x. Genauso gut kann x in der Physiologie für die Körpertemperatur oder den systolischen Blutdruck stehen, v bezeichnet dann die jeweilige zeitliche Änderungsrate. Bei den zuletzt genannten Beispielen handelt es sich nicht um die Bewegung im „echten“ Raum, sondern um den abstrakten Raum der Variablen x. In der Chaosforschung ist generell vom Zustands- oder Phasenraum, der üblicherweise mehrdimensional ist, die Rede. Folgende mathematische Schreibweise ist üblich: v(t ) = v = x¢ = dx /dt



(6.5)

kSprechweise

Die Geschwindigkeit (bzw. Änderungsrate) v ist der Differenzialquotient bzw. die Ableitung von x nach t  – genauer die 1.  Ableitung. v′ = (x′)′ = x″ wäre die 2. Ableitung von x.

(6.6a)



(6.6b)



Es handelt sich hier um sog. gewöhnliche Differenzialgleichungen 1.  Ordnung  – es kommt jeweils nur die 1. Ableitung nach der Zeit t vor. Die autonome Gleichung enthält nur eine Funktion f(x), in der die Zeit nicht explizit vorkommt. Der nichtautonome allgemeinere Fall enthält F(x,t) – eine Funktion von x und auch von t. Wir werden uns, wie es in der Chaosforschung oft geschieht, auf autonome Gleichungen beschränken. Außerdem wird zunächst der einfachere Fall betrachtet, bei dem auf der rechten Seite nur lineare Funktionen von x vorkommen: x¢ = Ax: homogen (6.7a) 

x¢ = Ax + B: inhomogen ( B ¹ 0)

(6.7b)



Die Konstanten A und B werden als interne Charakteristika des Systems angesehen. A gibt dabei die Rückkopplung von x auf dessen eigene Veränderung an. Da x(t) durch die 1. Gleichung (Gl. 6.7a) nur bis auf einen Faktor bestimmt ist, wird diese Gleichung homogen genannt. Bei der 2. Gleichung (Gl. 6.7b) gibt es hingegen einen Zusatzterm B, der das verhindert; sie ist somit inhomogen. Gehen wir zunächst von der homogenen Gl. 6.7a aus. Diese Gleichung hat eine einfache exponentielle Lösung für t ≥ 0: x(t ) = xo exp ( At ); xo : Anfangswert bei t = 0



(6.8)

wobei gilt: 55 A > 0 (positive Rückkopplung): exponentielle Zunahme (bzw. Wachstum) von x 55 A = 0 (keine Rückkopplung):  x verändert sich im Lauf der Zeit nicht: x = x0

100

K. W. Kratky

55 A   0 nicht auftreten, da ein exponentielles Wachstum rasch zu beliebig großen Werten führt und daher nicht lange aufrechterhalten werden kann. Wenn daher von der Wirtschaft verlangt wird, sie solle ein Wachstum von 3 % erbringen (oder von der Bank, dass die Verzinsung dauerhaft 4 % betragen soll), kann das auf Dauer nicht funktionieren – wie die Realität ja auch zeigt. Bei A = 0, also generell x′ = 0, ändert sich x = x0 im Lauf der Zeit nicht, und zwar für beliebige Werte von x0. Bei A ≠ 0 gilt hingegen, dass x′  =  0 nur eine einzige spezielle Lösung hat; x = x* = 0: x¢ = Ax = 0: x* = 0 

(6.9a)

In der Chaosforschung spricht man von einem Fixpunkt. Für A  0 völlig unrealistisch ist. Aber auch der Sonderfall A = 0 würde nicht zur Homöostase führen (Gl. 6.10c). Somit muss A  0) oder Abnahme (A  0) oder sich exponentiell annähern (λ   0 für ein eindimensionales physiologisches Modell nicht sinnvoll, in höheren Dimensionen (ab N  =  3 gekoppelten Gleichungen) kann das aber durchaus der Fall sein. Dort gibt es N Ljapunov-Exponenten, der größte soll λmax heißen. Die Dynamik kann in einem endlichen Bereich des N-dimensionalen Phasenraums ablaufen, auch wenn λmax > 0 ist und daher eng benachbarte Trajektorien auseinanderlaufen (sensitive Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen – beliebig kleine Fehler bei der Berechnung schaukeln sich ebenfalls auf). Das ist der berühmte Schmetterlingseffekt bei chaotischen Prozessen, für die trotz deterministischer Gleichungen (d.  h. ohne Zufallskomponente) eine Langfristvorhersage unmöglich wird. Diesen Effekt gibt es aber nur, wenn nicht alle Gleichungen linear sind. Genaueres in 7 Abschn. 6.9.  

6.6  Beispiel einer stückweise

linearen iterierten Abbildung

Um das Wesen des Chaos im Sinn der Chaosforschung zu verstehen, soll nun ein spezielles Beispiel ganz anderer Art betrachtet werden, eine Variante der sog. Bernoulli-Verschiebung (Sägezahn, . Abb.  6.3). Es geht hier um Folgendes: Ausgehend vom Winkel β0 wird Schritt für Schritt der Winkel jeweils um den Faktor  10 vergrößert. Das entspricht bei kleinem β0 der Geraden mit Anstieg 10, die am weitesten links zu sehen ist. Auf der waagrechten Achse ist jeweils der Winkel im i-ten Schritt, βi, zu sehen, auf der senkrechten Achse dann βi+1, der Winkel im darauffolgenden (i+1)-ten Schritt. Hier ist die Zeit also diskret bzw. diskontinuierlich. Man startet bei βo und geht  

dann Schritt für Schritt weiter („iterierte Abbildung“). Das Ergebnis des 1. Schritts ist zugleich der Startpunkt des 2.  Schritts. Es wird also jeweils der Wert von der senkrechten auf die waagrechte Achse gekippt und die Abbildung dann wieder angewendet. Starten wir nun bei einem äußerst kleinen β0. Dann bleibt die Abbildung für einige Schritte bei der schrägen Geraden ganz links. Zwei eng benachbarte Startwerte β0,1 und β0,2 entfernen sich rasch voneinander (Unterschied Δβi). Wenn z. B. zwei Winkel bis zur 7. Dezimalstelle übereinstimmen, ab der 8.  Dezimalen aber nicht mehr, werden sie im nächsten Schritt nur noch bis zur 6., nach einem weiteren Schritt nur noch bis zur 5.  Dezimalstelle übereinstimmen usw.: Dbi +1 /Dbi = ( bi +1, 2 - bi +1,1 ) / ( bi , 2 - bi ,1 ) = 10



(6.15a)

10 = exp (ln 10) = exp (2,3026) = exp (l ) 

(6.15b)



Diesem Beispiel ist ein Ljapunov-Exponent λ = exp(ln10) = 2,3026 > 0 zugeordnet (ln: natürlicher Logarithmus). Das ist aber noch nicht dramatisch, solange alles linear bleibt: Denn nicht nur die Abweichung nimmt pro Schritt um den Faktor 10 zu, sondern auch der Wert selbst. Die relative Abweichung bzw. der relative Fehler bleiben also konstant. Dbi +1 /Dbi = bi +1 /bi = 10; somit Dbi +1 /bi +1 = Dbi /bi



(6.16)

Anders sieht es aus, wenn β als Winkel ernst genommen und bedacht wird, dass Winkel einen Definitionsbereich von 0° bis 360° haben. Ein Winkel von z. B. 383° wird daher auf 23° korrigiert („abgeschnitten“). Genau das leistet die Sägezahnkurve in . Abb.  6.3 bzw. die Modulo-Funktion in (Gl. 6.17):  

0 £ bi £ 360°: bi +1 = 10 bi ( modulo 360° )



(6.17)

Jetzt ist der Zustandsraum auf einen endlichen Winkel begrenzt, eine Zunahme der absoluten

6

105 Naturwissenschaftliche Modellierung physiologischer Prozesse

Abweichungen schlägt früher oder später voll auf die relativen Abweichungen durch, und der Ljapunov-Exponent entfaltet seine volle Bedeutung. Hier liegt eben kein linearer Fall mehr vor, sondern ein nur stückweise linearer und somit nichtlinearer Fall. Beispiel: Ausgangswert β0 = 0,371530° β0 = 0,371530 β1 = 3,71530 β2 = 37,1530 (bisher ist die relative Ungenauigkeit konstant) β3 = 371,530 → 11,530 (gemäß der Modulo-Funktion) β4 = 115,30 β5 = 1153,0 → 73,0 β6 = 730 → 10 β7 = 100 β8 = 1000 → 280 (der Wert ist nun völlig unbekannt)

In unserem Beispiel ist der Ausgangswert β0 = 0,371530°, der bis inklusive der 5. Dezimalstelle genau bekannt ist. Die weiteren Dezimalen

..      Abb. 6.3 Bernoulli-Verschiebung. Iterierte Abbildung βi → βi+1 mit Verzehnfachung des Winkels inklusive Begrenzung auf den Winkelbereich 0 ≤ βi+1 ≤ 360°

360° 324°

sind zwar formal alle 0, es ist aber nicht bekannt, ob das exakt aufzufassen ist, ob es sich um einen Rundungsfehler handelt oder ob der Wert nicht genauer gemessen wurde und einfach durch Nullen ergänzt wurde. Die erste der unsicheren Nullen ist fett gedruckt. Ab dieser Null ist der weitere Verlauf der Dezimalen also eigentlich unbekannt. Das stört aber bei β0 noch nicht, da die relative Genauigkeit hoch genug ist. Mit jedem Schritt rücken die Ziffern der Zahlenfolge jeweils um eine Stelle nach links, absolute Unsicherheiten werden entsprechend verstärkt. Durch das jeweilige Zurückstutzen auf den Bereich 0  ≤  βi  ≤  360° geht Information unwiederbringlich verloren. Im gezeigten Beispiel dauert es 8 Schritte, bis die anfängliche Information völlig verloren gegangen ist. In diesem einfachen Fall lässt sich also bereits Chaos finden: exponentieller Informationsverlust in einem endlichen Wertebereich trotz einer deterministischen Gleichung. Bei der Gleichung handelt es sich im diskreten Fall um eine iterierte Abbildung, nicht wie im kontinuierlichen Fall um eine Differenzialgleichung. Jetzt genügt schon eine einzige Gleichung (eindimensionaler Fall), um Chaos zu

βi+1

288° 252° 216° 180° 144° 108° 72° 36° 0°

βi 0°

36°

72°

108°

144°

180°

216°

252°

288°

324°

360°

106

K. W. Kratky

erzeugen. Wir werden darauf beim kontinuierlichen Fall zurückkommen (7 Abschn. 6.9). An dieser Stelle sei erwähnt, dass der homöopathische Vorgang des Potenzierens einer iterierten Abbildung entspricht. Beim Herstellen von D-Potenzen wird in jedem Schritt um den Faktor 10 verdünnt, entscheidend ist dabei das zusätzliche Schütteln.

y ¢ = x ( also D = 1, E = F = 0 )



(6.20b)



Wegen B ≠ 0 und D ≠ 0, sind die beiden Gleichungen und damit die Variablen x und y tatsächlich aneinander gekoppelt. Der Fixpunkt ergibt sich zu: 0 = Ax* + By * + C ; 0 = x*  *

(6.21a)

*

also x = 0; y = -C /B  6.7  Mehrere gekoppelte lineare

Differenzialgleichungen: Nebenwirkungen

6

Betrachtet wird nun wieder der kontinuierliche Fall, und wir gehen jetzt zu mehreren gekoppelten Differenzialgleichungen 1. Ordnung über (wieder jeweils linear sowie autonom, also ohne explizite Zeitabhängigkeit). Wegen der Linearität sind die möglichen Lösungen gut zu überblicken. Wir beginnen mit zwei gekoppelten Differenzialgleichungen im (x.y)-Raum: x¢ = Ax + By + C  y ¢ = Dx + Ey + F 

(6.18a) (6.18b)

A bis F sind Konstanten. Der zweidimensionale Fixpunkt (x*, y*) ergibt sich aus: *

*

0 = Ax + By + C  0 = Dx* + Ey * + F 



Wir setzen nun für y eine allgemeine Linearkombination mit den beiden Ljapunov-­Exponenten λ1 und λ2 an (Gl. 6.22a). a, b, λ1 und λ2 sind nun zu bestimmen. Dazu differenzieren wir zunächst y (Gl. 6.22b) und danach x (Gl. 6.22c). y = y * + aexp ( l1t ) + bexp ( l2 t ) = - ( C /B ) + aexp ( l1t ) + bexp ( l2 t )



(6.22a)

x = y ¢ = al1 exp ( l1t ) + bl2 exp ( l2 t )(6.22b) x¢ = al12 exp ( l1t ) + bl22 exp ( l2 t )

(6.22c)

Wegen Gl. 6.20a gibt es für x′ noch eine weitere Beziehung. Wird das alles ­berücksichtigt, ergibt sich eine quadratische Gleichung für die beiden Ljapunov-Exponenten:

l 2 - Al - B = 0 

(6.19a)

 mit den beiden Losungen

(6.19b)

l12 = ( A/ 2 ) ±

Das sind zwei lineare algebraische Gleichungen mit 2  Unbekannten, die gemäß unseren früheren Überlegungen lösbar sind, Gl. 6.3a, 6.3b, und  6.3c. Nun gibt es für den Fixpunkt zwei Ljapunov-Exponenten λ1 und λ2. Nur wenn beide Exponenten negativ sind, handelt es sich um einen Fixpunkt-Attraktor. Es gilt: Die Gesamtlösung für x bzw. y setzt sich baukastenartig aus Superpositionen (Linearkombinationen) von exp(λ1t) und exp(λ2t) zusammen. Wir sehen uns dazu ein vereinfachtes Beispiel an, bei dem aber alle wesentlichen Punkte enthalten sind: x¢ = Ax + By + C ( wobei zumindest B ¹ 0 )

(6.21b)

(6.23a)

( A/ 2 )2 + B = ( A/ 2 ) ± w

(6.23b)

Mit der Kenntnis der Ljapunov-­Exponenten können nun auch a und b durch die Anfangsbedingungen x0 und y0 ausgedrückt werden. Wir konzentrieren uns aber auf die Ljapunov-­Exponenten: Das Modell ist wieder nur bei erfolgreicher Regulation sinnvoll, also bei einem Fixpunkt-Attraktor bzw. negativen Ljapunov-Exponenten. Eine notwendige Bedingung dafür ist A   0) r0 ≈ √A, dann kann nicht nur r02 auf der linken Seite in sehr guter Näherung durch A ersetzt werden, sondern auch r2 auf der rechten Seite, solange r noch nahe genug bei r0 ist. Damit heben sich diese beiden Terme rechts und links auf. Außerdem gilt generell:

)( ) (6.37a) + A )(r - A )  Jetzt speziell : ( r + A ) » ( r + A ) » 2 A (6.37b) (r (r

2

2 o

) ( - A) = ( r

-A = r+ A r- A ; o

o

o



Wird das in Gl.  6.35 eingesetzt, ergibt sich für den weiteren Zeitverlauf, solange noch r ≈ √A ist: (r - A) = (ro - A) exp (l t ); l = -2 A < 0 



(6.38)

(r – A) wird also immer noch kleiner, entsprechend einem negativen Ljapunov-­Exponenten λ. Es zieht einen Punkt nahe dem Kreis r = √A (egal ob inner- oder außerhalb) in ihn hinein, der Kreis ist also ein Attraktor bzw. ein Grenzzyklus. Wie verhalten sich nun die Bahnen bezüglich der Winkels φ? Wird Gl.  6.33 differenziert, ergibt sich zusammen mit Gl.  6.32a und 6.32b:

j ¢ = w ; j = jo + w t 

(6.39)

Es handelt sich also um eine Drehung mit konstanter Geschwindigkeit gegen den Uhrzeigersinn. Zwei auf dem Grenzzyklus liegende Punkte verändern ihren Abstand also nicht, das entspricht formal einem Ljapunov-Exponenten von 0. Das gilt übrigens generell entlang von Bahnen entlang eines Attraktors. Beim Fixpunkt im Ursprung ist die Angabe von φ sinnlos, dort gilt in alle Richtungen λ = A, im zweidimensionalen Raum z.  B. in x- und in y-Richtung. Insgesamt ergibt sich für Fixpunkt und Grenzzyklus: A ¹ 0, r = 0: l1 = lx = A; l2 = l y = A; l1 = l2

(6.40a)

A > 0, r = A: l1 = lr = -2 A < 0; l2 = lj = 0; l1 + l2 < 0



(6.40b)

Eine periodische Bahn ist übrigens prinzipiell erst ab zwei Dimensionen möglich (N  =  2), auch im nichtlinearen Fall. Damit eine geschlossene Bahn wieder zu einem Ausgangspunkt zurückkehrt, müsste sie bei N  =  1 auf der x-Achse einmal umkehren und somit vorher erreichte Punkte von der anderen Richtung her nochmals durchlaufen. Das widerspricht aber x′  =  f(x), Gl.  6.6a, wo jeder Punkt x im autonomen Fall auch die Änderungsrichtung bestimmt. Im diskreten Fall gilt das übrigens nicht: Ein Abfolge von Punkten kann sich in eine Richtung und dann wieder zurück bewegen, ohne dass zwei Punkte exakt zusammenfallen, bis die Periode vollendet ist. In höheren Dimensionen sind auch Grenzzyklen möglich, aber auch z. B. Grenztori. Hier erfolgt eine spiralförmige Bewegung auf einem Torus (Oberfläche eines „Schwimmreifens“), wobei dieser ein Grenztorus ist, falls es sich um einen Attraktor handelt. Nun sind 2  Ljapunov-Exponenten null (diejenigen bezogen auf die zwei Torus-Richtungen selbst), die restlichen negativ (Richtungen nach außen bzw. innen). Nun kann es aber sein, dass sich diese Spirale auf dem Torus nicht genau exakt schließt. Alle wesentlichen Eigenschaften blei-

110

K. W. Kratky

ben davon unberührt, es handelt sich aber dann streng genommen um keine periodische Bewegung mehr. Sie wird stattdessen quasiperiodisch genannt.

y ¢ = - xz + rx - y z ¢ = xy - (8/ 3) z

(6.41a)







(6.42b)

= ± (8/ 3) z±* , z±* = r - 1 ( Konvektion)

Für chaotische Bewegungen sind dann mindestens 3 gekoppelte Differenzialgleichungen nötig. Als Beispiel sollen die Lorenz-­Gleichungen dienen (Lorenz 1963; Sparrow 2013), die u. a. zu einem chaotischen Attraktor führen: 

0 < r £ 1: x #: x # = y # = z # = 0 (Warmeleitung )

1 < r < 24, 74: x±* : x±* = y±*

Lorenz-Gleichungen

x¢ = -10 x + 10 y

(6.42a)



6.9  Chaotischer Attraktor der

6



r = 0: x #: x # = y # = z # = 0 (Gleichgewicht ) 

(6.41b) (6.41c)

Bei den Lorenz-Gleichungen handelt es sich um 3 gekoppelte autonome und homogene Differenzialgleichungen 1.  Ordnung mit zwei Nichtlinearitäten (den Produkten –xz, xy) und dem Parameter r. Die Gleichungen beschreiben die Dynamik von großen Luftrollen (Wolkenstraßen). Diese können entstehen, wenn am unteren Rand einer Luftschicht eine höhere Temperatur T herrscht als am oberen Rand, . Abb. 6.4 (die Höhe h geht von Hun bis Hob). Der Parameter r in Gl.  6.41b ist ein Maß für das Temperaturgefälle |ΔT/ΔH|. Die 3 Variablen x, y, z bedeuten: 55 x: Rotationsgeschwindigkeit einer Rolle ( ± je nach Drehsinn). 55 y: Temperaturunterschied zwischen auf- und absteigendem Teil der Rolle in mittlerer Höhe. 55 z: Abweichung vom linearen vertikalen Temperaturprofil.  

Es gibt 3  Fixpunkte, die sich aus den Lorenz-Gleichungen ermitteln lassen, indem die linke Seite Null gesetzt wird. Sie sind in verschiedenen Bereichen des Parameters r Attraktoren oder Repelloren. Insgesamt ergeben sich folgende Fixpunkt-Attraktoren (Vektorschreibweise), wobei x = [x, y, z]:



(6.42c)

Erst bei r > 1 entsteht eine sichtbare Rolle, die sich dreht. Es gibt zwei symmetrische Lösungen x±* (Drehrichtung im und gegen den Uhrzeigersinn), wegen der konstanten Drehgeschwindigkeit handelt es sich um Fixpunkte. Sie sind noch bis r = 24,74 anziehend. Bereits ab r = 24,06 tritt aber ein neuartiger chaotischer Attraktor auf, der Lorenz-Attraktor (s.  unten). Im schmalen Bereich 24,06 > Die Frequenz von 17 Hz ist ca. der 10-fach verdoppelte Minutenrhythmus des Vegetativums (vegetatives Nervensystem). Somit ist anzunehmen, dass der Laser eine Modulation durch vegetative Rhythmen induziert. In jedem Fall handelt es sich aber um eine direkte Laserwirkung.

Bei Bestrahlung einer störfeldwertigen Operationsnarbe mittels HeNeLaser mit 10 Hz gepulst zeigte sich im Myogramm nach 1 Min. ein deutlicher Gipfel bei 17  Hz, nach 3  Min. auch ein kleiner Peak bei 8 Hz auf (. Abb. 7.7).  



Diese Fakten waren nur feststellbar, wenn 55 der Muskel primär hyperton war und 55 der bestrahlte Punkt nach Akupunkturregeln mit der Region des Muskels in Beziehung stand. pect.

7.3.5  Aurikulokardialer Reflex

Wie die von O.  Bergsmann 1975 publizierte vasale Quadrantenreaktion beruht auch der aurikulokardiale Reflex (RAC) auf der Tatsache, dass eine kaum oder nicht wahrnehmbare leer

f = 7.6 | a = 27.2 | f · a = 205.5

supraspin.

f = 6.1 | a = 14.1 | f · a = 85.8 30 s Laser ungep. M 38

f = 6.5 | a = 29.7 | f · a = 193.0

..      Abb. 7.6  Myographisch verifiziertes Ankopplungsphänomen bei Laserbehandlung eines Fernpunkts. Zervikobrachialsyndrom mit extremer Verspannung des M. trapezius und des M. pectoralis. Bestrahlung von Punkt Gb39 (äußerer unterer Unterschenkel) der glei-

f = 4.6 | a = 15.8 | f · a = 72.6

chen Seite mit 3,5 mW HeNe-Laser: In der Fourier-Analyse der myographischen Impulse nach 30 s Bestrahlung tritt eine wellenförmige Ordnung auf. Arbeitshypothese: Modulation durch vegetative Rhythmen. (Aus Endler und Stacher 1997, mit freundlicher Genehmigung)

129 Niederenergetische Bioinformation

7

Zust. n. Umstellungsosteotomie Li Hartspann Li.O Sch. vent r. osll

a

leer

osvl

f = 1.8 | a = 14.2 | f · a = 25.5

f = 49.8 | a = 19.6 | f · a = 975.5

Laser 10z Narb e 1 min

b

f = 3.5 | a = 11.5 | f · a = 40.3

f = 49.9 | a = 26.7 | f · a = 1329.5 2 min

c

f = 3.7 | a = 11.6 | f · a = 42.9

f = 45.9 | a = 16.8 | f · a = 769.6 3 min

d

f = 4.0 | a = 11.4 | f · a = 45.2

f = 48.4 | a = 17.8 | f · a = 868.7

..      Abb. 7.7  a–d LPL-Therapie eines Narbenstörfelds. Elektromyogramm mit schneller Fourier-­ Transformation (EMG-FFT) von ventralem und lateralem Oberschenkel bei Spannungsschmerzsymptomatik im ventralen Oberschenkel bei St. p. Umstellungsosteotomie: a Leeraufnahme, b–d nach 1, 2 und

3 Minuten He-Ne-Laser-Bestrahlung mit 10 Hz gepulst auf die herdwertige Operationsnarbe; nach 1 Minute: deutlicher Gipfel bei 17 Hz b. nach 3 Minuten: außerdem ein kleinerer Peak bei 8 Hz d. (Aus Endler und Stacher 1997, mit freundlicher Genehmigung)

Berührung eines reflektorisch angesprochenen Punktes oder Projektionsfeldes objektiv registrierbare periphere Gefäßreaktionen auslöst (Bergsmann 1975). Bei der RAC-Methode

werden unterschwellige elektrische bzw. magnetische Störgrößen verwendet, auch Medi­ kamente analog dem Medikamententest der EAV.  Die Gefäßreaktionen wird als Verschie-

130

7

O. Bergsmann et al.

bung des Pulsanschlags an der Wand der A. radialis registriert (daher wäre die Bezeichnung aurikulokardialer Reflex eigentlich in aurikulovasaler Reflex zu ändern, da das Gefäß, nicht das Herz reagiert). Bergsmann stellte rheographisch eine Veränderung des postsystolischen Kurvenzugs fest, die er einer Elastizitätsänderung des Gefäßrohrs zuordnete. Unklar ist, ob diese durch eine funktionell-morphologische Veränderung der Basalmembran, der Gefäßmuskulatur oder der arteriovenösen Anastomosen bedingt ist. Eine nennenswerte Frequenzänderung wurde nie beobachtet. Als übergeordnetes Reaktionssystem kommt auch hier das Grundsystem infrage (7 Kap. 8, . Abb. 8.2).  



>> Eine mögliche Erklärung wäre, dass durch die höhere Empfindlichkeit und die höhere Reagibilität (bei regulatorischer Labilität) in reflektorisch angesprochenen und daher vorbelasteten Punkten in der Matrix des Rezeptionsareals Ladungsänderungen erfolgen, die als Basisinformation an die Rezeptoren des vegetativen Nervensystems weitergegeben werden.

Dies könnte auch die Erklärung für die inadäquate – überschießende – Beantwortung dieses an sich unterschwelligen (Test-)Reizes sein. 7.3.6  Radiästhetisches

Rutenphänomen

Auch für die Radiästhesie gilt das für das Ankopplungsproblem Gesagte fast vollinhaltlich: Sie ist ein reales Phänomen, die Interpretation der Befunde beruht jedoch auf den Eigenarten der ausführenden Radiästheten. Betz und König konnten 1989 die Realität des Phänomens an sich beweisen, stellten aber fest, dass

»» „… die Radiästheten allgemein die

Tendenz haben, sich ein höheres Leistungsspektrum zuzuordnen als ihnen zukommt.“ (König und Betz 1989)

1990 wies O. Bergsmann in einem groß angelegten, vom Bautenministerium Österreichs finanzierten Forschungsprojekt nach, dass auf radiästhetisch georteten „Reizzonen“ die Koordination intern generierter Impulse gestört ist (Bergsmann 1990). Außerhalb der Zonen waren ganzzahlige Beziehungen nachweisbar, bei Untersuchungen auf der Zone fehlten diese. Er erkannte das Problem der Standortwirkung als ein Regulationsproblem und schrieb ihm die Wertigkeit eines Risikofaktors zu. Die Ergebnisse dieser Arbeit stützten sich auf biometrische Analysen von mehr als 500.000 Messdaten, die in 6943 Untersuchungen an 985 Versuchspersonen zur Beurteilung des Re­ gelverhaltens von 24 biologischen Parametern erhoben wurden. 2  Parameter mussten aus technischen Gründen ausgeschlossen werden, bei 12 Parametern zeigte sich eine biometrisch signifikante bzw. hochsignifikante Wirkung und bei 5 eine tendenzielle Wirkung (Trend). Bei den 5 verbliebenen Parametern, die humorale Parameter waren, ließ sich keine erkennbare Wirkung feststellen. Bei ihnen könnten die Wirk- und Beobachtungszeiten zu kurz angesetzt gewesen sein. Es zeigte sich aber auch, dass in vielen Bereichen die Standortwirkung nicht gegen die Wirkung elektromagnetischer Felder differenziert werden und sicher auch mit diesen Feldern interagieren kann. Eine genauere Beschreibung der Untersuchungsergebnisse würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Auch auf diesem Gebiet sollte ernsthaft weitergeforscht werden.

7.3.7  Elektrobiologische

Ankopplung

Der elektrobiologische Ankopplungstest ist in der Baubiologie eingeführt. Er beruht auf der Tatsache, dass eine Person auf einem feldbelasteten Schlafplatz eine unterschiedlich hohe Spannung gegen die Erde aufweist als auf einem nichtfeldbelasteten Schlafplatz. Für unbelastete Plätze gilt als Idealwert 10–20 mV, Werte > 50 mV werden als bedenklich angesehen.

131 Niederenergetische Bioinformation

Anzunehmen ist, dass vorbelastete Personen schon bei geringeren Ankopplungswerten als den genannten beeinträchtigt werden. Der Umstand, dass dieselben Personen an verschiedenen Tagen auf denselben Schlafplätzen verschiedene Werte aufweisen, gibt zu Spekulationen bzw. Fragen Anlass: Werden die verschiedenen Werte durch individuelle Schwankungen in der Empfindlichkeit oder durch Veränderungen der auslösenden Feldstärken verursacht? Aussagekräftige Forschungsergebnisse fehlen auch hier. 7.3.8  Magnetfeldtherapie

7

Da die Symptomfreiheit jedoch oft Tage, Wochen bis Monate anhält, kann sie nicht ausschließlich der Wirkung des Anästhetikums (mit einer Wirkdauer von ca. 30  Min.) zugeschrieben werden. Eine Analogie zur Ankopplung drängt sich auf. Denkmodelle zur Entstehung der Fernsymptome – physiologisch und pathophysiologisch nachvollziehbar  – gibt es bereits (Bergsmann und Perger 1993). Die Mechanismen, die zum raschen Verschwinden und der oft sehr langen Symptomfreiheit führen, sind aber noch nicht aufgeklärt, wenngleich verschiedenste regulatorische Vorgänge wie Abbau von Rückkopplungsmechanismen, bedingte Reflexe und andere dynamische Vorgänge innerhalb des Systems der Grundregulation vermutet werden; auch über die durch das Lokalanästhetikum ausgelösten biophysikalischen lokalen Vorgänge ist noch wenig bekannt. Ebenso ist die Frage nach den Grenzen ungeklärt: Wann und bis zu welchem Entwicklungsstadium des Leidens kann ein Sekundenphänomen ausgelost werden?

Magnetfeldtherapie wird zur Stimulation der Knochenheilung eingesetzt. Auch wird sie sehr häufig in der Schmerztherapie verwendet. O.  Bergsmann experimentierte mit dem Behandlungssystem Dynomag von Arch. Hörl (München): ein durch einen Schwachstrom­ motor angetriebener kreisender Permanent-­ >> Da das Eigenpotenzial des AnästhetiStabmagnet (ca. 4  mT) rotierte in einer Kreiskums bekannt ist und das Störfeld bzw. frequenz von 1 Hz im Uhrzeigersinn. Es zeigte der Herd definierte Begriffe sind und sich, dass eine Behandlung mit diesem rotierenderen Wirkung über vorgegebene den Feldmagneten die Muskelspannung und Bahnen verlaufen, könnte gerade die das Frequenz-Amplituden-Produkt verminNeuraltherapie einen wichtigen Ansatz derte sowie den Kalium-Kalzium-­Quotienten in der Erforschung der Ankopplungsphä(aus dem Fingerbeerenblut) beeinflusste. nomene liefern.

7.3.9  Neuraltherapeutische

Sekundenphänomene

In der Neuraltherapie (7 Kap.  23) können Störfelder (Herde) mit einem Lokalanästhetikum umflutet und dadurch regulatorisch beeinflusst werden.  

Störfeld - Definition nach Stacher (1966): chronische Entzündung, die lokal oligosymptomatisch ist, jedoch in weit entfernten Regionen Symptome (Fernstörungen) auslösen kann. Sekundenphänomen - Definition nach Huneke (1961): die Symptome verschwinden in kurzer Zeit und bleiben mindestens 20 Stunden lang aus.

7.3.10  Bioresonanzmodulation

und Analogmethoden

Methoden auf der Basis von Bioresonanzmodulation postulieren, durch Inversionsverfahren körpereigene pathologische Schwingungen zu löschen und dadurch zu heilen. Da der Organismus ein offenes, biophysikalisch sch­ win­ gendes System ist, ist dies prinzipiell nachvollziehbar, zumindest bei funktionellen Störungen, auch wenn über die dabei ablau­ fenden physiologischen, pathophysiologischen und pathomorphologischen Vorgänge noch wenig bekannt ist.

132

O. Bergsmann et al.

Auch sind viele Fragen in Bezug auf die genannten Schwingungen und deren Inversion unbeantwortet: 55 Sind sie pathognomonisch, pathologisch oder pathogen? 55 Werden sie von extern in den Organismus eingespeist, oder können sie durch interne morphologische Veränderungen generiert werden? 55 Wie und wodurch kommt es zur Löschung?

7

Auch fehlen noch Antworten zu den Grenzen der Methoden bzw. den Bedingungen, bei denen mit Erfolg, Rezidiv oder Misserfolg zu rechnen ist. >> Insgesamt werden die o. g. Methoden sehr unterschiedlich bewertet. Auffallend ist jedoch, dass gerade sehr positiv eingestellte Anwender meist solche sind, die diese Methoden nie alleine, sondern immer mit Begleittherapien anwenden, und dass sie zusätzlich selbst Experten für diese anderen Methoden sind und neben großer Erfahrung ein sehr umfangreiches medizinisches Wissen haben.

7.4  System der Grundregulation

Bei der Beschäftigung mit Ankopplungsphänomenen, Denkmodellen und Erklärungsversuchen stößt man unweigerlich immer wieder auf das System der Grundregulation (ausführliche Darstellung in 7 Kap. 8).  

System der Grundregulation (Grundsystem, SGR) - Regulation des Organismus und individuelles Regulationsvermögen des einzelnen Menschen. Das Grundsystem steht im Zentrum des Informationsflusses und der Informationsweitergabe, durch die biochemischen und biophysikalischen Eigenschaften ist es Basis und Interface geweblicher, neuronaler und humoraler Regelvorgänge. Es nimmt somit nicht nur eine Schlüsselfunktion in der Regulation ein, sondern steht auch bei der Entstehung und Behandlung chronischer Krankheiten im Zentrum und ist Angriffspunkt vieler regulationsmedizinischer Therapien.

Das System der Grundregulation (das Grundsystem) wurde erstmals 1975 von Pischinger beschrieben (Pischinger 1975) und in der Folge von Heine weiter erforscht. Auch hier gibt es noch viel weiteren Forschungsbedarf. Ein wichtiges Element im Grundsystem, von Heine als das Schlüsselelement bezeichnet, ist die Grundsubstanz, auch extrazelluläre Matrix (ECM) oder Matrix genannt. Durch Fibroblasten situationsentsprechend sekundenschnell gebildet, besteht sie aus 55 hochpolymeren Zucker-Eiweiß-­ Komplexen, vorwiegend Proteoglykane/ Glykosaminglykane (PG/GAG) mit großem Wasserbindungsvermögen in Form von Wasserdomänen, 55 Strukturglykoproteinen wie Kollagen und Elastin, 55 Vernetzungsproteinen. Die ECM vernetzt alle Elemente der Grundregulation, wodurch ein Informationsaustausch ermöglicht wird. Endstrombahn und terminale Axone stellen die Verbindung zum Hormonsystem, zum zentralen Nervensystem und zur Psyche, aber auch zum zirkadianen Rhythmus her. In der Peripherie koppelt sie Afferenz und Efferenz zu kreisförmigen Wirkgefügen, vernetzt Subsysteme zu Systemen und diese wiederum zum Ganzen. Durch ihre Wasserdo­ mänen ist die Matrix ein viskoelastisches, stoßabsorbierendes, energieverzehrendes System, das – energetisch leicht anregbar und zur Umorientierung fähig ist und innerhalb von Sekunden reagieren kann  – auch unabhängig von hormonellen und neuronalen Einflüssen und damit den ganzen Organismus ganzheitlich beeinflusst. Die flüssigkristalline Wasserstruktur ermöglicht auch Informationsleitung und -speicherung (Engrammierung), wobei die Engramme durch Temperaturerhöhung (z.  B.  Fieber) auch wieder gelöscht werden können. Die Matrix dient auch als „Molekularsieb“ und steuert den metabolischen Strom. Wird vermehrt Kollagen gebildet, das von gelartigen Aggregaten umhüllt ist, wird die Transitstrecke verbreitert und der Durchgang von

133 Niederenergetische Bioinformation

Substanzen erschwert, wodurch die ECM selbst in ihren Funktionen gestört wird und in weiterer Konsequenz alle Regelvorgänge im Grundsystem beeinflusst; dadurch wird auch das Abwehrsystem betroffen. Die PG/GAG sind durch ihr Wasserbindungs- und Ionenaustauschvermögen auch an der Aufrechterhaltung von Isoionie, Isotonie und Isoosmie beteiligt. >> Die extrazelluläre Matrix ist die Drehscheibe des Informationsflusses und beeinflusst Zellfunktionen und die gesamte Grundregulation.

Dieses hochgeladene schwingungsfähige Eiweiß-Zucker-System ist auch das ideale Interface zur Transformation magnetischer und elektromagnetischer Signale verschiedener Frequenzen in physiologische Standardinformationen physikalischer wie chemischer Natur. Die extrazellulären Makromoleküle, Träger verschiedener Polaritäten, stellen sich normalerweise entsprechend der Polaritätsregel auf das Niveau der für den aktuellen Bedarf günstigsten Feldstärke ein. Hier dürften die elektropositiven Kollagene und die elektronegativen PG/GAG als Gegenspieler eine besondere Rolle spielen. Das durch ihre Interaktion entstehende elektrische Feld ist nicht konstant. Durch aktuelle Bedarfssituationen, physiologische Schwingungen und Bewegungsvorgänge unterliegt es einer permanenten Variation. Die systemische Vernetzung bedingt aber, dass Kollagen und PG/GAG nicht die einzigen Partner sind, sondern es noch viele bioelektrische Partner gibt, die interagieren. Darüber hinaus interagieren intern generierte biologische elektromagnetische Schwingungen, externe natürliche und technische Frequenzen in diesem biologischen Feld (bzw. Feldern) und beeinflussen die Frequenzen. An der Weitergabe der Energie (Potenziale, Schwingungen) sind wiederum alle Leitsysteme beteiligt. Auch hier spielt das „Körperwasser“ eine Rolle, da die PG/GAG bis zu einem Vielfachen ihres Gewichts Wassermoleküle speichern können. Dazu kommt, dass sich Eigenschaften des Wassers unter dem Einfluss elektrometeorologischer Phänomene und Reizzonenwirkungen

7

verändern können. Vom therapeutischen Gesichtspunkt ausgehend kommt hinzu, dass der Zustand des Kolloidsystems durch alle topisch ansetzenden Therapieverfahren verändert wird. Massage, Neuraltherapie, Akupunktur, Low-level-Laser (LLL), Elektrotherapie, Magnetfeldtherapie etc. können die Ladungen der Makromoleküle und/oder den Wasseranteil verändern. Beiden bestimmen aber die lokale Feldstärke und die Frequenz des Feldes. Die lokalen bioelektrischen Energievariationen werden auf den vorgegebenen Bahnen weitergeleitet. Das Grundsystem mit seiner Matrix regelt zwar als Transitstrecke die zelluläre Nutrition, ist aber bezüglich seiner Funktionsfähigkeit und Regeneration selbst von der Qualität und Quantität des passierenden Kapillarfiltrats abhängig. Auch die Stamm- und Funktionszellen der Matrix unterliegen letztlich der Nutritionskontrolle. Stressbedingte Depolarisation von Zellen und freien Molekülen kann nur über das Kapillarfiltrat aufgehoben werden und ist somit von der Funktion der Endstrombahn abhängig. Dies bewirkt ein Feedback-­Geschehen zwischen Matrixfunktion und neuronal geregelter Perfusion, in das auch Zellmetaboliten involviert sind. Durch Protonen- und Elektronenverschiebungen kann es nach Heine auch zu vermehrter Bildung von Radikalen kommen. Dysfunktion der terminalen Strombahn und unzureichende Blutversorgung können einen Aufstau von Radikalen bewirken, wodurch das Redoxpotenzial der Grundsubstanz unphysiologisch verändert wird und bei längerer Dauer zu Degeneration und chronischer Krankheit führen kann. Chronische Regulationsbelastung bedingt in der ECM proinflammatorische Veränderungen mit Anstieg von Zytokinen, Chemokinen und Adhäsionsmolekülen mit allen Konsequenzen. >> Nicht nur die hier und in 7 Kap. 8 dargestellten Fakten über Grundsystem und Matrix unterstreichen deren Bedeutung bei der Auseinandersetzung mit Ankopplungsphänomenen, zumal diese meist bei chronisch vorbelasteten Patienten beobachtet werden.  

134

7

O. Bergsmann et al.

Schon vor der Ankopplung dürfte es bei chronisch vorbelasteten Patienten im Rahmen der gestörten Regulationsfähigkeit im ­Grundsystem zu Depolarisationen gekommen sein. Die ankoppelnde Information dürfte die Repolarisation bewirken. Dafür spricht, dass die Reaktion so rasch abläuft; alle anderen Systeme wären zu träge. Wissenschaftlich bewiesen ist dies jedoch nicht, was wiederum die Notwendigkeit von weiterer entsprechender Forschung unterstreicht. Auch die Frage nach den Grenzen der Ankopplung ist noch ungeklärt; vielleicht liegt die Grenze dort, wo eine funktionelle Störung bereits in eine morphologische Veränderung übergegangen ist. Fragen bezüglich Interaktion, Summation oder Auslöschung von unterschiedlichen Ankopplungsmöglichkeiten sind noch völlig unbearbeitet und stellen ein weiteres Forschungsgebiet dar.

55 Als Anwendungsbereiche kommen u. a. infrage: 55 Wetterfühligkeit, 55 Medikamententests in der Elektroakupunktur, 55 Wirkungen des Low-Level-Lasers, 55 der aurikulokardiale Reflex, 55 Myoreflextherapie und Bioresonanzmodulation, 55 die Neuraltherapie und die Baubiologie. 55 Weitere Forschung die Ankopplungsphänomene betreffend erscheint notwendig, sinnvoll und zukunftsweisend. 55 Das System der Grundregulation nimmt eine Schlüsselfunktion in der Regulation ein, es steht auch bei der Entstehung und Behandlung chronischer Krankheiten im Zentrum und ist Angriffspunkt vieler regulationsmedizinischer Therapien.

Zusammenfassung

Literatur

55 Niederenergetische Bioinformation: Oberbegriff für einen methodenübergreifenden wissenschaftlichen Zugang zu Bioresonanz, Homöopathie und anderen vorwiegend physikalisch-­regulativ auftretenden Phänomenen in biologischen Systemen. 55 Für das Leben, ein komplexes dissipatives offenes System, ist ständiger Informationsaustausch innerhalb des Organismus selbst, aber auch mit der Umwelt unabdingbar. 55 Die aus der Umwelt stammenden Informationen (nichtantigenwirksame Informationen und Signale mit Antigeneigenschaften) zielen auf die Adaptation an die jeweiligen Umwelterfordernisse ab. 55 Durch Ankopplung (physikochemische, elektromechanische u. a. Kopplungen zur Darstellung von Veränderungen biologischer Parameter durch immaterielle Wirkgrößen nichtthermischer und nichtmechanischer Natur) verursachte Veränderungen biologischer Parameter können Befindensstörungen verursachen, wobei als Auslöser eine minimale, meist nicht wahrnehmbare, nicht messbare Energie mit großer Reichweite wirken kann.

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135 Niederenergetische Bioinformation

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7

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137

Das System der Grundregulation – Drehscheibe mit Schlüsselfunktion für Organismus und Ganzheitsmedizin Hartmut Heine, Otto Bergsmann und Roswitha Bergsmann 8.1

Historische Hintergründe – 139

8.1.1 8.1.2 8.1.3 8.1.4

S äftelehre – 139 Humoralpathologie – 140 Nova scientia (Renaissance, Aufklärung) – 141 Aufbruch in die Moderne – 141

8.2

 ystem der Grundregulation – S ein nichtlineares System: Struktur, Funktion und determiniertes Chaos – 143

8.2.1 8.2.2 8.2.3

S truktur und Funktion – 143 Biologische Systeme als determiniertes Chaos – 144 Zelle und umgebendes Milieu – 145

Diese grundlegende Übersichtsarbeit von Hartmut Heine (1941–2016) über das System der Grundregulation (SGR), dessen Bedeutung für den Organismus und die Ganzheitsmedizin, die er 2009/10 in der Fachzeitschrift Die Naturheilkunde in 7 Teilen [6/09 und 1–6/10] veröffentlichte, stellte dankenswerterweise seine Gattin und engste Mitarbeiterin Elke Heine mit Genehmigung des Verlags zur Verfügung. Wenngleich fast unverändert, mussten bei der redaktionellen Zusammenführung durch Roswitha Bergsmann einige Kürzungen vorgenommen werden. Heines Arbeit wurde durch einen 8. Punkt ergänzt, in dem weitere klinisch relevante, u. a. auf Otto Bergsmann (1922–2004) zurückgehende, Überlegungen zu Chronizität und Degeneration dargelegt werden. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_8

8

8.3

 ystem der Grundregulation als nichtlineares S System – Strukturkomponente der extrazellulären Matrix – 146

8.3.1 8.3.2

F unktionelle Struktur der extrazellulären Matrix – 146 Die extrazelluläre Matrix als ultrapermeable Membran – 148

8.4

 äumliche Struktur der extrazellulären Matrix und R Stofftransport innerhalb des Systems – 149

8.4.1 8.4.2 8.4.3

 äumliche Struktur der extrazellulären Matrix – 149 R Stofftransport in der extrazellulären Matrix – 152 Das Zytokinnetzwerk der extrazellulären Matrix – 152

8.5

 ontakt, Begrenzung und Verschlackung: Zelladhäsion, K Basalmembran und Glykosylierung – 153

8.5.1 8.5.2 8.5.3

E xtrazelluläre Matrix und Zelladhäsion – 153 Basalmembranen – 154 Verschlackungsphänomene in der extrazellulären Matrix – 154 Physiologische Leukozytolyse – 155

8.5.4

8.6

 unktionelle Beziehungen der Grundregulation zum F Zentralnervensystem – 156

8.6.1 8.6.2

 nschärfelogik als Arbeitsprinzip neuronaler Netze – 156 U Bedeutung der perineuronalen extrazellulären Matrix für Lern- und Gedächtnisleistungen – 156

8.7

 rundregulation und zirkadianer G Rhythmus/Grundregulation und Alzheimer-Demenz – 158

8.7.1 8.7.2

 irkadianer Rhythmus und Grundregulation – 158 Z Alzheimer-Demenz und Grundregulation – 160

8.8

 ystem der Grundregulation und S Regulation – Bedeutung für Chronizität und Degeneration – 161

8.8.1 8.8.2 8.8.3

 hronisches Belastungssyndrom – 162 C Regulatorische Desintegration – 165 Fernsymptome (Fernstörungen) – 167

Literatur – 169

139 Das System der Grundregulation

8

8.1  Historische Hintergründe

8.1.1  Säftelehre

Die seit mehr als 2500 Jahren lebendige antike Säftelehre, die älteste Theorie der Medizingeschichte, wandelte sich schließlich zum System der Grundregulation (SGR); somit wurde eine Theorie der Ganzheitsmedizin weiterentwickelt, in der konventionelle und Komplementärmedizin einen gemeinsamen Nenner finden. Während der Hochkulturen der Achsenzeit (500 v. Chr.) (Jaspers 1953) ist die Frage nach dem Werden, dem Fortschreiten der Möglichkeit zur Wirklichkeit, der zentrale philosophische Bezugspunkt. In der griechischen Philosophie wird ein Verständnis der Natur aus dem Verhalten natürlicher Gegensätze wie warm– kalt, trocken–feucht, hart–weich etc. abgeleitet. Werden im chinesischen Denken komplementäre Vorgänge auf das Gegensatzpaar Yin–Yang bezogen, das sich in unaufhörlichen Umwandlungsprozessen ständig ergänzt und schließlich zur Harmonie des Ganzen führt, gründet das antike griechische Denken auf der vom Wettkampf abgeleiteten Epikrateia-Vorstellung: In der Auseinandersetzung zweier Antagonisten ist immer dem stärkeren, wirkkräftigeren der Vorzug zu geben (Heine 1993). In der chinesischen Philosophie entsteht die wirklichkeitsstiftende Yin-Yang-­ Polarität aus der schöpferischen Urkraft, dem Tao. Analog dazu hatte in der ionischen Naturphilosophie Thales von Milet (um 600 v. Chr.) den Stoff als Arché, als ein schöpferisches Chaos, verstanden. In dessen starker Dynamis sieht Heraklit (um 440 v. Chr.) den Logos, der allem Geschehen sein Maß verleiht, als eine ruhelose Quelle von immer Neuem. Aus diesem elementaren Muttergrund von Paracelsus, später als Matrix bezeichnet, entwickelt sich die Formenfülle. Das Denken in Gegensätzen (polares Denken) existiert auch in der indischen und indianischen Medizin (Heine 1993, 2006).

Die Säftelehre hat ihren Ursprung im pythagoräischen Denken und bezieht sich auf die beiden polaren Gegensatzpaare warm-kalt und feucht-trocken. Für die Pythagoräer (Empedokles von Agrigent, 500–430 v.  Chr.) entstand die Welt aus vier Urstoffen (Elementen): 55 Feuer, 55 Wasser, 55 Luft, 55 Erde. Dies gilt auch für die anderen Hochkulturen. In unterschiedlichen Mischungsverhältnissen seien die vier Elemente am Aufbau aller Dinge beteiligt. Die qualitative Beschreibung der vier Urstoffe erfolgt durch jeweils einen Begriff eines jeden Gegensatzpaares; so verfügt jedes Element über zwei Primärqualitäten (Eckart 1990; Rothschuh 1978): 55 Wasser ist feucht und kalt, 55 Luft ist warm und feucht, 55 Feuer ist warm und trocken, 55 die Erde ist kalt und trocken. Hier sind bereits Grundzüge dessen erkennbar, was heute Regelung bzw. Kybernetik in energetisch offenen Systemen genannt wird (Bertalanffy1968; Wiener 1963). Dieser kybernetische Ansatz entspricht einer Komplexitätsreduktion, d.  h. einer Vereinfachung der Sichtweise der Welt, wie sie erst wieder durch die kopernikanische Wende im 16. Jahrhundert zustande kam. Solche Komplexitätsreduktionen sind prinzipiell mit durchgreifenden Neuerungen verbunden (Heine 2006; Schipperges 1974). Das polare Denken der hippokratischen Ärzte führte dazu, jedem Element eine Körperflüssigkeit zuzuordnen, wodurch eine Erklärung der stofflichen Regelverhältnisse beim Menschen möglich wurde:

140

H. Heine et al.

55 Mit dem Wasser korrespondiert der „Schleim“ (phlegma), 55 mit der Luft das „Blut“ (sanguis), 55 mit der „gelben Galle“ (cholé) das Feuer, 55 mit der „schwarzen Galle“ (melancholé) die Erde.

8

Diese vier „Säfte“ (humores) sind in unterschiedlicher Weise am Aufbau des menschlichen Leibes beteiligt, wobei sich ein ausge­ wogenes, harmonisches Mischungsverhältnis (Temperament) ergeben sollte (kybernetisch: der Sollwert). Dies schloss jedoch nicht aus, dass einer der vier Lebenssäfte leicht überwiegen kann (kybernetisch: der Istwert). Darauf beruht die noch heute beachtete antike Konstitutionslehre mit ihren vier Typen: 55 Überwiegt das Phlegma, spricht man vom Phlegmatiker, 55 dominiert das Blut, ist die Rede vom Sanguiniker, 55 der Choleriker ist durch die gelbe Galle charakterisiert, 55 der Melancholiker durch die schwarze Galle bestimmt. Diese Konstitutionen äußern sich in körperlichen und psychischen Merkmalen. Noch heute spricht man z.  B. von „trockenem Humor“ oder von „Heißblütigkeit“. Die Begriffspaare der Primärqualitäten sind in den Attributen „heiß“ und „trocken“ noch erkennbar (Eckart 1990; Heine 2007; Rothschuh 1978). Der universelle Charakter der polaren Gegensatzpaare lässt sich heute an Beispielen aus der Molekularbiologie aufzeigen: 55 Heterodimere Zellrezeptoren: α/β-T-ZellRezeptoren bestimmen die Funktion des adaptiven Immunsystems (spezifische Immunreaktion), denn bei deren Aktivierung wird festgelegt, ob sich die T-Zelle zu einer T-Helferzelle oder zu einer zytotoxischen T-Zelle entwickelt. 55 Für jede Gruppe von Proteasen gibt es entsprechende Proteaseinhibitoren („Antiproteasen“), was z. B. bei der Blutgerinnung eine Rolle spielt.

>> Ganz allgemein ist für die moderne Medizin das Gegensatzpaar Aktivierung– Hemmung von größter Bedeutung (Heine 2007).

Das hippokratische Krankheitskonzept orientierte sich an der Störung der Harmonie bzw. des Gleichgewichts der Säfte (Eukrasie bzw. Synkrasie). Jede über eine gewisse Zeit anhaltende Störung hatte als Dyskrasie Krankheit zur Folge. Die ganzheitliche Sicht der hippokratischen Ärzte richtete sich daher „zwangsläufig“ auf die gesamte Lebensführung mit dem Ziel, wieder eine ausgewogene Lebensführung zu erreichen. Dies wurde unter den Begriff der diaita (Stärkung der Lebenskraft) subsumiert. Die Therapien (z.  B.  Abführmittel, Brechmittel, Schwitzen, Harnförderung, Schröpfen, Ernährungsumstellung, Klimawechsel) wurden nach dem Prinzip der Gegensteuerung (contraria contrariis) unter dem Primat der Prognose gesehen, erst in zweiter Linie der Diagnose. Diese bestand im Wesentlichen aus Pulsmessung und Uroskopie (Eckart 1990; Rothschuh 1978; Schipperges 1974). In der Sprache der Kybernetik bedeutet Gegensteuerung die bestmögliche Abgleichung von Ist- und Sollwert. Die Säftelehre bezieht sich daher auf ständigen Fluss und Wandlung (pneuma) in und außerhalb des Subjekts, was bereits dem kybernetischen Prinzip der Homöostase (im Zusammenhang dieses Kapitels wird der Begriff der Homöodynamik bevorzugt) entspricht. Auch das Prana der indischen und das Qi der chinesischen Medizin sind hier einzuordnen (Hsü 1995).

8.1.2  Humoralpathologie

Nach Hippokrates war Galen von Pergamon (ca. 130–200 n. Chr.) der bedeutendste Arzt der Antike. Aufgrund anatomischer und experimentell-physiologischer Untersuchungen an Tieren war er überzeugt, dass der Blutstrom mit seinen feinsten Verzweigungen die führende Rolle für Ernährung, aber auch für Erkrankung spiele. So wandelte sich die Säf­

141 Das System der Grundregulation

telehre zur Humoralpathologie, ohne die überlieferten Schriften der hippokratischen Medizin (Corpus Hippokraticum) zu verändern (Eckart 1990; Rothschuh 1978). Die Humoralpathologie wurde für mehr als 1500 Jahre die medizinische Leittheorie (Heine 2007). 8.1.3  Nova scientia (Renaissance,

Aufklärung)

Galilei (1564–1642) erweiterte das logische Gefüge des Aristoteles (384–322 v. Chr.), wonach nur der Schluss vom Allgemeinen auf das Besondere (die Deduktion) folgerichtig und allgemein verbindlich sei. Galilei überwand diese Hürde durch den völlig neuen Denkrahmen seiner Nova scientia. Ohne das aristotelische Diktat der Deduktion zu verletzen, erkannte Galilei, dass durch Beobachtung, Experiment und Analyse falsche Annahmen erkannt und ausgeschlossen werden könnten. Durch die Entdeckung der Phasen der Venusmonde mit dem von Galilei entwickelten Fernrohr konnte sein Schüler Benedetto Castelli (1610) das 1000 Jahre alte geozentrische Weltbild des Ptolemäus als falsche Hypothese ausschließen und das heliozentrische beweisen. Entscheidende Vorarbeit dazu hatte Kopernikus (1473–1543) mit dem Nachweis erbracht, dass sich die Erde um die Sonne dreht (Kopernikanische Wende) (Pietschmann 1990). In der Medizin ist die Wende durch genaue Analyse des menschlichen Körpers (Andreas Vesalius 1514–1564), die Sektion verstorbener Patienten und die Untersuchung ihrer Organe (Giovanni Battista Morgagni 1682–1771) gelungen. Morgagni begründete die bis heute in ihren Grundzügen gültige sog. Solidarpathologie, nach der Krankheitssymptome bestimmten Organen zuzuordnen sind. Das lateinische Wort solidus bedeutet fest und wurde von Morgagni als Unterschied zur Humoralpathologie gewählt. Zuvor hatte Harvey (1578–1657) den Blutkreislauf entdeckt und damit die Physiologie neu begründet. Die von Leeuwenhoek (1632–

8

1723) erstmals gebauten Lichtmikroskope ermöglichten die Darstellung feingeweblicher Strukturen. Durch die mikroskopische Untersuchung der Lungenkapillaren konnte der Anatom Malpighi (1628–1694) Harveys Entdeckung bestätigen (Eckart 1990; Rothschuh 1978). 8.1.4  Aufbruch in die Moderne

Trotz aller wissenschaftlichen Neuerungen wurde die Humoralpathologie im Verlauf der Aufklärung nicht einfach „gestürzt“. Die Entdeckung des Blutkreislaufs hatte sie vielmehr gestärkt. Auch hier waren es Zweifel an der Autoritätsgläubigkeit gegenüber den tradierten hippokratischen und galenischen Lehren, die Neues bewirkten (Pietschmann 1990). Vor allem begehrte Paracelsus (Theophrast von Hohenheim 1493–1541) auf und erregte im deutschen Sprachraum viel Aufmerksamkeit. 1527 schrieb er in seiner Vorlesungsankündigung:

»» „Wer weiß es denn nicht, dass die meisten

Ärzte heutiger Zeit zum größten Schaden der Kranken in übelster Weise danebengegriffen haben, da sie allzu sklavisch am Worte des Hippokrates, Galenos und Avicenna und anderer geklebt haben.“ (zit. nach Eckart 1990)

Die Hauptwirkung von Paracelsus betraf die pharmazeutische Chemie („Iatrochemie“). Er brach mit der hippokratisch-galenischen Arzneikunde und begründete die moderne quantifizierende klinische Arzneimittellehre (Schipperges 1974). Die Solidarpathologie von Morgagni beeinflusste alle medizinischen Fakultäten ­Europas. Sie war Wegbereiter für die Entwicklung der Zellularpathologie von Virchow (1821–1902). An der Universität Wien blieb jedoch unter dem Einfluss von Gerhard van Swieten (1700– 1772), Leibarzt der österreichischen Kaiserin Maria Theresia, die Humoralpathologie  – erweitert durch die Solidarpathologie – erhalten (Eckart 1990; Rothschuh 1978).

142

8

H. Heine et al.

Die medizinische Fakultät der Universität Wien war damals in Europa führend. Der dortige Pathologe Carl von Rokitansky (1804– 1878) belebte die Humoralpathologie neu. C. v. Rokitansky (1846) konzentrierte sich besonders auf die Rolle des Blutes als Ort des pathologischen Geschehens. Als Zeitgenosse von Virchow (Virchow 1966) standen ihm die gleichen technischen Hilfsmittel (leistungsfähige Lichtmikroskope, Gewebeeinbettungs-, Färbe-, Schnitttechniken) zur Verfügung. C. v. Rokitansky wurde zum Gegenspieler Virchows, der nach Entdeckung der Zelle (Schwann und Schleiden 1850) diese als „wahrhafte organische Einheit“ und Ausgangspunkt aller Lebens- und Krankheitserscheinungen bezeichnete (Zellularpathologie). Virchow war hier völlig im kausal-analytischen objektivierenden Denken der Aufklärung befangen, das jedoch nur für energetisch abgeschlossene Systeme gilt. (Hier sei der Hinweis erlaubt, dass im angloamerikanischen Raum die Humoralpathologie durch die Aufklärung, besonders durch die Philosophie von Bacon [1561–1626] und dessen Hauptwerk Novum Organon Scientiarum sehr schnell verschwand [Eckart 1990; Rothschuh 1978]). Die Ansichten von C. v. Rokitansky sind dagegen als kybernetisch einzustufen. Er erkannte, dass das Blut als Transportmittel im Kapillarbereich mit den Zellen in Austausch tritt und dass es daher für die Gewebsfunktionen sehr auf die jeweilige Blutmischung ankäme und das Blut eine entscheidende Bedeutung in der Krankheitsentstehung habe (Krasenlehre) (Eckart 1990; Eppinger 1949). Die Kybernetik (Wiener 1963), die Theorie der Lebewesen als energetisch offene Systeme (Bertalaffny 1968; Mainzer 1994) und die fraktale Struktur der Organismen („Chaostheorie“) (Mandelbrot 1987) lagen noch in weiter Ferne. Zweifellos ist das, was C. v. Rokitansky mit seiner Blutmischungslehre andachte, keineswegs „der letzte wissenschaftliche Versuch einer Wiederbelebung säftepathologischer Vorstellungen“, sondern der erste Versuch, das Prinzip einer gestörten Homöostase bzw. eines

gestörten Fließgleichgewichts auf die Krankheitsentstehung anzuwenden (Heine 2007). Die Virchowsche Zellularpathologie (Virchow 1966) blieb davon unberührt und ging mit der pharmakologischen Medizin ein festes Bündnis ein. Erst in jüngster Zeit findet die Zellularpathologie durch die Erforschung der Grundsubstanz (extrazellulären Matrix, ECM) Anschluss an das von C. v. Rokitansky begründete Denken. An der medizinischen Fakultät der Universität Wien wurde die Bedeutung der Vorstellungen von C. v. Rokitansky durch den späteren Ordinarius für Innere Medizin Hans Eppinger (1875–1948) (Eppinger 1949) modernisiert. In der Einleitung seines 1949 erschienenen Werkes Permeabilitätspathologie als die Lehre vom Krankheitsbeginn schreibt Eppinger:

»» „… gleichgültig, ob man zum Studium

normales oder pathologisch verändertes Gewebe heranzieht, immer stößt man auf dasselbe Gefüge, nämlich die große Betriebsgemeinschaft Blut-KapillarwandInterstitium-­Gewebszelle-Lymphbahn, ja man kann sogar einen Schritt weitergehen und feststellen, dass die Störung der Kapillarpermeabilität vielfach der ersten Szene im ersten Akt des Dramas ‚Krankheit‘ entspricht. […] Vieles, was sich mir dabei als Neuland erwies, ist schon mehr oder weniger richtig von den Humoralpathologen vorausgeahnt worden; jedenfalls steckt in dieser alten Lehre so mancher richtige Kern, weswegen ich es begrüßen würde, wenn sich bald eine bleibende Verbindung zwischen Zellular- und Humoralpathologie anbahnen ließe, allerdings unter der einzig möglichen Voraussetzung, dass die neue Säftelehre einen ebenso gesunden wissenschaftlichen Unterbau erfährt, wie er für die Zellularpathologie schon seit langem erfolgreich errichtet wurde, […]“. (Eppinger 1949)

Den nächsten und entscheidenden Schritt in der Vereinigung der durch Eppinger begründeten Permeabilitätspathologie mit der Zellularpathologie gelang in den 1950er- bis

143 Das System der Grundregulation

1970er-Jahren dem Wiener Ordinarius für Histologie und Embryologie Alfred Pischinger (1899–1982) (Pischinger 2009). Pischinger entwickelte, unterstützt von einem Arbeitskreis hochbegabter junger Ärzte und Forscher (Wiener Team), das System der Grundregulation. In seinem Werk Das System der Grundregulation wies Pischinger erstmals auf die heute trivial erscheinende Tatsache dediziert hin:

»» „Der Zellbegriff ist genau genommen nur

eine morphologische Abstraktion. Biologisch gesehen kann er nicht ohne das Lebensmilieu der Zelle angenommen werden.“ (Pischinger 2009)

Dieses Lebensmilieu, früher weiches Bindegewebe oder Gru­ndsubstanz, heute extrazelluläre Matrix (ECM) genannt, dient in der Transitstrecke zwischen Kapillaren und Zellen als Molekularsieb und umgekehrt. Pischinger und das Wiener Team erkannten, die ECM sei

»» „… das gemeinsame Wirkfeld der zyto-­

humoralen, der axo-(neuro-)humoralen und der angio-(hämo)humoralen Regelfunktionen.“ (Pischinger 2009)

>> Das heißt: Das Molekularsieb der ECM ist mit seinen Zellen sowohl an die Endstrombahn als auch an das Hormon- und Nervensystem angeschlossen.

8.2  System der Grundregulation –

ein nichtlineares System: Struktur, Funktion und determiniertes Chaos

System der Grundregulation (SGR) - Nichtlineares System, dessen labile Ordnung als determiniertes Chaos beschrieben wird. Die schnelle Reaktionsfähigkeit des SGR hängt von den Polysacchariden der Komponenten der extrazellulären Matrix (ECM) und der Zelloberflächen (Glykokalyx) ab. Die rasche situationsgerechte Bereitstellung der ECM-Komponenten wird durch Fibroblasten (im Zentralnervensystem durch Astrozyten) gewährleistet. Von großer Bedeutung ist dabei die an Zucker gebundene polymere

8

Kieselsäure, die dem Hydrogel der Proteoglykane und Glykosaminoglykane (PG/GAG) revers-selektive Permeabilitätseigenschaften verleiht; dadurch können große und kleine Moleküle die ECM etwa gleich schnell passieren. Durch die Halbleitereigenschaften des Siliziums in der Kieselsäure sind in der ECM genügend Elektronen vorhanden, um die bei Stoffwechselvorgängen in die ECM gelangenden Radikale zu neutralisieren. Schwermetallionen können Silizium verdrängen, wodurch schwere Störungen im SGR mit Entwicklung chronischer Krankheiten entstehen können.

Proteoglykane und Glykosaminoglykane (PG/ GAG) - Proteoglykane sind sehr große Moleküle, die zu 90–95 % aus Kohlehydrat und zu 5–10 % aus Protein bestehen; aufgrund ihres hohen Kohlenhydratanteils weisen sie die Eigenschaften von Polysacchariden auf. Glykosaminoglykane sind saure Polysaccharide; es gibt sulfatierte Formen und eine nichtsulfatierte Form (Hyaluronsäure).

Glykokalyx - Auf der extrazellulären Oberfläche von Zellen befindlicher, an Proteine oder Lipide gebundener Kohlenhydratanteil der Zellmembran, dessen Zusammensetzung sich von Individuum zu Individuum und auch nach Zelltypen unterscheidet und der grundlegende Bedeutung für die spezifische Funktion der Zellen hat.

8.2.1  Struktur und Funktion

Das SGR ist als Funktionsprinzip mehrzelliger Organismen ein energetisch offenes System und daher fähig, mit seiner Umgebung Energie und Materie auszutauschen. Es un­ terliegt dabei einem rhythmischen Fließgleichgewicht positiver und negativer Rückkopplungen seiner Bestandteile. Die dabei auftretenden Ordnungszustände sind nicht stabil, d. h., sie stehen nicht in einem thermodynamischen Gleichgewicht; dadurch ist die Rückkehr zum jeweiligen Ausgangszustand nicht möglich (Nichtlinearität) (Bertalaffny 1968). Rückkopplungen haben biologisch gesehen den Vorteil, dass Funktionszustände nicht fixiert werden müssen, sondern spontan selbstorganisatorisch zum Ausgangspunkt immer neuer Entwicklungen werden können. Diese Spontaneität aufgrund hoher Vernetzung der Einzelstrukturen und die Abhängigkeit von den Randbedingungen sind typisch

144

H. Heine et al.

für nichtlineare, dynamische Systeme. Eine Vorhersage über Anfangs- und Endzustände bzw. zukünftiges Verhalten ist nicht möglich (Merkel et al. 2002). Somit gilt auch für das SGR, dass kleine Änderungen im gegenwärtigen Zustand große Veränderungen in der Zukunft hervorrufen können. Dies ermöglicht Anpassungsprozesse (auch können einmal aufgetretene Ungenauigkeiten nicht eliminiert werden, sondern werden bereits bestehenden zugeschlagen) (Heine 2007).

8

>> Nichtlineare Prozesse haben eine für die klinische Medizin fundamentale Eigenschaft: gleiche Prozesse müssen nicht immer die gleichen Folgen haben, da die Vorgeschichte eine wichtige Rolle spielt (Heine 2004a; Lewin 1993).

Wird einem nichtlinearen System (einfachstes Beispiel: viele durch Federn verbundene Pendel) geeignete Energie zugeführt, verteilt sich diese über das ganze System. Dabei können in einzelnen Teilbereichen Resonanzen auftreten und zeitlich begrenzte Ordnungsinseln entstehen, die in der Nachbarschaft weitere Teilgebiete beeinflussen (Heine 2004a). Ein Organismus verhält sich nach Heine wie gekoppelte Pendel. Fehlt über eine gewisse Zeit die Zufuhr geeigneter Energie, kommt es zuerst zu reversiblen, danach zu irreversiblen Schäden, denn im Organismus kann die Funktion eines nicht ausreichend versorgten Teilbereichs auf Zeit oder Dauer durch andere Teilbereiche übernommen werden (Redundanz), bis aus eigener Kraft oder durch therapeutische Hilfe die Funktion wiederhergestellt ist oder aber eine Erhaltungstherapie notwendig wird. Der Preis dafür ist nach Heine jedoch eine bestimmte dauerhafte Änderung im Ordnungsgefüge der ECM. Durch Redundanz und Reversibilität aller auf molekularer Ebene ablaufenden Prozesse seien Krankheiten bis zu einem irreversiblen Stadium durch Zufuhr geeigneter Energie prinzipiell heilbar. Allerdings bestehe

durch die manifeste Minimalstörung verursachte „Erinnerung“ (Engrammierung) die Gefahr, dass sich bei Wiederholung einer vergleichbaren Situation die Krankheit schneller wieder einstellt (Heine 2007). 8.2.2  Biologische Systeme als

determiniertes Chaos

Aus hochgradig geordneten stabilen Systemen (z. B. Kristallen) kann sich nichts wirklich Neues entwickeln, genauso wenig aus chaotischen Systemen wie Gasen, bei denen die Kollisionen der Teilchen zufällig erfolgen. Dynamische Ordnung bei hoher Komplexität wie bei Lebewesen, Staaten, Galaxien etc. treten stets an der Grenze zwischen starrer Ordnung und Zufall auf (Lewin 1993). Dieser „Ordnungsrand“ des Chaos wird als „determiniertes Chaos“ bezeichnet. Es ist durch Selbstähnlichkeit gekennzeichnet, wie dies Menschen, Tier- und Pflanzenarten unterei­ nander eindrucksvoll zeigen. Das Maß für Selbstähnlichkeit sind gebrochene Dimensionen (Fraktale). Die Vermessung biologischer Systeme zeigt, dass sie eine Dimension zwischen der 2. und der 3. Potenz haben. Die Oberfläche eines Lebewesens wird in Quadratzahlen (D2), das Volumen in Kubikzahlen (V3) ausgedrückt. Ein optimal gebauter Organismus ist etwa 2,22-dimensional. Dies hängt u. a. mit der stoffwechselbedingten Wärmeerzeugung eines Lebewesens zusammen. Während Wärmeerzeugung und Volumen proportional sind, hängt die Wärmeabgabe von der Oberfläche ab. Andernfalls müsste ein Elefant überhitzen, eine Maus dagegen erfrieren. Dass dies nicht so ist, ist durch die fraktale Geometrie der Ordnungszustände der Lebewesen bedingt (Heine 2007; Sernetz 2000). Dies ergibt sich aus der Eigenschaft fraktaler Strukturen, bei uneingeschränkter Komplexität tatsächlich eine geometrische Regelmäßigkeit aufzuweisen, denn bei der Analyse fraktaler Dimensionen stößt

145 Das System der Grundregulation

man immer wieder auf dieselben Grundelemente: bei Lebewesen ist es z. B. die Zelle oder das Netzwerk der PG/GAG in der ECM. So ist z.  B. die Leberzelle einer Maus genauso groß wie die eines Elefanten. Das Gleiche gilt für alle anderen Zelltypen. Fraktale Strukturen enthalten immer die Wiederholung eines Musters (Übersicht bei Heine 2007). Das Muster Zelle enthält bei allen Lebewesen (gespeichert in den Genen) alle Informationen für die Entwicklung eines artgleichen Individuums (Klonen, z. B. von Säugetieren). (Dies entspricht nicht dem holographischen Prinzip eines optischen Informationsspeichers, der in jedem seiner Teile die Gesamtinformation enthält – sog. Hologramme). Die Ordnung im determinierten Chaos ist zeitlich begrenzt und unterliegt einer selbstorganisierten Kritizität (Hogan 1995). Dies lässt sich am Beispiel eines Sandhaufens zeigen: Bei seiner Aufschüttung kommt es ab einem bestimmten Schüttungsgrad  – abhängig von Sandqualität, Höhe, Temperatur, Untergrund, Feuchtigkeit etc. – zum Abgang von Sandlawinen, bis der Sandhaufen in eine andere stabile selbstähnliche Form übergeht, worauf sich der Vorgang wiederholen kann (Heine 2004a). In lebenden Systemen erfolgt nach Heine die „Aufschüttung“ durch autokatalytische Prozesse und nicht zufällig. Nur dadurch hätten sich Gene und ihre Transkription und letztlich die Evolution der Lebewesen entwickeln können (Heine 2007). Autokatalyse (Autopoiese) am Rande von Chaos enthält keine Zufälligkeit, sondern führt zu Selbstähnlichkeiten (Typen, Muster, Arten). Dies würde nach Heine (2007) und Hogan (1995) eine Schwäche der Darwinschen Evolutionstheorie aufzeigen, da diese auf zufälliger Mutation und natürlicher Selektion basiert. Die Autopoiese bedinge auch die Anpassung (Adaptation) an innere und äußere Milieufaktoren (Beispiel: Epigenetik), aber auch an unphysiologische Prozesse mit Entwicklung von Krankheiten.

8

8.2.3  Zelle und umgebendes

Milieu

Die kleinste gemeinsame Funktionseinheit eines Organismus ist nach Pischinger nicht, wie Virchow meinte, die Zelle, sondern die Zelle mit dem sie umgebenden Milieu, über das sie verund entsorgt wird. Selbst einzellige Lebewesen brauchen eine für sie zuträgliche Umgebung. Diese dürfte ursprünglich Meerwasser gewesen sein, denn Gewebswasser hat fast die gleiche Zusammensetzung (Heine 1997, 2004a). ECM und Zelloberfläche müssen bestimmte physikochemische Eigenschaften haben (Molekülgröße und -ladung, onkotischer [kolloidosmotischer] Druck, pH-Wert und pH-­Gradienten etc.), um ihre Funktionen koordinieren zu können. Es muss sichergestellt sein, dass der „innere Kreislauf “ (bei 75  kg Körpergewicht ca. 15–18  l Gewebswasser) im Sinne eines aktiven Stoffwechsels stets in Bewegung bleibt (Eppinger 1949). Das Gewebswasser, ein eiweißfreies Ultrafiltrat des arte­ riellen Kapillarblutes, fließt größtenteils als Rückresorbat über den venösen Kapillarschenkel ab, ein geringer Teil über das Lymphsystem (Eppinger 1949). Jede Kapillarschädigung verändert die Permeabilität und gefährdet die Verund Entsorgung der nachgeschalteten Zellen. Der „innere Kreislauf “ ist von der Undurchlässigkeit der Kapillaren für hochmolekulare Proteine abhängig. Wichtig ist, dass das Gewebswasser in der ECM nicht frei fließt, sondern durch den Aufbau der ECM aus wasserbindenden polysaccharidhaltigen Ma­ kromolekülen hydrogelartig organisiert ist (. Abb. 8.1). Das Gel kann bei Flüssigkeitsverlust das eingelagerte Wasser fester halten als das Plasmaalbumin in den Kapillaren, wodurch der für den „inneren Kreislauf “ wichtige onkotische Druck zwischen intra- und extravasalem Raum aufrechterhalten wird. Bei ­„Überwässerung“ quillt das Hydrogel, überschüssiges Wasser fließt über das Lymphgefäßsystem ab. Erst wenn auch diese Möglichkeit ausgeschöpft ist, kommt es als erstes Krankheitszeichen zum perikapillären Ödem mit Übertritt von Plasmaproteinen in die ECM  

146

H. Heine et al.

a

d

c

300 nm

b

3

2

5 4

1

8

..      Abb. 8.1  Synthese und Struktur der PG/GAG. a PG/ GAG-synthetisierender Fibroblast: Freisetzung der PG/ GAG in die ECM, b Schema eines PG, das über Link(Verbindungs)-Proteine an Hyaluronsäure (1) (Doppellinie unten) bindet, Dermatan- (2), Keratan- (3),

Heparan- (4), Chondroitinsulfat (5) sind an das „Proteinrückgrat“ gebunden. c Schema der flüssig-kristallinen Wasserbindung (fein gestrichelt) zwischen GAG-Ketten und Wasserdomäne (grob gestrichelte Hülle). (Aus Heine 2015, mit freundlicher Genehmigung)

und proinflammatorischer Störung des „inneren Kreislaufs“ (Eppinger 1949; Heine 2007).

Die Glykokalyx steuert die individuellen Zellleistungen, übernimmt die Verbindung zu den ECM-Komponenten und vermittelt zwischen den Zellen epithelialer Zellverbände und deren Basalmembran (. Abb.  8.2). Die PG/GAG sind durch ihre hohe Diversität und viele Kopplungsmöglichkeiten extrem effiziente Informationsträger. Auch ermöglichen sie durch ihre Diversität und ihre Kopplungsmöglichkeiten, dass sich die Grundregulation blitzschnell auf komplexe Veränderungen einzustellen vermag, wodurch auch die Aufrechterhaltung der Homöostase (besser: Homöodynamik) ermöglicht wird (Heine 2007). . Abb.  8.2 veranschaulicht, wie die Komponenten der ECM und der Zellen zusammenarbeiten. Außerhalb des Zentralnervensystems (ZNS) ist der Fibroblast das aktive Zentrum. Er reagiert in Minutenschnelle auf alle informativen Eingänge mit dazu passender Synthese von ECM-Komponenten (Übersicht bei Heine 2007). Für das Krankheitsgeschehen ist entscheidend, dass er dabei nicht zwischen „guter“ und „schlechter“ Information unterscheidet. Der Fibroblast ist über terminale vegetative Nervenfasern an das ZNS und über die Kapillaren an das endokrine System (Endokrinium)

8.3  System der Grundregulation

als nichtlineares System – Strukturkomponente der extrazellulären Matrix

8.3.1  Funktionelle Struktur der

extrazellulären Matrix





Wichtigste Strukturkomponenten der ECM 55 Zuckerpolymere (Proteoglykane und Glykosaminoglykane, PG/GAG) 55 Strukturglykoproteine (verschiedene Kollagentypen, Elastin) 55 Vernetzungsglykoproteine (Fibronektin, Lektine u. a.) 55 Der membranständige Kohlenhydrat-­Oberflächenfilm der Zellen (Glykokalyx)

8

147 Das System der Grundregulation

Organzelle

Basalmembran

Abwehrzellen

PG/GAGs Axon

Elastin

Grundsubstanz(ECM) Fibroblast Mastzelle

Axon

Kapillare Endokrinium

ZNS

Biorhythmen ..      Abb. 8.2  Schema der Grundregulation. Wechselseitige Beziehungen (Pfeile) zwischen Endstrombahn (Kapillaren, Lymphgefäße), ECM (Grundsubstanz), terminalen vegetativen Axonen, Bindegewebszellen (Mastzellen, Abwehrzellen, Fibroblasten etc.) und Organparenchymzellen. Epitheliale und endotheliale Zellverbände sind von der zur ECM vermittelnden

Basalmembran unterlagert. Jede Zelloberfläche trägt einen Zuckeroberflächenfilm (Glykokalyx; gepunktete Linien), der zur ECM vermittelt. ECM über Endstrombahn an das Endokrinium, über Axone an das ZNS angeschlossen. Fibroblast stoffwechselaktives Zentrum in der Peripherie. (Aus Heine 2015, mit freundlicher Genehmigung)

angebunden. Im ZNS übernimmt der Astrozyt diese Aufgaben des Fibroblasten. Das Netzwerk der PG/GAG wird von den bürstenförmigen PG- und den sie verbindenden GAG-Molekülen gebildet (. Abb.  8.1). Es handelt sich hier um die stark negativ geladene Hyaluronsäure, die das ubiquitäre Trägermolekül für PG im Körper bildet. Rein, d. h. nicht an PG gebunden, kommt Hyaluronsäure nur in der Synovia der Gelenke und im Glaskörper des Auges vor (Übersicht bei Heine 2007). Hyaluronsäure beeinflusst alle Funktionen der ECM. Sie wirkt mitogen, differenzierungshemmend, kontrolliert das Gewebewachstum und die Zellmigration, aktiviert die Gefäß­

neubildung bei Entzündungen sowie Granulozyten und Makrophagen. Durch ihr hohes Wasserbindungsvermögen bestimmt Hya­luronsäure wesentlich die Viskosität der ECM.  Die Halbwertszeit von Hyaluronsäure beträgt 2–7 Tage. Sie wird durch Hyaluronidase aus Mastzellen (spreading factor) abgebaut; auch A-Streptokokken enthalten Hya­luronidase (Heine 2007). Die PG bilden den Hauptanteil der ECM. Alle Abkömmlinge der embryonalen Mesenchymzellen wie Fibroblasten, glatte Gefäßwandmastzellen, Osteoblasten und Cho­ndroblasten können ECM synthetisieren. (Mesenchymzellen sind auch die Stammzellen des zur Phagozytose befähigten retikulohistiozytären Systems [RHS], der



148

H. Heine et al.

hämatopoietischen Stammzellen im Knochenmark und der dendritischen Zellen in den lymphatischen Organen; Heine 2007.) Die PG tragen an ihrem „Proteinrückgrat“ (Protein-Backbone oder auch Proteingerüst) bürstenartig angeordnet bis über 100 sulfatierte GAG-Ketten (. Abb. 8.1). Das Proteingerüst wird durch Proteinmodule (motifs) aufgebaut; diese haben wichtige Regulationsfunktionen für die ECM und die angeschlossenen Zellen (Hynes 2009). Die Bindung von Wachstumsfaktoren, Immunglobulinen und Komplement-Faktoren dient als latentes Reservoir von Zellbotenstoffen, das in Abstimmung mit äußeren Einflüssen und inneren Bedingungen für die Grundregulation zur Verfügung steht. Die Abfolge der Module im Proteingerüst der PG und der Vernetzungsglykoproteine kann bei der Bildung des „Rückgrats“ durch alternatives Spleißen individuell verändert werden (es entstehen sog. Isoformen). Durch latente bedarfsbedingte Freisetzung der genannten Faktoren in die ECM entstehen Mediator-Gradienten, die Einfluss auf die Grundregulation und die raumzeitliche Einpassung des Organismus in seine In- und Umwelt haben (Heine 2007; Hynes 2009). Neben Hyaluronsäure ist Heparin das einzige nichtproteingebundene GAG der ECM. Heparin wirkt antithrombotisch, ist aber auch an der Aktivierung von ca. 50 Enzymen beteiligt. Heparin steigert die Freisetzung von Thyroxin, aktiviert Parathormon, vermindert die Synthese von Somatotropin, Aldosteron, ACTH und Angiotensin. Heparin ist am Translations- und Transkriptionsmechanismus beteiligt. Auch aktiviert es die Lipoproteinlipase („Klärfaktor“) im Blut, die Tyrosinasen (u.  a. Bildung von Adrenalin und Thyroxin) und die Histaminase der Darmwand (Heine 2007).  

8

>> PG/GAG vermitteln funktionell zwischen ECM, Zytoplasma und Zellkern.

8.3.2  Die extrazelluläre Matrix als

ultrapermeable Membran

Die PG/GAG sind durch ihre Ionenaustauschund Wasserbindungsfähigkeit Garanten für

Isoionie, Isotonie und Isoosmie in der ECM (Hauss 1994). Die Matrix stellt auch ein poröses Polysaccharidgel mit extrem großer Oberfläche dar, wodurch es in der ECM eine intensive Verflechtung von festen und flüssigen Phasen gibt. Da aber alle Reaktionen im Körper in wässrigem Milieu, bei niedrigem Druck und niedriger Temperatur ablaufen, herrschen dafür ungünstige energetische Bedingungen, sodass alle biochemischen Reaktionen enzymatisch oder nichtenzymatisch (u. a. durch Spurenelemente, Vitamine) katalysiert werden müssen. Dabei entstehen elektromagnetisch ungesättigte Radikale mit einem oder mehreren ungepaarten Elektronen. Obwohl ihre Halb­ wertszeiten im Nanosekundenbereich liegen, können sie jedes biologische Material angreifen. Außerdem treten Radikale mit längeren Halbwertszeiten auf (z. B. Wasserstoffperoxid); diese können extrazellulär über weite Strecken diffundieren (Ohlenschläger und Berger 1988). Das Zytoplasma selbst ist gegen Radikale durch seine Enzymausstattung, Spurenelemente und Vitamine gut geschützt. Die ECM kann durch die darin enthaltene Kieselsäure (Si) Radikale abfangen. Si kann an die Zuckerpolymere aller ECM-Komponenten binden (Heine 2007). Si liegt stets in ihrer polymeren Form vor. Sie wird auch über die Nahrung aufgenommen. Intrazellulär ist Si für die ATP-Bildung über die Atmungskette im Mitochondrium unerlässlich (Bayerl 2004). Schwermetallionen (z. B. Cadmium, Blei, Quecksilber) können Si aus ihren Bindungen verdrängen und so die Funktionen der ECM schwerstens stören (Heine 2007). Die Halbleitereigenschaft von Si bedingt, dass ständig ein gewisses Quantum an Elektronen an der Moleküloberfläche von Si „vagabundiert“. Diese Elektronen können extra- und intrazelluläre Radikale sofort neutralisieren. Dabei entsteht Wärme, sodass dieser Vorgang auch für die Aufrechterhaltung der Körperwärme wichtig ist (Heine 2007). Als Polysaccharidgel hat die ECM ultrapermeable Membraneigenschaften  – und damit auch ein Selektivitätsproblem. Üblicherweise sind solche Membranen größenselektiv, d.  h., kleinere Moleküle werden eher hindurchgelas-

149 Das System der Grundregulation

sen als große (Ding et  al. 2002; Merkel et  al. 2002). Dies ist jedoch mit der Homöodynamik (Homöostase) des Organismus nicht vereinbar: Große und kleine Moleküle müssen gleich schnell permeieren können (Heine 2007). Es zeigte sich, dass die Zugabe bestimmter anorganischer Moleküle im Nanometerbereich wie Si (Nanospacer) die Polymerketten der ECM so zueinander distanzieren können, dass größere Moleküle etwa gleich schnell wie kleine durchgelassen werden (revers-selektive Permeabilität). Günstige Nanospacer sind Si-­ Aggregate von ca. 13 nm Durchmesser (Merkel et al. 2002). Diese Polysaccharid-Si-Cluster im Nanometerbereich haben eine vergleichsweise große poröse Oberfläche, an die sich feinstverteilte Stoffe anlagern können; durch die Feinstverteilung werden sie energetisch so stark aufgeladen, dass viele Reaktionen katalysiert werden, die sonst nicht möglich wären (Merkel et al. 2002; Sernetz 2000). Zur Aktivierung der PG/GAG-Si-Nanospacer sind Wassermoleküle nötig, die sie mit einem wenige Moleküle messenden H2O-Film überziehen. Die Wassermoleküle sind Dipole und hängen untereinander so zusammen, dass sich im Oberflächenwasserfilm der Nanospacer eine Spannung aufbaut, die durch elementare Vibrationen der Kohlenstoff-, Wasserstoff-, Sauerstoff- und Siliziumatome noch verstärkt wird. Dies versetzt den Wasserfilm in einen Energiestatus (stretched water), der noch viele weitere Katalysen ermöglicht (Ding et  al. 2002; Schatz 2000; Wang et al. 2004). 8.4  Räumliche Struktur der

extrazellulären Matrix und Stofftransport innerhalb des Systems

Die große Reaktionsfähigkeit des SGR ergibt sich auch durch die dynamischen, hyperboloiden Tunnelstrukturen innerhalb der extrazellulären Matrix (ECM). Die PG/GAG können durch ihre hyperboloide Form Einschlusskomplexe bilden: hydrophobe Substanzen werden im Inneren transportiert, hydrophile an die

8

Außenseite gebunden. Dadurch ist ein gleichzeitiger Transport beider Substanzklassen möglich. Da alle Zellen über Rezeptoren an die ECM-Komponenten gebunden sind, entsteht ein Zug- und Drucksystem (Tensegrität) zwischen Zellen und ECM. Dieses ist für die Aufrechterhaltung der Homöodynamik entscheidend. Zytokine haben dabei eine besondere Wächter- und Informationsfunktion. 8.4.1  Räumliche Struktur der

extrazellulären Matrix

In der Natur herrscht das Prinzip der Raumfüllung durch selbstähnliche Strukturen vor. Selbstähnlichkeit heißt, dass z.  B. alle Menschen ähnlich aussehen, ebenso ihre Organe, Organstrukturen, Zellen, ihr genetisches Material. Selbstähnlichkeit ist Kennzeichen von determiniertem Chaos. So werden labile Ordnungssysteme am Rande von Chaos beschrieben, die sich autopoietisch (entfernt von einem thermischen Gleichgewicht) erhalten. Dies gilt auch für die ECM, deren Molekularsieb besonders von den PG/GAG gebildet wird. Wird Gewebe konventionell für die Elektronenmikro­ skopie aufgearbeitet, stellt sich die Matrix als Netzwerk aus PG/GAG dar, das von kollagenen und elastischen Fasern durchzogen ist (. Abb. 8.3). Die Maschen des Netzwerks sind aber nirgendwo kongruent, sondern immer selbstähnlich. Diese räumliche Organisation des PG/ GAG-Netzes lässt sich durch willkürliche Überlagerung von Linienrastern darstellen (. Abb. 8.4). Zu erkennen sind die hyperboloid-­ wendelartige Tunnelstrukturen als Suprastruktur der ECM. (Gleiches gilt für die ECM im ZNS; Heine 2007.) In die Hyperboloide der ECM schmiegen sich quasi als Negativ die jeweiligen Organparenchymzellen. Die Kraftübertragung zwischen ECM und Organparenchymzellen erfolgt nach dem technischen Prinzip der Übertragung von Drehungen einer Welle auf eine beliebig andere durch zwei interagierende Hyperboloide (. Abb.  8.5) (Heine 2007). Da die Hyperboloid-Oberfläche eine  





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a

8 b

d

c

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..      Abb. 8.3  a–e Ultrastrukturelle Veränderungen der subepidermalen ECM im Alter, Schwermetall-­ Kontrastierung (Rutheniumrot) der Zuckerkomponenten in der ECM. a 3 Jahre altes Kind: klare Netzstruktur der globulär erscheinenden Proteoglykane (Pfeile) und der sie verbindenden feinen Stränge aus Hyaluronsäure. b 63 Jahre alte gesunde Frau: Kollagenzunahme (Pfeilköpfe), Abnahme und Verfeinerung des PG/GAG-Netzes (Pfeile). c 63 Jahre alte Frau mit metabolischem Syndrom: „verwa-

schene“ Kollagenfibrillen (Pfeilköpfe), überall im PG/ GAG-Netz feine Niederschläge (Pfeile) durch nichtenzymatische Glykosylierung bei Glukoseverwertungsstörung und Peroxidation durch Sauerstoffradikale (advanced glycation end products). Maßstab 100 nm. Analogie des PG/GAG Netzes zu natürlichen Spinnennetzen. d Normales Spinnennetz. e „Verschlacktes“ Netz durch Wassertröpfchen (d–e natürliche Größe). (Aus Heine 2015, mit freundlicher Genehmigung)

energetische Minimalfläche darstellt, kann z. B. auf solchen Oberflächen ein Elektron mit minimaler Energie ein Maximum an Bewegung auslösen (Karcher und Polthier 1990). Alle Organe und topographischen Regionen der Körperoberfläche sind hyperboloid gestal-

tet. Dies reicht bis in molekulare Dimensionen wie DNA, Proteinfaltung und aktive Zentren von Enzymen (Schnering 1991). In Computersimulationen treten bei willkürlichem Über­ einanderlegen von geradlinigen Rastern (etwa 20–50) Ordnungsinseln (Intermittenzen) auf,

151 Das System der Grundregulation

a

8

b

c

..      Abb. 8.4  Räumliche Struktur der PG/GAG. a Computersimulation. Darstellung des PG/GAG-­Netzes durch willkürliches Übereinanderlegen geradliniger Raster, ab einer bestimmten Dichte zeigen sich „Ordnungsinseln“ (Intermittenzen). b Die räumliche Darstellung zeigt hyperbole Tunnelstrukturen. c Hyperbole Tunnelstruktur in der ECM zum Transport

von hydrophoben Substanzen im Tunnelinneren unter Verdrängung von Wasser am Beispiel eines Steroids: Bindung hydrophiler Substanzen (Pfeile) an der Tunnelaußenseite (sog. Einschlusskomplexe, Guest-host-Komplexierung). (Aus Heine 2015, mit freundlicher Genehmigung)

die ständig neu entstehen und vergehen, wodurch der Eindruck einer sehr schnellen Beweglichkeit der hyperboloiden Tunnelstrukturen entsteht. Diese kann auf die fein­ strukturellen Verhältnisse der PG/GAG-­Netze innerhalb der ECM übertragen werden. Auch hier spielt der Zeitfaktor als 4. Dimension eine entscheidende Rolle. Der rasche Auf- und Abbau (in Sekundenbruchteilen) und die enorme Tunnelbeweglichkeit ermöglichen die adäquate Anpassung an die zeitlich länger anhal-

tenden hyperboloiden Überstrukturen der Organe und der Körperoberfläche sowie deren Entwicklung und deren Alterungsprozesse. Als Beispiel dient die Herzentwicklung bei Säugern: Sobald die unseptierte Anlage zu schlagen beginnt (Mitte der 3. Entwicklungswoche), zeigt sie ein typisches EKG.  Die folgenden Umlagerungen, Torsionen und Septierungen (7.–8. Entwicklungswoche beim Menschen) erfolgen während laufenden Betriebs (Heine 1976).

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H. Heine et al.

genschaften des PG/GAG-Hydrogels bleiben davon unberührt.

8.4.3  Das Zytokinnetzwerk der

extrazellulären Matrix

8

..      Abb. 8.5  Hyperboloide Kraftübertragung. Zwei Hyperboloide vermitteln Drehungen von einer Welle auf eine beliebige anders ausgerichtete. (Aus Heine 2015, mit freundlicher Genehmigung)

8.4.2  Stofftransport in der

extrazellulären Matrix

Die Ringschlüsse der PG/GAG zu hyperboloiden Tunnelstrukturen bewirken dynamische „Molekülkäfige“, die in ihrem Inneren hydrophobe (in der Regel fettlösliche) organische Substanzen unter Wasserverdrängung transportieren und gleichzeitig an der Außenwand hydrophile Substanzen „mitgeschleppen“ können. Solche Einschlusskomplexe (guest-host complexation), z. B. von Cyclodextrinen schon lange bekannt, werden in der Pharmazie als Träger für Arzneimoleküle und Geschmacksstoffe genutzt (Heine 2007). Die hyperbole Krümmung der Tunnelwand sorgt gleichzeitig für ein energetisches Minimum an Bindungsenergien der Moleküle an Tunnelinnen- und -außenwand und für ihre Positionierung zu­ einander. Die Komplexierung erfolgt auf nichtenzymatischem Weg und kann auch mit mehreren „Gästen“ erfolgen. Die Bioverfügbarkeit hydrophober Substanzen hängt daher von der Fähigkeit der ECM ab, hyperbole Tunnel bilden zu können (Heine 2007). Die siliziumabhängigen revers-selektiven Permeabilitätsei-

Zytokine (inkl. Wachstumsfaktoren und Chemokine) sind kleinmolekulare zelluläre Botenstoffe, die, freigesetzt in die ECM, über auto-, para-, juxta- und endokrine Funktionen auf die Zellen zurückwirken. Sie können auch interzellulär direkt über gap junctions (Nexus) im Bereich von Zellkontakten ausgetauscht werden. Da Fibroblasten (und Astrozyten) untereinander dynamische Ne­xusKontakte eingehen können, können interzellulär präzise Informationen in Abstimmung mit der ECM weitergebenen werden. Dadurch existiert neben dem Nervensystem, das für schnelle Informationsübermittlung zum ZNS sorgt, ein hochaktives Informationswerk, das viel besser für die Feinabstimmung lokaler Phänomene geeignet ist als die terminalen Nervenfasern. Die in die ECM freigesetzten Zytokine erlangen erst durch Bindung an die PG/GAG ihre volle Funktionsfähigkeit. Hier „reift“ ihre Quartärstruktur (ihre räumliche Struktur, die zur aktiven Form des Moleküls führt). Das Zytokinnetz bildet somit in der ECM raumzeitliche Informationsmuster, die an der Feinabstimmung aller Funktionen der Zell-­ECM-­Bezie­ hung beteiligt sind. PG/GAG dienen dabei als Rezeptoren, Protektoren und Speicher. Auch beim Auf- und Abbau der PG/GAG sind Zytokine beteiligt (Heine 2007). Alles dies erklärt, warum Störungen der PG/GAG (z. B. durch falsche Ernährung, Stress, Umweltgifte) auch immer mit Funktionsstörungen im Signalnetzwerk der Zytokine verbunden sind und umgekehrt (Heine 2007) und die Regulationsfähigkeit des Organismus beeinträchtigen. Dies ist auch für die Entwicklung chronischer Krankheiten bis hin zu Tumoren bedeutend (Halle et al. 1999).

153 Das System der Grundregulation

8.5  Kontakt, Begrenzung und

Verschlackung: Zelladhäsion, Basalmembran und Glykosylierung

Ein krankheitsförderndes Problem stellt auch die Fähigkeit der ECM zur „Verschlackung“ dar. Hier ist die Bildung sog. glykierter Endprodukte (advanced glycation end products, AGE) bedeutend. 8.5.1  Extrazelluläre Matrix und

Zelladhäsion

Damit alle funktionellen Beziehungen zwischen Zellen und ECM im Fließgleichgewicht (Homöodynamik) bleiben, muss zwischen den einzelnen ECM-Komponenten einerseits und zwischen ihnen und den Zellen andererseits eine bestimmte Adhäsivität bestehen. Adhäsive Interaktionen können sehr stark sein. Das Konstruktionsprinzip, wonach sich komplexe mechanische Gebilde unter Einwirkung äußerer Kräfte selbst stabilisieren können, wird Tensegrität (engl. tension and integrity) genannt  – ein Naturprinzip, das sich auf allen Strukturebenen belebter Natur findet (Ingber 1998). Wesentlich ist, dass durch Tensegrität Gewebsspannung, Energie und Masse minimiert werden. Dadurch stellt die ECM auch eine vorgespannte Tensegritätsstruktur dar, in der sich äußere und innere Kräfte die Balance halten. Tensegrität als selbstorganisierende Stabilität braucht jedoch eine bestimmte Viskoelastizität („reversible Verschiebeweichheit“), um in der ECM alle Reaktanten in eine funktionsgerechte molekulare Konformation und Lage zueinander bringen und so stoßabsorbierend wirken zu können (Heine 2007). Deshalb reagieren Zellen mehr auf Änderungen dieser Kräftebalance und weniger auf die Stärke extern oder intern auftretender Kräfte. Aufgrund dessen können kleine Ursachen sehr große Wirkungen auslösen und umgekehrt (Ingber 1998).

8

Die selbststabilisierende Tensegrität hängt von der Funktionsfähigkeit der ECM ab (Heine 2007). Dabei ist auch die Piezoelektrizität von Kollagenfasern wichtig; sie tritt bei Verdrillung oder Dehnung von Kollagenfasern auf und verursacht Feldstärken im Mikrotesla-Bereich. Deren Energie reicht aus, um Syntheseleistungen von Zellen zu ändern (Chiquet 1999). Bei unphysiologischen Verhältnissen wird eine entsprechende (unphysiolgische) ECM gebildet, die durch positive Rückkopplung (Aufschaukeln) letztlich zu Gewebs- und Organschädigung führen kann. Die Zellmembran hat über spezielle Rezeptoren Kontakt zur ECM. Die wichtigsten sind die Integrine, die dehnungssensitiven Ionenkanäle und die zellmembranständigen Hepa­ ransulfat-Proteogylkane. Sie durchsetzen die Zellmembran, treten mit dem Mikrofilamentsystem in Verbindung, aktivieren zelluläre Kinasen, die wiederum im Zellkern Tran­ skriptionsfaktoren aktivieren, sodass die Transkriptions- und Translationsmaschinerie der Zelle gestartet wird (Mechanostress-­ Signaltransduktion) (Hynes 2002). Die Integrine werden von heterodimeren Glykoproteinen (je eine α- und eine β-Peptidkette) der Zellmembran gebildet. Durch ihre Bindung an das Zytoskelett sind sie an Zellhaftung, Zellwanderung, an Mitosen, vielen intrazellulären Signalwegen und praktisch allen biochemischen Zellreaktionen beteiligt (Martin et  al. 2002). Integrine leiten Informationen bidirektional  – in die Zelle und aus der Zelle in die ECM.  Dabei werden die Rezeptorbindungen zur ECM verändert und dadurch auch das Verhalten der ECM (Hynes 2002). α2β1-Integrin beeinflusst z.  B. die Tensegrität der ECM, indem es an Matrixmetalloproteinasen bindet, die von vielen Zelltypen bei proentzündlichen Prozessen gebildet werden; dadurch werden Kollagen und PG gespalten, und die Zellmotilität wird erhöht. Integrine auf Leukozyten steuern wesentlich deren endotheliale Diapedese, d. h. den Übertritt aus den Kapillaren in

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den entzündeten Gewebebezirk (Heine 2007). Erythrozyten haben keine Integrine. Integrine können auch mit benachbarten Membran-Glykoproteinen Komplexe bilden. Dadurch werden bestimmte G-Proteine aktiviert. Diese geben Signale vieler Hormone, Neurotransmitter (u. a. Noradrenalin, Acetylcholin), Chemokine sowie autokrin und parakrin wirkender Faktoren (z.  B.  Zytokine) an das intrazelluläre Signalnetzwerk weiter. Zum Beispiel werden so die Rezeptoren metabolischer Enzyme, Ionenkanäle und Membrantransporter kontrolliert, aber auch Tran­ skription, Zellmotilität, Kontraktilität und Sekretion. Fehlerhafte Integrin-Signale liegen vielen Krankheiten, von Krebs bis Arthritis, zugrunde (Neves et al. 2002). 8.5.2  Basalmembranen

Die ECM wird überall gegen Epithelien und Endothelien von einer Basalmembran begrenzt (Ausnahme: Fehlen der Blut-Hirn-Schranke an den zirkumventrikulären Organen des Gehirns). Bei der aus einer ca. 1 μm feinen Schicht aus ECM-Komponenten bestehenden Basalmembran wird eine Basallamina (ca. 0,3  μm) und eine Lamina fibroreticularis (ca. 0,7  μm) unterschieden. Letztere verankert die Basallamina in der ECM. Die zweischichtige Basallamina ermöglicht wie ein elastisches Netz u.  a. die Diapedese von Leukozyten, d. h. das Durchwandern des Kapillarendothels. In einigen Organen verschmelzen die Basallaminae des Kapillarendothels mit angrenzenden Epithelien (Lungenalveolen, Nierenkörperchen, BlutHirn-Schranke); so ist ein schneller und effektiver Stoffwechsel möglich. Die Basallamina ist auch ein Reservoir für Vitamin C, wodurch Radikale aus der stets entzündungsbereiten ECM entschärft werden können, noch bevor sie die Zellverbände erreichen (Heine 2007). Jede unphysiologische Veränderung bei Basalmembranen verursacht schwere Organschädigungen (z.  B.  Ablagerungen von Antigen-­ Antikörper-Komplexen und Komplement in den Nierenkörperchen). Zwischen den Mole-

külen der Basalmembran und den nachgeschalteten Zellen bestehen informative Rückkopplungen, die entscheidend für die Differenzierung und Funktion der angeschlossenen Zellen sind (Grimaud und Lortad-Jacob 1994). Die Basalmembran hat neben ihrer wichtigen Schranken- und Siebfunktionen auch eine „Skelettfunktion“ für Kapillaren. Auch übernimmt sie die Anpassung der Rhythmik epithelialer und endothelialer Zellfunktionen mit der ECM. Dieser Effekt, eine Eigenfrequenz an die Schwingungen eines anderen anzupassen oder dessen Rhythmik übernehmen zu können, ist für energetisch offene Systeme typisch und wird Entrainment genannt (Nicolis und Prigogine 1987). In diesem Zusammenhang ist es bedeutend, dass es in Tumorgeweben keine regelhaften Basalmembranen gibt. Das Tumorproblem ist daher ab einem individuellen Zeitpunkt mit einer irreversiblen Störung des Entrainments zwischen Zellen, ECM und Kapillaren verbunden (Heine 2004a). Auffällig ist, dass dort, wo sich Tumorzellen einer Basalmembran nähern und diese dann durchbrechen, kein Vitamin C mehr nachweisbar ist (Heine 2007). Wahrscheinlich ist dies auf die hohe Radikalenproduktion durch Tumoren bedingt. Unter Berücksichtigung dieser Fakten könnte nach Heine eine tägliche Vitamin-C-­ Zufuhr bei Tumorpatienten sinnvoll sein (Übersicht bei Heine 2007). 8.5.3  Verschlackungsphänomene

in der extrazellulären Matrix

Wie jedes Sieb kann auch das Molekularsieb der ECM „verschlacken“. Der Begriff „Verschlackung“ wird vonseiten der konventionellen Medizin abgelehnt, ohne zu wissen, dass das, was dort mit „nichtenzymatischer Glykosylierung“ (Glykation, dabei entstehen sog. advanced glycation end products, AGE) bezeichnet wird, das Gleiche bedeutet. Es können daran auch Schwermetallionen und giftige organische Substanzen aus der Umwelt beteiligt sein (besonders polychlorierte Biphenyle, organische Nitro- und Organohalogenverbindun-

155 Das System der Grundregulation

gen), weil sie mit AGE irreversible Bindungen eingehen können. AGE entstehen hauptsächlich durch die Kombination von Stress, Bewegungsarmut und zu hochkalorischer Ernährung (zu viel Weißmehl, raffinierter Zucker, gesättigte Fettsäuren). Dadurch werden Katabolismus, Körpertemperatur und Akute-Phase-Proteine (u.  a. C-reaktives Protein, ent­ zündungsfördernde Zytokine, proteolytische Enzyme) erhöht. Folge davon ist eine proinflammatorische Situation mit unphysiologischen Austauschprozessen im Kapillarbereich, Insulinresistenz, Glukoseverwertungsstörung und vermehrter Bildung von Sauerstoffradikalen (Übersicht bei Heine 2007). Am gefährlichsten ist dabei ein Glukoseüberschuss (Diabetes mellitus). Das Molekül kann sofort an alle Zuckerkomponenten in der ECM und an Zelloberflächen binden. Die ECM reagiert mit Verlust an Puffersubstanzen und vermehrtem Anfall saurer proteolytischer Spaltprodukte im Harn. Dieses „Sauerwerden“ ist durch pH-Wert-Bestimmung im Harn messbar. Symptomatisch zeigen sich ver­ schiedene Befindensstörungen. Im weiteren Verlauf kann sich die zunächst subklinische proinflammatorische Situation zu Organerkrankungen, chronischen Krankheiten und Tumoren weiterentwickeln (Fath 2008; Heine und Heine 2009). AGE werden zwar ständig im Körper gebildet, können aber durch Makrophagen beherrscht werden, denn auf Makrophagen, dendritischen Zellen und Endothelzellen findet sich der AGE-Rezeptor RAGE.  Fluten jedoch zu viele AGE an, werden Makrophagen über RAGE zur Freisetzung entzündlicher Zytokine (TNF-α, IL-1, IL-6) und proteolytischer Enzyme angeregt. Darauf reagieren die Endothelzellen über RAGE u.  a. mit der Entwicklung eines subendothelialen Ödems (Fath 2008; Gebhardt et al. 2008). >> Das heißt: Über RAGE kann eine Entzündungsreaktion akzentuiert werden.

Dazu kommt, dass AGE der ECM auch über Nahrungsmittel direkt zugeführt werden. Sie

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entstehen z. B. bei langem Lagern von Lebensmitteln und in frittierten bzw. gegrillten Lebensmitteln (Übersicht bei Fath 2008). Hier setzen auch die klassischen Ausleitverfahren an. Mit ihnen wird versucht, u.  a. die Anzahl dieser PGE zu verringern, wodurch der Gesamtzustand der ECM verbessert und die körpereigene Regulationsfähigkeit gestärkt wird (Heine 2010).

8.5.4  Physiologische

Leukozytolyse

Dieses Phänomen wird generell zu wenig beachtet, ist aber für das SGR von großer Bedeutung (Heine 2004a, 2007). Bei Ausschaltung aller denkbaren Artefakte kommen auf 5000 Leukozyten/μl Blut 300 Lyseformen. Diese Zellen sind weder nekrotisch noch apoptotisch. Sie „opfern“ sich für die Regelung der Homöodynamik. Im Mittelpunkt stehen hier die neutrophilen Granulozyten. Unter Normalverhältnissen lösen sich pro Sekunde ca. 1,2 Mio. Leukozyten auf und setzen dabei bis zu einem halben Gramm Inhaltsstoffe frei (u.  a. Zytokine, Wachstumsfaktoren, koloniestimulierende Faktoren, Chemokine, Hitzeschockproteine, DNA, RNA, Histone, Proteasen, Prostaglandine, Leukotriene). Alle diese freigesetzten Immunmodulatoren können in jede biologische Regelung eingreifen. Außerdem weben sie die ausgeschleusten Stoffe zu feinen Gespinsten (neutrophile extracellular traps, NET), die Bakterien und Viren abfangen und durch freigesetzte Neutrophilen-­ Elastase vernichten. Da die physiologische Leukozytolyse auch durch pH-, Ober- und Grenzflächenveränderungen ausgelöst werden kann, hängt sie auch von physikochemischen Faktoren bzw. Milieuänderungen ab. Regulationsmedizinische Verfahren versuchen daher, auch die physiologische Leukozytolyse anzuregen mit dem Ziel, die Regulationsfähigkeit zu verbessern, um wieder eine möglichst ungestörte Homöodynamik (Homöostase) zu erreichen.

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8.6  Funktionelle Beziehungen der

sigt, wobei übersehen wird, dass das ZNS nicht Grundregulation zum Zentral- nach der Computer-Regel ja-nein, sondern nach dem Prinzip wenn-dann arbeitet. Dies nervensystem wird als Unschärfelogik (Fuzzy-­ Logik) bezeichnet (Zimmermann 1992). Im ZNS hängen neuronale Rückkopplungen Unscharfe Operationen in einem „Fuzzy-­ rhythmisch mit der perineuronalen extrazelluNetz“ bewirken eine viel schnellere Informatilären Matrix (PECM) zusammen. Da die PG/ onsverarbeitung als lineare Ja-Nein-EntscheiGAG der PECM an allen Gehirnaktivitäten bedungen; Ähnlichkeiten werden rascher teiligt sind, lässt sich hier besonders gut zeigen, differenziert und jeweils verschieden beantdass die Grundregulation nach dem Prinzip wortet. Dies ist bei der Verarbeitung von Sinder Unschärfelogik wenn-dann (Fuzzy-Logik) neseindrücken im Fuzzy-neuronalen-Netz des arbeitet und nicht nach der linearen EntscheiGehirns bedeutend. Da das energetisch offene dungslogik ja-nein (7 Abschn. 8.6.1). Die PECM unterscheidet sich von der peri- System Organismus nichtlinear arbeitet, ist pheren ECM dadurch, dass sie kein Kollagen auch die Unschärfelogik in nichtlineare Pround Elastin enthält, sondern stattdessen das zesse eingebunden. Das bedeutet, Wenn-dann-­ Chondroitinsulfat-PG Appican. Das „Protein- Operationen müssen rückkoppelnd arbeiten, rückgrat“ dieses PG bildet das Amyloid-­ um Informationen so zu präzisieren, dass sie Präkursor-­Protein (APP); daraus entsteht nach mit bereits vorhandenen verglichen werden proteolytischer Spaltung Amyloid-β (Aβ- können. Nur so entstehen Konvergenzen auf Protein), das für die Plaques bei der Alzhei- ein bestimmtes Ziel hin und ermöglichen Entscheidungen. Dazu sind fördernde (positive) mer-Demenz pathognomonisch ist. Die Astrozyten bilden die PECM.  Außer- und hemmende (negative) Rückkopplungsdem versorgen sie die Neuronen mit wichtigen schleifen notwendig. Morphologisch sind Enzymen des Zitrat- und Fettsäurestoffwech- diese u. a. an aktivierende und hemmende Resels, die diesen selbst fehlen („Ammenfunk- zeptoren auf Zellen (z.  B. exzitatorische und tion“ der Astrozyten). Mit zunehmendem Alter inhibitorische Rezeptoren auf Nervenzellen) wird diese Ammenfunktion gestört. Durch gebunden. Daher kann jede Veränderung in Glutaminsynthetase-Mangel fällt vermehrt einem Fuzzy-neuronalen-Netz exakt in dem Ammoniak an, wodurch die Bildung von Alz- Augenblick reguliert werden, in dem sie aufheimer-Plaques beschleunigt wird. Laut Heine tritt (Zimmermann 1992). wäre daher aus therapeutischer Sicht bei Alzheimer-Patienten eine Ammoniakentgiftung zu überlegen.  

8

8.6.2  Bedeutung der perineurona-

8.6.1  Unschärfelogik als Arbeits-

prinzip neuronaler Netze

Die funktionellen Beziehungen der Grundregulation zum ZNS weisen Besonderheiten auf. Von Geburt an muss der Mensch lernen, geistig-­ psychische Prozesse zu beherrschen. Darauf basiert jede Kulturform. Heutzutage wird dies bereits ab dem Kindesalter vermehrt über Computer erlernt. Dadurch wird das Lernen durch Erfahrung zunehmend vernachläs-

len extrazellulären Matrix für Lern- und Gedächtnisleistungen

Bei Neugeborenen enthält die PECM viel mehr Hyaluronsäure als Chondroitinsulfat-­ Proteoglykane (CSPG) und Heparansulfat-­ Proteoglykane (HSPG). Diese drei Verbindungen stellen den Hauptanteil der PG/GAG im ZNS dar. Die Sulfatierung der PG ist u. a. für die Myelinisierung der Nervenbahnen und die Reifung des Gehirns entscheidend. Im Erwachsenenalter nimmt die stark wasserbin-

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157 Das System der Grundregulation

dende Hyaluronsäure ab (bei Mäusen bis zum den mit den passenden Zellreaktionen beant10. postnatalen Tag um ca. 50 %), und es über- wortet (Heine 2004c, 2007). CSPG und HSPG wiegen dann CSPG und HSPG (Bachhawat können miteinander homophile Bindungen 1982). Altern stellt einen proinflammatori- (gemeinsame Hydrathülle; 7 Abschn.  8.5.1) schen Prozess dar, in dem die Sulfatierung der eingehen; diese sind für die Ammenfunktion PG abnimmt und folglich auch ihre funktio- der Astrozyten für die Neuronen (s. oben) nellen Eigenschaften (Bachhawat 1982). Insge- wichtig. samt wird die PECN weniger, da die AstrozyDie neuronalen Integrine verhalten sich wie ten die PECM-Synthese reduzieren und die Integrine auf peripheren Zellen; auch sie gleichzeitig vermehrt proteolytische Aktivitä- koppeln an das Mikrofilamentsystem an. Nach ten stattfinden (Heine 2002, 2004b). Eiweiß- außen binden sie an PECM-­Komponenten, die mangelernährung (bei Kleinkindern in Ent- ein RGD-Motiv (Arginin-­Glycin-­Asparagin) wicklungsländern häufig) bewirkt eine enthalten (z. B. Fibronektin) (Heine 2007). ZwiMangel-Sulfatierung der Gehirn-PG mit Stö- schen den CSPG und HSPG vermitteln rungen der Gehirnentwicklung (Protein-­ Matrixvernetzungs-­Glykoproteine (Appican, Fi­ Kalorien-­Mangelsyndrom, Kwashiorkor). Den bronektin, Tenascin). Appican ist ein CSPG, Mukopolysaccharidosen (fehlende enzymati- wird nur von Astrozyten gebildet und kommt sche Spaltung von GAG und deren Anreiche- nur im ZNS vor. Es ist quasi der Ersatz für Kolrung in Lysosomen; lysosomale Speicher- lagen und Elastin der peripheren ECM und krankheiten), meist mit geistiger Retardierung spannt sich zwischen allen Strukturelementen einhergehend, liegen dagegen genetisch be- der PECM aus, es dient somit als Vernetzungs-­ dingte Störungen zugrunde (Bachhawat 1982). CSPG. Das lange „Proteinrückgrat“ von AppiEinen Hinweis auf die Bedeutung der can wird vom Amyloid-Präkusor-Protein gebilPECM für das ZNS liefert die Tatsache, dass sie det. An Serin 637 und 660 hängt je eine ca. 20 % seines Gesamtvolumens ausmacht. Sie polymere Chondroitinsulfat-Seitenkette. Diese ist zwischen allen neuronalen Elementen nach verhindern die Selbstaggregation des Moleküls dem nichtlinearen Prinzip der Raumfüllung (Iozzo und Perlecan 1994; McGeer und McGeer durch selbstähnliche Strukturen ausgespannt 1995). Serin-Bindungen sind gegenüber der Se(„fraktale Dimensionen“). Für die PECM gel- rinprotease Plasmin empfindlich. Sie wird aus ten die gleichen funktionellen Bedingungen dem PECM-gebundenen Plasminogen geneder Tensegrität (Gewebespannung), Wasser- riert (Finch und Cohen 1997; McGeer und bindung, des Ionenaustauschs und der Spei- McGeer 1995), indem aus dem „Proteinrückcherkapazität für biologisch aktive Substanzen grat“ von Appican kurze Bruchstücke abgespalwie in der peripheren ECM. Zusätzlich werden ten werden. Diese Bruchstücke bilden die amyin der PECM Moleküle vorrätig gehalten, die loidogenen Aβ-Proteine der Alzheimer-Plaques als Axon(Neurit)-Wächterproteine (axon gui- (Heine 2004b, c, 2007; McGeer und McGeer Jung 1996) dance proteins) die richtige Verschaltung der 1995; Saitoh und Mook-­ (7 Abschn. 8.7.2; . Abb. 8.6). Axone steuern (Islam et al. 2009). CSPG und HSPG halten dabei das axonale Die PECM ist an allen Hirnleistungen beWachstum so in Schach, dass die Axon-­ teiligt. Dies zeigt sich z. B. am Erhalt von ErinWächterproteine ihre Funktion regelrecht er- nerungen an furchtauslösende Ereignisse durch füllen können (Heine 2007). Während die CSPG (Gogolia et  al. 2009). Außerdem sind CSPG immer an Hyaluronsäure gebunden CSPG von frühester Kindheit an für Sozialisiesind, sind die HSPG in der neuronalen Memb- rung und emotionale Lernprozesse wichtig ran verankert und stehen transmembranär mit (Fröhlich und Hoyer 2002; Gogolia et al. 2009). dem zytoplasmatischen Mikrofilamentsystem Von der Zusammensetzung der PG/GAG in in Kontakt. Dadurch werden Informationen der PECM ist auch die Entwicklung der Plastiaus der PECM über Signaltransduktionskaska- zität kognitiver Entwicklung abhängig. Somit  





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H. Heine et al.

ben (7 Abschn. 8.5.2), erfolgt die Abstimmung aller extra-/intrazellulären Stoffwechselvorgänge rhythmisch. Periodische Prozesse in biologischen Systemen dienen der zeitlichen und räumlichen Organisation von Lebensvorgängen und erhöhen die Zuverlässigkeit der Informationsübertragung. Rhythmen sind ordnungsstiftend. Die Leistungsfähigkeit eines Organismus hängt wesentlich von der Synchronisation seiner Biorhythmen ab. Dies ist auch der wissenschaftliche Hintergrund von Ordnungstherapien, traditioneller chinesischer Medizin (TCM) und Ayurveda (Heine 2007).

a



b

>> Wichtig ist die Zweiteilung der Periodendauer rhythmischer Funktionen beim Menschen. Im langwelligen Bereich finden sich die Tages-, Wochen- und Jahresrhythmen, im kurzwelligen Bereich die molekulare Ebene.

8

..      Abb. 8.6  a Hirnrinde des Menschen, Patient mit Alzheimer-Demenz. Postmortale histologische Gewebeaufbereitung: Im Bildzentrum ein Alzheimer-­Plaque. Färbung HE. Vergr. 180-fach. b Schematische Darstellung eines Alzheimer-Plaque: Um ein amorphes Zentrum aus Aβ-Proteinen und destruierten PECM-Komponenten befindet sich ein Hof aus Mikrogliazellen (M), dem außen Astrozyten folgen (A); dazwischen irreguläre Astrozytenfortsätze. Peripher liegen im Untergang begriffene Neurone (N) mit intrazellulärer Gespinstbildung (neurofibrillary tangles) (Pfeilköpfe). Vergr. ca. 500-fach. (Aus Heine 2015, mit freundlicher Genehmigung)

dürfte die PECM eine generelle Bedeutung für die Entwicklung und Veränderung neuronaler Schaltkreise haben (Gogolia et al. 2009). 8.7  Grundregulation und zirka-

dianer Rhythmus/Grundregulation und Alzheimer-Demenz

8.7.1  Zirkadianer Rhythmus und

Grundregulation

Wie am Beispiel Entrainment zwischen Zellverbänden, Basalmembran und ECM beschrie-

Die funktionelle Klammer zwischen beiden Bereichen bildet das rhythmische System von Kreislauf und Atmung – allgemeiner: das System von Spannung und Entspannung. Dazu kommt, dass alle Rhythmen tagsüber eine vom Sympathikus gesteuerte Aktivitätsphase und eine nächtliche vom Parasympathikus gesteuerte Erholungsund Aufbauphase aufweisen. Ein Beispiel dafür ist die Phasenkopplung zwischen Herzrhythmus und arteriellem Puls. Die Kopplung fällt nach 3:00 Uhr nachts steil ab und erreicht gegen 9:00 Uhr morgens ihr Tagesminimum. Dementsprechend gibt es bei Angina-pectoris-Anfällen und Herzinfarkten eine deutliche Häufung in den frühen Morgenstunden (Heine 2007). Im Nachtschlaf regenerieren die Kopplungen. Der Herzinfarkt setzt daher nicht nur eine organspezifische Störung, sondern auch eine Störung der zirka­ dian-rhythmischen Ordnungsbasis voraus (Heine 2007). Der bedeutendste aller Rhythmen für den Menschen ist der Tag-Nacht-Rhythmus (zirkadianer Rhythmus). Diese innere Uhr bestimmt alle Organfunktionen. Der zirkadiane Rhythmus kann sich bei längerem Aufenthalt in anderen Zeitzonen langsam umstellen. Häufige kurzfristige Tag-Nacht-Wechsel hingegen können Organfunktionen beeinträchtigen (u.  a.

159 Das System der Grundregulation

8

Jetlag, Herz-Kreislauf-Störungen, Magen-­ebenso der Grad ihrer Sulfatierung und ProteDarm-­Probleme) (Heine 2007). Tierexperi- inbindung. Dementsprechend sind nachts mentell zeigte sich an Ratten, dass ein häufiger, Wasser- und Elektrolytbindung erhöht. Das jeweils 3 Tage anhaltender Licht-Dunkel-­ Maximum geht bis 8:00 Uhr morgens in ein Wechsel den zirkadianen Rhythmus erheblich Minimum über  – mit einem entsprechen­ stört, u. a. mit einer Abnahme der Leukozyten- den Maximum an Harnausscheidung. Bereits zahl im Blut und der Abwehrleistung (Li und Quincke (1883) hatte bei Patienten einen umXu 1997) – evtl. eine Erklärung für die Infekt- gekehrten Rhythmus beobachtet, später wurde anfälligkeit und andere somatoforme Störun- dies bei chronisch Kranken bestätigt (Lemmer gen z. B. bei Jetlag. Unter diesen wechselnden 1984). Das nächtliche Minimum an GlukokorVerhältnissen entwickelten sich auf Mäuse tikoiden (Kortisol) und Katecholaminen steiüberimpfte Tumoren besser als bei den Kon­ gert die Synthese und Sulfatierung der PG/ trollen. Melatoningaben hoben die Wirkungen GAG und vermindert gleichzeitig die Phagodes experimentellen photoperiodischen Wech- zytoseleistung der Makrophagen, der neutrosels nahezu auf (Li und Xu 1997). philen Granulozyten und des retikuloendotheDem zirkadianen Rhythmus liegt eine auto- lialen Systems (Heine 1997; Robert und regulatorische Rückkopplungsschleife zum Hy- Moczar 1982). Die Zellproliferation (normale pothalamus (neuroendokrines Steuerzen­trum) wie karzinogene) korreliert offenbar mit der und zum Nucleus suprachiasmaticus (rhythmi- Plasmakonzentration an Chondroitinsulfat-​ scher Taktgeber) zugrunde. Von hier gibt es PG (Schober 1951/52; Voutilainen 1955). Verbindungen zur Netzhaut (retinohypothala- Vermehrte nächtliche Sulfatierung der PG/ mes Bündel) und zur rhythmischen Aktivität GAG bewirkt zusätzlich vermehrten Radikader in allen Zellen vorkommenden Uhrproteine lenfang, d.  h. gesteigerte Entzündungshem(clock proteins) (Barnes 2003; Foster und Kreitz- mung (Bachhawat 1982). Dies entspricht der mann 2004; Heine 2007). Diese Proteine kom- nächtlichen parasympathikotonen Regeneratimen in einer tag- und einer nachtaktiven Form onsphase. Die Antikörper (γ-Globulin) produvor; sie stellen gleichzeitig Transkriptionsfakto- zierenden B-Lymphozyten werden offenbar ren dar, die die Gene für die Helligkeits- bzw. nachts weniger gehemmt; ihr SerumspiegelDunkelheitsphase an- bzw. abschalten. Beispiele maximum liegt bei 4:00 Uhr (Heine 2007). sind das für den Start der morgendlichen AktiAm zirkadianrhythmischen Geschehen ist vitätsphase notwendige Kortisol mit Wirkmaxi- auch der PNIEE-Komplex (psychoneuroimmum morgens um ca. 7:00 Uhr (Schober munoenteroendokriner Komplex) beteiligt 1951/52) oder die nächtliche Hemmung des Im- (Heine 2008). Dieser führt bei individuellen munsystems (Heine und Heine 2009). Belastungen bzw. biopsychosozialem Stress Die nächtliche Bildung von Melatonin in der (Beruf, Familie, gesellschaftliche Stellung, UmEpiphyse ist von besonderer Bedeutung, da Mela- welt, Ernährung) zu unspezifischen Körperretonin in alle Funktionen endokriner Drüsen ein- aktionen, die sich somatoform oft in Störungen greift. Es stimmt externe Stimuli (Klima, Tempe- der Magen-Darm-Funktion (bis zu Magengeratur, Licht, Elektromagnetismus) mit internen schwüren, Darmentzündungen) oder der Bedingungen ab (z.  B.  Schlaf-Wach-Rhythmus, Herz-Kreislauf-Funktion äußern (Heine und psychogene Reize, Antioxidation, Keimdrüsen- Heine 2009). Wichtig sind im PNIEE-­Komplex entwicklung und -funktion, Alterungsprozesse) die Serotonin (5-Hydroxytryptamin, 5-HT) (Fontenot und Levine 1995; Vollrath 1981). bildenden enteroendokrinen (enterochromafAuch die ECM unterliegt in Bezug auf finen) Zellen des Dünndarmepithels. SerotoQualität und Quantität der PG/GAG einem nin wird aus (der in der Nahrung enthaltenen ausgeprägten zirkadianen Rhythmus. Gegen Aminosäure) Tryptophan gebildet und greift 3:00 Uhr nachts weisen die PG/GAG im Blut- in viele Regelkreise der Darmschleimhaut ein plasma eine maximale Konzentration auf, (z.  B.  Darmperistaltik, -durchblutung). In die

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H. Heine et al.

Blutbahn abgegebenes Serotonin wirkt auf die Regulation von Blutdruck, Körpertemperatur, endokriner Aktivität, Ess- und Sexualverhalten, Erbrechen, Nozizeption und Motorik (Li und Xu 1997). Im Gehirn kommen serotoninbildende Neurone nur im Bereich des Rhombenzephalons (Raphe-Kerne) vor. Von dort ausgehende Axonbündel erreichen alle Zen­ tren psychischen Erlebens wie Hypothalamus, Amygdala, limbisches System, entsprechende Areale der Großhirnrinde. Das serotonerge System verbindet somit das „Darmhirn“ (enterisches Nervensystem) mit dem ZNS. Es greift wesentlich in das SGR ein. Serotoninmangel kann auch zu Depressionen führen (Zilles und Rehkämper 1998); dies spiegelt eine der Hypothesen zu Depressionsentstehung (Monoamin-Hypothese) wider. 8.7.2  Alzheimer-Demenz und

Grundregulation

Die Alzheimer-Demenz (AD) ist die am weitesten verbreitete neurodegenerative Erkrankung im Alter und betrifft ca. zwei Drittel aller Demenzpatienten (Heine 2007). In der Alzheimer-Forschung steht derzeit die erbliche Komponente im Fokus, doch nur bei ca. 3–5 % der Demenzerkrankungen handelt es sich um genetisch determinierte Formen (Fröhlich und Hoyer 2002; Golde 2002), der Großteil tritt dagegen sporadisch auf. Einzig die Neurone werden derzeit als Lieferanten des plaquebildenden Proteins Amyloid-β gesehen. Die Alzheimer-Demenz stellt jedoch eine sehr komplexe Erkrankung dar, deren Ursachen und pathophysiologische Mechanismen trotz des enormen Forschungsaufwands noch nicht vollständig geklärt sind. In diesem Zusammenhang sollte laut Heine die Ammoniaktheorie zur Entstehung der Alzheimer-Demenz als ein weiterer, vielleicht bedeutender Baustein gesehen und überprüft werden. Heine stellt das Proteoglykan Appican in den Vordergrund. Da ca. 97  % des plaquebil-

denden Amyloids von Astrozyten über Appican (Amyloidvorläuferprotein, APP) gebildet wird, sollte nach Heine bei der Erforschung der Alzheimer-Demenz mehr Augenmerk auf die Astrozyten und die PECM gelegt werden (Heine 2004b, c, 2007; McGeer und McGeer 1995), denn in der PECM sind Kollagen und Elastin durch Appican ersetzt. Altern stellt einen proinflammatorischen Prozess dar, bei dem Plasmin die Chondroitinsulfatseitenkette von Ap­ pican abspaltet und die plaquebildenden Amyloid-β-Proteine (Aβ-Proteine) übrig bleiben. Den dafür notwendigen Plasminspiegel liefern die Mikrogliazellen (Finch und Cohen 1997; Heine 2007; McGeer und McGeer 1995). zz Ammoniak-Theorie zur Entstehung der Alzheimer-Demenz

Tierexperimentell und durch Mikrodialyse des Wassers in der ECM hirnverletzter Menschen wurde nachgewiesen, dass die Aβ-Proteine normale Bestandteile der PECM sind. Im proinflammatorischen Alterungsprozess nehmen sie jedoch zu, offenbar um den normalen onkotischen Druck in der PECM aufrechtzuerhalten. Dieser gewährleistet die Aufrechterhaltung der Tensegrität (Gewebespannung) der PECM und der Ammenfunktion der Astrozyten für die Neurone (Astrozytenfortsätze schirmen die Synapsen zwischen den Neuronen ab). Im verbleibenden Spaltraum (20–50 nm) stehen die HSPG der Astrozyten- und die der neuronalen Zellmembran über homophile Bindungen (gemeinsame Hydrathüllen) in Verbindung. Dadurch entstehen Mikrodomänen, die einen Shuttle-Verkehr zwischen Astrozyt und Neuron ermöglichen. Durch diesen Shuttle-Verkehr erhalten die Neurone wichtige Enzyme des Zitratzyklus (α-KetoglutaratDehydrogenase, Glutamin-­ Synthetase), Enzyme des Fettsäurestoffwechsels und Cholin für den Membranstoffwechsel. Diese Zulieferung ist für die Neurone essenziell, um selbst Membranen oder Neurotransmitter bilden zu können, da ihnen diese Enzyme und Stoffe fehlen. Dabei überschüssig anfallendes zelltoxisches Glutamat und Ammoniak müssen aber

161 Das System der Grundregulation

sofort aus den Neuronen entfernt und zu den Astrozyten zurückgebracht werden, da den Nervenzellen die Enzyme des Harnstoffzyklus zur Ammoniakentgiftung fehlen. Glutamat und Ammoniak werden in den Astrozyten wieder regeneriert (z. B. kann aus ihnen Glukosamin, der Grundbaustein für die PG/ GAG-Synthese, gebildet werden) (Finch und Cohen 1997; Heine 2004b, c; McGeer und McGeer 1995). Mit zunehmendem Alter werden die Proteinketten der PG durch erhöhte proteolytische Aktivität kürzer, ebenso die Polysaccharidseitenketten durch Abnahme der Glutaminsynthetase. Schließlich können die Astrozyten den aus den Neuronen angelieferten Ammoniak nicht mehr ausreichend entgiften, sodass dieser toxisch auf die Neurone und Mikrodomänen zurückwirkt. Letztlich entstehen zusammen mit der vermehrten Appican-­ Spaltung aus Spaltprodukten untergegangener Zellen und Aβ-Proteinen die Alzheimer-­ Plaques (. Abb.  8.6). In einem Circulus vitiosus wird dadurch die Tensegrität der PECM sowie die Ammenfunktion der Astrozyten immer weiter geschädigt, und der Ammmoniakspiegel wird erhöht; dieser kann noch zusätzlich durch alterungsbedingte Darm- und Leberfunktionsstörungen ansteigen. Dazu kommen Stoffwechselstörungen im Bereich der Blut-Hirn Schranke, da sich die ­Basalmembran zwischen Kapillaren und angrenzenden Astrozytenfortsätzen stark verbreitert (bei einem 80-Jährigen um ca. 50 %) (Heine 2007). Viele Therapiebemühungen sind derzeit auf den Erhalt und die Verbesserung der gestörten Synapsenfunktion zwischen den Neuronen gerichtet. Unter Berücksichtigung des Systems der Grundregulation plädiert Heine dafür, der beschriebenen Ammoniaktheorie mehr Beachtung zu schenken und auch Studien durchzuführen, die auf eine Ammoniakentgiftung abzielen, um abzuklären, ob eine solche therapeutischen Nutzen hätte  – zumal einfache, nebenwirkungsarme Präparate zur Ammoniakentgiftung zur Verfügung stehen (Heine und Heine 2009).  

8

8.8  System der Grundregulation

und Regulation – Bedeutung für Chronizität und Degeneration

Heine gelang es, die wichtige Schlüsselfunktion der ECM innerhalb des SGR als Drehscheibe jeglichen Informationsflusses herauszuarbeiten, die nicht nur alle Zellfunktionen, sondern die gesamte Regulation und da­ mit Gesundheit und Krankheit beeinflusst (. Abb. 8.1). Bei allen akuten und chronischen Erkrankungen und Tumoren lassen sich Regulationsstörungen und ultrastrukturelle Veränderungen der Matrix nachweisen (Pischinger 1975; Perger 1983; Heine 1987). O. Bergsmann zeigte, dass bei chronischen Erkrankungen und Degenerationen eine gestörte Grundregulation im Zentrum von Pathogenese, Diagnostik und Therapie steht (Bergsmann und Bergsmann 1998; Bergsmann 2006; Heine 2007). Die ECM reagiert auf jede Regulationsbelastung (Stress, Umwelteinflüsse, Infektionen, Herde, Störfelder u. a.). Das bedeutet: Anstieg von proinflammatorischen Zytokinen, Interleukinen, Chemokinen, Adhäsionsmolekülen in der ECM mit allen dadurch bedingten Folgen, Kollagenzunahme mit Verschiebung der Matrix vom Sol- in Richtung Gelzustand, Störung der Siebfunktion der Matrix und des Stoffwechseltransports in alle Richtungen, Ansäuerung der ECM samt deren Folgen. Durch die intensive Vernetzung innerhalb des SGR werden alle Systeme in Mitleidenschaft gezogen (z. B. Hypothalamus-Hypophysen-­Neben­ nieren-Achse, HPA-Achse oder „Stressschiene“ [Selye 1971], Zytokinnetzwerk). Dazu kommt, dass jede Regulationsbelastung nicht alleine wirkt, sondern mit anderen Störungen, Belastungen, Risikofaktoren interagiert, sodass der Organismus auch mit den Folgen dieser Interaktionen fertig werden muss, was die Regulationsfähigkeit zusätzlich belastet. (Bergsmann und Bergsmann 1998; Behrends et  al. 2010; Fischer und Peukern 2011; Kellner 1984; Perger 1990; Selye 1953).  

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H. Heine et al.

>> Das heißt: Überschreitet die Reizgröße und -dauer die Kompensationskraft des Milieus, entstehen Mediatoren, die zelluläre, humorale und neuronale Regelvorgänge auslösen, um das milieu interne (Claude Bernard) wiederherstellen bzw. nach Cannon die Homoöstase (Homöodynamik) aufrechtzuerhalten.

8

Mit zunehmender Reizgröße und Reizdauer, auch in Abhängigkeit von der Sensibilität der gestressten Substrate, werden immer mehr Systeme und immer höhere Stufen der Regulationsphysiologie angesprochen. Die intensive Vernetzung bedingt intensive Interaktionen zwischen humoral-hormonellen Regelvorgängen einerseits und Sensomotorik inkl. dem vegetativem Nervensystem andererseits. Dazu kommt, dass sich mit zunehmender Reizdauer die Kompensationskraft des Regelsystems langsam erschöpft. Bei andauernder Dysbalance zwischen Anabolie und Katabolie zeigt die Regelgüte kein gedämpftes Einschwingverhalten mehr, der Sollwert wird pathologisch verstellt, das gesamte Feedbackverhalten verändert (vegetative ­Gesamtumschaltung). Der Übergang des physiologischen Toleranzbereichs in den stabilen falschen Sollwert entspricht einem Maladaptationssyndrom mit Zunahme des anaeroben Stoffwechsels mit zunehmender Gewebsansäuerung. Dadurch entsteht eine globale proentzündliche Situation, die die chronische Störung in den Circulus vitiosus treibt. Der Übergang von einer noch tolerierten vegetativen Umschaltung zur pathologischen vegetativen Gesamtumschaltung stellt einen biologischen Schnitt dar, von dem aus der Krankheitsprozess über ein entzündliches Geschehen letztlich in ein degeneratives Leiden übergeht. >> Ein allgemeiner Grundsatz der Regulationsmedizin ist damit in die Tat umgesetzt. Dieser lautet: Zu Regulationsstörungen kommt es, sobald die Relation zwischen anabolen und katabolen Regulatoren nicht mehr optimal gegeben ist. Regulationsstörungen werden dann chronisch, wenn der Regler irreversibel

den Sollwert verstellt. In Summe heißt das vereinfacht: Der Organismus arbeitet unökonomisch, erreicht früher sein Leistungslimit, erschöpft rascher.

Zusätzliche Risikofaktoren, Stoffwechselstörungen, Störfelder oder Belastungen verschärfen die Situation und schränken das Regulationsvermögen weiter ein. Dabei gilt grundsätzlich: 55 Die Regulationsstörung bestimmt den Verlauf des Leidens. 55 Die Art der Zusatzschäden bestimmt das Krankheitsbild. Dies zeigt, welchen Einfluss die Regulationsfähigkeit der Matrix im Krankheitsgeschehen hat. Akribisches Aufsuchen und Ausschalten möglichst vieler Störfelder und deren interagierender Belastungen können den Circulus vitiosus unterbrechen, die Regeneration der Matrix und damit die gesamte Grundregulation verbessern. Gleichzeitig wird die individuelle Regulationsfähigkeit und die Kompensationskraft des Organismus gesteigert – gelegentlich bis zur Heilung, gelegentlich gelingt nur noch Schmerzlinderung. Doch auch diese bedeutet für den Patienten eine Verbesserung seiner Lebensqualität, die Einsparung von Medikamenten, deren Interaktionen und Nebenwirkungen – und das ist schon sehr viel (Bergsmann und Bergsmann 1998; (Bergsmann und Perger 1993; Bergsmann 2006; Heine und Heine 2009, 2011; Selye 1953).

8.8.1  Chronisches

Belastungssyndrom

Das Syndrom der chronischen Belastung (cBS) beschrieb O. Bergsmann als klinisches Äquivalent zum allgemeinen Adaptationssyndrom (aAS), das Selye im Tierversuch erarbeitete und dafür 1950 den Nobelpreis erhielt. Zu dieser Zeit bearbeitete das Wiener Team (Bergsmann, Kellner, Stacher u.  a) von den Headschen Zonen ausgehend die regulatorische Desintegration, die Selye später als lokales Ad-

163 Das System der Grundregulation

aptationssyndrom veröffentlichte (Bergsmann und Perger 1993; Selye 1953). Bergsmann entwickelte den Begriff chronisches Belastungssyndrom (cBS) durch die Beobachtung chronischer Krankheiten. Es zeigte sich, dass jede lang wirkende Reizsituation dieses Syndrom auslösen kann und dass der Verlauf unabhängig von der Art des Reizes durch bestimmte Stadien gekennzeichnet ist. Er fand als übergeordnete Krankheitsursache die Entgleisung aller Regelvorgänge (. Abb.  8.7). Im Unterschied zum aAS sind die Stadien beim Menschen um Vieles länger als beim Tier, die Reizquanten um ein Vielfaches geringer als die Reizstärken, die Selye verwendete. Da die Widerstandskraft beim Menschen um Größenordnungen höher angenommen werden kann als die von Labortieren, ist auch die längere Entwicklungsdauer beim Menschen plausibel. Dazu kommt, dass es bei normalem Lebensverlauf meist auch zu zeitweiligen Unterbrechungen einiger Reize kommt, dann wieder Zusatzreize auftreten, was das Auftreten von Remissionen und akuten Schüben erklären kann. (Selye belastete die Labortiere über standardisierte Zeitspannen mit standardisierten Reizen.) Typisch ist, dass im Verlauf des cBS alle biologischen Parameter verändert werden. Das klinische Problem besteht darin, den/die Auslöser zu finden und auszuschalten (Bergsmann und Perger 1993; Selye 1953). Ein Dauerreiz bewirkt primär eine lokale Dysfunktion des Grundsystems, die eine lokale regulatorische Entartung (regulatorische Desintegration  – ähnlich dem lokalen Adaptationssyndrom, das Seyle beschrieb) bewirkt. Ein lokaler Langzeitreiz oder ein lokaler Prozess bleibt lange Zeit durch lokale Abwehrkräfte lokal beschränkt. Seine Allgemeinwirkung erfasst den gesamten Organismus nur langsam. Bis dahin besteht ein Unterschied zwischen den Regelvorgängen im betroffenen Gebiet und den „freien“ Organregionen. Praktisch alle Parameter (lokalen Systeme) werden von dieser regulatorischen Desintegration erfasst und können daher auch zur Diagnose der Desintegration verwendet werden. Die lokale regulatorische Entartung (regulatorische Desintegra 

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tion) wird u. a. somatoviszerosensibel über den zugehörigen Spinalnerven an das Rückenmark geleitet, segmentbezogen und zentralnervös verarbeitet, um im zugehörigen segmentalregulatorischen Komplex (srK) z. B. als somatoviszeromotorische Antwort z. B. eine typische tonisch-algetische Schmerzsymptomatik aufzubauen. Wird nun das durch minimale Dauerbelastung destabilisierte Grundsystem zusätzlich durch eine banale sekundäre Noxe (Zweitschlag) belastet, kann diese überwertig beantwortet werden und über eine globale Störung der Grundregulation unabhängig vom Ort der Lokalisation eine Fernstörung auslösen (. Abb. 8.7).  

>> Das heißt: Zunehmende Reizdauer und Reizstärke (oft durch Summationseffekte) bewirken, dass die primär lokale Regulationsstörung unter Einbeziehung zentraler Regelmechanismen generalisiert und letztlich den Gesamtorganismus erfasst (Bergsmann und Bergsmann 1998; Bergsmann 2006; Perger 1990; Selye 1953).

Zu beachten ist, dass chronische Belastungen jeder Genese dieses Syndrom entrieren können. Bedeutend sind dabei Zeitdauer, individuelle Ausgangslage und zusätzlich bestehende Risikofaktoren. Die medizinisch-therapeutische Aufgabe besteht darin, die primären Auslöser zu finden und auszuschalten, wodurch eine Verbesserung oder Normalisierung der Grundregulation erfolgen kann. Bei bioelektrischer Funktionsprüfung ist der Ausgangswert in jeder Phase der Erkrankung verschieden, ebenso zeigen Regulationstests Einschwingvorgänge verschiedener Entartungen (Bergsmann und Bergsmann 1998; Bergsmann 1994a). Die Phasen des chronischen Belastungssyndroms (cBS) (Bergsmann und Bergsmann 1998; Bergsmann 2006), dessen Entwicklung Jahre bis Jahrzehnte dauern kann, korrespondieren mit denen des aAS nach Selye. Beiden gemeinsam ist als pathogenetische Führungsgröße die Wirkzeit einer unspezifischen Noxe; anders ausgedrückt, die Einwirkungsdauer eines unspezifischen Reizes.

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H. Heine et al.

Chronisches Belastungssyndrom (nach Bergsmann) Minimaler Dauerreiz Lokale Dysfunktion der Grundregulation

Minimale Reize Summationseffekt Zweitschlag Risikofaktoren lndividuelle Ausgangslage

Regulatorische Desintegration = lokale regulatorische Entartung

Zentralnervöse Verarbeitung

ZEIT

Zentrale Regelmechanismen

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Fernstörung Generalisierte Störung der Grundregulation

Chronisches Belastungssyndrom ..      Abb. 8.7  Entwicklung des chronischen Belastungssyndroms (cBS) (nach Bergsmann). (Aus Bergsmann 2006, mit freundlicher Genehmigung)

kSubsymptomatische Vorphase

Subklinische Symptome wie Befindensstörungen, muskuläre Verspannungen, vegetative Störungen sind typisch, führen den Patienten jedoch selten zum Arzt. Die in diesem Stadium missachteten Stressoren können bei weiterer Aktivität oft erst Jahre später zu chronisch-­ rezidivierenden Symptomen, zum Leidenszustand, führen. Im Regulationstest ist das Einschwingverhalten labil. kDysregulatorische Phase

Hier steht die Manifestation der Regulationsstörungen in verschiedenen Systemen und Organen im Vordergrund. Bei lokalisierter Belastung sind belastete Körperregionen bzw. Systeme stärker betroffen. Die primär unterschwellige regulatorische Desintegration zeigt

sich nun mit deutlicher Symptomatik, permanent oder rezidivierend. Die Führungssymptome der multiformen Krankheitsbilder werden durch Interaktion mit anderen Risikofaktoren geprägt. Das chronische Leiden hat klinisch begonnen. Ausschaltung der Noxe(n) und konsequente Regulationstherapie kann es noch unterbrechen oder minimieren. Das Einschwingverhalten ist labil-hypererg. Beispiel: Eine bisher kompensierte Läsion dekompensiert durch einen dysregulativen Stressor – unterschwellige chronische Gastritis wird durch zusätzlichen Stress akut. kPhase des Strukturumbaus

Der Strukturumbau beginnt unbemerkt bereits schon zu Beginn des Syndroms. Jetzt übernimmt er die Führungsrolle. Die regulatorische

8

165 Das System der Grundregulation

Desintegration hat weiter zugenommen, kann eine ganze Körperhälfte erfassen (Halbseitenfernreflex nach Knotz). Durch segmentale Dysmetabolie können Funktionsstörungen bzw. Degenerationen in der Wirbelsäule auftreten, die ihrerseits kontralaterale Symptome auslösen. Jede neu hinzutretende Funktionsstörung koppelt in das dysregulatorische Geschehen zurück, verschlimmert den Verlauf und kompliziert die Therapie. Die Abwehrkraft der Zielorgane ist reduziert, macht sie anfälliger für Sekundärinfektionen, Reizergüsse, psychische Reaktionen, Unverträglichkeiten u. a. Schmerzsymptome bzw. Funktionsstörungen innerer Organe oder des Bewegungsapparats treten schubweise auf, können aber auch permanent mit wechselnder Intensität vorhanden sein. Rheumatoide Beschwerden, weitgehend unabhängig von Befunden bildgebender Verfahren, sind ebenso typisch wie Multimorbidität. Die klinische Diagnostik konzentriert sich auf die Organ- bzw. Systemmanifestationen. Selbstverständlich müssen die dabei auf das Grundleiden „chronische Dysregulation“ aufgepfropften akuten Zustände im Mittelpunkt des diagnostischen und therapeutischen Vorgehens stehen. Dies ist notwendig und kann sogar lebensrettend sein. Wird jedoch dann die zusätzliche Suche nach den primären Ursachen des Leidenszustands unterlassen, bleibt das Faktum „Chronizität“ bestehen. Die Regulationsstörung entwickelt sich bis zum Vollbild des chronischen Leidens weiter. Konventionelle Therapieformen in Kombination mit Regulationstherapie sind angebracht, ebenso verschiedene Rehabilitationsverfahren. Regulationstests zeigen träges bis starres Einschwingverhalten. kFinalstadium

Diese Phase entspricht dem Vollbild der Adaptationskrankheit nach Selye (1953). Im Vordergrund steht die Dekompensation multipler Funktionen mit allgemeinen Abbauerscheinungen, Leistungsbeschränkung und Abwehrschwäche. Erschwerend ist oft eine meist störungsbedingte depressive Grundstimmung des Patienten. Die zunehmende allgemeine Abwehrschwäche bedingt noch größere Anfällig-

keit für Infektionen jeder Art. Der/die Starter der chronischen Regulationsstörung kann/ können nur noch selten gefunden werden. Regulationstherapie kann nur noch durch Symptomlinderung eine Steigerung der Lebensqualität bringen, im Vordergrund steht konventionelle Therapie. Meist bestimmen die Hauptbeschwerden die Diagnosen. Oft ist Arbeitsunfähigkeit mit Berentung gegeben. Das Regulationsvermögen ist starr (. Abb. 8.8).  

kFazit

Jeder Dauerreiz, jeder lange wirkende Risikofaktor kann diesen phasischen Verlauf auslösen, aber auch in ein bereits bestehendes cBS eingreifen und dessen Verlauf variieren. Wesentlich sind immer die Störung der Grundregulation und der unspezifischen Abwehrreaktionen. Der individuelle Unterschied wird durch die Interaktion mit Zusatzbelastungen (Sekundärstressoren) bestimmt. Daher bestimmt die Regulationsstörung den Verlauf des Leidens, die Art der Zusatzschäden bestimmt das Krankheitsbild. Da das Regulationsvermögen den Verlauf spiegelt, können Regulationstests Diagnostik wie Therapie (im Sinne einer Therapiekontrolle) sinnvoll unterstützen (Bergsmann und Bergsmann 1998). 8.8.2  Regulatorische

Desintegration

O. Bergsmann und sein Team beobachteten in jahrzehntelanger Beschäftigung mit Chronizität und Projektionen von Symptomen in die Körperhülle, dass störfeldbedingte Fernsymptome überwiegend in der zum Störfeld ipsilateralen Körperhälfte auftreten. Daraus ergab sich folgende retrospektive Untersuchung: 55 1500 Krankengeschichten (Lungenheilstätte) wurden nach folgenden Einschlusskriterien durchforstet: 55 chronisch einseitiger pulmonaler Prozess, 55 einseitige extrapulmonale chronische Belastung, bereits vor Beginn der TBC nachgewiesen.

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H. Heine et al.

Norm Zeit

Adaptationssyndrom

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Beantwortung von Störgrößen gleicher Stärke in den verschiedenen Phasen

..      Abb. 8.8  Regulationsverhalten während des aAS und des cBS (nach Bergsmann): Pathogenetische Wirkgröße ist die Zeit. Störgrößen gleicher Stärke werden in verschiedenen Phasen unterschiedlich

beantwortet. Das Regulationsvermögen ändert sich von labil nach starr. (Aus Bergsmann 1994a, mit freundlicher Genehmigung)

55 411 Patienten entsprachen den Kriterien. 55 Dann wurde überprüft, ob die Körperseite der Vorbelastung auch die Seite war, in der sich der nachfolgende Lungenprozess etablierte. 55 Ergebnis: Bei 87,6 % der 411 Patienten zeigte sich in der Vorgeschichte eine Vorschädigung ipsilateral zum nachfolgenden Lungenprozess. 55 Eine analoge Untersuchung mit gleicher Fragestellung im Rehabilitationszentrum für Bewegungsapparat kam anhand von 81 Krankengeschichten zum gleichen Resultat. 55 Ergebnis: 96 % der 81 Patienten hatten in ihrer Anamnese eine Vorschädigung homolateral zur aktuellen Geschehen.

Die Untersuchungen zur Pathogenese und die Ergebnisse zeigten, dass es eine hohe Abhängigkeit zwischen der Lage einer Vorbelastung und dem Ort einer späteren Prozessentwicklung gibt. Als nächstes wurde untersucht, ob sich bei einer einseitigen Belastung auch die regulationsspezifischen Parameter primär einseitig verändern. Bei diesen groß angelegten Untersuchungen beteiligte sich das ganze Wiener Team. Die Ergebnisse bestätigten die Annahme. Dieses Phänomen nannten O. Bergsmann und sein Team „regulatorische Desintegration“. Erst Jahre später stellten sie fest, dass Selye Ähnliches als „lokalen Stress“ beschrieben hatte. Regulatorische Desintegration konnte nach­ gewiesen werden an

167 Das System der Grundregulation

55 der Haut und Unterhaut (Turgor, Sensibilität, Temperatur, Druck), 55 der Muskulatur (Tonus, elektromyographische Aktivität), 55 Kreislaufparametern (Amplitude im Schellong-Test, Kurvenzug im Rheogramm, intravenöse Parameter infolge von Dysfunktion der a.v.-Anastomosen), BSG, komplettem Gas-Check, Elektrolyten, ungesättigten Fettsäuren, Leukozyten im Venenblut, 55 elektrischen Parametern (Widerstand, Leitwert, Kapazität, Speicherfähigkeit, Feldstärke), 55 der Reaktion des Gewebes nach chemischen Reizen. Diese Ergebnisse ließen den Schluss zu, dass im regulatorisch angesprochenen Gebiet alle Parameter in ihrer Amplitude und ihrer Reaktionsfähigkeit verändert werden. Daraus ergab sich auch für die Projektionssymptome ein neuer Aspekt, nämlich der der Reaktionsmuster (Bergsmann und Bergsmann 1998; Heine 2007; Kellner 1984; Perger 1990; Pischinger 2004; Selye 1953). Jedes lebende System ist ein offenes, schwingungsfähiges Netzwerk, das seinen Zustand an den aktuellen Bedarf anpasst. Im Netzsystem entstehen dabei Veränderungen, die normalerweise flüchtig sind und nur selten wahrgenommen werden. Stressoren mit lokaler oder lokalisiert chronischer Aktion (Krankheit, Trauma, lokale Funktionsstörung, lokaler Prozess) erzeugen im Netzwerk oder in einem seiner Teile wiederholt oder permanent das gleiche Regulationsmuster. Dadurch wird der Musterwechsel langsam träge, bei langer Dauer erstarrt das Muster letztlich. Diese trägen bis starren Regulationsmuster sind für das Belastungssyndrom typisch und lassen sich elektrisch, thermisch, aber auch humoral an allen Parametern regis­ trieren. Man spricht dann von Trägheit oder Starre der Regulation, ein Zeichen der lokalen oder allgemeinen chronischen Belastung. Daraus lässt sich aber nicht die Art des chronischen wirkenden Stressors ablesen. Topische Zusammenhänge können nur durch die

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Lokalisation vermutet werden. Diese Feststellung ist deshalb wichtig, weil oft behauptet wird, dass Zeichen der Regulationsstarre auf maligne Erkrankungen schließen ließen. Dies ist aber nur insofern richtig, als Karzinome auch eine Regulationsstarre aufweisen können; doch können Zeichen einer Regulationsstarre auch bei allen chronischen Prozessen  – auch gutartigen  – festgestellt werden. Letzteres konnte O.  Bergsmann mit mehreren elektrischen und thermischen Methoden nachweisen. Typische Beispiele für erstarrte Muster sind auch die Projektionssymptome innerer Organe, von Erkrankungen und von Funktionsstörungen des Bewegungsapparats. Sie können auch palpatorisch, thermisch, elektrisch etc. erfasst werden und sind seit über 100 Jahren publiziert und als Headsche Zonen bekannt. Es gibt keine Arbeit, die sie widerlegt, jedoch zahlreiche Erweiterungen  – besonders in Richtung technischer Untersuchungsmethoden. Auch gibt es eine Verknüpfung mit dem Meridiansystem der Akupunktur (Bergsmann und Meng 1982; Bergsmann und Bergsmann 1997). Wichtig, interessant und hilfreich ist bei dem Aspekt dieser Musterbildung, dass sich die Projektionszonen auch mit der Hand erfassen (palpieren) lassen und die Muster bei erfolgreicher Therapie sofort verschwinden bzw. zumindest ihre Konsistenz ändern. Gleichzeitig verbessern sich Befinden, Beweglichkeit und die diagnostischen Parameter (Bergsmann und Bergsmann 1997, 1998; Bergsmann 1994a, 2006; Heine 2007). 8.8.3  Fernsymptome

(Fernstörungen)

Störfeldbedingte Fernstörungen können in allen Organen und Systemen auftreten und sich in Form verschiedenster Symptome manifestieren bzw. zeigen. Meist sind dazu Zweitschläge (Sekundärreize, Zusatzstressoren) notwendig. Diese sind als Risikofaktoren zu werten und haben Einfluss auf die Auswahl des Zielorgans. Zweitschlagqualitäten gibt es viele: 55 psychosoziale Stressoren,

168

H. Heine et al.

55 interne Belastungen – Störfelder, enterale Belastungen – habituelle, ergonomische Belastungen, 55 Zivilisationsschäden, 55 physikalisch-mechanische Faktoren, 55 ökologische Stressoren, 55 natürliche elektromagnetische Felder, 55 Sferics aus dem Nahbereich, 55 zivilisatorisch-technisch bedingte Felder.

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Die Fülle der Zweitschlagmöglichkeiten birgt die Gefahr in sich, dass bei chronischen Leiden jeweils der Spezialist des Faches, zu dem die momentane Symptomatik am ehesten passt, den Primat für sich beansprucht und die Therapie nach den Gesichtspunkten dieses Faches ansetzt. Dies ist zur Behandlung der einzelnen Symptome hilfreich, gelegentlich sogar zwingend notwendig. Doch sollte klar sein und berücksichtigt werden, dass dadurch nur die Symptome des jeweiligen Stadiums des cBS behandelt werden, nicht aber die auslösende Regulationsstörung selbst. Diese bleibt bestehen, wenn deren Ursache unberücksichtigt und daher unbehandelt bleibt und weiter wirkt (Bergsmann und Bergsmann 1997, 1998; Bergsmann 2006; Bergsmann und Perger 1993; Kellner 1984; Perger 1990; Pischinger 2004). kFazit

Die chronische bzw. chronisch-periodische Aktivität pathogener Faktoren zwingt den Organismus zur Anpassung (Adaptation), die je nach Stärke und Wirkdauer über verschiedene Phasen (Stadien) bis zur Erschöpfung der Regelsysteme führt. Eine einheitliche, spezifische Ätiologie gibt es nicht. Die Entstehung ist nie monokausal, Verschlechterungen bzw. Schübe werden oft durch unspezifische banale Stressoren ausgelöst. Risikofaktoren können interagieren, dadurch modifizieren. Starke Zusatzbelastungen können das Überspringen einer Phase bewirken, gezielte Therapie kann das Leiden in eine vorangegangene Phase zurückdrängen. Die klinische Symptomatik zeigt in allen Systemen den regelhaften Verlauf: subsymptomatische Belastung  – Dysregulation  – manifester Strukturumbau – finaler Leidenszustand betref-

fen alle Organe. Durch die regulatorische Desintegration können sich verschiedene Organe zur gleichen Zeit in verschiedenen Phasen befinden. Organspezifische Faktoren beeinflussen das Störungsbild. Bestimmend für das Syndrom ist besonders das Verhältnis zwischen Reizstärke und Wirkzeit. Welches Krankheitsbild individuell resultiert, wird von 3 Faktoren bestimmt: 1. individuelle Regulationsfähigkeit, 2. Dauer des Stresses (der Belastung), 3. Ort der Einwirkung (Bergsmann und Bergsmann 1998; Bergsmann 2006). Die Therapie chronischer Belastungssyndrome ist vielschichtig und komplex. Es können nur allgemeine Richtlinien gegeben werden: Allgemeine Hinweise für die Therapie chronischer Belastungssyndrome 55 Wichtigster Gesichtspunkt: behutsames, eher langsames Vorgehen mit ausreichend langen Erholungspausen; darüber muss der Patient aber aufgeklärt werden 55 Da die Basis der Syndrome eine regulatorische Belastung ist, sollte primär die Beseitigung des Stressors (der Stressoren) mit adäquaten Methoden und in adäquater Weise angestrebt werden 55 Behandlung organischer Schäden mit Methoden der klinischen Medizin 55 Ersatztherapie bei defekten humoraler Regelsysteme 55 Bei starkem Abbau somatische Rehabilitation 55 Die eigene Erfahrung zeigt, dass oft Neuraltherapie den Behandlungserfolg beschleunigen und verbessern kann 55 Eine gute Arzt-Patient-Beziehung: der Patient liefert als Partner hilfreichen anamnestischen Beitrag und gibt durch gute Compliance (Adhärenz) wichtige Rückmeldungen bezüglich des Therapieverlaufs

169 Das System der Grundregulation

Zusammenfassung 55 Das System der Grundregulation (SGR) stellt eine grundlegende Basis für das Verständnis der integrativen Medizin (Ganzheitsmedizin) und der Auseinandersetzung mit ihr dar. 55 Die zwischen den Elementen des Grundsystems und der komplexen Regulation des Organismus bestehenden Zusammenhänge sind bedeutend für Gesundheit, Krankheitsentstehung und Genesung. 55 Bei chronischen Krankheiten und Degeneration wird die gestörte Grundregulation im Zentrum von Pathogenese, Diagnostik und Therapie gesehen. 55 Das SGR ist ein nichtlineares System, dessen labile Ordnung als determiniertes Chaos beschrieben wird. 55 Die schnelle Reaktionsfähigkeit des SGR hängt von den Polysacchariden der extrazellulären Matrix (ECM) und der Zelloberflächen (Glykokalyx) ab; die ECM-Komponenten werden durch Fibroblasten (im Zentralnervensystem durch Astrozyten) situationsgerecht bereitgestellt. 55 Durch die an Zucker gebundene polymere Kieselsäure hat das Hydrogel der Proteo­ glykane und Glykosaminoglykane (PG/GAG) revers-­selektive Permeabilitätseigenschaften; dadurch passieren große und kleine Moleküle die ECM etwa gleich schnell. 55 Bedingt durch die Halbleitereigenschaften des Siliziums in der Kieselsäure können die bei Stoffwechselvorgängen in die ECM gelangenden Radikale neutralisiert werden. Wird Silizium von Schwermetallionen verdrängt, können schwere Störungen im SGR mit Entwicklung chronischer Krankheiten entstehen.

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171 Das System der Grundregulation

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173

Resilienz: der Weg der Krankheitsbewältigung Raimund Jakesz 9.1

Einführung – 174

9.2

Einschätzung der eigenen Resilienz – 175

9.3

Positive Grundhaltungen und Zufriedenheit – 176 Weiterführende Literatur – 178

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_9

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174

R. Jakesz

9.1  Einführung

Es stellen sich die Fragen: Warum bleiben Menschen trotz Exposition gegenüber potenziell krankmachenden Gewohnheiten oder Erfahrungen gesund? Ist das, was sie erleben, entscheidend, oder die Art, wie sie mit Herausforderungen ihres Lebens umgehen? Warum erholen sich Menschen unterschiedlich schnell von schweren Erkrankungen, bleiben danach von dieser Krankheit verschont oder werden wieder krank? Welche Menschen bleiben trotz intensiver Belastungsexposition leistungsfähig, freudvoll, friedvoll und sozial integriert? Eine der zentralen Fragen des Lebens lautet: Was macht krank oder was erhält gesund? Die Beantwortung dieser Fragen hat mit Resilienz zu tun.

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Resilienz - In der Kybernetik bedeutet Resilienz die Toleranz eines Systems gegenüber Störungen von außen, die Bereitschaft des Systems, das Eigene zu erhalten und widerstandsfähig zu sein gegen äußere Beeinflussungen. Bezogen auf den Menschen wird unter Resilienz die Fähigkeit verstanden, die eigene physische, mentale, emotionale und spirituelle Gesundheit unter normalen Umständen zu erhalten, aber auch unter herausfordernden Bedingungen und unter Krisen. Es handelt sich um eine dem Menschen innewohnende Bereitschaft, die ihn stimuliert zu leben und das Leben zu erhalten – und dies im physischen Wohlbefinden und mit innerer Freude. Mit einem Schlagwort kann dies als Stressresistenz bezeichnet werden.

Von Frauen, die in der Zeit des NS-Regimes in Konzentrationslagern inhaftiert gewesen waren und sich viele Jahre später einer Befragung zur Verfügung stellten, gaben etwa 29  % an, sich körperlich und psychisch völlig gesund zu fühlen. Die Erfahrungen im KZ gehören sicherlich zu dem Schrecklichsten, was Menschen erleben können, und man könnte annehmen, alle Betroffenen hätten physisch und psychisch schwerste Beeinträchtigungen erlitten, von denen sie sich nicht mehr erholen würden. Trotzdem haben sich fast 30  % der Frauen, die durch diese Erfahrung gegangen sind, völlig erholt, und es stellt sich die Frage, wie diese Frauen das bewerkstelligen konnten. Sie waren resilient, d.  h., sie hatten in ihrem

Inneren beschlossen, an dieser Erfahrung nicht zugrunde zu gehen, sondern diese Erfahrung zu überstehen. >> Resilienz ist eine Frage des Bewusstseins.

Resilienz muss sich, um wirklich erfolgreich zu sein, auf allen Ebenen ausdrücken: 55 Der Körper benötigt Widerstandskraft, Regenerationsfähigkeit. Gesunde Ernährung und körperliche Fitness spielen ebenso eine Rolle wie liebevolle Betreuung (den Körper nicht als Maschine sehen). 55 Die Gedanken benötigen eine Bewältigungs- und Auseinandersetzungsstrategie, die dem Menschen bewusst macht, dass sein Wille und seine Aufmerksamkeit entscheidend dafür sind, die Gesundheit zu erhalten, und andererseits auch eine wesentliche Rolle dabei spielen, den Weg aus der Krise zu finden. 55 Der unbedingte Wunsch zur inneren Heilung ist gefragt, um belastende und lähmende Gefühle und Emotionen an sich selbst wahrzunehmen, sie zu integrieren und an sich selbst zu heilen. 55 Schließlich ist Spiritualität gefragt, sich der Erkenntnis über die eigene Lebensaufgabe und dem Sinn der eigenen Erfahrungen zu nähern, um so Antwort auf die o. g. Frage nach Krankheit und Gesunderhaltung zu geben. Resilienz hat mit Kohärenzgefühl zu tun. Salutogenese - Die Salutogenese beschäftigt sich im Gegensatz zur Pathogenese mit den Ursprüngen der menschlichen Gesundheit. Die zentrale Frage lautet: Warum befinden sich Menschen auf der positiven Seite des Gesundheits-Krankheits-­Kontinuums oder bewegen sich dorthin? Die Salutogenese betrachtet also z. B. den Fall: „Welche Raucher bekommen keinen Lungenkrebs?“ Der Kern der Antwort Aaron Antonovskys auf die salutogenetische Frage ist das Konzept des Kohärenzgefühls (SOC, sense of coherence). Kohärenz - Dieser Begriff wurde primär durch Antonovsky (1979) definiert. Kohärenz bedeutet eine grundlegende Lebenseinstellung, die es erlaubt, ein durchdringendes Gefühl der Hoffnung und der Zuversicht zu spüren, ein Gefühl, das den Menschen erfüllt und seinen „Emotionalkörper“ durchdringt. Kohärenz hat auch

175 Resilienz: der Weg der Krankheitsbewältigung

damit zu tun, dass das, was Menschen in ihrem inneren und äußeren Leben erleben, durch ihr Sein, durch ihre Entscheidungen beeinflussbar und daher – wenn sie mit sich im Einklang sind – letztendlich vorhersehbar ist. Eigenschaften, Fähigkeiten und Begabungen, die Menschen in sich tragen, bestimmen das, was sie erleben. Erlebnisse und Erfahrungen sind mit ihnen selbst verbunden, jedoch sind sie nicht ihre Erlebnisse und Erfahrungen, sondern sie durchleben sie nur.

Das heißt also: „Ich bin nicht krank, sondern ich habe eine Krankheit, und damit kann oder wird auch der Augenblick kommen, an dem ich diese Krankheit nicht mehr haben werde.“ Identifikation mit einem persönlichen Zustand oder einer persönlichen Erfahrung impliziert, wirklich Teil dieser Erfahrung zu sein. Das ist problematisch, weil es dann wesentlich schwieriger ist, sich aus dieser Erfahrung zu lösen, als wenn man sagen würde: „Ich habe diese Erfahrung durchgemacht, ziehe meine Lehren aus dieser Erfahrung und löse mich aus dieser Erfahrung heraus.“ Menschen mit hoher Kohärenz durchleben herausfordernde Situationen nicht als Strafe. Sie betrachten sie nicht nur als Belastung, sondern nehmen sie als Forderung an, die das Leben an sie stellt, und sie lassen sich in ihrer Befindlichkeit nicht stark von ihnen beeinflussen. Probleme werden dann differenziert gesehen und primär als lösbar betrachtet. Damit neigen Menschen mit hoher Kohärenz nicht zu lähmender Gleichgültigkeit, nicht zum Gefühl der Unlösbarkeit, sie empfinden weniger Anlass zur Selbstverurteilung oder völligen Infragestellung des eigenen Seins bis zur Selbstaufgabe. Damit werden Herausforderungen und Krisen bedeutsam als Botschaft, die wichtig für Erkenntnis und Entwicklung ist und notwendig zum Lernen und Trainieren von Bewältigungsstrategien – ganz im Unterschied zu einer Grundhaltung die als chaotisch, sinnlos, überwältigend, schuldhaft oder strafend erlebt wird. 9.2  Einschätzung der eigenen

Resilienz

Die Frage nach dem eigenen Grad der Resilienz kann nur in tiefer Selbstreflexion beant-

9

wortet werden: Wenn sich ein Mensch an eine Krise in seinem eigenen Leben erinnert und sich mit der Energie dieser Krise verbindet, so wird er sich Antworten auf einige der folgenden Fragen geben können: Fragenkatalog zur Ermittlung der individuellen Resilienz 55 Habe ich die Krise als sinnhaft, als Teil einer großen, liebevollen Ordnung empfunden? 55 Hatte ich das Gefühl, dass sie mit mir selbst im Zusammenhang steht? 55 Habe ich mich bemüht, ihre Botschaft für mich zu ergründen? 55 Habe ich sie als sinnvolle und konsistente Information gespürt, die ich verarbeiten konnte und sollte? 55 Hatte ich das Gefühl eines nicht nachvollziehbaren, von mir nicht induzierten Geschehens? 55 Fühlte ich mich als Spielball unbekannter Kräfte, dem Vorherbestimmten, dem ich ausgeliefert war und das ich nicht ändern konnte? 55 Habe ich die Krise selbst mitgestaltet und konnte ich mir ihre Entstehung begreiflich machen? 55 Habe ich diese Information, die ich verarbeitet habe, als mit meinen Ressourcen erfassbar und zu bewältigen wahrgenommen? 55 War die Erfahrung integrierbar und aushaltbar und v. a. lösbar? 55 Habe ich mir Hilfe von anderen geholt? 55 Habe ich dadurch meine eigenen inneren Werkzeuge intensiver und auch als besser verwendbar kennengelernt?

Die Beantwortung eines solchen Fragenkatalogs erlaubt jedem selbst, das eigene Verhalten in Krisensituationen kennenzulernen: Das Verhalten ist abhängig von den individuellen Haltungen, Fähigkeiten, Erfahrungen, ­ Talenten,

176

R. Jakesz

Fertigkeiten, Neigungen und Kenntnissen. Alle diese verschiedenen Aspekte sollten gepflegt und diszipliniert zum höchsten Wohl eines jeden entwickelt und trainiert werden. Haltungen und Fähigkeiten, die eng mit der eigenen Resilienz verbunden sind

9

55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55

Innere Ordnung Klarheit Inneres Wissen Achtsamkeit Problemlösungsfähigkeit Optimismus Selbstständigkeit Unabhängigkeit Humor Entschlossenheit Einsicht Mut Standfestigkeit Flexibilität Ehrlichkeit Offenheit Überlebenswillen Phantasie Kreativität Hoffnung Ausdauer Liebe und Frieden mit sich und der Welt

9.3  Positive Grundhaltungen und

Zufriedenheit

Resiliente Menschen entwickeln Widerstand gegen die Zerstörung der eigenen Integrität, gegen die Reduktion auf ein rein körperliches Wesen. Sie lassen sich nicht darauf limitieren, nur funktionieren zu müssen, verleugnen ihr eigenes Selbst, ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse nicht. Sie entwickeln keine Scham über problematische Lebensentscheidungen und verurteilen diese nicht, sondern sie entwickeln akzeptierende, erklärende, liebe- und friedvolle Grundhaltungen dem eigenen Sein gegenüber.

Affirmationen, die diese positiven Grundhaltungen mental unterstützen, könnten u.  a. lauten: Affirmationen für positive Grundhaltungen 55 Ich kann in mir etwas bewirken. 55 Ich bin für mich heilbar. 55 Ich steuere mein Leben durch mein Sein. 55 Ich bin unabhängig. 55 Ich ändere mich stetig durch Selbstbeobachtung. 55 Ich glaube nicht, alles zu wissen. 55 Ich belehre andere Menschen nicht, und dennoch habe ich Bedeutung. 55 Ich weiß, dass ich mich aus belastenden Umständen lösen kann. 55 Ich erkenne Sinn und Zusammenhang meiner Erlebnisse und Erfahrungen. 55 Ich habe meine Lebensaufgabe an mir, an meinem Umfeld und der Welt.

>> Resilienz, also ein Verhalten mit erhöhtem Widerstandspotenzial, das lösungsorientiert und heilsam ist, ist auch eine Frage der eigenen Zufriedenheit.

Zufriedenheit hat viel mit dem Erreichen und dem Bewahren von innerem Frieden zu tun. Dieser Frieden wird bewirkt durch ein Herausgehen aus der Energie der Verurteilung, Beurteilung und des Wertens und ein Hineintreten in einen Status der Beobachtung, der liebevollen Betrachtung und des wertfreien Wahrnehmens. Alles so anzuerkennen, wie es ist, ohne es als schlecht und gut zu beurteilen, ist die passende Grundhaltung dafür. Damit tritt man in eine Energie der Unterscheidung ein und behält die grundsätzliche Achtung und Wertschätzung jeder Situation in sich. Dies wiederum ist die Voraussetzung zur Aussöhnung mit sich selbst und dem Anderen zur Vergebung und zum Ausgleich. Unter Vergebung wird hier das Zurückgeben einer an die Person übertragenen Energie verstanden – sei es ein zorniges Wort, physische Gewalt, ein

177 Resilienz: der Weg der Krankheitsbewältigung

Fluch oder eine missbrauchende Aktion. Indem sie diese Energie aus sich selbst herauslöst und dem Verursacher zurückgibt, befreit sie sich selbst davon und gibt dem Gegenüber die Möglichkeit, sich mit dem Geschehen ausei­ nanderzusetzen und es auch an sich zu heilen. Unter Ausgleich wird in diesem Zusammenhang verstanden, eine selbst begangene Tat, die im Herzen als nicht rechtmäßig oder passend anerkannt wird, durch eine tatkräftige Aktion in vergleichbarer Energiestärke zu neutralisieren. Als Beispiel kann ein Kind angeführt werden, das von einem Erwachsenen geschlagen wurde. Auszugleichen ist die Tat durch eine aus dem Herzen kommende Bitte um Vergebung und eine als passend empfundene zusätzliche Geste, die (in welcher Art und Weise auch immer) dem Kind oder anderen Kindern zugutekommt. Damit vergibt die Person sich selbst, sie erhält einen karmischen Ausgleich. Innere Zufriedenheit hat sehr viel mit dieser Ausgeglichenheit, die durch tätigen Ausgleich entsteht, mit Harmonie, Balance und Neutralität zu tun. Die Kraft, die dadurch im eigenen Sein entsteht, gibt Menschen die Ermutigung und auch den klaren Sinn dafür, sich in Krisensituationen adäquat zu verhalten. Durch innere Ausgeglichenheit wird also die Resilienz erhöht, und erhöhte Resilienz führt wieder zu einer Reihe von bereits in 7 Abschn. 9.2 angeführten krafterzeugenden und Mut machenden Verhaltensweisen (Übersicht: Haltungen und Fähigkeiten, die eng mit der eigenen Resilienz verbunden sind). Ein weiterer Aspekt der inneren Zufriedenheit ist die Absichtslosigkeit und das Sein und Tun ohne Erwartungshaltung. Bei absichtslosem Handeln wird das eigene Handeln nicht mit einer entsprechenden Reaktion des anderen verbunden. Sehr wohl wird jedoch auf anderer Ebene absichtsloses Handeln erkannt und entsprechend darauf reagiert. Das absichtslose Handeln ohne Erwartungshaltung führt, indem man sich aus jeder Art von Abhängigkeit löst, zu einer bedeutenden inneren Freiheit. Das Lösen aus der Erwartungshaltung heißt nicht im gleichen Maße, sich  

9

nicht etwas für das eigene Leben wünschen zu dürfen. Es heißt aber, sich von der Erfüllung dieses Wunsches nicht abhängig zu machen und nicht in Trauer, Enttäuschung, Angst, oder Ärger zu verfallen, sondern die Nichterfüllung des Wunsches als etwas für sich selbst und die eigene Situation Angemessenes anerkennen. Schon oft war wohl jeder Mensch in seinem Leben vielleicht primär enttäuscht, wenn ein bestimmtes Ziel nicht erreicht wurde und sich ein Wunsch nicht erfüllte, und er erkannte erst viel später, dass das eigentlich für sein Leben genau passend war. >> Innere Zufriedenheit führt zu innerer Einkehr, Stille und Ruhe, zur Möglichkeit des Einstimmens in eine bestimmte Situation, und dazu, das Erlebte nicht persönlich zu nehmen, sondern als Information anzusehen, die der Betreffende beobachtet und mit der er entsprechend umgeht.

Eine ebenso wichtige Grundhaltung, die eine kompetente Resilienz in einem Menschen ausdrückt, ist das Gefühl der Hoffnung und des Glaubens. Sich „innerlich stark zu machen“, dass z. B. ein Heilvorgang eintritt, sich mit Heilung in seinem Inneren zu verbinden und ohne den geringsten Zweifel an die einzutretende Heilung zu glauben, stellt nach Ansicht des Autors eine wesentliche Voraussetzung für den tatsächlich erfolgenden Heilschritt dar. Schon in der Bibel wird ein vom Betroffenen unerwarteter Heilerfolg mit den Worten kommentiert: „Dein Glaube hat dir geholfen.“ In der modernen Medizin ist sehr neutral vom sog. Plazeboeffekt die Rede. Es scheint notwendig zu sein, darauf hinzuweisen, dass dieser Plazeboeffekt etwas ist, das aus dem Betroffenen selbst und aus seinem Vertrauen entsteht. Ein Heilerfolg setzt also die eigene innere Beteiligung voraus, was wiederum die Bedeutung der Resilienz unterstreicht: >> Sind Menschen mutig und vertrauensvoll und glauben in ihrem Inneren an sich und ihren Erfolg oder an ihren Körper, so wird sich dieser Erfolg auch in höherem Maße

178

R. Jakesz

einstellen, als wenn sie ­Therapieschritte innerlich ablehnen, sich gegen Medikamente wehren und an deren Wert zweifeln oder ihre eigene Beteiligung am Heilerfolg als gering erachten.

Daher sollte und kann jeder Mensch auch darauf hoffen, sich selbst in seinem Inneren zu entwickeln, innere Schritte zu gehen und dadurch Erfolge in seiner Entwicklung wahrzunehmen etc., um das Umsetzen im täglichen Leben und sein geistiges Verhalten zu schulen und zu seinem wahren Selbst zu gelangen: Wege zum wahren Selbst

9

55 Innere aufmerksame Zuwendung zu allem Sein 55 Freundlichkeit gegenüber dem Glücklichen 55 Zurückhaltung gegenüber dem Abweisenden 55 Mitgefühl mit dem Kranken, Verfolgten, Unglücklichen, Traurigen, Fremden 55 Stille gegenüber dem Unwissenden 55 Freude mit dem innerlich Erfolgreichen, Ausgeglichenen 55 Gleichmut und Gelassenheit gegenüber dem Zornigen, Aggressiven 55 Den Raum heiter bewahrend gegenüber dem energetisch Eindringlichen 55 Im Hintergrund bleiben gegenüber dem Auftrumpfenden 55 Sehr still sein gegenüber dem Lauten 55 Bescheiden sein gegenüber dem Weisen 55 Dankbar sein gegenüber dem Lächelnden 55 Freigiebig und großzügig sein gegenüber „jederfrau“. Unaufdringlich gegenüber „jedermann“.

Den Blick auf die eigene Resilienz zu richten, sich selbst immer wieder sorgsam und liebevoll zu ­beobachten, um die wirkliche Situation des eigenen Selbst wahrzunehmen und schrittweise das eigene wahre Selbst zu erkennen, ist eine Aufgabe, die Menschen ihr ganzes Leben lang begleitet. Zusammenfassung 55 Gemäß ihrer Resilienz setzen Menschen sich mit Herausforderungen ihres Lebens auseinander. 55 Durch Selbstbeobachtung kann die individuelle Resilienz wahrgenommen werden. 55 Resilienz ist erlernbar. 55 Affirmationen fördern die Resilienz 55 Es kommt nicht darauf an, was Menschen erleben, sondern wie sie sich damit auseinandersetzen, und das ist resilienzabhängig.

Weiterführende Literatur Antonovsky A (1979) Health, stress and coping. Jossey-­ Bass, San Francisco Antonovsky A (1997) Salutogenese – Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Erweiterte deutsche Ausgabe von Alexandra Franke. dgvt, Tübingen Berndt C (2013) Resilienz: Das Geheimnis der psychischen Widerstandskraft. DTV, München Brooks R (2013) Das Resilienz-Buch: Wie Eltern ihre Kinder fürs Leben stärken. Klett-Cotta, Stuttgart Frankl VE (2005) Ärztliche Seelsorge: Grundlagen der Logotherapie und Existenzanalyse. Deuticke, Wien Frankl VE (2009) Trotzdem Ja zum Leben sagen. Kösel, Altusried-Krugzell Fröhlich-Gildhoff K, Rönnau-Böse M (2014) Resilienz. UTB, Stuttgart Mourlane D (2013) Resilienz: Die unentdeckte Fähigkeit der wirklich Erfolgreichen. BusinessVillage, Göttingen Rampe M (2010) Der R-Faktor: Das Geheimnis unserer inneren Stärke. Books on Demand GmbH, Hamburg Reddemann L (2007) Eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt. Herder, München Welter-Enderlin R (2006) Resilienz  – Gedeihen trotz widriger Umstände. Carl Auer, Heidelberg Wiener N (1952) Mensch und Menschmaschine. Kybernetik und Gesellschaft. Alfred Metzner, Frankfurt am Main

179

Spezielle diagnostische Methoden der Komplementärmedizin Inhaltsverzeichnis Kapitel 10 Herzratenvariabilität – 181 Olaf Hoos Kapitel 11 Physioenergetik – holistische Kinesiologie – 199 Margot Van Assche Kapitel 12 Funktionelle Myodiagnostik (Applied Kinesiology) – 209 Margit A. Riedl-Hohenberger und Christian Kraler Kapitel 13 Elektroakupunktur nach Voll – ein ganzheitliches Diagnose- und Therapiesystem – 227 Elisabeth Wernhart-Hallas Kapitel 14 Spezielle TAM-Diagnostik – 237 Gertrude Kubiena, Florian Ploberger und Lothar Krenner

III

181

Herzratenvariabilität Olaf Hoos 10.1

Einführung und historischer Überblick – 182

10.2

 hysiologischer Hintergrund und Bedeutung der P Herzratenvariabilität für den Gesamtorganismus – 182

10.3

Messmethodik und Parametrisierung – 184

10.3.1 10.3.2

 rundlagen der HRV-Datenerfassung – 184 G Quantifizierungsmethoden und HRV-Parameter – 185

10.4

Anwendungsfelder/Indikationen – 187

10.4.1 10.4.2

10.4.4

 erzratenvariabilität und Morbidität und Mortalität – 189 H Herzratenvariabilität und Adipositas, Diabetes und Hypertonie – 190 Herzratenvariabilität im Kontext von Stress, Depression und Angstzuständen – 192 Herzratenvariabilität und Therapiekontrolle – 192

10.5

Fallbeispiel – 194

10.6

Studien/Evidenzlage – 195

10.4.3

Literatur – 196

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_10

10

182

O. Hoos

10.1  Einführung und historischer

10

vor in den 1970er-Jahren Frequenz- bzw. Spektralanalysen und in den 1990er-Jahren VerfahÜberblick ren der nichtlinearen Dynamik als Analysetools Die Analyse des vegetativen (autonomen) Ner- hinzukamen (Billman 2011). Insgesamt findet die HRV v. a. in grundlevensystems (VNS) mithilfe der Herzratengenden biomedizinischen und psychophysiooder Herzfrequenzvariabilität (heart rate logischen Fragestellungen zur autonomen ­variability, HRV) ist ein etabliertes klinisch-­ Funktion, kardiovaskulären Regulation, Risidiagnostisches Verfahren mit langer Historie kostratifizierung, Gesundheitsprognose und Theund aktuell mehr als 1000 themenbezogenen rapiekontrolle Anwendung, und sie eröffnet Publikationen pro Jahr (Sassi et  al. 2015). seit einigen Jahren auch den sportmediziniDurch die HRV-Analyse lässt sich anhand von geeigneten Kenngrößen die vegeta- schen und physiotherapeutischen Forschungstive Regulationskapazität und -funktionalität feldern vielfältige Anwendungsperspektiven. eines Menschen bestimmen, und sie eignet sich als integrative Kenngröße zur kardiovaskulären Risikoabschätzung und Gesundheits- 10.2  Physiologischer Hintergrund und Bedeutung der prognose sowie zur Therapiekontrolle für unHerzratenvariabilität für den terschiedliche klinische und therapeutische Adressatengruppen. Gesamtorganismus Historisch betrachtet, lassen sich erste thematische Bezüge zur HRV in Form der Puls- Neben der intrinsischen Rhythmusgeneriediagnostik bis 400 v. Chr. zurückverfolgen, wo- rung (~ 100 Schläge/min) durch die kardialen bei konkrete Beschreibungen zu rhythmischen Schrittmacherzellen im Sinusknoten wird die Oszillationen des kardiovaskulären Systems Regulation des Herzrhythmus primär vom aufgrund des Blutdrucks und des Herzschlags VNS bestimmt. Das VNS entfaltet seine Einin Verbindung mit der Respiration seit Anfang flussnahme auf das Herz durch die efferente des 18. Jahrhundert vorliegen (Billman 2011). Aktivität von Sympathikus und ParasympathiSeitdem werden Herzschlag- und Blut- kus, welche über cholinerge und (nor)adredruckschwankungen als wichtige Bestandteile nerge Rezeptoren auf den Sinusknoten wirkt. eines gesunden und gut funktionierenden Dabei spielen diverse kardiovaskuläre RegelHerz-Kreislauf-Systems angesehen. Die ad- kreise mit z.  T. komplexen Interaktionsmusäquate Quantifizierung der Schlag-zu-Schlag-­ tern eine Rolle, die je nach AusgangsbedinFluktuationen der Herzfrequenz oder Herz- gungen unterschiedliche Bedeutung erlangen rate, die als HRV bezeichnet werden, konnte (Persson 1996). . Abb. 10.1 zeigt schematisch sich allerdings erst Mitte des 20. Jahrhunderts vereinfacht den Einfluss von Sympathikus und durch die Verbreitung der EKG-Ableitung in Parasympathikus auf die Herzfrequenz und lisklinischen Standardsettings durchsetzen. Da- tet wesentliche, an der HRV-Genese beteiligte bei wurden die potenzielle klinische Bedeu- Einflussfaktoren auf. tung und der funktionelle Zusammenhang der >> Als zentrale BeeinflussungsmechanisHRV mit dem vegetativen Nervensystem zumen der HRV sind insbesondere die erst für die Gynäkologie am Beispiel fetaler Baroreflex-Aktivität sowie die respiratoStress und wenig später für die Kardiologie im rische Sinusarrhythmie (RSA) zu nennen. Zusammenhang mit dem plötzlichen Herztod beschrieben. Neben visuell-qualitativen Ana- Die Aktivität der Barorezeptoren reguliert lysen erfolgten zunächst v.  a. deskriptive Be- fortlaufend über einen negativen Feedback-­ schreibungen der HRV durch mittelwert- und Mechanismus und kardiovaskuläre Integration varianzabhängige Größen des Zeitbereichs, be- im Hirnstamm den mittleren arteriellen Blut 

10

183 Herzratenvariabilität

ZNS

Atmung

parasympathische/vagale Modulation (hochfrequent)

Blutdruck Kardialer Output Thermoregulation Renin-AngiotensinAldosteron-System (RAAS)

Herz

Baroreflex Hirnstamm

Muskelfeedback (mechan., metabol.)

Sinusknotenaktivität (ca. 100 5/min) sympathische Modulation (niederfrequent)

Mentale Prozesse Gefühle & Intuition Weitere Einflüsse

Lunge

RR- Tachogramm

Zeitbereichsanalyse Frequenzbereichsanalyse Nichtlineare Analyse

..      Abb. 10.1  Sympathische und parasympathische/ vagale Modulation der Sinusknotenaktivität mit wesentlichen Einflussfaktoren sowie Genese des RR-Ta-

chogramms und Quantifizierung der HRV über lineare (Zeit-/Frequenzbereich) und nichtlineare Verfahren

druck. Bei der Vermittlung des Baroreflexes in Ruhe ist eine starke Vagusdominanz zu verzeichnen. Diese ermöglicht über eine Akti­ vierung oder Inhibierung der medullären Vaguskerne eine schnelle (< 500  ms) ­ Herzfrequenzänderung. Die RSA bezeichnet die Modulation der Herzfrequenz in Phase mit dem Atemzyklus, wobei der Inspiration eine Zunahme der Herzfrequenz (RR-Intervall-­ Abnahme) und der Exspiration eine Abnahme der Herzfrequenz (RR-Intervall-Zunahme) zugeordnet werden kann. Die Vermittlung der RSA erfolgt v. a. durch medulläre und hämodynamische Faktoren, die über die efferente Vagusaktivität an das Herz weitergegeben werden, ergänzt durch eine mechanische Einflussnahme der Atembewegung. Hinzu kommen als weitere Einflussfaktoren und Regelkreise der HRV (Persson 1996; Stauss 2003; Thayer und Lane 2000):

55 der über die Herz-Gehirn-Achse vermittelte Einfluss von Emotionen und zentralnervöser Prozesse, 55 das Renin-Angiotensin-Aldosteron-System (RAAS), 55 der Chemorezeptorenreflex, 55 Feedback aus der Muskulatur, 55 thermoregulatorische Prozesse, 55 hypothalamisch getriggerte zirkadiane Rhythmen und behaviorale Faktoren. Letztlich stellt die HRV die integrierte Endorganantwort des Herzens auf die komplexe, nichtlineare Interaktion der sympathikovagalen Aktivität und anderer Faktoren dar und ist deshalb von Bedeutung für den gesamten Organismus. Sie lässt sich systemdynamisch als Outcome eines komplexen, über das VNS fortwährend organisierten neuroviszeralen Integrationsprozesses interpretieren (Thayer und

O. Hoos

Lane 2000). Damit lassen sich pathophysiologische Vorgänge des kardiovaskulären Systems v. a. durch eine Störung der autonom vermittelten, komplexen Interorgankommunikation bzw. Kommunikation und Interaktion der zugehörigen kardiovaskulären Kontrollmechanismen erklären und mittels HRV kennzeichnen, wobei die Vagusaktivität inhibitorisch und selbsterhaltend wirkt, während die Sympathikusaktivität die exzitatorische Funktion übernimmt.

10.3  Messmethodik und

Parametrisierung

1020

RR-Tachogramm

1000 RR-Intervalle (ms)

184

980 960 940 920 900 880

920 1007 888 916 889 988 916 1005 899 899

RR-Intervalle in ms

10.3.1  Grundlagen der HRV-­

Datenerfassung

10

Grundlage jeder HRV-Analyse ist die valide Extraktion von konsekutiven RR-Intervall-­ Längen aus dem Elektrokardiogramm (EKG), welche aneinandergereiht das RR-­Tachogramm bilden. . Abb.  10.2 zeigt exemplarisch ein Ruhe-EKG von 10 aufeinanderfolgenden Herzperioden unter Angabe der zugehörigen RR-­ Intervall-­Längen in ms. Bei Betrachtung der Schlag-zu-Schlag-Differenzen wird die hohe instantane Schwankungsbreite der Herzperiodendauer von bis zu > 100 ms deutlich. Standardisierte Ableitungsbedingungen in Bezug auf Körperlage, Tageszeitpunkt, Medikation, Entspannungszustand und Messumgebung sowie hochauflösende und robuste Erkennungsalgorithmen mit einer Messgenauigkeit von 1–3 ms gewährleisten eine qualitativ gute Datenerfassung für nahezu alle HRV-Kenngrößen. Zur Erfassung und Quantifizierung der HRV sind neben dem Standard-­ EKG mittlerweile auch einfache, mobile Messsysteme verfügbar, welche die R-Zacken-­ Abstände aufeinanderfolgender QRS-­ Komplexe des EKG valide erfassen und daraus das RR-Tachogramm als Grundlage für die weitere Analyse ableiten können. Die Messdauer ist je nach Fragestellung auszuwählen bzw. anzupassen.  

EKG-Ableitung

..      Abb. 10.2  Entstehung des RR-Tachogramms (oben) aus den konsekutiven R-Zacken-Abständen des EKG (unten)

Dabei sind Langzeitmessungen (meist 24Stunden-EKG) grundsätzlich von Kurzzeitmessungen (1–20 min; Empfehlung: ca. 5 min) zu unterscheiden (ESC NASPE 1996; Nicolini et al. 2012). Die Kurzzeitmessungen stellen ein ideales Screening-Tool dar, welches unter standardisierten Bedingungen in verschiedensten Settings gezielt, schnell und valide eingesetzt werden kann. Die Langzeitanalyse (in der Regel 24 h) hingegen erhebt ein eher globales Bild und kann neben der allgemeinen Risikostratifizierung auch die Tages- und Nachtrhythmik quantifizieren. Sie lässt sich allerdings weniger gut standardisieren und ist im Tagesverlauf erheblich von behavioralen Einflüssen abhängig. Bei geeigneter Datenerfassung und -analyse sind Kurzzeit- und Langzeitvariabilität moderat bis stark miteinander korreliert (Perkiomaki et  al. 2001) und können für ein Risiko-Screening qualitativ ähnliche Ergebnisse liefern (Voss et al. 2013).

185 Herzratenvariabilität

10

(Hainsworth 2004; Nicolini et  al. 2012). Bei den nichtlinearen Kenngrößen erscheint weniger ein einziger verantwortlicher Mechanismus als vielmehr das komplexe Zusammenspiel aus efferenter sympathikovagaler Aktivität, zirkulierenden Katecholaminen und 10.3.2  Quantifizierungsmethoden respiratorischer Sinusarrhythmie bedeutsam und HRV-Parameter (Perkiomaki et al. 2005). Grundsätzlich gilt bei Ruhemessungen, Grundsätzlich wird unterschieden zwischen dass hohe Werte bei den Kenngrößen der Ge55 varianz-/mittelwertabhängigen und samtvariabilität (SDNN [Standardabweichung geometrischen Parametern des Zeitbealler artefaktfreien RR-Intervalle], SDANN reichs, welche die Schwankungsamplituden [Standardabweichung der mittleren artefaktder HRV bzw. Informationen zur Verteifreien RR-Intervalle], TotP [Gesamtspektrallung der RR-Intervalle beschreiben, und leistung aller RR-Intervalle], HRV-­Index) und 55 Parametern der Frequenzanalyse, welche die der parasympathischen Modulation (insbeim RR-Tachogramm bedeutendsten Fresondere RMSSD [Quadratwurzel der mittleren quenzen und deren Verteilung bestimmen. quadrierten Differenzen sukzessiver RR-Intervalle], HF [Spektralleistung im HochfrequenzSeit den 1990er-Jahren werden diese linearen band], SD1 [Kurzzeitvariabilität]) bei verAnalyseverfahren zunehmend durch Kenngrö- gleichsweise niedrigen bis moderaten Werten ßen und Verfahren der nichtlinearen Dynamik der sympathischen bzw. gemischten Modulaergänzt. Diese erfassen im Gegensatz zu den li- tion (Stress-Index, LF [Spektralleistung im nearen Methoden nicht das Amplituden- oder Niederfrequenzband]) günstig sind. Für geFrequenzverhalten der HRV, sondern vielmehr sunde Erwachsene im mittleren bis späten Ledie Struktur und Komplexität der RR-Intervalle bensalter liefert eine umfangreiche Metaana(Nicolini et al. 2012). Ausgewählte, in Wissen- lyse für Kurzzeitmessungen (ca. 5  min) mit schaft und Anwendungspraxis häufig verwen- mehr als 20.000 Probanden mögliche Normdete Indizes des Zeit-, Frequenz- und nichtli- wertbezüge, die z. B. im Zeitbereich mit SDNN: nearen Bereichs sind in . Tab.  10.1 mit ihren 50 ± 16 ms und RMSSD: 42 ± 15 ms angegeben wesentlichen mathematischen und physiologi- werden (Nunan et al. 2010). Für den Langzeitschen Charakteristika dargestellt. . Abb.  10.3 bereich lassen sich aus verschiedenen populavisualisiert und beschreibt ferner exemplarisch tionsbasierten Studien mit größeren Kohorten die verschiedenen Auswertungsansätze anhand ebenfalls Normwertbezüge ableiten (Britton eines Beispiels einer 5-minütigen Ruhemessung und Hemingway 2004; ESC NASPE 1996). mithilfe einer wissenschaftlichen HRV-­ RefeLetztlich sind viele der etablierten Zeitrenzsoftware (Kubios HRV, 7 http://kubios.­ und Frequenzparameter bei vergleichbarer uef.­fi, letzter Online-Zugriff am 01.06.2018). Messdauer eng miteinander verbunden bzw. Die in . Tab. 10.1 vorgenommene Zuord- sogar direkt ineinander überführbar (Ciccone nung der meisten HRV-Kenngrößen zu be- et  al. 2017) (insbesondere RMSSD, HF und stimmten physiologischen Mechanismen bzw. SD1 sowie TotP und SDNN). Nach der zuRegelkreisen ist mithilfe von pharmakologi- nächst dominierenden Nutzung von Frequenzschen Blockaden der cholinergen und (nor) bereichsparametern fokussieren sich in den adrenergen Rezeptoren des Sinus- und AV-­ letzten Jahren viele Anwendungsfelder wieder Knotens sowie durch kontrollierte Provokation stärker auf Zeitbereichsparameter, da diese der efferenten Sympathikus- und Vagusaktivi- einfacher zu berechnen, robuster gegenüber tät abgesichert worden, wobei diesbezüglich Artefakten (z. B. Extrasystolen, Bewegungsarnoch nicht alle Fragen beantwortet sind tefakte) und besser reproduzierbar sind. Die >> Ein direkter Vergleich der absoluten HRV-Messwerte sollte nur für Messungen mit gleicher Dauer vorgenommen werden.









186

O. Hoos

..      Tab. 10.1  Ausgewählte, etablierte Standardverfahren der HRV-Analyse im Zeit- und Frequenzbereich sowie im Bereich der nichtlinearen Dynamik mit zugehörigen Kenngrößen und Charakteristika Verfahren/Parameter

Einheit

Mathematische und physiologische Charakteristika

Zeitbereich (statistisch)

SDNN

ms

Standardabweichung aller artefaktfreien (NN) RR-Intervalle; charakterisiert die Gesamtvariabilität im Zeitbereich; für Kurz- und Langzeitmessungen geeignet

SDANN

ms

Standardabweichung der mittleren artefaktfreien (NN) RR-­ Intervalle über 5-minütige Segmente; charakterisiert die Oszillationen im Zeitbereich über 5 min; nur für Langzeitmessungen geeignet

RMSSD

ms

Quadratwurzel der mittleren quadrierten Differenzen sukzessiver RR-Intervalle; stark vagal moduliert; für Kurz- und Langzeitmessungen geeignet

HRV-Index



Gesamtzahl aller RR-Intervalle dividiert durch die Histogramm-­ Höhe; Kenngröße der Gesamtvariabilität, primär für Langzeitmessungen geeignet

Stress-Index



Modalwert aller RR-Intervalle dividiert durch das Produkt des Doppelten des häufigsten RR-Werts und der Histogramm-­Streubreite aller RR-Intervalle; beschreibt stabilisierenden Effekt der Steuerungszentralisiation des Herzrhythmus, stark sympathikoton beeinflusst; für Kurz- und Langzeitmessungen geeignet

TotP

ms2

Gesamtspektralleistung (Gesamtvarianz) aller RR-Intervalle im Analysebereich (≤ 0,4 Hz); charakterisiert die Gesamtvariabilität auf Frequenzebene; primär für Langzeitmessungen geeignet

HF-Power

ms2 % n.u.

Spektralleistung im HF-Frequenzband von 0,15–0,4 Hz (für Kinder und bei Belastung nach oben (ggf. bis 1,0 Hz) anzupassen); in Ruhe v. a. geprägt durch vagal vermittelte RSA Prozentualer HF-Anteil am Gesamtspektrum Prozentualer HF-Anteil am Gesamtspektrum ohne VLF-Anteil (TPVLF)

LF-Power

ms2 % n.u.

Spektralleistung im LF-Frequenzband von 0,04–0,15 Hz; in Ruhe v. a. beeinflusst durch Baro- und Chemorezeptorenreflex; gemischt sympathisch und vagal moduliert Prozentualer LF-Anteil am Gesamtspektrum (TP) Prozentualer LF-Anteil am Gesamtspektrum ohne VLF-Anteil (TP-VLF)

VLF-Power (ULF-Power)

ms2 % n.u.

Spektralleistung im VLF-Frequenzband von 0,04 Hz; beeinflusst durch Thermoregulation, Renin-Angiotensin-Aldosteron-System, Vasomotorentonus und vagale Aktivität; umfasst auch nichtlineare Komponenten und Baseline-Trends sowie ggf. zirkadiane Rhythmen und Alltagsaktivität; nur für Langzeitmessung geeignet, bei 24-h-Messungen wird noch ein ULF-Frequenzband von < 0,003 Hz vom VLF-Band (0,003–0,04 Hz) abgegrenzt

Zeitbereich (geometrisch)

10 Frequenzbereich

187 Herzratenvariabilität

10

..      Tab. 10.1 (Fortsetzung) Verfahren/Parameter

Einheit

Mathematische und physiologische Charakteristika

Nichtlineare Dynamik

ms

PP entspricht zweidimensionaler Rekonstruktion des RR-Intervall-­ Phasenraums mit einem Timelag von 1, wobei eine Punktwolkendarstellung mit Wertepaaren von (xi, xi + 1) erfolgt; Darstellung ist nicht linear, Quantifizierung meist aber linear (SD1, SD2):

Poincaré-­ Plot Analyse (PP): SD1

SD1: Streuung vertikal zur Winkelhalbierenden beschreibt Kurzzeitvariabilität, stark vagal moduliert

SD2

SD2: Streuung entlang der Winkelhalbierenden beschreibt Langzeitvariabilität, gemischt sympathisch und vagal moduliert

DFA



DFA quantifiziert Steigungsverhalten der trendbereinigten modifizierten Root-Mean-Square-Analyse im doppeltlogarhithmischen Plot zur Erfassung des RR-Skalierungsverhaltens; beschreibt komplexe sympathikovagale Wechselwirkung und Interaktion mit zirkulierenden Katecholaminen

α1

α1 charakterisiert als Kurzzeitskalierungsexponent die Korreliertheit in kurzen Fensterlängen (n = 4 bis 11–16 beats)

α2

α2 charakterisiert als Langzeitskalierungsexponent die Korreliertheit in längeren Fensterlängen (n = 16–64 beats, nur falls N ≥ 10 n)

Entropiemethoden: ApEn SampEn



Entropie misst Regularität, Komplexität und Vorhersagbarkeit einer Zeitreihe; beschreibt komplexe sympathikovagale Wechselwirkung und Interaktion mit zirkulierenden Katecholaminen ApEn(m,r,N) mit m = 2, r = 15 %SDNN, N ≥ 1000 und Samp En(m,r,N) mit m = 2, r = 20  SDNN, N ≥ 100 charakterisieren die bedingte Wahrscheinlichkeit, dass bestimmte RR-Sequenzen der Zeitreihe der Länge N, die im Fenster r nahe beieinander liegen, für m aneinander liegende Beobachtungen ebenfalls nahe beieinander liegen

SDNN standard deviation of NN, SDANN standard deviation of average NN, RMSSD root mean square of successive difference, TotP total power, HRV-Index HRV triangulärer Index, HF high frequency, LF low frequency, VLF very low frequency, ULF ultra low frequency, DFA trendbereinigte Fluktuationsanalyse, ApEn approximierte Entropie, SampEn Sample-­Entropie n.u. normalized units

nichtlinearen Kenngrößen wie z. B. α1 (Korreliertheit in kurzen Fensterlängen) oder ApEn (approximierte Entropie) (. Tab. 10.1), die den „Zusammenhangs- oder Ähnlichkeitsgrad“ bzw. den „Regularitäts- und Komplexitätsgrad“ der HRV-Daten widerspiegeln, weisen zwar auch direkte Bezüge zu linearen Parametern auf (Willson et  al. 2002), werfen allerdings einen grundsätzlich anderen Blick auf die HRV-Analyse und tragen damit ergänzende Informationen, die insbesondere für die Risi-

kostratifizierung und Gesundheitsprognose wertvoll erscheinen.



10.4  Anwendungsfelder/

Indikationen

Kardiovaskuläre Erkrankungen bilden weltweit die Hauptursache der Mortalität in Industriestaaten und werden je nach Erkrankung mit unterschiedlichen Risikofaktoren in Verbin-

188

O. Hoos

a

b

c

d

10

e

Multiscale entropy (MSE)

0.081–1.920

..      Abb. 10.3  a–e Beispielauswertung einer 5-­minütigen Ruhe-HRV-Messung anhand eines RR-Tachogramms, der Histogrammdarstellungen des Zeitbereichs, der Frequenzanalyse sowie der nichtlinearen Analyse (erstellt mit Kubios HRV 2.2, 7 http://kubios.­uef.­fi). a RR-Rohdaten-Tachogramm (gelb: Analysefenster), b Artefakt und trendbereinigtes RR-Analysefenster, c Zeitbereichskenngrößen  

RRn*

log10n

mit RR-Histogramm (Mitte) und Herzfrequenz-­ Histogramm (rechts), d Frequenzbereichsgrößen mit Spektrogrammen: Fast-Fourier-Transformation (links) und autoregressives Modell (rechts), e Kenngrößen der nichtlinearen Dynamik mit Poincaré-Plot-­Analyse (PP, Mitte) und trendbereinigter ­Fluktuationsanalyse (DFA, rechts). * Ergebnisse werden ohne Trendbereinigung berechnet

189 Herzratenvariabilität

dung gebracht. Eine autonome Dysbalance der sympathikovagalen Aktivität spielt in diesem Zusammenhang bei den meisten Erkrankungen eine nachweisbare Rolle, sodass die zentralen klinischen Anwendungsfelder der HRV-Analyse die allgemeine und kardiovaskuläre Mortalitätseinschätzung sowie die kardiovaskuläre Diagnostik in der präventiven und rehabilitativen Risikoprognose bei verschiedenen Erkrankungen bilden (Kleiger et al. 2005; Thayer und Lane 2007; Thayer et al. 2010). Daraus ergibt sich zusätzlich, dass in zahlreichen Zusammenhängen die Wiederherstellung einer eingeschränkten HRV als Therapieziel zur Verbesserung der gesundheitlichen Prognose formuliert wird, sodass die HRV-­Analyse auch als Evaluations-Tool in der pharmakologischen, behavioralen und psychotherapeutischen Therapiekontrolle eingesetzt wird. In allen Anwendungsfeldern sind die folgenden, für die HRV bedeutsamsten demographischen, behavioralen und psychosozialen Determinanten und Korrelate statistisch und/ oder interpretativ zu berücksichtigen (Britton und Hemingway 2004): HRV – wichtigste Determinanten und Korrelate 55 55 55 55

Alter Geschlecht Körperliche Aktivität Genussmittelkonsum (Rauchen, Alkohol, Kaffee) 55 Sozialer Status 55 Psychosoziale Stressoren 55 Genetischer Einfluss

10.4.1  Herzratenvariabilität und

Morbidität und Mortalität

Die Hintergründe der Assoziation zwischen reduzierter HRV auf der einen Seite und erhöhter allgemeiner bzw. kardiovaskulärer Mortalität auf der anderen Seite sind bis dato noch nicht vollständig aufgeklärt. Ein wesentlicher Punkt liegt sicher in der engen Verbin-

10

dung von reduzierter Vagusaktivität und/oder akzentuierter Sympathikusaktivität einerseits und der Genese und Ausprägung von malignen ventrikulären Arrhythmien andererseits, wobei eine Herabsetzung der Flimmerschwelle und der β-Adrenorezeptor-­Sensitivität als beteiligte Mechanismen gelten (Billman 2009). Auch dürfte eine Reduktion des myokardialen Sauerstoffbedarfs durch eine erhöhte kardiovagale Aktivität einen Kausalzusammenhang begründen (Lewis et al. 2001). Wie bereits skizziert, lässt sich eine HRV-­Reduktion auch als Zeichen eines grundsätzlichen Verlustes einer ausbalancierten sympathikovagalen Aktivität mit einhergehender Reduktion der vagal vermittelten tonischen Hemmung der sympathikoexzitatorischen Fight-or-Flight-Reaktion interpretieren, was einen integrativen Modellzusammenhang für eine Verbindung von HRV-Reduktion und kardiovaskulärer Morbidität und Mortalität darstellt. Denn letztlich wird der inhibitorischen Funktion der Vagusaktivität, quantifizierbar über Kenngrößen der HRV, eine entscheidende Rolle für den Integritätserhalt des Organismus zugeschrieben (Thayer und Lane 2007). Aus empirischer Sicht zeigt sich der Zusammenhang zwischen reduzierter HRV und erhöhter allgemeiner bzw. kardiovaskulärer Mortalität sowohl für Kurzzeit- als auch für Langzeitmessungen der HRV für die allgemeine Bevölkerung. kZutphen-Studie

Beispielsweise zeigte die Zutphen-Studie aus den Niederlanden (Dekker et  al. 1997), dass für Menschen mittleren Alters eine Kurzzeit-­ HRV-­Messung mit reduzierter Gesamtvariabilität des SDNN auf < 20 ms eine Erhöhung des Gesamtmortalitätsrisikos auf mehr als das Doppelte bedeutet. kFramingham-Heart-Studie

Die Framingham-Heart-Studie konnte bei einer um eine Standardabweichung reduzierte gemischt sympathikovagal modulierte Variabilität (lnLF in ms2) eine um den Faktor  1,7 erhöhte (kardiovaskuläre) Mortalität bei

190

O. Hoos

Gesunden im mittleren bis späten Erwachsenenalter nachweisen (Tsuji et al. 1994). Die diesbezüglich umfassendsten Befunde liegen bei Patienten mit Myokardinfarkt und Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz vor. Diese Befunde belegen für verschiedene Gruppen von Herzpatienten, dass Reduktionen der Gesamtvariabilität, der efferenten Vagusaktivität und der Dynamik und Komplexität der RR-Zeitreihe mit einer deutlichen Erhöhung der (kardiovaskulären) Mortalität einhergehen. kDIAMOND-Studie

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Beispielhaft deutlich wird dieser Zusammenhang anhand von Daten aus der DIAMOND-­ Studie mit n  =  446 Myokardinfarktpatienten und einem Follow-Up von 685  ±  360 Tagen (Huikuri et al. 2000). Hier zeigt sich, dass sowohl Reduktionen der HRV-Parameter im Zeitbereich (SDNN > Zur Testoptimierung wird grundsätzlich zu Beginn ein umfangreiches Vortestprogramm durchgeführt, um pathologische Adaptationen bereits im Vorfeld aufzudecken und zu beheben.

Aus der Kinesiologie bekannte Sätze wie „Der Körper lügt nicht“ haben sich als unzutreffend erwiesen. Dieser Umstand findet seine Erklä­

rung darin, dass es meist (chronisch) kranke Patienten zur Behandlung kommen. Ihre loka­ len Adaptionssysteme wurden im Verlauf der Entwicklung ihrer Krankheit immer wieder überfordert. Die Folge davon ist das „Einsprin­ gen“ des gesamten Körpers mit generalisierten Kompensationsmechanismen, wie sie bereits von Hans Selye beschrieben wurden (Selye 1950). Dabei handelt es sich nicht mehr um adäquate und gezielte Reizbeantwortung, son­ dern um das Umschalten auf momentan effizi­ ente Notfallprogramme. Im Testverfahren bewirkt dieses Funk­ tionieren im Kompensationsmuster allerdings eine gewisse Inkonstanz der Testergebnisse. Um solche „Überlastungssyndrome“ zu er­ kennen, bedarf es bestimmter Provokations­ tests. Im Fall von Pathologien werden diese ge­ nauso wie oben beschrieben über die Ebenen und gemäß ihrer Priorität behandelt. Ein pas­ sender Vergleich für das Prozedere wäre etwa der Pre-flight-Check vor dem Abflug eines Flugzeugs. Grundsätzlich muss mit solchen Störfak­ toren in allen bioenergetischen oder bioelek­ tronischen Testmethoden gerechnet werden, unabhängig davon, ob es sich um eine Testung mit oder ohne Gerät, über das Muskelsys­ tem oder ein anderes reflektorisches System (z. B. Pulstestung usw.) handelt. >> Indem diese pathologischen Kompensationen erkannt und behandelt werden, sind sie nicht nur Voraussetzung für störungsarmes Testen, sondern auch ein entscheidendes Element zur Wiederherstellung der Gesamtregulationsfähigkeit.

Unterschiede zu anderen kinesiologischen Testmethoden 55 Der wichtigste Unterschied besteht in der Testtechnik: ȤȤ Der AR ist eine reflektorische Reizantwort, die der Patient nicht beeinflussen und aufgrund der Position meist auch nicht beobachten kann

203 Physioenergetik – holistische Kinesiologie

ȤȤ Es bedarf keiner Beteiligung des Patienten in Form von Muskelanspannung ȤȤ Daher kann der Test auch ohne Ermüdung beliebig oft wiederholt werden 55 Die Reizantwort erfolgt nicht durch einen Einzelmuskel, sondern über eine Muskelkette und wird als Reaktion des ganzen Systems interpretiert 55 Die Physioenergetik verwendet obligatorisch eine Reihe von Vortests, um das System zu eichen und Testfehler nach Möglichkeit zu eliminieren 55 Zur schnellen Differenzierung werden Handmodes eingesetzt

11.3  Diagnose

Ganzheitlich orientierte Medizinsysteme bauen auf gemeinsamen Grundprinzipien auf. Eines davon ist die Multikausalität, die besagt, dass Erkrankungen zumeist nicht nur eine Ursache haben, sondern durch das Zusammenkommen vieler Komponenten über die Zeit schließlich zur Auslösung der Symptome führen. Diese Komponenten bilden hochgradig vernetzte Systeme, die ihr Muster mit jeder Änderung im System, mit jedem Therapie­ schritt und jeder neuen Information adaptie­ ren. Folglich handelt es sich um ein dynami­ sches Geschehen, das stetiger Veränderung unterworfen ist. Aus dieser Komplexität lebender Systeme ergibt sich als Konsequenz die Unzweckmä­ ßigkeit von Diagnosen im üblichen Sinn. Sie sind weder imstande, die individuelle Realität des Patienten wiederzugeben noch entspre­ chende Therapieschritte zu implizieren. Vielmehr hat es sich als zielführend erwie­ sen, eine Methode zur Verfügung zu haben, die schrittweise über den berühmten roten Faden den Weg durch das und aus dem Krankheitsge­ schehen weist. Dazu ist Physioenergetik bestens geeignet. Diese Form der angewandten Dia­ gnostik wird als Prozessdiagnose ­bezeichnet.

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In der Hand des gut ausgebildeten und erfahrenen Testers kann die Physioenergetik Auskunft über den nächsten Therapieschritt, die zutreffende Ebene, die effektivste Technik, das passendste Medikament, die beste Dosie­ rung etc. geben. >> Die die physioenergetischen Testungen werden immer durch eine ausführliche Anamnese und bei Bedarf durch klinische Tests und konventionell-­ medizinische Untersuchungen ergänzt.

11.3.1  Beispiel einer

Prozessdiagnose

Patient F.  K., männlich, 36  Jahre, Bildhauer, kommt in die Praxis wegen chronischer Kopf­ schmerzen seit 2 Jahren. Der Schmerz ist diffus und tritt mehrmals wöchentlich auf. Herr K. ist bereits vollständig durchunter­ sucht. Die Befunde ergeben nichts Wesentli­ ches, abgesehen von leicht erhöhten Leberwer­ ten. Herr  K. leidet gleichzeitig unter starken Blähungen und Müdigkeit. Im Gespräch er­ zählt er von seiner Arbeit mit unterschied­ lichsten Materialien, darunter zahlreiche Kunst­ stoffe. Bei der physioenergetischen Testung der Schmerzzone Kopf (Berührung des Kopfes provoziert AR) wird als erstes die psychische Ebene getestet. Befragt nach emotionalen Problemen, erzählt der Patient, dass er seit ca. einem Jahr eine schwere Beziehungskrise durchlebe. Ein Gespräch und eine ausgetestete Bachblüte sind hier die erste Behandlungs­ maßnahme. Bei neuerlicher Testung des Kopfes zeigt sich nun als nächste Ebene die Chemie und hier in der weiteren Differenzierung eine ge­ störte Darmflora und eine Pilzbelastung. Es werden entsprechende Mittel getestet und die Ernährung umgestellt. Herrn  K. wird außer­ dem gebeten, beim nächsten Mal Materialpro­ ben der Kunststoffe, die er für seine Objekte verwendet, mitzubringen.

204

11

M. Van Assche

In der nächsten Sitzung geht es dem Pati­ enten bereits besser, die Kopfschmerzen treten weniger häufig auf. In der Testung kann dieses Mal ein Bezug zwischen Kopfschmerz und Leber hergestellt werden, und hier kommt nun, wieder in der Ebene Chemie, der Hinweis auf eine toxische Belastung. Eine der mitgebrachten Kunststoff­ proben ergibt tatsächlich einen Hinweis da­ rauf, dass die Leberfunktion durch diese Sub­ stanz gestört ist. Es wird eine homöopathische Potenzierung des Stoffs (Nosode) hergestellt, die der Patient bis zum nächsten Termin ein­ nimmt. Zu diesem Zeitpunkt waren die Kopf­ schmerzen kaum mehr aufgetreten. Herr  K. hat mittlerweile auch einen Psy­ chotherapeuten aufgesucht, und er kann da­ von überzeugt werden, in der nächsten Zeit nicht mit den problematischen Kunststoffen zu arbeiten.

zu erheben, über bioenergetisches ­Testen hin­ gegen in vielen dieser Fälle durchaus. Reagiert z.  B. bei einem schmerzhaften Kniegelenk die Ebene Information, wird über­ prüft, ob der AR mit der Testampulle „domi­ nanter Herd“ aufgehoben werden kann. Wenn ja, wird weiter differenziert, wo das Herdge­ schehen zu suchen ist. Die Erfahrung zeigt, dass ein sehr hoher Prozentsatz aller Herde im Kopf zu finden ist, entweder im Kiefer oder in den Nasennebenhöhlen. Gerade Kieferherde sind sehr häufig rönt­ genologisch negativ, weil im gestörten Kiefer­ abschnitt andere Mineralstoffe als Kalzium eingelagert werden, die als röntgendichte Struktur imponieren. Bioenergetische Test­ verfahren sind in diesen Fällen eine wertvolle zusätzliche Diagnostik. Die weitere Testung er­ folgt dann über lokale Punkte, am Kiefer selbst oder auf dem Röntgenbild.

11.3.2  „Two-Pointing“

11.4  Therapie

Es handelt sich um eine besonders interessante Technik, die es ermöglicht, Beziehungen zwi­ schen Organen, Funktionen und Fehlfunktio­ nen herzustellen, wie im o. g. Beispiel zwischen dem Kopfschmerz und der Leber. Hebt ein Test (Leber) den anderen Test (Kopf) auf, gleicht also das eine den AR des anderen aus, dann stehen die beiden Themen in Relation zuei­ nander und in ursächlichem Zusammenhang. Die Physioenergetik arbeitet zu diesem Zweck mit Testampullen, wie sie auch zahl­ reiche bioelektronische Testverfahren verwen­ den. Der Inhalt sind homöopathische Mittel in bestimmten Potenzierungen, die durch ihre resonanzmäßige Entsprechung einen Hinweis auf die korrespondierende Pathologie geben können. Ein gutes Beispiel ist die Testampulle „do­ minanter Herd“, die sowohl in der Ebene Che­ mie als auch in der Informationsebene einge­ setzt wird. Herdsuche ist ein zentraler Punkt bei allen chronischen Erkrankungen. Konven­ tionell-medizinisch ist oft kein klarer Befund

Physioenergetik kann die jeweils effektivsten Therapien ermitteln. Jede Therapieform, jede Methode ist über Physioenergetik austestbar und kann je nach Testergebnis gezielt eingesetzt werden. Das o.  g. Beispiel (7 Abschn.  11.3.1) de­ monstriert eine Abfolge von Behandlungen, die durch den Test herausgefiltert werden konnten:  

11.4.1  Psychische Ebene

Bachblüten sind nur eine Facette der vielen Be­ handlungsmöglichkeiten. Wird z. B. mit Visu­ alisierungstechniken gearbeitet, so ist es sehr einfach, die Effektivität innerer Bilder zu über­ prüfen und das hilfreichste herauszufinden. Ist der Patient unklar über die Thematik, um die es geht, ist auch das über den AR leicht zu dif­ ferenzieren. Jeder Schritt kann sofort auf seine Wirkung überprüft werden.

205 Physioenergetik – holistische Kinesiologie

11.4.2  Ebene der Chemie

Für die im obigen Beispiel (7 Abschn.  11.3.1) als zweite getestete Behandlungsebene müssen weitere Filter in Form von Testampullen ein­ gesetzt werden, um schrittweise das betroffene System ausfindig zu machen. Hier ist der erste und wichtigste Test immer der Test auf chronisch-toxische Belastungen im Bindegewebe, die erfahrungsgemäß eine Haupttherapieblockade darstellen können. Sehr häufig durch Schwermetalle wie Queck­ silber, Cadmium, Platin, Blei etc. bedingt, ver­ hindern sie die Wirksamkeit von Therapien jeder Form. Sie sind deshalb zuerst zu thera­ pieren, um den Weg für alle weiteren Behand­ lungsschritte freizumachen. Andere wichtige Funktionen, die immer untersucht werden müssen, sind 55 Darmdysbiose, 55 die Funktion der Darmschleimhaut, 55 die Immunfunktionen im Dünndarm, 55 chronische Infektionen, 55 Allergien, 55 Unverträglichkeiten und Mangelzustände aller Art.  

Der Körper antwortet auf die ihm gestellten „Fragen“ korrekt und verlässlich, wenn das System vor dem Test überprüft und evtl. kor­ rigiert wurde (7 Abschn. 11.2.7). Im o.  g. Fallbeispiel (7 Abschn.  11.3.1) zeigte sich eine Dysbiose und als Folge eine Candida-Besiedelung. Auch die nächste Ent­ scheidung, welche Mittel für diesen Patienten in diesem Moment die besten sind, wird über den AR getroffen, ebenso die individuelle Do­ sierung sowie die Art und Dauer der Anwen­ dung.  



11.4.3  Informationsebene

Diese Ebene führt den Tester neben der Herd­ thematik zu zahlreichen weiteren wichtigen Problembereichen wie Narbenstörfeldern,

11

geopathischen Belastungen, Strahlenbelastun­ gen wie z. B. Mobilfunk oder elektromagneti­ sche Felder im Haus, Informationen chroni­ scher Infektionsbelastungen, den klassischen Miasmen nach Hahnemann, Störungen der Propriozeption und der zentralen Steuerungs­ mechanismen. Als Therapien sind z. B. Homöopathie, No­ sodentherapie, Akupunktur, Aurikulotherapie, Farbe, Licht und alle Reflexzonen eine gute Option. Welche davon angewendet werden sollen, entscheidet der Test. 11.4.4  Strukturelle Ebene

Viele Patienten kommen mit Problemen am Bewegungsapparat und der Wirbelsäule in die Praxis. Die vorherrschende analytische Denk­ weise lässt automatisch annehmen, dass die Therapie auf der strukturellen Ebene stattzu­ finden habe. Sehr oft ist das aber nicht der Fall, und ein oder mehrere Behandlungsschritte auf anderen Ebenen sind vorher nötig. Ob die Annahme zutreffend ist, macht die Testung über den AR sichtbar. Wenn ja, wird in der Folge ausgetestet, welche Struktur genau betroffen ist und zu welcher Technik gegriffen werden sollte. Indirekt oder direkt arbeitende Methoden, Faszientechniken oder ligamentäre Korrektu­ ren, viszerale und kraniale Konzepte werden dem Körper angeboten  – und über die Mus­ kelreaktion des AR die Frage nach dem besten Weg beantwortet. 11.5  Hauptindikationen

55 Chronische Erkrankungen 55 Chronische Schmerzen 55 Unklare Symptome jeder Art 55 Befindlichkeitsstörungen 55 Allergien und Unverträglichkeiten 55 Herdsuche 55 Prophylaxe

206

M. Van Assche

11.6  Fallbeschreibung zz Patientin, 54 Jahre

11

Frau V. P. kommt wegen eines seit ca. 8 Jahren bestehenden Blepharospasmus (Lidkrampf, Blinzelkrampf) in die Praxis. Außerdem leidet sie unter fast täglichen Kopf- und Gesichtsschmerzen rechts, rechts­ seitigem Kieferschmerz und einer partiellen Zungentaubheit. Die Füße sind morgens beim Auftreten sehr schmerzhaft, Konzentrations- und Merk­ fähigkeit sehr gering, starke Müdigkeit. Die Patientin ist von Beruf Psychothera­ peutin, aber wegen ihres Zustands vorzeitig im Ruhestand. In der Anamnese fällt auf, dass sie vor ihrem 40. Lebensjahr sehr oft für längere Zeit in Indien gewesen war. Eine Amalgamentfer­ nung wurde mit ca. 35  Jahren vorgenommen (homöopathische Ausleitung). Eine Leberzyste wurde durch Zufall entdeckt. Zu Behandlungsbeginn kann die Patientin ausschließlich mit Sonnenbrille das Haus ver­ lassen und ist außerstande, die Augen auch nur für Sekunden offen zu halten. Bei der physioenergetischen Testung wer­ den zunächst die Vortests durchgeführt  – erstaunlicherweise ohne Befund. Norma­ lerweise sind chronisch kranke Menschen schlecht testbar und regulieren nicht oder mangelhaft. In diesem Fall kann sofort zur eigentlichen Testung übergegangen wer­ den, in der sich als auffallendster Befund das Pankreas auf der Ebene Chemie mit einer Toxoplasmose-­Belastung zeigt. Eine Nosode wird ausgetestet. Vom Symptom der Augen ausgehend (im kinesiologischen Test werden die Augen be­ rührt, im Fachjargon „Therapielokalisation“) testen die Ebene Information und die Filter­ ampullen „Entzündungsherd“ und „Kieferos­ titis“. Eine weitere Differenzierung zeigt einen Bezug zur Kieferregion  15. Der Zahn war bereits vor Jahren gezogen worden, aber das

Zahnfleisch dort ist deutlich gerötet und emp­ findlich. Als Therapie wird die Nosode „chronisch bakterielle Kieferostitis“ gemäß Test verordnet. Wie immer bei chronischen Beschwerden ist der Test auf Toxinbelastung im Bindege­ webe ein essenzieller Bestandteil, und in die­ sem Fall ist eine Ausleitungstherapie nötig. Begleitet wird das Programm durch eben­ falls getestete Ernährungsrichtlinien (Un­ verträglichkeit gegenüber Laktose und Fruk­ tose, Xylit, Sorbit und Sensitivität gegenüber ­Gluten). Die Patientin wird auch darauf vorbereitet, dass möglicherweise eine Revision des Kiefer­ abschnitts 15 nötig sein könnte. Über die nächsten Sitzungen im ungefäh­ ren Abstand von 4 Wochen kommt es kontinu­ ierlich zu schrittweisen Verbesserungen. Neben einer ständigen Ausleitung mit wech­ selnden Mitteln und Begleitmaßnahmen für die Leber muss auch eine gezielte Detox-­ Therapie des ZNS mit Koriandertinktur durch­ geführt werden, was dann endlich eine ent­ scheidende Verbesserung erbringt. Die ZNS-Ausleitung mit Koriander ist be­ sonders heikel, weil sehr schnell Nebenwir­ kungen auftreten, wenn die Dosierung und die parallel nötigen Drainagemittel nicht genau stimmen. Hier ist die Testung eine effektive Mög­ lichkeit, die Therapie individuell perfekt an­ zupassen. Durch die gesamte Behandlungsdauer von einem Jahr wird immer die Kieferregion 15 als ein Schlüsselproblem getestet, und ein kiefer­ chirurgischer Eingriff ist längst geplant – den die Patientin aber in letzter Minute allerdings absagt. Dennoch wird die Therapie konsequent fortgesetzt, stets geführt durch die Testsyste­ matik der Physioenergetik. Es bedarf noch einiger Nosoden wie Staphylococcus aureus und Streptococcinum, einer Regulierung der Darmflora und der Leber­ funktion und einer Stützung des Immunsys­ tems durch Mittel wie Eleutherococcus und

207 Physioenergetik – holistische Kinesiologie

Mutaflor, eine 2-malige Behandlung der Kie­ ferregion  15 mit Ozon und Neuraltherapie, bevor die Patientin nun, nach einjähriger Be­ handlung, wieder leistungsfähig ist, die Augen offen halten und ohne Sonnenbrille ins Freie gehen kann. Die Gesichtsschmerzen sind na­ hezu verschwunden, der Kieferschmerz eben­ falls, dennoch steht eine chirurgische Revision des Leerkiefers nach wie vor zur Diskussion. Eine Interpretation, welche Störung nun die primäre war, erscheint unmöglich, aber auch unnötig, denn selbst wenn eine solche existent und auffindbar wäre, würde eine al­ leinige Behandlung dieses Problems nicht weit führen. Ohne schichtweise Regulierung des in pathologischen Mustern festgefahrenen Ge­ samtsystems bleibt eine Einzelmaßnahme auf längere Sicht meist erfolglos.

11

AK-Muskeltest und dem klassischen Allergie­ test beschreibt (Schmitt und Leisman 1998). Eine Studie von Jacobs et  al. untersucht die Treffsicherheit der AK-Muskeltestung in der Diagnostik von Schilddrüsendysfunktio­ nen mit klinischen Untersuchungsmethoden (Jacobs et al. 1984). Dabei ergab sich ein Kor­ relationskoeffizient von 0,32 (p  < 0,005) zwi­ schen AK-Muskeltest und den Labortests so­ wie 0,36 (p < 0,002) zwischen Muskeltest und klinischer Untersuchung. Eine Auswahl weiterer entsprechender Pu­ blikationen findet sich im Literaturverzeichnis. 11.8  Ausbildungsprogramm

>> Dieses Beispiel verdeutlicht, wie hilfreich eine Testmethode als roter Faden sein kann, um den therapeutischen Weg durch das Labyrinth eines chronisch getriggerten, entgleisten Systems zu finden.

Die Physioenergetik-Ausbildung besteht aus 6 Blockseminaren zu je 2,5 bzw. 3,5 Tagen, die innerhalb eines Jahres abgehalten werden. Die Ausbildung kann mit einer praktischen und theoretischen Prüfung abgeschlossen wer­ den, dadurch wird das Physioenergetik-­Zer­ tifikat erworben, und der Absolvent wird in die Therapeutenliste der Akademie für Physio­ energetik aufgenommen.

11.7  Studien

zz Sekretariat, Ansprechpartner

Derzeit gibt es nur wenige publizierte Studien, die sich mit der Physioenergetik als speziel­ ler Form der Kinesiologie beschäftigen. Eine Arbeit von Lechner zeigt jedoch sehr gut die Effizienz des Armlängenreflextests als diagnos­ tisches Tool in der Ermittlung von radiologisch nicht sichtbaren Kieferherden (Lechner 1996). Die positiv getesteten Odontone wurden sa­ niert und die pathohistologischen Befunde zu den physioenergetisch erhobenen Befunden in Relation gesetzt, wobei sich ein sehr geringer Fehlerquotient von 0,4 % ergab. Aus den Arbeiten im Bereich der Applied Kinesiology (AK) als vergleichbarer kinesio­ logischer Methode ist eine Studie von Schmitt über Nahrungsmittelunverträglichkeiten her­ vorzuheben, in der er eine außerordentlich gute Korrelation zwischen Ergebnissen aus dem

Internationale Akademie für Physioenergetik Frimbergergasse 6–8 A-1130 Wien [email protected] 7 www.­physioenergetik.­at  

Zusammenfassung 55 Physioenergetik ist ein ganzheitliches Testverfahren, das sowohl zur Diagnose als auch zur Therapie verwendet wird. 55 Um mit dem Körper des Patienten und seinem Informationsfeld zu kommunizieren, wird der Armlängenreflex nach Van Assche genutzt. 55 Als fach- und methodenübergreifende Testsystematik ist Physioenergetik effektiv, um Vernetzungen und komplexe Symptomursachen aufzudecken und die zielführendsten Behandlungsschritte zu ermitteln.

208

M. Van Assche

55 Der Begriff „Diagnose“ wird hier nicht im üblichen Sinn verwendet, sondern durch das Konzept der „Prozessdiagnose“ ersetzt. Dadurch wird jeweils der nächste Therapieschritt festgelegt. 55 Physioenergetik arbeitet mit dem ganzheitsmedizinischen Ansatz der Multikausalität und der verschiedenen Ebenen, die in einem hie­ rarchisch geordneten Zusammenhang stehen und in der Reihenfolge ihrer Priorität behandelt werden.

Literatur

11

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Eine pathohistologische Studie von 1987 bis 1996. GZM – Praxis und Wissenschaft, 1. Jg. 2/96 Omura Y (1983) The Bi-Digital O-Ring Test: critical evaluation of ist abnormal responses with laboratory tests including blood pressure & blood flow method. Acupunct Electrother Res 8(1):37–43 Omura Y (1985) Simple and quick non-invasive evaluation of circulatory condition of cerebral arteries by clinical application of the Bi-Digital O-Ring Test. Acupunct Electrother Res 10(3):139–161 Ong G, Omura Y (1985) Practical clinical application of the Bi-Digital O-Ring Test in the diagnosis, treatment and follow-up of tuberculosis & parasitic infection. Acupunct Electrother Res 11(3–4):243–250 Rossaint AL (1999) Ganzheitliche Zahnheilkunde. Hüthig, Heidelberg Rossaint AL (2005) Medizinische Kinesiologie, Physio-­ Energetik und Ganzheitliche (Zahn-)Heilkunde: Das Handbuch für Therapeuten, 1. Aufl. VAK, Kirchzarten Sandrini G, Serrao M, Rossi P et al (2005) The lower limb flexion reflex in humans. Prog Neurobiol 77(6):353–395 Schwartz SA, Utts J, Spottiswoode SJP et  al (2014) A double-blind, randomized study to assess the validity of applied kinesiology (AK) as a diagnostic tool and as a nonlocal proximity effect. EXPLORE J Sci Heal 10(2):99–108 Weiterführende Literatur Jacobs GE, Franks TL, Gilman PH (1984) Diagnosis of thyroid dysfunction: applied kinesiology compared to clinical observation and laboratory tests. J Man Phys Ther 7:99–104 Lechner J (1997) Störfelddiagnostik, Medikamentenund Materialtest  1/Theorie und Praxis des Armlängenreflextests. Verlag für Ganzheitliche Medizin, Kötzting Schmitt WH, Leisman G (1998) Correlation of applied kinesiology muscle testing findings with serum immunogobulin levels for food allergies. Int J Neurosci 96(3–4):237–244 Selye H (1950) Stress and the general adaptation syndrome. Br Med J 1(4667):1383–1392

209

Funktionelle Myodiagnostik (Applied Kinesiology) Margit A. Riedl-Hohenberger und Christian Kraler 12.1

Einführung – 210

12.2

Grundlagen – 210

12.2.1 12.2.2 12.2.3

 istorischer Überblick – 210 H Gründe für den Einsatz der FMD (AK) – 213 Funktionelle Myodiagnostik, Applied Kinesiology und andere kinesiologische Verfahren – 216

12.3

Der Muskeltest in der FMD – 216

12.3.1 12.3.2 12.3.3

 efinition und Umsetzung des Muskeltests in der FMD – 217 D Mögliche Ergebnisse beim manuellen Test – 219 Praxis des Muskeltests, Therapielokalisation und Challenge – 219

12.4

Fallbeispiel – 221

12.5

Studien/Evidenzlage – 223

12.6

Ausbildung – 225 Literatur – 226

Die Autoren bedanken sich herzlich bei Herrn Dr. Ivan Ramšak für die kritische Durchsicht des Beitrags. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_12

12

210

M. A. Riedl-Hohenberger und C. Kraler

12.1  Einführung

12

Die funktionelle Myodiagnostik (FMD) ist ein komplementäres Diagnose- und Behandlungsverfahren, basierend auf einem neuromuskulären funktionellen Assessment (Garten 2004, S.  551). Der gesamte Organismus wird dabei als Mess- bzw. Evaluationsinstrument eingesetzt, und spezifische Muskeln dienen als Testindikatoren für den Zustand der Patienten, genauer, den funktionellen Status seines zentralen und peripheren Nervensystems. Dahinter steht die Annahme, dass eine optimale neurologische Funktion als Ausdruck einer optimalen Integration aller Körperfunktionen interpretiert werden kann. Als primär manualdiagnostisches und -therapeutisches Verfahren legt die FMD den Fokus weniger auf Knochen oder Gelenke, sondern auf die diese bewegenden Muskeln (inkl. damit direkt wie indirekt verbundene neurophysiologische Aspekte). Im Folgenden wird versucht, einen praxisnahen illustrierenden Überblick über die FMD zu geben. Diese Methode hat sich im deutschen Sprachraum seit etwa 20  Jahren zunehmend etabliert. Die kurze Darstellung von Genese, (historischen) Grundlagen und einbezogenen weiteren Methoden soll eine Vorstellung vom aktuell elaborierten State-of-the-Art der FMD vermitteln und ein Verständnis für grundlegende Zusammenhänge schaffen. Für eine vertiefte Auseinandersetzung liegen inzwischen umfangreiche, fundierte Lehrbücher vor. Zur Einführung besonders empfohlen seien Garten (2004), Garten und Weiss (2007) und Gerz (2001). 12.2  Grundlagen

Ein Blick in die Geschichte der Medizin „des Westens“ wie auch in die anderer Kulturkreise zeigt, dass sich verschiedenste Diagnose-, Behandlungsstrategien und Zugänge entwe­ der über viele Jahrhunderte halten konnten oder immer wieder neu „entdeckt“ wurden (Porter 1999; Eckart 2005). Bereits Aristoteles –

um nur ein Beispiel zu nennen  – stellte vor ca. 2300 Jahren in der Nikomachischen Ethik die Bedeutung einer ganzheitlichen Betrachtungsweise fest:

»» „… genauso wie der Arzt, der die Augen

heilen will, den Körper als Ganzes kennen soll.“ (Aristoteles 1986, S. 30)

Besonders interessant kann es aus ärztlicher Sicht werden, wenn alte Traditionen, Wiederentdecktes, genaue Beobachtung in der klinischen Praxis, stetig wachsendes Wissen und moderne Zugänge in einem Diagnose- und Behandlungszugang zusammenkommen. Ein solches Zusammentreffen war (und ist) bei der FMD der Fall. 12.2.1  Historischer Überblick

Die Wurzeln der funktionellen Myodiagnostik bzw. Applied Kinesiology (altgriechisch: κίνησις kínēsis Lehre der Bewegung; μῦς mys, Genitiv μυός myos‚ Muskel) reichen in mehrfacher Hinsicht zurück in die Antike. Basierend auf Beobachtungen und Systematisierungen des zuvor zitierten Aristoteles in den Bereichen Mechanik und Biologie (insbesondere Somatologie) entwickelte sich über die Jahrhunderte ein anatomisch-mechanisches Wissen über die Funktion von Bewegungsabläufen, das die Grundlagen für die moderne Biomechanik lieferte. Eine weitere entscheidende Entdeckung machte der Anatom und Biophysiker Luigi Galvani (1737–1798), als er durch Experimente mit Froschschenkeln den Zusammenhang zwischen muskulärer Kontraktion und elektrischen Impulsen entdeckte. Mit den nachfolgend gewonnenen Erkenntnissen, dass diese elektrischen Impulse über Gehirn und Rückenmark bzw. das Zentralnervensystem auf Muskeln übertragen werden, wurde die Neurophysiologie begründet. Sie wurde als Voraussetzung für die Biomechanik erkannt und stellt die konstitutive Grundlage für jegliches Verständnis der FMD dar (Frost 1998, S. 13 ff.).

211 Funktionelle Myodiagnostik (Applied Kinesiology)

Die eigentliche Entwicklung der FMD bzw. Applied Kinesiology (AK) beruht, wie so oft in der Medizin, ursprünglich auf den Entdeckungen und Schlussfolgerungen eines einzelnen Menschen, dem amerikanischen Chiropraktiker George Goodheart Junior (1918–2008). Goodheart praktizierte ab den 1940er-Jahren nach seinem Studium als Chiropraktiker. Aufgrund zunehmender Unzufriedenheit mit widersprüchlichen Befunden, eines Mangels ­ an adäquaten Techniken, unklarer Diagnosen basierend auf systematischen Beobachtungen und sehr detaillierter Analysen der jeweiligen persönlichen Anatomie und Physiologie seiner Patienten hinsichtlich ihrer individuellen Beschwerdebilder überschritt er die Grenzen seiner chiropraktischen Ausbildung. Lehrbücher zur FMD nennen übereinstimmend das Jahr 1964 als „Geburtsstunde“ der Applied Kinesiology. Basierend auf den damals aktuellen Muskeltestmethoden nach Kendall und Kendall (1983) konnte Goodheart einen jungen Mann mit chronischen Schulterschmerzen (ein Schlüsselpatient für die FMD) mit der später so genannten Ursprung-Ansatz-Technik (Massage von Knoten an den Ansatzzonen des M. serratus anterior an den Rippen) erfolgreich behandeln (z. B. Gerz 2001, S. 4; Garten 2004, S. 1; Frost 1998, S. 14). Die Kombination seiner soliden Ausbildung und seiner 20-­jährigen praktischen Erfahrung, verbunden mit den systematischen Aufzeichnungen scheinbarer diagnostischer Widersprüche und therapeutischer Erfolge durch die Einbeziehung von traditionellem Wissen und Forschungsergebnissen aus anderen (auch komplementären) medizinischen bzw. heilberuflichen Fachbereichen, bildeten in der Folge die Grundlage der modernen FMD.  Eine genaue Beobachtungsgabe, ein tiefes Verständnis funktioneller Zusammenhänge, Offenheit für die systematische(!) Integration neuer Techniken und das, was man heute einen ganzheitsmedizinischen Ansatz nennt, zeichneten Goodheart aus. Wenn heute in den Lehrbüchern zur FMD/ AK u. a. neurolymphatische und neurovasku-

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läre Reflexbereiche bzw. Punkte, Meridiane bzw. meridianassoziierte Sedierungs-, Tonisierungs- und Alarmpunkte, Triggerpunkte, muskelassoziierte Organe bzw. Drüsen und Nährstoffe genannt werden (Ramšak 2007), ist das ein Hinweis auf die durch Goodheart ab den 1960er- und 1970er-Jahren erfolgte systematische Einbindung 55 der Chapmann-und-Benett-Reflexpunkte (z. B. Garten 2004, S. 221 ff.), 55 der Akupunkturlehre (z. B. Burtscher et al. 2001), 55 der orthomolekularen Medizin (Gerz 2001, S. 147 ff.; Garten und Weiss 2007, S. 567 ff.), 55 der Osteopathie und 55 anderer Methoden bzw. Zugänge. Der entscheidende Punkt hierbei ist, dass die Einbindung nicht eklektisch zufällig erfolgte, sondern basierend auf einem ganzheitsmedizinischen Verständnis, dem die fundierte (experimentelle) Suche nach Funktionszusammenhängen auch über unterschiedliche medizinische Zugänge hinweg zugrunde lag. Goodheart steht damit exemplarisch für die eingangs erwähnte Dynamik in der Medizin: basierend auf einer soliden fachlichen Ausbildung, langjähriger Praxis, Beobachtungsgabe und Dokumentation integrierte er theorie- und experimentell-basiert in anderen medizinischen Bereichen bekannte bzw. etablierte Methoden und schuf so systematisch etwas Neues, die heute als funktionelle Myodiagnostik bezeichnete Applied Kinesiology. Gerz (2001, S. XII) und Garten (2004, S. 1) bemerken, dass sich die FMD erstaunlicherweise erst bei ihrem Import nach Europa als fachübergreifende medizinische Methode zu etablieren beginnen konnte. Insbesondere Gerz (2001) und Garten und Weiss (2007) weisen detailliert auf medizinische und heilberufliche Fachbereiche hin, die von der FMD nachhaltig profitieren können:

212

M. A. Riedl-Hohenberger und C. Kraler

Fachbereiche, in denen FMD nutzbringend eingesetzt werden kann (ausgewählte Disziplinen) 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55

Allgemeinmedizin Orthopädie Internistischer Bereich Neurologie Zahnmedizin Urologie Augenheilkunde Dermatologie Gynäkologie Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde Kardiologie

Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind in der folgenden Übersicht medizinische Anwendungsgebiete, in denen die FMD inzwischen erfolgreich eingesetzt wird, aufgeführt: Einsatzmöglichkeiten der FMD (­Auswahl)

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Humanmedizin (allgemein): 55 Testung von ȤȤ Medikamenten ȤȤ auf Wirksamkeit ȤȤ auf Verträglichkeit ȤȤ Störfeldern und Herden ȤȤ Allergischem Geschehen ȤȤ Toxikologischen Belastungen ȤȤ Orthomolekularer Substitution ȤȤ Strukturellen Beschwerden ȤȤ Funktionellen Organbeschwerden ȤȤ Aber: keine Aussage zu neoplastischem Geschehen! Zahnmedizin: 55 Materialtestung (neu und eingegliedert) 55 Fokussuche und Therapie über Therapielokalisation (TL) und Challenge (CH) 55 Nosoden in Diagnose und Therapie 55 Einsatz der Neuraltherapie mit FMD 55 Substitutionstherapie in der Parodontologie 55 FMD und Kiefergelenk

55 Testung bei ȤȤ Neurologischem Zahn ȤȤ Kraniomandibulärer Dysfunktion 55 Aber: keine verlässlichen Aussagen zu Titan Orthopädie: 55 Wirbelsäulensyndrome, Bandscheibenbeschwerden 55 Beckenfehlstellung 55 Kopfschmerzen und Migräne 55 Extremitätenprobleme und Sportverletzungen 55 Skoliose Gynäkologie und Urologie: 55 Prämenstruelles Syndrom 55 Hormonelle Störungen 55 Prostatabeschwerden Internistischer Bereich: 55 Gastroenterologie ȤȤ Magenbeschwerden ȤȤ Pankreasinsuffizienz ȤȤ Gallenfunktionsstörungen ȤȤ Kandidosen, Parasitosen ȤȤ Dick- und Dünndarmdysbiosen 55 Endokrinologie 55 Ernährung ȤȤ Nahrungsmittelunverträglichkeiten ȤȤ Therapeutisches Fasten 55 Säure-Basen-Haushalt 55 Immunologie Physiotherapie: 55 Ganzheitlicher Diagnose- und Therapieansatz 55 FMD als manuelle Untersuchung 55 Schnelles Erkennen von Zusammenhängen 55 Überprüfung des Behandlungsergebnisses 55 Unterstützung bei strukturellen Fragestellungen 55 Gleiche Begriffe in interdisziplinärer Arbeit 55 Höhere Erfolgsquote

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213 Funktionelle Myodiagnostik (Applied Kinesiology)

Die Übersicht beschränkt sich auf die aktuell im deutschen Sprachraum wohl häufigsten Anwendungsbereiche. Zudem fehlen aufgrund der idealen Kombinierbarkeit der FMD mit vielen anderen (auch ­ komplementärmedizinischen) Zugängen Spezialbereiche. In den Lehrbüchern und Kursen zur FMD werden diese Felder teilweise behandelt. 12.2.2  Gründe für den Einsatz

der FMD (AK)

Es ist verständlich, wenn Autoren und Anwender von einer Methode, die sie erfolgreich einsetzen, überzeugt sind und sie dafür werben. Die vielen erfolgreichen Fallbeispiele z. B. aus den Lehrbüchern (Gerz 2001; Garten 2004; Garten und Weiss 2007; Burtscher et al. 2001) mögen in der Summe beim ersten Durchlesen durchaus auch kritisch stimmen, da keine Diagnose- und Behandlungsmethode solitär in allen Fällen zum Erfolg führen kann. >> Grundsätzliches kritisches Hinterfragen ist wichtig und notwendig, denn es erlaubt zugleich auch, Kernaspekte eines Zugangs und damit auch Grenzen sichtbar zu machen.

Der Muskel als Indikator Schon die Benennung funktionelle Myo(= Muskel)diagnostik weist auf die zentrale Stellung des Muskels in der FMD hin. Im Detail werden die Zusammenhänge etwa in Garten (2004, v. a. S. 551 ff. und S. 579 ff.) erklärt. Folgende Überlegung mag den Zugang der FMD veranschaulichen: Eine Diagnose ist naturgemäß umso reliabler und valider, je umfassender sie das Gesamtsystem mit einbezieht bzw. berücksichtigt. Nun ist es schon finanziell nicht möglich und in der Regel auch nicht sinnvoll, jeden nur irgend möglichen Befund zu erheben. Entsprechend ist es sinnvoll, im Körper ein Subsystem zu identifizieren, das mit möglichst vielen anderen Teilsystemen umfassend vernetzt ist. Die genaue diagnostische Untersuchung eines solchen Subsystems basierend auf

einem Beschwerdebild wird dann systemische und funktionelle Rückschlüsse zulassen. Die Muskulatur ist in ihrer Gesamtheit das größte Organ im menschlichen Körper, und von den Muskelspindeln ziehen die meisten neuronalen Afferenzen in das zentrale Nervensystem. Die Bedeutung muskulärer und damit verbundener neuronaler und  – in letzter Zeit immer besser erforschter  – faszialer Netzwerke (s.  Veröffentlichungen der Fascial Research Group der Abteilung für Neurophysiologie der Universität Ulm, 7 http:// www.­fasciaresearch.­de, zuletzt aufgerufen am 13.08.2018) und ihrer Wechselwirkungen (mit Organen, Drüsen u. a.) macht unmittelbar einsichtig, dass Muskeln als ein ideales Indikator-­ Subsystem angesehen werden können. Das gilt jedoch nur, wenn ein Muskel nicht isoliert, sondern in seiner anatomischen, (neuro-)physiologischen und systemischen Dynamik und Wechselwirkung innerhalb des Körpers verstanden wird.  

Interdisziplinärer Zugang Die in vielen Fällen erfolgreiche Anwendung der FMD wurde indirekt bereits im 7 Abschn.  12.2.1 beschrieben. Bereits Goodheart hat sich aus dem isolierenden Zugang einer einzelnen Fachrichtung (in seinem Fall Chiropraktik) gelöst und für ein systemisches, ganzheitliches Verständnis von Beschwerdebildern basierend auf Beobachtungen, theoretischen Überlegungen und Experimenten systematisch Wissen aus anderen (medizinisch-­therapeutischen) Fachbereichen und Zugängen integriert. Das bedingt, dass die moderne FMD dem rein biomechanischen oder neurophysiologischen Zugang inzwischen entwachsen ist und ihre Stärke aus einer „gegenstandsadäquaten“, fächerintegrativen Betrachtungsweise heraus entwickelt. Das heißt, dass z. B. die isolierte Betrachtung eines Muskeltests für sich alleine praktisch keine Aussagekraft hat. Erst das Wissen um Organassoziationen, Meridianzusammenhänge, Ernährungsmedizin, Zahnmedizin, orthomolekulare Zusammenhänge, umweltmedizinische Aspekte u.  a. macht eine FMD-gestützte Dia 

214

M. A. Riedl-Hohenberger und C. Kraler

Triad of Health

gnostik und Therapie zu einem ganzheitlichen Ansatz. Diese Ganzheitlichkeit der Methode scheint den Weg, diese zu erlernen, nicht einfach zu machen (Gerz 2001, S.  XI). Wenn man sich jedoch ähnlich wie Goodheart basierend auf einer fundierten eigenen medizinischen bzw. heilberuflichen Ausbildung einer medizinischen und standardisierten FMD-­Ausbildung unterzieht, das Verfahren laufend übt, das Erlernte anwendet, offen und wach bleibt für neue Erfahrungen und sich austauscht, können sich überraschend bald Erfolge einstellen.

Interdisziplinarität und Ganzheitlichkeit sind dehnbare Begriffe und helfen bei der differenzierten Orientierung insbesondere in der klinischen Praxis in dieser Allgemeinheit wenig weiter. Entsprechend versucht auch die FMD, den „ganzheitlichen Zugang“ in einem spezifischen Rahmen zu fassen, in dem der interdisziplinäre und ganzheitliche Ansatz dann entsprechend entfaltet und weiterentwickelt werden kann. Goodheart entwickelte seinen interdisziplinären Zugang aus der in der Chiropraktik verwendeten Triade der Gesundheit (Frost 1998, S. 15 ff.) (. Abb.  12.1). Diese ordnet Ursachen für muskuläre Dysbalancen strukturellen, chemischen oder mentalen Vorgängen zu. Dieses Modell wurde ursprünglich von Palmer im Jahr 1910 entwickelt, in die Chiropraktik übernommen und im Rahmen der AK bzw. FMD weiterentwickelt (Garten 2004, S. 3 f.; Gerz 2001, S. 3 f.). Die Untersuchung des Zusammenspiels von Aspekten der drei Seiten des Dreiecks der Gesundheit (. Abb. 12.1) ist ein zentrales Diagnoseprinzip der FMD.  Nahezu jede Erkrankung setzt, insbesondere in einem chronifizierten Stadium, Dynamiken auf allen drei Seiten in Gang (z.  B. andauernder Schulterschmerz ohne konventionell-medizinischen Befund [strukturelle Seite], der mittels Schmerzmittel symptomatisch behandelt wird [chemischer

>> In diesem Zusammenhang ist es von besonderer Bedeutung zu betonen, dass sich die FMD nie als isolierter Zugang, sondern immer integrativ verstanden hat.



Das bedeutet insbesondere, dass im Rahmen der Betreuung von Patienten sämtliche (sinnvollerweise zu erhebenden) standardmedizinischen diagnostischen Befunde zu erheben sind. Garten formuliert:

»» „Applied Kinesiology [= FMD] ist die



Chance für ein therapeutisches Netz zum Wohle des Patienten.“ (Garten 2004, S. 4)

Er beschreibt die FMD konsequenterweise auch als Verbindungsglied der unterschiedlichen Disziplinen (von der Krankengymnastik bis zum Facharzt). ..      Abb. 12.1  Triad of Health nach George Goodheart, weiterentwickelt im Rahmen der FMD

Psyche

Allergie

Stress

Toxizität Ernährung h em isc

Bach-Blüten

l

Allopathie KranioChiropraktik

nta

Phytotherapie

Me

Orthomolekularer Formenkreis

Homöopathie

Frequenzielle Verfahren

Ch

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Strukturell Osteopathie

Stomatognathes System Kieferorthopädie

Physiotherapie

Akupunktur

215 Funktionelle Myodiagnostik (Applied Kinesiology)

Aspekt] und bei Chronifizierung psychosoziale Folgen nach sich zieht). Der ganzheitliche Zugang basierend auf dem Dreieck der Gesundheit entlastet nach Ansicht der Verfasserin verantwortungsvoll handelnde Therapeuten von dem Druck, allwissend sein zu müssen. Die in diesem Sinn dreifache Dynamik jeder Erkrankung bietet basierend auf diesem Zugang auch von allen drei Seiten und damit von verschiedenen Fachrichtungen aus sinnvolle Ansatzpunkte zum Therapieeinstieg. Ein umfangreicher Überblick über komplementärmedizinisch-naturheilkundliche Aspekte des Dreiecks ist in Gerz (2001) zu finden.

Therapie-Evaluation mittels FMD Die FMD zeichnet sich durch eine methodenbedingte Besonderheit aus, die sie über die Diagnose hinaus für die Wahlmöglichkeit bei Verfügbarkeit verschiedener therapeutischer Ansätze besonders interessant macht. Goodhearts Ausgangsbeobachtung war, dass sich ein als schwach getesteter Muskel (7 Abschn.  12.3) bei richtiger Behandlung wieder „normalisiert“. Daraus schloss er, dass ein nach Behandlung normoreaktiv testender Muskel (7 Abschn.  12.3) als Indiz für eine erfolgreiche Behandlung gewertet werden kann (Frost 1998, S.  17  f.). Daraus entwickelte sich in der FMD das Konzept der Heilmitteltestung bzw. Testung einer Behandlungsintervention vor deren Beginn im Sinne der Triad of Health (Challenge der 3  Seiten der Triad of Health; Garten 2004, S. 29 ff.). In der Zahnmedizin  – um ein konkretes Beispiel zu nennen – werden mehr Fremdmaterialien dauerhaft in den Körper eingebracht als in wenigen anderen ärztlichen Disziplinen. Die FMD bietet die Möglichkeit, nach einem standardisierten Vorgehen Zahnersatzstoffe bereits im Vorfeld auf ihre individuelle Verträglichkeit hin zu testen (Riedl-Hohenberger et al. o. J.; Riedl-Hohenberger und Kraler 2013; Gerz 2001 S. 249 ff.). Das erspart letzten Endes Kosten und trägt langfristig zur Gesundheit der Patienten bei, da eine dauerhafte Exposition gegenüber einem unverträglichen Stoff in  



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einem überdies besonders sensiblen Bereich (Mundraum, Schleimhäute, neuronale Strukturen) vermieden werden kann.

Personalisierung >> Ein zentraler Begriff der klinischen Praxis der FMD ist „individuell“. Jeder Mensch ist unterschiedlich, und möglichst nachhaltig geheilt werden soll immer der Einzelne.

In den letzten 30 Jahren hat in der Medizin, basierend auf technologischen Entwicklungen, in diesem Zusammenhang ein Paradigmenwechsel eingesetzt: der Übergang von einer rein hierarchisch-„eminenzbasierten“ zu einer evidenzbasierten Medizin (EbM) und seit knapp 15 Jahren weiter zu einer individualisierten bzw. personalisierten Medizin (7 Abschn. 12.5). Mit der Berücksichtigung evidenzbasierter Zugänge erhöht sich statistisch die Erfolgswahrscheinlichkeit therapeutischer Maßnahmen. EbM definiert sich über Wirksamkeitsnachweise mittels randomisierter kontrollierter Studien (z. B. Greenhalgh 2015). Aufgrund des statistischen Zugangs bleibt jedoch für den Einzelfall weiterhin das grundsätzliche Problem bestehen, dass die EbM nur statistische Aussagen machen kann, die im speziellen Fall auf den einzelnen Patienten zutreffen können oder auch nicht. Aristoteles formulierte dies bereits vor mehr als 2300 Jahren:  

»» „Hat doch offenbar auch der Arzt nicht die Gesundheit-an-sich im Auge, sondern die des Menschen, vielmehr die seines Patienten. Denn seine Kunst gilt dem einzelnen.“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, S. 14).

Goodheart hatte dies bereits in den 1960er-­ Jahren erkannt, indem er einerseits wissenschaftliche Ergebnisse aus unterschiedlichen Fachgebieten berücksichtigte, diese jedoch durchgängig mit genauso systematischen und detaillierten Befunderhebungen des individuellen Patienten in seinem spezifischen Kontext verband. Das heißt, fundiertes fachliches Wissen und langjährige praktische Erfahrung in der ärztlichen bzw. therapeutischen Tätigkeit

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M. A. Riedl-Hohenberger und C. Kraler

in Kombination mit wissenschaftlicher Evidenz für Behandlungsmethoden müssen stets an den individuellen Patienten mit seinem spezifischen Gesundheitsstatus bzw. Beschwerdebild angepasst werden. Konkret behandelt wird immer ein Patient mit einem bereits genetisch bedingten, auf jegliche therapeutische Intervention einzigartigen Reaktionsmuster. Das heißt insbesondere, dass die Reduktion einer personalisierten Medizin auf inzwischen verfügbare genetische Testmethoden zu kurz greift. An diesem Punkt setzt die FMD mit ihren personalisierten Diagnose- und Behand­ lungsstrategien an. Im Unterschied bzw. ko­ mplementär zu biotechnologischen Methoden (Molekularbiologie, Genetik) konzentriert sie sich primär auf einen neuromuskulär-­ manualmedizinischen Zugang am individuellen Patienten. Ausgangspunkt einer in diesem Sinne verstandenen personalisierten Medizin ist die Beobachtung, dass jeder Mensch physiologisch einzigartig ist und entsprechend individuell reagiert. Patienten mit identischer Diagnose sprechen – wie bereits Goodheart feststellte – auf dieselbe Therapie unterschiedlich an. Daher ist die Wahl der Therapie nicht nur von der Krankheit abhängig, sondern auch vom individuellen physiologischen und genetischen Status des Patienten. Auf eine Differenzialdia­ gnose erfolgt eine (labortechnische) Testung, ob die geplante Behandlungsstrategie (z.  B.  Medikamente, Implantate) individuell passgenau ist. Ein Nachteil moderner molekulardiagnostischer Methoden ist allerdings, dass sie teilweise aufwändig, relativ teuer und zeitintensiv sind. Die FMD als komplementärmedizinisches Verfahren bietet in diesem Zusammenhang eine Perspektive. Sie kann von medizinisch fundiert ausgebildeten Therapeuten unterschiedlicher Fachrichtungen bei entsprechender Ausbildung und standardisierter Anwendung kostengünstig (da manuell und ohne Geräte), zeitnah (vor Ort im Rahmen der Diagnose bzw. Behandlung) und personalisiert angewendet werden.

12.2.3  Funktionelle

Myodiagnostik, Applied Kinesiology und andere kinesiologische Verfahren

Im Jahr 1974 gründete Goodheart zusammen mit weiteren an der Methode arbeitenden Kollegen das International College of Applied Kinesiology (ICAK). John Thie, erster Präsident und treibende Kraft der ICAK, wollte seinen Patienten zur Unterstützung der Behandlung einfache Selbsthilfemethoden aus der Applied Kinesiology an die Hand geben und entwickelte mit anderen ein System, das als Touch for Health bezeichnet wurde. Diese Laienmethode wurde schneller populär als die AK. Daraus wiederum leitete sich besonders im deutschen Sprachraum in den 1990er-Jahren ein breites Spek­ trum verschiedener kinesiologischer Methoden ab, die oft unter dem leicht missverständlichen Sammelbegriff „angewandte Kinesiologie“ zusammengefasst werden (Edukinesiologie, Neurokinesiologie, Psychokinesiologie etc.). Die scheinbare Namensgleichheit, wenn „applied“ mit „angewandt“ übersetzt wird, führt zu vielfachen Verwechslungen (Gerz 2001, S. 5). Daher wird im deutschen Sprachraum zumindest von der IMAK (Internationale Ärztegesellschaft für Funktionelle Myodiagnostik) künftig für diese Methode ausschließlich die Bezeichnung „funktionelle Myodiagnostik“ verwendet, um weitere Verwechslungen zu vermeiden. Nur die ICAK (International College of Applied Kinesiology) bzw. die entsprechenden nationalen Gesellschaften (Chapter) autorisieren Lehrmittel und garantieren ein standardisiertes und damit reproduzierbares und den wissenschaftlichen Standards entsprechendes diagnostisch-­therapeutisches Vorgehen. 12.3  Der Muskeltest in der FMD >> Der Muskeltest ist das diagnostische Kernstück der FMD.

Die in Lehrbüchern beschriebene und in approbierten Kursen gelehrte standardisierte

217 Funktionelle Myodiagnostik (Applied Kinesiology)

Durchführung des Muskeltests ist unabdingbare Grundlage eines validen und reliablen Einsatzes der FMD (detaillierte Ausführungen in Garten (2004, S. 13 ff.) und Gerz (2001, S. 7 ff.)). Um einen Test standardisiert durchführen zu können, bedarf es detaillierter funktionell-­ anatomischer Kenntnisse zum jeweils zu testenden Muskel (Ansatz, Verlauf, Ursprung, Funktion, Synergisten, Antagonisten, reaktive Muster), um unerwünschte Wechselwirkungen zu vermeiden. Ausgehend von über 650  Muskeln bei einem gesunden Menschen beschreibt Ivan Ramšak (2007) knapp 60  Muskeln als für den Alltag relevant, Hans Garten (2012) bespricht 95  Muskeln, Wolfgang Gerz (2001) kommt dagegen auf 29 für die klinische Praxis wichtige Muskelgruppen. Für das Verständnis der Definition eines FMD-Muskeltests seien wichtige Formen der Muskelkontraktion in Erinnerung gerufen (Garten 2004, S. 580): 55 Bei der konzentrischen bzw. isotonischen Kontraktion überwindet der Muskel einen Widerstand. Es kommt zu einer ­intramuskulären Spannungsänderung mit Verkürzung (Ursprung und Ansatz nähern sich an), wie beispielsweise beim Aufstehen aus der Sitzposition, wo der M. rectus femoris konzen­ trisch arbeitet. 55 Bei der isometrischen Kontraktion kommt es zu einer intramuskulären Spannungsänderung ohne Längenänderung (Muskelkontraktion ohne Verkürzung), d. h., die Kraft erhöht sich bei gleichbleibender Länge des Muskels. 55 Bei einer exzentrischen Kontraktion kontrahiert der Muskel gegen eine Kraft, die größer ist als die Kontraktionskraft, was zu einer Verlängerung des Muskels führt (z. B. abbremsende Bewegung des aufsetzenden Beins beim Laufen). Die exzentrische Zusatzkraft bei einem gesunden, voll funktionsfähigen Muskel beträgt etwa 20–30 %.

12

12.3.1  Definition und Umsetzung

des Muskeltests in der FMD

Wolfgang Gerz diskutiert und differenziert in seinem Lehrbuch ausführlich die Genese der Definition des Muskeltests in der ICAK (Gerz 2001, S. 7 ff.). Garten (2004) bzw. leicht adaptiert Garten und Weiss (2007) definieren den Muskeltest in einem Dreischritt, wobei ein vom Patienten gestarteter isometrischer Test über einen diagnostischen Testdruck in eine exzentrische Kontraktion übergeht.

»» „Der Muskeltest der Applied Kinesiology

[FMD] ist ein vom Patienten gestarteter isometrischer Muskeltest, der für jeden Muskel in definierter Position durchgeführt wird. Diese ergibt sich daraus, dass der getestete Muskel gegenüber seinen Synergisten im Vorteil sein muss. Der diagnostische Testdruck wird bei Erreichen der Maximalkraft des Patienten ausgeübt. Er führt die isometrische Kontraktion in eine exzentrische über. Der Patient muss die Möglichkeit haben, seine Maximalkraft zu erreichen. Der Untersucher darf diese nur zeitgerecht und um ein minimales Maß beim Erbringen des diagnostischen Testdrucks überschreiten. Jeder Test bei nicht maximaler Kraft des Patienten ist nicht reproduzierbar“ (Garten und Weiss 2007, S. 9).

In . Abb.  12.2 ist der Testvorgang am Beispiel des M. rectus femoris dargestellt.  

..      Abb. 12.2  Test des M. rectus femoris

M. A. Riedl-Hohenberger und C. Kraler

Patientin

Kraft

Garten (2004, S. 14 ff.) beschreibt anschaulich, worauf bei jedem Muskeltest im Rahmen der FMD im Detail zu achten ist (u.  a. Isolation Hauptantagonist, Testpositionskontrolle, Stabilisierung, Rekrutierungsverhinderung, Patientensteuerung, Anweisungen, Kauapparat, Handposition, Kontaktstellen, Atmung). Gerz

Testerin

Kontinuierliche Druckerhöhung (testerseitig) Patientin

Maximale isometrische Kontraktion Testerin

Kraft

Patientin

12

>> Da jeder Mensch jedoch individuelle (zeitliche) Rekrutierungsmuster und spezifische anatomisch-muskuläre Besonderheiten aufweist (z. B. Reservekraft), erfordert ein sicheres Testen Übung und Erfahrung.

..      Abb. 12.3  Normotoner Test des M. rectus femoris

Kraft

Mobilisation der exzentrischen Zusatzkraft (Patientin) Testerin



Falls der Muskel der zunehmenden Kraft mit einer exzentrischen Kontraktion begegnen kann und spürbar „verriegelt“, wird er in der FMD als stark bezeichnet. Falls er dem Druck des Testers zu irgendeinem Zeitpunkt in einer der beiden Phasen (isometrisch oder exzentrisch) nicht standhalten kann, wird er als schwach bezeichnet. Muskeltestung heißt im Rahmen der FMD die Testung der Stabilisierungsfähigkeit der exzentrischen Reservekraft (kann der Patient dem Zusatzdruck widerstehen?). Bei ­korrektem Vorgehen ist der Test vom Tester unabhängig und mit demselben Ergebnis wiederholbar.

Patientin

Der als für den Test geeignet identifizierte Muskel wird beim Test zuerst in seine standardisierte (isolierte) Testposition gebracht. Bei dieser nähern sich Ursprung und Ansatz in der Regel so weit an, dass sich der Muskel in einer Position mit maximalem Wirkungsgrad befindet. Der Tester nimmt, wie in Lehrbüchern und Kursen im Detail erläutert, einen weichen Kontakt zum distalen Ende des Körperteils auf und erklärt dem Patienten die Richtung, in die er mit maximaler Kraft gegen seinen Widerstand drücken oder ziehen soll. Dann fordert der Tester den Patienten auf, die Testbewegung zu starten. Hierbei passt er den gehaltenen Widerstand kontinuierlich an (isometrischer Testanteil). Wenn keine weitere Kraftzunahme des Patienten mehr erfolgt (maximale isometrische Kraft), wird untersucherseitig der Druck innerhalb von 1–2  s gleichmäßig um ca. 20  % erhöht, was die isometrische in eine exzentrische Kontraktion überführt und bei einem gesunden, voll funktionsfähigen Muskel die exzentrische Zusatzkraft mobilisiert (. Abb.  12.3). Das führt aufgrund der Muskelverlängerung zu einer Gelenkbewegung um wenige Winkelgrade. Aus physiologischen Gründen sollte der gesamte Test nicht länger als 3 s dauern.

Testerin

218

219 Funktionelle Myodiagnostik (Applied Kinesiology)

(2001, S.  12) stellt den Muskeltest in seinem Lehrbuch als Kraft-Zeit-­ Diagramm dar und macht damit im Unterschied zu . Abb.  12.3 die Dynamik des Tests sichtbar.  

12.3.2  Mögliche Ergebnisse beim

manuellen Test

Anschaulich wurden die möglichen Reaktionen des Muskels bereits in 7 Abschn.  12.3.1 beschrieben: Er kann dem Test entweder „standhalten“ oder zu irgendeinem Zeitpunkt „schwach“ werden. Garten weist darauf hin, dass die Verwendung der Begriffe „stark“ und „schwach“ im Rahmen der FMD grundsätzlich problematisch ist (Garten 2004, S. 19). Er unterscheidet u. a. bei Muskeln, die stark testen und das Gelenk „verriegeln“, ob diese normal reagieren oder sich in einem Zustand der Hyperfaszilitation befinden, d. h. auch auf definierende schwächende Reize (manuelles Verkürzen der Spindelzellen, Stimulation des Sedierungspunktes der Akupunkturleitbahn, Aufbringen eines Pols eines Magneten auf den Muskelbauch u. a.; Garten 2004, S. 19 ff.) mit einer Inhibition reagieren, also „schwach“ werden.  

Muskeltypen nach Garten (2004) 55 Normoreaktiver Muskel: Dieser kann während des gesamten Tests der Kraft und Zusatzkraft widerstehen. Bei Testwiederholung kann der Hauptantagonist durch einen der genannten schwächenden Reize funktionell geschwächt werden. 55 Hyperreaktiver Muskel: Dieser widersteht ebenfalls der Kraft und Zusatzkraft, er kann jedoch durch eine schwächende Maßnahme nicht inhibiert werden. 55 Hyporeaktiver Muskel: Der Patient kann den Testmuskel entsprechend (isometrisch) rekrutieren, aber dem (exzentrischen) Zusatzdruck des Behandlers nicht standhalten.

12

Hyper- und hyporeaktive Muskeln werden dysreaktive Muskeln genannt. Auf therapeutischer Ebene ist es das Ziel, die dysreaktiven Muskeln in die Normoreaktion zu bringen. Eine klassische Fehlerquelle für den Muskeltest in der FMD stellt das Switching-­Phänomen dar (Garten 2004, S 53 ff.; Gerz 2001, S. 75 ff.). Es bedeutet eine patientenseitige neurologische Dysorganisation im Sinne einer Überschreitung der individuellen neurologischen Organisationskapazität durch die Summe der auf den Organismus einwirkenden Stimuli (Garten 2004, S. 53). Da die FMD, wie beschrieben, im Kern auf einem neuromuskulären Assessment aufbaut, ist dieses Phänomen quasi systembedingt. Praktisch macht sich das für den Therapeuten durch Leitsymptome bemerkbar (Gerz 2001, S. 75): 55 Eindeutige klinische Befunde stimmen nicht mit den Muskeltestbefunden überein. 55 Es lassen sich keine sinnvollen Muskeltestbefunde erheben. 55 Der Patient macht bei Anweisungen genau das Gegenteil (legt sich auf Rücken statt auf den Bauch, verwechselt die Seiten etc.). Diagnostik und Behandlung des Switching werden sowohl in Ausbildungskursen als auch in den Lehrbüchern im Detail behandelt. >> Jeder mittels FMD getestete Patient sollte bei entsprechendem Verdacht immer auf Switching kontrolliert werden.

12.3.3  Praxis des Muskeltests,

Therapielokalisation und Challenge

In der Praxis wird nie ein Muskel isoliert getestet. Patienten kommen in der Regel mit Beschwerden und bringen (Vor-)Befunde mit. Die FMD versteht sich als die konventionelle Medizin unterstützende, ergänzende Methode und versucht, möglichst alle vorhandenen Informationen (Patientenangaben, Laborwerte, Bildmaterial, Befunde) für das weitere dia­ gnostische Vorgehen zu nutzen.

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M. A. Riedl-Hohenberger und C. Kraler

Idealtypische Darstellung eines klinisch-praktischen FMD-Zugangs (nach Gerz 2001, S. 81 ff., S. 87 ff.)

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1. Gründliche Anamnese (umfangreicher Anam­nesebogen; Garten 2004, S. 60, S. 121) 2. Testung des grundsätzlichen energetischen Zustands mittels geeigneter Muskeln (beidseitig), die den 12 Meridianen zugeordnet sind (Burtscher et al. 2001, S. 22); sollte es hier zu Dysreaktionen kommen, sind oft schon im Vorfeld geeignete therapeutische Maßnahmen zu ergreifen, um ein möglichst normoreaktives Muster zu erzeugen 3. Gezielte, mit den Symptomen assoziierte Muskeltestung (Gerz 2001, S. 92: Meridian-Organ-Muskel-Wirbel-Beziehungen) unter Verwendung der FMD-Techniken Therapielokalisation bzw. Challenge 4. Weitere therapeutische Schritte (manualmedizinisch, phytotherapeutisch, medikamentös, orthomolekular u. a.), basierend auf allen vorhandenen Befunden und der FMD-Verdachtsdiagnose 5. Geeigneter Muskeltest zur Evaluation des Therapieansatzes (z. B. chemischer Challenge über orale Provokation einer möglicherweise therapeutisch wirksamen Substanz)

Beim Challenge wird der Patient einem strukturellen, chemischen oder mentalen Testreiz ausgesetzt“ (Gerz 2001, S. 54).

Garten (2004) unterscheidet zwei Kategorien von Fragestellungen: 55 Ist eine in der Regel therapeutische Intervention für den Patienten verträglich und hilfreich? 55 Wirkt ein Faktor chemischer, struktureller oder emotionaler Art belastend? Entsprechend ist beim Muskeltest von einem normoreaktiven oder dysreaktiven Challenge die Rede. >> Beim normoreaktiven Challenge verläuft die Reaktionsänderung von hypo- oder hyperreaktiv nach normoreaktiv. Das impliziert, dass die Maßnahme den Organismus unterstützt, da der Muskel für ihn „positiv“ auf den Test antwortet.

Alle anderen möglichen Muskelteständerungen führen zu einer Muskeldysreaktion, was impliziert, dass die Provokation für den Körper potenziell schädlich ist. Die Therapielokalisation (Garten 2004, S. 36 ff.; Gerz 2001, S. 62 ff.) als Sonderform einer sensorischen Provokation (Challenge) beinhaltet das diagnostische Berühren einer potenziell gestörten Körperregion durch Patient, Untersucher oder Hilfsperson (. Abb. 12.4: TL in der Zahnmedizin).  

Gerade Punkt 5 bietet eine einzigartige Möglichkeit: mittels FMD kann in vielen Fällen ohne großen Laboraufwand über geeignete Muskeltests evaluiert werden, ob ein therapeutisches Vorgehen individuell passt oder nicht. Dieses Vorgehen bezeichnet eine zentrale Strategie der FMD, das Arbeiten mit einem Challenge (Garten 2004, S.  27  ff.; Gerz 2001, S. 54 ff.), d. h. einer sensorischen Provokation entsprechend der Triad of Health. Unter einem Challenge wird verstanden

»» „… die Testung eines oder mehrerer Mus-

keln während oder unmittelbar nach einer gezielten Provokation oder Testexposition.

..      Abb. 12.4  Zahnherdtestung (TL) mit auf individuelle Verträglichkeit getesteten Untersuchungsinstrumenten

12

221 Funktionelle Myodiagnostik (Applied Kinesiology)

Jegliche Reaktionsänderung wird hierbei terminologisch als positiv bezeichnet und liefert zwar Hinweise darauf, wo eine Störung liegen könnte, jedoch nicht darauf, welcher Art diese ist. Das kann über den Challenge mithilfe der Triad of Health identifiziert werden. Details und weitere diagnostische Hilfsmittel der FMD werden sowohl in Garten (2004) als auch in Gerz (2001) übersichtlich behandelt. 12.4  Fallbeispiel

Mehrfach wurde betont, dass in der FMD, basierend auf einem standardisierten Muskeltest und seiner korrekten Ausführung, reproduzierbare und differenzierte Aussagen zum Patienten gemacht werden können. Trotzdem gibt es kein völlig standardisierbares Vorgehen, da jeder Fall individuell ist und auch, wie beschrieben, Reaktionsmuster sich bei jedem Patienten und bei diesen auch abhängig von der Tagesverfassung unterschiedlich zeigen. Therapeutenseitig spielen zudem die Ausbildung, das Wissen und die jeweiligen Möglichkeiten vor Ort hinsichtlich der Diagnose und Behandlung eine Rolle. Zur Illustration eines FMD-gestützten Behandlungsverlaufs wird im Folgenden ein Fall in seinem Verlauf dargestellt: Der Fall stammt aus der zahnärztlichen bzw. allgemeinmedizinischen Praxis der Autorin. Sein Komplexitätsgrad ist für Fälle, die bereits eine längere Vorgeschichte beinhalten, „durchschnittlich“. Es geht daher im Folgenden weniger darum, eine Erfolgsgeschichte darzustellen. Vielmehr soll der Fall die individuelle Dynamik der Triad of Health und die Wirkungen FMD-gestützter Diagnose- und Therapieinterventionen praktisch illustrieren. zz Patientin, 53 Jahre

55 Erstvorstellung zur Beratung für eine Zahnsanierung und zur Klärung der Frage, ob die Zähne mit den nachfolgend dargestellten Beschwerden in Zusammenhang stehen könnten.

55 Seit 5 Jahren rezidivierend Ekzeme an Armen und Beinen, extrem ausgeprägt an den Händen; seit einem halben Jahr deutliche Verschlechterung fast ohne freie Intervalle, teilweise Berufseinschränkung. 55 Abgeschlagenheit (Essen macht müde), Konzentrationsschwäche, Nackenverspannung, rezidivierende Infekte. 55 Seit dem 13. Lebensjahr rezidivierende Schulterluxation rechts und links (nach Skiunfall). kKonventionell-medizinische Diagnose

Neurodermitis, seit 2003 klinisch signifikant, Therapie mit Kortikosteroiden, nur kurzfristige Besserung – Verschlechterung nach Absetzen. Nachdem verschiedenste vorangegangene therapeutische Interventionen zu keiner nachhaltigen Besserung führten, stellte sich aus Sicht der Behandlerin die Frage, ob ein wesentlicher Teil der Ursache für die Probleme im Zahnbereich liegen könnte. Durch Vorbefunde von anderen Ärzten veranlasst, zeigte sich in der Haarmineralanalyse eine Erhöhung von Cadmium, Aluminium, Blei und Platin. Der Ernährungsplan, der der Patientin empfohlen worden war, beinhaltete: Fett, Brot, Körner, Obst, Blattsalate, Gemüse und Fleisch. kZahnärztlicher Befund

8 Amalgamfüllungen, 3 insuffiziente Komposite und 6 Keramikfüllungen, davon 3 insuffizient. kFMD-Befund

Der basierend auf allen verfügbaren Befunden erhobene FMD-Befund ist in . Tab.  12.1 wiedergegeben. Die Situation stellte sich im Detail wie folgt dar: 55 W: Thy, SD, Hy, Lu1, Hautirritation → NC: Silberamalgam D6, Nicculum met. D6, Argentum met. D6, Aluminium met. D6 55 W: Ma25, KG4, CH Le → NC: Antimykotika 55 W: reg. 28 u. 48 → NC: Kieferostitis D3, Xyloneural 2 %  

222

M. A. Riedl-Hohenberger und C. Kraler

..      Tab. 12.1 Muskeltestbefund Muskel

12

Meridian

Organ

Normoreaktiv

Dysreativ

R

L

R

L

M. pectoralis clavicularis (PMC)

Magen

Magen





X

X

M. pectoralis sternalis (PMS)

Leber

Leber





X

X

M. serratus anterior

Lunge

Lunge



– X +

X +

M. infraspinatus

3 Erwärmer

Thymus





X

X

M. teres minor

3 Erwärmer

Schilddrüse





X

X

M. suprascapularis

Herz

Herz

X

X





M. latissimus dorsi

Milz/Pankreas

Pankreas





X

X

M. rectus fermoris

Dünndarm

Dünndarm





X

X

M. piriformis

Kreisluaf/ Sexualität

Gonaden

X

X





M. iliopsoas

Niere

Niere

X

X





M. tensor fasciae latae (TFL)

Dickdarm

Dickdarm





X

X

M. tibialis anterior/peronei

Blase

Blase

X

X





M. popliteus

Gallenblase

Gallenblase

X

X





Schmerz

Lebensmitteltest: 55 W: L-Histidin, ME (Milcheiweiß), Gluten, Laktose 55 Ø Reis, Mais, NS (Nachtschatten), Amaranth, Quinoa kDaraus abgeleitete FMD-­ Verdachtsdiagnose

V.  a. Schwermetallbelastung (Silberamalgam, Nickel, Silber, Aluminium), Zahnstörfeld: 28, 48 (beide retiniert), Histaminintoleranz, Glutenunverträglichkeit, Milcheiweißunverträglichkeit, Laktoseintoleranz, Candida-Belastung. kLabormedizinische Untersuchungen

Zusätzlich erhobene (Labor)Befunde zeigten folgendes Bild:

55 In der Vollblutanalyse zeigte sich ein deutlicher Eisen- und Magnesiummangel, im Lymphozytentransformationstest eine deutliche zelluläre Sensibilisierung im Sinne einer Typ-IV-Immunreaktion auf Silber und Nickel. 55 In der Gentypkonstellation ließ sich eine mittelgradig erhöhte Entzündungsreaktivität (Grad 2) diagnostizieren. 55 Im Rahmen der Untersuchung der Entgiftung konnte in der Phase I eine deutlich erhöhte Enzymaktivität bei normaler Phase II festgestellt werden. 55 Negative Ergebnisse zeigten sich beim DMPS-Test wie auch bei der Trinkwasseruntersuchung auf Schwermetalle.

223 Funktionelle Myodiagnostik (Applied Kinesiology)

kTherapie

55 Mundhygiene prof., Ernährungsumstellung (laut Test), orthomolekulare Sub­ stitution (laut Labor) und Stützung und Stabilisierung der Ausscheidungsorgane. 55 Antimykotische Therapie und diätetische Empfehlung. Homöopathische Begleittherapie zur Regulationsförderung. Neuraltherapie an 48 und 28 (dreimal). 55 Amalgamentfernung und Ausleitung mit DMSA und mit FMD-getesteter Begleittherapie. 55 Definitive zahnärztliche Sanierung mit getesteten Materialien und Nachkontrollen. Vor der definitiven Zahnsanierung wurden, nachdem die Patientin – wie in der Therapie angezeigt  – stabilisiert war, die Materialien für die definitive Versorgung geplant und über Labor und FMD auf individuelle Verträglichkeit getestet (Riedl-Hohenberger und Kraler 2013). kErgebnis bei der Nachkontrolle

Nach Ausleitung und Sanierung: Kein Jucken und keine Ekzeme, nur noch leichter Rückfall nach „Esssünden“, keine Schulterprobleme. Die Patientin fühlt sich „befreit“, das Leben sei wieder lebenswert, und es gehe ihr „super gut“. Die Ergebnisse spiegeln die individuelle Entwicklungsdynamik der Triad of Health im Rahmen der FMD-gestützten ganzheitlichen Behandlung bei der Patientin wider. 12.5  Studien/Evidenzlage

Wie jedes andere medizinische Verfahren, muss sich auch die FMD/AK im Sinne einer wissenschaftlichen Entwicklung der Humanmedizin als Ganzes laufend Fragen der Qualitätssicherung- und Entwicklung stellen. Dies gilt umso mehr, als es sich bei der FMD/AK um ein komplementär- und ganzheitsmedizinisches Verfahren handelt (Schupp 2004, S. XV). Eine spezifische Herausforderung hinsichtlich der Beforschung ihrer Wirkung ergibt sich für

12

die FMD/AK durch ihr zentrales Werkzeug, das neuromuskuläre Assessment (Garten 2004, S. 551 ff.). Dieses erfolgt, wie dargestellt, über die manuelle Testung bestimmter Muskeln bzw. Muskelgruppen und deren Reaktionsänderung durch diagnostische Provokationen (Garten und Weiss 2007, S. 7). Der Muskeltest ist, wie dargestellt, hoch standardisiert, wird jedoch von einem Menschen durchgeführt. Zudem versucht man über das Assessment gerade, individuelle Reaktionsmuster und Probleme ganzheitlich in ihrem systemischen Zusammenhang (7 Abschn.  12.2.2, Triad of Health) zu identifizieren, was für generalisierende Aussagen eine besondere Herausforderung darstellt. Voraussetzung für den wissenschaftlichen Zugang zu Wirkungsfragen ist eine möglichst gute Kenntnis der zugrunde liegenden physiologischen Mechanismen. Die neurologischen Grundlagen werden z.  B. in Garten (2004, ab S. 551 ff.) bzw. bei Gerz (2001, S. 7 ff.) im Detail beschrieben. Zentrale Studien zur FMD/AK befassen sich u.  a. besonders mit der Reproduzierbarkeit der Ergebnisse. In den im Kapitel genannten Lehrbüchern (Gerz 2001; Garten 2004; Garten und Weiss 2007) werden vielfach Studienergebnisse diskutiert. Garten fasst im ersten Band der FMD/AK-Lehrbuchreihe (2004, S. 4 ff.) die Befundlage hinsichtlich der Untersuchungsstrategien zusammen: 1. Vergleich der FMD/AK-­Muskeltestung mit anderen neuromuskulären Assessment-Verfahren, 2. Inter-Untersucher-­Reliabilität, 3. Reizexpositionsuntersuchungen, 4. triangulative Vergleiche (FMD/AK im Vergleich mit anderen Diagnosestrategien wie Laboruntersuchungen), 5. Outcome-Studien.  

kPunkt 1: Vergleich mit anderen Assessment-­Verfahren

Die in den Lehrbüchern (insbesondere Garten 2004) diskutierten Untersuchungen führen zu dem Ergebnis, dass bis heute eine mechanische

224

M. A. Riedl-Hohenberger und C. Kraler

Versuchsanordnung zur analytischen Erfassung der relevanten Messgrößen noch fehlt. Obwohl dieser Befund ein Desiderat aufzeigt, stellt er gleichzeitig ein Ergebnis dar, da klar wurde, dass im standardisierten FMD/AK-­ Muskeltest nicht absolute Kraft, sondern vielmehr die Intaktheit des Rückkopplungssystems der neuromuskulären Einheit gemessen wird. Im Hinblick auf die Komplexität der zugrunde liegenden neuromuskulären Mechanismen erscheint das zwar verständlich, weist jedoch gleichzeitig auf die anstehende Forschungsrichtung hin. Als zentrales Problem erweist sich in diesem Zusammenhang auch, dass es keinen Normwert für die intakte Propriozeption des Muskels gibt (Garten 2004, S. 9), was objektive Messungen erheblich erschwert. Was sich ebenfalls zeigt, ist die zentrale Bedeutung standardisiert ausgebildeter FMD/AK-Tester/ Diagnostiker. Erst erfahrene, umfassend ausgebildete Tester, die standardisiert vorgehen, machen Test- und Vergleichsergebnisse reproduzierbar (Garten 2004, S. 7).

12

unterschiedlichsten Zusammenhängen, dass neuromuskuläre Assessments sensitiv auf verschiedenste, oft auch verdeckte, Provokationen reagieren (z. B. psychische Faktoren). Dies weist auf die zentrale Bedeutung einer umfassenden Anamnese im Vorfeld der Muskeltestung hin. Garten (2004, S. 8) etwa wies nach, dass nach dem Ausschalten störender Variablen über eine umfassende standardisierte ganzheitsmedizinische Diagnose 91  % der FMD/AK-Muskeltestergebnisse mit einer antizipierten Reaktion auf den Testreiz übereinstimmten. kPunkt 4: Triangulative Vergleiche

Die Befundlage zu verschiedenen Studien (Schilddrüse, Nahrungsmittelunverträglichkeit, Kandidadysbiosen, Säure-Basen Störungen, Materialunterverträglichkeit) zeigt, dass der genauen Identifikation der zu testenden Parameter eine zentrale Bedeutung zukommt und ansonsten z.  B. über eine Korrelation zwischen FMD/AK-Test und Labormessungen keine Aussage gemacht werden kann. Die kPunkt 2: Inter-Untersucher-Reliabilität Autoren dieses Kapitels etwa konnten in einer Verschiedene Studien (z.  B.  Allen 1987; Co- umfangreichen triangulativen Patientenstudie nable und Hanicke 1987; diskutiert in Garten zu testende Materialien stoffgenau spezifizie2004) kommen bei unterschiedlichen Ver- ren (Riedl-Hohenberger und Kraler 2013). Die suchsanordnungen zu einer Inter-Untersucher-­ Übereinstimmung mit Laborergebnissen lag Reliabilität von etwa 80 %. Zu vermuten ist, dass entsprechend durchgängig über 80 %. sich dieser Wert mit steigender Erfahrung der Tester und unter Berücksichtigung aktueller kPunkt 5: Outcome-Studien Standardisierungsvorschläge für das Testver- Einzeluntersuchungen werden laufend bei fahren ähnlich wie in anderen diagnostischen FMD/AK-Symposien berichtet. Eine LongiBereichen noch weiter steigern ließe. Lawson tudinalstudie von Mather (bereits in Garten 1997 (in Garten 2004, S. 7) wies zudem darauf 2004, S.  9) läuft derzeit noch. Garten (2004) hin, dass der beim Test verwendete Muskel die diskutierte als erster Autor umfassend die Reproduzierbarkeit moduliert. Das bestärkt die Möglichkeiten und Grenzen der Standardidiagnostische Empfehlung, in der Praxis im sierung der FMD/AK im Rahmen etwa von diagnostischen Prozess stets über verschiedene Doppelblindstudien. Grundsätzlich ergibt sich assoziierte Muskeln zu testen. das Problem, dass das Verblinden von Testpersonen und Untersuchern, z. B. bzgl. einer BekPunkt 3: Reizexpositionsuntersuchungen handlung, bedingt durch das Verfahren nicht Gast (1994, in Garten 2004) konnte in einer möglich ist, wohl aber Bilduntersuchungen Doppelblindstudie die inhibierende Wirkung etwa des Resultats. Zudem kann die individubei Drainagepunkten mit statistischer Signi- elle Muskelantwort eines Patienten methodenfikanz gegenüber Plazebo nachweisen. Garten bedingt nur in Kenntnis einer umfassenden wie Gerz diskutieren in ihren Lehrbüchern in Anamnese korrekt interpretiert werden.

225 Funktionelle Myodiagnostik (Applied Kinesiology)

kFazit

Als Quintessenz zu den bisher vorliegenden evidenzbasierten Befunden bleibt, dass der Ausbildungsgrad der Tester, die Kenntnis der Anamnese sowie die Standardisierung des Testvorgangs für fundierte Studien von zentraler Bedeutung sind.

12

zz Sekretariat, Anlaufstelle, Links

DDr. Margit Annemaria Riedl-Hohenberger Ärztin für Allgemeinmedizin, Fachärztin für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde Michael-Gaismair-Straße 10 A-6020 Innsbruck [email protected] 7 http://www.­riedl-hohenberger.­at/  

12.6  Ausbildung

Ein in 7 Abschn. 12.2 geschilderter Einsatz der FMD im ganzheitsmedizinischen Sinn setzt eine umfassende medizinische Ausbildung voraus, um die zentralen Wechselwirkungsmechanismen verstehen und diagnostisch-­ therapeutisch korrekt und zum Wohl der Patienten einschätzen zu können. Die IMAK etwa bildet ausschließlich Ärzte, Zahnärzte und Physiotherapeuten aus. Bei der DÄGAK (Deutsche Ärztegesellschaft für Applied Kinesiology) und ICAK-D können auch Heilpraktiker eine Ausbildung in Applied Kinesiology absolvieren (ICAK-D/IMAK 1999). Im deutschen Sprachraum waren Wolfgang Gerz und Hans Garten Pioniere der FMD. Sie legten als erste Ärzte überhaupt die Prüfung zum Diplomate ICAK (offizielle Lehrberechtigung in AK) ab. Wolfgang Gerz war 1992 Gründungsmitglied der DÄGAK. Die IMAK wurde 1993 gegründet, um gegenüber den berufsständischen Gremien der Ärzteschaft, staatlich/behördlichen Stellen sowie innerhalb ICAK die Interessen von Ärzten und Zahnärzten zu vertreten, die mit der FMD arbeiten. Seit 1994 ist die IMAK von der ICAK als sog. Interchapter-Affiliation für ärztliche/ zahnärztliche Mitglieder anerkannt. Der Bedeutung der FMD hat Österreich als erstes Land in Europa 2004 mit einem eigenen Ärztekammer-Diplom für Ärzte und Zahnärzte (Zusatzausbildungsdiplom) Rechnung getragen. Generell ist die Ausbildung im deutschen Sprachraum für Ärzte, Zahnärzte und Physiotherapeuten offen. Die Ausbildung umfasst bis zum IMAK-Diplom für Ärzte und Zahnärzte 220 Unterrichtseinheiten.  

Prof. Dr. Christian Kraler School of Education Universität Innsbruck A-6020 Innsbruck Zusammenfassung

55 Die FMD bietet Möglichkeiten, ganzheitsmedizinische Erkrankungen und Beschwerdebilder besser zu verstehen und zielgerichteter behandeln zu können. 55 Vorteil des manualmedizinischen Zugangs: 55 Durchführung des Muskeltests ohne apparativen Aufwand, 55 ein Ergebnis liegt unmittelbar vor, 55 zeitliche Verzögerungen durch (teilweise teure) Auswertungen (Labor) entfallen. 55 FMD ersetzt nie standardmedizinische Methoden, sondern versteht sich als diese interdisziplinär integrierende Herangehensweise. 55 FMD reduziert die Behandler-Patient-­ Beziehung auf den Kern: 55 Der Patient bzw. seine Muskeln sind das „Testgerät“, der Therapeut ist mit seinem Wissen der Testende. 55 Wissen, Muskeln und Compliance bzw. Adhärenz reichen im Wesentlichen aus. 55 Grundgedanke bzw. Grundhaltung der FMD: 55 Der Patient hat ein körpereigenes Inte­ resse darüber, was ihm fehlt. 55 Der Therapeut unterstützt ihn hierbei im Sinne der personalisierten Medizin, zum Kern des jeweiligen Problems vorzudringen. 55 „Individuell“ ist für die FMD ein zentraler Begriff. 55 Erfüllen medizinischer Gütekriterien und wissenschaftlicher Standards: 55 Es ist von zentraler Bedeutung, dass standardisiert, unter Berücksichtigung

226

M. A. Riedl-Hohenberger und C. Kraler

der (individuellen) anatomischen Gegebenheiten getestet wird. 55 Garten (2004, S. 4 ff.) beschreibt z. B. in seinem Lehrbuch diesen Kriterien genügende Untersuchungsergebnisse zur FMD/AK und diskutiert auch Strategien für weitere Studien, um die FMD weiterzuentwickeln. 55 Ziel der FMD in der Praxis: Basierend auf einer individuellen Testung und Diagnose Unterstützung der Regulationsmechanismen des Patienten, sodass sie die Gesundheit bzw. Gesundung möglichst nachhaltig positiv ­sicherstellen können. 55 Der ganzheitsmedizinische Zugang kann bei nahezu jeder Behandlung mit diagnostisch-therapeutischem Gewinn eingesetzt werden.

Literatur

12

Aristoteles (1986) Nikomachische Ethik. Reclam Philipp jun, Ditzingen (Ausgabe) Burtscher E, Eppler-Tschiedel M, Gerz W, Suntinger A (2001) AK-Meridiantherapie. Synthese der Akupunkturlehre und Applied Kinesiology. AKSE, Wörthsee Eckart W (2005) Geschichte der Medizin. Springer, Berlin/Heidelberg/New York Frost R (1998) Grundlagen der Applied Kinesiology. VAK, Kirchzarten

Garten H (2004) Lehrbuch Applied Kinesiology. Muskelfunktion, Dysfunktion, Therapie. Urban & Fischer, München Garten H (2012) Das Muskeltestbuch. Funktion  – Triggerpunkte – Akupunktur. Urban & Fischer, München Garten H, Weiss G (2007) Systemische Störungen – Problemfälle lösen mit Applied Kinesiology. Urban & Fischer, München Gerz W (2001) Lehrbuch der Applied Kinesiology (AK) in der naturheilkundlichen Praxis. AKSE, Wörthsee Greenhalgh T (2015) Einführung in die evidenzbasierte Medizin, 3. Aufl. Hogrefe, vorm. Hans Huber, Bern ICAK-D/IMAK (1999) Stellungnahme zur „Kinesiologie“. Herausgegeben von den Vorständen des ICAK-D und der IMAK. https://ganzheitlichemedizin.­at/ wp-content/uploads/2015/05/Kinesiologie.­p df. Zugegriffen am 13.08.2018 Kendall F, Kendall E (1983) Muscles – testing and function. Williams & Wilkins, Baltimore Porter R (1999) The greatest benefit to mankind: a medical history of humanity. Norton, New York Ramšak I (2007) Handbuch der AK-Muskeltests. Verlagshaus der Ärzte, Wien Riedl-Hohenberger M, Kraler C (2013) Verträglichkeit von Zahnwerkstoffen in der personalisierten Medizin – zwei Diagnosemethoden im Vergleich. Applied Kinesiology und Immundiagnostik im Labor. Med J Appl Kinesiol 16(3):5–17 Riedl-Hohenberger M, Meierhöfer R, Angermaier U (o. J.) Applied Kinesiology (AK) – eine Untersuchungsmethode, die die zahnärztliche Diagnostik ganzheitlich erweitert. IMAK, DÄGAK, ICAK-A Schupp U (2004) Komplementäres Methodenverständnis in der Medizin. In: Garten H (Hrsg) Lehrbuch Applied Kinesiology. Muskelfunktion, Dysfunktion, Therapie. Urban & Fischer, München, S XV–XVII

227

Elektroakupunktur nach Voll – ein ganzheitliches Diagnoseund Therapiesystem Elisabeth Wernhart-Hallas 13.1

Historischer Überblick – 228

13.2

EAV heute – 229

13.3

Messung – 231

13.3.1 13.3.2 13.3.3

 efäße – 232 G Messwert – 233 Ablauf – 233

13.4

Resonanztest – 233

13.5

Herdtest – 233

13.6

Mesenchymreaktivierungskur – 234

13.7

Studien, Evidenzlage – 234

13.8

Ausbildung – 234 Literatur – 235

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_13

13

228

E. Wernhart-Hallas

13.1  Historischer Überblick

13

Reinhold Voll, geboren 1909 in Berlin als Sohn des Architekten Carl Heinrich Voll war ein kränkliches Kind – eine angeborene Hypospadie war die Ursache für häufige Infekte. Nach dem Abitur stand er vor der Entscheidung, das für ihn richtige Studium zu wählen. Die Elektrizität als neue Energieform interessierte ihn zwar „brennend“ (die Glühlampe revolutionierte zur damaligen Zeit die Haushalte), und Informationsenergie (das „Radio“) war ebenfalls faszinierend, doch letztendlich entschied er sich zunächst für ein Architekturstudium. Volls Vater starb 50-jährig an den Folgen einer Grippe, und der junge Reinhold konnte und wollte sich mit den Grenzen der damaligen Medizin nicht abfinden. So begann er ein Medizinstudium, das er 1935 mit der Dissertation zum Thema „Heutige Kenntnisse über die Seekrankheit“ beendete. Bei seinen ersten Anstellungen war er u. a. mit der Schulzahnpflege betraut. Sein eigener Gesundheitszustand wurde mit der Zeit immer schlechter, und zum zweiten Mal stieß er an die Grenzen der Medizin, denn man gab ihm nur noch wenige Jahre zu leben. In Plochingen am Neckar wurde er nach entbehrungsreichen Jahren Landarzt. Geschwächt, auch durch den Krieg, verstarb seine Frau 1944 bei der Geburt des vierten Kindes. Erneut wurde Voll die oft fatale Kürze des Lebens vor Augen geführt. In zweiter Ehe heiratete er Helene Geiger, eine Fürsorgerin, mit der er noch drei weitere Kinder bekam und die zu seiner wichtigsten Mitarbeiterin wurde. 1945 war Plochingen amerikanisches Protektorat. Es kamen mehr als 2000 Flüchtlinge, die von dem praktischen Arzt Dr. Voll versorgt werden mussten. Nach dem 2.  Weltkrieg war überall Aufbruchsstimmung spürbar, auch in der Medizin. Mit den Fortschritten in Technik und Medizin wurden viele Geräte entwickelt, so auch die erste Herz-Lungen-Maschine. Die Erwartungshaltung der Patienten wuchs. Dr.

Voll integrierte Anfang der 1950er-Jahre die Akupunktur in seine Praxis. Der französische Arzt Roger de la Fuye experimentierte ebenfalls mit Akupunkturnadeln und setzte zwecks Schmerzbekämpfung elektrische Reize zur Stimulation. Dr. Voll entdeckte, dass der elektrische Hautwiderstand an den Akupunkturpunkten völlig anders war als an den übrigen Hautarealen und entwickelte aus dieser Erkenntnis ein Punktsuchgerät, das Akupunkturanfängern helfen sollte, die Akupunkturpunkte leichter aufzufinden. Motiviert durch Erkrankungen seiner Kinder (Knochentuberkulose bzw. Anzeichen einer Kinderlähmung), verwendete Dr. Voll nun eine andere Methode: Im Krieg hatte er sich schon mit der Lehre Hahnemanns und dem „Simile-Prinzip“ beschäftigt. Nach unzähligen Versuchen fand er einen Weg, die Homöopathie mit den Akupunkturpunkten zu verbinden. Sein Interesse war zu dieser Zeit nicht die Stimulation, sondern die Messung der Akupunkturpunkte. Gemeinsam mit Dipl.-Ing. Fritz Werner entwickelte Dr. Voll das erste Messgerät zur Bestimmung der Akupunkturpunkte, den sog. Diatherapuncteur. 1953 wurde in Abgrenzung zur Nadelstimulation erstmals der Begriff „EAV“ geprägt. EAV bedeutet Elektroakupunktur nach Voll. Eher durch Zufall wurde entdeckt, dass eine Änderung des Messwerts eintritt, wenn der Patient eine homöopathische Zubereitung (damals Echinacea) in Händen hält. Damit erarbeitete Dr. Voll nicht nur diagnostische Möglichkeiten, sondern fand gleichzeitig auch eine neue Therapieform. Dies war Ausgangspunkt für Medikamententests. Ziel ist die Wiederherstellung die Regulationsfähigkeit des Organismus. Mit „Gleichgesinnten und Mitstreitern“, wie z. B. dem dem Zahnarzt Dr. Fritz Kramer, fand Dr. Voll auch einen Zusammenhang der Akupunkturpunkte mit Zahn- bzw. Kieferabschnitten. 1956 wurde zunächst eine Arbeitsgemeinschaft gegründet, die später in die „Interna-

229 Elektroakupunktur nach Voll

tionale Gesellschaft für EAV“ umgewandelt wurde. Bis 1972 stand Dr. Voll der Gesellschaft vor. Er und seine Mitstreiter fanden und erforschten immer mehr neue Messpunkte. Später fand auch eine Zusammenarbeit mit Apotheken, mit der Fa. Staufen-Pharma und mit der Fa. Wala statt. Mehr als 200 Organpräparate entwickelte Dr. Voll gemeinsam mit diesen Firmen. Der Systematiker Dr. Voll erkannte die Gesetzmäßigkeit der Akupunkturpunkte und fand, dass zahlreiche Punkte aus der chinesischen Akupunktur noch nicht zugeordnet waren. Es war für ihn wichtig, immer neue Punkte einer systematischen Zuordnung zuzuführen und möglichst viele Punkte bei bestimmten Organsystemen zu finden. Im Verlauf seiner über 30-jährigen Tätigkeit fand er 1262 Punkte, die er einer Zuordnung zuführte. Dr. Voll war ein genialer Netzwerker, der es auch verstand, verschiedene Methoden und Meinungen zusammenzubringen. Der Austausch mit Kollegen war sehr fruchtbar. Mit dem Zahnarzt Dr. Kramer stellte er meridianbezogene Zusammenhänge zwischen den Zähnen und dem umgebenden Kieferknochen, den sog. Odontonen, und dem System der Organe auf (. Abb. 13.1). Angesichts seiner therapeutischen Erfolge wuchs auch eine Gegnerschaft heran. Besonders Prof. Dr. Peter Röttgen, ein Neurochirurg, brachte die Akupunktur in die Nähe der naturphilosophischen Träumereien. Die Universitäten maßen aufgrund der kriegsbedingten Ereignisse chirurgischen Maßnahmen einen hohen Stellenwert bei. Die Ärzte verließen sich bei der Diagnostik auf Röntgen, Sputum, Blutund Urintests. Aufgrund der politischen Situation des Kalten Krieges in den 1950er- und 1960er-Jahren war ein Austausch der Meinungen mit im Osten praktizierenden Kollegen in der Nachkriegszeit fast unmöglich. Dr. Voll blieb fast bis zuletzt Vorstand „seiner“ Gesellschaft. 1989, im Jahr der Wende, verstarb Dr. Reinhold Voll 80-jährig. Zahlreiche Ehrungen, wie z.  B. das Bundesverdienstkreuz, wurden ihm für sein Lebenswerk  

13

verliehen. In Berlin wurde 1989 der erste Lehrstuhl für Naturheilkunde an einer deutschen Universität errichtet, was Dr. Voll leider nicht mehr erlebte. Sein umfassendes Wissen und sein Lebenswerk sind in über 60  Büchern dokumentiert. Es war ihm stets ein Anliegen, junge Kollegen an seinen Gedankengängen teilhaben zu lassen. Alle Testmethoden arbeiten mit den von Dr. Voll gefundenen Akupunkturpunkten. Jedes neu entwickelte Testgerät basiert auf diesem Wissen. Sein größtes Verdienst ist es, physikalische und physiologische Erkenntnisse mit den unterschiedlichen komplementärmedizinischen Methoden zusammengeführt zu haben. 13.2  EAV heute

Heute beschäftigen v. a. chronische Krankheiten, Allergien, erworbene Dispositionen, Störfelder – insbesondere im Kopfbereich –, Umweltgifte, Ernährung etc. die naturheilkundlich tätigen Ärzte. Der Druck in der Gesellschaft wächst beständig, die Komplementärmethoden werden immer beliebter und ihre Anwendung nimmt zu. EAV hat sich im Laufe der Jahre weiterentwickelt, und die Energiemedizin hat inzwischen einen großen Stellenwert in der Medizin. Die Ganzheitsmedizin setzt im zunehmenden Maße auf bioelektrische Gerätediagnostik und -therapie. Mittlerweile geht die Tendenz dahin, dass sich Dr.  Volls systemischer Ansatz und die Kenntnisse der Physiologie und Physik nur noch auf die Geräte beschränken. Das systemische Denken, wie von Dr. Voll und Dr. Baisch in ihren Ausbildungsserien gelehrt, wird von der Ärzteschaft jedoch noch immer nicht für „voll“ genommen, obwohl es aus Sicht der konventionellen Medizin physiologischen Gesetzmäßigkeiten entspricht. Dazu zählt auch die Hierarchisierung nach Baisch, der herausfand, dass eine Behandlung zum richtigen Zeitpunkt wichtig für den Heilerfolg ist. Physiologische Zusammenhänge von

Venen

S3 S2 S1

Großzehe

Zehen

Siebbein

fuß

Ohr

Hand radial

Hand ulnar

Fuß plantar

Schulter – Ellbogen

C7 C6 C5

Th4 Th3 Th2 L5 L4

C8 Th7 Th6 Th5 Th1

Lunge rechts

Gebiet

Dickdarm rechts

Arte-rien -

44

14

Kieferhöhle

Kiefer

Knie vorn

L1

Th12 Th11

B10 B11 L1

Pankreas

Magen rechts Pylorus

Lymph-gefäße

Mamma-drüse re.

Tonsilla laryngis

45

15

Leber rechts

Th8 Th9 Th10

Auge

Hüfte

Th10

Th9

Th8

B0 B10

Leber rechts

Gallen-blase

Keimdrüse

Sinus cavernosus

Tonsilla palatina

43

13

Tonsilla palatina

Sinus cavernosus

Hypophysen-hinterlappen

Tonsilla tubaria

Thy-mus

Lunge rechts

L5 L4

C7 C6 C5 Th4 Th3 Th2

Auge

Stirnhöhle

41

11

Nebenniere

Analkanal Rectum

Tonsilla pharyngea

42

12

Tonsilla pharyngea

Analkanal Rectum

Epiphyse

Niere rechts

L3 L2 S5 S4 Co

32

22

Nebenniere

Analkanal Rectum

Tonsilla pharyngea

31

21

Tonsilla pharyngea

Analkanal Rectum

Epiphyse

Niere links

Fuß

Knie hinten

L3 L2 S5 S4 Co

Stirnhöhle

Fuß Stirnhöhle

Kreuzsteißbein

Knie hinten

S5 S4 Co

L3 L2

L3 L2 S5 S4 Co

Niere rechts

Stirnhöhle

Fuß

Knie hinten Kreuzsteißbein

S5 S4 Co

L3 L2

L3 L2 S5 S4 Co

Niere links

Blase re. urogenitales Gebiet Blase li. urogenitales Gebiet

Fuß

Knie hinten

Auge

Hüfte

Th10

Th9

Th8

B0 B10

Leber links

Gallengänge li

Keimdrüse

Sinus cavernosus

Tonsilla palatina

33

23

Tonsilla palatina

Sinus cavernosus

35

25

Kieferhöhle

Kiefer

Knie vorn

L1

Th12 Th11

B10 B11 L1

Milz

Magen links

gefäße

Lymph-

Mamma-drüse li.

Tonsilla laryngis

34

24

Tonsilla tubaria

Thy-mus

Lunge links

L5 L4

C7 C6 C5 Th4 Th3 Th2

Großzehe

Fuß

Hand radial

Ellbogen

Schulter

Siebbein-zellen

Hypophysen-hinterlappen

Leber links

Th8 Th9 Th10

Auge

drüse

Neben-schild-

37

27

Siebbein

Großzehe

fuß

Hand radial

Ohr

Zehen

Fuß plantar

Hand ulnar

S3 S2 S1

C8 Th7 Th6 Th5 Th1

H7 B1 B4 B5 S2 S3

Herz links

Jejunum Ileum links

Periphere Nerven

Energie-haushalt

Tonsilla lingualis

38

28

Tonsilla lingualis

Psyche

Zentrales Nervensystem

Hypophysen-vorderlappen

Jejunum Ileum li.

Herz links

S2 S1

Th7 Th6 Th5 S3

Th1 C8

Zehen

Fuß plantar

Hand ulnar

Ellbogen

Schulter

Innenohr

Schulter – Ellbogen

Th4 Th3 Th2 L5 L4

C7 C6 C5

H7 H6 H5 B4 B3 L 5 L4

Lunge links

Dickdarm links

Arte-rien

Tonsilla tubaria

Venen

36

26

Tonsilla laryngis

Mammadrüse links

Schild-drüse

Milz

Th12 Th11 L1

Knie vorn

Kieferhöhle

..      Abb. 13.1  Wechselbeziehungen der Odontone im Zahn-, Mund- und Kieferbereich zum übrigen Organismus. (Aus Kramer 1986, mit freundlicher Genehmigung)

Sinnesorgane

Gelenke

Rückenmark-segmente

46

16

Tonsilla tubaria

47

17

Tonsilla laryngis

H7 H6 H5 B4 B3 L 5 L4

Herz rechts

Schild-drüse

Mammadrüse rechts

drüse

Neben-schild-

Pankreas

Th12 Th11 L1

H7 B1 B4 B5 S2 S3

Yin

Wirbel

ileosacrales

Organe

Periphere Nerven

Endokrine Drüsen

Ileum rechts

Energie-haushalt

Sonstiges

Yang

Tonsilla lingualis

48

Tonsillen

18

Odonton

Tonsilla lingualis

Psyche

Zentrales Nervensystem

Hypophysen-vorderlappen

Duo-denum

Herz rechts

Th1 C8 Th7 Th6 Th5 S3 S2 S1

Großzehe

Fuß

Zehen

Hand radial

Ellbogen

Schulter

Siebbein-zellen

Hand ulnar

Knie vorn

Kiefer

Kieferhöhle

Fuß plantar

Odonton

Tonsillen

Sonstiges

Endokrine Drüsen

Yin Organe Yang

Wirbel

Rückenmark-segmente

Gelenke

Ellbogen

Schulter

Innenohr

13

Sinnesorgane

230 E. Wernhart-Hallas

13

231 Elektroakupunktur nach Voll

..      Abb. 13.2 Das Messprinzip der EAV (Kraßnigg 2008)

Messwertanzeige

EAV-Messgerät

Patientenhandelektrode

Therapeutenmessgriffel Akupunkturpunkt

Haut / Körper Stromfluss/ Messstrom

Ernährung, Resorption und Stoffwechsel werden für die therapeutischen Konsequenzen berücksichtigt. Die technische Entwicklung machte auch vor der EAV nicht Halt. Der Diatherapuncteur (7 Abschn. 13.1) war ein schweres Röhrengerät und daher nur in den Praxisräumen einsetzbar. Die Transistorisierung brachte kleinere und leistungsfähigere Geräte auf den Markt. Die Fa. Pitterling in München stellte das erste voll transistorisierte Gerät mit dem Namen „Dermatron“ her. Das Dermatron wurde später abgelöst von den Geräten SL-1 und SL-4 der Wiener Fa. Silberbauer, die durch die Fa. MBA vertrieben wurden. Heute hat sich die Elektronik derart weiterentwickelt, dass bereits die Testmedikamente im Computer gespeichert werden und auf Knopfdruck abgerufen werden können. Einzig bei strukturellen Problemen ist die EAV anderen Diagnostikmethoden unterlegen.  

13.3  Messung

Dr. Voll entwickelte ein Messgerät, das die Bestimmung des Hautwiderstands in Ohm auf einem Akupunkturpunkt anzeigt. Die EAV nutzt die Tatsache, dass sich Oberflächenpunkte der Akupunktur elektrisch anders verhalten als die

übrige Hautoberfläche (. Abb. 13.2). So verändert sich bei Druck der Messsonde auf die Haut der Messwert sehr stark. Bei den Messpunkten der EAV ändert er sich nur unwesentlich. Dieser sog. Plateaueffekt lässt sich reproduzieren. Der Anatom Dr. Hartmut Heine untersuchte die Struktur der Akupunkturpunkte und stellte fest, dass sie den Gefäßen und Nerven als Durchtrittsstellen vom Körperinneren nach außen dienen. Der Akupunkturpunkt hat somit eine anatomische Definition erhalten. Die Leitfähigkeitsbestimmung ist ein rein physikalischer Vorgang. Es kann nicht die Zelle des Erfolgsorgans des Akupunkturpunkts gemessen werden, sondern nur der interstitielle Raum  – das Grundsystem –, den der Wiener Histologe Prof. Dr. Alfred Pischinger als Transportweg zur Zelle definierte (7 Kap. 8). Elektromagnetische Schwingungen werden seit Mitte des vorigen Jahrhunderts auch bei EKG (Herz), EMG (Muskel) und EEG (Hirnstrommessung) angewandt, ebenso wie bei der mittlerweile zum medizinischen Alltag gehörenden MR(Magnetresonanz)-Untersuchung. Diese diagnostischen, nichtinvasiven Methoden werden seit Jahren erfolgreich angewendet. Dr. Voll und seine Mitstreiter entwickelten nicht nur diagnostische, sondern in weiterer Folge auch therapeutische Strategien. Dr. Voll fand auf der gesamten Körperoberfläche Punkte für Organe und Organsysteme. Basis dafür war  



232

E. Wernhart-Hallas

die fast 6000  Jahre alte Akupunkturlehre aus China, ein Teilgebiet der traditionellen chinesischen Medizin. Der Begriff „Akkupunkt“ wurde erst später von Pekinger Jesuitenmönchen geprägt und ist dem Lateinischen accus (Nadel) und punctura (Stich) entlehnt. Es stellte sich sehr schnell heraus, dass diese verschiedenen Punkte auf „Meridianbahnen“ lagen. Prof.  Dr. Bischko und Dr. Heine erforschten diese Punkte in den 1980er-­Jahren und stellten verschiedene Theorien dazu auf (Bischko 1970; Heine 1996). Dr. Siedentopf konnte mittels Magnetresonanz nachweisen, dass nach Behandlung der Akupunkturpunkte eine Aktivierung von Gehirnarealen zu erkennen war, die nur mithilfe der Meridiantheorie erklärbar war (Siedentopf et  al. 2004). Dr. Ludwig fand 1999 Zusammenhänge zwischen polarisierter Strahlung und Licht. Dr. Klaus Peter Schlebusch gelang es mittels Wärmebildkamera, die Meridianverläufe im Körper sichtbar zu machen und ihren Erregungszustand nachzuweisen. Jede Struktur hat ein charakteristisches elektromagnetisches Schwingungsmuster. Es ist möglich. dass Strukturen schwingungsfähiger Systeme zum Mitschwingen angeregt wer-

den können (z.  B. durch Medikamente). Dies wird therapeutisch genutzt. Man kann sich diese Schwingung wie ein Radio vorstellen – der Sender ist das Medikament, der Empfänger das Organsystem. >> Dr. VolIs Überlegungen führten ihn zur Erkenntnis, dass jede Erkrankung eine eigene Wellenfrequenz besitzt und dass Medikamente durch Interferenz diese Krankheitsschwingungen löschen können.

13.3.1  Gefäße

Dr. Voll nannte seine zusätzlich gefundenen Punkte und Punktablaufe „Gefäße“, um sie von den klassischen Meridianen abzugrenzen, und erkannte eine Hierarchisierung von Störungen. Er nannte sie 55 nervige Degeneration, 55 bindegewebige Degeneration, 55 fettige Degeneration und 55 organische Degeneration. Ebenso fand er Punkte auf der Außenseite des Mittelfingers, die für Allergien stehen (. Abb. 13.3).  

13 Lymphe

Muskel Fett Bindegewebe Haut Gelenke

Parenchym Allergie

Nerven Lunge

Blase Herz

Niere Gallenblase Magen

Leber

Pankreas Milz

Dünndarm Endokrinium

Kreislauf

Dickdarm

..      Abb. 13.3  Meridiane und Gefäßanfangs- bzw. -endpunkte an der Hand (a) und am Fuß (b). (Aus Kramer 1986, mit freundlicher Genehmigung)

233 Elektroakupunktur nach Voll

13

13.3.2  Messwert

Die Messwerte werden auf einer Skala von 0–100 angezeigt, wobei der ideale Wert, auch Normalwert genannt, bei 50 liegt. Dies entspricht einem Widerstand von 92 kΩ (Kilo-­Ohm). Werte zwischen 90 und 100 weisen auf ein entzündliches Geschehen hin; dies ist als Reizzustand zu werten. Werte < 50 werden als Stase oder Starre bzw. Energiemangel bezeichnet, an denen die Regulationsfähigkeit nicht mehr in dem gewünschten Ausmaß gegeben ist. Jeder Zeigerabfall weist auf eine Funktionsstörung hin. Ein Zeigerabfall bedeutet einen instabilen Messwert und zeigt eine Pathologie an. Auch schmerzhafte Punkte dienen der diagnostischen Information. >> Ziel jeder Behandlung ist es, einen idealen Messwert von 50 zu erhalten. Jede Messung ist einmalig und zeigt den aktuellen Ist-Zustand an.

13.3.3  Ablauf

Die Messung selbst erfolgt im Sitzen mithilfe eines befeuchteten Griffels, der durch eine positiv geladene Punktelektrode auf den Akupunkturpunkt trifft. Die Erfahrung zeigt, dass der eigentliche Punkt ca. 4  mm unter der Haut sitzt. Daher sollte ein Druck von ca. 400  Pond (3,92  Newton) auf den Akupunkturpunkt ausgeübt werden. Der Patient hält einen Messingzylinder in der Hand, der als negativ geladene Elektrode dient. Gemessen wird nicht ein Organ oder eine Zelle, sondern die Art, in der das System auf den Reiz reagiert (. Abb. 13.4).  

13.4  Resonanztest

Die Wichtigkeit von Kopf- und Zahnherden wurde durch Messungen vor und nach Zahnextraktionen gefunden. Der Resonanztest wurde entdeckt.

..      Abb. 13.4  Praktisches Vorgehen. (© Dr. M. Bauer, Wien, mit freundlicher Genehmigung)

Durch derartige Messungen konnten Dr. VolI und Dr. Kramer bald eine Hierarchisierung der Störungen feststellen. Auch Dr. Rossaint (praktischer Arzt und Zahnarzt, Aachen) half bei der Erstellung neuer Tabellen mit. Nach Dr. Baisch müssen Ying und Yang ausgeglichen sein, um weitere Therapien zu ermöglichen. Gefunden wurden als Herde in erster Linie geopathische Belastungen, zahnärztliche Werkstoffe, Herde, Infekte und Impfstörungen. Es konnte z.  B. mit Silicea D60 auf dem Milz-­ 4a-­ Punkt ein Ausgleich (Messwert  50) für Geopathien erzielt werden. 13.5  Herdtest

Mit unzähligen Tests erkannte Dr. Voll eine Verbesserung der Organsysteme nach Extraktion von wurzelbehandelten Zähnen – die Herdtestung war entdeckt. Es wurden oft die verschiedenen Abschnitte der Zähne als Störfaktoren identifiziert, und die Diagnose war gegeben. Für Dr. Voll waren die Odontone nicht nur der Zahn, die Schleimhaut, der Knochen, sondern auch Pathologien in diesen Regionen. Jeder Zahn steht mit dem gesamten Organismus in vernetzter Verbindung. Dieser zeigt wiederum regulative Wirkungen auf einen Zahn. Befindet sich nun ein Störfeld oder ein Herd auf einem bestimmten Zahn, kann dies der Auslöser für weitere Erkrankungen sein,

234

E. Wernhart-Hallas

wie z.  B, Herzrhythmusstörungen, Migräne, Blutveränderungen, Nierenbelastungen, Gelenkschmerzen, Lymphbelastungen oder immer wiederkehrende Infektionen. Diese Störfelder und ihre Zusammenhänge können in verschiedenen Testverfahren eruiert werden. Störfeld - Ein Störfeld liegt dann vor, wenn die Ordnungstendenz im Organismus blockiert ist. Es besitzt eine Fernwirkung ohne Gesetzmäßigkeit, ist ein energetisch nicht integrierter Teil des Organismus, der zur Quelle funktioneller Störungen wird. Endogene Störfelder in der ganzheitlichen Zahnheilkunde sind alle Störfelder, die vom Mund-, Zahn- oder Kieferbereich selbst ausgehen, während exogene Störfelder im Wesentlichen ein Werkstoffproblem darstellen. Bei Unverträglichkeiten kann eine Vielzahl von Problemen auftreten: Zahnfleischentzündungen, Parodontose, Allergien, Organstörungen etc. Herd - Ein Herd ist ein chronisch veränderter Gewebebezirk im Bindegewebe, der aus organischem oder anorganischem Material besteht und über die Entzündung oder Nekrose nicht abbaubar ist. Aus einem abgeschlossenen Herd sickern Erreger in den Körper, teils hämatogen, bevorzugt aber lymphogen. Ein Herd bewirkt eine Fernwirkung in Richtung des Meridians. 80 % der Herde befinden sich im Kopfbereich (Zähne, Kieferknochen, Mandeln, Nebenhöhlen, Ohren etc.).

13

Durch einen Herd wird die Abwehrschranke durchbrochen, und die klassischen Zeichen einer akuten Entzündung – Schwellung, Schmerz, Rötung – werden nicht erfüllt. So reagiert der Körper erst dann, wenn eine Zusatzbelastung in Form von Stress, Infektion oder Materialstörung dazukommt. Dies konnte auch mittels der EAV-Testung ermittelt werden. 13.6  Mesenchymreaktivierung­skur

In Experimenten untersuchte Dr. Voll über mehrere Jahre Organpräparate, Homöopathie und Nosoden. Homöopathika - Nach einem homöopathischen Zubereitungsverfahren aufbereitete verschüttelte Pflanzenteile, Mineralien, Tiere, Allopathika. Prinzipiell kann alles verschüttelt werden.

Organpräparate - Homöopathisch aufbereitete Organe biologisch gezüchteter Kälber (Fa. Wala) oder

Schweine (Fa. Heel). Sie unterstützen die Funktion der Organe.

Nosoden - Homöopathisch aufbereitete Keime und Krankheitsprodukte oder Erreger (Sputum, Eiter, Tumore etc.).

Jede Entzündung erzeugt Antigene (Heteroantigene: z. B. Bakterientoxine, Autoantigene: körpereigene Moleküle, z.  B.  Eiweiß zerfallender Zellen). Diese können im Körper allergisch-hyperergische Reaktionen veranlassen. Die Nosodentherapie führt nach Dr. Voll die Hyperergie in Normergie zurück, sie wandelt Dysreaktivität in Normoreaktivität, Dysionie in Euionie, Dysosmose in Euosmose und Gel in Sol um. Toxinbelastungen verlangsamen die Lymphströmung; Dr. Voll fand, dass jeder toxische Reiz des 20. DD-Punkts über den 13. Lymphgefäßpunkt sofort zum Hypothalamus, dem 20-3E und weiter zum Sympathikus und zur Hypophyse gelangt. Die Folge sind Durchblutungsstörungen, zerebrale Hypoxie und z.  B.  Mi­ gräne. Die Immunmodulation mit Nosoden ist als ergänzender Ansatz der Therapie zu werten. 13.7  Studien, Evidenzlage

Im Allgemeinen erfordert die EAV-Methode sowohl im Bereich der Diagnostik als auch der Therapie einen individuellen Zugang der anwendenden Ärzte. Neben dem begrenzten organisatorischen Rahmen der einzelnen Fachgesellschaften mag dies einer der Gründe dafür sein, dass Wirksamkeitsnachweise in Form von kontrollierten Studien in diesem Bereich der Erfahrungsheilkunde fehlen. 13.8  Ausbildung

Die IMGEAV (Internationale Medizinische Gesellschaft für Elektroakupunktur nach Voll e. V.) bietet in Seminaren eine EAV-Ausbildung an. Satzungsgemäß können nur Ärzte und Zahnärzte am Ausbildungsprogramm der IMGEAV

235 Elektroakupunktur nach Voll

teilnehmen. Das Programm ist für Ärzte und Zahnärzte gleich; jeder Kurs dauert 1,5 Tage. 55 Kurs 1: Einführung in die Methodik 55 Kurs 2: Vertiefung von Kurs 1 55 Kurs 3: Wiederholung der Kurse 1 und 2 55 Kurs 4: Komplexe Krankheitsbilder und diagnostische, therapeutische Herangehensweise 55 Für den Erhalt des Diploms: Rekapitulationskurs 5 und Diplomprüfung zz Link

Internationale Medizinische Gesellschaft für Elektroakupunktur nach Voll e. V. (IMGEAV): 7 https://www.­eav.­de/  

Zusammenfassung 55 Der praktische Arzt Dr. Voll war Vorreiter einer ganzheitlichen Diagnostik und Therapie. 55 Bei der Elektroakupunktur (EAV) nach Voll handelt es sich um ein ganzheitliches Dia­ gnose- und Therapiesystem. 55 Die Methode der EAV ermöglicht viele Differenzialdiagnosen. 55 Es erfolgt die Bestimmung des Hautwiderstands in Ohm auf einem Akupunkturpunkt. 55 Auf Dr. Voll geht die Entwicklung von Medikamententests zurück, und im Zusammenhang mit Kopf- und Zahnherden entdeckte er die Herdtestung.

Literatur Gleditsch J (1984) Mundakupunktur  – ein Schlüssel zum Verständnis der regulativen Funktionssysteme. Biologisch-Medizinische Verlagsgesellschaft, Schorndorf

13

Kobau C (1998) Ganzheitliche und naturheilkundlich orientierte Zahnmedizin. Semmelweis, Hoya Lechner J (1986) Herd, Regulation und Information. Haug, Stuttgart Pietschmann H (1995) Das Ende des naturwissenschaftlichen Zeitalters. Weitbrecht, Stuttgart Pischinger A (1986) Das System der Grundregulation. Haug, Stuttgart Rondé G (1998) Reinhold Voll 1909–1989: Arzt  – Forscher  – Lehrer: Elektroakupunktur nach Voll  – ein ganzheitliches Diagnose- und Therapiesystem. Mediengruppe Oberfranken, Bamberg Rossmann H (1994) Kompendium der EAV nach Voll. Haug, Stuttgart Ruf I (1995) Atlas der Elektropunktur nach Voll. Mediengruppe Oberfranken, Bamberg Sheldrake R (1993) Das Gedächtnis der Natur. Piper, München Stossier H (Hrsg) (2003) Ganzheitlich behandeln. Verlagshaus der Ärzte, Wien Thomson J (1985) Odontogene Herde und Störfaktoren. Medizinisch Literarische Verlagsgesellschaft, Uelzen Voll R (1976) Medikamententestung, Nosodentherapie, Mesenchymreaktivierung. Medizinisch-­ Lite­ rarische Verlagsgesellschaft, Uelzen Voll R (1987) Kopfherde. Mediengruppe Oberfranken, Bamberg Werner F, Voll R (1996) Elektroakupunktur-Fibel, 6. Aufl. Medizinisch Literarische Verlagsgesellschaft, U ­ elzen Weiterführende Literatur Bischko J (1970) Einführung in die Akupunktur. Haug, Stuttgart Heine H (1996) Der Akupunkturpunkt  – ein Meridianorgan. Dt Z Akupunktur 39:75–80 Kramer F (1986) Lehrbuch der Elektroakupunktur, Bd II. Haug, Heidelberg, S 103–104, 129 Kraßnigg R (2008) Was ist EAV? Komplement Integr Med 49(5):7–13 Siedentopf CM, Golaszewski SM, Mottaghy FM et  al (2004) Die funktionelle Magnetresonanztomographie. Dt Z Akupunktur 47(3):6–13

237

Spezielle TAM-Diagnostik Gertrude Kubiena, Florian Ploberger und Lothar Krenner 14.1

TCM-Diagnostik – 238

14.1.1 14.1.2 14.1.3

 iagnostik mit den Sinnesorganen – 238 D Spezialmethode Zungendiagnostik – 240 Spezialmethode Pulsdiagnostik – 240

14.2

Diagnostische Verfahren in der tibetischen Medizin – 241

14.2.1 14.2.2 14.2.3

 iagnose durch Betrachtung – 241 D Diagnose durch Berührung – 243 Diagnose durch Befragung – 246

14.3

Ayurveda-Diagnostik – 246

14.3.1 14.3.2 14.3.3 14.3.4

 rundlagen – 246 G Pulsdiagnose (Nadi vigyan) – 247 Zungendiagnose (Jiwha) – 248 Unterschiedliche Arten der Untersuchung – 248

Literatur – 250

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_14

14

238

G. Kubiena et al.

14.1  TCM-Diagnostik

Gertrude Kubiena 14.1.1

 iagnostik mit den D Sinnesorganen

Die folgenden Ausführungen zur chinesischen Diagnostik sind selbstverständlich nur Streiflichter einer faszinierenden Methode. >> Niemals wird ein Befund isoliert betrachtet, sondern jeder Befund ist sozusagen als Teil eines Puzzles anzusehen, durch dessen Gesamtbetrachtung eine brauchbare Diagnose zustande kommt.

Die traditionelle chinesische Medizin gebraucht für die Diagnostik  – entsprechend ihrer Entstehungszeit – ausschließlich die Sinnesorgane. Im Großen und Ganzen handelt es sich um vier Methoden: 55 Sehen – Inspektion, 55 Hören und Riechen, 55 Palpation, 55 Zuhören – Anamnese. kYang-Mangel/Yin-Überschuss

14

Yang-Mangel führt zu relativem Überwiegen von Yin, also zu Blässe, leichtem Kältegefühl/ Frösteln, Müdigkeit, z.  B. nach einem Nachtdienst. Zudecken und warme Getränke beheben das Frösteln. Im Gegensatz dazu verursacht ein absoluter Yin-Überschuss durch Eindringen des äußeren pathogenen Faktors Kälte heftiges Frösteln oder sogar Schüttelfrost zu Beginn eines Infekts. Zudecken hilft nur wenig. kYin-Mangel/Yang-Überschuss

Yin-Mangel führt zu relativem Überwiegen von Yang, also zu leichter Rötung, beispielsweise nur der Wangen, Hitzegefühl/Hitzewallungen, Nachtschweiß, subfebriler Temperatur, v. a. nachmittags, und Durst ohne ausgeprägten Trinkwunsch. Die Patienten sind hyperaktiv, aufgekratzt, aber ohne Durchhaltevermögen. Der

Puls ist leicht beschleunigt. Im Gegensatz dazu finden sich bei absolutem Yang-­ Überschuss, wie bei einem blühenden Infekt, ausgeprägte Rötung, z. B. des ganzen Gesichts, hohes Fieber, stark beschleunigter Puls, Schwitzen und großer Durst mit Trinkwunsch. >> Ein Mangel an Yin kann Yang-Symptome hervorrufen und vice versa. Allerdings sind Mangel-Syndrome meist schwächer ausgeprägt als Fülle-Syndrome.

Sehen Die Inspektion vermittelt bereits auf den ersten Blick einen Eindruck der Gesamterscheinung und der Vitalität des Patienten (Konstitution, Körperbau und Qi). Besonders beachtet wird des Weiteren die Farbe von Gesicht, Lippen und Zunge. Zungendiagnostik ist ein spezielles Kapitel der TCM (7 Abschn. 14.1.2). Grundsätzlich geben die Farben bestimmte Hinweise: 55 Weiß/blass: Kälte oder Yang-Mangel, 55 Rot: Hitze, wobei es auf den Grad der Röte ankommt – ausgeprägtes Rot entsteht durch Anwesenheit des Pathogens Hitze, helles oder blasses Rot weist auf Mangel-­ Hitze hin, 55 Blau/zyanotisch oder livider Touch: BlutStase, Kälte.  

Hören und Riechen kHören

Gehört werden kann die Stimme, der Atem und evtl. der Husten. Ist die Stimme laut und kräftig, die Atmung hörbar rasselnd und der Husten bellend bis gurgelnd, so handelt es sich wahrscheinlich um ein Fülle-Syndrom. Ist die Stimme leise, der Atem flach-hechelnd und der Husten mehr ein kraftloses Hüsteln, so weist dies auf ein Mangel-Syndrom hin. kRiechen

Es geht darum, ob überhaupt ein Geruch wahrnehmbar ist oder nicht. Intensiver Gestank entsteht nicht in der Kälte, sondern durch Hitze,

14

239 Spezielle TAM-Diagnostik

insbesondere wenn Feuchtigkeit dazukommt. Intensiv stinken können Atem, Schweiß, Auswurf, Nasensekret, Urin, Stuhl, Fluor, Menstruationsblut. Beispiele: 55 Halitosis (Mundgeruch): entsteht bei Magen-Hitze/-Feuer, 55 Gestank von Schweiß, Urin, Stuhl, Fluor, Menstruationsblut: feuchte Hitze; 55 ungewöhnliche Gerüche: 55Mundgeruch nach Azeton, faulen Äpfeln: Diabetes, 55Körpergeruch nach Urin: Erschöpfung des Organ-Qi (zang und fu).

Palpation Damit lassen sich zunächst die Haut und die darunter liegenden Schichten begutachten: kalt, heiß, trocken, feucht. Palpationsbefunde 55 Anfangs sehr heiß, langsame Abkühlung unter der Untersuchung: oberflächliche Hitze 55 Anfangs nicht heiß, aber während der Untersuchung immer heißer werdend: innere Hitze 55 Kalt: Yin-Fülle (sehr kalt) oder Yang-­ Mangel 55 Glieder kalt, Rumpf heiß: Pseudo-Kälte; innere Yang-Fülle treibt Yin nach außen 55 Fingerdruck bleibt bestehen: Ödem 55 Furunkel, hart, aber nicht heiß: Yin-Muster 55 Furunkel, heiß, roter Rand, druckschmerzhaft: Yang-Muster

Wichtig ist u. a. die Palpation der Haut auf dem Rücken entlang des Blasen-Meridians: regionale Verquellungen oder besondere Weichheit verweisen auf Störungen im Segment (Wirbelsäulenprobleme), manchmal auch auf Pro­ bleme der inneren Organe. Eine palpatorische Spezialmethode ist die Pulsdiagnostik (7 Abschn. 14.1.3).  

Anamnese 55 Die ausführliche Befragung ist sicherlich ein besonders wichtiger Faktor in der Arzt-Patient-Beziehung. Der Patient fühlt sich ernst genommen, und der Arzt bekommt eine Menge wertvoller Informationen. Zuerst wird gefragt nach 55aktuellen Beschwerden, 55Art und Zeitpunkt des ersten Auftretens (beispielsweise von Schmerzen) und 55danach, welche Zusammenhänge der Patient selbst vermutet (besonderes Ereignis, Überanstrengung, Infekt, psychische Belastung, Emotionen etc.). 55 Es schließen sich Fragen an nach 55Vorerkrankungen, 55aktueller Medikation 55danach, was dem Patienten angenehm ist und was nicht (warm, kalt, feucht, trocken, Wind etc.), 55Appetit/Lust auf einen bestimmten Geschmack, 55Stuhl, 55Harn, 55Zustand von Sinnesorganen (Hören, Sehen, Riechen etc.), 55Gedächtnis, 55Energie, 55Psyche, 55ursprünglichem Temperament. 55 Bei Frauen ist die Frage nach Geburten und Menstruation wesentlich, 55 bei Männern nach Potenzproblemen. Nach Beendigung der Befragung werden Zunge und Puls begutachtet (7 Abschn.  14.1.2 und 14.1.3).  

>> Es ist wichtig, die erhobenen Befunde mit Datum zu archivieren. Wenn die Beschwerden behoben sind, vergessen viele Patienten beispielsweise Begleitsymptome, wie z. B. einen Tinnitus.

Im Internet sind zahlreiche Vorschläge für Anamnese-Listen verfügbar. Auf Anfrage kann eine derartige Liste auch über die Autorin bezogen werden.

240

G. Kubiena et al.

14.1.2

Spezialmethode ­Zungendiagnostik

Die Zunge ist ein relativ verlässlicher Indikator für bereits länger bestehende Probleme. Soeben erst stattgehabte Infektionskrankheiten zeigen sich nicht sofort am Zungenbild. Zu beachten sind Zungenbelag und Zungenkörper. kZungenbelag

Dieser zeigt mit seiner Dicke die An- oder Abwesenheit pathogener Faktoren an, mit seiner Farbe deren Natur. Zungenbelag: Befunde 55 Fehlend: Yin- und Qi-Mangel 55 Dünn: normal oder Mangel 55 Dick: Anwesenheit eines pathogenen Faktors bzw. einer Nahrungsstagnation 55 Weiß, dünn: normal, Mangel oder Beginn eines Infekts (noch keine Zeit zur Veränderung) 5 5 Weiß, dick: pathogener Faktor Kälte, wenn zusätzlich feucht, dann zusätzlich pathogener Faktor Feuchtigkeit 55 Gelb: Hitze 55 Gelb, dick: Fülle-Hitze 55 Gelb, dünn: Mangel-Hitze

14

55 Schwarz, trocken: extreme Hitze 55 Schwarz, feucht: extreme Kälte (z. B. Befall mit Aspergillus niger nach Antibiotikaeinnahme)

kZungenkörper

Dieser transportiert Informationen über den Zustand von Qi, Blut, Körpersäften und eventuell über betroffene Organe. 14.1.3

Spezialmethode Pulsdiagnostik

Die Pulsdiagnostik liefert eine Momentaufnahme, ähnlich wie eine Blutdruckmessung. Deshalb sollte diese erst durchgeführt werden, wenn der Patient sich an die Situation in der Arztpraxis gewöhnt hat. Differenzierte Pulsdiagnostik ist Erfahrungssache, aber einige Parameter sind für jedermann einfach zu beurteilen (. Tab. 14.1).  

Zusammenfassung 55 Befunde werden nicht isoliert betrachtet, sondern jeder Befund ist als Teil eines Puzzles anzusehen, durch dessen Gesamtbetrachtung eine brauchbare Diagnose zustande kommt.

..      Tab. 14.1  Pulsqualitäten nach den 8 Prinzipien Pulsqualität

Diagnose

Pathomechanismus

Oberflächlich

Außen (nur wenn kräftig, überflutend)

Äußerer pathogener Faktor oder Hochsteigen von Yang durch mangelnden Yin-­Gegenhalt

Tief

Innen

Innen

Beschleunigt

Hitze

Hitze kurbelt an

Verlangsamt

Kälte

Kälte bremst

Kräftig, verlängert (an mehr als 3 Pulstaststellen palpierbar)

Fülle

Überschüssige Kräfte

Kraftlos, verkürzt (weniger als 3 Pulstaststellen), fadendünn

Mangel

Mangelnde Kräfte/Säfte

241 Spezielle TAM-Diagnostik

55 Die Parameter rot, beschleunigt, warm/heiß, kräftig, stark ausgeprägt, nicht übersehbar und „zu viel“ sind Yang-Qualitäten. 55 Die Parameter weiß/blass, verlangsamt, kühl/ kalt, kraftlos, schwach ausgeprägt, leicht zu übersehen und „zu wenig“ sind Yin-Qualitäten. 55 Ein Mangel an Yin kann Yang-Symptome hervorrufen und vice versa. Allerdings sind Mangel-­Syndrome meist schwächer ausgeprägt als Fülle-Syndrome.

14

55 Bei mkhris pa-Störungen hat sie einen dicken gelblichen Belag. 55 Bei bad kan-Störungen einen weißlichen klebrigen Belag von matter, glatter und feuchter Beschaffenheit. Die Zunge eines gesunden Menschen besitzt eine rote Farbe; darüber hinaus ist sie glatt, feucht und gut beweglich. zz Urindiagnostik

14.2  Diagnostische Verfahren

in der tibetischen Medizin

Florian Ploberger Die Diagnosemethoden der tibetischen Medizin werden in drei Gruppen eingeteilt: 1. Betrachtung (einschließlich Zungen- und Urindiagnostik), 2. Berührung (einschließlich Pulsdiagnose), 3. Befragung. 14.2.1

Diagnose durch Betrachtung

Die allgemeine visuelle Diagnose besteht aus der Untersuchung folgender Körperteile und -merkmale: 55 Teint, 55 Farbe und Beschaffenheit des Blutes in Speichel, Erbrochenem, Urin, Stuhl, 55 Nägel, 55 Speichel, 55 Stuhl, 55 Körperbau, 55 körperliche oder sonstige Auffälligkeiten. zz Zungendiagnostik >> Dem Zustand der Zunge des Patienten wird besonderes Augenmerk geschenkt.

Die Zunge steht mit Krankheiten folgendermaßen in Beziehung: 55 Bei rlung-Störungen ist die Zunge rötlich, trocken und rau.

>> Urin reflektiert wie ein Spiegel die Merkmale von gesundheitlichen Störungen. Deshalb ist die Urinuntersuchung in der tibetischen Medizin eine der wichtigsten Dia­ gnosemethoden. Ein erfahrener Arzt kann damit fast alle Krankheiten erkennen.

kVoraussetzungen

Für Arzt und Patienten gibt es gewisse Voraussetzungen, die am Tag vor der Urindiagnostik eingehalten werden müssen. Beispielsweise hat der Patient in der Nacht vor der Untersuchung Folgendes zu beachten: Verhaltensregeln vor einer Urinuntersuchung Zu vermeiden sind: 55 Ein Übermaß an Tee, Kaffee und sonstigen Getränken 55 Buttermilch und zu viel Süßes 55 Wein, Bier, sonstiger Alkohol* 55 Üppige, würzige und ölige Speisen* 55 Geschlechtsverkehr 55 Zu wenig Schlaf* 55 Große körperliche Anstrengung* 55 Mentaler oder emotionaler Stress* 55 Vitamine, Mineralstoffe und Medikamente, die die Farbe des Urins verändern * Die mit Sternchen bezeichneten Punkte hat auch der Arzt zu meiden.

Der Patient muss den ersten Morgenharn in der Mitte des Harnlassens sammeln (Mittelstrahlurin). Es sollte kein Harn zur Analyse

242

G. Kubiena et al.

herangezogen werden, der durch abends eingenommene Speisen oder Getränke verändert wurde (erster Harn nach dem Essen). So benötigt z. B. eine würzige Mahlzeit, die zwischen 8 und 9  Uhr abends eingenommen wurde, 3–4  Stunden zur Verdauung. Die durch die Speisen aufgenommenen Nahrungsessenzen beeinflussen naturgemäß den körperlichen Zustand und den zu dieser Zeit abgegebenen Urin. >> Wenn der Patient die Merkmale eines würzigen Mahls nicht vollkommen abgebaut hat, könnte eine „heiße“ Störung diagnostiziert werden. Alle Patienten, die einen Arzt das erste Mal aufsuchen, werden auf diese Umstände aufmerksam gemacht.

Vorgeschriebene Prozedur kUrsprung von Sedimenten

Die Sedimente des Harns stammen ursprünglich aus dem Blut und den mkhris pa-­Organen Leber und Gallenblase, welche dem Körper Hitze zuführen. Je höher die Körpertemperatur ist, desto mehr Sediment wird im Urin sichtbar. Sinkt die Körpertemperatur, nehmen auch die Sedimente ab. Die Intensität der Sedimente hängt also von der Körpertemperatur ab. kUhrzeit der Urindiagnostik

14

Der Urin wird im Tageslicht untersucht. Er darf nicht bei elektrischem Licht analysiert werden, da dieses die Farbe des Urins verändert. Nur im Tageslicht kann der Arzt die Farbintensität, den Dampf und die Sedimente des Urins richtig feststellen. kGefäß zum Sammeln des Urins

Der Harn wird zur Untersuchung in ein auf der Innenseite weißes Gefäß gegossen, damit die Farbe eindeutig erkennbar ist. Das Gefäß muss frei von jeder Verunreinigung sein; es sollte nicht aus Ton, Kupfer, Eisen oder einem anderen Material sein, das die Farbe des Urins verändert. Der Harn wird mit Stäbchen umgerührt, damit Veränderungen leichter beobachtet werden können.

Gesunder Urin Eigenschaften von Urin bei Gesunden 55 Klare hellgelbe Farbe 55 Dampf von mäßiger Intensität und Dauer 55 Mittelgroße Bläschen bei kräftigem Umrühren 55 Helle und gut verteilte Sedimente 55 Schaum wie Quellwasser 55 Während der Dampf sich verflüchtigt, verschwinden die Bläschen, an der Peripherie beginnend konzentrisch bis zur Mitte 55 Die Farbe wird nach dem Umrühren weißgelb

kUrin, der Hinweise auf eine Krankheit gibt

Wenn die Eigenschaften nicht denen eines Urins von Gesunden (s. oben) entsprechen, wird er als Hinweise auf eine Krankheit interpretiert. Diese Unterscheidung wird wie folgt erläutert: kAllgemeine Merkmale

Der Harn ist bei drei verschiedenen Temperaturen zu untersuchen: warm, lauwarm und kalt. Der Arzt untersucht den frischen Urin nach Farbe, Dampf, Geruch und Bläschenbildung. Sedimente und Schaum werden beim lauwarmen Harn untersucht. Nach dem Abkühlen werden schließlich Zeitpunkt von Veränderungen, Art der Veränderungen und veränderte Merkmale festgehalten. Einige dieser Eigenschaften und die zugehörigen Krankheiten sind in . Tab. 14.2 aufgeführt.  

kSpezielle Merkmale

Der Schwerpunkt liegt hier auf Merkmalen, die als Hinweise für Hitze-, Kälte-, rlung-, mkhris pa- und bad kan-Krankheitsbilder gelten. Störungsspezifische Merkmale von Harn 55 Hinweise auf eine Hitze-Störung: –– Rote oder gelbe Farbe –– Trüb mit faulem Geruch –– Anhaltender starker Dampf –– Rasch verschwindende kleine gelbliche Bläschen

14

243 Spezielle TAM-Diagnostik

55

55

55

55

–– Dicker Schaum –– Zur Mitte hin treibendes dickes Sediment –– Bräunlich und trüb vor dem Abkühlen und vor dem Verschwinden des Dampfes Hinweise auf eine Kälte-Störung: –– Weißliche oder leicht bläuliche Farbe bei klarem Urin –– Schwacher Dampf und Geruch –– Große Bläschen, die langsam verschwinden –– Zarte Sedimente und wenig Schaum –– Nach dem Abkühlen bläulich und klar Hinweise auf eine rlung-Störung: –– Weißlich-blaue Farbe wie Wasser –– Große Bläschen beim Umrühren Hinweise auf eine mkhris pa-Störung: –– Gelblich-rote Farbe mit viel Dampf –– Übelriechend und rasch verschwindende kleine Bläschen Hinweise auf eine bad kan-Störung: –– Weiß mit deutlichem Geruch –– Speichelähnliche Bläschen

..      Tab. 14.2 (Fortsetzung) Merkmal

Ausprägung

Störung

Bläschen

Groß

rlung

Klein

mkhris pa

Speichelähnlich

bad kan

Wie Haare

rlung

Wie ein im Wasser schwimmender Baumwollfaden

mkhris pa

Wie Haarspitzen

bad kan

Verstreut

rlung

Dick

mkhris pa

Dünn

bad kan

Der anfangs klare Urin wird noch vor dem Verschwinden des Dampfes trüb

Heiß

Der anfangs trübe Urin wird nach Verschwinden des Dampfes klar

Kalt

Die Veränderung beginnt in der Mitte des Bodens und steigt wie kochendes Wasser auf

Heiß

Die Veränderung beginnt an den Rändern des Gefäßes und setzt sich zur Mitte fort

Kalt

Trüber als zuvor

Heiß

Klarer als zuvor

Kalt

Sedimente

Schaum

Zeitpunkt der Veränderung

Art der Veränderung ..      Tab. 14.2  Merkmale des Harns und zugehörige Störungen Merkmal

Ausprägung

Störung

Farbe

Bläulich wie Quellwasser

rlung

Gelb

mkhris pa

Weiß

bad kan

Flüchtig

rlung

Dick und anhaltend

mkhris pa

Leicht, rasch verschwindend

bad kan

Nach unverdauter Nahrung

rlung

Faul

mkhris pa

Schwach

bad kan

Dampf

Geruch

Merkmale nach dem Abkühlen

14.2.2

Diagnose durch Berührung

Die Diagnose durch Berührung erstellt der Arzt, indem er verschiedene Stellen des Körpers mit der Hand befühlt. Er kann auf diese Art die Körpertemperatur oder das Ausmaß einer Zyste oder sonstiger anomaler Wucherungen feststellen. Das empfindsame Ertasten

244

G. Kubiena et al.

gewisser Körperstellen gibt Aufschluss über Zusammenhänge und Ursachen kleinerer oder größerer „Ungereimtheiten“. zz Lehre von der Pulsdiagnostik

Das gründliche Studium der Pulsdiagnostik nimmt in der Praxis der tibetischen Medizin einen hohen Stellenwert ein. Den entsprechenden Erläuterungen werden im letzten Tantra des rgyud bzhi 13  Kapitel eingeräumt. Dieses letzte Tantra des rgyud bzhi trägt den Titel Nachfolgendes Tantra. Im vorliegenden Beitrag sollen drei Abschnitten genügen: die Voraussetzungen, die Arzt und Patient erfüllen müssen, und die vorgeschriebene Prozedur der ­Pulsuntersuchung.

kVoraussetzungen

14

Arzt und Patient müssen einen Tag vor der geplanten Untersuchung bestimmte diätetische Vorschriften und Verhaltensregeln einhalten. Der Patient soll weder Alkohol, Fleisch, kalte Speisen noch unreife Früchte mit stark wärmender oder kühlender und daher schwer verdaulicher Wirkung zu sich nehmen. Ein Übermaß an Essen, Trinken, Sprechen, Fasten und Geschlechtsverkehr sind genauso verboten wie alles andere, das den aktuellen Krankheitszustand verändern könnte. Arzt und Patient dürfen sich vor der Untersuchung keinerlei körperlichem oder geistigem Stress aussetzen und sollen eine gute Nachtruhe einhalten. >> Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann eine richtige Diagnose gestellt werden.

Während der Untersuchung sollen Atmung, Körpertemperatur und Pulsschlag des Arztes normal sein. Um eine Fehldiagnose zu vermeiden, muss der Patient vollkommen entspannt sein. Der Puls darf nicht nach körperlicher Anstrengung oder intensiver Sonnenbestrahlung untersucht werden, da Atmung, Körpertemperatur und Puls dadurch beeinflusst werden.

Vorgeschriebene Prozedur kZeitpunkt der Pulsdiagnostik

Der Morgen ist der ideale Zeitpunkt zur Untersuchung des Pulses. Idealerweise sollte der Patient weder extrem heiße noch extrem kalte Luft im Vergleich zur Temperatur des Schlafzimmers eingeatmet, und auch keine Speisen und Getränke zu sich genommen haben. Atmung und Puls sollten entspannt sein. kStelle, an der die Pulsdiagnostik durchgeführt wird

Der Puls wird genau an der A. radialis palpiert. Der Arzt legt Zeige-, Mittel- und Ringfinger der rechten Hand auf die A. radialis der linken Hand des Patienten. Der untersuchte Abschnitt bis zur ersten Handgelenksfalte entspricht der Länge zwischen dieser Falte und dem letzten Fingergelenk des Daumens. Die Finger des Arztes dürfen weder zu eng zueinander noch zu weit auseinander platziert sein. kDruckausübung

Wie viel Druck der Arzt mit seinen Fingern ausübt, ist wichtig: Der Zeigefinger liegt leicht auf, um die Haut zu spüren. Der Mittelfinger drückt etwas fester, um den Muskel zu erfühlen. Mit dem Ringfinger wird am meisten Druck ausgeübt, um den Knochen zu tasten. kMethoden der Pulsdiagnostik

Zum Zeitpunkt der Pulsuntersuchung müssen die Finger des Arztes gleitend, biegsam, empfindsam und genauso warm wie der Unterarm des Patienten sein. Bei einem Mann wird das linke Handgelenk zuerst untersucht, bei einer Frau das rechte, danach des jeweils andere. >> Zu beachten ist, dass bei Frauen die dem Zeigefinger zugeordneten Organentsprechungen jeweils am anderen Handgelenk untersucht werden als bei Männern.

Bei Frauen untersucht demnach die linke Hand des Arztes unter dem Zeigefinger Herz und Dünndarm, die rechte Hand Lunge und Dickdarm. Die den anderen Fingern zugeordneten Organentsprechungen sind bei Mann und Frau gleich. Diese Unterscheidung ist notwendig, da

14

245 Spezielle TAM-Diagnostik

..      Tab. 14.3  Tibetische Pulsdiagnostika A. radialis

Vollorgan

Hohlorgan

Kosmisch

Jahreszeit

Arzt

(obere Platzierung)

(untere Platzierung)

Energie

Puls

Tage

Frau

Rechter Zeigefinger

Lunge

Dickdarm

Metall (Raum)

Herbst

72

Mann

Rechter Zeigefinger

Herz

Dünndarm

Feuer

Sommer

72

Beide Geschlechter

Rechter Mittelfinger

Milz

Magen

Erde

Übergang

18

Beide Geschlechter

Rechter Ringfinger

Linke Niere

Reproduktionsorgan

Wasser

Winter

72

Frau

Linker Zeigefinger

Herz

Dünndarm

Feuer

Sommer

72

Mann

Linker Zeigefinger

Lunge

Dickdarm

Metall

Herbst

72

Beide Geschlechter

Linker Mittelfinger

Leber

Gallenblase

Holz (Luft)

Frühling

72

Beide Geschlechter

Linker Ringfinger

Rechte Niere

Harnblase

Wasser

Winter

72

Patient

A. radialis links

A. radialis rechts

a Bei Mann und Frau sind nur die Entsprechungen der Zeigefinger verschieden. Die Energien an der Herzspitze sind bei der Frau auf der rechten Seite konzentrierter, beim Mann auf der linken

die Kanäle, durch die sich das Bewusstsein im Herzen bewegt, bei Männern eher links, bei Frauen eher rechts gelegen sind. Der Zustand der oberen, mittleren und unteren Körperteile wird ebenfalls von den entsprechenden Fingern untersucht (. Tab. 14.3).  

kKonstitutionspuls

Die angeborene Konstitution eines Neugeborenen ist vom Sperma des Vaters und der Eizelle der Mutter abhängig. Auch Lebensweise und Ess- und Trinkgewohnheiten der Mutter während der Schwangerschaft spielen eine große Rolle für den Konstitutionspuls des Kindes bzw. seine individuelle Persönlichkeit und Lebenseinstellung. In . Tab.  14.4 ist zu beachten, dass die Bezeichnungen männlicher  

..      Tab. 14.4  Eigenschaften des Konstitutionspulses Konstitutionspuls

Pulsqualität

Männlich

Voll

Weiblich

Dünn und schnell

Neutral

Gleitend, langsam

und weiblicher Puls nicht geschlechtsabhängig sind, sondern sich auf die Pulseigenschaften beziehen: Wenn der Arzt den Konstitutionspuls nicht erkennen kann, befragt er den Patienten; denn ein männlicher Puls kann mit einer rlung-­

246

G. Kubiena et al.

Erkrankung verwechselt werden, ein weiblicher mit einer mkhris pa- und ein neutraler mit einer bad kan-Disharmonie. Es mag sein, dass Nicht-Tibeter ihren Konstitutionspuls nicht kennen, viele Tibeter wissen jedoch darüber Bescheid oder können sich an frühere Pulsuntersuchungen erinnern. 14.2.3

14.3  Ayurveda-Diagnostik

Lothar Krenner

Diagnose durch Befragung

Die Befragung ist für den Arzt die nützlichste und informativste Diagnosetechnik, um ein klares Bild über die Krankheit des Patienten zu gewinnen. Im Allgemeinen hat die Befragung 3 Hauptziele: 1. Feststellung der Krankheitsursachen, 2. Erkennen der erkrankten Körperstelle(n), 3. Feststellen der Krankheitszeichen und Symptome. Fragen nach ursächlichen Faktoren sind z. B. 55 Welche Nahrung und Getränke nimmt der Patient zu sich? 55 Welche physischen und mentalen Verhaltensweisen liegen vor?

14

55 Aufgrund der Zusammenschau dieser drei Diagnosemethoden wird eine individuelle Therapie erstellt.

Ein weites Spektrum an Fragen kann dem Arzt über die klinische Einschätzung Aufschluss geben. Die Frage, an welchen Körperstellen Schmerzen oder andere Empfindungen auftreten, ist für die Bestimmung der betroffenen Körperstelle(n) hilfreich. Schließlich werden Fragen nach der Art der Symptome gestellt, die für bestimmte Krankheiten typisch sind, um einen Zusammenhang zwischen den Ursachen und den von der Krankheit betroffenen Körperstellen herzustellen. Damit kann der Arzt Störungen erkennen und ­unterscheiden. Zusammenfassung 55 Die Diagnosemethoden des Arztes in der tibetischen Medizin werden in drei Gruppen eingeteilt: 1. Betrachtung (einschließlich Zungenund Urindiagnostik), 2. Berührung (einschließlich Pulsdiagnose), 3. Befragung.

14.3.1

Grundlagen

In dem jahrtausendealten Gesundheitssystem des Ayurveda war und ist die Diagnostik bzw. das Finden der Ursachen einer Erkrankung die notwendige Voraussetzung einer effizienten Behandlung.

»» „Der Arzt, der zuerst den Patienten

untersucht und danach mit der Behandlung beginnt, wird erfolgreich sein“ (Caraka Samhita, Sutrasthan 10/5).

Maharishi AyurVeda legt großen Wert auf die Integration von konventionell-­ medizinischer und ayurvedischer Diagnostik. Allgemeine Ziele der Ayurveda-­Medizin 55 55 55 55

Erhaltung der Gesundheit Vorbeugung von Krankheiten Erreichung von Langlebigkeit Behandlung von Erkrankungen

Für die Behandlung von Erkrankungen werden im Ayurveda drei Werkzeuge beschrieben: 55 das Finden der Ursache der Erkrankung, 55 das Verstehen der Zeichen und Symptome einer Erkrankung und daraus das Ableiten der richtigen Diagnose, 55 die korrekte Behandlung ohne Nebenwirkungen. Ayurveda-Medizin kennt sehr genaue Methoden, um den Krankheitsprozess zu verstehen. Die diagnostischen Verfahren des Ayurveda erlauben das Aufspüren von Störungen im Organismus, noch bevor sich eine sichtbare Krankheit

247 Spezielle TAM-Diagnostik

manifestiert. Das Ziel der klinischen Diagnostik ist im speziellen das Finden der Beziehung zwischen den Krankheitssymptomen und den sich nicht im Gleichgewicht befindlichen Doshas und Sub-­Doshas (7 Abschn. 34.4.2). Eine ganzheitliche Diagnosefindung und klare Therapieempfehlungen werden ermöglicht durch: 55 eine ausführliche Anamnese, 55 eine umfangreiche physikalische Untersuchung des Patienten (einschließlich Pulsdiagnostik) und 55 die Pathogenese betreffende Überlegungen zu 55im Ungleichgewicht befindlichen Doshas (Vata, Pitta, Kapha), 55Verdauungskraft (Agni), 55Ausscheidungsprodukten (Malas), 55Endo- und Exo-Toxinen (Ama), 55gestörten Geweben (Dhatus) und 55gestörten Kanälen (Shrotas).

14

In der Ayurveda-Medizin gibt es zwei Aspekte der Diagnosefindung: 55 Untersuchung des Patienten (Rogi pariksha), 55 Beurteilung der Erkrankung (Roga pariksha).



So wie in der konventionellen Anamnese werden neben jetzigen und früheren Beschwerden u.  a. Faktoren wie Schlaf, Verdauung/Ernährung, körperliche Aktivität, berufliche und private Situation/Stressbelastungen, Sexualanamnese und ganzheitlicher Zahnstatus erhoben. Der ayurvedische Arzt verschafft sich einen ersten Überblick über den Patienten und seine Erkrankung durch die Beurteilung folgender Aspekte: Ersteinschätzung des Patienten – ­relevante Merkmale 55 55 55 55 55 55

Erscheinung des Patienten Schwere seiner Erkrankung Konstitution (Prakriti) Derzeitiges Ungleichgewicht (Vikriti) Situation bzgl. Doshas, Dhatus und Malas Ursache und Schwere des Dosha-­ Ungleichgewichts 55 Geistige Konstitution (Gunas: Sattva, Rajas, Tamas) 55 Lebenssituation des Patienten (private, berufliche Situation, Tagesroutine, Gewohnheiten)

Neben der Anamnese (Prashna), der Beobachtung (Darshana) und der physikalischen Untersuchung (Sparshana) spielt im Maharishi AyurVeda v. a. die Pulsdiagnose (Nadi vigyan) eine wichtige Rolle (zusätzlich auch die Zungendiagnose – Jiwha).

14.3.2

Pulsdiagnose (Nadi vigyan)

Neben den in der konventionellen Medizin bekannten Pulsqualitäten (Frequenz, Regelmäßigkeit, Amplitude, Steilheit von Anstieg und Abfall der Pulskurve etc.) werden in der Ayurveda-Medizin zusätzliche Qualitäten unterschieden, wie z.  B. die Zuordnung zu den Doshas (Vata, Pitta und Kapha), der Zustand von Agni, der Dhatus, das Ausmaß von Ama sowie die Quantität und Qualität von Ojas. Im Allgemeinen wird der Puls an der A. radialis gemessen; bei den Damen am linken proximalen Unterarm, bei den Herren rechts. Der Zeigefinger ist zuständig für das Tasten der Vata-Qualität, der Mittelfinger für Pitta und der Ringfinger für Kapha. kPulsqualitäten

55 Vata-dominanter Puls: schnell, schwach, kalt, hart, unregelmäßig 55 Pitta-dominanter Puls: hüpfend, dynamisch, heiß 55 Kapha-dominanter Puls: kräftig, regelmäßig, langsam, weich. Vata, Pitta und Kapha kann zu viel, zu wenig angeregt oder ausgeglichen sein. Vata, Pitta oder Kapha kann auch aus seiner Lokalisation (zugeordnet dem entsprechenden Finger) ausgewandert sein. Dies spricht ebenfalls für eine zu starke Anregung des jeweiligen Doshas. Jedem der 3 Doshas sind 5 Sub-Doshas zugeordnet, die eine detailliertere Diagnostik in Bezug auf Anatomie und Physiologie ermöglichen.

248

G. Kubiena et al.

Maharishi AyurVeda-Pulsdiagnose ist leicht zu erlernen, erfordert jedoch eine persönliche Unterweisung durch einen erfahrenen Lehrer und regelmäßige Übung, um verlässliche und reproduzierbare diagnostische Aussagen machen zu können. 14.3.3

Zungendiagnose (Jiwha)

Der Ayurveda-Arzt beurteilt folgende Eigenschaften: 55 Zungenform: 55groß, voluminös, fleischig – Kapha, 55mittlere Form – Pitta, 55schmal, spitz, unruhig – Vata. 55 Zungenoberfläche: 55feucht, glatt, glänzend – Kapha, 55gerötet (z. B. Landkartenzunge) – Pitta, 55trocken, rau, gefurcht – Vata. 55 Zungenbelag (falls vorhanden): 55weißlich – Kapha, 55gelblich – Pitta, 55dunkel – Vata.

14

>> Zu beachten ist, dass ein Zungenbelag, der sich leicht entfernen lässt (z. B. mit einem Zungenschaber), normalerweise durch schlechte Mundhygiene entsteht. Ist der Zungenbelag ein Ausdruck von Ama (Toxine, „Schlackenstoffe“), lässt er sich nur schwer entfernen.

Die Beurteilung des Zungenrandes ist ebenfalls von Bedeutung. Speziell Zahneindrücke sind ein Hinweis auf eine träge, geschwächte Verdauungskraft (Mandagni). 14.3.4

 nterschiedliche Arten der U Untersuchung

4. Zweifache Untersuchung (Dwividha Pariksha) 55 Direkte Wahrnehmung (Pratyaksha) 55 Deduktion, Rückschlüsse ziehen (Anumana) (für sehr erfahrene Ärzte) 5. Dreifache Untersuchung (Trividha Pariksha)

55 Untersuchung durch Beobachtung (Darshana) 55 Untersuchung durch Berührung (Sparshana) – physikalische Untersuchung, inkl. Pulsdiagnose 55 Untersuchung durch Befragung (Prashna) – Anamnese 6. Vierfache Untersuchung (Chaturvidha Pariksha) 55 Gesichertes Wissen aus verlässlichen Quellen, z. B. aus Charak Samhita (Aptopdesha) 55 Direkte Wahrnehmung (Pratyaksha) 55 Deduktion, Rückschlüsse ziehen (Anumana) 55 Zusätzliche Maßnahmen zur Sicherung der Diagnose (Yukti): Yukti kommt zur Anwendung, wenn mehrere Krankheitsursachen vorhanden, mehrere Doshas, Dhatus, oder Shrotas beteiligt, unterschiedliche Symptome oder unterschiedliche Therapiemöglichkeiten durch Kontraindikationen in Bezug auf die Erkrankung und die Konstitution des Patienten vorhanden sind 7. Sechsfache Untersuchung (Shad-vidha Pariksha), beinhaltet die Anwendung der 5 Sinnesorgane und der Befragung 55 Klang/Geräusch, z. B. bei Bewegung in den Gelenken, im Darm, Beurteilung der Sprache etc. (Shabda) 55 Berührung (Sparsha): unterschieden werden 5 Arten der diagnostischen Berührung 55Normaler Druck (Parimarsha) 55Ziehen (Ayaman) 55Ritzen/Schneiden (Lunchanancha) 55Druck erhöhen (Prapeedana) 55Perkutieren (Akotana) 55 Betrachten, z. B. des äußeren Erscheinungsbildes (Roopa) 55 Geschmack (Rasa), z. B. Harnuntersuchung; wird heute durch die Diagnosemethoden der modernen Medizin großteils abgedeckt 55 Geruch, z. B. Atem-/Körpergeruch bei Stoffwechselerkrankungen (Gandha) 55 Befragung (Prashna)

249 Spezielle TAM-Diagnostik

8. Achtfache Untersuchung (Ashtavidha Pariksha) 55 Pulsdiagnostik (Nadi vigyan, 7 Abschn. 14.3.2) 55 Beurteilung des Urins (Mootra, s. oben, unter Punkt 4); neben der Beurteilung des Geschmacks wurde traditionell auch der Öltropfentest durchgeführt (Verhalten eines Öltropfens auf der Oberfläche des Urins) 55 Beurteilung des Stuhls (Mala); Menge, Konsistenz, Farbe, schwimmt auf dem Wasser (Nirama) 55 Zungendiagnostik (Jiwha, 7 Abschn. 14.3.3) 55 Beurteilung der Sprache (Shabda) 55Kapha: tief, sonor 55Pitta: kräftig, vital 55Vata: trocken, rau 55 Berührung (Sparsha, s. oben, unter Punkt 4); z. B. Haut: Vata: trocken, rau; Pitta: warm; Kapha: weich, ölig 55 Augendiagnostik (Drik) 55Kapha: große, leuchtende Augen 55Pitta: scharfer Blick 55Vata: kleinere, trockene Augen 55 Genereller Körperbau (Akriti) 55Kapha: kräftig, zu Übergewicht neigend 55Pitta: athletisch 55Vata: groß oder klein, schlank, zu Untergewicht neigend 9. Zehnfache Untersuchung (Dashavidha Pariksha) 55 Konstitution (Prakriti) 55 Gegenwärtige Ungleichgewichte (Vikriti) (für diesen und den vorherigen Punkt: 7 Kap. 34, . Abb. 34.12, Selbsttest: „Ihr Typ ist gefragt!“) 55 Qualität der Gewebe (Dhatu Sara) 55 Gut ausgebildete Gewebe, gut geformter Körper (Samhanana) 55 Körpermaße (Pramana); durchschnittliches Maß für Körpergröße: 84-mal der Fingerbreite 55 Verträglichkeit des Patienten gegenüber Nahrungsmitteln, Getränken,  







14

klimatischen Bedingungen etc. (Satmya/Asatmya) 55 Geistige Klarheit, Stärke und Toleranz (Sattva); ist das Sattva Guna des Patienten gut ausgeprägt, erhält man klar strukturierte Informationen über die Beschwerden des Patienten; der Patient ist freundlich, höflich und kooperativ 55 Stärke der Verdauung (Ahara Shakti), wie viel Nahrung kann aufgenommen werden; Stärke von Agni, Ausmaß von Ama 55 Körperliche Leistungsfähigkeit (Vyayama) 55 Alter (Vayas): Jugendlicher Mensch, 0–30 Jahre (Kapha-Dominanz), erwachsener Mensch, 30–60 Jahre (Pitta-Dominanz), alter Mensch, ab 60 Jahre (Vata-Dominanz) Wie in 7 Abschn.  14.3.1 erwähnt, ist die Integration konventionell-medizinischer Dia­ gnostik mit ayurvedischen Methoden sinnvoll, da zusätzlich zu den Befunden der technisch-­ apparativen Medizin ganzheitliche Informationen über den Zustand des Patienten (Rogi Pariksha) und die Art, das Ausmaß und den Schweregrad der Ungleichgewichte im Organismus (Roga Pariksha) mit wenig Aufwand zu gewinnen sind.  

>> Damit bietet die ayurvedische Medizin effiziente Maßnahmen an, nicht nur zur Behandlung von bestehenden Erkrankungen (einschließlich Früherkennungsuntersuchungen), sondern zur Verhütung von Krankheiten, noch bevor sich eine Störung bzw. ein Ungleichgewicht als Krankheit manifestiert.

Die Österreichische Ärztegesellschaft für Ayurvedische Medizin bietet entsprechende Postgraduate-Ausbildungskurse für Ärztinnen und Ärzte an, die die Grundlagen der ayurvedischen Diagnostik und Therapie in Theorie und Praxis vermitteln (Details 7 Kap.  34). Zusätzlich werden auch Kurse für interessierte Laien angeboten, und zwar in den Bereichen Selbstpulsfühlen, Ernährung/Verdauung und Yoga (Kurse mit 16 Lektionen).  

250

G. Kubiena et al.

Im Zusammenhang mit den speziellen diagnostischen Methoden der Ayurveda-­Medizin (z. B. der Pulsdiagnose) ist eine verfeinerte Sinneswahrnehmung des Arztes Voraussetzung. Daher ist auch das Erlernen und Praktizieren der Technik der transzendentalen Meditation (TM) ein zentraler Teil im Unterrichtsprogramm der Gesellschaft. Wie in 7 Kap. 34 ausführlich dargelegt wird, ist Ayurveda im traditionell-klassischen Sinn bewusstseinsbasierte Medizin. Gesundheit ist verbunden mit dem Ordnungszustand des innersten, transzendenten Bewusstseinsfeldes des Menschen. Die Aktivierung dieses Feldes ist der zentrale Vorgang, um Gesundheit zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Weitere Informationen über die Ausbildungsprogramme und Termine sind im Sekretariat bzw. auf der Homepage der Österreichischen Ärztegesellschaft für Ayurvedische Medizin – Maharishi Vedische Medizin zu erfahren (7 www.­ayurveda.­at/aerzte).  



Zusammenfassung

14

55 Die ganzheitliche Diagnostik der Ayurveda-­ Medizin umfasst den Menschen in seiner Ganzheit: Körper, Geist, Seele und Umwelt. 55 Seit Jahrtausenden bietet die Ayurveda-­ Medizin ein klar strukturiertes, ganzheitliches Diagnosesystem von Anamnese (Prashna), Beobachtung (Darshana) und physikalischer Untersuchung (Sparshana). 55 Entsprechend der Erfahrung des Arztes und der verfügbaren Zeit werden unterschiedliche Arten der Untersuchung unterschieden: die 2-fache, 3-fache, 4-fache, 6-fache, 8-fache und 10-fache. 55 Im Maharishi AyurVeda wird u. a. der Pulsdia­ gnose (Nadi vigyan) eine wichtige Rolle in der Diagnose zugeordnet. 55 Maharishi AyurVeda legt großen Wert auf die Integration von konventionell-medizinischer und ayurvedischer Diagnostik.

Literatur Bhagwan Dash V (2000) Diagnosis and treatment of diseases in Ayurveda (reprint). Concept Publishing Company, Delhi Focks C, Hillenbrand N (2003) Leitfaden Traditionelle Chinesische Medizin. Schwerpunkt Akupunktur, 4. Aufl. Urban & Fischer, München Kirschbaum B (2000) Atlas of Chinese tongue diagnosis, Bd 2. Eastland Press, Seattle Kirschbaum B (2003) Atlas of Chinese tongue diagnosis, Bd 2. Eastland Press, Seattle Kulkarni PH (2012) Ayurveda Nidana: the diagnosis and pathology. Sri Garib Das Ayurvedic Series 7. Divine Books, New Delhi Li Shi Zhen (1985) Pulse diagnosis (Übersetzung Hoc Ku Huyn, Seifert GM). Paradigm Publications, Brookline Maciocia G (1987) Tongue diagnosis in Chinese medicine. Eastland Press, Seattle Ploberger F (2006) Die Grundlagen der Tibetischen Medizin. Eine Übersetzung des Buches Fundamentals of Tibetan Medicine der Men-Tsee-Khang Publication. Bacopa, Schiedlberg Ploberger F (2012) Wurzeltantra und Tantra der Erklärungen aus Die vier Tantra der Tibetischen Medizin. Bacopa, Schiedlberg Ploberger F (2015) Das letzte Tantra aus Die vier Tantra der Tibetischen Medizin. Bacopa, Schiedlberg Sharma AK (2013) Diagnostic methods in Ayurveda. Haridas Ayurveda Series 26 (reprint). Chaukhambha Visvabharati, Delhi Sharma RK, Bhagwan Dash V (2000) Caraka Samhita (text with English translation and critical exposition based on Cakrapani Datta’s Ayurveda Dipika), 7  Bde, 2.  Aufl. Chowkhamba Sanskrit Series, Bd XCIV, Varanasi Song TB (1986) Atlas of tongues and lingual coatings in Chinese medicine. Joint Publication of People’s Medical Publishing House Beijing/Editions Sinomedic, Strasbourg Srinivasulu M (2011) Clinical diagnosis in Ayurveda: a practical book of Ayurvedic diagnosis in the light of modern medical science. The Chaukhamba Ayurvijnan Studies 102. Chaukhamba Sanskrit Pratishthan, Delhi

251

Methoden der integrativen Medizin – integrative Medizin im europäisch-­ amerikanischen Kulturkreis Inhaltsverzeichnis Kapitel 15 Pflanzenheilkunde – 253 Ulrike Kastner, Wolfgang Kubelka, Petra Zizenbacher, Gerda Dorfinger, Woflgang Steflitsch, Iris Stappen, Barbara Našel und Bärbl Buchmayr Kapitel 16 Behandlung des Bewegungsapparats – 307 Richard Crevenna, Andreas Kainz, Michael Grössinger, Gabriele Von Gimborn, Hans Tilscher und Norbert Bachl Kapitel 17 Homöopathische Medizin – Methode und Anwendungen, Grenzen und Möglichkeiten – 381 Michael Frass und Jutta Gnaiger-Rathmanner Kapitel 18 Homotoxikologie – 401 Christian Plaue Kapitel 19 Mikroimmuntherapie – 415 Ursula Bubendorfer und Petra Blum

IV

Kapitel 20 Kneippmedizin – traditionelle europäische Medizin – 437 Gebhard Breuss, Rupert Klötzl und Heinz Schiller Kapitel 21 Anthroposophische Medizin – 455 Harald Siber Kapitel 22 Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr – 481 Sepp Fegerl und Alex Witasek Kapitel 23 Neuraltherapie – Grundlagen und Anwendung – 521 Kurt Gold-Szklarski, Wolfgang Ortner und Johanna Osztovics Kapitel 24 Orthomolekulare Medizin – 541 Rainer Schroth Kapitel 25 Musischer Ansatz – 563 Gerhard Tucek und Harald Fritz-Ipsmiller Kapitel 26 Ganzheitliche Zahnheilkunde – 591 Irmgard Simma-Kletschka und Eva Maria Höller Kapitel 27 Grundinformation zur medizinischen Anwendung von Ozon – 641 Walter Pleyer und Renate Thiele Kapitel 28 Kurmedizin – 667 Wolfgang Marktl, Petra Zizenbacher, Rainer Schroth, Florian Ploberger und Lothar Krenner Kapitel 29 Ernährung – 699 Ludwig Kramer, Petra Zizenbacher, Gertrude Kubiena, Florian Ploberger und Lothar Krenner Kapitel 30 Komplementärmedizinische Methoden bei Krebserkrankungen – 721 Leo Auerbach

253

Pflanzenheilkunde Ulrike Kastner, Wolfgang Kubelka, Petra Zizenbacher, Gerda Dorfinger, Woflgang Steflitsch, Iris Stappen, Barbara Našel und Bärbl Buchmayr 15.1

Phytotherapie – 255

15.1.1 15.1.2 15.1.3 15.1.4 15.1.5 15.1.6 15.1.7 15.1.8 15.1.9 15.1.10 15.1.11

E inführung – 255 Phytotherapie – ein altes Therapiekonzept? – 255 Moderne Phytotherapie – 256 Phytopharmaka, die Arzneimittel der Phytotherapie – 257 Zubereitungs- und Darreichungsformen – 257 Möglichkeiten, Grenzen und Risiken der Phytotherapie – 258 Wichtige Indikationen – 259 Mistelpräparate – 259 Fallbericht – 260 Studien/Evidenzlage – 261 Ausbildungsmöglichkeiten – 262

15.2

Hildegard-Medizin – 263

15.2.1 15.2.2 15.2.3 15.2.4 15.2.5 15.2.6

 ildegard von Bingen (1098–1179) – 263 H Ausleitverfahren – 266 Kräuteranwendungen – 269 Hildegard-Medizin heute – 271 Fallbeispiele – 272 Studien/Evidenzlage – 273

15.3

Medizinische Aromatherapie und Aromapflege – 274

15.3.1 15.3.2 15.3.3 15.3.4

 orbemerkung – 274 V Einführung in die medizinische Aromatherapie – 274 Wissenschaftliche Aromatherapie – 281 Labordiagnostik und Aromatherapie – 284

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_15

15

15.3.5 15.3.6 15.3.7

 therische Öle im Apothekenwesen: Aromatherapie – eine Ä Frage der Qualität – 287 Praxis der medizinischen Aromatherapie – 291 Aromapflege – 297

Literatur – 302

255 Pflanzenheilkunde

15.1  Phytotherapie Ulrike Kastner und Wolfgang Kubelka 15.1.1  Einführung Phytotherapie – Von griechisch phyton: Pflanze und therapeia: Pflege, Heilung. Phytotherapie bedeutet ganz allgemein Heilung mittels Pflanzen, Anwendung von Pflanzen zur Behandlung von Krankheiten.

Moderne Phytotherapie verwendet zur Therapie und Prophylaxe von Krankheiten pflanzliche Arzneimittel (Phytopharmaka) nach medizinisch-naturwissenschaftlichen Grundsätzen. Basierend auf langer, traditioneller Erfahrung wird diese Therapieform der konventionellen Medizin durch Ergebnisse chemischer, pharmakognostischer, pharmakologischer und klinischer Forschungen bestätigt, laufend verbessert und erweitert. 15.1.2  Phytotherapie – ein altes

Therapiekonzept?

 litzlichter zur historischen B Entwicklung Die Anfänge dieser ältesten Form einer Pharmakotherapie liegen im Dunkel vorgeschichtlicher Zeit. Es ist aber gut vorstellbar, dass auf der Suche nach Nahrung rasch Erfahrungen mit Pflanzen gemacht wurden: alles ist essbar, insbesondere wohlschmeckende Früchte. Viele sind bekömmlich, manche genießt man nur einmal, weil sie tödlich giftig wirken: 20 Tollkirschen gelten als letal für einen Erwachsenen. Gewisse Pflanzen erwiesen sich aber als brauchbar und nützlich für die Milderung von körperlichen Beschwerden oder sogar zur Heilung von Krankheiten. Erst (oder schon!) vor rund 5000  Jahren wurden Erfahrungen dann auch schriftlich festgehalten. Belege für die Anwendung von Heilpflanzen finden sich z. B. in alten Schriften aus China, Indien, Mesopotamien und Ägypten.

15

Im Laufe der Zeit entstanden in einzelnen Regionen unterschiedliche Behandlungsformen, die teils bis heute nur lokal überliefert sind, teils aber zu komplexen Medizinsystemen weiterentwickelt wurden. Als Beispiele dafür seien die traditionelle chinesische Medizin (TCM), die traditionelle tibetische Medizin und Ayurveda genannt, die inzwischen im Zuge moderner Kommunikationsmöglichkeiten weit über ihr Ursprungsgebiet hinaus bekannt sind und eingesetzt werden. Die Verwendung von Pflanzen in Europa als Arzneimittel hat ihre Wurzeln im persisch-­ griechisch-­römischen Raum. Prominente Arzt­ persönlichkeiten sammelten das medizini­ sche Wissen ihrer Zeit und erweiterten es durch eigene Erfahrungen. Erinnert sei an Hippokrates (460–370 v.  Chr.), Galenus (130–190 n. Chr.), Dioskurides(1. Jh. n. Chr.), ­Plinius (25–79 n.  Chr.) und Avicenna (980– 1037 n.  Chr.). Ihre handschriftlich verfassten und auch mit Pflanzenzeichnungen illustrierten Schriften wurden vielfach kopiert, modifiziert und über Jahrhunderte weitertradiert, wobei auch den Klöstern als Kulturträgern eine wichtige Rolle zukam. Beispiele: 55 Lorscher Arzneibuch (um 795), 55 Capitulare de villis von Karl dem Großen (812), 55 Hortulus von Wahlafried Strabo (827) und 55 die Werke der Hildegard von Bingen (1098–1179). Als herausragende Persönlichkeit muss Paracelsus (Theophrastus Bombastus von Hohenheim, 1493–1541) mit den berühmten Zitaten

»» „Alle Wiesen und Matten, alle Berge und Hügel sind Apotheken.“

»» „All Ding sind Gift’ und nichts ohn’ Gift;

allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.“ (Sudhoff 1922)

sowie der Ausweitung der Signaturenlehre genannt werden. An der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit gilt Paracelsus als Begründer einer neuen Naturheilkunde.

256

U. Kastner et al.

Eine Veränderung auch für die Phytotherapie (noch immer im weitesten Sinn: Anwendung von Pflanzen zu Heilzwecken) brachte die Erfindung des Buchdrucks, den sich die „Botanikärzte“ zunutze machten. Das Wissen um die krafft und würckung der Pflanzen wurde ab dem 15. Jh. mit nunmehr gedruckten und reich bebilderten Kräuterbüchern einem breiteren Bevölkerungskreis zugänglich. Beispiele: 55 Konrad von Meggenburg: Gart der Gesundheit 1485, 55 Otto Brunfels: Herbarium vivae eicones 1532, 55 Hieronymus Bock: Das Kreutter Buch 1539, 55 Leonhart Fuchs: New Kreütterbuch 1539 ff, 55 Tabernaemontanus: Neuw Kreuterbuch 1588, 55 Basilius Besler: Hortus Eystettensis 1613.

 as macht die Wirkung einer W Pflanze aus, was macht sie zum „Gift“, was zur Heilpflanze?

15

Wirklich brauchbare Antworten auf diese Fragen erbrachten nicht die Bemühungen der Alchemisten, sondern erst die Isolierung reiner Wirkstoffe aus Pflanzen mit Beginn des 19.  Jahrhunderts. Der damalige Arzneischatz, vorwiegend pflanzlicher Herkunft, dessen Kenntnis J.  A.  Schmidt in Wien erstmals als „Pharmacognosis“ bezeichnete (Lehrbuch der Materia medica 1811), wurde nämlich erfolgreich von Apothekern, Chemikern und Medizinern mit naturwissenschaftlichen Methoden bearbeitet. Als Meilenstein gilt die Reindarstellung von Morphin aus Opium im Jahr 1805 durch den deutschen Apotheker Friedrich Sertürner. In der Folge wurden zahlreiche Reinsubstanzen aus Pflanzen gewonnen und konnten als solche pharmakologisch geprüft und als Monosub­ stanzen klinisch eingesetzt werden. Sie dienten nach ihrer Strukturaufklärung auch als Modell für die Entwicklung potenter synthetischer Arzneistoffe mit verbesserten pharmakologischen Eigenschaften. Damit wurde die Anwen-

dung von Heilpflanzen in der europäischen Medizin etwa ab der ersten Hälfte des 20.  Jh. obsolet und entbehrlich. Sie war nur noch im Bereich der Volksmedizin, der Hausmittel, in der Kräuterheilkunde einzelner origineller Persönlichkeiten (z. B. Sebastian Kneipp 1821– 1898, Johann Künzle 1857–1945) sowie in besonderen Therapiekonzepten (Homöopathie, Samuel Hahnemann 1755–1843; Anthroposophie, Rudolf Steiner 1861–1925) zu finden. Die synthetischen Arzneistoffe konnten jedoch nicht alle in sie gesetzten Erwartungen voll erfüllen; unerwünschte, ja fatale Wirkungen wurden bekannt (Contergan/Thalidomid), und so rückten natürliche, pflanzliche Heilmittel seit den 1960er-Jahren wieder in das Interesse der breiten Öffentlichkeit. In der Pharmakotherapie der konventionellen Medizin dominieren zwar nach wie vor Synthetika und Antibiotika, aufgrund ihrer Vorzüge wird aber zunehmend weiter nach pflanzlichen Arzneimitteln und nach phytotherapeutischen Möglichkeiten gefragt.

15.1.3  Moderne Phytotherapie

Der Begriff „Phytotherapie“ wurde 1913  von dem französischen Arzt Henri Leclerc (1870– 1955) als Bezeichnung für eine natur­ wissenschaftlich orientierte „Kräutermedizin“ eingeführt (Précis de Phytothérapie 1922). Der Terminus ist als phytotherapy 1934 im Englischen, im deutschen Sprachraum durch R. F. Weiss (Lehrbuch der Phytotherapie 1943) bekannt geworden. Phytomedicine (herbal medicine) - Der Begriff wird im angloamerikanischen Sprachgebrauch mit Phytotherapie – oft im weitesten Sinn – gleichgesetzt (erkennbar an Zeitschriftentiteln wie Phytomedicine, International Journal of Phytomedicine). Im Deutschen wird der Ausdruck „Phytomedizin“ allerdings auch für die Wissenschaft von den Krankheiten und der Gesunderhaltung von Pflanzen verwendet.

Phytotherapie im modernen Sinn wird verstanden als

257 Pflanzenheilkunde

»» „… jene Therapierichtung, die zur

Therapie und Prophylaxe Arzneimittel pflanzlicher Herkunft (Phytopharmaka) anwendet, dabei jedoch ausschließlich nach medizinisch-­naturwissenschaftlichen Grundsätzen vorgeht. Phytotherapie ist, indem sie therapeutische Lücken schließt oder adjuvante Möglichkeiten bietet, ein integrierter Bestandteil der auf naturwissenschaftlicher Basis beruhenden Medizin, jedoch kein alternatives Therapieprinzip.“ (Definition der Österreichischen Gesellschaft für Phytotherapie, ÖGPHYT, 1992)

Daraus ergibt sich eine Abgrenzung gegenüber Therapiekonzepten, die ebenfalls Pflanzen bzw. Präparate aus Pflanzen einsetzen, für deren Wirksamkeit aber eine naturwissenschaftliche Erklärung (noch) nicht oder nicht zufriedenstellend gegeben werden kann (z. B. Bach-Blüten-Therapie, Gemmotherapie, Homöopathie). 15.1.4  Phytopharmaka, die

Arzneimittel der Phytotherapie

Die Einzelwirkungen sowie die Gesamtwirksamkeit eines in der Phytotherapie angewendeten Arzneimittels werden auf die chemischen Substanzen zurückgeführt, die in der jeweils eingesetzten Pflanze synthetisiert und gespeichert werden. Sind entsprechende Untersuchungsergebnisse bekannt, werden solche Pflanzeninhaltsstoffe als pflanzliche Wirkstoffe bezeichnet. Die Anzahl der weltweit vorkommenden Arten höher entwickelter Pflanzen beträgt schätzungsweise 300.000–500.000. Nur für etwa 5–10 % davon liegen chemische und/oder pharmakologische Untersuchungen vor. Trotzdem werden aufgrund langer Erfahrung etwa 70.000 Arten als Arzneimittel im weiten Sinn, d. h. zur Behandlung von Krankheiten und Befindlichkeitsstörungen, verwendet. Phytopharmaka, Phytotherapeutika - Die Begriffe werden heute i. Allg. synonym verwendet und bezeichnen Arzneimittel, die als wirksame Bestand-

15

teile ausschließlich Pflanzen bzw. Pflanzenteile oder bestimmte Produkte pflanzlicher Herkunft enthalten. Gelegentlich wird allerdings die Bezeichnung Phytopharmaka speziell auf pflanzliche Arzneimittel der sog. evidenzbasierten „rationalen“ Phytotherapie eingeengt.

Die Ergebnisse moderner wissenschaftlicher Forschung bringen es mit sich, dass an Arzneimittel generell  – und damit auch an pflanzliche – hohe Anforderungen gestellt werden. >> Als Phytopharmaka verwendete Arzneidrogen und Zubereitungen müssen eine dem Stand der Wissenschaft entsprechende, insbesondere die im geltenden Arzneibuch beschriebene, Qualität aufweisen.

Als Phytopharmaka finden sowohl Monopräparate, zu deren Herstellung nur eine Pflanzenart verwendet wurde, als auch Kombinationspräparate aus zwei oder mehreren Pflanzenarten Anwendung. Es handelt sich in jedem Fall um Gemische von vielen Substanzen, die in der jeweiligen Pflanze enthalten sind oder die aus der Pflanze extrahiert wurden. Nicht als Phytopharmaka gelten aus Pflanzen hergestellte Reinsubstanzen, also etwa Morphin, Kodein oder Digitoxin. Die chemische Synthese zahlreicher – nicht aller! – dieser Naturstoffe ist heute möglich, aber oft sehr teuer, sodass solche Wirkstoffe nach wie vor aus der Pflanze gewonnen werden. 15.1.5  Zubereitungs- und

Darreichungsformen

Rund 400 Arten von Arzneipflanzen, aus Wildsammlung oder Arzneipflanzenkulturen stammend, werden in der europäischen Medizin als Phytopharmaka eingesetzt. Sie kommen in flüssiger oder fester Form zur Anwendung. Frischpflanzen können sofort nach der Ernte durch Auspressen zu Frischpflanzenpresssäften verarbeitet oder durch Extraktion mit Ethanol-Wasser zu Frischpflanzenauszügen verarbeitet werden (Beispiele: Echinacea – Sonnenhut, Cynara  – Artischocke). In gewis-

258

U. Kastner et al.

sen Fällen werden die frischen Pflanzenteile mit Öl extrahiert, z.  B. zur Herstellung von Johanniskrautöl (Rotöl). Für die Gewinnung ätherischer Öle werden die Pflanzenteile direkt nach der Ernte oder erst nach dem Trocknen mit Wasser(dampf) destilliert. Das jeweils erhaltene, stark riechende ätherische Öl besteht aus einem Gemisch vieler (oft über 200) verschiedener, flüchtiger Substanzen. Ätherische Öle können oral eingenommen werden, häufig werden sie aber auch in Form von Salben, Gelen oder Bädern angewendet; dabei ist sowohl mit perkutaner als auch pulmonaler Aufnahme zu rechnen (Aromatherapie als Teil der Phytotherapie, 7 Abschn. 15.3). Im Allgemeinen werden die Pflanzenteile nach der Ernte durch schonendes Trocknen (Wasserentzug) haltbar gemacht. Man erhält die entsprechenden Arzneidrogen, die dann als Teedrogen zur Teebereitung, gelegentlich als Drogenpulver zur direkten Einnahme (Beispiel: Ingwer), und sehr oft zur Herstellung von Extrakten zur Verfügung stehen. Für die Anwendung als Arzneitee wird die zerkleinerte Arzneidroge bzw. eine Teemischung (Mischung verschiedener Teedrogen: „Species“) mit heißem Wasser oder Wasser mit Raumtemperatur in der jeweils am besten geeigneten Weise extrahiert (Infus: Aufguss, Dekokt: Abkochung, Mazerat: Kaltansatz). Solche wässrigen Auszüge werden als Teegetränk angewendet, dienen aber auch der äußerlichen Anwendung, z. B. für Umschläge oder Wickel. Wegen der sehr einfachen Handhabung und guten Dosierbarkeit sind auch Filterbeuteltees zu empfehlen, sofern sie eine gute Qualität aufweisen. Arzneitees gehören zu den ältesten Anwendungsformen von Phytopharmaka, sie erfreuen sich zurzeit wieder zunehmender Beliebtheit. Allein im Österreichischen Arzneibuch von 2017 sind 34 Teegemische als „Offizinale Zubereitungen“ enthalten, die als solche verordnet oder individuell variiert rezeptiert werden können. Für magistrale Rezepturen werden vermehrt auch wieder Tinkturen, Fluidextrakte, Sirupe etc., also flüssige galenische Zuberei 

15

tungen eingesetzt, die eigentlich schon als

obsolet betrachtet worden waren. Sie ermöglichen aber  – ähnlich wie Arzneitees  – eine personalisierte, an die Situation des jeweiligen Patienten angepasste Verordnung. In Fertigpräparaten kommen auch flüssige Extrakte zum Einsatz, meist aber Trockenextrakte, die in Form von Tabletten, Dragees und Kapseln, zur äußerlichen Anwendung auch als Salben, Gele oder Linimente angewendet werden. Für die Anreicherung der Wirkstoffe und die Abtrennung unerwünschter Begleitsubstanzen sind oft aufwendige Extraktionsverfahren erforderlich; die erhaltenen „Spezialextrakte“ weisen dann in manchen Fällen eine sehr hohe Wirkstoffkonzentration auf: das Droge-Extrakt-Verhältnis (DEV) liegt z. B. bei 40:1 oder 70:1, d. h. 40 oder 70 Teile Ausgangsdroge liefern 1  Teil Extrakt, entsprechend einer Konzentrierung der Wirkstoffe auf das 40- bzw. 70-Fache. Bei der industriellen Herstellung nach den Richtlinien für Good Manufacturing Practice wird größter Wert auf die Erzielung hoher pharmazeutischer und damit gleichbleibender therapeutischer Qualität gelegt. Genauso wie bei synthetischen Arzneistoffen sind auch für Phytopharmaka Nachweise für eine hohe Qualität, neben umfangreicher Dokumentation von Wirksamkeit und Verträglichkeit bzw. Unbedenklichkeit, Voraussetzungen für die Vollzulassung als Arzneimittel. Für die Registrierung als „traditionelles pflanzliches Arzneimittel“ gelten gleiche Qualitätskriterien; Wirksamkeit und Verträglichkeit müssen aber nicht durch aufwändige Studien belegt werden.

15.1.6  Möglichkeiten, Grenzen

und Risiken der Phytotherapie

Aufgrund ihrer guten Wirksamkeit, der hohen therapeutischen Breite, meist geringem oder fehlendem Nebenwirkungs- bzw. Interaktionspotenzial bieten Phytopharmaka hervorragende Möglichkeiten zur Behandlung von Befindlichkeitsstörungen und leichten bis mittelschweren Erkrankungen.

259 Pflanzenheilkunde

Dabei ist die alleinige Anwendung von Phytopharmaka oft ausreichend (z.  B. bei Erkrankungen der oberen Luftwege, dyspeptischen Beschwerden, Reizmagen, bei nervösen Unruhezuständen, Schlafstörungen, depressiver Verstimmung, Distress, benigner Prostatahyperplasie – BPH, Obstipation etc.). Anderseits kann Phytotherapie auch bei schweren Erkrankungen adjuvant zu Synthetika und Antibiotika zur Milderung von Begleitsymptomen eingesetzt werden. Sie bietet außerdem gute Möglichkeiten zur Rezidivprophylaxe bei Infektneigung sowie zur Nachbehandlung in der Rekonvaleszenz. Von wenigen Ausnahmen abgesehen  – etwa Silibinin bei Knollenblätterpilzvergiftung  – eignen sich Phytopharmaka nicht zur Behandlung akuter Notfälle und für die alleinige Behandlung von schweren Erkrankungen oder Stoffwechselstörungen. Deshalb spielen Phytopharmaka keine große Rolle in der Klinik, wohl aber in der Allgemeinpraxis und bei der Selbstmedikation unter Beratung durch Arzt und Apotheker. Leider ist nicht „gegen jede Krankheit ein Kraut gewachsen“, und die „Apotheke Gottes“ hat auch Giftpflanzen auf Vorrat. Risiken bei der Anwendung von Phytopharmaka können daher in der Unter- oder Überschätzung ihrer Wirksamkeit bzw. auch in der Unkenntnis unerwünschter Nebenwirkungen und Interaktionen liegen. Dazu kommt, dass sich der Markt an pflanzlichen Produkten zurzeit rasch verändert und äußerst vielfältig und unübersichtlich darstellt: Neben behördlich voll zugelassenen und daher in Wirksamkeit, Verträglichkeit und Qualität sicheren Arzneimitteln sowie registrierten, traditionellen pflanzlichen Arzneimitteln hoher Qualität werden zunehmend Nahrungsergänzungsmittel und andere Produkte angepriesen, die von guter Qualität sein können, aber durchaus nicht müssen. >> Eine kritische Bewertung ist selbst für Arzt und Apotheker manchmal nicht einfach, für einen erfolgreichen Einsatz aber unbedingt notwendig.

15

15.1.7  Wichtige Indikationen

Aufgrund ihrer Vorzüge finden Phytotherapie bzw. Phytopharmaka über alle Lebensalter hinweg, von der Pädiatrie bis zur Geriatrie, breite Anwendung. In vielen Fällen erfolgt dies zur alleinigen Behandlung, häufig aber auch adjuvant zu anderen Therapiemaßnahmen. Wichtige Indikationsgebiete für Phytopharmaka 55 Atemwegserkrankungen 55 Herz-Kreislauf-Erkrankungen/Gefäßerkrankungen 55 Erkrankungen des Magen-DarmTrakts bzw. der Verdauungsorgane 55 Beschwerden im Bereich des Urogenitaltrakts 55 Gynäkologische Erkrankungen 55 Beschwerden in Schwangerschaft und Stillzeit 55 Erkrankungen des Bewegungsapparats 55 Neurologische und psychische Beschwerden 55 Hautkrankheiten

Besondere Bedeutung kommt der Anwendung von Phytopharmaka auch bei pädiatrischen Erkrankungen und bei Tumorpatienten zu. 15.1.8  Mistelpräparate

Neben großen randomisierten, prospektiven Studien sind es zahlreiche Fallberichte, die über das Potenzial von Mistelpräparaten aufhorchen lassen (Piao et  al. 2004; Schierholz 2004; Kienle und Kiene 2004; Augustin et  al. 2005). Bei der Mistel (Viscum album) handelt es sich um einen immergrünen Halbschmarotzer, der auf Bäumen wächst und je nach Art und Wirtsbaum unterschiedliche pharmakologisch interessante Wirkstoffgruppen enthält:

260

U. Kastner et al.

55 Hochmolekulare Verbindungen wie die Mistellektine (Glykoproteine) zählen zu den wichtigsten Inhaltsstoffen mit zytotoxischer Wirkung durch Hemmung der ribosomalen Proteinsynthese mit konsekutiver Apoptose-Induktion. 55 Viscotoxine (basische Polypeptide) bewirken eine Lyse von Tumorzellmembranen. 55 Niedermolekulare Verbindungen (Flavonoide, Aminosäuren u. a.) tragen ebenfalls zur Wirksamkeit bei. Der Gesamtextrakt hat sich in Studien als potenter erwiesen als die genannten Reinsubstanzen (Kienle und Kiene 2003; Schierholz und Schlodder 2003; Scheer et al. 2001). >> Bei der Beurteilung der Fallstudien und Fallberichte ist es wichtig, den eingesetzten Extrakt genau zu kennen, denn je nach Mistelart, Herstellungsweise und Wirtsbaum sind die Präparate unterschiedlich und nicht „phytoäquivalent“.

In Österreich als Phytotherapeutika erhältlich sind 55 wässrige Auszüge aus frischen Misteln: Helixor (Apfel) und Lektinol (Pappel, standardisiert auf Mistellektin), 55 ein wässriger Auszug nach Fermentierung: Iscador (Eiche).

15

Die Zulassung der Fertigpräparate gilt in Österreich für 55 das adjuvante Setting bei allen soliden Tumoren in allen Stadien mit dem Ziel der Rezidivprophylaxe, 55 als Begleittherapie zur besseren Wirksamkeit und Verträglichkeit von Hormon-, Strahlen- und Chemotherapie, 55 nach Abschluss der onkologischen Behandlungen. 55 Im palliativen Setting sind v. a. Schmerzreduktion und Verbesserung der Lebensqualität Ziele der Behandlung. 55 Die Wirksamkeit beschränkt sich nicht auf eine spezielle Tumorentität. Somit sind alle soliden Tumore in der Zulassung enthalten.

Für hämatoonkologische Erkrankungen wie Lymphome oder Leukämien gibt es aufgrund fehlender Daten keine Zulassung. kDeutschland

Keine Zulassung als Phytotherapeutikum. Aku­ tell verfügbare anthroposophische Arzneimittel oder Homöopathika: abnobaVISCUM, Helixor, Iscador, Iscucin, Lektinol. kSchweiz

Keine Zulassung als Phytotherapeutikum. 2  Mis­telpräparate sind als anthroposophische Arz­ neimittel zugelassen: Helixor (A/M/P) Mistelextrakte aus (A)Tannenmistel, (M) Ap­ felbaummistel, (P) Kiefernmistel; Iscador (A/M/P/Qu/U) Mistelextrakte aus (A) Tannenmistel, (M) Apfelbaummistel, (P) Kiefermistel, (Qu) Eichenmistel, (U) Ulmenmistel. 15.1.9  Fallbericht

Referiert wird über einen Fall mit Behandlungserfolg bei Plattenepithelkarzinom der Haut (publiziert in der Zeitschrift Phytomedicine [Werthmann et al. 2013]). Patient, 78 Jahre

kDiagnose

Histologisch wurde ein Plattenepithelkarzinom am linken Augenwinkel diagnostiziert. Eine Resektion wäre verstümmelnd gewesen, der Patient stimmte einer chirurgischen Entfernung, einer eventuellen Radiotherapie und anderen invasiven Methoden nicht zu. k1. Therapieversuch

Nach entsprechender Aufklärung des Patienten erfolgte die Entscheidung zu einem Therapieversuch mit periläsionaler Applikation eines Mistelextrakts. Begonnen wurde nach dem Motto start low, go slow mit einem Mistelextrakt mit niedrigen Mistellektin-­ Konzentrationen (Esche als Wirt, Abnoba VISCUM Fraxini 0,02  mg, 0,2  mg, 2  mg), welcher einmal pro Woche über 24  Wochen mittels Feinnadelinjektionen rund um die Läsion appliziert wurde.

261 Pflanzenheilkunde

kDosiseskalation

Wegen einer ausbleibenden Reaktion erfolgte eine Dosiseskalation, indem die Behandlung auf einen Mistelextrakt auf Wirtsbasis Birke (Abnoba VISCUM Betulae 20 mg) mit einem hohen Gehalt an Mistellektin (20  μg/ml, Applikationsdosis 0,1–0,45  ml, je nach Toleranz des Patienten) umgestellt wurde. Die Therapie erfolgte erneut über 24  Wochen. Die Läsion begann sich in Woche  7 deutlich zu verkleinern und zu schuppen. Nach 24 Wochen war makroskopisch kein Tumor mehr sichtbar. Einer histologischen Bestätigung der Heilung stimmte der Patient nicht zu. kSubkutane Injektionsbehandlung

Anschließend wurde noch eine subkutane Injektionsbehandlung in den Oberarm in niedrigen Dosierungen intermittierend über mehrere Wochen durchgeführt. kErgebnis

Während der Behandlung kam es zu lokalem Juckreiz und zu Entzündungszeichen mit Schwellung an der Injektionsstelle, was allerdings mit einem Antihistaminikum gut therapierbar war; ansonsten wurden keine nennenswerten unerwünschten Wirkungen berichtet. Innerhalb der 4-jährigen Nachbeobachtung blieb der Patient rezidivfrei. Weitere Studien hinsichtlich des Einsatzes bei Plattenepithelkarzinom liegen nicht vor, nicht zuletzt auch deshalb, weil der primär kurative Ansatz mit ausgezeichnetem Behandlungserfolg in der chirurgischen Entfernung liegt. In Ausnahmefällen und mit entsprechender Aufklärung des Patienten könnte jedoch der Einsatz von Mistelextrakten eine Alternative darstellen. 15.1.10  Studien/Evidenzlage

15

escop.com) und des HMPC/EMA (European Medicines Agency, 7 www.­ema.­europa.­eu), die laufend erweitert und auf neuesten Stand gebracht werden (Links zuletzt abgerufen am 28.09.2018). Bei der klinischen Prüfung von Phytotherapeutika wird besonderer Wert darauf gelegt, das eingesetzte pflanzliche Arzneimittel hinsichtlich Ausgangsdroge, Extraktionsmittel und Droge-Extrakt-Verhältnis (DEV) genau zu definieren und die Studien nach GCP durchzuführen.  

kRich et al. (2017)

In einer prospektiven, doppelblinden Multicenterstudie werden 114 Patienten mit chronischem Verlauf einer funktionellen Dyspepsie für 4 Wochen mit einer Kombination aus ätherischem Pfefferminzöl und Kümmelöl (90 mg WS  1340 + 50  mg WS  1520  in verkapselter Form) vs. Plazebo geprüft. Über den validierten Nepea-Dyspepsie-Index zeigte sich eine statistisch signifikante Besserung unter dem Verum hinsichtlich Oberbauchschmerzen, abdomineller Krämpfen und Völlegefühl. kKamin et al. (2012)

Es handelt sich um eine randomisierte, plazebokontrollierte, doppelblinde Multicenter­ studie eines alkoholischen Extraktes aus Pelargonium sidoides (EPs 7630) bei insgesamt 420  Kindern und Jugendlichen im Alter von 1–18 Jahren mit akuter Bronchitis. Bis zum 7. Behandlungstag zeigte sich in der Behandlungsgruppe eine signifikant deutlichere Besserung des BSS-Score (Beeinträchtigungs-­ Schwere-­Score) als in der Plazebogruppe. Das Präparat erwies sich nicht nur als wirksam, sondern auch als gut verträglich und sicher in der Anwendung. kEdwards et al. (2012)

Klinische Studien zu einer Vielzahl pflanzlicher Arzneimittel (Phytopharmaka) finden sich bei Schilcher (2016), Blaschek (2016) und in den Monographien der ESCOP (European Scientific Cooperative on Phytotherapy, 7 www.  

Therapeutische Effekte und Verträglichkeit eines Spezialextraktes aus Rhodiola rosea (WS  1375) wurden an 101 Patienten mit Stress-­Symptomatik in einer offenen Multicenterstudie geprüft. Anhand der numerischen Analogskala (NAS) sowie der ­Clinical-Global-­Impression-Skala

262

U. Kastner et al.

(CGI) wurden sowohl positive Wirkungen bei körperlichen und geistigen Symptomen von Stress als auch die gute Verträglichkeit belegt. kKasper et al. (2010)

Die anxiolytische Wirksamkeit von ätherischem Lavendelöl wurde an mehr als 200 Patienten mit Unruhe und Angststörungen untersucht. Schon nach 2 Wochen (täglich 80 mg WS 1265 in Weichgelatinekapseln) zeigte sich eine statistisch signifikante Verbesserung in der Hamilton-Angst-Skala (HAMA) im Vergleich zu Plazebo.

2-jährige Ausbildung in Phytotherapie angeboten. Die Seminarinhalte umfassen die theoretische und praktische Kenntnis der Arzneipflanzen, Arzneidrogen und pflanzlicher Präparate, die Chemie der Wirkstoffe, pharmakologische Wirkungen, Wirksamkeit, Herstellung und Anwendung von Phytopharmaka u.  a., inkl. der entsprechenden Fachliteratur. Nach Absolvierung von 8  Wochenendmodulen und dem erfolgreichen Ablegen einer Abschlussprüfung wird von der ÖGPHYT das Diplom „Phytotherapie“ verliehen, das von der Österreichischen Ärztekammer als Spezialdiplom anerkannt wird (7 https://www.­arztakademie.­at/). Weitere Angebote der Österreichischen Gesellschaft für Phytotherapie sind Exkursionen, die alljährlich stattfindenden Südtiroler Herbstgespräche (Phytotherapie und Phytopharmaka, 7 http://www.­phytoherbst.­at/. Zugegriffen am 28.09.2018) mit Vorträgen und Workshops, Bezug der Zeitschrift PHYTO Therapie AUSTRIA, verbilligter Bezug der Zeitschrift f. Phytotherapie u. a. m. Dem steigenden Bedarf entsprechend werden auch an den Universitäten einzelne Lehrveranstaltungen im Bereich Phytotherapie angeboten. Beispiele: Universität Wien, Vorlesungen im Fachbereich Pharmazie Phytopharmaka  – Phytotherapie (mit Exkursion), 2-stündig (1,0 ECTS-Credits), Pflanzliche Arzneimittel – Therapiekonzepte, 1-stündig (1,0 ECTS-Credits), TCM  – Neue Herausforderungen für Pharmazeuten, 1-stündig (1,0 ECTS-­Credits).  

kVinson und Radke (2011)

980  Kinder im Alter von 3–14 Jahren mit funktionellen gastrointestinalen Beschwerden (Diagnose nach Rome-III-Kriterien) wurden mit einem Kombinationspräparat (STW  5, Extrakte aus Iberis amara und 8 weiteren Arzneidrogen) während einer Woche behandelt. 87–89 % der Patienten/Eltern und Ärzte beurteilten den Behandlungserfolg als sehr gut oder gut, die Verträglichkeit wurde von den Ärzten für 95  % der Patienten mit sehr gut oder gut bewertet (zit. nach Ottilinger et al. 2013; dort finden sich auch weitere Studien). 15.1.11  Ausbildungsmöglichkeiten

15

Mit der Entwicklung synthetischer Arzneistoffe und Antibiotika in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ging das Interesse an pflanzlichen Arzneimitteln massiv zurück. Entsprechende Lehrinhalte schienen daher im Curriculum der universitären Medizinerausbildung entbehrlich und bleiben bis heute weitgehend unberücksichtigt. Im Gegensatz dazu spielen pflanzliche Arzneimittel eine wichtige Rolle im Rahmen des Fachgebiets der Pharmako­ gnosie bei der Ausbildung von Pharmaziestudenten. Von der Österreichischen Gesellschaft für Phytotherapie (ÖGPHYT, 7 www.­phy­ totherapie.­at) wird seit 2006  in Kooperation mit dem Fortbildungszentrum Allgemeinmedizin (FAM, Pöchlarn/NÖ, 7 www.­fam.­at) eine  





zz Adressen/Links

Österreichische Gesellschaft für Phytotherapie (ÖGPHYT) c/o Dept. für Pharmakognosie, Pharmaziezentrum der Universität Wien Althanstr. 14 A-1090 Wien 7 www.­phytotherapie.­at, ­[email protected]

Zusammenfassung 55 Phytotherapie im Rahmen der konventionellen Medizin bedeutet Anwendung pflanzlicher Arzneimittel (Phytopharmaka),

263 Pflanzenheilkunde

55 55

55

55

55

beruhend auf langer Erfahrung und naturwissenschaftlich-­medizinischen Erkenntnissen. Diese Therapieform liefert wertvolle Beiträge zu einer modernen Pharmakotherapie. Bei einer Vielzahl von Indikationen in jedem Lebensalter können Phytopharmaka allein oder adjuvant zu anderen Therapiemaßnahmen erfolgreich eingesetzt werden. Vorzüge sind u.  a. die gute Wirksamkeit und Verträglichkeit bei geringem Nebenwirkungspotenzial. Im Gegensatz zu Einzelwirkstoffen (Reinsubstanzen) handelt es sich bei Phytopharmaka immer um Stoffgemische, mit dem Vorteil von Multitarget-Wirkungen. Voraussetzung für eine seriöse Anwendung ist die gute Kenntnis der pflanzlichen Materia medica – von der einfachen Teedroge bis zum klinisch geprüften Fertigpräparat –, die eine Abschätzung von Möglichkeiten und Grenzen der Phytotherapie erlaubt.

15.2  Hildegard-Medizin Petra Zizenbacher

Ein großer Dank gebührt dem Bund der Freunde Hildegards und der Familie Posch und Dr. W. Strehlow. Sie erforschen die Schriften von Hildegard von Bingen und entwickeln ihre Rezepte weiter. 15.2.1  Hildegard von Bingen

(1098–1179)

Hildegard von Bingen wurde 1098 in Deutschland geboren. Es war eine Zeit der Umbrüche, Frauen spielten im öffentlichen Leben eine untergeordnete Rolle; sie gebaren Kinder und sorgten so für Nachschub an Arbeitskräften und Erben, darüber hinaus standen sie dem Haushalt vor. Trotzdem konnte sie sich Gehör verschaffen. Sie nannte Probleme beim Namen und scheute keinen Konflikt, um Klarheit zu schaffen.

15

Kaum einer anderen Person ist es gelungen, nach so langer Zeit wieder eine Bedeutung zu erlangen. Ihre Worte klingen auch heute noch modern, denn sie trat gegen weltpolitische Kurzsichtigkeit an und mahnte das Übernehmen von Selbstverantwortung im Krankheitsfall an. Der religiös gefärbte Ton, in dem die Schriften Hildegards abgefasst wurden, kann sehr gut mit dem damaligen Zeitgeist erklärt werden: Waren es doch Kirchenfürsten, die Anfang des 12. bis Ende des 18. Jahrhunderts alles, was auch nur im Entferntesten an alte nichtchristliche Traditionen anzuschließen schien, als Magie, Hexerei oder Gotteslästerung bezeichneten und als ketzerisch einordneten (Hauptzeit der Inquisition: 14./15. Jahrhundert). Da Hildegard von Bingen sich auf göttliche Visionen berief, war sie unantastbar. 2012 wurde sie von Papst Benedikt XVI heiliggesprochen. Ihre Aussagen gerieten mit der Zeit in Vergessenheit. Durch einen Zufall wurde ihr umfangreiches Wissen von Dr. med. Gottfried Hertzka (1913–1997) wiederentdeckt. Dr. Gottfried Hertzka war im 2.  Weltkrieg als Arzt an der Front. Medikamente gab es kaum, viele seiner Patienten verstarben. In einer Bibliothek fand er eine alte Schrift über Hildegardsche Rezepturen. Aus Mangel an Alternativen begann er, Kräuter zu sammeln und mit diesen seine Patienten zu behandeln. Als ausgebildeter Mediziner war er mit der Kräuterheilkunde nur bedingt vertraut gewesen und daher überrascht, wie gut die Erfolge der Anwendungen waren. Beeindruckt von der Wirkung der z. T. sehr einfachen Rezepturen begann er, sich intensiv mit der Medizin der Hildegard von Bingen auseinanderzusetzen. Für das heutige Verständnis muten viele Rezepturen eher abenteuerlich an, doch die erfolgreichen Anwendungen derselben geben ihnen Recht. Hildegard von Bingen hat die zu ihrer Zeit verwendeten Heilmethoden systematisch erfasst und mit dem Hintergrundwissen der damaligen Naturwissenschaften untermauert. Viele ihrer Erklärungen finden sich auch heute noch im den fernöstlichen Sichtweisen von Ursache und Behandlung von Krankheiten.

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U. Kastner et al.

Hildegard von Bingen war für die damalige Zeit eine sehr moderne Frau. Sie war in die politischen Geschehnisse ihrer Zeit eingebunden und umfassend über Zusammenhänge informiert. Als Leiterin eines Frauenklosters wurde ihr eine zentrale politische und auch geistliche Führungsrolle zuteil. Sie verfasste zahlreiche Schriften. Causae et curae ist ein Werk über die Ursache und Behandlung von Krankheiten. Die Umwelt der Patienten berücksichtigte sie ebenso wie ihre Ernährung und ihre psychische Verfassung. Hildegard gab Hinweise auf Diätvorschriften, z. B.:

»» „Wer schon so geschwächt ist, dass er kein

Brot mehr essen kann, nehme gleiches Gewicht Hafer und Gerste, füge etwas Fenchel dazu, koche alles in Wasser und trinke dieses (nur die Flüssigkeit) anstelle des Brotessens und mache es so, bis es mit ihm wieder aufwärts geht.“ (Hertzka und Strehlow 1995)

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Dieses Hildegard-Zitat erweckt den Eindruck, als hätte es schon damals Darmentzündungen und Nahrungsmittelunverträglichkeiten gegeben. Die Autorin setzt dieses Hildegard-­Rezept (Getreideabkochung) sehr gerne und mit großem Erfolg bei chronisch entzündetem Darm und Gastritis ein. Hildegard wies darauf hin, dass nicht jeder Mensch alles essen könne – sie charakterisierte Menschen nach verschiedenen Typen. Danach richteten sich ihre Ernährungsempfehlungen (7 Kap. 29). Gewürze und Kräuter wurden in unterschiedlichster Zubereitung bei diversen Leiden eingesetzt. An die 2000 verschiedene Kräuterrezepturen werden in ihren Schriften beschrieben. Viele sind im Fachhandel erhältlich, z.  B.  Galgant-Tabletten bei Durchblutungsstörungen und Krampfzuständen, Hirschzungenelixier zur Leberreinigung, Birnenhonig-­ Pulver zur Blutreinigung bei rheumatischen Erkrankungen und Migräne. Für alle Lebenslagen gab Hildegard praktische Hinweise:  

55 Rebasche als Zahnputzmittel, 55 die Maikur als Frühjahrskur (7 Kap. 28, Kurmedizin), 55 Hirschzungenelixier bei Verschleimung.  

Bei Ernährungsempfehlungen spielen immer der Menschentyp und die Art der Beschwerden (Schnupfen, Husten o.  ä.) eine Rolle. Schleimbildung entsteht durch mangelhafte Verdauung, zumeist ausgelöst durch Nahrungsmittel, die der Betreffende aktuell schlecht verträgt. Zu Hildegards Zeiten gab es nur Rohmilchprodukte. Heutzutage gilt die Empfehlung: Milchprodukte (homogenisierte Milch und Industriekost meiden). In der damaligen Zeit wurden Mineralstoffgetränke, Vitamincocktails und Aufbaunahrung zubereitet, z. B. in Form von Getreideabkochungen (7 Kap.  29) oder im Rahmen einer Birnhonigkur (7 Kap.  28). Der Körper braucht diese natürlichen Stoffe, um zu heilen und gesund zu bleiben. Viel später formulierte Paracelsus:  



»» „Deine tägliche Nahrung sei dein Heilmittel.“ (Hertzka und Strehlow 1995)

Ein weiteres Gebiet, das Hildegard ausführlich behandelte, umfasst die Reinigung des Körpers. Viele Krankheiten entstehen, weil die Entgiftungsorgane überlastet sind – vergleichbar mit verstopften Filtern, die eine Überschwemmung verursachen. Ausleitverfahren wie Fastenkuren, Heilbäder, Schröpfen, Aderlass sind wichtige Methoden, um gesund zu werden und gesund zu bleiben. Man wusste schon damals: Nur wenn die Entgiftungsorgane Niere, Darm, Haut, ­ Lunge gut arbeiten, kann der kranke Mensch heilen. Die Gemütsverfassung spielt eine große Rolle. Alle Emotionen haben eine Auswirkung auf den Körper. Freude und Zufriedenheit stärken den Körper. Gefühle wie Neid, Hass, Unzufriedenheit, Gier, Trägheit, Angst, Zorn, übermäßiges Arbeiten, Essen, Trauern und ähnliche Gemütszustände machen krank bzw. verhindern Gesundheit.

265 Pflanzenheilkunde

Die Hildegardschen Rezepte wurden in den letzten Jahren in zahlreichen Fällen ausprobiert. Noch heute bringen die Anwendungen erstaunlich gute Resultate. Etliche von ihnen müssen an die heutigen Gegebenheiten adaptiert werden: Bären, Geier und andere Tiere stehen auf der Roten Liste, manche Vogelpopulationen sind in den letzten 30 Jahren um bis zu 90 % zurückgegangen; daher sind Produkte aus ihnen aus ethischen Gründen abzulehnen. Ebenso ist die Verwendung von Kristallen, die unter Zerstörung von Bergstrukturen gewonnen werden, kritisch zu hinterfragen. >> Bei der Hildegardschen Therapieempfehlung wird immer auf die verschiedenen Menschentypen eingegangen.

Die Typeneinteilung gleicht derjenigen, die schon die griechischen Heilkundigen in der Vier-Säfte-Lehre und der daraus abgeleiteten Lehre von den Temperamenten beschrieben hatten. Je nachdem, welcher Körpersaft überwiegt, lassen sich folgende Typen unterscheiden: 55 Choleriker („gelbe Galle“), 55 Melancholiker („schwarze Galle“), 55 Sanguiniker (Blut), 55 Phlegmatiker (Schleim). Betrachtet man Menschen, kann man sehen, dass manche eher zäh und dünn sind, auch wenn sie wenig Sport treiben. Wieder andere haben ein eher weiches Bindegewebe, neigen zu Wassereinlagerungen und zu Gewichtszunahme. Jeder Mensch – egal ob Mann oder Frau – hat einen individuellen Stoffwechsel. Die eher „trockenen“ Typen neigen zu Einlagerungen im Sehnenbereich und im gesamten Bindegewebe. Ihnen wird oft mehr Geduld abverlangt, bis sie einen Therapieerfolg genießen können. Auch wenn sie täglich mehr als 2  Liter Flüssigkeit/Wasser trinken, haben sie trotzdem oft Schwierigkeiten, Einlagerungen aus dem Gewebe zu lösen. Füllige Menschen haben meist einen besser funktionierenden Mineralstoffaustausch im Zellinneren und können dadurch besser ausscheiden und umverteilen.

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zz Rahmenbedingungen zu Hildegards Zeit

In der unruhigen Zeit, in der Hildegard von Bingen lebte, gab es eine klare gesellschaftliche Rangordnung: Kirche – Herrscher – Bevölkerung. Es ist davon auszugehen, dass ein großer Teil der Bevölkerung (ca. 80  %) eher arm war. Außerdem konnten die meisten Menschen, wenn überhaupt, nur genug lesen und schreiben, um ihren Geschäften nachgehen zu können. Man bedenke, dass Sklaverei im Römischen Reich selbstverständlich war und Leibeigenschaft in Europa erst ab 1700 schrittweise flächendeckend abgeschafft wurde. Auch kinderreiche Adelsfamilien waren oft nicht von Armut verschont. Hildegard selbst kam aus einer kinderreichen Familie und wusste um die Rahmenbedingungen für die Bevölkerung. Arme Menschen verwendeten das, was ihnen zur Verfügung stand. Es ist davon auszugehen, dass die meisten von ihnen, speziell die Frauen, im Umgang mit Heilpflanzen geschult waren. Heilpflanzen wachsen in Wald und Flur, sind jedem zugänglich und sie zu ernten kostet nichts. Gewürze, speziell aus fremden Ländern, waren  – wenn überhaupt verfügbar  – teuer. Es ist anzunehmen, dass Rezepte nicht zuletzt deshalb oft an die Gegebenheiten angepasst wurden. Gemessen wurde in Handmaßen oder Verhältnisangaben (z.  B. „nimm davon und doppelt so viel davon und halb so viel von dem anderen“). >> Zahlreiche Ingredienzen sind heute kaum verfügbar. Aus Artenschutzgründen oder wegen der Toxizität bestimmter Pflanzen könne viele Original-Rezepte nicht mehr angewendet werden. Geierteile oder Bärenfett in Salben oder Osterluzei in Elixieren sind heute z. B. undenkbar. Trotzdem bergen die Schriften und Rezepte einen Schatz an Empfehlungen und Rezepten, der auch heute viel Nützliches bringen kann.

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U. Kastner et al.

15.2.2  Ausleitverfahren

Aderlass Im Altertum galt der Aderlass als eine der wichtigsten Heilmethoden. Eine erste Hochblüte erfuhr der Aderlass bei den Ägyptern und Babyloniern. Den Ärzten von damals war sehr wohl bekannt, dass die durch den Aderlass hervorgerufene heilende Wirkung in erster Linie auf eine Harmonisierung der Körperenergien zurückzuführen ist. Der große ägyptische Eingeweihte Hermes Trismegistos brachte es auf die einfache Formel:

»» „Wie oben, so unten.“ (Hertzka und Strehlow 1995)

So wie der Kosmos schwingt, schwingen auch unsere Körperenergien und unser Körper. Hildegard von Bingen definierte schon vor 900 Jahren die Wichtigkeit der Einhaltung bestimmter Regeln, speziell die Berücksichtigung des Mondes, um die therapeutische Wirksamkeit des Aderlasses voll zur Entfaltung bringen zu können:

»» „Du hast in dir den Himmel und die Erde.“ (Hertzka und Strehlow 1995)

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Hildegard erklärt, dass beim Aderlass je nach Beschwerdebild die entsprechende Vene punktiert werden solle. Aus der chinesischen Meridianlehre weiß man, dass an der inneren und äußeren Seite der Arme unterschiedliche Akupunkturpunkte zu finden sind. Die griechische Vier-Säfte-Lehre (7 Abschn. 15.2.1) besagt bereits, wie viel das Blut über den jeweiligen Menschen aussagt. Hildegard von Bingen beschreibt Ähnliches. Dabei hat die Sichtdiagnostik mit einer chemischen Blutanalyse wenig gemeinsam. Es handelt sich um unterschiedliche diagnostische Hilfsmittel. Auch heute noch kann der Aderlass dem Patienten wie auch den behandelnden Ärzten bei der Diagnosefindung und beim Therapieverlauf wertvolle Informationen liefern: Im Blut spiegelt sich die Ernährungsgewohnheit und auch die emotionale Verfasstheit des Pa-

tienten wider. Diese Zusammenhänge werden in der heutigen Sicht auf Krankheitsentstehung und Therapieverlauf kaum berücksichtigt. Haben sich sowohl der Patient als auch die Behandler mit diesem Sachverhalt ausei­ nandergesetzt, eröffnen sich für beide Seiten gut nachvollziehbare Bilder. >> Die Blutdiagnostik bildet ein Herzstück der Hildegard-Medizin. Die Beobachtung des Aderlassbluts kann zur Diagnostik und zum Beobachten des Therapieverlaufs herangezogen werden.

Ein Ziel der Aderlass-Therapie ist es, Schleim und „Schwarzgalle“ aus dem System abfließen zu lassen (maximal 250 ml). Ein weiteres Ziel ist es, alles zu tun, damit der Körper keine „Schwarzgalle“ mehr bildet, denn nach Hildegard stellt diese die wichtigste Krankheitsursache dar. Interpretation von Befunden 55 „Schwarzgalle“ (. Abb. 15.1a) und „zu trockenes Blut“ (wenn der Blutkuchen zerfällt) weisen auf einen Leberstau hin 55 Ist das Serum milchig, wurde zumeist die Vorbereitung zu wenig genau genommen, oder es liegt eine Fettstoffwechselstörung vor 55 Wird im Serum rasch nach der Abnahme Schleim sichtbar (. Abb. 15.1b), liegt bei der Person ȤȤ entweder eine Erkältung oder ȤȤ ein träger Stoffwechsel oder ȤȤ die Einnahme von ­Medikamenten/Nahrungsergänzungsmitteln oder ȤȤ eine ungenügende Verdauung der Nahrung vor 55 Trübes, grünliches Serum (. Abb. 15.1c) weist auf eine Leber-/ Gallendysfunktion hin 55 Klebt der Blutkuchen im Glas, ist dies ein Hinweis auf eine unzureichende Entleerung des Darms  





267 Pflanzenheilkunde

a

15

b

c

..      Abb. 15.1  Aderlassblut mit „Schwarzgalle“ a, mit „Schwarzgalle“ und Schleim b und mit grünlichem Serum c

Laut Hildegard von Bingen haben Emotionen eine signifikante Auswirkung auf den gesamten Stoffwechsel und daher auch auf das Blut. Deshalb beschreibt sie die Einflüsse von emotionalen Angewohnheiten sehr genau. >> Emotionen spielen bei der Entstehung von Krankheiten eine wesentliche Rolle. Den Auswirkungen von Emotionen auf die Spur zu kommen, ist ein besonders wichtiger Aspekt, um völlig gesund zu werden.

kDas „ideale“ Blut

Wird eine Vene punktiert, fließt üblicherweise zuerst dunkel- bis schwarz-rotes Blut ab. Die Färbung ändert sich meist nach einer gewissen Zeit. Im Idealfall ist das Blut dann gleichbleibend mittelrot. Was diesen Farbumschlag bewirkt, ist wissenschaftlich noch zu wenig erforscht. Tatsache ist: nach einer Zeit während des Aderlasses tritt zumeist eine deutlich sichtbare Farbänderung des Venenblutes auf. Bei manchen Patienten tritt dieses Phänomen erst bei weiteren Aderlässen auf, manches Mal auch nicht. Der feste Blutkuchen sollte wie ein Zylinder im Glas stehen. Die flüssigen Bestandteile/das Serum sollten bernsteinfarben sein. Wenn das Blut aus dem Glas herausgeschüttet

wird, sollten keine Rückstände zurückbleiben. Der Blutkuchen sollte weder Schleim noch Beläge aufweisen und einheitlich durchgefärbt sein. Oft taucht die Frage auf, was der Unterschied zwischen Aderlass und Blutspenden sei. Aderlass vs. Blutspenden 55 Beim Aderlass wird streng darauf geachtet, dass der Mond abnimmt. Der Aderlass wird zwischen dem 1. und 7. Tag nach Vollmond durchgeführt. 55 Vorbereitung und Verhalten nach der Therapie sind Bestandteil der Aderlass-­Therapie. 55 Beim Aderlass kann das Blut frei aus der Vene fließen, und es werden maximal 250 ml entnommen. Außerdem wird nach Farbumschlag die Blutentnahme beendet. 55 Das entnommene Blut kann zur Sichtdiagnostik verwendet werden. 55 Aufgrund der Beobachtung, dass sich Blut in Kunststoffbehältnissen anders verhält als in Glas, fängt die Autorin das Aderlass-­Blut ausschließlich in Gläsern auf.

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Wann profitiert ein Patient vom Aderlass? 55 Wie oft soll zur Ader gelassen werden? ȤȤ Es ist wichtig, immer die Konstitution des Patienten zu beachten. Dies betrifft auch die Menge der Blutentnahme und die Wahl der Vene. ȤȤ Sind Harnsäure, Blutfette oder Blutzucker erhöht, bringen 3–6 Aderlässe hintereinander (einmal pro Monat) eine messbare Verbesserung ȤȤ Ist der Blutdruck erhöht, kann alle 1–2 Monate zur Ader gelassen werden; die Befindlichkeit des Patienten gibt den Weg vor ȤȤ Zur Vorbeugung ein- bis zweimal pro Jahr; das biologische Alter hilft bei der Entscheidung 55 Wann ist auf den Aderlass zu verzichten? ȤȤ Bei starker Regelblutung ȤȤ Bei schlechtem Allgemeinzustand der Patienten ȤȤ Bei ausgeprägter Anämie ȤȤ Wenn bis zu 2 Monate vor dem Aderlass Blut gespendet wurde

kVerhalten vor und nach dem Aderlass

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Vor und nach dem Aderlass sollte 3 Tage lang nur pflanzliche Kost gegessen werden. Auf stimulierende Substanzen (Kaffee, Nikotin, Grün-/Schwarztee, Energy-Drinks) sollte in dieser Zeit verzichtet werden. Am Abend vor dem Aderlass sollte ab 17  Uhr nur noch getrunken und am Morgen völlig nüchtern zur Therapie erschienen werden. Nach dem Aderlass sollten ein warmes Frühstück (Habermus, eine Breimahlzeit aus Dinkel) und Fencheltee oder Dinkelkaffee genossen werden.

ser Umstand zeigt, welche große Bedeutung die Schröpfbehandlung hatte. Bis in die heutige Zeit galt die Schröpfbehandlung als Standardtherapie. Beispielsweise wurde im Orthopädischen Krankenhaus in Wien bis in die 1970er-Jahre geschröpft, oftmals, bevor operiert wurde, oder nach einer Operation. Leider wurden in den letzten Jahrzehnten solche Behandlungsmaßnahmen zugunsten von Spritzen und Infusionen vernachlässigt. In den letzten Jahren wurde durch die zunehmende Bekanntheit von traditionellen chinesischen Methoden die in Europa traditionelle Schröpfkopfbehandlung wiederbelebt. In China ist die Schröpftherapie bis heute fixer Bestandteil einer Behandlung. Hildegard von Bingen räumt der Schröpfbehandlung einen hohen Stellenwert ein und empfiehlt sie bei vielen Leiden. Unterschieden werden 2 Arten des Schröpfens: kTrockenes Schröpfen

Bei trockenem Schröpfen wird durch den Unterdruck an der behandelten Stelle das daruntergelegene Binde- und Muskelgewebe entlastet und dadurch besser durchblutet. Tiefer liegende Verspannungen, die für Massagegriffe unzugänglich sind, werden so erreicht und entlastet. Die Behandlung wird oft als schmerzlindernd empfunden (. Abb. 15.2).  

kBlutiges Schröpfen

Beim Betrachten der Haut eines Patienten im Stehen und im Liegen sieht das geübte Auge

Schröpfen Zur der Zeit, in der Hildegard von Bingen lebte, war Schröpfen eine weit verbreitete Behandlungsmethode. Der Schröpfkopf war jahrhundertelang das Zunftzeichen der Bader. Die-

..      Abb. 15.2  Schröpfbehandlung (trocken) am Arm

269 Pflanzenheilkunde

Verklebungen und/oder Verfärbungen. Beim Berühren der Haut fühlen sich diese Areale oft verquollen an. Gelegentlich sind dort auch Temperaturunterschiede zu spüren. Der Patient hat in diesen Arealen zumeist auch Missempfindungen oder Schmerzen. Oft treten diese Phänomene im Bereich von Narben, verschobenen Wirbeln oder an durch schlechte Haltung überlasteten Stellen auf. Mittels mehrerer Stiche, die mit einer sterilen Nadel beigebracht werden, und anschließendem Anbringen des Saugkopfs wird die geschilderte Stagnation behoben – und das Gewebe entlastet.

55 Ysop (reinigt; für Suppen, Gemüse) (. Abb. 15.5), 55 Beifuß (als Aufguss oder Gewürz; regt die Drüsen an), 55 Salbei (zur äußeren Anwendung; als Aufguss wirkt er entzündungshemmend; innerlich als Aufguss oder Gewürz soll er gekocht werden und wirkt reinigend auf das Drüsensystem),  

15.2.3  Kräuteranwendungen

Hildegard beschreibt eine Vielzahl von verschiedenen Kräuteranwendungen: als Aufguss, Salbe, Kompresse, Elixier oder als Gewürz. Anhand der Anamnese und/oder der Blutanalyse werden für die Patienten verschiedene Kräuteranwendungen für die Anwendung zu Hause zusammengestellt. Es gibt Kräuter zur äußerlichen Anwendung, oder solche, die getrunken oder in sonstiger Zubereitung verabreicht werden. In der Hildegard-Medizin spielen bestimm­te Gewürze eine große Rolle. Die typischen Hildegard-­Gewürze sind: 55 Galgant (entkrampft) (. Abb. 15.3), 55 Quendel (reinigt) (. Abb. 15.4), 55 Bertram (kräftigt),

..      Abb. 15.4  Quendel (Thymus pulegioides)





..      Abb. 15.3  Galgant (Alpinia officinarum), getrockneter Wurzelstock

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..      Abb. 15.5  Ysop (Hyssopus officinalis)

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kAronstabwein

Mittel bei depressiver Verstimmung und bei hormonellen Störungen. kHirschzungenelixier

Die Hirschzunge ist ein Farn, dessen Blätter an die Form einer Zunge erinnern, daher der Name. Sie dient als Mittel gegen Verschleimung (Schleim aus der Lunge, Schnupfen, Nasenlaufen, Menopause, Wechselbeschwerden, Ausfluss), Müdigkeit, Leberschwäche, Verdauungsprobleme, Schweißausbrüche, „Schwarzgalle“.

..      Abb. 15.6  Schafgarbe (Achillea sp.)

55 Schafgarbe (als Aufguss und Gewürz; drüsenanregend) (. Abb. 15.6), 55 Mutterkümmel (entschleimt, passt daher gut zu Käse und Milchspeisen; auch als Gewürz), 55 Petersilie (entwässert; roh besser als gekocht), 55 Muskatnuss (wärmt und macht den Körper weich; verfeinert den Kaffee), 55 Zimt (mindert üble Säfte; macht warm).  

zz Gängige Hildegard-Elixiere (Auswahl)

Elixier - Zur Zeit Hildegards wurden Kräuter oft in Wein gekocht. Solche Zubereitungen werden Elixiere genannt. Manchmal werden sie mit Gewürzen und Honig gekocht. Diese Elixiere sind fast ein kulinarischer Genuss. Durch den Kochvorgang ist der Alkoholgehalt sehr reduziert, sodass der Alltag nicht beeinträchtigt wird. Menschenmit einem Alkoholproblem sollten diese allerdings meiden, ebenso Kinder. Hildegard-Elixiere sind im Fachhandel erhältlich.

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Elixiere werden kurmäßig über einen Zeitraum von 3 Wochen zwei- bis dreimal am Tag eingenommen. Nur die Maikur (7 Kap. 28) erstreckt sich über einen längeren Zeitraum.  

kWermutelixier

Anwendung als spezielle Frühjahrsreinigungskur (auch Maikur, 7 Kap. 28), während einer Fastenkur, um sich nach Ärger zu entsäuern, zur Unterstützung der Leber-/Gallenfunktion, bei Ernährungsumstellung, nach Krankheiten, bei Verdauungsproblemen, Kopf­ schmerzen, Schlafstörungen, Wechselbeschwerden.  

kLavendelelixier

Bei Leber- und Lungenleiden, „Schwarzgalle“. kMuskateller-Salbeiwein

Magenmittel, gegen „Verpilzung“. kPetersilien-Honigwein

Anwendung als Herzmittel, bei Übersäuerung während des Fastens, bei genereller Übersäuerung, Kreislaufdysregulation, Herzleiden (psychisch z.  B. nach Verlusten/Kränkungen, bei diversen Herzbeschwerden). Vorbeugend einmal pro Monat 1 Woche lang. Nach Erkrankungen, Müdigkeit. kWasserlinsenelixier

Anwendung als Entgiftungsmittel und Begleittherapie bei akuten und chronischen Erkrankungen, während und nach Erkrankungen, zur Stärkung bei/nach Erschöpfung, zur Unterstützung der Entgiftungsorgane. kRainfarnelixier

Anwendung zur Stärkung männlicher Geschlechtsorgane, bei Neigung zu Zystenbildung, zur Vorbeugung von Zystenbildung in Drüsenorganen, Entsäuerung, Neigung zu Steinbildung. zz Gewürzpulveranwendungen

Manche Kräuter werden pulverisiert/gepresst und als Gewürzpulveranwendungen verabreicht: 55 Fenchelsamen: Tee für den täglichen Genuss, gepresst bei Verstopfung und Magenbeschwerden, lose gekaut bei Gastritis und Mundgeruch,

271 Pflanzenheilkunde

55 Galganttabletten: bei Krämpfen aller Art, blutaufbauend 2–3 Tabletten pro Tag, 55 Mutterkraut: getrocknet bei Entzündungen, 55 Weinraute: in gepresster Form bei depressiver Verstimmung, zur Drüsenanregung 2–3 Tabletten pro Tag, 55 Schafgarbenpulver: äußerlich zur Wundbehandlung, innerlich 1 TL pro Glas Wasser nach Operationen, 55 Gundelreben-Liebstöckel-Mischung: Umschlag bei Halsbeschwerden (Struma), 55 Eisenkraut: als warme Kompresse bei Abszessen, Brustentzündung, Schleimbeutelentzündung, 55 Leinsamen (sollte laut Hildegard nur äußerlich verwendet werden): Rötungen der Haut oder Blasenbildungen, die durch Verbrennungen entstanden sind, können mittels Leinsamenabkochungen behandelt werden. Dazu 1 EL Leinsamen mit 1/8 l Wasser ca. 10 Minuten lang kochen und abkühlen lassen; es entsteht eine gallertartige Flüssigkeit, die auf die betroffenen Stellen aufgetragen werden können.

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Ein großer Teil der Bevölkerung Europas hat ein instinktives tiefes Bedürfnis nach einfachen und nachvollziehbaren Therapiekonzepten. Viel mehr Menschen, als man glauben würde, wollen aktiv an ihrer Gesunderhaltung und Gesundwerdung mitarbeiten. Durch Impulse, die durch die traditionelle chinesische Medizin und die alte indische Heilkunst Ayurveda gesetzt wurden, besinnt man sich wieder auf den in Europa vorhandenen Heilkundeschatz. In der Hildegard-Medizin sind Schätze aus den davor liegenden Jahrhunderten bzw. Jahrtausenden zusammengefasst erhalten. Es lassen sich viele Parallelen zu den traditionellen Heilmethoden aus Übersee (hawaiianische Heilmethoden, traditionelle chinesische Medizin) herstellen. Die Hildegard-Medizin wird auch heute noch als hochaktuell angesehen, denn sie gibt jedem Menschen die Möglichkeit, selbst aktiv zu werden. Viele Patienten spüren auf unterschiedliche Art und Weise, wann es für sie wieder Zeit ist, einen Aderlass vornehmen zu lassen. Eine große Zahl von ihnen nimmt sich am Tag des Aderlasses und an den Tagen danach frei, um sich ganz dem Körper und seinem Wohlergehen widmen Je nach Körpertyp werden in der Hildegard-­ zu können. Viele sind durch die Betrachtung Medizin verschiedene Gemüse und Obstsorten des eigenen Blutes motiviert, nach innen zu in der Gesundungsphase empfohlen. Die Er- schauen. Der Blick auf das eigene Blut erleichnährung wird auf den Körpertyp abgestimmt tert den Zugang zu eigenen Verhaltensmustern, (zum Hildegard-Heilfasten 7 Kap. 28 und zur und es ist erkennbar, wie sich eine Veränderung Hildegard-Ernährung 7 Kap. 29). zumeist rasch sichtbar auswirkt. Beispielsweise haben Frauen, deren Menopause eingesetzt hat, nach dem Aderlass häufig keine Beschwerden 15.2.4  Hildegard-Medizin heute mehr. Menschen mit hohem Blutdruck können nach dem Aderlass oft die Medikamentendosis „Alles Große und Edle ist einfacher Art.“ reduzieren oder u. U. ganz darauf verzichten. (Gottfried Keller) Die Schröpfbehandlung hat schon viele In den letzten Jahrzehnten wurde der Wert der Skeptiker überzeugt. Oft zweifeln Menschen Naturheilkunde wiederentdeckt. Das Pendel daran, dass Saugglocken lange bestehende schlägt quasi von der rein mechanistischen Sicht Schmer­zen zum Verschwinden bringen können. auf den Körper wieder dorthin zurück, den Kör- Groß ist oft das Erstaunen, dass es doch möglich per und seine Befindlichkeit in einem größeren ist – auch ohne Spritze und Schmerzmittel. Zusammenhang wahrzunehmen. Die SegnunAuch kommt es immer wieder vor, dass gen der modernen Medizin sind vielfältig, je- sich Menschen nach längerer Zeit um einen doch wird wenig für Prophylaxe getan. Auch die Termin bemühen, um beim Heilfasten begleiZusammenhänge zwischen geistiger Haltung tet zu werden, weil ihr Körper danach verlange, und Gesundheit werden viel zu selten hergestellt. wieder gereinigt zu werden.  



»»

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kErnährung heute

Es gibt heute so viele verschiedene Ernährungsempfehlungen, dass es sich für den Arzt lohnt, genau zu erheben, was der Patient wann isst. Nach der Erfahrung der Autorin ist ohne Einbeziehung der Ernährung ein nachhaltiger Therapieerfolg kaum möglich: Die Patienten sind aufgefordert, genaue Ernährungs-/Getränkeprotokolle zur Konsultation mitzubringen, und es ist oft sehr erstaunlich, was Menschen als gesunde ausgewogene Kost empfinden. Ernährungsempfehlungen, die an die Befindlichkeit der Person und ihre Lebenssituation angepasst sind, sollten innerhalb von 2  Monaten eine deutliche Verbesserung der Befindlichkeit mit sich bringen. Beispiele: 55 Eine Patientin (Jahrgang 1963) ließ einige Leberreinigungen nach Moritz pro Jahr durchführen. Im Rahmen dieser Kuren trank sie immer wieder einige Wochen lang Apfelsaft. Die Leberwerte wurden schlechter, und eine Fruktoseintoleranz stellte sich ein. 55 Menschen, die z. B ohne fachkundige Begleitung eine Mayr-Kur (7 Kap. 22) machen und über Monate Bittersalz einnehmen, können ihre Darmflora nachhaltig schädigen. 55 Menschen, die sich laktose- und fruktosefrei ernähren und hauptsächlich industriell gefertigte Shakes zu sich nehmen, können Mangelerscheinungen entwickeln.  

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Heilpflanzen und diverse Zubereitungen daraus stellen eine fixe Säule in der Hildegard-­ Medizin dar. Viele Jahrhunderte nach Hildegard von Bingen wurde die Heilpflanzenkunde durch Sebastian Kneipp wiederbelebt. Wahrscheinlich ist das Vertrauen zu Pflanzen und ihrer Heilkraft tief im Menschen verankert. kErfahrungen aus der eigenen Praxis

Heilpflanzen werden von der Autorin seit 1996 angewendet, und die Erfahrung zeigt, dass Entzündungen wie Halsschmerzen, Lungenentzündung, Harnwegsinfekte, Scheidenent-

zündungen, Bartholinitis etc. ohne Antibiotika zum Abheilen gebracht werden können. Dies setzt allerdings voraus, dass der Hilfesuchende mitmacht und bereit ist, die Kräuteranwendungen exakt auszuführen, dem empfohlenen Ernährungsplan zu folgen und seine emotionale Situation bei und vor Ausbruch der Erkrankung zu ergründen. 15.2.5  Fallbeispiele zz Fallbericht 1

Patient, Jahrgang 1924, Beschwerden bei Arteriosklerose kAnamnese

55 Durch den starken Stress, den der Patient (Reg. Rat i.R. E.M.) in seinen letzten Berufsjahren hatte, sind seine arteriosklerosen Beschwerden – hoher Blutdruck und Schwindelanfälle – trotz Yogaübungen unerträglich geworden. 55 Nachdem er eine Abhandlung über den Hildegardschen Aderlass gelesen hatte, suchte er einen Arzt auf, der diesen durchführt. kBehandlung

55 3-malig Aderlass 55 Heilfasten mit zweimaliger Hydro-Colon-­ Behandlung kErgebnis

55 Die Medikamente können auf die Hälfte reduzieret werden. 55 Der Blutdruck hat Normalwerte erreicht. 55 Die Schwindelanfälle sind verschwunden. zz Fallbericht 2

Patientin, geb. 1993, Abszess bei sekundärer Amenorrhö

Krankengeschichte/Verlauf nach Aderlass

kAnamnese

55 In der rechten Achselhöhle findet sich ein anamestisch wiederkehrender bis zu 3 cm großer Abszess.

273 Pflanzenheilkunde

55 Die Patientin hat mit Selbstbehandlung versucht, dem Problem beizukommen, nachdem eine ärztlich vorgenommen Inzision keinen nachhaltigen Erfolg erbrachte. 55 Der Abszess ist einmal größer und dann wieder kleiner, aber darunter ist ständig ein Knoten zu spüren. kBehandlung

55 Aderlass. kErgebnis

55 Eine Woche nach der Behandlung sind die Entzündung und die Eiterung verschwunden. 55 Auch die Verhärtung darunter ist nicht mehr zu spüren. 55 Nach einiger Zeit kommt die Verhärtung wieder, doch seit einem zweiten Aderlass ist sie vollkommen verschwunden, sichtbar ist nur noch eine kleine Narbe. zz Fallbericht 3

Patientin, 49 Jahre, Schmerzen bei M. Raynaud seit ca. 25 Jahren kAnamnese

55 Typische, schmerzhaften Zeichen der Erkrankung an allen Akren, 55 in den Wintermonaten, speziell bei länger andauernden Minusgraden, kann die Patientin kaum ihre Wohnung verlassen. kTherapie

55 Ernährung nach Hildegard von Bingen, 55 tägliches Trockenbürsten des ganzen Körpers, 55 Aderlässe 2- bis 3-mal pro Jahr, 55 Schröpfen (zu Beginn der Behandlung alle 2–3 Wochen, 55 Heilfasten 1-mal pro Jahr, 55 an die Beschwerden angepasste Kräuteranwendungen(Arm- und Fußbäder, Kräuteraufgüsse, verschiedene Elixiere. kErgebnis

55 In den ersten Monaten besserten sich die Beschwerden langsam, es gab im weiteren

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Verlauf (über 8 Jahre) immer wieder Rückschläge mit einer Verschlechterung der Symptome, die die Patientin jedoch immer zuordnen konnte: Kaffeegenuss, Verzehr von Zucker und Nahrungsaufnahme nach 19 Uhr. 55 Mittlerweile weiß die Patientin sehr genau, wie viel sie ihrem Körper zumuten kann. 55 Die Beschwerden sind im Jahr 2017 bleibend verschwunden. 55 Aderlässe 1- bis 2-mal pro Jahr, Heilfasten 1-mal pro Jahr und Schröpfen 2- bis 3-mal pro Jahr werden beibehalten. zz Fallbericht 4

Patientin, Jahrgang 1951, Schmerzen durch Skoliose der Brustwirbelsäule kAnamnese

55 Skoliose der BWS, 55 Schmerzen, 55 Taubheitsgefühl in beiden Armen/Händen, 55 gelegentlich Schwindel. kBehandlung

55 Etwa 1-mal pro Monat Schröpfen des Rückens, der Schultern und Arme, 55 zusätzlich Umstellung der Ernährung auf Vollwertkost, 55 Trockenbürsten des gesamten Körpers möglichst täglich, 55 Dehnungsübungen. kErgebnis

55 Schröpfen regt die Muskeln zur Entspannung an, die Lymphe kommt ins Fließen. 55 Nach der Behandlung fallen Bewegungen der Patientin sehr viel leichter. 15.2.6  Studien/Evidenzlage

Um die positiven praktischen Erfahrungen der Naturheilkunde mit ihren alten Traditionen auch durch Studien bestätigen zu können, ist die Gesundheitspolitik gefordert, ausreichend Gelder zur Verfügung zu stellen, damit nach

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heutigen Standards weiter geforscht werden kann. In Einzelfallbeobachtungen ist zu sehen, wie wirksam Aderlass, Heilfasten, Schröpfen etc. sind. Beispielsweise normalisieren sich Blutdruck-, Harnsäure- und Blutfettwerte auch ohne Medikation. Jedoch sollten immer die Ernährung, der Lebensstil und die psychische Verfasstheit im Auge behalten werden. Zusammenfassung 55 Nach Hildegard von Bingen ist für jede Krankheit ein Kraut gewachsen. 55 Das Wichtigste neben gutem Essen und Trinken ist nach Hildegard, dass unser Gemüt sonnig und heiter ist, und dass wir uns bemühen, im Einklang mit der Schöpfung zu leben, dann ist jede Krankheit heilbar – nisi deus nolit (wenn Gott will). 55 Die Aderlasstherapie hilft erfahrungsgemäß 55 bei diversen Beschwerden wie Allergien, sekundäre und primäre Amenorrhö, Bluthochdruck, menopausale Missempfindungen, Kopfschmerzen, Neurodermitis, Rheuma, Gicht, Entzündungen und 55 zur Aufrechterhaltung der Gesundheit.

15.3  Medizinische Aromatherapie

und Aromapflege

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Gerda Dorfinger, Woflgang Steflitsch, Iris Stappen, Barbara Našel und Bärbl Buchmayr 15.3.1  Vorbemerkung

Die Aromatherapie ist ein Teilbereich der Pflanzenheilkunde. Ihre Anwendung beruht, basierend auf traditionellen Ursprüngen, in unserer modernen Zeit auf globalen wissenschaftlichen Erkenntnissen und klinischer Erfahrung. Ätherische Öle werden gewonnen durch Wasserdampfdestillation aus Pflanzenmaterial, bei Zitrusfrüchten durch Kaltpressung der Schalen. Es werden keine natur-

identischen und synthetischen Substanzen verwendet. Evidenz und Qualität bilden die Grundlage verantwortungsvollen Handelns in der medizinischen Aromatherapie. Die Aromapflege hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten als wertvoller Teil der komplementären Pflege herauskristallisiert und beeindruckt als patientennahe Betreuungsmethode, die therapeutische Interventionen zielgerichtet und ganzheitlich unterstützt. 15.3.2  Einführung in die

medizinische Aromatherapie

Wolfgang Steflitsch

Historische Entwicklung Die Tradition der Anwendung von ätherischen Ölen zur Gesundheitsförderung und Behandlung begann vor etwa 6000  Jahren u.  a. in Vorderasien und Mesopotamien, wo aus dieser Epoche stammende Geräte für die Wasserdampfdestillation gefunden wurden. Historische Berichte über die medizinische Anwendung von Pflanzen bzw. ätherischen Ölen beziehen sich u. a. auf Felsmalereien in Lascaux in der Dordogne, auf die Sekte der Katharer in Südfrankreich (im Languedoc und im Ort Montaillou in den Pyrenäen) (13. Jahrhundert), auf die Hochkulturen der traditionellen Medizin in China, Tibet und Indien, später auch im Mittelmeerraum, und auf die europäische Klostermedizin. Ende des 20. Jahrhunderts entwickelte sich die wissenschaftlich orientierte Aromatherapie. Mittlerweile gibt es für die Effizienz und Verträglichkeit von ätherischen Ölen und ihren Inhaltsstoffen weltweit eine große Zahl von qualitativ guten bis ausgezeichneten Studien aus der Grundlagenforschung und aus dem klinischen Bereich. Ähnliches gilt auch für die Aromapflege, wobei gesagt werden darf, dass die Aromapflege in vielen ambulanten und stationären Gesundheitseinrichtungen erfolgreiche Vorreiter der medizinischen Aromatherapie waren und weiterhin sind.

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Berufsrechtliche Aspekte Die Phytotherapie gehört zu den Naturheilverfahren, über die der Arzt, ebenso wie der Pharmazeut, in Deutschland wie auch in Österreich und in der Schweiz nach der Approbationsordnung Kenntnis besitzen muss (Steflitsch et al. 2013, S.  3–4). Im Pharmaziestudium bildet die Phytochemie einen wesentlichen Teil der universitären Ausbildung, und zwar als analytischer Teil der Arzneipflanzenkunde (in Deutschland: Pharmazeutische Biologie, in Österreich: Pharmakognosie). Als Aromatherapeut darf in Deutschland nur arbeiten, wer im Besitz einer Erlaubnis zur beruflichen Ausübung der Heiltätigkeit ist, also Ärzte, Heilpraktiker und Hebammen. Die Aromatherapie ist demnach nur in einer berufsergänzenden Ausbildung zu erlernen, da sie neben guten Kenntnissen in Anatomie, Physiologie, Pathologie ebensolche in Botanik und Phytopharmakologie voraussetzt und diagnostische Fähigkeiten verlangt. Ein guter Aromatherapeut muss über dieses Grundwissen und diese Fähigkeiten verfügen. Diese Regelung wird in der Schweiz wie in Deutschland gehandhabt, während in Österreich nur Ärzte die sog. „medizinische Aromatherapie“ ausüben dürfen. Die Aromatherapie kann sowohl als eigenständige Therapieform als auch als komplementäre Methode angewandt werden. Leichtere Beschwerden lassen sich ausschließlich mit ätherischen Ölen adäquat behandeln. Bei stärkeren Beschwerden können ätherische Öle sehr gut ergänzend zu anderen medizinischen, physikalischen oder psychologischen Therapieformen eingesetzt werden.

Verknüpfung im Wirkspektrum Da es ohne Forschung keinen Nachweis für die klinische Wirksamkeit, Verträglichkeit und Kosteneffizienz gibt, ist es sehr erfreulich, dass seit rund 3  Jahrzehnten eine deutliche Zunahme an Grundlagenforschung und klinischen Studien zu verzeichnen ist. Positiv zu vermerken ist auch die steigende Qualität der wissenschaftlichen Untersuchungen. Die Aromatherapie erweist sich in fachkundigen und

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erfahrenen Händen als sichere und zuverlässige Naturheilmethode, die in allen Fachdisziplinen bei ausgewählten Krankheitsbildern zur Anwendung kommen kann. Pflanzenteile, aus denen ätherische Öle gewonnen werden 55 Blüten: Lavendel, Kamille, Neroli, Rose, Ylang-Ylang, Mimose 55 Fruchtschale: Bergamotte, Clementine, Grapefruit, Limette, Mandarine, Orange, Zitrone 55 Früchte: Fenchel, Kardamom, Karotte, Koriander, Kreuzkümmel 55 Gras: Citronella, Lemongrass, Palmarosa 55 Kraut: Immortelle, Johanniskraut, Minze, Melisse, Rosmarin, Basilikum, Bohnenkraut 55 Nadeln: Zeder, Wacholder, Kiefer, Tanne, Fichte 55 Holz/Zweige: Rosenholz, Zeder, Sandelholz, Kiefer 55 Harze (per definitionem kein ätherisches Öl): Weihrauch, Myrrhe, Benzoe 55 Rinde: Zimt 55 Wurzeln: Liebstöckel, Vetiver (tropisches Süßgras), Angelika, Baldrian

Ein typisches ätherisches Öl ist ein Vielstoffgemisch aus 20 bis über 500 Einzelinhaltsstoffen (Tisserand und Young 2014, S. 483–648). Die meisten Inhaltsstoffe liegen in einem Prozentsatz von < 1  % vor. Bei ausreichender Wirksamkeit kann dies trotzdem von therapeutischer oder toxikologischer Bedeutung sein. Die flüchtigen ätherischen Öle sind lipidlöslich und in sehr geringem Ausmaß auch wasserlöslich. Sie werden nach aktueller Definition durch Wasserdampfdestillation von Pflanzenteilen bzw. im Fall der Zitrusfrüchte durch Kaltpressung gewonnen. Die Konzentration der Inhaltsstoffe in den ätherischen Ölen ist je nach Wachstums- und Umweltbedingungen, Erntemethode, Destil-

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lationstechnik und genetischen Grundlagen in einer gewissen Bandbreite unterschiedlich. Darüber, wie groß diese Unterschiede sein dürfen, damit noch immer von demselben ätherischen Öl gesprochen werden kann, geben z. B. Arzneimittelbücher (Pharmakopoen) und Pflanzensteckbriefe (Steflitsch et al. 2013, Teil D, S. 459–776) Auskunft. Zu beachten sind auch Pflanzen derselben Spezies, die ätherische Öle mit unterschiedlichen Profilen von Inhaltsstoffen (Chemotypen) erzeugen. Ätherische Öle werden in der Regel nicht von Krankheitserregern kontaminiert, weil sie meist selbst eine bisweilen sogar therapeutisch nutzbare antimikrobielle Wirkung aufweisen. In Abhängigkeit vom Wachstumsort und von der Art der Gewinnung können in den ätherischen Ölen Biozide oder Lösungsmittel gefunden werden. 100 % natürlichen ätherischen Ölen werden fallweise andere duftende oder auch nichtduftende Mittel zugemischt, um Menge und Profit zu erhöhen. Viele der regulären Inhaltsstoffe der ätherischen Öle wie auch die verbotenerweise beigefügten können durch moderne Laboranalysen (Gaschromatographie, Massenspektrometrie, NMR-Spektroskopie) erkannt werden. Künstlich hinzugefügte Stoffe können die Toxizität des ätherischen Öls erhöhen. Einige ätherische Öle sind sehr empfindlich gegenüber Licht, Hitze, Sauerstoff und Feuchtigkeit. Um Abbauprozesse zu verhindern, sollten ätherische Öle in einer dunklen Glasflasche schattig und kühl gelagert werden. Gelegentlich wird die Zugabe von Antioxidanzien empfohlen. Die Oxidation von Terpenen führt zu einer verstärkten Hautreizung. Die meisten toxischen Effekte von ätherischen Ölen stehen in Zusammenhang mit bereits bekannten Inhaltsstoffen. Die Komplexität der ätherischen Öle, die z. T. bereits in zahlreiche Pharmakopoen Eingang gefunden haben, erklärt das gleichzeitige Vorliegen vielfältiger therapeutisch und pflegerisch nützlicher Eigenschaften, wie z. B. 55 analgetisch, 55 antimikrobiell, 55 antiseptisch,

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epithelisierend, karminativ, spasmolytisch, hyperämisierend, stimulierend.

Diese Wirkungsvielfalt verdeutlicht den Unterschied zwischen einem ganzheitlichen und einem punktuellen, symptombezogenen Behandlungsansatz (Steflitsch et al. 2013, S. 11). Wirkungsebenen der ätherischen Öle 55 Symptomorientierte Anwendung auf die Organsysteme (z. B. Notfälle, akute Erkrankungen) 55 Energetische Anwendung auf den Kräftehaushalt des Körpers (z. B. Regeneration) 55 Psychisch orientierte Anwendung auf psychosomatische Muster (z. B. chronische Krankheiten) 55 Biographisch orientierte Anwendung auf die Entwicklungsfähigkeit des Menschen

Das Mischen verschiedener ätherischer Öle kann die Wirkung verstärken und mögliche Risiken minimieren. Die Kunst der Anwendung liegt darin, Duft und Wirkung der Öle in der Aromatherapie, Aromapflege, Gesundheitsförderung und Medical Wellness optimal zu nutzen.

 usammenhang von Konzentration Z und Wirkung von ätherischen Ölen (Teuscher 2010) 55 Niedrige Konzentration: Einlagerung in bestimmte Areale der Zellmembran, Beeinflussung der lokalen Enzyme, Modulatoren, Zytokine, Ionenkanäle und Rezeptoren. 55 Mittlere Konzentration: membranstabilisierende Effekte, ähnlich wie bei Lokalanästhetika. 55 Hohe Konzentration: unspezifische Effekte durch Reizwirkung.

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>> Wegen dieser komplexen Wirkungsvielfalt sollten in Therapie und Pflege ausschließlich reine natürliche ätherische Öle Verwendung finden. Auf dem Etikett der Fläschchen sollten alle wichtigen Informationen zur Identifikation und Qualität des ätherischen Öls genannt werden. Zusätzlich können von zahlreichen Firmen Zertifikate mit Prüfergebnissen erbeten werden.

Die Aromatherapie öffnet den Blick für die Ganzheitsmedizin und für eine neue Qualität der Zusammenarbeit von Pflege und Medizin mit der verbindlichen Option auf zufriedene Patienten und Mitarbeiter in den Gesundheits- und Heilberufen. Die hochpotenten ätherischen Öle können sehr kosteneffizient verwendet werden, weil unabhängig von der Applikationsart – es gibt eine bemerkenswerte Vielfalt – jeweils nur wenige Tropfen in einem geeigneten Trägermedium benötigt werden. Die Fortschritte in der Aromatherapie und Aromapflege werden in Österreich sicher und zuverlässig von der Österreichischen Gesellschaft für wissenschaftliche Aromatherapie und Aromapflege (7 https://oegwa.­at/) getragen. Die im Juni 2006 gegründete ÖGwA vereinigt in sich sehr erfahrene und engagierte in Österreich, aber auch international anerkannte Experten aus den Bereichen Apotheke, Medizin, Pflege sowie Wissenschaft und Forschung.  

Duales Wirkprinzip Die meist durch Wasserdampfdestillation gewonnenen ätherischen Öle besitzen einzigartige Eigenschaften, aus denen sich ihre duale Wirkungsweise und die verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten ergeben. Durch ihre unmittelbare olfaktorische Wirkung auf Zentren im Gehirn und von dort aus auf Steuermechanismen regulieren sie einerseits psychische und physische Vorgänge, wie z. B. Erinnerungen, Gedächtnis, Motivation, Stimmungen, Kreativität, und andererseits über das unwillkürliche vegetative Nervensystem vielfältige Organ- und Stoffwechselfunktionen. Ergänzend zu diesem Wirkprinzip entfaltet das

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„Vielstoffgemisch“ des ätherischen Öls über das Riechen der Duftstoffe seine starken, aber ausgewogenen biochemischen Wirkungen. Seine reichhaltigen Inhaltsstoffe können z.  B. durch Einreibungen, sanfte Massagen, Inhalationen und Bäder in den Körper aufgenommen werden. Besonders eindrucksvoll ist beim Einsatz von hochwertigen ätherischen Ölen der ganzheitliche Therapieansatz, der einerseits durch die beiden unterschiedlichen Wirkmechanismen (olfaktorisch und biochemisch) möglich wird, andererseits durch die vielfältigen Wirkungen jedes ätherischen Öls als Vielstoffgemisch. Die Ganzheitlichkeit mit einer immer größer werdenden Bedeutung der Personalisierung der Therapie ergibt sich somit aus der Kombination von olfaktorischer und biochemischer Wirkung des ätherischen Öls und aus der interdisziplinären und integrativen Kombination von konventioneller und komplementärer Medizin.

Nachweisbare Wirkungen von ätherischen Ölen Ausführliche Informationen und Referenzen finden sich bei Steflitsch et al. (2013, S. 59–379). Zahlreiche „Volkskrankheiten“ (z. B. COPD – chronisch obstruktive Lungenerkrankung, rheumatischer Formenkreis, Kopfschmerzen, Bluthochdruck, Depression, Stress, Schlafstörungen, Reizdarm, prämenstruelles Syndrom, Wechselbeschwerden) wie auch spezielle Krankheits- und Beschwerdebilder können durch die medizinische Aromatherapie günstig beeinflusst werden. Je nach individueller Situation kann die Aromatherapie allein oder ergänzend zur konventionellen Medizin und/ oder anderen Methoden der Komplementärmedizin angewandt werden.

Antimikrobielle Wirkung Viele ätherische Öle besitzen eine starke antimikrobielle Wirkung, v.  a. auf Viren, Bakterien und Pilze. Viele von ihnen sind auch starke Antioxidanzien. Rezente Untersuchun-

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gen zeigten, dass ätherische Öle einige Symptome im Alterungsprozess von Tieren günstig beeinflussen können (Tisserand und Young 2014): Rangliste von ätherischen Ölen als DPPH-Radikalfänger (1,1-Diphenyl-­ 2-Picrylhydrazyl) (1:170) 1. Oregano (IC50: 0,17 μg/ml) 2. Thymian Ct. Thymol et Carvacrol (0,19 μg/ml) 3. Salbei dalmatinisch (1,78 μg/ml) 4. Pfefferminze (2,53 μg/ml) 5. Rosmarin (3,82 μg/ml) 6. Piment (4,82 μg/ml) 7. Melisse (7,58 μg/ml) 8. Bay westindisch (10,00 μg/ml) 9. Teebaum (29,70 μg/ml) 10. Palmarosa (51,42 μg/ml) 11. Lorbeerblatt (53,50 μg/ml) 12. Majoran (58,67 μg/ml)

Chemopräventive ätherische Öle schützen vor Mutationen und Karzinogenese: 55 Antioxidative Wirkung, 55 Aktivierung entgiftender Enzyme, 55 Immunmodulation.

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Die keimtötende Wirkung der einzelnen Extrakte kann in einem sog. Aromatogramm oder auch in einem komplexeren Reihenverdünnungstest im Labor untersucht werden (15.3.4). Dabei werden Krankheitserreger aus Harn, Ejakulat, Vaginalsekret oder Wundabstrichen gezüchtet und verschiedene ätherische Öle aufgebracht. Wie bei Antibiotika mittels Antibiogramm kann die Hemmung des Keimwachstums beurteilt werden. So können die Öle ermittelt werden, die am wirksamsten die betreffenden Erreger abtöten oder eindämmen. Damit entsteht ein maßgeschneidertes Therapiekonzept. Für einige ätherische Öle konnte in ersten klinischen Studien ihre Einsatzfähigkeit bei Schlafstörungen nachgewiesen werden und somit ihre Potenz, sedierende Medikamente

wie Benzodiazepine einzusparen (Steflitsch et  al. 2013, S.  334–340). Ätherische Öle aus der Pflanzenfamilie der Doldenblütler (Umbelliferae), z.  B.  Fenchel, Dill und Kümmel, sowie die Pfefferminze aus der Familie der Lippenblütler (Labiatae) werden seit vielen Jahren erfolgreich und nachvollziehbar bei Dyspepsie, Meteorismus und anderen Verdauungsstörungen angewandt (Steflitsch et al. 2013, S. 216–221). Viele ätherische Öle konnten in den vergangenen Jahren auf unterschiedlichen Geweben von Tieren in  vitro ihre spezifische Effektivität unter Beweis stellen. Es scheint jedoch schwierig zu sein, den Nachweis zu erbringen, dass durch applizierte ätherische Öle eine Wirkung auf innere Organe ausüben können. Mehreren Forschergruppen gelang es jedoch in den 1990er-Jahren, nach dem Auftragen von ätherischen Ölen auf der Haut Inhaltsstoffe dieser ätherischen Öle bereits wenige Minuten später im Blut nachzuweisen: Serum-Spitzenkonzentrationen von Inhaltsstoffen von ätherischen Ölen (Tisserand und Young 2014) 55 Kampher – dermal – 1 ng/ml 55 Bergapten (Bergamotte) – dermal – 235 ng/ml (nach 360 Min) (Wang und Tso 2002) 55 α-Pinen – dermal – 10 ng/ml 55 Linalylacetat – dermal/Inhalation – 100 ng/ml (nach 20 Min) (Jäger et al. 1992) 55 Linalool – dermal/Inhalation – 120 ng/ml (nach 20 Min) (Jäger et al. 1992) 55 Thymol – oral – 93,1 ng/ml (nach 120 Min) (Kohlert et al. 2002) 55 1,8-Cineol (GeloMyrtol 300 mg) – oral – 238 ng/ml (Zimmermann et al. 1995) 55 (–)-Menthol (Pfefferminzöl 180 mg) – oral – 1492 ng/ml (nach 100 Min) (Mascher et al. 2001)

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Wirkungen bei Aufnahme durch Inhalation Eine direkte Aufnahme von ätherischen Ölen gelingt besonders leicht durch Inhalation über die Lunge. Indirekte Wirkungen auf innere Organe können durch Riechen von Duftstoffen erzielt werden, weil die Signale des N. olfactorius das Mittelhirn erreichen und dort wichtige Zentren, z. B. den Mandelkern (Corpus amygdalae), das limbische System und den Hypothalamus, beeinflussen, die für die Regulation des vegetativen Nervensystems verantwortlich sind. Es gibt eine langjährige gute Beweislage für den klinischen Benefit einer Inhalation mit ätherischen Ölen, um z. B. mit Eucalyptus globulus, Latschenkiefer und Kampfer Hustenreiz und zähes Sekret in den tiefen Atemwegen wirksam zu bekämpfen. Viele Duftstoffe besitzen die Eigenschaft, die Stimmung zu beeinflussen, glückliche Erinnerungen und Gefühle hervorzurufen und somit das Wohlbefinden zu verbessern. Viele ätherische Öle zeigen im Elektroenzephalogramm (EEG) eine signifikante Beeinflussung der kontingenten negativen Variation (CNV) der Hirnströme. Sedierende ätherische Öle oder Einzelduftstoffe senken die CNV während stimulierende Öle die CNV anheben. Eine Veränderung der CNV tritt insbesondere dann auf, wenn Probanden in Erwartung eines Ereignisses sind. Die Inhalation von ätherischen Ölen bewirkt, ähnlich wie bei Menschen mit intaktem Riechen, auch bei Menschen ohne Geruchssensibilität (Anosmie) eine nachweisbare Veränderung des zerebralen Blutflusses und somit eine Wirkung auf zerebrale Regulationssysteme.

Wirkungen bei topischer Anwendung Kampfer, Terebinth-Pistazie und deren Inhaltsstoffe bewirken bei schmerzhaften und geschwollenen Läsionen eine erhöhte Durchblutung, wenn die entsprechenden ätherischen Öle auf die Haut aufgetragen werden. Topisch angewandte ätherische Öle, z.  B. Teebaum, können Akne und Tinea pedis signifikant verbessern. Viele Menschen, die Hilfe durch eine Anwendung von ätherischen Ölen suchen, leiden

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an stressbedingten Beschwerden und Krankheiten. Sie erfahren große Erleichterung durch die entspannenden Eigenschaften der ätherischen Öle und ihrer speziellen Anwendungsmethoden.

Wirkungen auf die Psyche Die Wirkungen von ätherischen Ölen auf die Psyche können in Abhängigkeit von der Persönlichkeit sowie von früheren und gegenwärtigen Lebenserfahrungen des betroffenen Menschen sehr weitreichend sein. In der Regel können signifikante psychologische Effekte durch ätherische Öle hervorgerufen werden, die als wohlriechend und angenehm empfunden werden. Eine Verstärkung kann durch Berührung, Massage, eine entspannende Atmosphäre und persönliche Zuwendung erzielt werden. Im Sinne der Psychoneuroendokrinoimmunologie können Wirkungen über die neuroendokrine Achse vom Zentralnervensystem über die peripheren Hormonsysteme bis zu den Organsystemen die Leistung des Immunsystems verbessern. In diesem Konzept der Betreuung und Behandlung spielt der psychologische Plazeboeffekt, der auch in der „Wissenschaftsmedizin“ bestens bekannt ist, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Aromatherapeuten, die Kraft ihrer Persönlichkeit den Plazeboeffekt optimal einsetzen, haben beste Voraussetzungen für eine erfolgreiche Zusammenarbeit mit ihren Patienten, was selbstverständlich auch für Ärzte im Bereich der konventionellen Medizin gilt. Auf psychischer bzw. geistig-emotionaler Ebene können die Effekte zur Aufhellung der Stimmung, aber auch die anregend-­belebenden und die entspannend-beruhigenden Wirkungen genutzt werden. Ätherische Öle mit Wirkung auf die Psyche (Auswahl) 55 Antidepressive und neurotonische (auf das Nervensystem anregend wirkende) ätherische Öle: ȤȤ Basilikum (Ocimum basilicum), ȤȤ Majoran (Origanum majorana),

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ȤȤ Neroli (Citrus aurantium ssp. aurantium), ȤȤ Rosengeranie (Pelargonium graveolens), 55 Belebende ätherische Öle: ȤȤ Weißtanne (Abies alba), ȤȤ Rosmarin (Rosmarinus officinalis Ct. Cineol), ȤȤ Pfefferminze (Mentha x piperita), ȤȤ Ingwer (Zingiber officinalis), 55 Beruhigende ätherische Öle: ȤȤ Narde (Nardostachys jatamansi), ȤȤ Angelika (Angelica archangelica), ȤȤ Lavendel (Lavandula angustifo­ lia), ȤȤ Melisse (Melissa officinalis), ȤȤ Mandarine (Citrus reticulata), ȤȤ Vanille (Vanilla planifolia), ȤȤ Ylang Ylang (Cananga odorata), ȤȤ Muskatellersalbei (Salvia sclarea).

Pharmakologische Wirkungen

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Bei folgenden Anwendungen werden die pharmakologischen Eigenschaften der ätherischen Öle genutzt: Bestimmte ätherische Öle weisen blutdruckregulierende Eigenschaften auf. Blutdrucksenkend wirken u.  a. Bergamottminze (Mentha x piperita var. citrata), Kamille römisch (Anthemis nobilis), Lavendel (Lavandula angustifolia), Majoran (Origanum majorana), Muskatnuss (Myristica fragrans), Narde (Nardostachys jatamansi), Neroli (Citrus aurantium ssp. aurantium), Sandelholz (Santalum album) und Ylang Ylang. Pfefferminze wird in Kapselform für die Behandlung von entzündlichen Darmerkrankungen verwendet, die Terpene Pinen, Limonen, Camphen und Borneol z. B. bei Gallen- und Uretersteinen. Zu den vielfältigen therapeutisch einsetzbaren Wirkungen von ätherischen Ölen und ihren Inhaltsstoffen gehören außerdem die Förderung der Durchblutung und Verdauung, die Schmerzbekämpfung, die Entzündungshemmung, die Immunmodulation sowie die Unterstützung

regenerativer Prozesse und der Selbstheilungskräfte des Körpers. Bei onkologischen Patienten kann z. B. die antiemetische Wirkung von Angelika (Angelica archangelica), Ingwer (Zingiber officinale), Kardamom (Elettaria cardamomum), Melisse (Melissa officinalis), Patchouli (Pogostemon cablin), Pfefferminze (Mentha x piperita) und Zitrone (Citrus limon) genutzt werden.

Informationsaustausch und Vernetzung Die ÖGwA unterstützt die fachkundige Anwendung von Aromatherapie und Aromapflege und bemüht sich um Anerkennung im Gesundheitsbereich und um hohe Qualitätsstandards in der Aus- und Fortbildung, in der praktischen Anwendung und bei den verwendeten Produkten. Die Partnerschaften und Kontakte in Österreich und im nahen wie fernen Ausland sorgen für einen reichhaltigen Informationsaustausch und für viele neue praxisrelevante Erkenntnisse. Nationale und internationale Guidelines und Empfehlungen können evidenzbasiert auf hohem wissenschaftlichem und klinischem Niveau erstellt und evaluiert werden. Eine besondere Gelegenheit für Informationsaustausch und Vernetzung wurde auf der seit 2012 alle 2  Jahre stattfindenden Botanica 2018 in Brighton (7 www.­botanica2018.­com) und am 21. und 22. Februar 2015 im Pharmazie-Zentrum in Wien beim gemeinsamen Kongress von Österreichischer Gesellschaft für Phytotherapie (ÖGPhyt) und ÖGwA geboten.  

Personalisierte Behandlung Der ganzheitliche Ansatz der Aromatherapie beginnt mit der aromatologischen Anamnese, die sich auf physische, geistig-emotionale und spirituelle Aspekte, Lebensereignisse aus der Vergangenheit und Gegenwart sowie auf Zukunftsperspektiven und soziale und berufliche Beziehungen erstreckt. Vorliebe und Abneigung gegenüber Aromen besitzen ebenfalls große Aussagekraft.

281 Pflanzenheilkunde

>> Die medizinische Aromatherapie ist eine bewährte Methode der Komplementärmedizin, deshalb gilt, wie bei jeder anderen Behandlung, dass an erster Stelle eine exakte Diagnose steht. Ätherische Öle können eigenständig zur Verbesserung des Wohlbefindens, zur Gesundheitsförderung und zur Vorbeugung eingesetzt werden. Die Behandlung von akuten oder chronischen Krankheiten sollte jedoch nur gemeinsam mit einem erfahrenen Arzt erfolgen.

Die Aromatherapie folgt den Prinzipien der Naturheilkunde mit dem Ziel, Lebenskraft und Selbstheilungskräfte des Menschen zu wecken und zu stärken. Die ätherischen Öle haben tiefe Wirkung auf das psychische G ­ leichgewicht. Sie bewirken eine seelische Umstimmung, regulieren aus der Balance Geratenes und können einer Krankheit den eigentlichen „Nährboden“ entziehen. Sie wirken gleichermaßen auf den Körper und die Seele, also im ganzheitlichen Sinne. Zusammenfassung 55 Standardisierung der jeweiligen Arzneipflanzenzubereitung: genau einzuhalten­ der Herstellungsvorgang, z.  B.  Wasserdampfdestillation, Qualität der Pflanze oder des Pflanzenteils bis zum endgültig verabreichten Extrakt oder Destillat von Charge zu Charge (Schilcher et al. 2016) 55 Ätherische Öle sind vorrangig indiziert zur 55 alleinigen Therapie bei leichten bis mittelschweren Erkrankungen, v. a. bei funktionell bedingten und chronischen Erkrankungen sowie Befindlichkeitsstörungen, 55 unterstützenden Therapie bei degene­ rativen Erkrankungen, ferner in Kombination mit Antibiotika und chemisch-synthetischen Arzneimitteln wie Zytostatika, bei schweren Erkrankungen, Infektionskrankheiten und in der Notfallmedizin, 55 Rezidivprophylaxe nach bestimmten Infektionskrankheiten, 55 Nachbehandlung in der Genesungsphase.

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55 Sie weisen ein duales Wirkprinzip auf und haben viele nützliche Eigenschaften, da sie Vielkomponenten-Gemische darstellen. 55 Aromatherapie wird in der Ganzheitsmedizin und zur Salutogenese eingesetzt; Anwendungsart und Behandlungsplan sind zielgerichtet. 55 Es bestehen viele Indikationen im Bereich von Gesundheitsförderung, Behandlung, Vorbeugung und Wohlfühlen. 55 In der Aromatherapie erfolgt eine personalisierte Auswahl der ätherischen Öle, fetten Pflanzenöle und Hydrolate.

15.3.3  Wissenschaftliche

Aromatherapie

Iris Stappen Aromatherapie - Die Aromatherapie kann als ein Teilgebiet der Phytotherapie angesehen werden und ist ein wichtiger Bestandteil der Komplementärmedizin. Es wird darunter die kontrollierte Anwendung ätherischer Öle zur Förderung der Gesundheit und zur Linderung von Krankheiten verstanden.

Historischer Überblick Schon in der frühen Menschheitsgeschichte wurde die heilende Wirkung der ätherischen Öle entdeckt und zu therapeutischen Zwecken eingesetzt; sie geriet aber wieder in Vergessenheit. Eine Renaissance erfuhren die ätherischen Öle zunächst in den 1930er-Jahren durch Gattefossé (der den Namen Aromatherapie prägte) (Gattefossé 1936) und dann erneut in den 1980er-Jahren (Tisserand 1980). Durch den Trend, von der „Chemie“ wegzukommen und vermehrt Naturstoffe einzusetzen, boomte die Verwendung von ätherischen Ölen ab diesem Zeitpunkt. Leider wurde damit zunehmend unkritisch auch esoterisches Gedankengut in dieses Heilverfahren aufgenommen, wie aus einer Unzahl von pseudowissenschaftlichen Artikeln in diversen Medien hervorgeht. Dadurch ist es der Aromatherapie bis heute nicht gelungen, den Stellenwert in der Komplementärmedizin zu erreichen, der ihr eigentlich zusteht. Um dies

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zu ändern und die seriöse Aromatherapie von reiner Geschäftemacherei und Esoterik abzugrenzen, wurden und werden ätherische Öle seit Ende des letzten Jahrtausends zusehends von naturwissenschaftlicher Seite erforscht. Das ist auch insofern wichtig, als dass die falsche und missbräuchliche Anwendung von ätherischen Ölen am Menschen zu Komplikationen führen kann.

 iologische Bedeutung der B ätherischen Öle Ätherische Öle - Mischung hochreaktiver, flüchtiger, meist duftender chemischer Verbindungen. Diese werden von der betreffenden Pflanze als Stoffwechselprodukte in eigene Ölbehälter sezerniert und dienen ihr als Verteidigungsmittel gegen Mikroorganismen (Bakterien, Pilze), als Fraßhemmer, als chemische Waffen gegen Umwelteinflüsse (z. B. Wasserverdunstung) und sogar gegen um den Standort konkurrierende Pflanzen (Licht, Wasserversorgung, bessere Bodenbeschaffenheit) oder als Lockmittel für Insekten sowie als interpflanzliche Kommunikationsmittel (Maffei et al. 2011).

>> Die genannten natürlichen Aufgaben der ätherischen Öle stehen im Widerspruch zu esoterischen Hirngespinsten und verdeutlichen vielmehr die hohe Reaktivität dieser Mischungen.

 ewinnung und Wirksamkeit von G ätherischen Ölen

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Nach ISO 9235 (International Organization for Standardization 1997) und dem Europäischen Arzneibuch (2014) werden sie durchweg durch Wasserdampfdestillation (und deren methodische Modifikationen) gewonnen. Als einzige nennenswerte Ausnahme gilt das Pressen der Schalen von Zitrusfrüchten. Die trockene Destillation hat bislang für die Aromatherapie keine Bedeutung. Demzufolge sind Mischungen, die mithilfe eines Lösungsmittels aus der Pflanze extrahiert werden, vielleicht als Duftöle, Aromaöle, Essenzen oder Ähnliches zu bezeichnen, es handelt sich hierbei aber nicht um ätherische Öle. Bei derartigen Extrakten gelangen auch nichtflüchtige, z. T. toxische Verbindungen in das Öl, und es ist nicht immer möglich, das Lösungsmittel

quantitativ zu entfernen, was bei der Anwendung zu allergischen Reaktionen führen kann. Der Nachweis für die antimikrobielle, antifungale und antioxidative Wirkung vieler ätherischer Öle wurde in zahlreichen wissenschaftlichen Studien eindrucksvoll belegt, wobei die Stärke der Wirkung von der Zusammensetzung des jeweiligen ätherischen Öls abhängt (Bassole und Fuliani 2012; Stappen et al. 2014). Diese Wirkung wird nachweislich zumeist von einem bzw. einigen wenigen Hauptinhaltsstoffen hervorgerufen. Dass die Wirkung einer Einzelsubstanz allerdings durch das Zusammenspiel der anderen Verbindungen im ätherischen Öl synergistisch oder antagonistisch beeinflusst werden kann, konnte ebenso nachgewiesen werden (Klein et al. 2013; Hongratanaworakit et al. 2004). Dadurch ist das Bestreben der Aromatherapeuten, natürliche ätherische Öle statt synthetisch hergestellter Einzelverbindungen oder deren Gemische zu verwenden, verständlich, zumal eine derartige Anwendung auch dem Grundgedanken der Aromatherapie (s.  oben, Definition: Aromatherapie) widersprechen würde. Es ist allerdings erwiesen, dass in einigen Fällen synthetisch hergestellte Einzelverbindungen auch bessere aromatherapeutische Wirkungen hervorrufen können als das ätherische Öl: der Hauptinhaltsstoff des Teebaumöls, Terpinen-4-ol, ist alleine antimikrobiell effektiver als das ätherische Öl (Cox et al. 2000), antiviral jedoch nicht (Schnitzler et  al. 2001). Menthol ist gegenüber Candida albicans antimykotisch wirksamer als Pfefferminzöl (Jirovetz et al. 2007). kHybriden

Aufgrund des Vorkommens einer großen Anzahl von Hybriden der verschiedenen Pflanzen (für Lavendel sind bereits über 30  Hybride bekannt), die mit einer unterschiedlichen Zusammensetzung des ätherischen Öls einhergeht, ist die Angabe des genauen, botanisch korrekten Pflanzennamens unumgänglich. Parfumeure können die ätherischen Öle vieler Hybriden sogar am Geruch unterscheiden, die (psycho)physiologische Wirkung ist demnach erwartungsgemäß auch unterschiedlich.

283 Pflanzenheilkunde

>> Nicht weniger wichtig als die „Natürlichkeit“ eines ätherischen Öls ist dessen genaue Definition und Angabe der Region, in der die Stammpflanze geerntet wurde, der Klimadaten, der Erntezeit und der Lagerungsbedingungen, da die Zusammensetzung eines ätherischen Öls sehr stark davon abhängt (Schmidt 2010).

 nwendung von ätherischen Ölen A beim Menschen Auf den menschlichen Körper können diese Duftstoffe auf zweifache Weise einwirken: Einerseits wird der älteste der menschlichen Sinne, der Geruchssinn, angesprochen und führt zu einer Sinneswahrnehmung, die verbunden ist mit Gefühlseindruck, Erinnerung und der Folge der Beeinflussung verschiedener psychophysiologischen Parameter (semantischer/hedonischer Mechanismus; Jellinek 1997). Die direkte Verbindung zum limbischen System erklärt die starke emotionale Komponente von Düften und den Einsatz ätherischer Öle bei psychiatrischen Erkrankungen (Perry und Perry 2006). Andererseits gelangen die eingeatmeten Moleküle über die Nasen- und/oder Bronchialschleimhaut in die Blutbahn (Friedl et al. 2010) und weiter zu den Zielorganen, wo sie naturwissenschaftlich nachweisbare physiologische Wirkungen hervorrufen können (Heuberger und Ilmberger 2010; Heuberger et  al. 2001). Aufgrund ihrer hohen Lipophilie, ihrer relativ geringen Molekülmasse und der damit verbundenen leichteren Passage der Blut-­Hirn-­Schranke besteht eine hohe Affinität zum Zentralnervensystem. Dort findet schließlich eine direkte Wechselwirkung zwischen dem Duftmolekül und dem Rezeptor statt (Teuscher 2010). kTopische Anwendung

Im Rahmen der Aromatherapie werden ätherische Öle auch topisch angewendet, und ihre Bestandteile gelangen  – zumeist in einer Matrix aus fetten Pflanzenölen  – aufgrund ihrer Beschaffenheit ebenso in die Blutbahn (Friedl et al. 2010; Jäger et al. 2001; Carl 2006), wo sie eine systemische/pharmakologische Wirkung

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entfalten können (Hongratanaworakit et  al. 2004). Untersuchungen haben gezeigt, dass die dermale Anwendung (unter Ausschluss des Geruchssinns!) von Duftstoffen eine unterschiedliche Wirkung beim Menschen verursachen kann als die Inhalation (Heuberger et al. 2008). In der angewandten Aromatherapie kommt allerdings bei der lokalen Anwendung auch der Geruchssinn zum Einsatz. Aber auch hier wurden bei Untersuchungen mit ätherischem Ingweröl unterschiedliche Wirkungen in der Anwendungsart festgestellt (Stappen et al. 2016). Im Gegensatz zur peroralen Applikation (auf die hier nicht eingegangen werden soll) und der damit verbundenen raschen Ausscheidung der ätherischen Öle über die Niere gelangen bei Inhalation und topischer Anwendung die Komponenten der ätherischen Öle erst auf Umwegen zur Leber. Die systemische Wirkung ist in diesem Fall vermutlich größer (Teuscher 2010). Im Harn können Einzelkomponenten nach topischer und inhalativer Anwendung nachgewiesen werden (. Abb. 15.7), wobei sie selten bzw. in geringen Mengen unmetabolisiert, sondern vorwiegend als wasserlösliche Glukuronide und/oder Sulfate u. a. vorliegen (Fuchs et al. 1997; Thalhamer et al. 2011).  

Zusammenfassung 55 Die Aromatherapie ist eine ernst zu nehmende ergänzende Heilmethode mit naturwissenschaftlich nachweisbarer pharmakologischer Wirkung. 55 Sie stellt eine wichtige Therapieergänzung im Rahmen der Komplementärmedizin dar. 55 Es muss auf die Herkunft und Qualität der ätherischen Öle geachtet werden. 55 Ätherische Öle dürfen nicht unverdünnt auf die Haut aufgetragen werden, da sie eine Mischung aus hochreaktiven Verbindungen darstellen und zu Hautirritationen führen können. 55 In diesem Zusammenhang ist v. a. bei der Anwendung bei Kindern Vorsicht geboten. 55 Die Art der Anwendung (rein inhalativ oder topisch) kann einen Einfluss auf die Wirkung haben.

284

U. Kastner et al.

G:\Nov12-48KW\5 ml Harnprobe full-scan

29-Nov-12 01:51:14 PM

RT: 7.00 - 14.00

NL: 2.09E7 TIC MS 5 ml Harnprobe full-scan

40 38 36 34

7.42 Eine einwandfreie Qualität der Stoffe und die schnelle Verarbeitung sind selbstverständliche Voraussetzungen.

Aufbewahrung >> Nach der Herstellung ist auf saubere und sichere Abfüllung zu achten.

Laut EuAB soll die Lagerung

»» „vor Licht geschützt, in dicht geschlosse-

nen, dem Gebrauch angemessenen, möglichst vollständig gefüllten Behältnissen bei höchstens 25 °C erfolgen.“ (Europä­ isches Arzneibuch 2014, 8. Ausgabe)

Eine Aufbewahrung im Kühlschrank ist nicht zu empfehlen. Um die Produkte vor Sonnenlicht und Zersetzungsprodukten aus Aufbewahrungsgefäßen zu bewahren, werden dunkle Neutralglasbehältnisse verwendet. Die Größe des Behältnisses wird optimal an den Inhalt angepasst, damit nicht zu viel Luft eingeschlossen wird und die Rohstoffe durch den Luftsauerstoff verändert werden. Eine Überschichtung mit Argon vor dem Verschließen kann den Inhalt sozusagen „versiegeln“ und hat sich in der Praxis sehr bewährt (Našel, Vortrag 2011: Qualität und Authentizität äÖ in der Apotheke; Vortrag 2014: Der Pharmazeutische Blick auf die Aromatherapie). Dadurch ist das Produkt bis zum nächsten ­Öffnen geschützt.

Kennzeichnung Die Kennzeichnung der magistralen Zubereitungen mit ätherischen Ölen kann entweder nach den Vorschriften der jeweiligen Apothekenbetriebsordnungen (ABO 2005, §  22; ApBetrO 2008, §  14, 7 https://www.­  

abda.­de/fileadmin/assets/Gesetze/Apothekenb etriebsordnung_20081202.­pdf. Zugegriffen am

28.09.2018) oder, falls es sich um ein Kosmetikum handelt, nach den Vorschriften der EU-­ Kosmetikverordnung ([EU] Nr.  1223/2009) erfolgen. Nach den jeweiligen Apothekenbetriebsordnungen müssen, wie bei allen magistralen Zubereitungen, folgende Angaben gemacht werden: 55 die Bezeichnung der Apotheke, 55 der Inhalt nach Gewicht, Raumintalt oder Stückzahl (D), 55 die Art der Anwendung in verständlicher Form, 55 die wirksamen Bestandteile nach Art und Menge, 55 das Herstellungsdatum, 55 das Kennzeichen der pharmazeutischen Fachkraft, 55 der Hinweis auf begrenzte Haltbarkeit, 55 falls erforderlich, ein Hinweis auf besondere Lagerung.

289 Pflanzenheilkunde

>> Deutlich sichtbar anzubringen ist eine vom Arzt angeführte Gebrauchsanweisung – oder, falls nicht vorhanden, ein entsprechender Hinweis.

Bei „kosmetischen Mitteln“ handelt es sich um

»» „Stoffe oder Gemische, die dazu bestimmt

sind, äußerlich mit den Teilen des menschlichen Körpers (Haut, Behaarungssystem, Nägel, Lippen und äußere intime Regionen) oder mit den Zähnen und den Schleimhäuten der Mundhöhle in Berührung zu kommen, und zwar zu dem ausschließlichen oder überwiegenden Zweck, diese zu reinigen, zu parfümieren, ihr Aussehen zu verändern, sie zu schützen, sie in gutem Zustand zu halten oder den Körpergeruch zu beeinflussen.“ (Art. 2, EU-KosmetikVO [EG] Nr. 1223/2009)

Kosmetika unterliegen dem Lebensmittelsicherheits- und Verbraucherschutzgesetz (LMSVG) und der EU-Kosmetikverordnung ([EG] Nr. 1223/2009). Die Kodexkommission fordert auch hier eine genaue Dokumentation im Arbeitsprozess, hochwertige Ausgangssub­ stanzen, eine zeitgemäße, saubere technische Ausrüstung wie etwa regelmäßig überprüfte kalibrierte Waagen und Personal- und Betriebshygiene (Leitlinien der österr. Kodexkommission zur Herstellung kosmetischer Mittel 2010, 7 https://www.­verbrauchergesundheit.­  

gv.­a t/lebensmittel/lebensmittelkontrolle/leitlinie_der_oesterr__codexkommission_gmp_ april_2010.­pdf?. Zugegriffen am 28.09.2018).

Die Kennzeichnung unterscheidet sich von der der Apothekenbetriebsordnungen. Neben der INCI-Bezeichnung der verwendeten Inhaltsstoffe müssen 26 von der EU als besonders allergen klassifizierten Duftstoffe (Citral, Eugenol, Cinnamal, Cumarin, Geraniol, Linalool, Limonen etc.) zusätzlich gekennzeichnet zu werden, wenn sie eine gewisse Konzentration übersteigen (Kosmetikverordnung [EG] Nr. 1223/2009, Artikel 19): 55 in Rinse-off-Produkten: conc. > 0,01 %, 55 in Leave-on-Produkten: conc. < 0,001 %.

15

Wie schon mehrfach betont, beginnt Qualität bei der Wahl der Ausgangsstoffe. Deshalb sind Kunden auf jeden Fall dahingehend aufzuklären, dass die von ihnen verwendeten ätherischen Öle unverfälscht und natürlich sein sollen. Werden die Rohstoffe nicht in der Apotheke bezogen, lässt sich anhand der Kennzeichnung der im Handel befindlichen ätherischen Öle gute Qualität erkennen. Rohstoffe, deren Kennzeichnung den Vorschriften nicht entspricht, sind in Österreich nicht für den Handel zugelassen – sie werden aber dennoch immer wieder angeboten (Našel, Vortrag 2011: Qualität und Authentizität äÖ in der Apotheke; Vortrag 2014: Der Pharmazeutische Blick auf die Aromatherapie). Unterliegen ätherische Öle durch ihre Anwendung keinen anderen Gesetzen, gelten für sie das Chemikalienrecht und die Bestimmungen der CLP-Verordnung (classification, labelling and packaging) der EU (Verordnung [EU] Nr.  1272/2008, berichtigt 2016). Folgende Daten sind in der Kennzeichnung anzugeben: Pflichtangaben für die Kennzeichnung nach CLP-Verordnung (Verordnung [EG] Nr. 1272/2008, berichtigt 2016) 55 Name (Firma), Anschrift und Telefonnummer des/der Lieferanten 55 Nennmenge des Stoffes oder Gemisches in der Verpackung, die der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird, sofern diese Menge nicht auf der Verpackung anderweitig angegeben ist 55 Produktidentifikatoren: chemische Bezeichnung des Stoffes oder Gemisches 55 Gefahrenpiktogramme 55 Signalwörter 55 Gefahrenhinweise 55 Geeignete Sicherheitshinweise 55 Ggf. ergänzende Informationen

290

U. Kastner et al.

Die genaue Bezeichnung der verwendeten Pflanze ist unabdingbar. Aufgrund teilweise vorhandener unterschiedlicher Chemotypen variiert die Zusammensetzung verschiedener ätherischer Öle derart, dass die Anwendung stark davon abhängt, um welchen Chemotypen es sich handelt (Zeh 2005, S.  11; Werner und v.  Braunschweig 2009, S.  25). Außerdem sind die Art der Gewinnung (z.  B.  Wasserdampfdestillation oder Extraktion) und die Anbaumethode von Interesse. Die ätherischen Öle sollten naturbelassen bzw. naturrein sein. Die Behältnisse sind mit einem Kindersicherheitsverschluss zu versehen (CLP-Verordnung 2016). An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass in diesem Rahmen eine vollständige Darstellung aller Rechtsvorschriften nicht möglich ist und trotz sorgfältiger Prüfung Irrtümer nicht auszuschließen sind. In konkreten Fällen wird das Heranziehen der direkten Rechtsvorschriften empfohlen.

Beratung Ein wichtiger Aspekt der Qualität ist letztendlich die kompetente Beratung in der Anwendung durch Apotheker oder Ärzte. Dies gilt v. a. für die Art der Anwendung und die damit verbundene richtige Dosierung (Našel, Vortrag 2011: Qualität und Authentizität äÖ in der Apotheke; Vortrag 2014: Der Pharmazeutische Blick auf die Aromatherapie).

15

kAuswahl des geeigneten ätherischen Öls

In der Naturheilkunde gilt, dass oft mehrere Pflanzen für dieselben Beschwerden bzw. eine Pflanze für mehrere Beschwerden zur Linderung oder Heilung geeignet sind. Die konkrete Auswahl an ätherischen Ölen orientiert sich an deren Zusammenspiel und synergistischen Effekten (Našel, Vortrag 2014: Der Pharmazeutische Blick auf die Aromatherapie; Werner und v. Braunschweig 2009, S.  61). Bei komplexen gesundheitlichen Problemen, bei Kindern, Schwangeren und besonders geschwächten Menschen ist

es ratsam, diese Auswahl von ausgebildeten Aromatherapie-Sachverständigen durchführen zu lassen. kAnwendungen und Dosierungen

In diesem Rahmen sollen nur einige Anwendungsmöglichkeiten angeführt werden. Die Dosierungen sind so gewählt, dass sie für gesunde Menschen geeignet sind bzw. beziehen sie sich nicht auf stark wirksame ätherische Öle. Höhere Dosierungen oder spezielle niedrige Dosierungen sollten in der aromatherapeutischen Praxis ausgewählt und verschrieben werden. kInhalation

1–2 Tropfen der geeigneten ätherischen Öle werden in eine Schüssel mit heißem Wasser getropft (Zeh 2005, S.  36), das Gesicht wird darüber gebeugt, und es wird ca. 10 Minuten lang mit einem Tuch über dem Kopf inhaliert. Etwas Meersalz im Wasser kann als Lösungsvermittler dienen. Bei Kleinkindern wird 1  Tropfen des geeigneten ätherischen Öls auf ein feuchtes Tuch getropft und dieses in die Nähe des Bettes gehängt. kBad

Da ätherische Öle (Vollbad: Kinder 5–7 Tropfen; Erwachsene 12–15 Tropfen; Steflitsch et  al. 2013, S.  446) schlecht wasserlöslich sind, müssen sie mit einem Lösungsvermittler dem Badewasser zugesetzt werden. Dafür eignen sich: 1 EL Milch, Schlagsahne, Honig, Meersalz oder ein neutraler Badezusatz, mit dem das ätherische Öl vermischt wird. Die Badedauer sollte 10–15 Minuten nicht überschreiten. >> Vorsicht bei hohem Blutdruck und in der Schwangerschaft!

kEinreibung und Massage

Die ätherischen Öle werden vor der Anwendung mit einem fetten Öl oder einer Salbe als Grundlage gemischt und auf keinen Fall pur aufgetragen. Beispiele für fette Öle sind Se-

291 Pflanzenheilkunde

sam-, Mandel- und Olivenöl. Geeignet ist auch Jojobawachs. Wegen der begrenzten Haltbarkeit der fetten Öle empfiehlt es sich, nicht allzu große Mengen herzustellen. Die Mischung für eine therapeutische, kurzfristige Massage sollte für Erwachsene 3(–7)%ig (ca. 6–10 Tropfen auf 10 ml) und für Kinder 1–2 %ig (ca. 2–4 Tropfen auf 10 ml) sein (Steflitsch et al. 2013, S. 442). kRaumbeduftung

Bei einer Raumgröße von ca. 20–25 m2 werden 3–7  Tropfen eines ätherischen Öls oder einer Mischung in die Duftlampe gegeben (Zeh 2005, S. 33; Steflitsch et al. 2013, S. 442). Dabei darf die Temperatur des Wassers nicht zu hoch werden, da sich das ätherische Öl sonst verändert. Sicherer sind elektrische Verdampfer, die eine gewisse Höchsttemperatur nicht überschreiten. Die Dauer einer Raumbeduftung sollte zwischen 20  min und maximal 1  h betragen (Steflitsch et  al. 2013, S.  442). Ätherische Öle können auch als Raumspray mit Alkohol angewandt werden (Steflitsch et al. 2013, S. 442). kOrale Einnahme

Die orale Einnahme von ätherischen Ölen und Zubereitungen aus solchen sollte nur auf ausdrückliche Anweisung des Arztes erfolgen. Ansonsten können rezeptfrei erhältliche Fertigpräparate angewendet werden. >> Aromatherapie als Teilgebiet der Phytotherapie trägt wesentlich zu Gesundheit und Wohlbefinden der Menschen bei. Um diese in vollem Umfang und mit optimaler Wirkung einsetzen zu können, sollte auf höchste Qualität in der Anwendung geachtet werden.

Zusammenfassung 55 Qualität bedeutet: 55 Auswahl qualitativ hochwertiger Rohstoffe, 55 optimale Verarbeitung, Verpackung und Kennzeichnung, 55 professionelle Beratung.

15

15.3.6  Praxis der medizinischen

Aromatherapie

Wolfgang Steflitsch

 allberichte aus der LungenheilF kunde zz Bakterielle Kolonisation/Infektion bei COPD III mit Bronchiektasien in beiden Unterlappen

Patient, 63 Jahre, verheiratet, 172 cm, 61 kg. kAnamnese

Nikotinkonsum seit dem 16.  Lebensjahr (50 pack years [Anzahl der konsumierten Zigarettenpackungen multipliziert mit der Anzahl der Jahre, in denen geraucht wurde]), LKW-­Fahrer, Frühpensionierung, keine Allergien bekannt, in den letzten 3 Jahren 2–4 Infekt-­Exazerbationen pro Jahr, im letzten Jahr 2 Krankenhausaufenthalte wegen Exazerbationen. kKonventionelle pulmologische Therapie

SpirivaRespimat, Foster-Dosieraerosol, Berodual-Dosieraerosol bei Atemnot. kMedizinische Aromatherapie

2  ×  täglich Inhalation auf traditionelle Art mit 1  Trpf. Eukalyptus (Eucalyptus globulus), 1  Trpf. Oregano (Origanum vulgare) und 2 Trpf. Thymian (Thymus vulgaris Ct. Thymol). kSputum-Befund

55 Ausgangsbefund: zäh, gelb-grünlich; Pseudomonas aeruginosa +++. 55 Befund nach 2 Wochen Therapie: mäßig locker, gelblich; Pseudomonas aeruginosa ++. 55 Befund nach 4 Wochen Therapie: locker, gut abhustbar, wechselnd weiß bis hellgelb; Pseudomonas aeruginosa +. kLabordiagnostik

55 Ausgangswert: Leukozyten 10,86; CRP 16 (normal bis 5,0). 55 Befund nach 1 Woche: Leukozyten 7,35; CRP 12.

292

U. Kastner et al.

kThoraxröntgen

55 Ausgangsbefund: diskrete Strukturvermehrung in beiden Unterlappen mit Betonung der bronchiektatischen Areale, Zwerchfell abgeflacht, kein Erguss, keine Stauung, Cor beidseits leicht vergrößert, Emphysembullae in beiden Oberlappen. 55 Befund nach 2 Wochen: Rückbildung der entzündlichen Infiltrate in den Unterlappen, Herz besser tonisiert, sonst idem. kLungenfunktion

55 Ausgangswert: FEV-1 38 % Soll; FEV-1 % VCmax 71 % Soll; RV 214 % Soll (FEV: forciertes exspiratorisches Volumen, VC: Vitalkapazität, RV: Residualvolumen). 55 Befund nach 4 Wochen: FEV-1 45 % Soll; FEV-1 % VCmax 78 % Soll; RV 196 % Soll. kPeakflowmeter

55 Ausgangswert: 130 ml (Berodual-DA: 6–8 Hübe pro Tag). 55 Woche 1: 130–160 ml (Berodual-DA: 4–6 Hübe pro Tag). 55 Woche 2: 150–200 ml (Berodual-DA: 2–4 Hübe pro Tag). 55 Woche 3: 190–220 ml (Berodual-DA: 2–3 Hübe pro Tag). 55 Woche 4: 180–240 ml (Berodual-DA: 1–3 Hübe pro Tag). kExazerbationen

15

Keine in den letzten 4 Monaten. kKrankenhausaufenthalte

Keine in den letzten 4 Monaten. zz Chronisch obstruktive Bronchitis Stadium II mit Asthma-bronchiale-­Overlap

Patientin 52 Jahre, geschieden, 168 cm, 75 kg. kAnamnese

Nikotinkonsum sporadisch in persönlichen Krisenzeiten, kaufmännische Angestellte, Al­ lergie auf Birke, Gräser, Hausstaubmilbe, in den letzten 12 Monaten 3 Exazerbationen (Ursache: einmal Infekt, zweimal Allergie).

kKonventionelle pulmologische Therapie

Seebribreezhaler 44  μg, Serevent-Dosieraerosol, Berodual-Dosieraerosol bei Atemnot. kMedizinische Aromatherapie

2 × täglich Inhalation auf traditionelle Art mit 1  Trpf. Atlaszeder (Cedrus atlantica), 1  Trpf. Eukalyptus (Eucalyptus radiata), 1  Trpf. MyrteTürkei (Myrtus communis Ct. Cineol) und 1 Trpf. Latschenkiefer (Pinus mugo). kSputum-Befund

55 Ausgangsbefund: zäh, weiß, manchmal leicht gelblich; kein Keimnachweis. 55 Befund nach 2 Wochen Therapie: mäßig locker, weiß. 55 Befund nach 4 Wochen Therapie: locker, gut abhustbar, weiß. kThoraxröntgen

Ausgangsbefund: Zwerchfell leicht abgeflacht, kein Infiltrat, kein Erguss, keine Stauung, Herz altersentsprechend unauffällig. kLabordiagnostik

Ausgangswert: Leukozyten 7,18; CRP 10 (normal bis 5,0). kLungenfunktion

55 Ausgangswert: FEV-1 61 % Soll; FEV-1 % VCmax 86 % Soll; RV 142 % Soll. 55 Befund nach 4 Wochen: FEV-1 69 % Soll; FEV-1 % VCmax 92 % Soll; RV = 130 % Soll. kPeakflowmeter

55 Ausgangswert: 180 ml (Berodual-DA: 8–10 Hübe pro Tag). 55 Woche 1: 180–220 ml (Berodual-DA: 4–8 Hübe pro Tag). 55 Woche 2: 200–260 ml (Berodual-DA: 4–6 Hübe pro Tag). 55 Woche 3: 260–320 ml (Berodual-DA: 2–4 Hübe pro Tag). 55 Woche 4: 290–340 ml (Berodual-DA: 1–4 Hübe pro Tag). kExazerbationen

Keine in den letzten 4 Monaten.

293 Pflanzenheilkunde

..      Tab. 15.1  Empfohlene und maximale Konzentration von ätherischen Ölen zur Massage in Abhängigkeit vom Lebensaltera Alter

Empfohlene Konzentration

Maximale Konzentration

1–3 Monate

0,1 %

0,2 %

3–24 Monate

0,25 %

0,5 %

2–6 Jahre

1,0 %

2,0 %

6–15 Jahre

1,5 %

3,0 %

15+ Jahre

2,5 %

5,0 %

aAusnahmen nach Indikation, Anwendung, Ölauswahl und Patientencharakteristika bestätigen die Regel

kKrankenhausaufenthalte

15

kWarme Ölkompresse (BR2)

8  Trpf. Eucalyptus globulus/radiata/smithii, 8  Trpf. Lavendel, 12  Trpf. Myrte Ct. Cineol, 6 Trpf. Pfefferminze,14 Trpf. Thymian Ct. Thymol (für Kinder Ct. Linalool), 10 Trpf. Zitrone in 100 ml Mandelöl. kAromaölmischung (BR3)

12  Trpf. Alant/Thymian (Thymus vulgaris Ct. Linalool), 8  Trpf. Atlaszeder/Niaouli/Sandelholz, 10 Trpf. Benzoe/Myrte Ct. Cineol/Weihrauch in 100 ml Johanniskrautmazerat. kEinreibung, Massage oder warme Kompresse (BR4)

8  Trpf. Atlaszeder, 10  Trpf. Lavendel, 4  Trpf. Nelkenöl in 100  ml Sesamöl. Anwendung: 2–3 × täglich sanfte Einreibung auf Brust und/ oder Rücken bzw. als Kompresse. kInhalation (BR5)

Keine in den letzten 4 Monaten.

 eispiele für aromatherapeutische B Rezepturen und Anwendungen Altersabhängige Konzentrationsempfehlungen für ätherische Öle zur Massage gibt . Tab. 15.1 (Tisserand und Young 2014).  

zz Akute Bronchitis, chronische Bronchitis, chronisch obstruktive Bronchitis (COPD)

Steflitsch et al. 2013, S. 284–285 kSchleimlösende und entkrampfende ätherische Öle

Anis, Atlaszeder, Dill, Douglasie, Eukalyptus, Fenchel, Kamille deutsch, Lavendel, Meerkiefer, Myrte, Oregano, Pfefferminze, Teebaum, Thymian, Weihrauch, Ysop, Zitrone, Zypresse. kHustenreizstillende ätherische Öle

Anis, Benzoe, Lavendel, Myrte, Myrrhe, Oregano, Salbei, Thymian. kAromaölmischung (BR1)

8  Trpf. Atlaszeder, 5  Trpf. Lavendel, 8  Trpf. Myrte Ct. Cineol (alternativ zu diesen Ölen: Anis, Kamille blau, Lorbeer, Majoran, Sandelholz, Zypresse) in 100 ml Sesamöl.

Zitroneneukalyptus oder Lorbeer, Teebaum oder Thymian Ct. Thymol (für Kinder Ct. Linalool) oder Latschenkiefer, Zitrone zu gleichen Teilen. Anwendung: 1–3 × täglich Inhalationen mit einer Mischung aus 2–4 ätherischen Ölen auf traditionelle Art oder mit Inhalationsgerät. zz Bakterielle Kolonisation oder Infektion der Atemwege bei COPD III-IV (B/D) bzw. bei Mukoviszidose

Steflitsch et al. 2013, S. 291 kAntimikrobiell wirksame ätherische Öle

Berg-Bohnenkraut (Satureja montana), Eukalyptus (Eucalyptus ssp.), Kamille deutsch (Matricaria recutita), Kanuka (Kunzea ericoides), Manuka (Leptospermum scoparium), Niaouli (Melaleuca viridiflora), Oregano (Origanum vulgare), Sommer-Bohnenkraut (Satureja hortensis), Steinquendel (Calamintha nepeta), Teebaum (Melaleuca alternifolia), Thymian (Thymus vulgaris Ct. Thymol et Thujanol), Thymian kopfig (Thymus capitatus). kInhalation (K1) Anwendung: 1–3  ×  täglich Inhalationen mit

einer Mischung aus 2–4 ätherischen Ölen auf

294

U. Kastner et al.

traditionelle Art oder mit Inhalationsgerät als antimikrobielle Monotherapie oder als Ergänzung zur konventionellen antibiotischen Behandlung. Steflitsch et al. 2013, S. 286–287

Die erwärmende Mischung empfiehlt sich eher für Arthrosen, die kühlende für Arthritiden. In erster Linie zählen dabei aber das subjektive Empfinden des Patienten und das therapeutische Ansprechen im Verlauf.

kAntimikrobiell wirksame ätherische Öle

kErwärmende Ölmischung

zz Lungenentzündung (Pneumonie)

Berg-Bohnenkraut (Satureja montana), Eukalyptus (Eucalyptus ssp.), Kamille deutsch (Matricaria recutita), Kanuka (Kunzea ericoides), Manuka (Leptospermum scoparium), Melisse (Melissa officinalis), Oregano (Origanum vulgare), Ravintsara (Cinnamomum camphora Ct. 1,8-Cineol), Rosmarin (Rosmarinus officinalis Ct. Cineol), Sommer-Bohnenkraut (Satureja hortensis), Steinquendel (Calamintha nepeta), Teebaum (Melaleuca alternifolia), Thymian (Thymus vulgaris Ct. Thymol et Thujanol), Thymian kopfig (Thymus capitatus). kInhalation (P1) Anwendung: 2–3  ×  täglich Inhalationen mit

einer Mischung aus 2–4 ätherischen Ölen auf traditionelle Art oder mit Inhalationsgerät als Ergänzung zur konventionellen antibiotischen Behandlung. kAromaölmischung (P2)

15

zz Gelenkerkrankungen (Steflitsch et al. 2013, S. 123)

8 Trpf. Cajeput, 4 Trpf. Latschenkiefer, 12 Trpf. Lavendel, 4 Trpf. Teebaum, 8 Trpf. Thymian Ct. Thymol (bei Kindern Ct. Linalool) in 100  ml Sesamöl. kAromaölmischung (P3)

4  Trpf. Benzoe, 8  Trpf. Eucalyptus radiata, 10  Trpf. Lavendel, 6  Trpf. Myrte Ct. Cineol, 8  Trpf. Ravintsara in 100  ml Sesamöl. Anwendung: 2–3  ×  täglich sanfte Einreibung auf Brust und/oder Rücken als Ergänzung zur konventionellen antibiotischen Behandlung. >> Diese Anwendungen sind für Patienten mit Bluthochdruck und Asthma bronchiale, die nicht gut unter Kontrolle sind, nicht geeignet.

2  Trpf. Nelkenknospe, 2  Trpf. Myrte Anden, 3  Trpf. Pfeffer schwarz, 2  Trpf. Tonkabohne, 3  Trpf. Zitrone in 30  ml Macadamianussöl. Anwendung: sanfte Einreibung oder Ölkompresse, 3 × täglich. kKühlende Ölmischung

3 Trpf. Cajeput, 2 Trpf. Speiklavendel, 4 Trpf. Weihrauch indisch, 3 Trpf. Zitroneneukalyptus in 15 ml Johanniskrautöl und 15 ml Aloe-vera-­Öl. Anwendung: sanfte Einreibung, 3 × täglich; Quarkauflage: 1  TL der Ölmischung in 1 EL Quark. zz Bluthochdruck-Ölmischung (nach Sabrina Herber) (Steflitsch et al. 2013, S. 208)

3 Trpf. Lavendel, 3 Trpf. Narde indisch, 3 Trpf. Ylang-Ylang komplett in 10  ml Jojobawachs. Anwendung: Öle in einen Roll-on-Stift mischen; mehrmals täglich auf den Puls oder in der Herzgegend auftragen. zz Beruhigende Herz-Mischung (Steflitsch et al. 2013, S. 208)

6 Trpf. Melisse, 3 Trpf. Rose damaszener 10 %, 3  Trpf. Ylang-Ylang in 30  ml Mandelöl süß. Anwendung: mehrmals täglich am Solarplexus auftragen. zz Antiemetisch wirksame ätherische Öle (Steflitsch et al. 2013, S. 255)

Angelikawurzel (Angelica archangelica), Ingwer (Zingiber officinale), Kardamom (Elettaria cardamomum), Melisse (Melissa officinalis), Patchouli (Pogostemon cablin), Pfefferminze (Mentha × piperita), Sandelholz (Santalum album), Spearmint (Mentha spicata), Zitrone

295 Pflanzenheilkunde

(Citrus × limon). Anwendung: intensiv daran riechen oder als 1–5 %ige Mischung in natürlichem fetten Pflanzenöl sanft am Solarplexus auftragen. zz Raumbeduftung zur Stressprophylaxe

Steflitsch et al. 2013, S. 328

kRaumbeduftung zur Stressprophylaxe I

2  Trpf. Benzoe Siam, 4  Trpf. Bergamotte, 3 Trpf. Sandelholz. kRaumbeduftung zur Stressprophylaxe II

2  Trpf. Angelikawurzel, 3  Trpf. Lavendel, 4  Trpf. Rosenholz. Anwendung: mehrmals täglich für 1–2 Stunden, danach stoßlüften. zz Muskel- und Gelenkschmerzen (Steflitsch et al. 2013, S. 379)

Schmerzhafte traumatische, entzündliche oder degenerative Muskel- und Gelenkbeschwerden.

15

kAromaölmischung I

8 Trpf. Ingwer, 12 Trpf. Lavendel, 4 Trpf. Nelkenknospe, 6  Trpf. Pfefferminze in 10  ml Johanniskrautmazerat ölig, 15 ml Arnikamazerat ölig und 5 ml Calophyllumöl. kAromaölmischung II

13  Trpf. Lavendel, 9  Trpf. Lemongrass ost-­ indisch, 3 Trpf. Majoran, 5 Trpf. Nelkenknospe in 10 ml Johanniskrautöl, 10 ml Arnikaöl und 10 ml Calophyllumöl. Anwendung: 1–3 × täglich einmassieren oder Ölkompresse auflegen, idealerweise über Nacht.

 athogene Keime mit Auswahl P ätherischer Öle In . Tab.  15.2 sind ätherische Öle aufgelistet, die zur Behandlung von pathogenen Erregern geeignet sind (Steflitsch et al. 2013, S. 164–165).  

..      Tab. 15.2  Ätherische Öle mit Wirkung auf pathogene Keime (Auswahl) Pathogene Erreger

Geeignete ätherische Öle

β-Hämolysierende Streptokokken

Berg-Bohnenkraut (Satureja montana), Lavendel (Lavandula angustifolia), Oregano (Origanum vulgare), Thymian (Thymus vulgaris Ct. Thymol et Thujanol), Zimtrinde (Cinnamomum verum)

Clostridium perfringens

Nelkenknospe (Syzygium aromaticum)

Corynebacterium diphtheriae

Lavendel (Lavandula angustifolia), Teebaum (Melaleuca alternifolia)

Enterokokken

Nelkenknospe (Syzygium aromaticum), Oregano (Origanum vulgare), Thymian (Thymus vulgaris Ct. Thymol et Thujanol), Zimtrinde (Cinnamomum verum)

Escherichia coli

Eukalyptus globulus (Eucalyptus globulus), Oregano (Origanum vulgare), Salbei (Salvia officinalis), Thymian (Thymus vulgaris Ct. Thymol et Thujanol), Zimtrinde (Cinnamomum verum)

Klebsiella

Cajeput (Melaleuca cajuputi), Oregano (Origanum vulgare), Thymian (Thymus vulgaris Ct. Thymol et Thujanol), Zimtrinde (Cinnamomum verum)

Mycobacterium tuberculosis

Majoran (Origanum majorana), Pfefferminze (Mentha × piperita), Ysop (Hyssopus officinalis)

Neisseria gonor­ rhoeae

Teebaum (Melaleuca alternifolia)

Proteus-Arten

Cajeput (Melaleuca cajuputi), Nelkenknospe (Syzygium aromaticum), Oregano (Origanum vulgare), Thymian (Thymus vulgaris Ct. Thymol et Thujanol), Zimtrinde (Cinnamomum verum)

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..      Tab. 15.2 (Fortsetzung) Pathogene Erreger

Geeignete ätherische Öle

Pseudomonas aeruginosa

Berg-Bohnenkraut (Satureja montana), Nelkenknospe (Syzygium aromaticum), Pfefferminze (Mentha × piperita), Teebaum (Melaleuca alternifolia)

Salmonella typhi

Anis (Pimpinella anisum), Teebaum (Melaleuca alternifolia)

Staphylococcus albus

Berg-Bohnenkraut (Satureja montana), Nelkenknospe (Syzygium aromaticum), Oregano (Origanum vulgare), Thymian (Thymus vulgaris Ct. Thymol et Thujanol), Zimtrinde (Cinnamomum verum)

Staphylococcus aureus

Berg-Bohnenkraut (Satureja montana), Latschenkiefer (Pinus mugo), Oregano (Origanum vulgare), Salbei (Salvia officinalis), Sandelholz (Santalum album), Teebaum (Melaleuca alternifolia), Thymian (Thymus vulgaris Ct. Thymol et Thujanol), Zimtrinde (Cinnamomum verum)

MRSA-Aktivität

Pfefferminze (Mentha × piperita), Lavendel (Lavandula angustifolia), Teebaum (Melaleuca alternifolia), Thymian (Thymus vulgaris Ct. Thymol et Thujanol), Wacholder (Juniperus communis)

Streptococcus pneumoniae

Berg-Bohnenkraut (Satureja montana), Cajeput (Melaleuca cajuputi), Eukalyptus globulus (Eucalyptus globulus), Nelkenknospe (Syzygium aromaticum), Oregano (Origanum vulgare), Thymian (Thymus vulgaris Ct. Thymol et Thujanol), Zimtrinde (Cinnamomum verum)

Yersinia enterocolitica

Koriander (Coriandrum sativum), Majoran (Origanum majorana), Rosengeranie (Pelargonium graveolens), Thymian (Thymus vulgaris Ct. Thymol et Thujanol), Zimtrinde (Cinnamomum verum)

MRSA Methicillin-resistenter Staphylococcus aureus

Erste-Hilfe-Maßnahmen

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Erste Hilfe bei unerwünschten Wirkungen bzw. Überdosierung von ätherischen Ölen (Tisserand und Young 2014) 55 Bei ernster oder nicht sicher abschätzbarer unerwünschter Nebenwirkung durch ätherische Öle oder deren Inhaltsstoffe sollte sofort eine Vergiftungszentrale oder das nächste Krankenhaus kontaktiert werden. 55 Gefährdet sind v. a. kleine Kinder mit erheblicher und deshalb toxischer oraler Aufnahme von ätherischen Ölen. Wenn die Kinder wach sind, sollten sie zum Wassertrinken ermutigt werden. Aktivkohle ist ineffektiv.

55 Dermale Toxizitätszeichen sind Reizung, allergische Reaktion und Photosensibilisierung. ȤȤ Ein betroffenes Auge zeigt Rötung und Tränen. ȤȤ In der Nase und in den tiefen Atemwegen kann es zu Schleimhautirritationen, Ödemen und auch zum Atemstillstand kommen. ȤȤ Bei oraler Überdosierung stehen Schleimhautreizung, Übelkeit, Erbrechen, Schmerzen im Oberbauch im Vordergrund. ȤȤ Bei toxischer systemischer Aufnahme stehen Krämpfe, zerebrale Beeinträchtigungen, Leber- und Nierenversagen im Vordergrund. 55 Über alle Schleimhäute können bei massiver Überdosierung toxische Do-

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sen von ätherischen Ölen oder deren Inhaltsstoffen aufgenommen werden. Elektronische UK-Meldestelle für unerwünschte Nebenwirkungen von ätherischen Ölen seit August 2012: 7 https://www.­gov.­uk/government/organisations/medicinesand-healthcare-­products-regulatoryagency. Zugegriffen am 28.09.2018. Österreichische Meldestelle: [email protected] (Kennwort: Toxizität). Für Deutschland und Schweiz: FORUM ESSENZIA (7 https://www.­ forum-essenzia.­org/. Zugegriffen am 28.09.2018) Erste Hilfe nach oraler Aufnahme: ȤȤ Kein Erbrechen induzieren, kein Alkohol. ȤȤ Bei wachen Patienten Mund und Rachenraum mit Wasser reinigen. ȤȤ Bei komatösen Patienten Atmung und Kreislauf sichern, stabile Seitenlage mit dem Kopf etwas tiefer. ȤȤ Vergiftungszentrale, Rettungsdienst oder Krankenhaus kontaktieren. Erste Hilfe nach Inhalation: ȤȤ Frischluftzufuhr. ȤȤ Bei komatösen Patienten Atmung und Kreislauf sichern, stabile Seitenlage. ȤȤ Vergiftungszentrale, Rettungsdienst oder Krankenhaus kontaktieren. Erste Hilfe nach Augenkontakt: ȤȤ Weit geöffnetes Auge zumindest 15 Minuten mit Wasser spülen. ȤȤ Kontaktlinsen rasch entfernen. ȤȤ Bei deutlichen Irritationen Arzt kontaktieren. Erste Hilfe nach Hautkontakt: ȤȤ Kontaminierte Kleidung entfernen. ȤȤ Gründliche, aber sanfte Hautreinigung mit Wasser und milder Seife. ȤȤ Hautpflegecreme oder kortikosteroidhaltige Creme, orale Antiallergika. ȤȤ Bei Fortbestehen deutlicher Irritationen Arzt kontaktieren.  

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Zusammenfassung 55 Die Praxis der medizinischen Aromatherapie beruht auf evidenzbasierten Behandlungskonzepten aus wissenschaftlichen und klinischen Studien, traditionellem Wissen und persönlicher Erfahrung. 55 Erläutert werden 55 Aromatherapie-Rezepturen als Beispiele für vielseitige Anwendungsmöglichkeiten, 55 Erste-Hilfe-Kenntnisse für sichere Anwendungen, 55 unerwünschte Wirkungen und Wechselwirkungen bei fachgerechter Anwendung auf sehr niedrigem Niveau.



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15.3.7  Aromapflege Bärbl Buchmayr Aromapflege - Als komplementäre Pflegemethode ist die Aromapflege ein Teil der Pflanzenheilkunde. Sie beschäftigt sich mit der Anwendung von 100 % naturreinen Pflegeprodukten für Gesundheit und Wohlbefinden wie ätherische Öle und fette Öle sowie Hydrolate. Die Anwendung erfolgt über das Riechen und über die intakte Haut.

Immer häufiger wird in der professionellen Gesundheits- und Krankenpflege der Einsatz von ätherischen Ölen, Hydrolaten und fetten Pflanzenölen als ein inzwischen anerkanntes Pflegekonzept der komplementären Pflegemethoden anerkannt. Das Wissen wird bereits in der Ausbildung zum gehobenen Dienst der Gesundheits- und Krankenpflege sowie in Fort- und Weiterbildungen vermittelt. Gesetzlich geregelt ist dies in Österreich im Gesundheits- und Krankenpflegegesetz (GuKG § 63 und § 64). Es wird zwischen dem eigenverantwortlichen Bereich, dem mitverantwortlichen Bereich und dem Vorschlagsrecht unterschieden. Die Umsetzung darf trotz absolvierter Fort- und Weiterbildungen erst nach Genehmigungen der Krankenanstaltsleitung (Pflegedienstleitung, ärztliche Leitung, Verwaltungsdirektion) erfolgen. Die Anwendungen in der Aromapflege dienen prophylaktischen und pflegerischen Maßnahmen (Deutsch-Grasl et al. 2015, S. 17):

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kHauttest Anwendungsbeispiele aus der Aromapflege 55 Förderung der physischen und psychischen Gesundheit 55 Unterstützung der Körperhygiene 55 Erhaltung bzw. Verbesserung eines gesunden Hautbildes 55 Verbesserung der Atmung 55 Erleichterung von Bewegungsabläufen (z. B. bei Verspannungen) 55 Unterstützung von Verdauung und Ausscheidung 55 Stärkung des Immunsystems 55 Unterstützung des Herz-Kreislauf-Systems 55 Verbesserung von Ruhen und Schlafen 55 Entspannung und Wohlbefinden 55 Förderung der eigenen Wahrnehmung 55 Verbesserung der Lebensqualität, besonders von schwer und chronisch kranken Menschen

 nwendungen in der profesA sionellen Gesundheits- und ­Krankenpflege

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Für die Anwendungen der Aromapflege wird der sog. Hautverträglichkeitstest benötigt. Es ist empfehlenswert, grundsätzlich einen Hauttest durchzuführen und das Ergebnis zu dokumentieren. Der Test wird mit dem Aromapflegeprodukt, welches zum Einsatz kommt, durchgeführt und nicht mit seinen Einzelbestandteilen. Hierfür darf auf keinen Fall das pure ätherische Öl verwendet werden. Folgende Tests werden unterschieden: kSchnelltest

Das zu verwendende Körperöl wird auf die Innenseite des Oberarmes aufgetragen. Eine Hautkontrolle erfolgt nach 3  Minuten. Bei starker Rötung oder Juckreiz ist dieses Produkt kontraindiziert.

Bei bekannter sensibler Haut (eventuelle Al­ lergieanfälligkeit) empfiehlt sich eine genaue Kontrolle der Hautreaktion auf das Aromapflegeprodukt in der bereits anzuwendenden Verdünnung. Kontrolle nach 3 Minuten, Nachkontrolle nach 24 und 72 Stunden. >> Bei Patienten mit Allergieanamnese wird im Praxisalltag im Krankenhaus meist von einer Aromapflegeanwendung Abstand genommen.

Nicht jede Hautreaktion stellt jedoch eine Allergie dar. Es kann sich u. a. auch um eine Reaktion des Körpers auf minderwertiges Öl handeln. Um eine echte Allergie handelt es sich, wenn bei einem wiederholten Test die gleiche überschießende Immunreaktion der Haut auftritt (Abklärung durch einen Facharzt erforderlich). >> Während der Schwangerschaft und im Säuglings- bzw. Kleinkindesalter ist die genaue Dosierung sowie die Auswahl der ätherischen Öle besonders zu berücksichtigen, ebenso wie die Art der Anwendung.

Überdosierungen und Reaktionen Hautreaktionen können nicht vollkommen ausgeschlossen werden; meist sind diese auf falsche Anwendung zurückzuführen. Wenn die Haut z. B. mit Rötung, Juckreiz, Überwärmung reagiert, ist die Anwendung zu stoppen, der Arzt ist zu informieren, und mögliche Ursachen sind abzuklären, wie z. B. 55 Welche ätherischen Öle und fetten Pflanzenöle waren in dem Aromapflegeprodukt enthalten? 55 Wie war die Qualität der verwendeten Öle? 55 Wie hoch war die Dosierung? 55 Mit welchen anderen Pflegeprodukten wurde die Haut behandelt? 55 In welcher momentanen körperlichen und psychischen Verfassung befand sich die Person? z. B. Stress durch Krankheit? 55 Gab es Veränderungen in der ärztlichen Therapieanordnung? 55 Wie gut funktionieren die Ausscheidungsorgane?

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Zur Beruhigung der Haut bei Unverträglichkeitsreaktionen empfiehlt es sich, Jojobaöl, Rosenhydrolat oder Sheabutter (Kariteebutter) dünn aufzutragen; ebenso kann Reispulver sanft einmassiert und nach ca. 10–20 Minuten mit Wasser wieder entfernt werden. Weitere Beobachtung und eine genaue Dokumentation (Foto) sind erforderlich. Wenn vegetative Reaktionen wie Herzrasen, Schweißausbruch, Schwindel, Übelkeit oder emotionale Reaktionen wie Weinkrämpfe, Aggressionen oder Ängste auftreten, so ist die Pflegeanwendung sofort zu beenden. Der Patient sollte beruhigt, Frischluft sollte zugeführt werden. Zusätzlich können „Ausgleichsgriffe“ eingesetzt werden, z. B. die Beine unterhalb der Sprunggelenke halten und unter leichtem Zug ziehen und zurückbewegen, ziehen und zurückbewegen. Diese Griffe können in langsamem Rhythmus einige Male hintereinander angewendet werden (Deutsch-Grasl et al. 2015, S. 38f).

Dokumentation Aus rechtlichen Gründen ist eine genaue Dokumentation notwendig: Bestandteile der Dokumentation 55 55 55 55 55 55 55 55

Datum Uhrzeit Pflegediagnose Pflegemaßnahme Pflegeprodukt Dosierung Anwendungsort Diverse Beobachtungen wie ȤȤ Verlauf ȤȤ Haut ȤȤ Psyche ȤȤ Handzeichen ȤȤ Evaluierung 55 Fotodokumentation bei speziellen Pflegeproblemen (Verlaufskon­ trolle) sind angezeigt

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Alltagsanwendungen Ätherische Öle werden im Pflegealltag auf unterschiedliche Art angewendet. Nach genauer Pflegeanamnese und Pflegeplanung wird die Durchführung, wenn möglich, mit dem Patienten oder einem Angehörigen besprochen und durchgeführt. So kann nach Symptomatik und Vorlieben und auch nach Umsetzbarkeit entschieden werden.

Raumbeduftung Duftlampen mit Kerze sind in der Pflege wegen der offenen Flamme nicht erlaubt. 55 Duftsteine, 55 Filzbälle oder Holzkugeln werden in der Praxis besonders bei Kindern oder in der geriatrischen Pflege gerne verwendet. Es werden von den verschiedensten Firmen auch elektrisch betriebene Duftlampen oder Streamer mit Filter angeboten; diese haben sich im Arbeitsalltag bewährt. Je nach Raumgröße und Duftempfinden werden 1–5 Tropfen ätherisches Öl in die Schale gegeben. Auch Hydrolate können pur oder verdünnt verwendet werden. Raumsprays als Fertigprodukte werden ebenso in der Raumbeduftung verwendet, bevorzugt im ambulanten und stationären Bereich zum Erfrischen und Reinigen der Raumluft.

Trockeninhalation Ätherische Öle werden auf einen Tupfer, ein Taschentuch oder auf Wattepads geträufelt und dem Patienten zum Riechen dargeboten. Die Indikationen sind u.  a. Erkältung, Übelkeit, aber auch als Wohlfühlgeruch bei ulzerierenden Wunden, in der Stomapflege und in der Palliativpflege kommen sie zum Einsatz. Durch die direkte Anwendung bei einer Person ist eine Geruchsbelästigung für andere Patienten im Raum nicht gegeben. Es wird 1  Tropfen des Öls pur aufgeträufelt. Diese Möglichkeit ist für Patienten z. B. bei

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Übelkeit, auch postoperativ, und in der onkologischen Pflege u. a. möglich mit 55 Pfefferminze (Mentha piperita), 55 Zitrone (Citrus limon), 55 Grapefruit (Citrus paradisi). Bei beginnender Erkältung sind z. B. hilfreich 55 Cajeput (Melaleuca leucadendron), 55 Ravintsara (Cinnamomum camphora c.t.1.8 Cineol), 55 Myrte (Myrtus communis).

Waschungen/Bäder Das Hauptaugenmerk in der Gesundheitsund Krankenpflege ist auf die Körperpflege als Grundpflege gerichtet. Für eine Waschung oder ein Bad wird immer ein Emulgator benötigt. Eingesetzt werden können: 55 1 kleiner Becher Kaffeesahne, 55 bis zu 200 ml Milch, 55 50–100 ml Sahne, 55 3–4 EL Honig, 55 2–3 EL Stein- oder Meersalz, 55 bis zu 150 g Kleie oder 55 3–4 EL neutrales Ölbad oder neutrale Seifengrundlage.

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Wird Salz als Emulgator verwendet, sollte die Möglichkeit des Abduschens bzw. Abwaschens gegeben sein, ansonsten könnten Juckreiz oder Trockenheit die Folge sein. Zitrusöle können aufgrund des hohen Monoterpengehalts in warmem Wasser Hautreaktionen hervorrufen, daher werden diese immer mit einem hautfreundlichen ätherischen Öl wie Lavendel fein (Lavandula angustifolia), Bergamotte (Citrus aurantium), Benzoe (Styrax tonkinensis), Rosengeranie (Pelargonium graveolens) oder Palmarosa (Cymbobogon martinii) gemischt. Häufig werden Waschungen und Teilwaschungen mit ätherischen Ölen angewendet. Diese werden dem Tagesrhythmus und dem Patienten entsprechend ausgewählt, wie z.  B. eine aktivierende oder entspannende Waschung. Auch Fußbäder sind sehr beliebt bei beginnenden Infekten sowie bei Harnwegsinfekten, bei Kopfschmerzen, zur Entspannung

oder am Abend als Einschlafhilfe. Diese Anwendung ist schnell durchgeführt und äußerst wirkungsvoll und nicht nur bei Kindern beliebt (Deutsch-Grasl et al. 2015, S. 21–22).

Pflege von Haut und Haaren Pflegeölmischungen werden auch zur Hautpflege verwendet. Sie werden bevorzugt auf die noch feuchte Haut aufgetragen. Die Haut nimmt die Öle so schneller auf, sie lassen sich besser verteilen und sind im Verbrauch sparsam. Die Pflegeölmischung kann auch mit einem feuchten Waschlappen auf die Haut aufgebracht werden. Fertigprodukte/Pflegeölmischungen dürfen nur von einem Pharmazeuten oder einer Firma gemischt werden, die eine Lizenz zur Herstellung besitzen. Haare und Kopfhaut können besonders bei Juckreiz, Schuppen oder unreiner Haut mit Hydrolaten als Haarwasser, Shampoos oder Pflegeölen zur Hautpflege behandelt werden.

Einreibungen und Streichungen Besonders im Bereich der Prophylaxe kommen in der Aromapflege Einreibungen und Streichungen zum Einsatz. Es werden atemstimulierende (z.  B.  Pneumonieprophylaxe) oder entspannende Einreibungen gemacht (schlaffördernde Maßnahmen). Diese Anwendungen zählen zu den eigenverantwortlichen Tätigkeiten und dürfen ohne ärztliche Anordnung getätigt werden. Inter­ trigo- oder Dekubitusprophylaxe gehören ebenso zu dazu. Für diese Anwendungen werden ätherische Öle mit einem Basisöl wie Mandel-, Jojoba-, Maiskeim- oder Johanniskrautöl u. a. vermischt. Die Dosierung liegt in der Aromapflege bei 0,1–1  %, besonders bei Kindern, alten und kranken Menschen. Konzentrierter (mit fettem Öl) bei starken Schmerzen oder im Bedarfsfall kann diese Anwendung über kurze Zeit direkt auf Brustbein bzw. Kreuzbein oder Pulse erfolgen. „Herzpflaster“ werden in besonderen Situationen angewendet. Hierzu wird die fertige Ölmischung (mit entspannenden ätherischen Ölen) z. B. auf ein Pflaster gegeben und in der

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Herzgegend aufgeklebt (für Kinder mit einem schönen Muster). Sie kann aber auch auf den Pulsen mit einem Roll-on-Stift aufgetragen werden. Diese Anwendung wird v. a. bei Angst und Sorge vor Operationen, Untersuchungen, beim Zahnarzt u.  a. sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen eingesetzt.

aufgenommen werden. Dadurch wird der Hydrolipidmantel zerstört, die Zusammensetzung des Hautfetts verändert und den Stoffwechsel der Haut beeinträchtigt. Phototoxische Reaktionen in Verbindung mit Sonneneinwirkung sind möglich. Über längere Zeit angewendet, stören Mineralöle die schützende Hornschicht mit ihren Barrieren („Zellmörtel“) und maWickel und Kompressen chen die Haut somit durchlässiger. Die Haut Wickel und Kompressen werden als fiebersen- kann ihre eigene Feuchtigkeit nicht mehr speikende/unterstützende Maßnahmen wie Wa- chern und wird zunehmend trockener. Kaltgepresste Pflanzenöle werden zur nadenwickel, kühle Waschungen, absteigendes Fußbad oder in Form von besonders wirksa- türlichen, gesunden Hautpflege nach einem men Pulswickeln angewendet. Diese werden Bad, einer Dusche oder einer Waschung pur mit ätherischen Ölen ergänzt: z.  B.  Lavendel auf die feuchte Haut aufgetragen. Diese An(Lavandula angustifolia) und Zitrone (Citrus wendung hat sich in der Pflege v.  a. bei der limon) oder Bergamotte (Citrus aurantium ssp. reiferen, empfindlichen Haut, aber auch bei bergamia). Problemhaut etabliert. Diese Maßnahme ist Temperierte Ölkompressen zur Unter- auch für die gesunde Haut pflegend und hautstützung bei einer Bronchitis, als Solarplexus-­ regenerierend. Kompresse zur Schlafförderung, bei Blähungen Ein gelegentliches Vollbad mit Pflanzenöoder Obstipation usw. sind schnell anzuwenden len im Badewasser ist wunderbar rückfettend. und bei den Patienten äußerst beliebt. Heiß- Es werden bis zu eine halbe Tasse Milch mit ca. feuchte Dampfkompressen die entblähend, 1–2 Esslöffeln Pflanzenöl (z. B. Olivenöl, Manentkrampfend und schmerzlindernd wirken, delöl) in das Badewasser gegeben. werden zur Unterstützung der Leber, als Bauch>> Vorsicht Rutschgefahr! wickel bei Blähungen usw. ebenso angewendet. Die fetten Pflanzenöle sind auch eine wichtige Trägersubstanz für ätherische Öle, diese könOrale Einnahme nen somit schneller in die Haut eingeschleust >> In der Gesundheits- und Krankenpflege werden. ist die orale Gabe nicht erlaubt. Die Schleimhäute reagieren sehr intensiv, weshalb die orale Einnahme in Therapeutenhände gehört und nur nach ärztlicher Anordnung erfolgen darf.

In der Phyto-Aromapflege werden ausschließlich native, kalt gepresste Pflanzenöle und Pflanzenfette verwendet. Mineralöle sind für die Aromapflege ungeeignet. Es handelt sich um Erdölprodukte, die die menschliche Haut nicht durchdringen können. Auch Paraffine, Vaseline und synthetische Tenside sind Erdölderivate. Sie werden nur adsorbiert und unterstützen die Haut nicht in ihrer natürlichen Funktion, sondern behindern sie. Sie legen sich wie eine Art undurchlässiger Film auf die Haut, da sie über die Haut nicht

Praktische Erfahrungen Im Folgenden wird ein Einblick in Beobachtungen und Rückmeldungen von Pflegekräften, Angehörigen und Mitarbeitern an Institutionen gegeben. Die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Erfahrungen mit professioneller Aromapflege 55 Seit die Aromapflege eingeführt wurde, ist die Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiter in den Institutionen gestiegen; dies trägt auch zur Stress- und Burnout-­Prophylaxe bei.

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55 Für viele Patienten steht das Wohlfühlen mit den Produkten im Vordergrund, ebenso auch die Unterstützung in der Haut- und Mundpflege etc. 55 Patienten/Klienten freuen sich über dieses Zusatzangebot in der Pflege. Sie sind sehr aufgeschlossen und zeigen sich interessiert für die Anwendungen. 55 Pflegende Angehörige werden in das Pflegekonzept einbezogen. Sie können damit sowohl im häuslichen Bereich wie auch im Krankenhausalltag dem Angehörigen und auch sich selbst etwas Gutes tun. 55 Patienten, die bestimmte Pflegeprodukte aus dem Krankenhaus kennen, möchten diese zu Hause weiterverwenden. 55 Die Infektanfälligkeit von medizinischem Personal und Patienten/ Bewohnern sinkt, besonders in der kalten Jahreszeit. 55 Dekubitus und Intertrigo sowie Pilzinfektionen nehmen rapide ab, wenn Hautpflegeprodukte mit ätherischen Ölen angewendet werden. 55 Intimpflege mit Lavendel fein (Lavandula angustifolia), Lavandin (Lavandula hybrida) oder Palmarosa (Cymbobogon martinii) bereits als Prophylaxe bei Antibiotikatherapie verringert sichtlich Pilzinfektionen.

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Durch den Einsatz der Aromapflege wird der Patient als Mensch in den Mittelpunkt gestellt, denn sie bietet ihm unterschiedliche spür- und wahrnehmbare Erlebnisse auf verschiedenen Sinnesebenen. zz Links

Österreichische Gesellschaft für wissenschaft­ liche Aromatherapie und Aromapflege (ÖGwA): 7 https://oegwa.­at/  

Lehrgang „Medizinische Aromatherapie“ für Ärztinnen und Ärzte: 7 http://www.­aroma-­  

med.­at/

Österreichischer Dachverband für ärztliche Ganzheitsmedizin: 7 http://www.­  

ganzheitsmed.­at/

Zusammenfassung 55 Die ganzheitliche Sichtweise der Aromapflege als komplementäre Pflegemethode gehört bereits zum professionellen Pflegealltag. 55 In vielen Institutionen ist Aromapflege nicht mehr wegzudenken. 55 Aufgrund der unterschiedlichen Anwendungen in der Aromapflege wird der Patient als Mensch in den Mittelpunkt gestellt.

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307

Behandlung des Bewegungsapparats Richard Crevenna, Andreas Kainz, Michael Grössinger, Gabriele Von Gimborn, Hans Tilscher und Norbert Bachl 16.1

 hysikalische Medizin und Rehabilitation – am Beispiel P der onkologischen Rehabilitation – 309

16.1.1 16.1.2 16.1.3

 rundlagen – 309 G Physikalische Therapieserien – 309 Physikalische Medizin und Rehabilitation im Rahmen der onkologischen Rehabilitation – 310 Situation in Österreich – 310 Rekonditionierung – 311 Fallbeispiele – 313

16.1.4 16.1.5 16.1.6

16.2

Osteopathie – 314

16.2.1 16.2.2 16.2.3 16.2.4 16.2.5 16.2.6 16.2.7 16.2.8

 eschichte und Konzepte der Osteopathie – 314 G Der philosophische Ansatz der Osteopathie – 317 Ablauf einer Konsultation – 318 Ablauf einer Behandlung – 319 Indikationen für eine osteopathische Behandlung – 321 Fallbeispiel – 321 Studien/Evidenzlage – 323 Ausbildung – 323

16.3

Manuelle Medizin – 324

16.3.1 16.3.2

 eschichte der manuellen Medizin – 324 G Häufigkeit von Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparats – 325 Die Bedeutung der manuellen Medizin: manuelle Diagnostik (Chirodiagnostik) – manuelle Therapie (Chirotherapie) – 326 Wissenschaftliche Grundlagen der manuellen Medizin – 327

16.3.3 16.3.4

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_16

16

16.3.5

 anuelle Diagnostik (Chirodiagnostik) – klinische M Untersuchung des Bewegungsapparats – 329 16.3.6 Manuelle Therapie (Chirotherapie) – 337 16.3.7 Fallbeispiel – 340 16.3.8 Zwischenfallbilanz – 340 16.3.9 Prinzipielles zur Manipulation – 342 16.3.10 Rehabilitation – 343 16.3.11 Studien/Evidenzlage – 343 16.3.12 Ausbildung – 343

16.4

Trainingstherapie – 347

16.4.1 16.4.2 16.4.3

E inführung – 347 Definition der Trainingstherapie – 348 Sportmedizinische Vorsorgeuntersuchung (Sporttauglichkeit) als Voraussetzung zur Trainingssteuerung – 348 16.4.4 Ziele der Trainingstherapie – 352 16.4.5 Grundlagen der therapeutischen Trainingslehre – 354 16.4.6 Prinzipien des therapeutischen Trainings – 359 16.4.7 Detaillierte Trainingsinhalte – 363 16.4.8 Beispiele präventiver und rehabilitativer Trainingstherapien – 369 16.4.9 Fallbeispiel – 369 16.4.10 Studien/Evidenzlage – 370

Literatur – 373

309 Behandlung des Bewegungsapparats

16.1  Physikalische Medizin und

Rehabilitation – am Beispiel der onkologischen Rehabilitation

16

einer Einsparung von Gesundheitsausgaben und zur Kostenreduktion führen kann (Cre­ venna 2017). Systematische Gliederung der physikalischen Therapien und Modalitäten

Richard Crevenna 16.1.1  Grundlagen

Die physikalische Medizin und allgemeine Rehabilitation ist ein Teil der konventionellen Medizin und stellt als Kombination aus Experienced-Based Medicine und Evidence-­ Based Medicine ein Sonderfach dar, in dessen Rahmen besonders viel Wert auf die (auch funktionelle) Diagnosefindung (Anamnese, klinische Dia­gnostik, Assessment, weiterfüh­ rende fachspezi­ fische und fachübergreifende Untersuchungen etc.) und auf die individu­ elle Kombination physikalischer und weiterer konservativer Therapien gelegt wird (Österrei­ chische Gesellschaft für Physikalische Medi­ zin und Rehabilitation, Wien: 7 https://www.­ oegpmr.­at/; Crevenna 2016, 2017). Bei den Therapien werden die aktiven physikalischen Therapien (wie u. a. medizini­ sche Trainingstherapie, Krankengymnastik, Ergotherapie, Biofeedback etc.) von passiven physikalischen Therapien (den sog. Moda­ litäten) unterschieden. Die physikalischen The­ rapien können stationär, ambulant oder auch als Heimtherapien durchgeführt werden. Diese Maßnahmen aus der physikalischen Me­ dizin und allgemeinen Rehabilitation können bei interdisziplinärem Einsatz im Rahmen der konventionellen Medizin u.  a. zur Hilfe bei Symptomen wie z.  B. bei Schmerzen, zur Mobilisation bei immobilisierten Patienten und zur Steigerung der Leistungsfähigkeit bei dekonditionierten Patienten mit Verbesserung der Lebensqualität und Stärkung von Selbst­ vertrauen und Selbstkompetenz führen. Dies alles resultiert letztlich in einer erhöhten be­ ruflichen und sozialen Teilhabe (Partizipation) und (weitgehender) Unabhängigkeit von frem­ der Hilfe, was im Umkehrschluss wiederum zu  

55 Thermotherapie (z. B. Applikation von Moorpackungen, Kurzwelle, Kryotherapie) 55 Mechanotherapie (z. B. medizinische Trainingstherapie, Krankengymnastik, Ergotherapie, Biofeedback, Ultraschall, klassische Massage und Spezialmassagen, Extension) 55 Elektrotherapie (z. B. Nieder-, Mittelund Hochfrequenztherapie, bekannte Beispiele sind: transkutane elektrische Nervenstimulationen [TENS] für die Niederfrequenztherapie und Kurzwelle für die Hochfrequenztherapie) 55 Balneotherapie (z. B. diverse Bäderanwendungen, Peloide, Klimatherapie) 55 Lichttherapie (u. a. UV-, Infrarot-, Laserlicht)

16.1.2  Physikalische

Therapieserien

Physikalische Therapien werden in den meisten Fällen seriell und kombiniert rezeptiert und ap­ pliziert (passive Therapien) bzw. durchgeführt (aktive Therapien). Die therapeutische Wirk­ samkeit physikalischer Reizserien führt einer­ seits im Sinne einer Reiz-Reaktions-Regulationstherapie zur positiven Beeinflussbarkeit lokaler Schmerzen sowie zur Einflussnahme auf lokale Struktur- und Funktionsstörungen. Andererseits kommt es systemisch zur Ak­ tivierung von sog. adaptationsphysiologischen Mechanismen mit einer Regulierung (Normalisierung, Ökonomisierung, Kompen­ sierung) gestörter physiologischer Regelsys­ teme (Beispiel Ausdauer  – Ökonomisierung der Herzarbeit durch medizinische Trainings­ therapie) (Crevenna 2017; Bossert et al. 2006; Österreichische Gesellschaft für Physikalische

310

R. Crevenna et al.

Medizin und Rehabilitation, Wien: 7 https:// www.­oegpmr.­at/; Homepage des Bundesfach­  

gruppenobmannes für PM&R, Doktor Fritz Hartl, Hinweise und Vorträge für KollegInnen:

7 https://www.­d r-hartl.­a t/kollegen/hinweise.­ php. Zugegriffen am 04.03.2018).  

Typische physikalische Reizparameter sind Reizart, -intensität, -dauer, -frequenz, -dynamik und -fläche. Die individuelle Reiz­ empfänglichkeit und -verträglichkeit hängen u. a. ab vom Alter, vom Geschlecht und Allge­ meinzustand des Patienten sowie von der Art und dem Stadium einer Erkrankung (akut, subakut, chronisch) (Crevenna 2017; Bossert et  al. 2006; Homepage des Bundesfachgrup­ penobmannes für PM&R, Doktor Fritz Hartl, Hinweise und Vorträge für KollegInnen:

7 https://www.­d r-hartl.­a t/kollegen/hinweise.­ php. Zugegriffen am 04.03.2018).  

16.1.3  Physikalische Medizin und

Rehabilitation im Rahmen der onkologischen Rehabilitation

Gerade im Bereich der supportiven Therapie und Rehabilitation von Patienten mit onkolo­ gischen Erkrankungen hat das Fachgebiet der physikalischen Medizin und allgemeinen Re­ habilitation über die letzten 15 Jahre in inter­ disziplinären Kooperationen mit den onkolo­ gisch tätigen Fachbereichen besondere Erfolge zu verzeichnen (7 http://www.­ccc.­ac.­at/news/  

16

singleview/richard-crevenna-associate-editor-im-top-journal-supportive-care-in-cancer/4e59f622e4f86daaf292a433ed63af00/. Zu­

gegriffen am 04.03.2018). Eine onkologische Erkrankung betrifft sämtliche Aspekte des Lebens. An Krebs er­ krankte Patienten erleiden u.  a. auch Funk­ tionsstörungen und Defizite und werden durch Symptome beeinträchtigt, die nicht nur durch die Krebserkrankung selbst, son­ dern oftmals auch durch Begleit- und Fol­ geerkrankungen und v.  a. durch die für das Überleben unbedingt notwendigen onkolo­

gischen Therapien wie Operation, Chemound/oder Strahlentherapie (mit)bedingt wer­ den können (Pensionsversicherungsanstalt Österreich, Rehabilitation: 7 http://www.pen­  

sionsversicherung.­at/portal27/pvaportal/content? contentid=10007.756536. Zugegriffen am

04.03.2018; Körner et al. 2016). Dem (physikalisch-)rehabilitativ tätigen Facharzt stellt sich im Zusammenhang mit der Formulierung restaurativer, supportiver, prä­ ventiver (manchmal auch palliativer) Rehabilitationsziele somit in erster Linie die Aufgabe der Fokussierung auf die beim Patienten vor­ handenen Symptome, Defizite und Funktions­ einschränkungen. Diese unterteilen sich in 55 allgemeine, die bei fast allen onkologi­ schen Erkrankungen vorkommen, und 55 spezifische, die bei gewissen Tumor­ entitäten spezifisch und typischerweise auftreten können (Crevenna 2016, 2017; Österreichischer Rehabilitationskompass: 7 https://rehakompass.­goeg.­at. Zugegriffen am 04.03.2018).  

Säulen der onkologischen ­Rehabilitation 1. Physikalische Medizin und Rehabilitation, hier v. a. 55 medizinische Trainingstherapie 55 Physiotherapie und Ergotherapie 55 Applikation physikalischer Modalitäten 2. Diätologie und Ernährungstherapie 3. Psychoonkologie 4. Information mit Schulungen der Patienten: Diese ganz besonders wichtige Säule soll die langfristige Nachhaltigkeit der o. g. Maßnahmen sichern

16.1.4  Situation in Österreich

In Österreich leben bei 35.000–40.000 Krebs­ neuerkrankungen pro Jahr rund 300.000 Patienten mit onkologischen Erkrankungen. ­

311 Behandlung des Bewegungsapparats

Patienten mit Rehabilitationsbedarf und ­gutem Rehabilitationspotenzial kommen für eine on­ kologische Rehabilitation infrage (­Crevenna 2015). Das stationäre Angebot für entsprechende Patienten umfasst stationäre onkologische Re­ habilitationszentren bzw. Betten u.  a. in Bad Sauerbrunn, Bad Tatzmannsdorf, Treibach/Althofen, St. Veit im Pongau, Bad Erlach, Juden­ dorf-Straßengel, Bad Schallerbach, Münster, Wolfsberg, Walchsee, wobei zwischen Zentren für (allgemeine) onkologische Rehabilitation von solchen mit mehr organspezifischer Aus­ richtung und solchen mit symptomspezifi­ schem Angebot (Lymphödem) zu unterschei­ den ist (Crevenna 2015). Seit ca. 19  Jahren gibt es in Wien an der Universitätsklinik für Physikalische Medizin und Rehabilitation eine Onkologische Rehabilitationsambulanz mit einem seit knapp 8  Jahren assoziierten Tumorboard für onko­ logische Rehabilitation (unter dem Dach des Comprehensive Cancer Center) (Crevenna 2018; Medizinische Universität Wien 2014). Weitere ambulante Pilotprojekte gibt es in Oberösterreich und Wien. kDer ideale Patient für eine onkologische Rehabilitation

Er befindet sich innerhalb der ersten 5  Jahre seit der Erstdiagnose und weist  – zumindest vorerst – abgeschlossene onkologische Thera­ pien sowie ein gutes Rehabilitationspotenzial mit guter Rehabilitationsfähigkeit und guter Rehabilitationsprognose auf. Entsprechend seinen Funktionsdefiziten (physisch, men­ tal, sozial) werden individuelle Rehabilita­ tionsziele definiert und im Rahmen der Re­ habilitation im Rehabilitationsteam, in dessen Zentrum sich der Patient befindet, umge­ setzt (Österreichischer Rehabilitationskom­ pass: 7 https://rehakompass.­goeg.­at. Zugegrif­ fen am 04.03.2018). Vom Stellen eines Reha-Antrags, d. h. der richtigen „Rezeptur“ einer Rehabilitation  – und dies ist an der Medizinischen Universität Wien Lehrinhalt und Prüfungsstoff –, werden im Rahmen der Rehabilitation folgende Sta­  

16

tionen absolviert (Österreichischer Rehabilita­ tionskompass: 7 https://rehakompass.­goeg.­at. Zugegriffen am 04.03.2018): 55 ärztliche Aufnahme, 55 Zwischen- und End-Evaluierung, 55 physikalische Medizin und Rehabilitation (hier v. a. medizinische Trainingstherapie, aber auch Modalitäten), 55 Diätologie und Ernährungstherapie, 55 Psychoonkologie, 55 Informationsvermittlung.  

>> Dieses Konzept soll durch adäquaten Einsatz der Mittel eine gezielte Nutzung der Maßnahme Rehabilitation gewährleisten.

16.1.5  Rekonditionierung

Ein wesentliches Symptom bei sehr vielen Krebspatienten ist das Erschöpfungssyndrom mit Tagesmüdigkeit und Dekonditionierung, d. h. mit einer Einschränkung in den motorischen Grundeigenschaften Ausdauer, Kraft, Koordination bzw. Sensomotorik sowie der Flexibilität (d.  h. Einschränkung der Be­ weglichkeit). Neben vielen weiteren Faktoren ist die körperliche Dekonditionierung mit Verschlechterung von Ausdauer und Kraft und einer konsekutiven Einschränkung in den Aktivitäten des täglichen Lebens (mit Rück­ zugstendenz) für das Erschöpfungssyndrom mitverantwortlich (Hasenoehrl et al. 2015). Wurden Krebspatienten vor 25 Jahren noch angehalten, sich zu schonen und auf übermä­ ßige körperliche Bewegung zu verzichten, hat in den vergangenen 20 Jahren ein regelrechter Paradigmenwechsel stattgefunden. Durch die medizinische Trainingstherapie nach der me­ dizinischen Trainingslehre (Ausdauertraining, Krafttraining, Trainieren resp. Üben der Sen­ somotorik bzw. Koordination und Üben der Beweglichkeit) kann vielen Symptomen, u.  a. auch dem Erschöpfungssyndrom, entgegenge­ wirkt werden (Crevenna 2017). Auch für Patienten mit onkologischen Erkrankungen gilt hier eine klare Dosis-­

312

R. Crevenna et al.

Wirkungs-Beziehung. Das Training ist in­ dividuell angepasst zu dosieren (wie ein Medikament). Zu niedrige Intensitäten und Be­ lastungen sind unwirksam und bringen nichts. Zu hohe Belastungen könnten  – bei Vorhan­ densein kardiovaskulärer Begleiterkrankungen oder unter kardiotoxischer Medikation – vitale Gefährdungen darstellen. Das sog. „Trainingsrezept“ ist daher genau auf die Leistungsfähig­ keit und die klinische Belastbarkeit des Patien­ ten abzustimmen (Crevenna 2017). Die Indikationsstellung und medizinisch verantwortliche Leitung des Trainings (Rezep­ tur und Dosierung von Art und Intensität der rekonditionierenden Maßnahme, regelmäßige Supervision) ist eine ärztliche Aufgabe, die unter Beteiligung des Rehabilitationsteams (Ärzte, Diätologen, Diplomierte Medizi­ nisch-Technische Fachkräfte [DMTFs], Sport­ wissenschaftler, Physiotherapeuten, biomedi­ zinische Analytiker etc.) umgesetzt wird. Die Patienten führen z.  B. aktives Ausdauertrai­ ning, aktives Kraft(-Ausdauer)-Training sowie passives Training von Kraft und/oder Aus­ dauer unter Anwendung der neuromuskulären Elektrostimulation durch. Gleichzeitig erfolgt ein Trainieren bzw. Üben der Sensomotorik bzw. Koordination und ein Üben der Beweg­ lichkeit (Crevenna 2017; Körner et al. 2016). kAktives Ausdauertraining

16

Laut wissenschaftlicher Datenlage kann es zur  Steigerung der Ausdauerleistungsfähig­ keit und der Lebensqualität mit Verminderung von Tagesermüdbarkeit und Erschöpfung, Ver­ besserung des Nachtschlafs, Verbesserung der Stimmungslage, Verringerung des Gefühls der Einsamkeit, Verbesserung von Körperschema und Selbstkonzept, Steigerung der Libido, Ver­ minderung des Verbrauchs von Beruhigungs-, Schlaf- und Schmerzmitteln, zur Hebung des Selbstwertgefühls und zu einer positiven Beein­ flussung des Immunsystems führen – alles unter Beachtung von Kontraindikationen (wie allge­ meine internistische Kontraindikationen, sym­ ptomatische Aortenstenose und akute Entzün­ dungsprozesse, Hirnmetastasen etc.). Es gibt auch ermutigende Hinweise darauf, dass ge­

zielte körperliche Aktivität, u. a. extensiv aero­ bes Ausdauertraining, aber auch Krafttraining, bei manchen Krebsarten lebensverlängernde Wirkungen haben bzw. die Rezidivrate senken soll. Besonders das (extensiv) aerobe Ausdau­ ertraining, wie Ergometertraining, Radfahren, Laufen, Nordic Walking, Schwimmen etc., ist für viele Patienten mit onkologischen Erkran­ kungen optimal geeignet und bei Beachtung der individuellen Belastbarkeit der Patienten, der Dosis-Wirkungs-Beziehung und von Kontra­ indikationen teilweise auch unter Chemo- bzw. Strahlentherapie sicher durchführbar und gut akzeptiert. Mittlerweile ist bekannt, dass fast alle Patienten mit schwierigsten Komorbidi­ täten trainiert werden können – es kommt auf das medizinische Know-how an. Die eigene Arbeitsgruppe hat (als erste weltweit) bei Pa­ tienten mit Knochenmetastasen durch aerobes Ausdauertraining am Fahrradergometer Leis­ tungsfähigkeiten auf 150  % erreichen können (Crevenna et al. 2003). kAktives Krafttraining mit Hanteln oder Kraftmaschinen

Es ist unter Beachtung von Kontraindikatio­ nen – z. B. allgemein internistische und ortho­ pädische sowie spezielle, wie etwa Knochenme­ tastasen im betroffenen Skelettabschnitt – für Krebspatienten eine geeignete Maßnahme zur Verbesserung Kraft und zum Aufbau von Mus­ kelmasse (hier unbedingt auch diätologisch intervenieren!). kTraining mittels neuromuskulärer Elektrostimulation (Schwellstromtherapie)

Es kann bei Patienten, die aufgrund von Kon­ traindikationen aktiv nicht trainieren dür­ fen oder können, zielführend sein. Hier kann Krafttraining oder Ausdauertraining stationär, ambulant, aber auch als Heimtherapie durch­ geführt werden. Wichtig ist die regelmäßige fachärztliche Supervision. Mittels neuromus­ kulärer Elektrostimulation können  – immer abhängig vom Krankheitsverlauf  – sogar Pa­ tienten mit Skelett- und oder Hirnmetastasen lange von fremder Hilfe unabhängig gehalten werden. Auch bei Glioblastom-Patienten (mit

313 Behandlung des Bewegungsapparats

Steroidmyopathie und Muskelatrophie) kann die Methode in vielen Fällen sicher und sinn­ voll eingesetzt werden (Crevenna 2017; Cre­ venna et al. 2006). kDiätologie und Ernährungstherapie

Die Einschränkungen in den motorischen Grundeigenschaften Ausdauer und Kraft ge­ hen stets mit den Symptomen Appetitlosigkeit, Gewichtsabnahme und Prä-Kachexie einher. Deswegen muss hier aus rehabilitativer Sicht unbedingt diätologisch-ernährungstherapeu­ tisch unterstützt werden. Eine fachkundige Ernährung des Krebspatienten ist von enor­ mer Wichtigkeit. Die therapeutischen Pro­ zesse Diät und Training haben übrigens viele Gemeinsamkeiten: Jeweils kann nur mit Fach­ wissen, Systematik, Nachhaltigkeit und nur bei Adhärenz des Patienten erfolgreich behandelt werden (Crevenna 2017). >> Fachwissen, Systematik und Nachhaltigkeit sowie Patienten-Adhärenz stellen in der Rehabilitation generell zu beach­ tende Erfolgsfaktoren dar.

Wie am Beispiel der onkologischen Rehabili­ tation illustriert, kann das Fachgebiet der phy­ sikalischen Medizin und allgemeinen Reha­ bilitation mit zukunftsorientierten Ideen und Konzepten sowie soliden fachärztlichen und therapeutischen Leistungen auch in interdiszi­ plinären und multiprofessionellen Kooperatio­ nen durchaus seinen Stellenwert rechtfertigen und auf eine hohe Akzeptanz bei den (hier on­ kologisch-therapeutisch bestimmenden) zuwei­ senden Fachbereichen stoßen. 16.1.6  Fallbeispiele zz 1. Fall

Patientin, 52 Jahre, mit Brustkrebs kAnamnese

55 Z. n. Entfernung der rechten Brust und axillären Lymphknoten vor 6 Monaten, 55 Lymphödem in der rechten oberen Extre­ mität (die Patientin ist Rechtshänderin)

16

und dadurch starke Funktionseinschrän­ kungen im Alltag und Reduktion der Lebensqualität, 55 Druckgefühl aufgrund des Lymphstaus, 55 Verspannungen im Nacken/Schultergürtel, rechts mehr als links, 55 zunehmende Schwäche beim Treppensteigen (die Patientin wohnt im 3. Stock ohne Lift). kBehandlung

Nach ärztlicher Untersuchung und Ausschluss aller Kontraindikationen erfolgt die Verord­ nung folgender Therapien: 55 Komplexe Physikalische Entstauungs­ therapie (KPE) – manuelle Lymphdrainage und adäquate Kompression zur Reduktion des Lymphödems, 55 Physiotherapie zur Verbesserung des Be­ wegungsausmaßes und zur Haltungskor­ rektur, Kräftigung der Wirbelsäulen- und Schultergürtelmuskulatur, Detonisierung der verspannten Muskulatur im Nacken/ Schultergürtel, Transferschulung, 55 medizinische Trainingstherapie zur Steige­ rung der Leistungsfähigkeit, 55 Ernährungsberatung. kErgebnis

55 Nach Ende einer Therapieserie (3 Monate nach Start der Therapie) berichtet die Pa­ tientin eine Reduktion des Lymphödems und eine deutliche Besserung der Lebens­ qualität, da sie den Arm im Alltag mehr einsetzen kann, kein Druckgefühl mehr im Arm spürt, keine Probleme mehr beim Treppensteigen hat und dadurch auch selbst Einkaufen gehen kann, und dass sie sich nun besser und schmerzfrei bewegen kann. 55 Die Patientin wird bzgl. einer langfristigen Therapie des Lymphödems mittels KPE aufgeklärt. Dementsprechend werden Kontrolltermine mit anschließender Fort­ setzung der KPE vereinbart. zz 2. Fall

Patient, 62 Jahre, mit Prostatakrebs

314

R. Crevenna et al.

kAnamnese

55 Z. n. Prostatektomie vor 2 Monaten, 55 seither Stressharninkontinenz und dem­ entsprechend Reduktion der Trinkmenge unter der empfohlenen Grenze, 55 Verbrauch von 8 Vorlagen pro Tag, 55 Einschränkungen im Alltag und sozialer Rückzug aufgrund der Folgen der Harn­ inkontinenz. kBehandlung

Nach ärztlicher Untersuchung und Ausschluss aller Kontraindikationen erfolgt die Verord­ nung folgender Therapien: 55 Beckenbodentraining zur Kräftigung der Beckenbodenmuskulatur, 55 medizinische Trainingstherapie zur Steige­ rung der Leistungsfähigkeit, 55 Ernährungsberatung. kErgebnis

55 Nach Ende einer Therapieserie (3 Monate nach Start der Therapie) berichtet der Patient eine Remission der Harninkonti­ nenz – nun ist nur noch 1 Vorlage pro Tag notwendig, die Trinkmenge und Ernäh­ rungszufuhr sind optimiert. 55 Es werden keine Einschränkungen mehr im Alltag und bei der Arbeit aufgrund von Folgen der Harninkontinenz be­ richtet. zz Links

Deutsche Gesellschaft für Physikalische Medi­ zin und Rehabilitation e. V. (DGPMR) 7 http://dgpmr.­de/  

16

Deutsche Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU), Sektion Rehabilita­ tion – Physikalische Therapie

7 https://dgou.­de/gremien/sektionen/rehabilitation-physikalische-therapie/  

Schweizerische Gesellschaft für Physikali­ sche Medizin und Rehabilitation (SGMPR) 7 http://www.­reha-schweiz.­ch/  

Österreichische Gesellschaft für Physikali­ sche Medizin und Rehabilitation (ÖGMPR) 7 https://www.­oegpmr.­at/  

Zusammenfassung 55 Physikalische Medizin und allgemeine Rehabilitation ist Teil der an Universitäten ­gelehrten State-of-the-art- bzw. konventionellen Medizin. 55 Therapien für Patienten (aktive und ­passive Maßnahmen) sind individuell aus dem Gesamtkonzept zu „rezeptieren“. 55 Eine onkologische Rehabilitation bei Pa­ tienten mit onkologischen Erkrankun­ gen  zielt u.  a. auf Rekonditionierung, Schmerzreduktion, Verbesserung der sozialen Teilhabe, Optimierung der Ernährung, psychoonkologische Beratung und Information ab.

16.2  Osteopathie Andreas Kainz, Michael Grössinger, und Gabriele Von Gimborn 16.2.1  Geschichte und Konzepte

der Osteopathie

T. Still in Philosophy in Osteopathy (1899):

»» „The fascia gives one, if not the greatest

problem to solve as to the part it takes in life and death. By its action we shrink, or swell and die.“ (Die Rolle der Faszie, die sie im Leben und Tod spielt, gibt uns ein, wenn nicht gar das größte, Rätsel auf. Durch ihr Wirken schrumpfen oder schwellen oder sterben wir.) (Langer und Hebgen 2013)

 ndrew Taylor Still (1828–1917) A (Becker 2013) Andrew Still wurde 1828  in Tennessee gebo­ ren. Er entstammt einer Methodistenfamilie, und da sein Vater Pfarrer und Arzt war, wurde er streng gläubig und sehr naturverbunden er­ zogen. Im Laufe seiner Entwicklung erhielt er der damaligen Medizin angepasste eine Aus­ bildung.

315 Behandlung des Bewegungsapparats

Im 9. Lebensjahr zog die Familie nach Mis­ souri, und Still war sowohl bei der Feldarbeit als auch bei der Jagd dabei und eignete sich beim Häuten der Tiere seine ersten anatomi­ schen Kenntnisse an, die sicherlich als Grund­ lage seiner osteopathischen Tätigkeit angese­ hen werden können. Streitereien mit der Kirche veranlassten Stills Vater zum Kirchenaustritt, und die Fa­ milie übersiedelte zu den Shawnee-Indianern. Von diesen lernte Still die Kräuterheilkunde, und während die Cholera viele Indianer da­ hinraffte, intensivierte Still seine Anatomie­ kenntnisse, indem er die Leichen eingehend sezierte (1884). Im Bürgerkrieg diente Still bis zum Kriegs­ ende 1864 als Major für die Nordstaaten. Während der Meningitis-Epidemie verlor Still drei seiner Kinder. Er haderte seit diesem Zeitpunkt mit den Ärzten und der Kirche und gelangte zu der Überzeugung, dass Gott den Menschen und seinen Körper mit Selbsthei­ lungskräften versehe und die Natur die Krank­ heiten hervorbringe. Aus dieser Annahme heraus ist zu verstehen, dass er immer die Mei­ nung vertrat, der Körper könne alle „Medika­ mente“ selbst herstellen und der Arzt diene nur dazu, diese freizusetzen. Still fühlte sich sehr zur Mechanik von Maschinen hingezogen, zumal er selbst Ma­ schinen erfand und baute. Daher sah er den menschlichen Körper, seine Einzelteile und deren Einfluss auf Gesundheit und Dysfunk­ tionen als Teil einer menschlichen Maschine. Krankheiten  – der damaligen Zeit entspre­ chend Fieber, Typhus, Gicht usw. – waren sei­ ner Ansicht nach nur eine Fehlfunktion des Nervensystems, die ihrerseits eine Fehlfunk­ tion des Flüssigkeitssystems hervorrief. Dieser Gedankengang führte 1874 zu der Formulie­ rung des „Gesetzes der Arterie“, wonach das arterielle System höchste Priorität besitzt, da es alle wichtigen Stoffe an die richtige Stelle des Körpers bringt und das Nervensystem von ihm abhängig ist. Als passionierter Mechaniker meinte Still, Fehlstellungen von Knochen würden zu einer Minderversorgung führen, und davon lässt

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sich der Begriff Osteopathie  – wörtlich über­ setzt als „Leiden des Knochens“  – ableiten. Dieser Begriff ist sehr irreführend und nur aus der damaligen Zeit heraus zu verstehen. Auch sein Satz

»» „Find it, fix it, leave it!“

bezieht sich auf die Dysfunktionen der Ge­ lenkmechanik mit dem Hintergrund, dass für ihn die Anatomie immer die Grundlage der Osteopathie darstellte. >> Still erkannte komplexe Zusammenhänge zwischen Dysfunktionen der verschiedenen Gewebe des Körpers und deren Auswirkung auf den Bewegungsapparat. Er kann als „Vater der manuellen Behandlungstechniken“ gesehen werden, wobei ihm immer wichtig war, die Selbstheilungsprozesse des Körpers als natürlichen Vorgang zu sehen.

In Kirksville (Missouri) betrieb Still mit seinen vier Söhnen eine sehr erfolgreiche Praxis. Am 30. Oktober 1894 wurde als erste Os­ teopathie-Schule The American School of Ostopathy in Kirksville gegründet, und somit auch der Begriff osteopathy geprägt. Diese Schule hatte den Status einer medizinischen Fakultät, an der auch erstmals Frauen zugelassen waren. Mit dem sog. Flexner-Report im Jahr 1910 wurde die Standardisierung der amerikani­ schen medizinischen Universitäten festgelegt. Damit verschwanden Stills spirituelle Kon­ zepte und osteopathische Ideen aus den Cur­ ricula, da er sonst auf die staatliche Unterstüt­ zung hätte verzichten müssen. In Amerika kam es im Laufe der Zeit zur Differenzierung in der Ausbildung: Einer­ seits gibt es den Doctor of Osteopathy, der im schulmedizinischen Sinne berechtigt ist, ganz­ heitlich zu arbeiten, und den Doctor of Chiropractic, der nur am Bewegungsapparat arbeiten darf. Auch in Europa vollzog sich eine ähnliche Entwicklung: Durch Angleichung der Osteo­ pathie an die konventionelle Medizin wurden nur die Manipulationen übernommen, und von den Physiotherapeuten wurde dann das

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Konzept der orthopädisch-manuellen Thera­ pie kreiert, das über Skandinavien und die Nie­ derlande nach Deutschland kam. Als sich dann auch Mediziner damit beschäftigten, wurde 1966 die Deutsche Gesellschaft für Manuelle Medizin gegründet. Erst später wurden die alten Konzepte von Still wieder aufgegriffen und nun wieder an eige­ nen osteopathisch orientierten Schulen gelehrt.

J ohn Martin Littlejohn (1867–1947) (Becker 2013)

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Dr. John Martin Littlejohn, ein Schüler Stills und ebenfalls beeindruckender Osteopath, baute sein Konzept der Osteopathie auf der Physiologie auf. Er stammt wie Still aus einer Pfarrerfamilie und wurde 1967 in Glasgow geboren. Obwohl er viele Ausbildungen und Titel in juristischen, theologischen, sozialen und philosophischen Bereichen erworben hatte, studierte er auch noch Medizin, wobei er sein Studium 1892 an der New Yorker Universität fortsetze. Er wurde Leiter am Amity College in Col­ lege Springs und begab sich in Behandlung von Still, da er gesundheitlich angeschlagen war. Die Besserung seines Beschwerdebildes war für ihn der Anlass, mit dem Osteopathie-Stu­ dium zu beginnen. Still und Littejohn hatten unterschiedliche Ansätze in Bezug auf die Selbstheilungskräfte, sodass ein Bruch zwischen ihnen unausweichlich war. Littlejohn zog letztendlich nach Chicago. Nach Littlejohns Ansicht müssen Be­ schwerden immer in Bezug auf den gesamten Körper gesehen werden, und er stellte folgende These auf:

»» „The principles of osteopathy is not bone

adjustment but body adjustment.“ (Langer und Hebgen 2013, S. 10)

>> Littejohns komplexen Kraftlinienkonzepten, die den mechanisch beweisbaren Konzepten der evidenzbasierten Medizin entsprachen, ist es zu verdanken, dass die Osteopathie als medizinische Disziplin anerkannt wurde.

1900 gründete Littlejohn in Chicago das College of Osteopathy. Der Lehrplan beinhaltete Anatomie, Physiologie, Biomechanik und Pathologie in Bezug auf die Osteopathie und wurde laufend durch die neuesten Erkennt­ nisse der modernen Medizin, der Neurophy­ siologie und Hirnforschung erweitert. Sein College war wissenschaftlich orientiert und bildete Osteopathen wie Freyette und Mitchell aus. Hier entstand auf der Basis der Physiolo­ gie The General Ostopathic Treatment (GOT). 1908–1910 war Littlejohn Direktor des American College of Osteopathy. 1913 übersiedelte er aufgrund seiner Unzu­ friedenheit mit der osteopathischen Entwick­ lung in Amerika wieder nach England. 1917 gründete er die British School of Osteopathy in London und legte mit seiner Zei­ tung Journal of Osteopathy den Grundstein für wissenschaftliche osteopathische Publika­ tionen. Schon zuvor, 1911, hatten Absolventen der Kirksviller Schule die British Osteopathic Association gegründet, die ausschließlich für Absolventen der amerikanischen Osteopa­ thie-Schulen gedacht war. 1947 starb Littlejohn, und seine Werke und Ideen wurden von britischen Osteopathen wei­ tergeführt.

 illiam Gardner Sutherland W (1873–1954) (Becker 2013) Sutherland wurde 1873  in Wisconsin als Farmersohn geboren. Nachdem er als Drucker und Journalist gearbeitet hatte, begann er mit 25 Jahren das Studium der Osteopathie an der American School of Osteopathy. Er wurde später zum Begründer der kraniosakralen Therapie. Die Erforschung des Schädels wurde seine Leidenschaft, und in vielen Selbstversuchen er­ kannte er die Zusammenhänge von Dysfunk­ tionen im Kopfbereich, die entweder durch Unfälle oder Störungen in der Peripherie ver­ ursacht wurden. Er wurde der Begründer der Balan­ ced-membranous-tension-Technik, wobei er Stills Faszienkonzept für den kraniellen Be­ reich übernahm. Mit diesen Techniken war es sein Anliegen, durch Gewebsentspannung

317 Behandlung des Bewegungsapparats

die Homöodynamik zu verbessern und damit Dysfunktionen zu lösen. Mit starken Zweifeln behaftet, hielt Suther­ land 1925 eine erste Vorlesung über kraniosa­ krale Osteopathie. 1929 wurde sein erster Arti­ kel vom amerikanischen Osteopathie-­Verband veröffentlicht. >> Aus der Erkenntnis der Balanced-membranous-tension-Technik für den Schädelbereich und auch für den ganzen Körper entwickelte Sutherland direkte und indirekte Techniken für sämtliche Gelenke und die Wirbelsäule, besser bekannt als Balanced-ligamentous-tension-Technik, bei der Einschränkungen in Gewebs- und Gelenksstrukturen über Normalisierung alle infrage kommenden Bindegewebsanteile behoben werden.

16.2.2  Der philosophische Ansatz

der Osteopathie

Die Osteopathie von A. T. Still basiert auf Ana­ tomie und der Bedeutung von Gesundheit im Körper. Still war der Ansicht, dass jeder in der Lage sei, Krankheit zu finden, aber der Osteo­ path die Gesundheit suchen möge, um damit dem Patienten die Möglichkeit zu bieten, von selbst wieder zu gesunden. Dieser Ansatz ent­ spricht den heutigen Vorgaben der Salutogenese nach dem Medizinsoziologen Aaron An­ tonowsky (1923–1994). Stills Konzept fordert 55 eine normale Lage der Knochen zueinander, 55 normal funktionierende Gewebe, 55 eine einwandfreie Physiologie, die für die Gesundheit maßgeblich ist, 55 eine Versorgung durch alle Flüssigkeitsan­ teile (arteriell, venös und lymphatisch). Still verglich den Körper mit einer Maschine, die vom Gehirn, das er als eine Art Dynamo sah, über elektrische Impulse mittels der Ner­ ven angetrieben würde. Still erkannte sehr wohl, dass Vererbung, Gifte, Lebensgewohnheiten, Umgebungsein­

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flüsse, Inaktivität, psychischer und sozialer Stress sowie Drogenmissbrauch, mangelnde Hygiene und Fehlernährung zur Entstehung von Krankheiten beitrugen, verlor seine Kon­ zepte jedoch nie aus den Augen. 1899–1900 wurden von Still die 5 osteopa­ thischen Prinzipien beschrieben: 5. Der menschliche Körper funktioniert als Einheit. 6. Die Struktur bestimmt die Form („form follows function“). 7. Prinzip der Arterie (alle Flüssigkeiten müssen im Körper fließen). 8. Der Körper verfügt über selbstheilende Mechanismen. 9. Die Mobilität aller Gewebe, Knochen und Organe muss gewährleistet sein, damit ein physiologisches Funktionieren möglich ist. Auf diese Prinzipien und auch auf Stills spiri­ tuelles Konzept wird jedoch hier nicht näher eingegangen, da dies den Rahmen des Buches sprengen würde. Erwähnt sei nur, dass Still in seinem Buch Die Philosophie und die mechanischen Prinzipien der Osteopathie den Begriff „Biogen“ als den primären Ausdruck der Le­ benskraft in der Materie beschreibt. Er spricht von einer Schöpfungsintelligenz oder „The Mind“ als treibende Kraft, die Leben ohne Be­ wegung unmöglich macht. Formen und Strukturen unterliegen lau­ fenden Prozessen und Veränderungen, solange sie lebendig sind. In Anlehnung an die Er­ kenntnis, dass der Mensch den Mikrokosmos im Makrokosmos darstellt, finden sich Paralle­ len zum Chi der Chinesen, zum Prana der ayur­ vedischen Medizin und zum Ki der Japaner. Auch die neuen wissenschaftlichen Erkennt­ nisse über Lebensprozesse, wie Informations-, Formations- und Formprozesse, finden hier eine Übereinstimmung. >> Selbstorganisation und Selbstregulation des Körpers bewirken Heilung. Heilung kann also nie von außen kommen. Ein Symptom ist demnach immer Ausdruck einer unzureichenden Selbstregulation, bedingt durch ungünstige Bedingungen.

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R. Crevenna et al.

Für Still ist das Bindegewebe der Behälter der Flüssigkeiten, also der Träger der Lebenskraft (Geist). Das Ziel der osteopathischen Behand­ lung besteht darin, das Bindegewebe in seinen ursprünglichen Zustand zurückzuversetzen, um eine optimale Gesundheit zu erreichen. Die materielle Form reagiert aber genauso stark auf Gedanken und Absichten, auf Er­ nährung wie auch auf eben diese Lebenskraft und die Selbstheilungskräfte. Der Verstand be­ herrscht die Materie, wobei auch der Plazebo­ effekt eine ganz andere Bedeutung bekommt. Das, was Still schon lange zu wissen annahm, wird heutzutage im Mentaltraining v.  a. im Sport besonders effektiv eingesetzt. Osteopathie wurde von Still per se nie de­ finiert und ist eher als Erneuerungsbewegung der damaligen Medizin zu sehen. Bezugneh­ mend auf einen Satz in der chinesischen Me­ dizin definiert diese Aussage unser osteopathi­ sches Denken:

»» „Ich bin nicht krank, weil ich Angina habe, sondern ich habe Angina, weil ich krank bin.“ (Becker 2013)

Von Rollin Becker (2013) stammt folgende De­ finition der Osteopathie:

»» „Die Wissenschaft der Osteopathie um-

fasst das Wissen der Philosophie, Anatomie und Physiologie des gesamten Körpers und die klinische Anwendung dieses Wissens, sowohl bei der Diagnostik, als auch bei der Behandlung – so hat sie ihr Begründer, Dr. Andrew Taylor Still, konzipiert.“

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2010 wurde die Osteopathie von der WHO als „traditionelle“ oder auch als „komplementäre“ Medizin eingestuft (WHO 2010). Osteopathie ist Philosophie, Osteopathie ist Wissenschaft, und Osteopathie ist Therapie. Der Osteopath bleibt aber immer nur ein Weg­ begleiter, der auf der Suche nach Gesundheit oder – besser gesagt – nach Bewegung ist, denn Bewegung ist Leben. Der Therapeut wirkt richtungweisend und unterstützend und sollte Ehrfurcht vor dem Leben und Respekt für die Menschen haben.

Heutzutage wird die Osteopathie folgen­ dermaßen unterteilt: Osteopathische Systeme im Organismus 55 Strukturelles System (Wirbelsäule, Gelenke, Band-, Muskel-, Sehnenapparat): die Dysfunktionen des gesamten Bewegungsapparats inklusive dem Bindegewebe werden diesem System zugeordnet 55 Viszerales System: die inneren Organe und ihre Befestigungen gehören diesem System an 55 Kraniosakrales System: Dysfunktionen des gesamtem Nervensystems sowie der Verbindungen zwischen Kreuzbein und Schädel werden mit diesem System in Zusammenhang gebracht

Ausgehend von dem oben ausgeführten phi­ losophischen Konzept ergeben sich Diagnose und Behandlung. 16.2.3  Ablauf einer Konsultation

Eine osteopathische Konsultation kann 30– 60  Minuten dauern. Die Länge der Konsulta­ tion ist abhängig von der Komplexität des Falls und davon, ob es sich um ein akutes oder chro­ nisches Geschehen handelt und ob der Patient zum ersten oder zum wiederholten Mal zur Behandlung kommt. Ausgehend von der Situation einer Erst­ konsultation wird, nachdem der Patient über mögliche Risiken und Gefahren der Behand­ lung aufgeklärt wurde und er sein Einverständ­ nis zur nachfolgenden Behandlung gegeben hat, eine umfassende Anamnese erstellt. zz Anamnese und Diagnose

Die Anamnese umfasst den aktuellen Schmerz­ zustand, die Entstehung des Schmerzbildes, die Art der Beschwerden, eventuelle Therapien, die bereits erfolgt sind, sowie Medikamente, die der Patient zurzeit einnimmt.

16

319 Behandlung des Bewegungsapparats

Des Weiteren gehört zur Anamnese die Begutachtung der mitgebrachten Befunde, Röntgen- oder MRT-Bilder. Zusätzlich wird versucht, mit der Anamnese noch weiter zu­ rückzugehen, um – soweit sich der Patient da­ ran erinnern kann – alle Unfälle, Operationen etc. zurück bis in die Kindheit aufzuarbeiten. Besonderes Augenmerk wird gelegt auf möglicherweise stattgehabte Verletzungen im Bereich des Kreuzbeins, der Halswirbel­ säule und des Kopfes. Aufgrund der Zusam­ menhänge im Körper kann keine Struktur im Körper geschädigt werden, ohne dass eine Veränderung (Störung) in Nachbarstrukturen stattfindet. Die Dura mater, die harte Hirn­ haut, bildet eine Einheit mit der Rückenmarks­ haut. Jeglicher Einfluss auf Strukturen, die mit der Dura verbunden sind (Schädel, Halswir­ belsäule, Kreuzbein), hat starke Auswirkungen auf beteiligte Strukturen, z. B. Kopfschmerzen als Folge eines Sturzes auf das Kreuzbein oder Schmerzen in der Lendenwirbelsäule nach ei­ nem Sturz oder Schlag auf den Kopf. Ferner gibt es „Ketten“, die im Körper verlau­ fen. So kann eine Verletzung des Sprunggelenks eine Störung im Kniegelenk und in weiterer Folge Beschwerden im Hüftgelenk verursachen. Die Erklärung liegt in der Verbindung von Fas­ zien- und Muskelsystem über mehrere Gelenke. Nach der mündlichen Befunderhebung erfolgt die akribische manuelle Untersuchung des Patienten. Es werden schmerzhafte Regio­ nen manuell genau untersucht. Die Haut wird inspiziert (Farbe Temperatur, Falten, Feuchtig­ keit), das Bindegewebe auf Spannung, Konsis­ tenz, Schwellung untersucht. Die Wirbelsäule wird Segment für Segment auf Beweglichkeit und Strukturveränderung der betroffenen Region begutachtet. Aus der erhobenen Ana­ mnese und der manuellen Untersuchung erge­ ben sich Diagnose und Behandlungsplan. 16.2.4  Ablauf einer Behandlung

Die Behandlung verläuft individuell für jeden Patienten. Sie erfolgt aufgrund der gestellten Diagnosen und hat kein fixes Schema.

..      Abb. 16.1  Kraniosakrale Behandlung

Die Behandlung kann kraniosakral oder viszeral sein, Muskeln und Faszien betreffen, Flüssigkeitstechniken beinhalten sowie aus manipulativen Techniken (HVLA, high velocity low amplitude) bestehen. kKraniosakrale Behandlung (. Abb. 16.1)  

Sie beruht auf dem Prinzip der Bewegung der Schädelknochen zueinander und der Beein­ flussung der Liquorzirkulation im Schädelund Rückenmarkbereich. Durch Folgen der Bewegungen mit den Händen versucht der Therapeut, Impulse zu setzen, die die Selbst­ heilung und Selbstregulation im Körper des Patienten in Gang setzen sollen. Diese Regula­ tion umfasst sowohl den psychischen als auch den physischen Bereich des Patienten. kViszerale Techniken (. Abb. 16.2)  

Die Funktion der Eingeweide wie Magen, Darm, Bauchspeicheldrüse, Leber Nieren etc. soll durch die osteopathische Behandlung po­ sitiv beeinflusst werden. Dies geschieht durch punktweise ausgeübten Druck durch den The­ rapeuten, durch Pumpbewegungen, Ausstreich­ bewegungen und andere manuelle Techniken.

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R. Crevenna et al.

..      Abb. 16.2  Viszerale Technik ..      Abb. 16.4  Ecute-Technik bei Faszienbehandlung

kFaszienbehandlungen (. Abb. 16.4)  

..      Abb. 16.3 Muskeltechnik

kMuskeltechniken (. Abb. 16.3)  

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Sie können sowohl durch aktive als auch durch passive Bewegungen ausgeübt wer­ den, etwa durch spezielle Dehntechniken wie Strain/Counterstrain oder rhythmische Kon­ traktionen nach Braddy. Oft ist die Behand­ lung der kleinen Muskeln im Nacken oder der Muskeln zwischen den einzelnen Wirbeln sehr effektiv. Häufig kommt es vor, dass nicht die Region mit den Beschwerden behandelt wird, sondern die benachbarte Region oder das benachbarte Segment. In der Wirbelsäule kommt es oft zu Blockaden der kleinen Wir­ belgelenke (Facettengelenke), die in ihrer Be­ wegung limitiert sind. Die Schmerzen können dann im benachbarten Wirbel auftreten, da dieser die Bewegung des blockierten Wirbels mit übernehmen muss und dadurch überlas­ tet wird.

Sie sind besonders bei Bewegungseinschrän­ kungen äußerst effektiv. Sie sind die schmerz­ hafteste Technik in der Osteopathie, wobei der Schmerz nur für kurze Zeit durch Druck auf bestimmte Punkte und Ausstreichbewe­ gungen durch den Behandler entsteht. Dafür ist die Folge beim Patienten eine unmittel­ bare Verbesserung der Beweglichkeit und eine schmerzlosere Bewegung. Die Faszien waren lange Zeit in der Medizin wenig beachtet, erst in den letzten Jahren wurde deren Wichtigkeit erkannt. Sie haben eine äußerst widerstandsfä­ hige Struktur, eher bricht ein Knochen, als dass eine Faszie reißt. Sie sind die Trennschichten zwischen den Muskeln und begrenzen auf­ grund ihrer starken Belastbarkeit gegenüber Zug die Dehnung der Muskeln. kManuelle Behandlungen (7 Abschn. 16.3)  

Die manuellen Techniken, oft auch als manu­ elle Medizin oder Chiropraxis bezeichnet, ge­ hören ebenfalls zur Osteopathie. Hierbei bringt der Therapeut durch sehr schnelle Impulse mit sehr wenig Kraftaufwand Gelenke wieder in ihre Normalposition. Dies geschieht häufig mit Wirbelgelenken, die in Fehlstellung geraten sind, aber auch alle anderen Gelenke im Körper können durch eine Manipulation ihre Funktion wiedererlangen  – soweit sie nicht bereits ana­ tomisch beeinträchtigt sind (. Abb.  16.5). Es ist aber sehr wohl möglich, Gelenke, die durch  

321 Behandlung des Bewegungsapparats

..      Abb. 16.5 Manipulationstechnik

Arthrose schmerzhaft eingeschränkt beweg­ lich sind, durch eine osteopathische Behand­ lung in ihrer Funktion zu verbessern sowie die Schmerzsituation zu erleichtern. Zum Abschluss der Behandlung erhält der Patient üblicherweise Verhaltenshinweise für die nächsten Tage, wird über mögliche Re­ aktionen, die nach der Behandlung auftreten, aufgeklärt, und ein weiterer Behandlungster­ min wird vereinbart. Selbstverständlich soll der Patient Reaktionen, die nicht besprochen wurden, sofort telefonisch melden, damit et­ waige überschießende Reaktionen mit dem behandelnden Arzt abgeklärt werden können. Nach längstens 3–4 Behandlungen sollte der Patient eine positive Veränderung ver­ zeichnen. Ist das nicht der Fall, muss der Os­ teopath sein Behandlungskonzept überdenken. 16.2.5  Indikationen für eine

osteopathische Behandlung

Osteopathische Behandlungen können grund­ sätzlich in jedem Lebensalter durchgeführt wer­ den, vom Säugling bis ins hohe Erwachsenenalter. Hauptindikationen für Osteopathie (Auswahl) 55 Chronische und akute Schmerzzustände des Bewegungsapparats 55 Kopfschmerzen

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55 Migräne 55 Schwindel 55 Folgebeschwerden nach Unfällen und Operationen 55 Beschwerden im HNO-Bereich 55 Probleme im Kiefergelenk und bei Zahnregulierung 55 Beschwerden der Atemwege 55 Beschwerden des Verdauungstrakts 55 Begleitende Maßnahmen während der Schwangerschaft und nach der Geburt 55 Behandlung von Säuglingen bei Stillproblemen und Verdauungsbeschwerden 55 Schiefhals 55 „Schreibabys“ und „Speibabys“ 55 Schlafstörungen bei Kleinkindern 55 Konzentrationsschwächen 55 Hyperaktivität 55 Prävention

16.2.6  Fallbeispiel zz Patientin, 53 Jahre

Frau H. steht noch im Berufsleben, ist im oberen Management tätig und für ihren unermüdlichen Arbeitseinsatz bekannt. Als die Patientin zum ersten Mal in die osteopathische Praxis kommt, klagt sie über für sie unerklärliche Zustände wie: 55 Verlust der Konzentration, 55 deutlich eingeschränkte Belastbarkeit, 55 Symptome eines oberen und unteren CVS (Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit, Seh­ störungen, Kribbeln in beiden Händen), 55 zunehmende unerklärliche Müdigkeit. Sie spricht von einem für sie unverständlichen Beschwerdebild. In den Praxen, die sie zuvor aufgesucht hatte, war ihr angeraten worden, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben, weil die Diagnose „Burnout“ im Raum stand. kAus der Anamnese

3  Monate vor dem Besuch in der osteopathi­ schen Praxis war die Patientin in einem Lokal mit einer Sitzbank eingebrochen. Diese Sitz­

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R. Crevenna et al.

bank hatte an der Wand gestanden, sodass die Patientin im Moment des Einbrechens nicht ausweichen konnte und mit aller Wucht auf das Gesäß fiel. Am Tag nach diesem Ereignis kam es zu akuten Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule. Die Patientin begab sich in die Unfallabtei­ lung eines Krankenhauses. Von der betroffe­ nen Stelle wurde ein Röntgenbild angefertigt. Es waren keine knöchernen Verletzungen zu sehen. Sie erhielt Schmerzinfusionen und war nach 14 Tagen wieder beschwerdefrei. Nach weiteren 14  Tagen entwickelte sich ein sog. akutes unteres Zervikalsyndrom, mit den bekannten Symptomen wie Kopfschmer­ zen, Schwindel, Übelkeit, „verschlagenen“ Ohren (Gefühl von Druck im Ohr) und Ein­ schlafen der Hände. Die Patientin ging zu ihrem Hausarzt, erhielt wieder Schmerzinfu­ sionen und war nach 14  Tagen erneut relativ beschwerdefrei. Nach weiteren 3  Wochen kam es zu Be­ schwerden mit sternalem Druckgefühl, Atem­ beklemmung, Müdigkeit und Antriebslosigkeit. Durch diese Symptome beunruhigt, suchte die Patientin einen Neurologen auf. Aus der Sicht des Neurologen und den Symptome ent­ sprechend wurde die Diagnose „Burnout“ ge­ stellt und eine psychotherapeutische Behand­ lung für die nächsten Wochen geplant. Befunde, die bis zu diesem Zeitpunkt erho­ ben wurden: 55 Nativröntgen der gesamten Wirbelsäule o.B., 55 MRT der HWS o.B., der LWS o.B., 55 Blutbefunde bis auf veränderte Choleste­ rinwerte und leicht erhöhte Blutsenkungs­ geschwindigkeit normal, 55 EKG o.B. Die manuelle Untersuchung in der osteopathi­ schen Praxis ergab ein weit komplexeres Bild: 55 Dysfunktion des Facettengelenks C5/6 rechts und C6/7 links, 55 Dysfunktionen der Facettengelenke Th2, 3, 4, 5, 7, 8 und 11, 12, 55 Blockade der Kostovertebralgelenke 3, 4 links und 3, 4 links,

55 in der Lendenwirbelsäule kompensatori­ sche Läsion L4/5 rechts, 55 blockiertes Iliosakralgelenk links, 55 hoch druckdolentes Os coccygis (Steiß­ bein). Was war geschehen? Durch den Sturz der Patientin, bei dem sie nicht ausweichen konnte, war sie mit voller Wucht auf das Steißbein gefallen, und es kam zu einer Prellung und Fehlstellung im Bereich des Steißbeins und des Kreuzbeins. Die letzten Ausläufer der Dura sind am Steißbein fixiert, die Fixationen der Dura erfolgen auf S2, also auf Sakrumhöhe 2, auf C2 im Bereich der Hals­ wirbelsäule und dann im Bereich des Foramen mangnum und im Schädel. Das heißt, durch die Fehlstellung am Os sacrum aufgrund der Prellung, die hier durch den Sturz aufgetreten war, kam es zu einer Spannung, die sich über die Dura bis in den Kopfbereich fortsetzte. Dies erklärt die Pro­ blematik, die sich zunächst in der HWS entwi­ ckelt hat. Zusätzlich kam es bei dem Sturz der Patientin zu massiven Dysfunktionen im Be­ reich der oberen BWS. Bei genauerer Betrachtung der Region der BWS und der Rippengelenke ist festzustellen, dass sich an der ventralen Seite genau über den Rippengelenken die parasympathischen Gang­ lien des sympathischen Grenzstrangs befinden. Kommt es in diesem Bereich zu einer funktio­ nellen Blockade des Gelenks, so wird durch die Druckentwicklung und myalgische Verspan­ nungen, die sich in diesem Bereich entwickeln, das sympathische Ganglion gereizt, was gerade beim Sitzen oder Liegen zu einer Druckverstär­ kung in diesem Bereich führt. Daraus können sich die o. g. Symptome entwickeln, wie 55 sternales Druckgefühl, 55 Gefühl, nicht durchatmen zu können, 55 bis hin zu Vernichtungsgefühl und ­Panikattacken. kBehandlung und Verlauf

Die Patientin wird insgesamt 3-mal osteopa­ thisch behandelt. Der Abstand zwischen den Behandlungen beträgt jeweils 4 Wochen.

323 Behandlung des Bewegungsapparats

Bei den jeweiligen Sitzungen wird zunächst das Steißbein behandelt, und in weiterer Folge werden die Dysfunktionen an den oben be­ schriebenen Gelenksabschnitten korrigiert. Ab­ schließend wird eine Normalisierung der Span­ nung über das kraniosakrale System und das Faszien- und Bindegewebssystem hergestellt. Die Patientin ist nach der 3.  Behandlung komplett beschwerdefrei und kann ihre beruf­ liche Tätigkeit wieder im vollen Umfang auf­ nehmen. 16.2.7  Studien/Evidenzlage

Die Übersichtsarbeit von A. Rauch Die Effektivität der Osteopathie. Zum aktuellen Stand der klinischen Forschung (Studie im Auftrag der Österreichischen Gesellschaft für Osteopathie) hatte zum Ziel, den aktuellen Stand der osteo­ pathischen Forschung aufzuzeigen (einzuse­ hen bei der Österreichischen Gesellschaft für Osteopathie; s. auch Rauch 2003a, b). Da in der medizinischen Forschung nur randomisierte kontrollierte Studien als Goldstandard gelten, wurden bei dieser Übersichtsarbeit auch nur solche Studien berücksichtigt. Des Weiteren wurden systematische Reviews und Metaana­ lysen eingearbeitet. Der Bericht fasst aktuelle Metaanalysen systematischer Reviews und aller randomisierten kontrollierten Studien (RCT), die durch nicht Metaanalysen bzw. sys­ tematische Reviews abgedeckt sind, im Bereich der klinischen Forschung zusammen. kErgebnisse

55 Die Bandbreite an Störungen bzw. Erkran­ kungen, bei denen die Wirksamkeit der Osteopathie untersucht wurde, ist groß. 55 Im März 2012 konnten 25 Beschwerde­ bilder, die in Verbindung mit Osteopathie untersucht wurden, gefunden werden: 559 Beschwerdebilder den Bewegungsap­ parat betreffend, 556 neurologische Beschwerdebilder, 5510 viszerale Beschwerdebilder. 55 Bei der Literatursuche für die Studie wur­ den 2 Metaanalysen, 14 rezente, relevante

16

systematische Reviews und 30 (nicht in den Reviews eingeschlossene) RCT gefunden. Im Zuge der Ausbildung zum Master of Science in Osteopathie wurden und werden zahlreiche Studien publiziert, welche die wissenschaft­ liche Untermauerung der Behandlungstech­ niken und Konzepte liefern. Eine umfassende Zusammenstellung wichtiger Arbeiten findet sich im Literaturverzeichnis (s. unten). 16.2.8  Ausbildung zz Basislehrgang

Seit 2015 bestehende, 4-jährige fundierte und ganzheitliche osteopathische Ausbildung, die von einem internationalen Team unterrichtet und von der WSO (Wiener Schule für Osteo­ pathie; (7 https://www.­wso.­at/) organisiert und durchgeführt wird: 55 Jährlich 6 Seminare zu je 4,5 Tagen (der Basislehrgang wurde mit Studienstart Herbst 2015 von 5 auf 4 Jahre um ein Jahr verkürzt), 55 Prüfungen am Ende jedes Jahres, 55 supervidierte Behandlungen und klini­ sches Praktikum in der Lehrklinik der WSO.  

kZur Ausbildung zugelassen sind

ÄrztInnen, ZahnärztInnen, Physiotherapeu­ tInnen und Medizinstudierende ab SIP 4. >> Wichtig! Der Basislehrgang alleine ist keine eigenständige Ausbildung und beinhaltet keinen Abschluss.

zz Universitätslehrgänge

Nach dem Basislehrgang wird einer der folgen­ den Universitätslehrgänge, die in Kooperation mit der Donau-Universität Krems veranstal­ tet werden, angehängt. Studierende wählen je nach eigener Präferenz aus: Master of Science:

55 ECTS: 120 55 Arbeit: Master-Thesis 55 Dauer: 4–5 Semester (berufsbegleitend)

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R. Crevenna et al.

Akademische/r ExpertIn:

International Academy of Osteopathy (IAO): (7 http://www.­osteopathie.­eu/de)

55 Vornehmlich in den USA, England, Aus­ tralien, Frankreich, Deutschland, Belgien, Schweiz und Österreich entwickelt sich die  Osteopathie ständig weiter, und es ­entstanden unterschiedliche Lehrphilosophien. 55 Derzeit erfolgt die wissenschaftliche Untermauerung der Behandlungstechniken und Konzepte durch entsprechende Studien.

zz Sekretariat, Links Österreich:

16.3  Manuelle Medizin

55 ECTS: 60 55 Arbeit: Literaturarbeit 55 Dauer: 3 Semester (berufsbegleitend) zz Informationen zur Ausbildung in anderen Ländern  

Österreichische Ärztegesellschaft für Os­ teopathie 7 www.­medosteo.­at Österreichische Gesellschaft für Osteopa­ thie: 7 www.­oego.­org Osteopathisches Zentrum für Kinder:  



7 www.­ozk.­at  

Deutschland:

Deutsche Ärztegesellschaft für Osteopathie e.V.: 7 www.­daego.­de Verband der Osteopathen Deutschland e.V.: 7 www.­osteopathie.­de Deutsche Gesellschaft für osteopathische Medizin: 7 www.­dgom.­info  





Schweiz:

Schweizer Ärztegesellschaft für Osteopa­ thische Medizin (SAGOM): 7 www.­sagom.­ch Schweizer Verband der Osteopathen:  

7 www.­osteopathes-suisses.­ch  

Zusammenfassung

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55 Das Grundkonzept der Osteopathie wurde 1874 von dem amerikanischen Arzt Dr. Andrew Taylor Still entwickelt. 55 Es beruht auf den komplexen Zusam­ menhängen zwischen Dysfunktion der verschiedenen Gewebe des Körpers und deren Auswirkung auf den Bewegungsapparat. 55 Wörtlich übersetzt bedeutet Osteopathie „Knochenleiden“; Osteo- steht aus histo­ rischen Gründen stellvertretend für alle Arten von Gewebe, die vom Osteopathen behandelt werden (Knochen, Muskeln, Bänder, Gefäßsysteme, Nerven, Faszien).

Hans Tilscher 16.3.1  Geschichte der manuellen

Medizin

Manuelle Medizin ist so alt wie die Mensch­ heit. Die menschliche Hand mit ihrer voll­ endeten Harmonie zwischen sensorischer und motorischer Fähigkeit ist sicherlich der ur­ sprünglichste Ausgangspunkt diagnostischer und therapeutischer Maßnahmen. Die Hand des Arztes war und ist trotz aller Technisierung immer Basis für ärztliche Dia­ gnostik und Therapie – Zeugnisse der manuel­ len Medizin sind über 5000 Jahre alt. Berichte aus der altägyptischen Medizin (2900 v. Chr.), aus Mesopotamien (2100 v. Chr.), aus der in­ dischen Heilkunde (1500 v. Chr.) liegen lange vor den uns bekannten Überlieferungen aus der griechisch-römischen Zeit von Asklepius, Hippokrates (460 v.  Chr.), Apollonius oder Galen. Ambroise Paré (um 1520), Glisson (um 1600), Morgagni (um 1700), die „Bonesetter“, J.  G.  Heine aus Würzburg (um 1800) stehen zeitlich vor dem Osteopathen Still (um 1840) oder dem Chiropraktiker Palmer (um 1890). Erst nach dem Zweiten Weltkrieg begann in Europa und damit auch im deutschspra­ chigen Raum eine Renaissance der manuellen Medizin. Sie ist mit den Namen der Chirur­ gen Junghanns und Zukschwerdt verbunden. 1953 wurde in Hamburg die Forschungsge-

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meinschaft für Arthrologie und Chirotherapie (FAC) gegründet, 1955 von Dr. Sell in Isny-­ Neutrauchburg die Deutsche Gesellschaft für Manuelle Medizin. Viele bedeutende Persön­ lichkeiten haben versucht, neben ihrer prakti­ schen Erfahrung theoretisches Basiswissen in die manuelle Medizin einzubringen. Zu nen­ nen sind u.  a. Sandberg, Gutmann (Hamm), Wolff (Trier) oder Tilscher (Wien), die Eng­ länder Stoddard, Menell und Cyriax, die Fran­ zosen um Maigne, die Skandinavier um Evjent und Kaltenborn, die Tschechen Lewit und Jirout. Durch die Kenntnisse der manuellen Medizin entwickelte sich die österreichische Schule für konservative Orthopädie. 16.3.2  Häufigkeit von

Erkrankungen des Stützund Bewegungsapparats

Schmerzen sind der wichtigste Grund, einen Arzt aufzusuchen. Häufigste Ursache ist der gestörte Stütz- und Bewegungsapparat. Nach den Zahlen des Hauptverbandes der Österreichischen Sozialversicherungsträ­ ger mussten im Jahr 2011  in Wien 8.843.645 Krankenstandstage gezählt werden. 21,22  % davon, nämlich 1.876.221 Tage betrafen Er­ krankungen des Stütz- und Bewegungsappa­ rats („Krankheiten des Skeletts, der Muskeln, des Bindegewebes“), die damit mit 108.908 Krankenstandfällen nach den Krankheiten der oberen Luftwege an zweiter Stelle der Kran­ kenstandtage verursachenden Erkrankungen liegt (Hauptverband der österreichischen So­ zialversicherungsträger 2011). Bei den Neuzugängen an Pensionen der geminderten Arbeitsfähigkeit bzw. der dau­ ernden Erwerbsunfähigkeit 2015 standen die Erkrankungen des Skeletts, der Muskeln und des Bindegewebes (3616 Fälle) an zweiter Stelle nach den psychiatrischen Erkrankungen (4954 Fälle). Mehr als die Hälfte der insgesamt 15.115 Fälle war also auf diese beiden Bereiche zu­ rückzuführen, die zahlreichen übrigen Krank­ heitsgruppen waren jeweils deutlich weniger häufig vertreten (Statistik Austria 2015).

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Wirbelsäulenerkrankungen Unter den genannten Fällen finden sich häu­ fig Wirbelsäulenerkrankungen, besonders Störungen der Lenden-Becken-Hüft-Region mit ihrem wichtigsten Symptom, dem Kreuz­ schmerz, mit welchem durchschnittlich 85  % der erwachsenen Bevölkerung in den Indus­ trieländern bereits konfrontiert worden waren. In zunehmendem Maße werden Kopf-Na­ cken-Schulter-Arm-Schmerzen zu einem be­ sonderen Problem, speziell bei Frauen. Wirbelsäulenstörungen spielen somit in der Erkrankungsgruppe des Stütz- und Bewe­ gungsapparats eine wichtige Rolle, gefolgt von Beschwerden der Kniegelenke, der Hände, der Hüfte, der Füße, der Schultern bzw. Ellbogen (. Tab. 16.1).  

Funktionsstörungen – Funktionszerstörungen Ärzte für Allgemeinmedizin und andere Sparten können somit bei der Betreuung von Schmerzpatienten oft mit Erkrankungen des Bewegungsapparats, speziell der Wirbelsäule, konfrontiert werden. In der Praxis sind es v. a. durch Funktions­ störungen verursachte Beschwerdebilder, de­ ren Diagnostik Aufgabe der Anamnese und der klinischen Untersuchung ist. Morpholo­ gische Darstellungen, aber auch Laborunter­ suchungen, dienen dabei in der Mehrzahl der Fälle dem Ausschluss von schweren pathomor­

..      Tab. 16.1  „Volkskrankheit“ Arthrose – die häufigsten Gelenkschmerzen (Mehrfachnennungen möglich; Daten aus Singer 2001) Lokalisation

Häufigkeit (%)

Wirbelsäule

60

Knie

25

Hand

20–30

Hüfte

7,5

Fuß/Zehen

4

Schulter/Ellbogen

1,2

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phologischen Veränderungen als Ursachen von Funktionszerstörungen. Es wird allerdings für Ärzte im niederge­ lassenen Bereich wenig oder keine Ausbildung für diese genannte große Erkrankungsgruppe angeboten. Hier ist die manuelle Diagnostik, gleichbe­ deutend mit der „klinischen Untersuchung“, in den meisten Fällen unverzichtbares Rüstzeug zur Diagnosefindung und somit auch zur Stel­ lung einer Indikation zur Therapie. 16.3.3  Die Bedeutung der

manuellen Medizin: manuelle Diagnostik (Chirodiagnostik) – manuelle Therapie (Chirotherapie)

 ie Orthopädie und ihr „groD ßer Bruder“, die orthopädische ­Chirurgie (und Traumatologie)

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Veränderungen der Schwerpunkte von Er­ krankungen, Krankheitsbildern und Krank­ heitsverläufen betreffen auch die Orthopä­ die. So versteht sich der Orthopäde i.  Allg. als orthopädischer Chirurg (Traumatologe), wogegen der nichtchirurgische Orthopäde seinen Tätigkeitsbereich als konservative Or­ thopädie bezeichnet. Die Möglichkeit, durch die modernen bildgebenden Verfahren und die labortechnisch zu erhebenden Befundun­ gen Indikationen zur anatomischen Rekon­ struktion durch eine Operation zu stellen, ist in vielen Fällen berechtigt, lässt aber anderer­ seits durch die diagnostizierte Pathomorpho­ logie als Krankheitsursache Denkmodelle entstehen, die nicht überall angewendet wer­ den können. Die orthopädische Chirurgie erfordert na­ turgemäß entsprechende Kliniken, in welchen Patienten mit Problemen auf der Basis von schweren gestaltlichen Veränderungen sta­ tionär aufgenommen werden und operativen Eingriffen unterzogen werden können.

 roblematik bei der Ausbildung P in konservativer Orthopädie Kliniken dienen auch der Ausbildung und dem Training von Medizinern, wobei – was den Be­ wegungsapparat anbelangt  – Erkrankungen durch pathomorphologische Veränderungen und deren chirurgische Behandlungen gelehrt werden. Die derart ausgebildeten Ärzte wer­ den allerdings bei ihrer Niederlassung in ei­ ner Praxis mit orthopädischen Erkrankungen konfrontiert, auf die sie weder hinsichtlich der Diagnose noch der Therapie und damit auch nicht auf deren Prävention entsprechend vor­ bereitet wurden. Es ist verständlich, dass der orthopädische Chirurg seine Fähigkeiten von dem Gebiet, was man operieren muss, auch auf das Gebiet, was man operieren kann, ausdehnt und damit das Gebiet, was man nicht operieren soll, im­ mer schmaler wird. >> Der Großteil der ambulanten Patienten mit Störungen des Stütz- und Bewegungsapparats leidet an Schmerzen durch Funktionsstörungen (Strukturstörungen) und nicht an Funktionszerstörungen (Strukturzerstörungen) des Bewegungsapparats und bietet damit keine Gründe zu operativen Eingriffen.

 ie Problematik der befundorienD tierten konventionellen Medizin Die durch Funktionsstörungen verursachten Rezeptor-Schmerzen, die in bildgebenden Verfahren keinen pathologischen Niederschlag finden, lassen eine bedenkliche Unsicherheit in der Diagnostik und in der Therapie entstehen. Die unverzichtbare Exaktheit der konventio­ nellen Medizin gerät hier in Form der Duldung von Diagnoseprovisorien wie „Abnutzung“, „Bandscheibenschaden“, „Diskopathie“, „Mus­ kelrheumatismus“, bis zur voreiligen Verwen­ dung des Begriffs „somatoforme Störungen“ in eine Art Notstand. Das Vertrauen auf die Hochtechnologie in der Medizin hat den klinischen Blick vie­ ler Mediziner verschleiert. Dies ist aber nicht nur der Dynamik der Industrie anzulasten, die

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wenig Interesse am Einsatz klinischer Erfah­ rungen und manueller Geschicklichkeit hat. Dazu kommt der Einfluss der Meinungsführer (Opinion Leader), die vorwiegend Chefärzte sind, also Mediziner, die aufgrund ihrer Posi­ tion vorwiegend mit pathomorphologisch be­ dingten Funktionszerstörungen konfrontiert werden.

Funktionsstörungen (des ­Bewegungsapparats) und ihre ­wissenschaftliche Bearbeitung Die unbefriedigende Situation, in der sich letz­ ten Endes die vielen an Funktionsstörungen Erkrankten befinden, und deren mangelhafte Akzeptanz der zu deren Betreuung eingesetz­ ten Methoden durch die konventionelle Me­ dizin hat auch ihre Ursachen darin, dass diese wissenschaftlich schwer bearbeitbar sind. So lassen sich z.  B. durch Funktionsstörungen verursachte vertebragene Schmerzsyndrome mit ihrer multifaktoriellen Genese zahlen­ mäßig schwer erfassen, und dadurch sind sie objektiven Kriterien schwer zugänglich. Wis­ senschaftlich Tätige, besonders Habilitanden, setzen sich aus diesen Gründen nicht gerade bevorzugt mit diesem Bereich der Medizin auseinander. Dies betrifft nicht nur die Funk­ tionsstörungen des Bewegungsapparats mit der damit befassten manuellen Medizin, son­ dern auch die Mehrzahl aller Funktions- und Befindensstörungen des Menschen. Die dabei eingesetzten Behandlungsformen der Ärzte werden  – wahrscheinlich im Wissen um das Fehlen sog. „schulmedizinischer Methoden“ – wohlwollend als komplementäre Möglichkei­ ten bezeichnet, bei weniger Wohlwollen als Randgebiete, alternative Methoden oder gar als Paramedizin.

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liche Punkte aus der funktionellen Pathologie hingewiesen werden.

Denkmodell: Bewegungssegment – Vertebron – Arthron Bewegungssegment - Funktionsmodell, das aus jeweils zwei Wirbelkörpern, der verbindenden Bandscheibe, den Wirbelgelenken, den Muskeln, besonders der Innervation, und dem Bandapparat besteht.

Mit der Einführung des Denkmodells „Bewe­ gungssegment“ in die Vertebrologie stand der manuellen Medizin erstmals ein von der rein deskriptiven Anatomie losgelöstes ideologi­ sches Gebilde zur Verfügung, das die theore­ tische Basis der Chirotherapie untermauern konnte. Der Begriff der vertebralen Funktions­ störung, Kernstück und Ausgangspunkt theo­ retischer Überlegungen, ist ohne dieses Funk­ tionsmodell nicht erklärbar. Gleichzeitig wird damit der Weg frei, den ätiopathogenetischen Stellenwert des traditionsverhafteten Abnut­ zungsbegriffs mit der zwangsläufig verbunde­ nen Überwertung degenerativer pathomor­ phologischer Veränderungen zu korrigieren. >> An diese Stelle tritt das Prinzip: Krankheit ist Fehlfunktion, die durch die Störung der Materie und/oder der Energie und/oder der Steuerung entsteht.

16.3.4  Wissenschaftliche

Als logische Konsequenz ergibt sich für die manuelle Medizin daraus die Aufgabe, Ort und Art der gestörten Funktion zu erkennen und anschließend zu versuchen, durch geeignete Behandlungsmaßnahmen die Normalfunktion wiederherzustellen. Als häufigste Störungsträger wirken: 55 Gelenke, 55 Muskulatur, 55 Bandscheiben und Bänder, mit deren Innervation (Neuromuskuloskelettalme­ dizin).

Zum besseren Verständnis bei der näheren Er­ läuterung chirodiagnostischer und chirothe­ rapeutischer Methoden soll auf einige wesent­

Ohne Wissen um die normale Wirbelsäulenund periphere Gelenkfunktion, ihre Störungs­ möglichkeiten und deren diagnostische Identi­ fikation bleibt die Chirotherapie, und nicht nur sie, auf Zufallserfolge beschränkt.

Grundlagen der manuellen Medizin

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R. Crevenna et al.

Schmerzgeschehen Wichtigstes Symptom und zugleich Indikator einer Störung der menschlichen Integrität ist das Warnsignal „Schmerz“. Das Auftreten von Schmerzen zeigt eine örtliche Gewebsirrita­ tion an, die durch alle Reize, unabhängig von ihrer Qualität, ausgelöst werden kann, sobald diese eine bestimmte Intensität überschreiten und die Schmerzhemmungsmechanismen de­ kompensieren. Wesentlich ist dabei, dass das Schmerzgeschehen nicht nur vom peripheren Geschehen abhängig ist, sondern auch durch die zentrale Schmerzverarbeitung (Hemmung oder Bahnung) mitbestimmt wird. Gleiches gilt für die Lokalisierbarkeit und die Differen­ zierbarkeit des Schmerzgeschehens. >> Der ursprünglichste biologische Sinn der Schmerzwahrnehmung ist die protektive Wirkung.

Die häufigste und wichtigste Schmerzart des Be­ wegungsapparats ist der Rezeptoren-Schmerz. Dabei ist auch aus therapeutischen Gründen die Differenzierung zwischen akuten und chro­ nischen Schmerzen notwendig. Chronische Schmerzen verändern u. a. die vegetative Regulation, des Weiteren oft die psy­ chische Grundsituation in Richtung depressi­ ver Verstimmungszustände.

Schmerzprojektion – ­Ausstrahlungsschmerz

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Die überregionale Schmerzausbreitung, der Ausstrahlungsschmerz, ist das Ergebnis diffe­ renter neurophysiologischer Vorgänge. 55 Radikuläre Syndrome (mechanische Nervenwurzelkompressionen) sind durch die neurologische Defizitsymptomatik ge­ kennzeichnet (Hypalgesie, Reflexausfälle, Paresen). 55 Pseudoradikuläre Schmerzen sind ein Resultat der reflektorischen Schmerzver­ arbeitung besonders in der Muskulatur (Myotom). Schmerzreize bewirken durch die Aktivierung von motorischen Vorder­ hornzellen bereits auf spinaler Ebene in ihrem Ausmaß variierende muskuläre

Tonusveränderungen, die wichtiger Teil der Beschwerde-­Syndromatik werden. 55 Projektionsschmerzen (Dolor translatus, referred pain) entstehen durch die kor­ tikale Fehlprojektion in das Dermatom. Die dafür verantwortlichen Mechanismen entsprechen den Headschen Zonen, die bei viszeralen Erkrankungen beschrieben wurden. >> Pseudoradikuläre Syndrome und Projektionsschmerzen unterscheiden sich von radikulären Syndromen hauptsächlich durch das Fehlen von neurologischen Ausfallserscheinungen.

Die vegetative Reizbeantwortung wirkt als Katalysator im Syndromaufbau, vorwiegend durch die Durchblutungsänderung und die Schmerzschwellenerniedrigung  – anfänglich im Segment, später plexusgebunden.

Arthrogene Funktionsstörungen Unterschieden werden Blockierung, Hyper­ mobilität und Instabilität von Gelenken. Blockierung (Hypomobilität) - Arthrogene Funktionseinschränkung (segmentale Dysfunktion) mit fehlendem Gelenkspiel. Hypermobilität - Stetiges Überscheiten der von Natur aus vorgesehenen Gelenkbeweglichkeit.

Instabilität - Vermehrte translatorische Gleitfähigkeit eines Gelenks (s. auch Kniegelenk-Schubladentest) oder Bewegungssegmentes.

Das Gelenkspiel ist eine Voraussetzung für die freie Beweglichkeit eines Gelenks und besteht u.  a. aus der manuell prüfbaren Eigenschaft, bei Fixation des einen Gelenkpartners den an­ deren einer leichten Traktion zu unterziehen. Weiteres wichtiges Element des Gelenkspiels ist die translatorische Gleitfähigkeit, ebenfalls eine Gelenkfunktion, die nachgewiesen wer­ den kann, sowie das leicht erlernbare Unter­ suchen der Endbeweglichkeit, der passiven federnden Weiterbewegung eines Gelenkpart­ ners aus seiner aktiv erreichten Endstellung. Diese Funktionsstörungen verursachen, von entsprechenden Schmerzrezeptoren regis­

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triert, durch vegetative und motorische Akti­ vierung eine Beschwerdesyndromatik.

Muskelfunktionsstörungen Die Muskulatur kann Ursache oder Erfolgs­ organ (pseudoradikuläre Symptomatik) diver­ ser Beschwerdebilder sein. Es kann dabei im Wesentlichen unterschieden werden zwischen 55 Muskelhypertonus, 55 Muskelverkürzung, 55 Muskelhypotonus, 55 gestörter Muskelaktivierung, 55 Kraftminderung. 16.3.5  Manuelle Diagnostik

(Chirodiagnostik) – klinische Untersuchung des Bewegungsapparats

Die manuelle Medizin umfasst zwei große Auf­ gabengebiete: 55 die manuelle (klinische) Diagnostik (Chi­ rodiagnostik) und 55 die manuelle Therapie (Chirotherapie) von Funktionsstörungen des Bewegungs­ apparats. >> Krankheit ist Fehlfunktion.

Die Aufgabe der Diagnostik ist es, die Mani­ festation einer Erkrankung mit ihren Begleit­ phänomenen festzustellen, zu erkennen und mit Wissensinhalten aus der Ausbildung und der Erfahrung zu vergleichen. Voraussetzungen für die klinischen Untersuchungstechniken am gestörten Bewegungsapparat 55 Das Wissen um die Normalfunktion 55 Das Wissen um die Krankheiten (Funktionsstörung, Funktionszerstörung) 55 Das Wissen um diagnostische Zugänge 55 Das Beherrschen der Untersuchungstechniken

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55 Das Üben der Untersuchungstechniken 55 Die Begabung (z. B. assoziatives Vermögen, Tastgefühl) 55 Der Einsatz der eigenen Erfahrungen

>> Die manuelle, d. h. klinische Untersuchung des Bewegungsapparats ist keinesfalls nur als eine weniger bedeutende Alternative zur Hochtechnologie der apparativen Diagnostik zu verstehen.

Sie liefert bei Funktionszerstörungen (Erkran­ kungen durch schwere pathomorphologische Veränderungen), wie sie als Erkrankungen v. a. in Kliniken anzutreffen sind, hinweisende Informa­ tionen, die objektiviert werden müssen. Bei den in der Praxis dominierenden Funktionsstörun­ gen, bei welchen morphologische Darstellungs­ möglichkeiten und Laborbefunde in der Dia­ gnostik versagen bzw. nur als Ausschlussmethode zu gelten haben, ist die manuelle, d. h. klinische Untersuchung die weiterführende und schließ­ lich zielführende Untersuchungsmethode. Die manuelle klinische Untersuchungs­ technik ist bei der ärztlichen Betreuung ent­ sprechend Erkrankter unverzichtbar und überschreitet somit einen Grenzbereich der Komplementärmedizin. Aus der Notwendigkeit heraus, für ma­ nualtherapeutische Maßnahmen  – und nicht nur für diese  – entsprechende Indikationsstel­ lungen unter gleichzeitigem Erkennen der üb­ lichen auszuschließenden Erkrankungen und Kontraindikationen zu erarbeiten, wurden die klinische Untersuchung bzw. deren einzelne Untersuchungstechniken innerhalb der manu­ ellen Medizin einer didaktischen Aufbereitung unterzogen. Es wurde dabei deren Aussagekraft, deren technischer Durchführung und schließ­ lich auch dem Aufbau des klinischen Untersu­ chungsgangs und damit dessen Vermittlung im Rahmen der Lehre Aufmerksamkeit geschenkt. Klinische (manuelle) Untersuchung - Das Testen von Normalfunktionen, um die Kombination von typischen Fehlfunktionen für eine gewisse Erkrankung zu finden.

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Schritte bei der manuellen Diagnostik 1. Topische Diagnose (z. B. Kreuzschmerz, Nackenschmerz, Ischialgie) 2. Strukturanalyse (z. B. Instabilität, Bandscheibenprotrusion, extradurale Raumforderung, etc.) 3. Aktualitätsdiagnose (z. B. akute, chronische, reflektorische Zeichen der Beschwerde-Syndromatik in der Haut, in den Muskeln, in den Gelenken, die Beschwerden verursachen)

zz Das Erkennen von Ort und Art der vorliegenden Störung (Strukturanalyse)

Im Prinzip kann die Hand dabei im Wesent­ lichen folgende Aufgaben erfüllen (Palpation): 55 Feststellen von thermischen Phänomenen (Wärme, Kälte), 55 Feststellen von Tonus und Struktur(verän­ derungen) (Strukturpalpation), 55 Feststellen von Bewegungs- und Beweg­ lichkeit(sveränderungen), 55 Feststellen (von Änderungen) der Muskel­ kraft, 55 Feststellen von sensiblen Veränderungen (Schmerzpalpation, Hyperalgesie, Provo­ kationstest), 55 Feststellen von Feuchtigkeit.

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>> Ziel der klinischen Untersuchung ist die Fahndung nach krankhaften, d. h. pathologischen oder sog. positiven Befunden und deren Wertung, Reihung und Verarbeitung, um sie mit den Wissensinhalten aus der Ausbildung und der Erfahrung zu vergleichen.

Umfang der klinischen Untersuchung 55 Sammeln von krankhaften (pathologisch positiven) Befunden aus ȤȤ Anamnese ȤȤ Inspektion ȤȤ Strukturpalpation ȤȤ Schmerzpalpation

ȤȤ Provokationstests ȤȤ Funktionsuntersuchung ȤȤ Technischer Befunderhebung ȤȤ Probebehandlung ȤȤ Kontrolle 55 Verarbeitung der Befunde und Vergleich mit den Wissensinhalten aus der Ausbildung und der Erfahrung

Auf die Prinzipien und die Zielrichtung dieser wichtigsten Bestandteile der klinischen Dia­ gnostik wird im Folgenden hingewiesen.

Anamnese (Hören) Durch die Anamnese, d. h. durch die Mitteilung des Krankheitsortes (Schmerztopik), der Krank­ heitsentstehung, des Krankheitsverlaufs und der derzeitigen Beschwerden, können bereits kriti­ sche Details gewonnen werden, die den Gedan­ kenduktus in gewisse Richtungen weist. Störun­ gen des Stütz- und Bewegungsapparats äußern sich vorwiegend als Schmerzen, deren Topik als kritisches Detail gewertet werden kann.

Inspektion (Schauen) >> Inspektion bedeutet: schauen – sehen – vergleichen und (Anormales) erkennen.

Neben dieser Übersichtgewinnung über die Gesamterscheinung des Patienten ist die In­ spektion ferner als integraler Anteil aller weite­ ren körperlichen Untersuchungen anzusehen (Beurteilung des Bewegungsausmaßes einzel­ ner Regionen etc.): 55 Allgemeinzustand, Ernährungszustand, 55 Geschlecht (geschlechtsspezifische Wirbel­ säulenerkrankungen), 55 Alter (altersspezifische Erkrankungen), 55 angeborene – erworbene Defekte, 55 Reaktionstyp (pyknisch, asthenisch), 55 Haltung (Haltungsprovisorium, antalgi­ sche Fehlhaltung, Posturalhaltung), 55 Bewegung, z. B. Gang, 55 weitere kritische Details aus dem allgemei­ nen Erscheinungsbild (Gesichtsausdruck, Stimme, Wortwahl, Händedruck).

331 Behandlung des Bewegungsapparats

Die Inspektion liefert des Weiteren eine Fülle von Informationen über mögliche Funktions­ störungen durch die Beurteilung der Haltung, der Bewegung, des Gesichts(ausdrucks), der Haut, des Lokalstatus etc.

Palpation (Tasten) Strukturpalpation (Greifen) Die Strukturpalpation informiert über den Funktionszustand von Haut, Muskeln, Gelen­ ken, aber auch über Strukturveränderungen (Tumore, Atrophie etc.). >> Palpation heißt: berühren – tasten – fühlen – drücken – vergleichen – fragen und v. a. „begreifen“.

Die Palpation ist ein wichtiges Standbein der Chirodiagnostik, nicht zuletzt deshalb, weil mittels Palpation festgestellte Weichteilverän­ derungen apparativ kaum erfassbar sind. Prin­ zipiell wird unterschieden zwischen 55 Strukturpalpation und 55 Schmerzpalpation. Die Strukturpalpation geht häufig in die Schmerzpalpation über. Die Voraussetzungen für verwertbare Pal­ pationsergebnisse sind mehrschichtig. Die Basis der Beurteilbarkeit für das, was palpiert wird, ist das anatomische Wissen. Weiterhin ergibt erst die Kenntnis des Normalen im Hin­ blick auf Konsistenz, Resistenz und Spannung die Möglichkeit, den Tastbefund zu werten. Während anatomisches Wissen erlernbar ist, muss das Tastgefühl trainiert werden. Zur technischen Ausführung der Palpation gibt es Richtlinien, die Beachtung finden sollten. Die korrekte Palpation orientiert sich zu­ erst in den oberflächlichen Schichten (Turgor und Verschieblichkeit von Haut und Subku­ tis), dringt dann vorsichtig tiefer ein, um den Tonus-Zustand der Muskulatur zu erkunden (brüskes Vorgehen führt zur artifiziellen re­ flektorischen Verspannung), und beurteilt erst abschließend Gelenke, Ligamente, Periost und Insertionen.

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Durch die verbreitete Technologiegläu­ bigkeit gelangen Palpationsbefunde nur allzu leicht in den Ruf der Unzuverlässigkeit, Sub­ jektivität und fehlenden Reproduzierbarkeit – sehr zu Unrecht, wie viele Beispiele aus der Medizingeschichte lehren, wobei sich auch ergibt, dass ein nicht unbeträchtlicher Anteil medizinischen Wissens auf Erfahrung beruht. Fasst man das, was mittels Palpation dia­ gnostisch erkennbar wird, zusammen, so ergibt sich Folgendes: 55 Im Bereich von Haut und Subkutis lassen sich Aussagen über Turgor, Konsistenz sowie Verschieblichkeit und Schmerzemp­ findlichkeit machen. 55 In weiterer Folge lassen sich daraus unter Einbeziehung der Segmentalreflektorik (Dermatom) Erkenntnisse über die seg­ mentale Höhe bzw. Organzugehörigkeit der primären Störung gewinnen. 55 Die Palpation der Muskulatur vermittelt v. a. Einblicke in die Tonussituation, lässt Verspannungen ganzer Muskeln oder isolierter Myotenone sowie aktive und latente Triggerpunkte erkennen und ergibt dadurch wertvolle Informationen für die Beurteilung pseudoradikulärer Syndrome. 55 Die tiefen Strukturen der Gelenke, Liga­ mente, des Periosts und der diversen Insertionen interessieren vorrangig bezüg­ lich ihrer Druckempfindlichkeit im Sinne der Schmerzpalpation.

Schmerzpalpation (Drücken) Druckschmerzhaftigkeit, ein Ausdruck der Störung spezieller Strukturen, bietet wichtige Hinweise über Ort und Art der Erkrankung (Strukturanalyse) und die Akuität, Chronizi­ tät bzw. die vordergründigen Beschwerdeursa­ chen (Aktualitätsdiagnose). Die Auslösung von Schmerzen durch di­ gitale Kompression von Körperstrukturen ist eine der wichtigsten klinischen Untersu­ chungstechniken der Medizin. Große Druck­ intensität lässt immer Schmerzen entstehen, es sollte deshalb der untersuchende Fingerdruck mit etwa 4–5 kp (40–49 N) erfolgen.

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Merkmale der Schmerzpalpation

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55 Sie erfolgt in Gebieten ȤȤ ohne Spontanschmerzen und ȤȤ mit Spontanschmerzen 55 Die Druckschmerzhaftigkeit in Gebieten ohne Spontanschmerzen bietet verschiedene Informationen wie ȤȤ eine reduzierte Schmerzschwelle ȤȤ eine primäre oder sekundäre Hyperalgesie ȤȤ prämorbides Terrain ȤȤ ein beginnendes Verkettungssyndrom etc. 55 Die Druckschmerzhaftigkeit in spontanschmerzhaften Bereichen kann aufgrund der Auslösung und Verstärkung der vorhandenen Schmerzsymptomatik als kritisches Detail für die Beschwerdeverursachung der palpierten Struktur gewertet werden 55 Gewisse Druckpunkte gelten in Kombination mit anderen als kritisches Detail wie ȤȤ der segmentale Irritationspunkt (Schule Dr. Sell) als Hinweis für eine segmentale Funktionsstörung oder ȤȤ der interskapulovertebrale Druckschmerz im oberen dorsalen Thoraxbereich als Teilsymptom einer radikulären Läsion im Bereich der Halswirbelsäule. 55 Die Schmerzpalpation ist auch in anderen medizinischen Bereichen eine häufig verwendete klinische Untersuchungsform.

„Maximalpunkte“ 55 Erkennbar auch in spontan schmerzfreien Zonen, können eine Schmerzsymptomatik auslösen 55 Verstärken in den schmerzhaften Regionen die Beschwerden und

liefern Informationen über die gestörte Struktur 55 Spezielle Orte der Druckschmerzhaftigkeit und wichtige Indikatoren für Erkrankungen 55 Interskapulokostaler Schmerzpunkt bei extraradikulären Raumforderungen im Halswirbelsäulenbereich 55 Segmentaler Irritationspunkt bei segmentalen Funktionsstörungen, aber auch der McBurney-Punkt bei der Appendikopathie

Die Kenntnis des Normalzustands muss in jedem Einzelfall um die individuelle Druck­ schmerzgrenze ergänzt werden. >> Das Gesunde verträgt viel Druck. Das Kranke verträgt oft kaum Berührung.

Um die Grenze zwischen Druck- und Schmerzempfindung festlegen zu können, benötigt der Untersucher den verbalen Kontakt mit dem Patienten, wenn möglich, unter vergleichen­ der Palpation an anatomisch gleichartigen Stellen. >> Generell soll Bewegliches mit ruhendem Finger, und Ruhendes mit bewegtem Finger exploriert werden.

Nicht zuletzt sei noch darauf verwiesen, dass die Palpation nach einer gut geführten Ana­ mneseerhebung über den erstmaligen direk­ ten Hautkontakt, darüber mitentscheidet, wie sich das zu erwartende Vertrauensverhältnis des Patienten zu seinem Arzt entwickeln wird. Brüske, grobe Palpationen können Vieles zer­ stören. Feinfühliges und erkennbares Vorge­ hen hingegen vermitteln dem Untersuchten das Gefühl bzw. die Gewissheit, dass ihn sein Untersucher nicht nur betastet, sondern auch „begreift“.

Provokationstests (Auslösen) Durch gewisse Haltungen und Bewegungen werden Funktionsstörungen bzw. deren Symp­ tome provoziert.

333 Behandlung des Bewegungsapparats

Durch die Provokationstests werden Schmerzen, akustische Phänomene, Schwin­ del, Parästhesien etc. ausgelöst, um weitere In­ formationen über Art und Ort der vorliegen­ den Störung zu erhalten, z.  B.  Lasègue-Test, Meniskustests, Kernig-Zeichen. Durch Provokationstests hervorgerufene Phänomene 55 55 55 55 55 55

Schmerzen Schmerzerleichterung Geräusche (Schnappen, Krepitation) Schwindel, Unsicherheit Muskelaktivierung Parästhesien

Eine Fülle von Untersuchungen besteht aus passiv erfolgenden Bewegungen bzw. Manö­ vern, durch die Schmerzen oder andere Phä­ nomene ausgelöst werden (gestreckter Beinhe­ betest, Bragard-Zeichen, Kernig-Zeichen). Die Anspannung von Muskeln gegen Widerstand und damit die Provokation ihrer schmerzhaf­ ten Insertionen (M. extensor carpi radialis bre­ vis, Rotatorenmanschette etc.) sind kritische Details zur Strukturanalyse. Das Menell-Manöver gilt als Provoka­ tion eines schmerzhaften Kreuzbein-Darm­ bein-Gelenks. Viele Meniskusuntersuchungstechniken sind Schmerzprovokationstests. Das Ortolani-Zeichen als Schnappphäno­ men gilt als Hinweis für eine Hüftsubluxation bzw. Luxation. Die Elevation des Arms, die Dorsalflexion der Hände und die Kompression des N. media­ nus medial vom M. palmaris longus provozie­ ren die Karpaltunnelsymptomatik.

Funktionstests (Fühlen) Die Funktionstests nutzen die bisher angespro­ chenen klinischen Untersuchungstechniken. Geprüft werden Funktionen, die bei Störungen des Stütz- und Bewegungsapparats verändert sind. Im Wesentlichen sind dies die Folgenden:

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Veränderte Funktionen bei Störungen des Stütz- und Bewegungsapparats 55 Haut (Sensibilität, Schmerzempfinden) 55 Muskulatur (vermehrte Ruhespannung, Muskelverkürzung, Kraftminderung, gestörte Muskelaktivierung, Analyse von muskulären Dysbalancen, d. h. Haltungs- und Bewegungsstörungen, und damit von gestörten neuronalen Steuerungsvorgängen – neuromuskuloskelettale Medizin) 55 Gelenke (die Beweglichkeitsuntersuchung der Gelenke erfolgt v. a. durch das International-Standards-of-Measurements- bzw. STFR-System – Neutral-Null-Methoden, Tests nach Schober und Ott und Beurteilung der sog. Alltagsbeweglichkeit wie Nacken-Kreuzgriff etc.)

Die manuelle Medizin hat als wesentliche Bereicherung für die Medizin Erkenntnisse zu den Gelenkfunktionen erarbeitet, welche die anatomischen Bewegungsebenen erwei­ tern. Das Gelenkspiel (Möglichkeit der Trak­ tion, des Gleitens und des Endgefühls) weist auf die Störungen der Gelenkfunktionen im Sinne der Plusvariante (Hypermobilität, In­ stabilität) oder der Minusvariante (Beweg­ lichkeitseinschränkung, Blockierung). Seg­ mentale Funktionsstörungen der Wirbelsäule, also Störungen im Bewegungssegment, gelten als häufige Ursachen von Wirbelsäulenbe­ schwerden. Funktionsuntersuchungen wie auch an­ dere Untersuchungstechniken ermöglichen nicht nur die diagnostische Einordnung der Erkrankung, sondern auch die Erkennung der pathogenetischen Führungsstruktur und damit die entsprechende Indikationsstellung zur Funktionsbehandlung (Aktualitätsdia­ gnose)

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Funktionstests der Haut Untersucht wird die Haut auf 55 Temperatur, 55 Feuchtigkeit, 55 Turgor, 55 Sensibilität.

Funktionsstörungen der Muskulatur Mögliche Befunde an den Muskeln

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55 Vermehrte Ruhespannung (Muskelverspannung, Hypertonus, Hartspann) ȤȤ Lokalisiert – umschrieben ȤȤ Triggerpunkt (myofaszialer Punkt) ȤȤ Muskulärer Maximalpunkt ȤȤ Segmentaler Irritationspunkt ȤȤ Myose ȤȤ Spannung eines ganzen Muskels oder einer Muskelgruppe ȤȤ Generalisierte Muskelverspannung 55 Muskelverkürzung ȤȤ Reflektorische Verkürzung ȤȤ Reversible strukturelle Verkürzung ȤȤ Irreversible strukturelle Verkürzung = Kontraktur 55 Verminderte Ruhespannung (Hypotonus) ȤȤ Reflektorischer Hypotonus (Hemmung) ȤȤ Periphere Parese 55 Gestörte Muskelaktivierung ȤȤ Gestörter Stereotyp (Bewegungsmuster) ȤȤ Parese 55 Kraftminderung ȤȤ Reflektorisch (Hemmung) ȤȤ Dehnungsbedingt ȤȤ Strukturell neurogen ȤȤ Strukturell myogen ȤȤ Gestörter Stereotyp

Die Ergebnisse der Muskelfunktionsuntersu­ chung ermöglichen nicht nur die Analyse von muskulogenen Beschwerden (pseudoradiku­

läre Symptome, Insertionstendopathien etc.), sondern auch von muskulären Dysbalancen, d. h. Haltungs- und Bewegungsstörungen, und auch von neurologischen Erkrankungen.

Funktionstests der Gelenke Untersucht werden die Gelenke auf ihre Be­ weglichkeit, d.  h. auf ihre (schmerzhafte) Be­ weglichkeitssteigerung bzw. (schmerzhafte) Be­ weglichkeitsverminderung. Neben der Prüfung der Gelenke hinsichtlich der Alltagsbewegun­ gen (z. B. Nacken-Kreuzgriff) oder der anato­ mischen Bewegungsrichtungen (Flexion, Ex­ tension, Abduktion, Adduktion, Rotation, evtl. gemessen nach dem Neutral-Null-System, dem STFR-System) hat die manuelle Medizin eine wesentliche Erweiterung des diagnostischen Rüstzeugs am Bewegungsapparat eingebracht. Die vorwiegend passiv zu prüfenden Be­ wegungsfunktionen (das Gelenkspiel  – joint play) sind die Voraussetzung für die normale Gelenkbewegung. Sie werden unter Fixation des einen Gelenkpartners durch den anderen Gelenkpartner getestet. Es handelt sich dabei um die Möglichkeiten 55 der Traktion, 55 des translatorischen Gleitens, 55 der Endbeweglichkeit. Diese Funktionen bzw. ihre Störungen können besonders deutlich an den peripheren Gelen­ ken nachgewiesen werden. An der Wirbelsäule ermöglichen die Techniken der manuellen Di­ agnostik die Beurteilung speziell der segmen­ talen Funktion, deren Störungen (segmentale Dysfunktionen) im Sinne der reversiblen Be­ weglichkeitseinschränkung (Blockierung) bzw. der Beweglichkeitsvermehrung (Hypermobili­ tät bzw. Instabilität) die häufigen vertebrage­ nen Beschwerdeursachen darstellen. Die Erkenntnisse aus den Funktionsunter­ suchungen ermöglichen nicht nur die noso­ logische Einordnung der Patienten, sondern auch die Indikationsstellung für entsprechende (Funktions-)Behandlungen, entweder im Sinne der Beweglichkeitsverbesserung oder der Sta­ bilisierung der (schmerzhaften) Störungen.

335 Behandlung des Bewegungsapparats

Die diagnostische Einordnung erfolgt so­ mit vorwiegend durch die Auffälligkeiten aus der Anamnese, aber auch aus der Kombina­ tion typischer Fehlfunktionen, die durch In­ spektion, Palpation, Provokationstests und die Funktionsuntersuchungen erhoben werden konnten (es werden also, wie üblich, mehrere Parameter zur Conclusio eingesetzt). Während Anamnese und Palpation im Rah­ men der Chirodiagnostik gegenüber dem Stan­ dardvorgehen nur in gewissen Punkten eine Ergänzung erfahren müssen und ansonsten die allgemein bekannte Vorgehensweise beibehal­ ten werden kann, betritt man mit dem wichtigs­ ten Abschnitt der Beweglichkeitsprüfung, der Testung der segmentalen Motilitätsverhältnisse, ungewohntes diagnostisches Neuland und er­ gänzt damit das weiterhin ausgeführte orthopä­ disch-klinische diagnostische Vorgehen. Demzufolge gliedert sich die Untersuchung der Beweglichkeit mehrstufig auf: Stufen der Beweglichkeitsuntersuchung 55 Prüfung der allgemeinen Motilitätsverhältnisse 55 Prüfung der regionalen Beweglichkeit 55 Testung des segmentalen Bewegungsverhaltens

Die Gesichtspunkte, unter denen die allge­ meine Motilität zu betrachten ist, wurden im Wesentlichen bereits erwähnt (s. oben, 7 Inspektion). Der wichtigste Eindruck, der dabei gewonnen werden kann, ist die Feststellung, ob das Bewegungsverhalten des Patienten der altersgemäßen Norm entspricht oder da­ von abweichend eine hypomobile, respektive hypermobile Beweglichkeitsbasis gegeben ist. Diese Aspekte haben auch bei der weiter­ führenden Prüfung der regionalen Beweglich­ keit Gültigkeit. Ergänzend dazu können hier durch die Unterteilung der Untersuchung in die Prüfung der aktiven Beweglichkeit, der pas­  

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siven Beweglichkeit und der Widerstandstes­ tung weitere Erkenntnisse gewonnen werden. kPrüfung der aktiven Beweglichkeit

Der Patient wird aufgefordert, das entspre­ chende Gelenk oder die zu testende Wirbel­ säulenregion im vollen Ausmaß um alle Ach­ sen zu bewegen, die dem Gelenk bzw. der Region eigen sind. Für die regionale Wirbel­ säulenuntersuchung müssen daher stets vier Bewegungsarten überprüft werden: 1. Anteflexion (Vorbeugung), 2. Retroflexion (Rückbeugung), 3. Lateroflexion (Seitbeugung), 4. Rotation (Drehung). kPrüfung der passiven Beweglichkeit

Die o. g. Forderung besteht gleichfalls für die passive Beweglichkeitsprüfung. Im Unter­ schied zum vorerwähnten Untersuchungs­ gang erfolgt hier die Testung durch eine vom Untersucher vorgenommene passiv geführte Bewegung. Beurteilt werden sowohl das Aus­ maß (Winkelgrade) des Bewegungsumfangs als auch bei Lateroflexion und Rotation der entsprechende Seitenvergleich und selbstver­ ständlich ein eventuelles Schmerzauftreten. Bei der passiven Beweglichkeitsprüfung muss auch auf das Endgefühl geachtet und festgehal­ ten werden, ob der Bewegungsabschluss weich federt oder abrupt stoppt. kWiderstandstestung

Bei der angeschlossenen Widerstandstestung muss der Patient versuchen, alle bereits aktiv und passiv überprüften Bewegungen noch­ mals gegen einen vom Untersucher geleisteten Widerstand isometrisch (also ohne Gelenk­ bewegung) auszuführen. Die Widerstandstes­ tung der Muskulatur gibt über eine eventuelle Schmerzprovokation zusätzliche Hinweise auf eine muskulogene Beweglichkeitseinschrän­ kung und muss dann noch durch entspre­ chende Überprüfungen auf begleitende Ver­ kürzungen der Muskulatur ergänzt werden.

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Technische Befunderhebung Hier sei auf die Wissensinhalte der konventio­ nellen Medizin wie auch auf die Publikationen über die pathologische Anatomie verwiesen.

Probebehandlung Bei Funktionsstörungen kann die sog. Pro­ bebehandlung, d.  h. die Therapie der patho­ genetischen Führungsstruktur, z.  B. in Form der manuellen Traktion oder der lokalen An­ wendung von Lokalanästhetika (probatorische Therapie) zu Änderungen des Beschwerdebil­ des führen und damit einen weiteren diagnos­ tischen Hinweis liefern.

Kontrolle Die Kontrolle des Krankheitsverlaufs liefert weiterhin kritische Details zur Diagnosefin­ dung. Therapieresistenz oder Änderungen der Symptomatik veranlassen dazu, bereits erho­ bene Diagnosen zu revidieren und weitere Be­ funde zu erheben. Wie in anderen Sparten der Medizin, ist die erfolgreiche Durchführung einer klinisch-ma­ nuellen Untersuchung auch von der Geschick­ lichkeit, den technischen Fähigkeiten, dem Fleiß, der Intuition und der Erfahrung des Untersuchers abhängig – Eigenschaften, die an das Wort „Heilkunst“ erinnern lassen. >> Die klinisch-manuelle Untersuchung ist somit eine Notwendigkeit in der Diagnostik des Bewegungsapparats und eine Voraussetzung zur Erarbeitung der Behandlungsstrategie.

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Zusammenfassung: manuelle Diagnose 55 Aussagen, die sich aus dem bisherigen Untersuchungsabschnitt ergeben: 55 Die aktive Beweglichkeitsprüfung erfasst alle Strukturen des Arthrons bzw. Vertebrons, unter Einschluss des Nervensystems und der Psyche. 55 Bei der passiven Prüfung der Bewegung werden Motorik und Psyche weitgehend ausgeschaltet. 55 Die Widerstandstestung beurteilt den Muskel-Sehnen-Apparat auf Kraft- und

Schmerzauslösung, unter Ausschluss der Gelenkbewegung. 55 Daraus lässt sich Folgendes ableiten: 55 Sind aktive und passive Bewegungen ohne Schmerzen und Einschränkungen normal ausführbar, ist eine Störung dieser Region meist unwahrscheinlich. 55 Hypo- oder Hypermobilitäten bzw. Schmerzauslösungen erfordern weitere Überprüfungen im Sinne der Testungen des Endgefühls der Bewegung, des translatorischen Gleitens und der traktorischen Mobilität – all dies erfolgt dann im Rahmen der segmentalen Bewegungsuntersuchung. 55 Weitere Rückschlüsse ergeben sich aus übereinstimmenden oder divergierenden Ergebnissen der Teiluntersuchungen: 55 Ist die schmerzhafte Bewegungseinschränkung bei aktiver und passiver Überprüfung zur gleichen Bewegungsrichtung orientiert, kann eine arthrogene Ursache angenommen werden. 55 Entsprechende Divergenzen zwischen aktiver und passiver Testung weisen auf eine myogene Störung hin. 55 Die Widerstandstestung ergibt im Normalfall das Bild einer kraftvollen und schmerzfreien Aktion. 55 Pathologische Ergebnisse lassen graduelle Rückschlüsse zu: 55 Treten erst bei großer Kraftanwendung Schmerzen auf, so besteht eine meist nur mäßige myogene Läsion. 55 Schmerzauslösung bei geringem Kraftaufwand weist auf eine deutliche muskuläre Krankheitskomponente hin. 55 Eine neurologische Läsion ist dann anzunehmen, wenn die Testung eine Kraftabschwächung (bei gleichzeitiger Schmerzlosigkeit) erkennen lässt. 55 Synopse Beweglichkeitsprüfung – Muskeltests: 55 Über die Widerstandstestung hinaus, die im Zuge der regionären Beweg-

337 Behandlung des Bewegungsapparats

lichkeitsprüfung abgewickelt wird, ist es meist noch erforderlich, die funktionelle Ausgangssituation der Muskulatur genauer zu explorieren. Zu achten ist hier besonders auf: 55 verspannte Muskeln, 55 verkürzte Muskeln, 55 schmerzhaft verkürzte Muskeln, 55 abgeschwächte Muskeln, 55 schmerzhaft abgeschwächte Muskeln, 55 verbundene Störungen der Balance antagonistischer Muskeln. 55 Ergänzend dazu ist anzuführen, dass bezüglich muskulärer Abschwächung eine Einteilung in 6  Stufen gebräuchlich ist (­ Oxford-System). Für chirodiagnostische Belange sind praktisch nur Abschwächungen bis maximal zur Stufe 3 von Interesse. Stärkere Kraftminderungen gehören fast ausschließlich zum neurologischen Fachgebiet. 55 Um die diagnostische Wertigkeit der Muskeltests ins rechte Licht zu rücken, sei noch bemerkt, dass das Diagnostizieren muskulärer Fehlfunktionen beim Beschwerdebild einen wesentlichen Baustein des Untersuchungsgangs für die Sekundärprävention darstellt, da gerade von solchen Störungen bei therapeutischer Nichtbeachtung die größten Rezidiv-­Impulse ausgehen.

16.3.6  Manuelle Therapie

(Chirotherapie)

Der Einsatz der Hand zu therapeutischen Zwecken, das „Behandeln“, ist seit jeher ein wichtiges Element zur Beeinflussung von Krankheit und Schmerz. Die Strukturen des Bewegungsapparats sind in ihrem Funktions­ verhalten an Zug- und Druckreize gebunden. Die manuelle Therapie vermittelt demzufolge als mechanisch orientierte Behandlungsart mit ihren Zug- und Druckgriffen dem Organismus bekannte Reize, wobei durch die Anwendung unterschiedlich intensiv wirkender Techniken darüber hinaus eine feinfühlige, an die jewei­

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lige Krankheitssituation anpassbare Dosierung zur Anwendung kommen kann. So vermag die Hand des Therapeuten in Abhängigkeit von Ort, Intensität und Dauer der Kontaktnahme am Körper des Patienten die verschiedensten Effekte zu erzeugen. >> Im Prinzip folgt die manuelle Therapie, wie viele andere Therapieformen der Medizin auch, dem Gesetz von Reiz, Reizperzeption und Reizbeantwortung.

Die klinisch-manuelle Untersuchung des Pa­ tienten ist dabei unbedingte Voraussetzung für die Auswahl der anzuwendenden Behand­ lungstechniken. Ein wichtiges Kriterium bei der Strukturanalyse (Feststellung von Art und Ort der vorliegenden Störung) ist es, festzustel­ len, ob das bestehende Krankheitsbild auf eine Strukturstörung oder eine Strukturzerstörung zurückzuführen ist. Pathomorphologische Veränderungen (als Ausdruck der Struktur­ zerstörung) zu erkennen oder auszuschließen, unterstreicht einmal mehr die Notwendigkeit des routinemäßigen Einsatzes von Hilfsbe­ funden durch bildgebende Verfahren und von labordiagnostischer Exploration. Die betref­ fenden Erkrankungen durch schwere patho­ morphologische Veränderungen, wie sie v.  a. in Kliniken anzutreffen sind, müssen nach den klassischen Regeln der konventionellen Medi­ zin versorgt werden. Sogenannte „weiche Techniken“ der manu­ ellen Medizin können dabei aber nur im Be­ darfsfall als Remedium adjuvans zusätzlich zum Einsatz kommen. Die Mehrzahl der Patienten, die in den Ambulanzen oder in den Praxen der niedergelassenen Ärzte wegen Beschwerden des Bewegungsapparats vorstellig wird, hat aller­ dings als Ursache der Beschwerden Funktions­ störungen aufzuweisen, deren nosologische Einordnung eine Aufgabe für die klinische Dia­ gnostik darstellt (7 Abschn. 16.3.3). Eine Haupt­ regel bei der Behandlung dieser Störungen des Bewegungsapparats verlangt den prinzipiellen Einsatz der Therapie an der pathogenetisch füh­ renden Struktur bzw. auch Mehrfacheinsätze bei mehreren betroffenen Strukturen im Sinne der Aktualitätsdiagnose, früher als Polyprag­  

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R. Crevenna et al.

masie bezeichnet. Wissenschaftlich aufgewer­ tet, spricht man von der mehrdimensionalen Schmerztherapie.

Akute Schmerzbilder Krankheiten mit hoher Aktivität nozizep­ tiver Mechanismen bedürfen des Schmerz­ reizabbaus (Ruhigstellung, Medikamente, Kälte, therapeutische Lokalanästhesie). Die manuelle Therapie kann durch die „Traktion“ einen Beitrag liefern. Eine ähnliche Zielsetzung verfolgt die sog. Neutralpunkttechnik, durch welche ein Gelenk für längere Zeit (90 Sekunden) in der Position mit dem Minimum an Schmerzphänomenen manuell fixiert wird. Auch Strain-Counterstrain-Techniken su­ chen Positionen, bei welchen muskuläre Maxi­ malpunkte schwinden.

Chronische Beschwerden Sie verlangen nach dem auch außerhalb der manuellen Medizin geltenden Prinzip der therapeutischen Reizsetzungen, die von den Rezeptoren verschiedenster Körperstrukturen perzipiert werden und von denen die Schmerz­ verarbeitung beeinflusst wird. Techniken der manuellen Therapie werden in Abhängigkeit davon eingesetzt, ob als patho­ genetische Leitstruktur die Haut, die Muskula­ tur oder die Gelenke verantwortlich gemacht werden, die durch gemeinsames Wirken das Syndrom aufbauen und der mehrdimensiona­ len Therapie bedürfen.

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Techniken der manuellen Therapie bei chronischen Beschwerden 55 Weichteiltechniken 55 Mobilisationstechniken 55 Neuromuskuläre Techniken (die neuromuskuläre Technik 1 und 3 entsprechen der direkten und indirekten Muskelenergie-Technik) ȤȤ neuromuskuläre Technik 1: direkte Muskelkraft der Antagonisten

ȤȤ neuromuskuläre Technik 2: postisometrische Relaxation der Antagonisten ȤȤ neuromuskuläre Technik 3: reziproke Hemmung der Antagonisten 55 Osteopathische Techniken ȤȤ Neutralpunkttechnik ȤȤ Kraniosakrale Technik ȤȤ Strain und Counterstrain ȤȤ Viszerale Technik ȤȤ Myofasziale Technik ȤȤ Unterstützende Techniken: Blickwendetechnik, Atemtechnik 55 Manipulation (mit Impuls)

Manuelle Therapie – eine Reflextherapie Reflextherapeutische Verfahren haben ange­ sichts der neurophysiologischen Erkenntnisse der letzten Jahre neue Betrachtungs- und De­ finitionsweisen erfahren. Zu nennen sind v. a. die Chirotherapie, die Osteopathie, aber auch verschiedene andere Formen der therapeu­ tischen Reizsetzung über die Rezeptoren der Haut, der Muskulatur und der Gelenke, zu welchen auch die Krankengymnastik gehört. Die Schmerzwahrnehmung unterliegt ver­ schiedenen, besonders auch hemmenden Be­ dingungen. Es ist bekannt, dass das periaquäduktale Grau und die Raphekerne die Ursprungsre­ gionen der absteigenden schmerzinhibitori­ schen Bahnen sind, die mit serotonergen und noradrenergen Interneuronen auf das thala­ mische Projektionsneuron (white-dynamic range neuron) schalten und hier die Aktivität dämpfen, d. h. eine Schmerzfortleitung unter­ drücken. So stimulieren Aδ-Afferenzen, die v.  a. aus der Haut und auch aus Gelenken, Muskeln und Sehnen stammen, die opioider­ gen oder enkephalinergen Interneurone. Diese entstammen Berührungsrezeptoren der Haut, Spannungs- und Bewegungsrezeptoren in Seh­ nen und Muskeln sowie einer großen Zahl von

339 Behandlung des Bewegungsapparats

Stellungsrezeptoren der Wirbelgelenke. Die genannten Afferenzen kommen im gesamten Organismus vor, z.  B. in der Subokzipitalre­ gion, in den Gelenkkapseln der Wirbelsäule und auch im Bindegewebe der Haut und in den peripheren Gelenken. >> Das inhibitorische Aβ-System wird v. a. durch Massagen, Bewegungstherapie, Mobilisationen sowie einen Großteil der chirotherapeutischen Techniken erreicht, und diese Behandlungen bedingen eine Schmerzabschwächung.

Die chirotherapeutische Manipulation (s.  un­ ten) führt zu einer massiven kurzdauernden Erregung der Aβ-Fasern mit einem Zusam­ menbruch der nozizeptiven Erregung. Die ge­ nannten neurophysiologischen Mechanismen stehen verständlicherweise im Gegensatz zu mechanistischen Erklärungen einer chirothe­ rapeutischen Behandlung im Sinne einer Re­ position eines subluxierten Wirbels.

Manuelle Therapie über die Haut (bei Hyperalgesie, Dysästhesie, ­Kibler-Falte) Techniken, die mit den Fingern oder der Hand ohne wesentlichen Ruck Rezeptoren der Haut (Mechanorezeptoren) reizen, wie z.  B. das Streichen der klassischen Massage, dazu gehört auch die Reflexzonenmassage.

Manuelle Therapie über die Muskulatur (bei schmerzhaften Verspannungen, Verkürzungen, Triggerpunkten, schmerzhaften Insertionen) Weichteiltechniken der manuellen Medizin Sie lehnen sich an die klassischen Massage­ techniken an. Durch langsame Quer- oder Längsdehnungen, durch tiefen Druck (Inhi­ bition) oder tiefes Reiben (Friktion) der Mus­ kelansätze wird der Normaltonus der Musku­ latur angestrebt, die Durchblutung und der Stoffwechsel sollen angeregt werden. Durch die Stimulation der Propriozeptoren und No­

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zizeptoren werden die spinalen Reflexbögen beeinflusst. Weichteiltechniken werden meist als Vorbehandlungen für weitere Techniken eingesetzt. Die sog. neuromuskulären Techniken Die sog. neuromuskulären Techniken werden von der Österreichischen Ärztegesellschaft für Manuelle Medizin und konservativen Ortho­ pädie folgendermaßen indiziert und angewen­ det: kPostisometrische Relaxation

Bei muskulären Verspannungen ermöglicht die aktive, etwa 10 Sekunden dauernde leichte An­ spannung des zu behandelnden Muskels seine kortikale Identifikation, um diesen anschlie­ ßend aktiv kortikal entspannen zu können. kMuskelenergietechnik

Bei einer eingeschränkten Bewegungsfunktion eines Gelenks soll der Patient 10  Sekunden lang in die Gegenrichtung der eingeschränk­ ten Funktion drücken, um die diese Funktion hemmenden Muskeln zu aktivieren und nach ihrer Aktivierung in der anschließenden Ent­ spannungsphase diese Muskeln zu dehnen, bis Widerstand und/oder Schmerz auftritt. Aus der neu erreichten Gelenkstellung heraus wird die Behandlung wiederholt. kAntagonistenhemmung

Durch die Anspannung der Muskeln in die Richtung der eingeschränkten Funktion kön­ nen die verkürzten und verspannten Antago­ nisten nach dem Gesetz der reziproken Inner­ vation reflektorisch gehemmt werden.

Manuelle Therapie über die Gelenke (bei reversiblen Beweglichkeitseinschränkungen) kChirotherapeutische Mobilisation

Die Mobilisationen beinhalten alle Techni­ ken, die bei einer schmerzhaften Bewegungs­ einschränkung unter Fixation des einen Gelenkpartners den anderen passiv in die eingeschränkte Bewegungsrichtung bewegen.

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R. Crevenna et al.

Am schonendsten ist die Behandlung in oder mit Traktion, doch auch für die anderen Mo­ bilisationstechniken gilt die Vermeidung von Schmerzen durch die Behandlung. Die wei­ chen, dehnenden und relativ langsam erfol­ genden Behandlungsbewegungen reizen Kap­ selrezeptoren mit langsam leitenden Fasern, die über die Stellung der Gelenke zueinander informieren. kChirotherapeutische Manipulation

Bei der Manipulation wird das vorliegende Bewegungsausmaß eines Gelenks mit einem nichttraumatisierenden Impuls überschritten. Nach der „Vorspannung“ (das Gelenk wird an das Ende der möglichen nichtschmerzen­ den Beweglichkeit gebracht) erfolgt der Ma­ nipulationsstoß: ein kurzer, schneller, aber in seiner Amplitude kleiner Ruck, der auch ein Knacks-Geräusch auslöst und einen Reiz auf die Kapselrezeptoren ausübt, die mit schnell leitenden Fasern über stattfindende Bewegun­ gen informieren. kIndikation zur Mobilisation und Manipulation

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Die (schmerzhafte) reversible Beweglichkeits­ einschränkung eines Wirbelsäulenbewegungs­ segments oder eines peripheren Gelenks. Die immer wieder als Kontraindikation angeführ­ ten Erkrankungen wie osteoporotische Ein­ brüche, Metastasen, schwerste degenerative Veränderungen, inflammatorische Prozesse etc. sind aus der Sicht der bisherigen Ausfüh­ rungen nicht nur Kontraindikationen zu mani­ pulativen Eingriffen, sondern überhaupt keine Indikation. 16.3.7  Fallbeispiel

Die konservative Orthopädie/manuelle Medi­ zin sieht bei diversen Beschwerdesyndromen zu erlernende Untersuchungsgänge vor. Wie bereits erwähnt, sind dies Untersuchungen von Funktionen, um entsprechende Fehlfunk­ tionen zu finden.

zz Patientin, 72 Jahre

Sie wird in einer Ambulanz vorstellig, wo sie angibt, beim Heben ihrer Tasche einen ein­ schießenden Schmerz im Kreuz verspürt zu haben, der sich nicht bessere. kDiagnostik

Wegen der angegebenen Schmerzoptik, näm­ lich die Bereiche der beiden Kreuzbein-Darm­ bein-Gelenke und des lumbosakralen Über­ gangs, wird ein Lendenwirbelsäulen- und Beckenröntgen angefertigt, das im Wesentli­ chen eine angedeutete Pseusolisthese L4/5 und einen M.  Baastrup erkennen lässt. Bereits bei der Untersuchung im Stehen fällt eine leichte Vorbeugehaltung der Wirbelsäule bei einer Hyperlordose L5/S1 auf. Das Rückneigen er­ weist sich als äußerst schmerzhaft, der Fin­ ger-Boden-Abstand beträgt 40  cm und weist auf eine Pathomorphologie hin. Beim Vor­ beugen ist deutlich ein Gibbus um Th11 zu erkennen. Eine Röntgenaufnahme der Brust­ wirbelsäule macht eine Impression im Wirbel­ körper Th11 sichtbar. In Bauchlage erweist sich die Gegend um den Dornfortsatz als äußerst druckschmerzhaft, aber auch der Interspinal­ raum von L5/S1, außerdem L4/5 und ferner die Gegend der Spina iliaca dorsalis cranialis sind bei der Schmerzpalpation auffällig. kDeutung der vorliegenden Problematik

Die Wirbelkörperveränderung fördert die Tendenz zur Vorbeugung, um diese zu kom­ pensieren, es wird hyperlordosiert, und die pathologischen Veränderungen in der unte­ ren Lendenwirbelsäule werden aktiviert. Die schmerzhaft verspannten Rückenstrecker wie der M. multificus und der M. longissimus ver­ ursachen die kaudale Beschwerdesymptomatik und müssen deshalb in die konservative Or­ thopädie mit einbezogen werden. 16.3.8  Zwischenfallbilanz

Nach Tilscher traten innerhalb von 15 Jahren bei 78.000 manuellen Behandlungen keine

341 Behandlung des Bewegungsapparats

ernsten Komplikationen auf. Eder überblickte einen Zeitraum von 35 Jahren Manualtherapie mit über 200.000 Behandlungen, die ohne ern­ ste Zwischenfälle verliefen (Tilscher und Eder 2008b, S. 86–88). >> Da ernstere Zwischenfälle praktisch nur in Verbindung mit Manipulationen im Halswirbelsäulenbereich vorkommen, empfiehlt sich diesbezüglich nicht nur besondere Vorsicht, sondern auch die Einhaltung bestimmter, bewährter Richtlinien.

Aus diesem Grund wurde vom wissenschaftli­ chen Beirat des 6. Internationalen Kongresses für Manuelle Medizin in Baden-Baden 1979 ein Memorandum ausgearbeitet. Seiner Be­ deutung wegen wird es nachfolgend auszugs­ weise wörtlich zitiert. 1. Todesfälle durch Handgrifftherapie sind nur an der Halswirbelsäule nachgewiesen. Sie betreffen in erster Linie die Läsion der A. vertebralis. Es kann zu Intima-Dissek­ tionen und zu Thrombosen kommen, die die Durchblutung der hinteren Schädel­ grube unterbrechen. Diese Schädigungs­ möglichkeit ist selten. Sie muss aber immer bedacht werden. 2. Schon anamnestische und klinische Daten können die Gefahr signalisieren: Synko­ pale Ohnmachten, Schwindelattacken und heftige Kopf- und Nackenschmerzen bei (extremen) Halswirbelsäulenbewegungen können auf Insuffizienzen im Arteria-ver­ tebralis-basilaris-Strombereich hinweisen. 3. Allgemeine klinische Tests zur Erkennung von möglichen Störungen im Vertebra­ lis-basilaris-Strombereich und zur Erken­ nung propriozeptiver Vertigo-­Ursachen. 55Hautandscher Versuch: Der Versuch ist positiv, wenn Retroflexion und Rotation des Kopfes bei geschlossenen Augen die gerade vorgestreckt gehaltenen Arme absinken oder zur Seite abweichen lassen, und weist auf eine propriozep­ tive Störung hin. Gleiches gilt für den Underberger-Tretversuch.

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55Underberger-Tretversuch: Bei dieser Prüfung tritt der Patient mit geschlosse­ nen Augen und vorgestreckten Armen auf der Stelle. Bei entsprechenden Stö­ rungen dreht sich der Proband langsam um seine Körperlängsachse. 55De Kleijnscher Hängeversuch: Dieser immer noch zur Diagnostik einer ver­ tebrobasilären Insuffizienz angeführte Test kann als obsolet betrachtet werden, worauf schon hingewiesen wurde (Til­ scher und Eder 2008b, S. 86–88). Wenn die Rotation bei starker Retroflexion der Halswirbelsäule Schwindel und/oder Benom­ menheit auslöst, besteht der Verdacht auf eine Durchblutungsstörung der A.  vertebralis der Rotationsseite. Die Autoren akzentuieren ihre Bedenken, weil es problematisch erscheint, die zerebrale Durchblutung so deutlich zu stören, dass Ausfallsymptome auftreten können. Erwähnt werden soll an dieser Stelle, dass auch sonographische Untersuchungen der A. vertebralis keine absolute diagnostische Klä­ rung erbringen können und dies einen Grund mehr ergibt, bei Manipulationen der Halswirbel­ säule strikt den angeführten Kriterien zu folgen. 1. Bei der manualmedizinischen Unter­ suchung findet sich bei einer Na­ cken-Kopf-Schmerz-Schwindel-Sympto­ matik, die von der A. vertebralis ausgeht, trotz ähnlicher Klinik meist nicht das gewohnte Bild einer „Blockierung“. Entwe­ der fehlen mechanisches Bewegungsdefizit und endständige Federungsempfindlich­ keit oder die motorisch-neurophysiologi­ schen Zeichen einer Nozireaktion. 2. Keine gezielte Manipulation ohne exakte Verriegelung bzw. „Tiefenkontakt“. 3. Der Manipulationsstoß darf nur erfolgen, wenn vorher am Ende der passiven Be­ weglichkeit der „Druckpunkt“ genommen wurde und der Patient dabei keinerlei Ver­ stärkung von Schmerzen und Symptomen zu erkennen gab. 4. Nur vom Durchreißen, dem Manipulieren ohne „Druckpunktnehmen“, gehen die

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z. T. tödlichen Gefahren der Handgriffthe­ rapie aus. 5. Die notwendige exakte Beherrschung der Handgrifftechniken ist nur durch länger dauernde Unterweisung in Kursen und/ oder in klinischer Weiterbildung erlernbar. 6. Aufzeichnungen über klinisches Bild und angewandte Handgrifftechnik sind bei Manipulationen an der Halswirbelsäule dringend zu empfehlen. 7. Nur wenn eine hinreichende Ausbildung, eine exakte Diagnostik und eine präzise Handgrifftechnik nachgewiesen werden kann, kann bei einem eventuellen Zwi­ schenfall die Unvorhersehbarkeit attestiert werden. Die Manipulationsbehandlung an sich darf also bezüglich der Zwischenfallrate als durch­ aus komplikationsarm betrachtet werden. So wie jedes therapeutische Vorgehen verlangt auch diese Methode ein exaktes Erlernen, Üben und Beachten der bekannten Kautelen. 16.3.9  Prinzipielles zur

Manipulation

Technische Ausführung

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Abschließend zu den allgemeinen Ausführun­ gen über Manipulationstechniken werden jene Kriterien angeführt, die in jedem Einzelfall einzuhalten sind. 55 Der Patient muss völlig entspannt sein. Dies kann zusätzlich durch die (Aus-) Atmung fazilitiert werden. 55 Der Behandlungsansatz erfolgt über die Einstellung des gestörten Bewegungs­ segments in optimaler Vorspannung am Ende des physiologischen Bewegungs­ raums, bei sorgfältiger Verriegelung der Nachbarsegmente. 55 Die Manipulationsrichtung muss der schmerzfreien Bewegungsrichtung des Ge­ lenks entsprechen. 55 Der Manipulationsimpuls selbst darf eben­ falls nicht schmerzen.

55 Misslungene Manipulationen sollen nicht unmittelbar mit gleicher Technik wieder­ holt werden. 55 Nach jeder Manipulation – nachtestieren!

Indikationen Grundsätzlich sind stets die Indikationen und Kontraindikationen für Manipulationen zu bedenken. Die Indikationsliste lässt sich auf einen Satz reduzieren: >> Die Indikation zur Manipulation ist dann gegeben, wenn Beschwerdebilder durch Blockierungen verursacht oder mitverursacht werden.

Kontraindikationen Der Terminus „Kontraindikation“ wird fälsch­ licherweise häufig mit dem Begriff „keine Indi­ kation“ gleichgesetzt. Das Fehlen von Blockie­ rungen ist keine Indikation zur Manipulation. Absolute Kontraindikationen für Manipulationen 55 Eine Kontraindikation ist dann gegeben, wenn Ȥ Ȥ sich gravierende pathomorphologische Veränderungen gemeinsam mit Blockierungen aufdecken lassen (degenerative, entzündliche, neoplastische, osteoporotische Veränderungen) ȤȤ blockierungsbedingte hochakute Schmerzsyndrome mit schmerzreflektorischer Vollverspannung ohne schmerzfreie Bewegungsrichtung bestehen ȤȤ Wurzelkompressionssyndrome mit dieser Symptomatik vorliegen 55 Gleichfalls als Kontraindikation anzusehen sind sog. „feuchte Blockierungen“ (etwa im Sinne der Synovitis), die im Zuge fieberhafter oder entzündlich-rheumatischer Zustände auftreten können

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Eine relative Kontraindikation stellen alle mit Hypermobilität bzw. Instabilität einhergehen­ den Schmerzsyndrome dar, die mit Blockierun­ gen kombiniert sind. Besonders zu bedenken sind diesbezüglich ligamentäre Reizzustände bei Beckenbänderschwäche und der Anteflexions­ kopfschmerz bzw. Zustände nach Schleuder­ trauma der Halswirbelsäule mit ligamentären Folgeschäden und Instabilitätssymptomatik.

rapieresistenz und Rezidiv-Neigung essenziell. Im Vordergrund steht dabei die nach individu­ ellen Befunderhebungen initiierte Heilgymnas­ tik, die nach Möglichkeit bis zum Lebensende durchgeführt werden sollte. Das Vermeiden von statischen, dynamischen und psychischen Fehlbelastungen ist eine weitere aktualitätsbe­ zogene durchzuführende Maßnahme.

Terminologie

16.3.11  Studien/Evidenzlage

Abschließend sei zur Manipulationsbehand­ lung noch angemerkt, dass in letzter Zeit in zunehmendem Maße der Terminus „Manipu­ lation“ durch die Wortkombination „Mobilisa­ tion mit Impuls“ ersetzt wird. Es liegt nun keinesfalls in der Absicht des Autors, unbegründete Änderungen der Termi­ nologie mitzumachen und den alteingeführten Begriff der Manipulation, der gleichbedeutend mit dem therapeutischen Eindringen in den paraphysiologischen Bewegungsraum ist, auf­ zugeben und ihn durch einen aus drei Wörtern zusammengesetzten Ausdruck zu ersetzen. In der Physik – und diese ist zweifelsohne für die Mechanik der Handgrifftherapie „zu­ ständig“ – wird unter Impuls eine „gerichtete Bewegungsgröße“ bzw. das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit verstanden. Dieser Defi­ nition zufolge ist jede bewegungsverbundene Handgrifftherapie eine Methode mit Impuls. Wollte man demnach die Manipulation richtiger definieren, könnte höchstens von einer „Mobilisation mit raschem Impuls“ ge­ sprochen werden  – eine Begriffserweiterung, die auch nicht besser klingen würde und die dem Autor, so glaubt er zumindest, recht gibt, in seinen Ausführungen den Terminus „Mani­ pulation“ beizubehalten. 16.3.10  Rehabilitation

Die manuelle Medizin sieht in der Schmerz­ reduktion noch nicht das Ende ihres Wirkens. Die Fahndung nach den verursachenden oder auslösenden Störfaktoren und deren Be­ einflussung sind insgesamt besonders bei The­

Bei unspezifischen Wirbelsäulenerkrankungen bestehen aufgrund ihrer polyfaktoriellen Ge­ nese und der dabei individuellen Beschwerde­ symptomatik Probleme mit der zahlenmäßi­ gen Untermauerung. Es ist daher kein Zufall, dass Habilitanden diesem Gebiet ausweichen, wobei es aber trotzdem eine Fülle von ein­ schlägigen Publikationen gibt, die insbeson­ dere bei Böhni et al. (2015) nachzulesen sind. Doch einmal mehr spielt sich das Leben im Subjektiven ab, besonders bei vertebrage­ nen Störungen, dem wichtigsten Symptom Schmerz, einer von Empathie geprägten Ver­ fassung der erkrankten Persönlichkeit, wobei viele kritische Details entstehen, die durch die wissenschaftliche Ausbildung nicht die Be­ wertung der einzelnen Komponenten ermög­ lichen. So sind Tastbefunde u.  a. vom Senso­ rium, von der subkortikalen und später der kortikalen Bewertung abhängig. Die sich ent­ wickelnden Phasen des Begegnungsereignisses zwischen Patient und Arzt entsprechen sehr häufig dem Bedürfnis des Erkrankten. Sehen, Erkennen, Reagieren, Agieren er­ folgt zwar auf wissenschaftlicher Basis, aber oft nicht wissenschaftlich genug. Doch das Bekenntnis zur Wissenschaft, welches ständig im Auge behalten werden muss, verringert die Möglichkeit zur Spekulation und das nichtini­ tiierte Handeln. 16.3.12  Ausbildung

Die Österreichische Ärztegesellschaft für Ma­ nuelle Medizin  – konservative Orthopädie

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(ÖÄGMM) basiert auf Wissensinhalten der Deutschen Gesellschaft für Manuelle Medizin sowie der Schweizerischen Ärztegesellschaft für Manuelle Medizin, sie hat aber in Verbin­ dung mit der konservativen Orthopädie eine, wie sich erweist, notwendige und anerkannte Schule gebildet.

zz Theorie

zz Zieldefinition der Ausbildung bei der ÖÄGMM

Je 2 Kursteilnehmer üben aneinander die Un­ tersuchungstechniken bzw. die Behandlungs­ methoden. Für Demonstration und Übungen sind 210 Std./UE vorgesehen. 55 Selbstständige Ausführung

55 Erlernen von manuell-klinischen Unter­ suchungstechniken zur diagnostischen Abklärung, aber auch zur Prävention von Störungen am Stütz- und Bewegungs­ apparat, und von manuellen Behand­ lungstechniken zu deren therapeutischer Beeinflussung vorwiegend bei reversiblen Funktionsstörungen. 55 Die dabei zu erwerbenden Kenntnisse und Fertigkeiten sind unter Punkt 5 „Lehrin­ halte“ nachzulesen. 55 Als Zielgruppen sind alle Ärzte gedacht. Der Absolvent des vorliegenden Programms kann seine Ausbildung für manuelle Medizin in Form eines Diploms von der Österreichi­ schen Ärztekammer und der ÖÄGMM bestä­ tigt bekommen. zz Zeitliche Gliederung

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Das Ausbildungsprogramm sieht vor: 55 einen 10-stündigen TI-Kurs (Theorie- und Informationskurs), 55 2 einwöchige (je 40 Std./UE) E-Kurse (Extremitäten), 55 4 einwöchige (je 40 Std./UE) W-Kurse (Wirbelsäule), 55 einen W5-Kurs (50 Std./UE), der einen Röntgenkurs als Abschluss- und Prüfungs­ kurs in manueller Medizin beinhaltet. Die Reihenfolge der einzelnen Kurse ist ein­ zuhalten, W-Kurse und E-Kurse können aber parallel absolviert werden. Es sind insgesamt 300 Ausbildungsstunden vorgesehen.

Im Rahmen der Seminare sind für die theoreti­ schen Vorträge 90 Std. /UE veranschlagt. zz Praxis

55 Demonstration 55 Übungen unter Supervision

Der Kursinhalt soll von den Ärzten in der Kli­ nik oder in der Praxis geübt werden. Lehrinhalte der ÖÄGMM

kTI-Kurs

55 Definition der manuellen Medizin (Chi­ rodiagnostik, Chirotherapie), ihre Ge­ schichte, ihre Bedeutung für die einzelnen Fachrichtungen der Medizin, ihre Bedeu­ tung für die physikalische Medizin und die Krankengymnastik, die funktionelle Anatomie, Biomechanik und neurophysio­ logische Grundlagen des Bewegungsappa­ rats und deren Diagnostik 55 Störbarkeit des Bewegungsapparats nach Funktionsstörungen und Funktionszerstö­ rungen mit typischen Krankheitsbildern 55 Unterscheidung von Indikationen, Kontra­ indikationen und „keine Indikation“ zur manuellen Therapie kE1-Kurs

55 Funktionelle Anatomie, spezielle Gelenk­ mechanik und biomechanische Besonder­ heiten der einzelnen Extremitätengelenke 55 Anamnese, Strukturanalyse und synopti­ sche Funktionsdiagnostik, Palpations- und Untersuchungstechniken an den Extremi­ tätengelenken 55 Einführung in die Behandlungstechnik, Indikationen und Kontraindikationen

345 Behandlung des Bewegungsapparats

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kE2-Kurs

kW3-Kurs

55 Pathomorphologien und biomechanische Veränderungen an den Extremitätenge­ lenken sowie deren Konsequenzen für die manuelle Therapie 55 Systematik der manuellen Gelenktechni­ ken an den Extremitätengelenken 55 Einführung in die zugehörigen Weichteilund Muskelbehandlungen 55 Klinische Bilder bei Störungen in der arth­ romuskulären Funktionseinheit und deren Behandlung

55 Einführung in die Technik der Manipula­ tion an der Wirbelsäule 55 Spezifische Mobilisationstechniken, Handgrifftechniken an der gesamten Wirbelsäule, besonders der Kreuz-Darm­ bein-Gelenke sowie im Bereich der Hals­ wirbelsäule und der „Kopfgelenke“ 55 Erstellen von Behandlungsplänen bei chronisch rezidivierenden Beschwerden in Kombination mit medikamentösen und anderen reflextherapeutischen Maßnah­ men sowie mit Therapiemöglichkeiten der physikalischen Medizin 55 Erhebung eines Muskelstatus

kW1-Kurs

55 Funktionelle Anatomie, Besonderheiten der Funktion der einzelnen Bewegungs­ segmente in Abhängigkeit von den Wir­ belsäulenabschnitten 55 Anamnestische Gegebenheiten bei häu­ figen Wirbelsäulenstörungen, typische Befunderhebungen bei der normalen und bei der gestörten Wirbelsäulenfunktion 55 Diagnostik an den Wirbelsäulenabschnit­ ten, den Bewegungssegmenten, der Mus­ kulatur und der Haut kW2-Kurs

55 Häufige Schmerzsyndrome des Be­ wegungsapparats, ihre anamnestischen Auffälligkeiten (kritischen Details), ihre charakteristischen Symptome und deren klinische Prüfbarkeit 55 Indikationen zu therapeutischen Maßnah­ men entsprechend der Aktualitätsdiagnose 55 Therapie von Akutbeschwerden im Wir­ belsäulenbereich (Traktion, Ruhigstellung und andere Therapieverfahren) 55 Vom Befund zur Behandlung: 55Übergang von den Untersuchungs­ techniken in mobilisierende Verfahren, Techniken der Muskelbehandlung (Inhibition, Friktion, Weichteiltechnik, postisometrische Relaxation, Muskel­ energietechnik, Fazilitation) 55Üben der Techniken nach ihrer Spezifi­ tät in den verschiedenen Wirbelsäulen­ abschnitten, aber auch im Bereich der Rippen

kW4-Kurs

55 Symptomatik und Phänomenologie der häufigsten vertebragenen Beschwerde­ bilder, Erstellung der Therapiestrategien mit besonderer Berücksichtigung der Techniken an Gelenken und Muskeln 55 Einbindung weiterer schmerztherapeuti­ scher, reflextherapeutischer, physikalischer Maßnahmen 55 Befunde an der Muskulatur und ihre entsprechenden krankengymnastischen Konsequenzen 55 Der „rheumatische Formenkreis“ 55 Wirbelsäule und Psyche kW5-Kurs

55 Abschlusskurs in manueller Medizin, ein­ schließlich Röntgenkurs 55 Vom Symptom zur Diagnose und zur Therapie 55 Chirotherapie im Rahmen der Rehabilita­ tion und Prävention 55 Ausgewählte spezifische Untersuchungs­ möglichkeiten und Behandlungsmöglich­ keiten an Wirbelsäule und Extremitäten­ gelenken 55 Andere reflextherapeutische Maßnahmen bei Funktionsstörungen im Bewegungs­ apparat einschließlich der therapeutischen Lokalanästhesie, Propedeutik zur Wirbel­ säulenschule

346

R. Crevenna et al.

55 Bedeutung der röntgenologischen Unter­ suchungsmethoden bzw. der morpholo­ gischen Darstellungsmöglichkeiten sowie der Objektivierung von Funktionsstörun­ gen des Bewegungsapparats zz Evaluation und/oder Abschluss

Während der Kurse soll, speziell im Rahmen von Diskussionen, Wissenslücken der Teilnehmer Rechnung getragen werden. Korrekturen wer­ den besonders bei den Demonstrationen in den Gruppen durch die Kurslehrer vorgenommen. Bei der Bearbeitung wissenschaftlicher Probleme bestand eine enge Zusammenar­ beit mit dem Ludwig Boltzmann Institut für konservative Orthopädie und Rehabilitation, Wien. Zur Qualitätskontrolle findet nach der Ab­ solvieren aller Kurse am Ende des W5-Kurses eine schriftliche und mündliche Prüfung statt; diese gilt als Voraussetzung zur Erlangung des Diploms für Manuelle Medizin der Österrei­ chischen Ärztekammer.

zz Adressen/Links

Österreichische Ärztegesellschaft für Manuelle Medizin e.V. (ÖÄGMM) Präsident: Univ.-Prof. Dr. Hans Tilscher Geriatriezentrum am Wienerwald, Ge­ bäude D Jagdschlossgasse 59 A-1130 Wien [email protected]; sabine. [email protected]

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7 http://www.­manuellemedizin.­org/  

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Es bestehen intensive Kooperationen mit Deutschland und der Schweiz, vorwiegend durch die gemeinsame Zeitschrift Manuelle Medizin (7 https://www.­springermedizin.­de/ manuelle-medizin/7951156).  

Zusammenfassung: manuelle Therapie 55 Die manuelle Therapie als mechanisch ­orientierte Behandlungsart mit Zug- und Druckgriffen vermittelt dem Organismus

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bekannte Reize, wobei durch die Anwendung verschieden intensiv wirkender Techniken darüber hinaus eine feinfühlige, an die jeweilige Krankheitssituation anpassbare Dosierung zur Anwendung kommen kann. Die manuelle Therapie lässt sich keinesfalls mit einem mechanischen Ordnungsprinzip im Sinne des Zurechtrückens oder einer Stellungskorrektur verschobener Wirbel gleichsetzen, sondern die mechanischen Impulse dienen nur zur Auslösung reflekto­ rischer Abläufe. Im Unterschied zur manuellen Diagnostik, die eine unverzichtbare Methode bei der Diagnostik, Therapie und Rehabilitation der Störungen des Bewegungsapparats darstellt, ist die manuelle Therapie oder Chirotherapie eine außergewöhnlich ökonomische und effiziente Form der Muskelund Gelenkbehandlung, wobei bei den Gelenkfunktionen als wichtigste Indikation die Beweglichkeitseinschränkung, nicht aber die Überbeweglichkeit oder Instabilität gilt. Die manuelle Therapie hat somit ihre Indikationen bei reversiblen Beweglichkeitseinschränkungen der Bewegungssegmente der Wirbelsäule, teilweise auch der peripheren Gelenke, des Weiteren bei Funktionsstörungen der Muskulatur. Durch die Reizsetzungen an der Haut, vorwiegend aber an den Rezeptoren der Muskulatur und der Gelenke, gehört die manuelle Therapie zur großen Gruppe der Reflextherapien wie Akupunktur, Infiltrationstherapie, Trockennadelung etc., aber auch medizinisch-physikalische Maßnahmen, die untereinander kombiniert werden können. Alle diese Reflextherapien können schmerzhafte Funktionsstörungen beeinflussen. Diese sind allerdings als Symptom einer tief greifenden Störung aufzufassen, die durch entsprechende präventive oder rehabili­ tative Maßnahmen erkannt und beseitigt werden muss.

347 Behandlung des Bewegungsapparats

16.4  Trainingstherapie Norbert Bachl 16.4.1  Einführung

In den letzten Jahrzehnten hat sich ein be­ trächtliches Wissen über den Einfluss von re­ gelmäßiger körperlicher Aktivität, Training und Sport auf den menschlichen Organismus angesammelt. Von empirischen Grundlagen bis hin zu neuesten molekularbiologischen Be­ funden belegen alle Daten, dass regelmäßige körperliche Aktivität, Bewegung und Sport es­ senziell sind, damit bestimmte Genexpressio­ nen und damit Verbesserungen funktioneller Abläufe und morphologischer Anpassungen stattfinden können. Dies führt zu 55 einer Verbesserung der Leistungsfähigkeit aller Organe und Organsysteme, 55 einer erhöhten Leistungsbreite und Leis­ tungsbereitschaft, 55 einer schnelleren Regeneration und Wie­ derherstellung. Diese evidenzbasierten Effekte regelmäßiger körperlicher Aktivität beziehen sich in dem Kontinuum von Gesundheit bis zur Krankheit über alle Zwischenstadien, welche durch das Entstehen von Risikofaktoren und deren Ver­ stärkung bis zum Einsetzen der ersten Krank­ heitssymptome reichen. Die Kenntnisse über die „magic power of exercise“ als eine der wich­ tigsten Komponenten der Lebensstilmedizin haben auch zu einem Gesundheitsbegriff ge­ führt, welcher besagt:

»» „Gesund ist jedes Biosystem, welches Störungen auszugleichen vermag.“

Damit ist implizit die durch körperliche Aktivität, Training und Sport hervorgerufene vergrößerte Reaktionsbreite enthalten, welche als Schutzfaktor gegen die meisten Zivilisa­ tionserkrankungen wirkt. Umgekehrt ist lang­ dauernde körperliche Inaktivität (sedentary lifestyle) als ein gravierender Risikofaktor an­ zusehen, der zum Entstehen und Persistieren

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chronischer Erkrankungen wie Herz-Kreis­ lauf-, Stoffwechselerkrankungen, Übergewicht, Diabetes mellitus Typ II, Tumorerkrankungen und zerebralen Störungen führen kann. Nicht umsonst wurde aus diesen Zusammenhängen der Begriff „exercise deficiency syndrome“ ge­ prägt, wobei die Folgen dieses inaktiven Le­ bensstils schließlich zum sog. „sedentary death syndrome“ führen können, also zu frühzeitigen Todesfällen bedingt durch chronische Erkran­ kungen bzw. daraus resultierender Polymorbi­ dität aufgrund von körperlicher Inaktivität. Das Wissen über die biologisch-physiolo­ gischen Wirkungen von regelmäßiger körper­ licher Aktivität hat nicht nur dazu geführt, dass Bewegung und Sport als präventive Mittel, sondern auch in Form von Trainingstherapien im gesamten Therapiekonzept der Rehabilita­ tion als unersetzliches Instrumentarium ein­ gesetzt werden. War es früher die „Schonung“, welche als wirksames Mittel der Restitutio angesehen wurde, ist seit Jahrzehnten der ge­ nau umgekehrte Weg erfolgreich; nämlich mit einer adäquaten Trainingstherapie  – kombi­ niert mit Physiotherapie und anderen reha­ bilitativen Maßnahmen  – möglichst früh zu beginnen, um einerseits inaktivitätsinduzierte Negativanpassungen möglichst zu vermeiden und andererseits durch adäquate Belastungen den Heilungsprozess zu verbessern. Ein Blick zurück zeigt, dass auch berühmte Ärzte des Altertums, wie z.  B.  Hippokrates, Galen und Avicenna (Abu Ali ibn Sina), die Wirkungsweise von regelmäßiger körperlicher Aktivität zusammen mit einer bedarfsgerech­ ten Ernährung und sozialer Zufriedenheit und Stressvermeidung kannten und deren Einfluss auf Gesundheit und Langlebigkeit propagier­ ten. Ein Blick in die Zukunft macht deutlich, dass neue diagnostische Methoden auf sub­ zellulärer Ebene  – bezogen auf das Genom, Transkriptom, Proteom und Metabolom mit den daraus resultierenden anabolen wie kata­ bolen Signalketten  – schließlich zu dem füh­ ren können, was Zukunftsforscher als sog. Reprogrammierung (reprogamming) der Zelle bezeichnen. Aufgrund der oben angedeuteten

348

R. Crevenna et al.

Zusammenhänge zwischen körperlicher Akti­ vität und der Expression verschiedener Gene, welche Adaptationen auslösen, ist anzuneh­ men, dass daraus noch besser individualisierte Trainings- und auch Ernährungskonzepte als Lebensstilmodifikationen bzw. als rehabilita­ tive Maßnahmen resultieren können. 16.4.2  Definition der

Trainingstherapie

Trainingstherapie/Sporttherapie - Bewegungstherapeutische Maßnahme, die mit geeigneten Mitteln des Tranings/Sports gestörte physische, psychische und soziale Funktionen kompensiert, rehabilitiert, Sekundärschäden vorbeugt und gesundheitliches orientiertes Verhalten fördert (Deutscher Verband für Gesundheit, Sport und Sporttherapie, e.V. 1986).

Die auf biologischen Gesetzmäßigkeiten fuß­ ende Trainingstherapie basiert auf drei gene­ rellen Grundsätzen (Prinzipien): Prinzipien der Trainingstherapie

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1. Primum nil nocere 2. Die Trainingstherapie kann andere therapeutische Maßnahmen und notwendige Medikationen und Maßnahmen nicht ersetzen, sondern nur ergänzen, woraus synergistische Erfolge in der Rehabilitation ­beruhen 3. Sie unterliegt den Gesetzmäßigkeiten der medizinischen Trainingslehre: Bewegung muss wie ein Medikament indiziert sein, sie muss dosiert und kontrolliert werden

Diese Grundsätze weisen auf die Interdiszipli­ narität trainingstherapeutischer Interventio­ nen hin, da ärztlich indizierte Trainingsvorga­ ben, z. B. verordnet auf einem Grünen Rezept, von Trainingswissenschaftlern durchgeführt und überwacht und von anderen Berufsgrup­ pen, z. B. Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Ernährungswissenschaftler, begleitet werden

müssen. Der phasenbezogene Einsatz dieser Berufsgruppen richtet sich nach der Art der Erkrankung und der jeweiligen Rehabilita­ tionsstrategie. Die Indikation für bewegungstherapeu­ tische Maßnahmen wird je nach Grunder­ krankung und Begleitkomplikationen vom behandelnden Arzt gestellt, und damit werden auch die jeweils notwendigen Trainingsinhalte, Trainingsmethoden und Trainingsmittel vor­ gegeben. Die Dosierung der körperlichen Ak­ tivität/der Trainingstherapie nach Häufigkeit, Dauer, Umfang und Intensität sollte nach defi­ nierten Kriterien der aktuellen Leistungsfähig­ keit und Belastbarkeit geregelt werden, welche durch eine entsprechende Belastungsuntersu­ chung (Ergometrie) erhoben werden müssen. Schließlich dient eine regelmäßige Kon­ trolle einerseits zur Überwachung von Trai­ ningsfortschritten und den zugrunde liegen­ den stattgehabten bzw. nicht stattgehabten Adaptationsreaktionen sowie den daraus eventuell notwendigen Veränderungen trai­ ningstherapeutischer Konsequenzen und Me­ dikationen, andererseits zur Motivation des Patienten, wenn Leistungsfortschritte zu einer Verbesserung seiner persönlichen Lebenssitu­ ation geführt haben. 16.4.3  Sportmedizinische

Vorsorgeuntersuchung (Sporttauglichkeit) als Voraussetzung zur Trainingssteuerung

Die sportmedizinisch-leistungsphysiologische Grunduntersuchung hat die Aufgaben, 55 etwaige Kontraindikationen gegen körper­ liche Aktivität, Training und Sport aufzu­ zeigen (es gibt nur sehr wenige absolute und relative Kontraindikationen gegen zielgerichtete und adäquat dosierte bzw. modifizierte körperliche Aktivitäten in der Rehabilitation), 55 unter Berücksichtigung der Medikation bzw. eventueller Komorbiditäten aus der

349 Behandlung des Bewegungsapparats

aktuellen Belastbarkeit eine geeignete und den Zielvorstellungen des zu rehabilitie­ renden Patienten entsprechende körper­ liche Aktivität/Sportart zu finden, 55 begründete Hinweise über Häufigkeit, Umfang, Dauer und Intensität der körper­ lichen Belastung zu definieren. Aus einer Vielzahl von internationalen Publi­ kationen können entsprechend einer Konsen­ sus-Studie (Corrado et  al. 2005) sowie den FIMS-ACSM-Richtlinien (Roberts et al. 2014) folgende Inhalte für diese Untersuchung ange­ führt werden: Inhalte der sportmedizinisch-leistungsphysiologischen Grunduntersuchung 55 Anamnese, einschließlich Familien-, Eigen- und bisheriger Aktivitäts-/ Sportanamnese mithilfe vom standardisierten Anamnese-Fragebögen, z. B. Quality-of-Life-Fragebogen (alle Anamnesen ärztlich hinterfragt, präzisiert und ergänzt) 55 Physikalische Untersuchung inkl. Lungenfunktion, anthropometrische Daten (BiA – bioelektrische Impedanzanalyse, Blutbefunde fakultativ je nach Fragestellung) 55 12-Kanal-Ruhe-EKG, von einem qualifizierten Arzt durchgeführt und befundet 55 Ergometrie mit Belastungs-EKG und Belastungsblutdruckmessung (inkl. Erholungsparameter) bis zur symptomlimitierten maximalen Ausbelastung entsprechend den Kriterien der Österreichischen Kardiologischen Gesellschaft (Löllgen et al. 2010a)

Bei Vorliegen bestimmter Symptome und Befunde können weiterführende Untersu­ chungen, wie Echokardiographie, Herzkathe­ ter-Untersuchung, MRI, RR-Monitoring, er­ folgen bzw. notwendig sein (. Abb. 16.6).  

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I nterpretation der sportmedizinischen Untersuchung Aus der Synopsis der Befunde muss die Indika­ tion zur jeweiligen Trainingstherapie/Sportart/ körperlichen Aktivität ermittelt werden, Trai­ ningsmittel und Methoden sind festzulegen sowie Häufigkeit, Dauer, Umfang, Frequenz und Inten­ sität der jeweiligen Belastungen zu definieren. >> Wichtig ist die Auswahl der geeigneten Trainingstherapie/Sportart oder deren Modifikation, wenn limitierende Befunde durch Komorbiditäten bestehen, sei es im kardiovaskulären Bereich, im Stoffwechselbereich oder im Fall von Knieoder Hüftarthrosen, bei denen bei der körperlichen Aktivität das eigene Körpergewicht nicht getragen werden sollte.

Diese Empfehlungen seitens des Arztes sind mit dem zu rehabilitierenden Patienten unter dem Aspekt der Individualität und der Variabili­ tät der Belastung zu diskutieren, um eine mög­ lichst hohe Adhärenz (Compliance) zu erzielen bzw. zu erreichen, dass die trainingstherapeu­ tischen Maßnahmen – sofern sie nicht im Rah­ men der Hospitalisierung oder durch ambulante Sport-Trainingstherapiegruppen getätigt wer­ den – als Teil der Tagesaktivitäten in das tägliche Leben integriert werden. Dabei sind auch jahres­ zeitliche Unterschiede bzw. Urlaube und Aus­ landsaufenthalte zu berücksichtigen. >> Prinzipiell muss die geeignete Sportart, körperliche Aktivität oder Bewegungstherapie so gewählt werden, dass daraus weder eine Eigen- noch eine Fremdgefährdung resultiert. Risikosituationen durch Sportarten müssen vermieden werden. Außerdem ist eine Beratung bezüglich Notfallmedikation (Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes, Asthma bronchiale und Allergien) vorzunehmen.

kDiabetes

Die Beratung muss die richtige Belastungs­ dosierung, Hinweise zur Ernährung bzw. zur Regulation der Medikation beinhalten, ebenso wie den Hinweis auf regelmäßige Blutzucker­

350

R. Crevenna et al.

Sporttreibende

Anamnese (Familien-, Eigen- und Sportanamnese), physikalische Untersuchung, Ruhe-EKG

Normale Befunde

Abnormale pathologische Befunde

Fit für alle Sportarten/ körperlichen Aktivitäten

Weitere schrittweise erfolgende Untersuchungen

Normale Befunde

Spiroergometrie, Stress-Echokardiographie, Langzeit-EKG (Holter-EKG)

Wo indiziert: Magnetresonanztomographie, Herzkatheteruntersuchung, elektrophysiologische Abklärung

16 ..      Abb. 16.6  Flussdiagramm der ärztlichen Vorsorgeuntersuchung (Löllgen et al. 2015)

kontrollen bzw. die Kenntnis über Notfallmaß­ nahmen bei Hypo-bzw. Hyperglykämie. kKardiovaskuläre Erkrankungen bzw. Risikofaktoren

Die jeweilige Grunderkrankung, eine etwaige arterielle Hypertonie und deren Therapien

mit verschiedenen Medikamenten (Kalzium­ antagonisten, β-Blocker u.  a.), eine mögliche Belastungshypertonie sowie eine Neigung zu Herzrhythmusstörungen müssen berücksich­ tigt werden, woraus in manchen Fällen eine Reduktion der trainingstherapeutischen Vor­ gabe erfolgen kann.

351 Behandlung des Bewegungsapparats

16

kÜbergewicht bzw. Adipositas

kEpilepsie

Bei diesen Patienten ist in vielen Fällen, beson­ ders bei langjähriger körperlicher Inaktivität, eine Trainingsempfehlung hinsichtlich einer Intervallbelastung vorzunehmen, da diese Per­ sonen auch aufgrund ihrer Muskelatrophie nicht in der Lage sind, sich kontinuierlich län­ gerdauernden Belastungen auszusetzen. Hier­ bei spielt auch die Berücksichtigung des Ge­ lenkstatus eine wesentliche Rolle (Bachl und Löllgen 2013).

Von Sportarten mit hoher Eigen- oder Fremd­ gefährdung wie beispielsweise Gleitschirmflie­ gen, Klettern, Surfen, Kite-Surfen etc. ist ab­ zuraten, bzw. sind sie mit dem behandelnden Neurologen zu besprechen. Bei der Beratung können die Begutachtungsleitlinien zur Kraft­ fahrereignung des jeweiligen Landes als An­ haltspunkte herangezogen werden (Bachl und Löllgen 2013).

kNeurologische Erkrankungen

Die entsprechenden motorischen Beeinträch­ tigungen sind ausschlaggebend für die Wahl einer bestimmten Sportart bzw. deren Modi­ fikation. kMultiple Sklerose

Bei diesen Patienten ist das Hinterfragen einer Temperaturempfindlichkeit wesentlich, um die Intensität der Sportausübung abstimmen zu können (niedrigintensive Belastungen sinnvoll). Durch koordinative Störungen so­ wie Akinesien, Hypokinesien und Dyskine­ sien sind unvorhergesehene Situationen bzw. rascher Positionswechsel auch in modifizier­ ten Spielsportarten schwer handzuhaben. Da­ rüber hinaus ist es für diese Patientengruppe schwierig, neue Bewegungsmuster zu erler­ nen, was bedeutet, dass – wenn möglich – auf bekannte Sportarten zurückgegriffen werden sollte. kParkinson-Erkrankung

Für Patienten in späteren Stadien sollten ledig­ lich zyklische Sportarten wie Wandern, Nordic Walking und eventuell Radfahren empfohlen werden. kMuskuläre Erkrankungen

Die Wahl der Sportart bzw. deren Modifika­ tion muss dem entsprechenden Zustandsbild des Patienten entsprechen bzw. müssen bei zu beobachtender Progredienz Ersatzprogramme mit einfacher Bewegungsausführung angebo­ ten werden.

 rgometrische Daten zur ­Steuerung E der Trainingsintensität Der aktuelle Zustand der Leistungsfähigkeit sowie die aktuelle Belastbarkeit bestimmen im Rahmen der Trainingstherapie Frequenz, Um­ fang und Häufigkeit der jeweiligen trainings­ therapeutischen Interventionsmaßnahmen. Die Dosierung nach Intensität (und abgeleitet davon natürlich auch des Umfangs) muss aus der jeweiligen Belastungsuntersuchung (Ergo­ metrie) erfolgen. Bei der klassischen, von Kardiologischen Gesellschaften empfohlenen Ergometrie kön­ nen zur Trainingssteuerung die Herzfrequen­ zen  – bezogen auf die jeweilige Leistung in Watt oder km/h bzw. auch im Zusammenhang mit der Borg-Skala  – herangezogen werden. Eine der besten Herzfrequenzvorgaben lässt sich aus der Karvonen-Formel erzielen: Karvonen-Formel THF = RHF + (MHF – RHF) × % gewünschte Trainingsintensität (z. B. 50%) THF: Trainingsherzfrequenz RHF: Ruheherzfrequenz MHF: maximale Herzfrequenz Wichtig ist es, dass dafür eine aus der Ergometrie erhobene (symptom­ imitierte) maximale Herzfrequenz zur Berechnung verwendet wird.

Der Prozentsatz der gewünschten Trainingsin­ tensität wird je nach der Belastbarkeit bzw. der aktuellen Leistungsfähigkeit eingesetzt und er­ möglicht somit Trainingsintensitäten über einen

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R. Crevenna et al.

weiten Bereich (z. B. zwischen 50 % und 80 %). Nicht ratsam sind Trainingsempfehlungen von reinen Regressionsgleichungen für extensive (160 minus Lebensalter) oder intensive (z.  B. 180 minus Lebensalter) Belastungen, welche nur von einer maximalen Herzfrequenz bzw. – noch unpräziser – von extrapolierten maxima­ len Herzfrequenzen berechnet werden (extrem große Fehlerbreite von ± 10 %). Hinsichtlich der Durchführung der Ergometrie, der Wahl der Be­ lastungsprotokolle etc. wird auf die Richtlinien des ACSM (American College of Sports Medi­ cine 2010) bzw. anderer internationaler Fachge­ sellschaften verwiesen (Pokan et al. 2004). Wird bei der Ergometrie auch die jeweilige arterielle (kapilläre) Laktat-Konzentration als Ausdruck des aerob-anaeroben Stoffwechsels erhoben, können bestimmte Kennpunkte aus der erhobenen Laktat-Leistungskurve zur ge­ nauen Trainingssteuerung herangezogen wer­ den (Bachl und Kinzlbauer 2010). Prinzipiell lassen sich aus dem Energiestoffwechsel und der daraus resultierenden Substrat-Utilisation 3 Phasen der Energiebereitstellung erkennen: 55 eine aerobe Phase 1, 55 eine aerob-anaerobe Übergangsphase Phase 2, 55 eine anaerobe Phase 3.

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Aus einer Vielzahl von Publikationen wurden durch verschiedene Algorithmen daraus defi­ niert: 55 die aerobe Schwelle als Kennpunkt zwi­ schen Phase 1 und Phase 2 sowie 55 die anaerobe Schwelle als Kennpunkt zwi­ schen Phase 2 und Phase 3. Nach diesen Kennpunkten bzw. den entsprechen­ den Bereichen werden extensive Ausdauer-Trai­ ningseinheiten (rund um die aerobe Schwelle) sowie intensive Ausdauer-­ Trainingseinheiten (rund um die anaerobe Schwelle) zugeordnet. Die jeweiligen Herzfrequenzen an diesen Kenn­ punkten bzw. an durch bestimmte Laktatkon­ zentrationen definierten Bereichen können zur Trainingssteuerung herangezogen werden, ge­ nauso wie die daraus extrapolierten Leistungs­ parameter wie Watt oder km/h.

Wird (was in der Routine nicht notwen­ dig und in vielen Fällen auch nicht möglich ist) eine Spiroergometrie durchgeführt, so können die genannten Kennpunkte des aerob-­ anaeroben Stoffwechsels individuell aus den jeweiligen Parametern von Atemminutenvolu­ men und Sauerstoffaufnahme sowie den Atem­ äquivalenten für O2 und CO2 zur individuellen Steuerung und Dosierung des Trainings, der Trainingstherapie bzw. der sportlichen Tätig­ keit eingesetzt werden (Bachl und Kinzlbauer 2010; Wonisch et al. 2009b) (. Abb. 16.7).  

16.4.4  Ziele der Trainingstherapie

Die Trainingstherapie stellt eine wesentliche Maßnahme im Rahmen einer komplexen Re­ habilitationskonzepts dar, welche nachhaltige Lebensstiländerungen induzieren soll. VE VCO2 VO2 AECO2 AEO2 pH2 25

50

75

100 Typ 2x Typ 2a Typ 1

Kohlenhydrate Fette

..      Abb. 16.7  Schematische Darstellung spiroergometrischer und metabolischer Kenngrößen bei ansteigender rampenförmiger Belastung zusammen mit dem Rekrutierungsverhalten der Muskelfasern und den verstoffwechselten Substraten. Muskelfaser Typ 1: langsam zuckend, „Ausdauerfaser“; Muskelfaser Typ 2x: schnell zuckend, Faser für Kraft und Schnelligkeit, Muskelfaser Typ 2a: Intermediärtyp; VE Atemminutenvolumen, VO2 Sauerstoffaufnahme, VCO2 Kohlendioxidabgabe, AECO2 Atemäquivalent für Kohlendioxid, AEO2 Atemäquivalent für Sauerstoff, pH charakterisiert den Säure-Basen-­Haushalt (Bachl und Kinzlbauer 2010)

353 Behandlung des Bewegungsapparats

Durch Trainingstherapie und Ernährungsbilanzierung sowie Nikotinkarenz erzielbare Gesundheitsziele (Bachl und Schwarz 2006) (je nach Grunderkrankung und Therapieziel unterschiedlich gewichtet bzw. erreichbar) 55 Normalisierung des Körpergewichts bei einem BMI zwischen 25 und 29,9 55 Normalisierung des Glukose-Nüchternwertes, Senkung des Insulinspiegels, Erhöhung der Insulinsensitivität 55 Beeinflussung des Fettstoffwechsels mit dem Ziel eines Gesamtcholesterin-Wertes < 200 mg/dl, LDL-Cholesterin < 100 mg/dl, HDL-Cholesterin > 40 mg/dl (m) und > 50 mg (w), Triglyzeride < 150 mg/dl 55 Blutdruck langfristig unter 135/85 mmHg 55 Verbesserung der rheologischen Eigenschaften des Blutes 55 Stärkung des Immunsystems zur Verbesserung der Infektabwehr 55 Beeinflussung des Stütz- und Bewegungsapparats durch Kräftigung der Muskulatur, Vermeidung muskulärer Dysbalancen und Einseitigkeiten, Erhöhung der Knochenmasse sowie Verminderung des Frakturrisikos 55 Verbesserung der emotionalen Grundbefindlichkeit, Verbesserung der Stimmungslage 55 Positiver Einfluss auf die Leistungen des zentralen Nervensystems

Zur weiteren Beschäftigung bzw. Umsetzung in die Praxis sei noch auf das 5-A-Konzept von Whitlock et  al. (2002) verwiesen, wel­ ches zur Systematisierung von Interventionen folgende fünf Inhalte bzw. Verhaltensschritte vorgibt:

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5-A-Konzept 55 ASSESS als Bewertung des bisherigen Aktivitätsniveaus 55 Advice als individualisierte Empfehlung 55 Agree als konsensuale Formulierung von Verhaltens- und Lebensstilzielen (auch Teilzielen) 55 Assist als Unterstützung des Patienten bei der Erreichung der vereinbarten Ziele durch handlungsförderliche Techniken bzw. die Bereitstellung sozialer Unterstützungsleistungen 55 Arrange als Organisation von Nachkontakten zur Steigerung der Nachhaltigkeit von Lebensstiländerungen

Regelmäßige körperliche Aktivität wirkt pleio­ trop und kann daher auch als „Polypill“ be­ zeichnet werden, da ihre Effekte die physische, metabolische, kognitive und psychoemotio­ nale Leistungsfähigkeit positiv beeinflussen. kPhysische Leistungsfähigkeit (Herz/ Kreislauf, Atmung, Muskulatur, vegetatives Nervensystem)

55 Ökonomiserung der Herzfunktion, 55 Kapillarisierung, 55 Kollateralisierung, 55 Verbesserung der Kreislaufregulation, 55 Blutdrucksenkung/Stabilisierung, 55 Verbesserung der Fließeigenschaften des Blutes, 55 Erhöhung der Sauerstofftransportkapazität, 55 Erhöhung der maximalen Sauerstoffauf­ nahme, 55 Verbesserung der Lungenfunktion und Atemökonomie, 55 Erhöhung der allgemeinen Leistungsfähig­ keit und Leistungsbreite, 55 Verbesserung der Reagibilität und Regene­ rationsfähigkeit, 55 Erhöhung der Gesamtmuskelmasse,

354

R. Crevenna et al.

55 Verbesserung der muskulären Leistungs­ fähigkeit, der Kraft-Ausdauer und der maximalen Kraft, 55 Verbesserung der inter- und intramuskulä­ ren Koordination, 55 Vergrößerung der Muskelmasse bzw. Verhin­ derung einer übermäßigen Muskelatrophie, 55 Schutz der Gelenksführung, 55 Verbesserung der Haltung, 55 Vermeidung von muskulären Dysbalancen, 55 Erhöhung der Knochendichte, 55 Erhöhung des Grundumsatzes, 55 Sekretion von Myokinen, 55 Verminderung des Körpergewichtes, 55 Verminderung des Bauch- bzw. Hüftfetts.

16.4.5  Grundlagen der

therapeutischen Trainingslehre

Begriffe

kMetabolische Leistungsfähigkeit (Intermediär- und Muskelstoffwechsel)

Training

55 Regulation der Blutglukose, Senkung des Insulinspiegels, Erhöhung der Insulinsensi­ bilität, Verbesserung der Glukosetoleranz, 55 Senkung von Gesamt-Cholesterin, Trigly­ zeriden und LDL-Cholesterin, Erhöhung von HDL-Cholesterin, 55 verbesserte Substratoxidation in der Mus­ kulatur, 55 Sekretion von Myokinen aus der kontra­ hierenden Skelettmuskulatur als Schutz­ faktoren (z. B. IL-6).

prozess verstanden, welcher eine Verbesserung in dem jeweiligen Zielbereich anstrebt. Auf den Sport bezogen bzw. aus sportpraktisch orientierter Sicht wird das Training als ein komplexer Handlungsprozess mit dem Ziel der planmäßigen und sachorientierten Entwicklung der sportlichen Leistungsfähigkeit sowie der Fähigkeit zur optimalen Leistungserbringung im Wettkampf definiert (Weineck 2010).

kKognitive Leistungsfähigkeit: Reaktion, Koordination, Gelenkigkeit und Gleichgewicht

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55 niedrigere Ausschüttung von Katecholami­ nen bei gegebenen Belastungen, verbes­ serte Stresstoleranz, 55 erhöhte Belastbarkeit, Reagibilitätsbreite sowie Regeneration, 55 verbesserte Immunreaktion durch Beein­ flussung der psychoneuroimmunologi­ schen Achse (PNI-Achse).

55 Verbesserung des Gelenk-Bewegungsaus­ maßes, damit Erhöhung der Flexibilität, 55 Verbesserung der Koordination des Gleich­ gewichts und der Balance (Sturzprophylaxe), 55 Verbesserung der Bewegungsgeschwindig­ keit, 55 Verbesserung der kognitiven Leistungsfä­ higkeit, insbesondere Gesichtsfeld, taktile Empfindlichkeit, räumliche Orientiertheit, erhöhte Agilität. kPsychoemotionale Leistungsfähigkeit (Zentralnervensystem, vegetatives Nervensystem, Hormon- und Immunsystem)

55 Verbesserte Balance zwischen sympathoto­ ner und parasympathotoner Balance,

Training - Ganz allgemein wird darunter ein Übungs-

Im Rahmen der Trainingstherapie soll die­ ser komplexe Handlungsprozess planmäßig und sachorientiert dahingehend wirken, die Erkrankung in ihrer Progredienz aufzuhalten bzw. zu einer partiellen oder totalen Restitu­ tion zu führen sowie den Leistungszustand und die Fähigkeit zur bestmöglichen Wieder­ eingliederung von Patienten in das Alltags­ leben zu erzielen (Hofmann et  al. 2009). In diesem Zusammenhang ist begrifflich auch festzuhalten, dass Training per se durch seine Steuerparameter eine Zielvorstellung (auch Teilzielvorstellung) realisieren soll, während die vielfach in präventiven und rehabilitativen Konzepten empfohlene körperliche Aktivität (Maßnahmen des täglichen Lebens von Hausund Gartenarbeit bis zum Treppensteigen) dazu beitragen soll, den Ruheumsatz zu erhö­ hen bzw. einen etwas erhöhten Belastungsum­ satz zu erzielen. Der Begriff der Komplexität der Trainings­ therapie bedeutet, dass sich die Interventions­

355 Behandlung des Bewegungsapparats

maßnahmen auf alle relevanten Merkmale/ Befunde des Patienten erstrecken sollen. Die Effekte der Trainingstherapie können kausal auf die Pathogenese der jeweiligen Erkrankung einwirken (z.  B.  Diabetes mellitus  II) oder aber auch nur zu einer Verbesserung der Le­ benssituation im Alltag führen (z.  B.  Asthma bronchi­ale). Die Planmäßigkeit bezieht sich auf die bereits erwähnte Trias von Indika­ tion, Dosierung und Kontrolle, unter Beach­ tung der Interaktion und Synergie zwischen klinisch-therapeutischen, leistungsphysio­ logischen und trainingswissenschaftlichen Vorgaben. Wenn alle Maßnahmen der Trai­ ningstherapie (in Kombination mit anderen therapeutischen Interventionen) zu den an­ gestrebten (Teil-)Zielen hinführen, kann von Sachorientiertheit gesprochen werden.

Trainierbarkeit Trainierbarkeit - Der Begriff gibt den Grad einer kurz-, mittel- und langfristigen funktionellen sowie strukturellen Anpassung an Trainingsreize wieder. Es handelt sich dabei um eine dynamische Größe, welche von verschiedenen endogenen (Körperbau, Alter, Art und Schwere der Erkrankung, Verhalten, Lebensstil) und exogenen (Ernährung, Umweltbedingungen) Faktoren abhängig ist (Hofmann et al. 2009).

Während im Leistungssport die Kategori­ sierung in „Slow-Fast-Responder“ und „LowHigh-Responder“ zu beobachten bzw. zu unterscheiden ist, spielen bei der Trainings­ therapie die jeweilige eingeschränkte Leis­ tungsfähigkeit bzw. und/oder Belastbarkeit im Hinblick auf die mögliche Trainierbarkeit eine entscheidende Rolle. Dadurch kann es auch vorkommen, dass bei Patienten unterschied­ liche Trainierbarkeitseffekte in verschiede­ nen Organen bzw. bezogen auf verschiedene motorische Grundeigenschaften resultieren können (direkte Wirkung bzw. nachweislich evidenzbasierte klinische Effekte bei Diabetes mellitus  II, peripherer arterieller Verschluss­ krankheit [PAVK], koronarer Herzkrankheit [KHK]; indirekt positiver Einfluss auf Symp­ tome, z.  B. chronisch obstruktive Lungener­ krankung [COPD]  – durch Verbesserung der Krafteigenschaften – auch als Prinzip des the­

16

rapeutischen Reizes beschrieben) (Hofmann et al. 2009; Löllgen et al. 2014).

Körperliche Leistungsfähigkeit Leistungsfähigkeit - Maximal vorhandenes psychophysisches Potenzial des Organismus für eine nach Zeit und Intensität definierte konkrete Leistung.

Die physische Leistungsfähigkeit ist multi­ faktoriell zusammengesetzt: eine wesentliche Rolle spielen dabei 55 konditionelle Faktoren (Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit, Flexibilität), 55 technische Faktoren (Koordination, Be­ wegungsfertigkeit), 55 taktisch-kognitive Fähigkeiten, 55 psychische Fähigkeiten, 55 soziale Fähigkeiten, 55 veranlagungsbedingte konstitutionelle und gesundheitliche Faktoren. Neben der genetischen Prädisposition tragen eine Vielzahl von epigenetischen Faktoren zur Entwicklung der Leistungsfähigkeit im positi­ vem wie im negativen Sinne bei. Aus der Komplexität der Leistungsfähigkeit ist abzuleiten, dass daher auch das Training bzw. die Ausprägung von Einzelfaktoren maß­ geblich für das Resultat der Gesamtheit sind. Im Rahmen der klassischen Trainingstherapie wird hierbei den konditionellen Faktoren Aus­ dauer und Kraft sowie der Flexibilität und der Koordination ein besonderer Stellenwert zu­ kommen. Da sich viele Erkrankungen direkt oder indirekt auf die allgemeine Leistungsfä­ higkeit auswirken, stellt die Trainingstherapie eine Beeinflussung der Erkrankung und damit auch eine Beeinflussung der Leistungsfähigkeit dar. Diese Effekte sind sowohl bei einem kau­ salen Zusammenhang auf die Pathogenese der Erkrankung als auch bei einer positiven Beein­ flussung des Lebensstils und damit gewisser Symptome der Erkrankung erzielbar.

Belastbarkeit Belastbarkeit - Der Begriff definiert allgemein die physischen (wie auch psychischen) Ressourcen, welche mobilisierbar sind, um auf objektiv einwirkende Reize (Stressoren) ohne Störungen der Gesundheit zu

356

R. Crevenna et al.

reagieren. Die Fähigkeit zur Nutzung dieser Ressourcen wird auch als Resilienz bezeichnet. Aus der Sicht der trainingstherapeutischen Interventionen kann die physische Belastbarkeit auch als die Reizintensität bezeichnet werden, bis zu der ein Patient belastet werden kann, ohne dass Beschwerden sowie reversible oder irreversible Schäden auftreten.

Bei einer kardiovaskulären Erkrankung ist üblicherweise die aerobe Belastbarkeit ein­ geschränkt, wiewohl beispielsweise die Mus­ kulatur durchaus höher belastbar wäre. Wie bei der Belastungsuntersuchung (Ergometrie) die symptomlimitierte maximale Belastbar­ keit ein Abbruchkriterium darstellt, ist bei der Trainingstherapie die aktuelle Belastbarkeit, die sich eben aus der bestehenden Erkran­ kung und der aktuellen Leistungsfähigkeit des Organismus bzw. bestimmter Organsysteme zusammensetzt, die Richtgröße, auf welche trainingstherapeutische Interventionen bezo­ gen werden müssen. Durch die adäquate Trai­ ningstherapie zusammen mit anderen rehabi­ litativen bzw. medikamentösen Maßnahmen kann die Progression bzw. die Regression einer Erkrankung beeinflusst und/oder die Leis­ tungsfähigkeit verbessert (im minimalem Fall stabilisiert) werden, woraus sich in den meis­ ten Fällen auch eine verbesserte Belastbarkeit ergibt. Dabei spielen sowohl kausale pathoge­ netische Mechanismen als auch indirekte Me­ chanismen durch kompensatorische Organ­ systeme, wie z.  B. der Muskulatur bei COPD, eine Rolle (s. oben „7 Trainierbarkeit“).  

Entwicklung der physischen Leistungsfähigkeit

16

Hauptziel der Trainingstherapie ist die Stabili­ sierung, v. a. aber die Verbesserung der physi­ schen Leistungsfähigkeit bzw. im Sinne sekun­ därpräventiver Maßnahmen eine Minimierung erkrankungsbedingter Verluste der Leistungs­ fähigkeit (wie z.  B. durch Elektrostimulation bei der Ruhestellung von Extremitäten). Dabei ist zu beachten, dass die Langfristigkeit und Planmäßigkeit des Trainingsprozesses eine Formulierung von Teilzielen zur Er­

reichung eines Gesamtziels notwendig macht, was einerseits das Monitoring des Patienten

erleichtert und andererseits die Motivation er­ höht. Aus der Sicht der Trainingstherapie steht die Verbesserung der Leistungsfähigkeit und der Belastbarkeit im Vordergrund, gleich­ zeitig müssen andere therapeutisch relevante Ziele im Rahmen der komplexen Rehabilita­ tion mitberücksichtigt werden. Ziele eines systematischen therapeutischen Trainingsprozesses (Hofmann et al. 2009) 55 Therapeutische Ziele: Diese sind erstrangig zu planen, da sie die Erkrankung direkt oder indirekt beeinflussen sollen. Sie können (­Pedersen und Saltin 2006) direkt am erkrankten Organ (z. B. Erhöhung der Sensitivität der Insulinrezeptoren in der Muskulatur) oder aber auch an unterstützenden Strukturen und Funktionen ansetzen. 55 Motorische Lernziele: Diese beinhalten die konditionellen, für die Patienten relevanten Faktoren, wie Ausdauer und Kraft, sowie koordinative Fähigkeiten und Fertigkeiten. 55 Kognitive Lernziele: Diese umfassen insbesondere die Bereiche Lebensstil, Ernährung, Rauch- und Genussverhalten sowie soziale Einflüsse. 55 Affektive Lernziele: Diese beinhalten u. a. Selbstüberwindung, Willensstärke, Selbstbeherrschung.

Um diese (Teil-)Ziele zu erreichen, sollen bei allen Personen, welche im Rahmen der kom­ plexen Rehabilitation zusammenarbeiten, ins­ besondere jene aus dem Bereich der Trainings­ therapie, folgende Kompetenzen gegeben sein (Hofmann et al. 2009; Mewes 2013b; Frontera et al. 2007; Löllgen et al. 2010a). 55 gut ausgebildete Führungspersönlichkeit (Motivation, optimale Mischung zwischen Ruhe, Zuversicht, Distanz und Nähe),

357 Behandlung des Bewegungsapparats

55 soziale Kompetenz, insbesondere Kommu­ nikationskompetenz, Dialogfähigkeit und Einfühlungsvermögen, 55 Sachkompetenz im Hinblick auf die Inter­ aktion aller therapeutischer Methoden bzgl. der Grunderkrankung, 55 trainingswissenschaftliche Kompetenz, welche Trainingsmethoden und Trainings­ mittel bzw. welche Trainingsprinzipien eingesetzt werden müssen, um die jeweili­ gen (Teil-)Ziele zu erreichen.

Trainingsinhalte, Trainingsmittel, Trainingsmethoden Trainingsinhalte - Es ist zwischen direkt wirksamen Trainingsinhalten (z. B. Gefäß-Endothel-Funktion, Insulinrezeptoren) und indirekten Wirkungen (allgemeine Lebenssituation) zu unterscheiden. Von der richtigen Auswahl, der Dosierung und der Kontrolle der Trainingsinhalte, -mittel und -methoden hängt es ab, inwieweit die Grunderkrankungen und/oder die Leistungsfähigkeit beeinflusst werden. Trainingsmittel - Als Trainingsmittel werden alle Mittel und Maßnahmen bezeichnet, die Art und Ablauf des Trainings (z. B. Fahrradergometer, Laufband, Krafttrainingsgeräte, Einzel- oder Gruppentraining) bestimmen. Die Trainingsmittel dienen der Erfüllung der Trainingsinhalte bzw. deren Durchführung. Trainingsmethoden - Sie sind aus der Sportpraxis entwickelte und wissenschaftlich geprüfte Verfahren zur Verwirklichung bestimmter Trainingsziele. Beim Ausdauertraining werden damit beispielsweise Dauer- oder Intervallmethoden, beim Krafttraining Zirkel- oder Stationstraining bezeichnet. Auch die Trainingsmethoden müssen auf Trainingsinhalte und Zielvorstellungen ausgerichtet sein und sowohl die Grunderkrankung als auch die aktuelle Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit berücksichtigen.

Der Einsatz der Trainingsinhalte muss von der therapeutischen Zweckmäßigkeit, der Not­ wendigkeit, der Zuverlässigkeit, der Ökonomie und Effektivität geleitet werden und umfasst sowohl allgemein entwickelnde wie auch spe­ zifische Übungen. kAllgemein entwickelnde Übungen

Sie sollen als Basis – relativ unabhängig von der Art der Erkrankung – eine allgemeine Verbes­ serung physischer und koordinativer Fähigkei­ ten und Fertigkeiten sowie psychophysischer

16

und affektiver Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln, um die Gesamtheit der Risikofak­ toren zu beeinflussen. kSpezifische Übungen

Sie gehen auf die jeweilige Grunderkrankung und Einschränkung des Patienten ein, be­ gleiten die medizinische Therapie und sollen eventuelle strukturelle Einschränkungen eines Organs bzw. von Organsystemen beeinflussen (Hofmann et al. 2009).

Trainingsreize Nach den klassischen Richtlinien der medizini­ schen Trainingslehre werden hinsichtlich einer positiven Beeinflussung des pathogenetischen Geschehens bzw. zur Verbesserung der körper­ lichen Leistungsfähigkeit entsprechende Belas­ tungsreize benötigt. Diese müssen reizwirksam (überschwellig) sein, um die gewünschten Ef­ fekte zu erzielen; sie dürfen nicht unterbelas­ ten (unterschwellig, kein Trainingseffekt) und nicht überbelasten (zu stark überschwellig, Überlastung, Schädigungsmöglichkeit). Zur Steuerung können folgende Einzel­ komponenten des jeweiligen Trainingsreizes definiert werden:

Reizintensität Diese wird aus der Belastungsuntersuchung für das Ausdauertraining meist angegeben über 55 den Prozentsatz der Herzfrequenz bezogen auf die individuelle maximale Herzfre­ quenz, 55 die Herzfrequenzreserve bzw. die Karvo­ nen-Formel, 55 des Weiteren über die Borg-Skala (Borg 1970) oder 55 die Leistungsangaben (Watt, km/h) aus der Laktatleistungskurve, 55 im Krafttraining als Prozentsatz des Ein-Wiederholungsmaximums (1-RM, bzw. als Mehr-Wiederholungsmaximums).

Reizdichte Diese wird charakterisiert als das zeitliche Ver­ hältnis von Belastungs- und Erholungsphasen und trägt damit wesentlich zur Vermeidung

358

R. Crevenna et al.

einer Überbelastung bei. Je nach Grunder­ krankung müssen bei Patienten einerseits oft längere Regenerationszeiten beachtet werden, andererseits kann auch eine tägliche Auf­ einanderfolge von Belastungsreizen therapeu­ tisch sinnvoll sein.

Reizdauer

16

Diese charakterisiert die Dauer des Einzelrei­ zes in einer Trainingseinheit. Sie ist von der jeweils gewählten Trainingsmethode abhän­ gig, z. B. einer Dauer- oder Intervallmethode. Damit sind Reizdauer und Reizdichte eng mit­ einander korreliert. Darüber hinaus hängt sie auch von der Reizintensität ab, wobei grund­ sätzlich die Reizdauer umso kürzer sein wird, je höher die Reizintensität festgelegt wird. Für die optimale Vorgabe von Reizintensität, Reizdichte und Reizdauer gibt es eine Vielzahl von internationalen Richtlinien, wie etwa sei­ tens des ACSM (American College of Sports Me­ dicine 2002, 2010) oder des Swedish National Institute of Public Health (YFS 2010). (Aller­ dings muss festgehalten werden, dass bezüglich der Dosierung der erwähnten bzw. neuartiger Trainingsreize/Komponenten mitunter unter­ schiedliche Standpunkte bestehen, was weitere wissenschaftliche Evaluierungen nach sich zie­ hen sollte.) Darüber hinaus spielen äußere Fak­ toren, wie z. B. die vorgegebene Länge einer or­ ganisierten Trainingseinheit bei Gruppenarbeit, die Verfügbarkeit von Sportstätten, Anreisewege etc., ebenfalls eine beeinflussende Rolle. Zusammengefasst sei festgehalten, dass die derzeit gültigen trainingstherapeutischen Empfehlungen bei den meisten kardiozirku­ latorischen und metabolischen Erkrankungen zu evidenzbasierten, positiven Anpassungen führen (. Tab. 16.2).  

Reizumfang Dieser beschreibt die Dauer und die Zahl der Reize pro Trainingseinheit und ist somit eine Art Summenparameter aus Reizdichte und Reiz­ dauer. Im Falle einer Dauerbelastung kann der Umfang der Reizdauer entsprechen, beim Kraft­ training markiert er die Anzahl von Wiederho­ lungen, Serien und Sätzen. In etlichen Publikati­

..      Tab. 16.2  Erkrankungen mit evidenzbasierter, positiver Auswirkung eines körperlichen Trainings (Löllgen et al. 2014) Krankheitsbild

Evidenzgrad

Koronare Herzkrankheit: Primär- und Sekundärprävention

IA

Bluthochdruck (–4 bis –8 mmHg)

IA

Herzinsuffizienz

IA

Krebserkrankung (Dickdarm, Mamma, „Fatigue“)

IA

Krebserkrankung (Prostata)

IIb

Krebserkrankung, je nach Art

IA

Chronische Bronchitis (COPD)

IA

Andere Lungenkrankheiten

IB

Osteoporose (insbesondere Frauen)

IA

Sturzneigung

IA

Metabolisches Syndrom, Diabetes mellitus

IA

Fibromyalgie und Fatigue-­ Syndrom

IA

Periphere arterielle ­Verschlusskrankheit

IA

Depression

IB

Kognitive Funktion

IA

Neurologische Erkrankungen (Parkinson-Erkrankung)

IA

onen (Pedersen und Saltin 2006; Hofmann et al. 2009) wird festgehalten, dass dem Reizumfang im therapeutischen Training ein höherer Stellen­ wert als der Reizintensität zukommt.

Trainingshäufigkeit Diese beschreibt die Zahl der jeweiligen Trai­ ningseinheiten pro Tag bzw. pro Woche und wird v.  a. bei stationären Rehabilitationsauf­ enthalten durch die Zeiteinteilung des thera­ peutischen Gesamtkonzepts mitbestimmt.

359 Behandlung des Bewegungsapparats

16.4.6  Prinzipien des

therapeutischen Trainings

Dem Trainingsprozess unterliegen viele, durchaus unterschiedliche physiologische, pa­ thologische, biologische, psychologische, päda­ gogische Gesetzmäßigkeiten. Das Wissen über die Interaktion dieser Gesetzmäßigkeiten hilft, die Trainingstherapie effektiv zu gestal­ ten bzw. die methodische Handlungsfähigkeit von Patienten und Therapeuten zu optimieren (Weineck 2010; Hofmann et  al. 2009). Daher beziehen sich die Prinzipien des therapeuti­ schen Trainings in ihrer Komplexität auf alle Trainingsinhalte und Trainingsmethoden so­ wie auf die Organisation der Trainingstherapie und können als verbindliche Handlungsauf­ forderungen für Therapeut und Trainer ange­ sehen werden. In der allgemeinen Trainingslehre (Harre 1979; Weineck 2010), werden, je nach Autor, verschiedene Prinzipien des sportlichen Trai­ nings unterschiedlich systematisiert. Viele dieser Prinzipien gelten auch innerhalb der spezifischen Rahmenbedingung der Trainings­ therapie, während v.  a. jene der Zyklisierung und Periodisierung eine untergeordnete Rolle spielen, zumal wenn die rehabilitative Bewe­ gungstherapie im Akutkrankenhaus begonnen bzw. als stationäre Anschlussheilbehandlung im Rehabilitationszentrum fortgesetzt wird.

 rioritäre, allgemeine Prinzipien/ P Grundsätze der Trainingstherapie 55 Das Primum-nihil-nocere-Prinzip, besagt, dass unnötige Risiken durch Trainings­ belastungen zu vermeiden sind, um eine sichere und risikolose Entwicklung der Leistungsfähigkeit zu erzielen. Dies bedeu­ tet, dass eine Belastung zu wählen ist, die mit minimalem Risiko eine ausreichende, individuell unterschiedliche Trainings­ wirksamkeit ermöglicht. Daraus resultiert als Konsequenz, dass auch die Trainings­ therapie engmaschig zu überwachen und zu kontrollieren ist, um notwendige An­ passungen der jeweiligen Belastungsreize vornehmen zu können.

16

55 Die Trainingstherapie muss sich als Teil eines komplexen Rehabilitationskonzepts immer der Gesamtheit des Heilungsprozesses bzw. anderen therapeutischen Maßnahmen unter­ ordnen; gleichzeitig soll sie aber durch die er­ zielbare Verbesserung der Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit auch als therapeutischer Ansatz berücksichtigt werden. 55 Additiv sollte die Trainingstherapie für den Patienten auch pädagogische Hand­ lungsansätze realisieren. Sie muss dazu beitragen, dass Patienten die Grundlagen der Rehabilitation bzw. der Gesundheits­ erhaltung sowie den Einfluss der Trai­ ningstherapie auf verschiedene gesund­ heitsbezogene Parameter verstehen lernen (Wissen) und dadurch die Trainingsthera­ pie, adaptiert an individuelle Bedürfnisse, Neigungen und Wünsche, bewusst in den Alltag einbauen (Verhalten), um damit ihren Lebensstil positiv beeinflussen zu können. In diesem Zusammenhang muss auch Transparenz hinsichtlich der The­ rapieentscheidung und -durchführung zwischen Patienten und Trainer/Physio­ therapeut/Sportwissenschaftler bestehen, um alle Maßnahmen seitens des Patienten rationalisieren zu können. Unter diesen Prämissen (Weineck 2010; Hof­ mann et al. 2009) können folgende Prinzipien der Trainingstherapie formuliert werden:

Prinzip des trainingswirksamen Reizes Dieses ist das allgemeine Leitprinzip jeder Trainingsbelastung und besagt, dass jeder Be­ lastungsreiz eine bestimmte Schwelle über­ schreiten muss, damit ein Trainingseffekt erzielt werden kann. Die jeweilige Höhe des Trainingsreizes ist dabei von der Grunder­ krankung und vom Ausgangszustand der Leis­ tungsfähigkeit und der aktuellen Belastbarkeit des jeweiligen Patienten abhängig.

Prinzip der individualisierten Belastung Dieses Prinzip bedeutet, dass die jeweiligen trainingstherapeutischen Maßnahmen an die speziellen Bedürfnisse des Patienten, die Art

360

R. Crevenna et al.

und Ausprägung der Erkrankung bzw. etwai­ ger Komorbiditäten und auch die individuelle Akzeptanz angepasst und modifiziert werden müssen. Vor allem in späteren Stadien trai­ ningstherapeutischer Interventionen sollte bei der Auswahl der einzelnen Übungen darauf geachtet werden, ob es sich bei dem Patienten eher um einen ausdauer- oder einen kraftprä­ determinierten Typ handelt.

Prinzip der ansteigenden Belastung Es ergibt sich aus den gesetzmäßigen Bezie­ hungen zwischen Belastung, Anpassung und Leistungssteigerung. Grundsätzlich müssen  – diesem Prinzip entsprechend – die Trainings­ belastungen systematisch gesteigert werden, um Anpassungseffekte zu erzielen. Allerdings kann diese Systematik im Rahmen der Trai­ ningstherapie nur dann erfolgen, wenn die Grunderkrankung bzw. die rehabilitative Ver­ besserung pathophysiologischer Mechanismen eine Belastungsverträglichkeit und damit auch eine Steigerung der Belastung ermöglicht. Dies bedeutet, dass die jeweilige Belastungsgestal­ tung mit dem Therapieschema abgeglichen werden muss. Im sportlichen Training gelten als Hauptmittel zur Belastungssteigerung 55 eine Erhöhung des Belastungsumfangs und der Belastungsintensität (zumeist in dieser Reihenfolge), 55 eine Anhebung der Trainingshäufigkeit sowie 55 eine sprunghafte Belastungssteigerung.

16

Die letzte Möglichkeit steht bei der Trainings­ therapie nur in beschränktem Ausmaß zur Verfügung, da die jeweilige Grunderkrankung bzw. symptomlimitierte Belastungsgrenzen sprunghafte Steigerungen der Trainingsbelas­ tung einschränken bzw. unmöglich machen. Auch bei trainingstherapeutischen Inter­ ventionen gilt unter diesen Voraussetzungen, dass zunächst der Belastungsumfang gestei­ gert wird, zumeist durch eine Erhöhung der Trainingshäufigkeit, dann die Trainingsdauer und schließlich, wenn keine limitierenden Faktoren gegeben sind, auch die Trainingsin­ tensität.

>> Es ist zu beachten, dass im Rahmen der Trainingstherapie nur allmähliche Belastungssteigerungen vorgenommen werden sollen (Hofmann et al. 2009; Mewes 2013a). Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass insbesondere bei Kräftigungsübungen auch eine verbesserte Bewegungskoordination (inter- und intramuskulär) zur Leistungsverbesserung führen kann und daher entsprechende Übungen in den Gesamttrainingsplan einzubauen sind.

Prinzip der richtigen Belastungsfolge Dieses spielt v. a. in späteren Stadien der Trai­ ningstherapie (z. B. in der ambulanten Phase III bzw. in Herzgruppen in der Phase IV der Re­ habilitation) eine Rolle, wobei entsprechend den allgemeinen Prinzipien der Trainingslehre zunächst mit koordinativ aufwändigen Übun­ gen begonnen werden sollte, gefolgt von Kraftbzw. Kraft-Ausdauer-­Belastungen und schließ­ lich zuletzt solchen, die der Verbesserung der Ausdauer dienen (Weineck 2010; Hofmann et al. 2009).

Prinzip der variierenden Belastung Dieses Prinzip soll einer gewissen Trainings­ monotonie und einem damit möglicherweise einhergehenden Motivationsverlust vorbeugen. Darüber hinaus können methodische Varia­ tionen der Belastung auch zusätzliche Anpas­ sungseffekte nach sich ziehen, wobei auch hier wieder die jeweilige Belastbarkeit des Patienten im Rahmen des therapeutischen Gesamtkon­ zepts beachtet werden muss. Ein Beispiel für va­ riierende Belastungen liegt in der Möglichkeit, von Intervallmethoden ausgehend Intervalle und Pausen so zu verändern, dass letztendlich Dauerbelastungen realisiert werden können. Des Weiteren umfasst das Prinzip der va­ riierenden Belastungen auch das Eingehen auf die jeweilige Lebenssituation des Patienten, seine Möglichkeiten, zu Hause zu trainieren bzw. Übungsstätten verkehrstechnisch zu er­ reichen, sowie die Auswahl der richtigen Trai­ ningsmittel nach jahreszeitlichen Gegebenhei­ ten (Winter – Sommer).

361 Behandlung des Bewegungsapparats

Prinzip der wechselnden Belastung Es besagt, dass unterschiedliche Belastungs­ reize, wie z. B. Koordinations-, Ausdauer- oder Krafttraining den Organismus bzw. Organsys­ teme unterschiedlich belasten und daher auch eine unterschiedliche Regenerationsdauer nach sich ziehen. Dies ist durch den richtigen Wechsel bzw. die richtige Abfolge der jewei­ ligen Trainingsreize zu steuern, wobei dieses Prinzip eng mit dem folgenden, dem Prinzip der optimalen Relation von Belastung und Er­ holung, zusammenhängt.

Prinzip der optimalen Relation von Belastung und Erholung Dieses Prinzip ist die Basis aller trainingsbeding­ ten Anpassungsphänomene des Organismus und läuft in mehreren Phasen ab: nach einer Be­ lastung (Belastungsphase) kommt es zu einer vo­ rübergehenden Reduktion funktioneller Fähig­ keiten und – bei höheren Belastungsreizen – zu einer Reduktion der Leistungsvoraussetzungen/ Leistungsfähigkeit, welche von einer Wieder­ herstellungsphase gefolgt wird. In dieser Wieder­ herstellungsphase tritt nicht nur eine Rückkehr zu den Ausgangswerten funktioneller Fähigkei­ ten bzw. der allgemeinen Leistungsfähigkeit ein, sondern darüber hinaus eine Erhöhung dieser Ausgangswerte (Superkompensation). Ein klassi­ sches Beispiel ist der Glykogenspiegel in der Ar­ beitsmuskulatur und in der Leber, welcher nach einer starken Belastung bei adäquater Ernährung nicht nur wieder auf das Ausgangsniveau, son­ dern darüber hinaus aufgefüllt wird, wodurch eine Verbesserung der Ausdauerleistungsfähig­ keit resultiert. Das Prinzip der optimalen Relation von Be­ lastung und Erholung besagt, dass eine positive Anpassung dann erfolgt, wenn nachfolgende Trainingsreize in dieser Phase der Superkom­ pensation gesetzt werden, wodurch es  – wie bei einer „Treppe“ – zu einer allmählichen Er­ höhung der Leistungsfähigkeit kommt. Wenn keine oder ungenügende Trainingsreize zum falschen Zeitpunkt gesetzt werden, kann keine positive Anpassung erfolgen, und das Niveau bleibt im Bereich des Ausgangswerts.

16

>> Prinzipiell muss dieses Prinzip auch im Rahmen der Trainingstherapie eingehalten werden, allerdings sollten keine Trainingsreize in Phasen unvollständiger Wiederherstellung gesetzt werden, da daraus Gefährdungen des Patienten durch Überbelastungen resultieren können.

Prinzip der Zyklisierung zur Sicherung der Anpassung Dieses Prinzip bedeutet im Sport die Einhal­ tung des Prinzips der kontinuierlichen Belas­ tung, des Prinzips der periodisierten Belastung sowie der periodisierten Regeneration. Im Rahmen der Trainingstherapie spielt v. a. das Prinzip der kontinuierlichen Belastung eine Rolle, da nur die Kontinuität regelmäßiger Trainingsreize zu einem Anstieg der Leistungs­ fähigkeit führt, wobei erkrankungsbedingte Grenzen, insbesondere bei chronisch kran­ ken Patienten, berücksichtigt werden müs­ sen. Prinzipielle Zielstellung bei chronischen Erkrankungen ist ein lebenslanges physisches Training, welches sich den entsprechenden Rehabilitationsphasen anpassen muss und schließlich als selbstständiges Üben und Trai­ nieren Bestand haben soll. Dabei darf nicht von einer uneingeschränkten Verbesserung der Leistungsfähigkeit ausgegangen werden, da in vielen Fällen und bei vielen Erkrankungen nur eine Stabilisierung der Leistungsfähigkeit auf einem möglichst hohen Niveau, zusammen mit einer Minimierung altersbedingter Leis­ tungseinschränkungen, als Zielvorstellung er­ reicht werden soll. >> Es muss festgehalten werden, dass es bei einer Unterbrechung des Trainings (z. B. durch schlechte Adhärenz, Wiedererkrankung, Krankheitsschübe) in jedem Fall zu einer negativen Anpassung der Leistungsfähigkeit, also einer Abnahme aller durch Training erzielten Leistungsmerkmale bzw. Belastbarkeitsfaktoren, kommt. Daher sind auch im Rahmen von Urlaubs- oder Ferienzeiten Trainingseinheiten zu planen, um dem Prinzip der variierenden Belastungen zu entsprechen.

362

R. Crevenna et al.

Nach diesen Prinzipien sollten die Trainings­ pläne in den jeweiligen rehabilitativen Phasen erstellt werden, wobei auf das jeweilige Lebens­ alter bzw. auch auf geschlechtsspezifische Un­ terschiede Rücksicht genommen werden muss. Als Gesamtziel der Trainingsplanung sollte eine normale Leistungsfähigkeit bzw. eine dem Alter entsprechende erhöhte Leistungsfähigkeit ange­ strebt werden, auch wenn dieses Ziel für man­ che Patienten in Abhängigkeit von ihrer Grund­ erkrankung nicht mehr in vollem Umfang erreichbar sein wird. Dies benötigt langfristige Trainingspläne, welche – nach Teilzielen ausge­ richtet – über längere Zeiträume entsprechend der Kontinuität der Belastung und der Belas­ tungssteigerung konzipiert werden müssen. >> Als wichtigstes Ziel der Trainingsplanung gilt ein selbstständiges, unabhängiges und nichtangeleitetes Training des Patienten, also die Integration trainingstherapeutischer Maßnahmen in den Alltag und somit eine Änderung des gesamten Lebensstils.

Therapeutische Trainingspläne müssen somit 55 angestrebte Ziele und die zur Erreichung notwendigen Planungszeiträume berück­ sichtigen, 55 Teilziele und die entsprechenden Auf­ gaben im Sinne einer Phasenstruktur definieren, 55 die jeweiligen Trainingsinhalte, -mittel und -methoden darauf abstimmen sowie 55 Leistungskontrollen vorsehen.

16

Dies bedeutet, dass im Sinne einer prozessbe­ gleitenden Evaluation die jeweiligen Therapie­ erfolge je nach den gesteckten Teilzielen bzw. Gesamtzielen evaluiert werden müssen, was auch eine entsprechende Dokumentation not­ wendig macht. Durch die Aufzeichnung sämt­ licher Trainingsbelastungen kann mittels einer Gegenüberstellung mit den Ergebnissen einer Kontrolluntersuchungen evaluiert werden, ob 55 die jeweiligen Trainingsbelastungen zweckmäßig waren, 55 die richtigen Trainingsinhalte und -me­ thoden gewählt wurden,

55 Intensität, Dauer und Häufigkeit den jeweiligen Zielvorstellungen entsprachen bzw. 55 die richtige Abfolge zwischen Belastung und Erholung gewählt wurde. >> Festzuhalten ist, dass eine gute Trainingsdokumentation zu einer deutlichen Motivationsverbesserung der Patienten führen kann.

Die Vielzahl an chronischen Erkrankungen zieht eine Vielzahl an trainingstherapeutisch differenzierten Belastungen nach sich. Dabei sind Prävention und Therapie diverser Erkran­ kungen mit hoher und höchster Evidenz gesi­ chert (. Tab.  16.3). Die relative Veränderung von Morbidität und Mortalität kann in einigen Bereichen sogar jene von Medikamenten errei­ chen bzw. übersteigen. Als Konsequenz dieser Befunde sollten trainingstherapeutische Interventionen nicht nur schon im Akutkrankenhaus durchgeführt werden, sondern auch im Entlassungsbericht aufgenommen werden, wie es das nachste­ hende Muster für einen Patienten mit KHK und Bluthochdruck beschreibt.  

Muster eines Entlassungsberichts (Löllgen et al. 2014) „Soll-Vorschlag“: Pat. Muster, Manfred; KHK, Bluthochdruck 55 Regelmäßige körperliche Aktivität: ȤȤ Frequenz: 3- bis 4-mal pro Woche ȤȤ Intensität: Moderat: Borg 11–13 oder Herzfrequenz 105–140/min ȤȤ Dauer: 40–50 Minuten ȤȤ Art: ȤȤ Schnelles Gehen (Walking, Nordic Walking) ȤȤ Radfahren, Schwimmen, Tanzen ȤȤ Ergometer-Training, Crosstrainer, Laufband 55 Medikamente: ȤȤ Candesartan 16 mg 1 × 1 ȤȤ Bisoprolol 2,5 mg 1 × 1 ȤȤ Aspirin 100 1 × 1

363 Behandlung des Bewegungsapparats

ȤȤ Statin 10–20 mg 1 × 1 ȤȤ Molsidomin vor Belastung: 8 mg 55 Kontrolluntersuchungen: 8–12 Wochen bzw. in Abhängigkeit von eventuell auftretenden Komplikationen

..      Tab. 16.3  Wirkung der körperlichen Aktivität im Vergleich mit einigen medikamentösen oder operativen (PCI) Behandlungen (Löllgen et al. 2014) Erkrankung

Körperliche Aktivität

Medikament oder PCI

Herzerkrankung (KHK)

40 % Risikominderung

24 % Risikominderung (Statine)

Stabile KHK

88 % Überleben nach 1 Jahr

70 % Überleben 1 Jahr nach PCI

Typ-2-­ Diabetes

58 % weniger Auftreten

31 % weniger Auftreten (Metformin)

Hüftfraktur

55 % weniger Auftreten

38 % weniger Auftreten (Risedronat)

Brustkrebs (Erstmanifestation)

40 % Risikominderung

38 % weniger Auftreten und Risikominderung (Tamoxifen)

Brustkrebs (Rezidiv)

54 % Senkung der Mortalität

59 % Reduktion der Mortalität (Tamoxifen)

Schwere Depression

Körperliche Aktivität gleich wirksam wie Sertralin (64 % Reduktion) mit Rückfallrate von 30 %

Sertralin gleich wirksam wie körperliches Training (65,5 % Reduktion) mit Rückfallrate von 52 %

16

16.4.7  Detaillierte Trainingsinhalte

Eine Trainingstherapie sollte  – wenn keine Kontraindikationen dagegen sprechen  – fol­ gende Trainingsinhalte umfassen: 55 Aerobes Ausdauertraining, 55 funktionelles Krafttraining, 55 Beweglichkeitstraining, 55 umfassendes Koordinationstraining (be­ inhaltet auch die Technik in bestimmten Sportarten, z. B. Skilanglauf: je besser die Technik, desto geringer ist die kardiozir­ kulatorische und metabolische Belastbar­ keit bei gegebenen Geschwindigkeiten), 55 mentales Training (Entspannung, Freiset­ zen von positiver Energie). Durch die Vielzahl an chronischen Erkran­ kungen, die Alters- und Geschlechtsspezifität der Patienten kann in diesem Beitrag nicht auf eine detaillierte Trainingsplanung eingegangen werden. Zusätzlich hängen die trainingsthe­ rapeutischen Interventionen von der Schwere der jeweiligen Grunderkrankung und den da­ mit gegebenen absoluten oder relativen Kon­ traindikationen gegen bestimmte Trainingsin­ halte, etwa Krafttraining, ab. Daher werden hier jene Wirkungen von Ausdauer- und Krafttraining zusammenge­ fasst, die bei allen Erkrankungen ihre Wirk­ samkeit durch die jeweilige Trainingsform ent­ falten können (. Tab. 16.4).  

Hinweise zum Ausdauertraining Das Erreichen von (Teil-)Zielen in therapeu­ tischem Ausdauertraining erfolgt nach den in 7 Abschn. 16.4.5 genannten Grundlagen unter Verwendung adäquater Trainingsmethoden. Im Sport zählen zu den klassischen Trainings­ methoden 55 die Dauermethode, 55 die Intervallmethode, 55 die Wiederholungsmethode, 55 die Wettkampfmethode.  

KHK koronare Herzerkrankung, PCI perkutane koronare Intervention

>> Aufgrund der hohen Belastungen sind die Wiederholungs- und die Wettkampfmethode in der Trainingstherapie nicht indiziert.

364

R. Crevenna et al.

..      Tab. 16.4  Wirkungen von Kraft- und Ausdauertraining (Wonisch et al. 2009b)

einfachen

Orientierung

ist

in



Variable

Aerobes Training

Krafttraining

in Prozent der maximalen Herzfrequenz und der subjektiv wahrgenommenen Belastung, auf einer 10-stufigen Borg-Skala dargestellt.

Ruheherzfrequenz

↓↓



Dauermethoden

Schlagvolumen in Ruhe und maximal

↑↑



– Systolisch – Diastolisch

↓↔ ↓↔

↔ ↓↔

VO2max

↑↑↑

↑↔

Submaximale und maximale Ausdauerleistung

↑↑↑

↑↑

↓↓ ↓ ↑↑

↓↓ ↓ ↑↑

– HDL – LDL

↑↔ ↓↔

↑↔ ↓↔

Basaler Stoffwechsel



↑↑

Kontinuierliche Belastung ohne Pausen, wobei zwischen intensiven und extensiven Formen unterschieden werden kann. Unter variablen Dauermethoden wird ein Belastungsschema verstanden, bei dem zwischen höheren und niedrigeren Belastungen gewechselt wird, wo­ bei üblicherweise die anaerobe Schwelle nicht überschritten wird. Dazu zählen die Wechselmethode (vor­ gegebener Belastungswechsel) oder das Fahrtspiel (durch Gelände  – Steigungen/Gefälle  – bedingte Belastungswechsel). Der Vorteil dieser Methoden liegt darin, dass bei gleicher mittlerer Belastung kurzfristig auch höhere Belastungen erreicht werden können, woraus spezifische Wirkungen auf die Muskulatur resultieren. Zu beachten ist ferner, dass bei einer gegebenen Intensität üblicherweise die erreichten Herzfrequenzen beim Schwimmen und Radfahren niedriger, beim Laufen und Skilanglauf höher liegen.

Blutdruck:

Glukosestoffwechsel: – Insulinantwort auf Glukosestimulation – Basale Insulinspiegel – Insulinsensitivität Serumlipide:

Körperzusammensetzung:

Intervallmethoden

– % Fett – Fettfreie Masse – Kraft

↓↓ ↔ ↔

↓ ↑↑ ↑↑↑

Knochendichte

↑↑

↑↑

VO2max maximale Sauerstoffkapazität

16 Die Intensität bzw. davon abgeleitet die Dauer (der jeweiligen Belastung) wird durch die Er­ gebnisse der Ergometrie, das jeweilige Leis­ tungsniveau und die Belastbarkeit des Patien­ ten sowie durch die Zielvorgaben (z.  B. aus der Karvonen-Formel, . Abb.  16.8; s.  auch 7 Abschn.  16.4.3, Ergometrische Daten zur Steuerung der Trainingsintensität) bestimmt; es werden die genannten Steuerungsmethoden verwendet.  



Zur

. Tab. 16.5 die relative Intensität, ausgedrückt

Es kommt zu einem geplanten Wechsel zwi­ schen höheren Belastungen und Pausen, die so organisiert werden, dass keine vollständige Erholung erfolgt (lohnende Pause). Diese Pau­ sen können aktiv und passiv gestaltet werden. Dieses Belastungsschema hat den Vorteil, dass höhere Belastungen, die als Dauermethode nicht realisiert bzw. toleriert werden können, durch die Pausengestaltung möglich werden und somit höhere Gesamtbelastungen ab­ solviert werden können. Intervallmethoden können beispielsweise bei sehr stark kardial eingeschränkten Patienten (z. B. mit Herzinsuf­ fizienz) durchaus besser vertragen werden als Dauerbelastungen, weil dabei eher die Adap­ tation der peripheren Mechanismen (Musku­ latur) als zentrale Mechanismen angesprochen werden. Die Variante einer Intervallmethode

16

365 Behandlung des Bewegungsapparats

Leistung A-1

Trainingsbereiche:

HF-Trainingsintensität:

60 %.......

KARVONEN-Formel zur Berechnung der Trainingsherzfrequenz:

..      Abb. 16.8  Herzfrequenzsteuerung des Ausdauertrainings (Bachl und Schwarz 2006). Gesamtenergie (grün), freie Fettsäuren (blau), Kohlenhydrate (grau).

ist dann anzuwenden, wenn Patienten mit sehr stark eingeschränkter Leistungsfähigkeit eine Dauermethode nicht tolerieren (Hofmann et al. 2009). In diesem Fall empfehlen sich Intervallme­ thoden (z. B. schnelles und langsames Gehen), bei welchen das Verhältnis zwischen Belastung und Pausen allmählich gesteigert wird, so bei­ spielsweise von 2:1 auf 3:1, dann 4:2, dann 5:2, dann 6:3, dann 10:3 etc., bis eine Dauerme­ thode möglich wird. >> Wichtig ist es, zu berücksichtigen, dass bei Patienten die Trainierbarkeit (besonders im höheren Lebensalter) eingeschränkt und die Wiederherstellung nach einer Belastung verlängert sein kann. Dies bedeutet, dass oft längere Pausen

A-2

70 % .......

A-3

80 %.......

A-4

90 %....... 100 %

THF = RHF + (MHF – RHF) ´ TI

HF Herzfrequenz, THF Trainingsherzfrequenz, RHF Ruheherzfrequenz, MHF maximale Herzfrequenz, TI Trainingsintensität

nach Sport- und Trainingseinheiten notwendig sind, v. a. wenn sie intensiver gestaltet werden.

Sportartenauswahl 55 Walking, 55 Nordic Walking, 55 Laufen, 55 Nordic Running, 55 Radfahren, 55 Mountainbiken, 55 Low-Impact-Aerobic, 55 Schwimmen, 55 Aqua-Jogging, 55 Schneeschuh-Gehen, 55 Skiwandern, 55 Skilanglauf, 55 Indoor-Fitness,

366

R. Crevenna et al.

..      Tab. 16.5  Belastungsintensität (Bachl und Schwarz 2006) Intensität

% der maximalen Herzfrequenz

10-stufige BorgSkala

RPE (Borg)

Sehr leicht

< 50

1–2

Sehr leicht

Leicht

50–63

3–4

Mittel

64–76

Höher

Prozent des 1-RM

RPE (Borg Skala)

Schwere

10–20

1–2

Sehr leicht

30–40

3–4

Leicht

Leicht

50–60

5–6

Mittelschwer

5–6

Mittelschwer

70–80

7–8

Schwer

90

9

Sehr schwer

77–93

7–8

Schwer

100

10

Extrem schwer

Sehr hoch

≥ 94

9

Sehr schwer

Maximal

100

10

Extrem schwer

RPE rating of perceived exertion (Anstrengungsempfinden)

55 55 55 55 55 55 55

16

..      Tab. 16.6  Prozente des 1-Wiederholungsmaximums mit Bezug auf die 10-teilige Borg-Skala (Morishita et al. 2013)

Tanzen, Tischtennis, Badminton, Tennis, Golf, Mannschaftsspiele, Bewegungsspiele (Spiele z. T. modifiziert).

>> 5 Vor allem anfangs sind Sportarten zu vermeiden, bei denen große Stoß-, Zug-, Druck – oder Scherkräfte auftreten. 5 Vorsicht bei Inline-Skating, Nordic Blading, Ski-Roller; nur bei Vorerfahrung, guter technischer Ausführung und ausreichender Leistungsfähigkeit/ Belastbarkeit. 5 Bei Ski alpin zu große Höhen vermeiden!

Hinweise zum Krafttraining Üblicherweise wird beim Krafttraining einem Stufenplan gefolgt, welcher einer Pyramide ähnelt. Basis dieser Pyramide ist ein Gewöhnungstraining (Kennenlernen der Geräte, Er­ lernen der richtigen Technik), bei dem etwa

1-RM 1-Wiederholungsmaximum, RPE rating of perceived exertion (Anstrengungsempfinden)

mit 30  % des 1-Wiederholungsmaximums (1-RM) bzw. einer Kategorie zwischen 2 und 3 nach der Borg-Skala belastet wird (Morishita et al. 2013) (. Tab. 16.6). Anschließend folgt in aufsteigender Rei­ henfolge ein Kraft-Ausdauer-Training, bei dem die Intensität zwischen 30  % und 60  % des 1-RM liegt (Borg-Skala 4–6), wobei je nach Schwere zwischen 25 und 15 Wiederholungen durchgeführt werden sollten. Die Pausen zwi­ schen den Sätzen können 30 Sekunden oder 1 (2) Minuten betragen. Mit 1–3 Sätzen begin­ nend, können später 3–5 Sätze in langsamer Steigerung durchgeführt werden. Nach dem Kraft-Ausdauer-Training kommt das Muskelaufbautraining, welches mit 60–80  % bei 6–15 Wiederholungen (BorgSkala 6–8) und 2–5 Sätzen (Satzpause 1–3 Mi­ nuten) durchgeführt wird (. Tab. 16.6). Maximalkraft- und Reaktivkrafttraining werden üblicherweise im Rahmen der Trai­ ningstherapie nicht eingesetzt. Bei vielen Patienten kann das 1-Wiederho­ lungsmaximum aufgrund einer eingeschränk­ ten Belastbarkeit nicht erhoben werden. In diesem Fall kann nach der Methode der Be­ stimmung des „Wiederholungsmaximums“ vorgegangen werden, bei der der Patient auf­  



367 Behandlung des Bewegungsapparats

gefordert wird, mit einer bestimmten, etwas niedrigeren Intensität (Gewicht) möglichst viele Wiederholungen durchzuführen. >> Obwohl verschiedene Literaturangaben zu finden sind, kann festgehalten werden: etwa 7–10 Wiederholungen entsprechen einer Intensität (einem Gewicht) von 80 % des 1-Wiederholungsmaximums, 11–15 Wiederholungen einer Intensität (einem Gewicht) von etwa 70 % und 17–25 Wiederholungen einem Gewicht von etwa 60 % des 1-Wiederholungsmaximums.

55 Zuerst ein Satz, dann 2–3, später auch mehr Sätze 55 2- bis 3-mal über die Woche verteilte Trainingseinheiten

Beispielhaft sind im Rahmen der Trainings­ therapie in der kardiologischen Rehabilitation die Richtlinien für ein Krafttraining (Wonisch et al. 2009b) dargestellt (. Tab. 16.7).  

 inweise zum KoordinationstraiH Das dargestellte Trainingsschema kann in „py­ ning ramidenförmig ansteigender“ Umsetzung für die 6–8 (12) großen Muskelgruppen durchge­ führt werden, wobei dem eigentlichen Kraft­ training eine Aufwärmperiode mit progres­ siven Belastungen vorangestellt werden und danach eine Abwärmphase folgen soll. Richtlinien beim Krafttraining (­Mewes 2013a; Wonisch et al. 2009b) 55 Training großer Muskelgruppen vor kleinen 55 Steigerung des Gewichts um 5 %, wenn mehr als 12–15 Wiederholungen möglich sind 55 Ausführung: langsame, kontrollierte Bewegungen 55 Überanstrengungen sollten vermieden werden 55 Ausatmung während der konzentrischen Phase der Bewegung, Einatmung während der exzentrischen Phase 55 Bei Auftreten von Warnsymptomen wie Schwindel, Arrhythmien, Kurzatmigkeit oder Angina-pectoris-Symptomatik muss das Training gestoppt werden 55 8–12 Übungen, die nacheinander alle größeren Muskelgruppen des Körpers aktivieren 55 Pausenintervalle zwischen den Serien 30 Sekunden bis 2 (3) Minuten (je nach Art des Krafttrainings)

16

Koordinationstraining dient der Ökonomisie­ rung von Bewegungsabläufen, woraus eine ge­ ringere Ermüdbarkeit, ein vermindertes Aus­ maß an Krafteinsätzen bei Alltagsbewegungen sowie ein verminderter Energieaufwand resul­ tieren. Darüber hinaus wird die Verletzungsge­ fahr durch eine Verminderung der Sturzgefahr und der Unfallgefahr zu Hause bzw. bei sport­ lichen Betätigungen verringert. Fundamentale koordinative ­Fähigkeiten 55 Orientierungsfähigkeit: Fähigkeit, sich im Raum zielorientiert zu bewegen 55 Differenzierungsfähigkeit: Durchführung von genau und fein mit dem passenden Krafteinsatz abgestimmten Bewegungsabläufen 55 Gleichgewichtsfähigkeit: Fähigkeit, den Körper im Gleichgewicht zu halten bzw. dieses wieder herzustellen 55 Reaktionsfähigkeit: schnelles und zweckgerichtetes Handeln auf Signale oder überraschende Bewegung 55 Rhythmisierungsfähigkeit: zeitlich und dynamische Gliederung von Bewegungsabläufen und Fähigkeit, Strukturen von Bewegungen zu erfassen, zu speichern und umzusetzen

368

R. Crevenna et al.

..      Tab. 16.7  Trainingsaufbau (Wonisch et al. 2009b) Trainingsaufbau

Trainingsziel

Belastungsform

Intensität

Wiederholungszahl

Trainingsumfang

Erlernen und Einüben einer richtigen Durchführung; Verbesserung der intermuskulären Koordination

Dynamisch

< 50 % des 1-RM

8–12

2 Einheiten pro Woche 6–8 Muskelgruppen 1–2 Sätze pro Muskelgruppe

Vergrößerung des Muskelquerschnitts (Hypertrophie); Verbesserung der intramuskulären Koordination

Dynamisch

60–80 % des 1-RM

8–12

2 Einheiten pro Woche 6–8 Muskelgruppen Je 2 Sätze pro Muskelgruppe

Stufe I Vorbereitung des Trainings (3–4 Wochen) Stufe II Muskelaufbautraining

1-RM 1-Wiederholungsmaximum

Im Rahmen eines trainingstherapeutischen Gesamtprogramms sollten neben dem Üben einfacher Koordinationsparcours täglich Ko­ ordinationsübungen durchgeführt werden wie 55 Ein-Bein-Stand beim Anziehen der Schuhe, 55 Jonglieren mit Büchern, 55 Zielwerfen mit kleinen Steinen, 55 Balancieren von Plastikflaschen, 55 Orientieren in abgedunkelten Räumen. Diese Übungen erfordern nur wenige Minu­ ten, um trainingswirksam zu sein, und können über den ganzen Tag verteilt werden.

16

 inweise zum BeweglichkeitstraiH ning Beweglichkeit ist die motorische Fähigkeit, ba­ sierend auf der muskulären Dehnbarkeit und der reflektorischen Reaktion verschiedener Gewebe eine durch die jeweilige Gelenkstruk­ tur vorgegebene Amplitude innerhalb eines Bewegungsablaufs auszuschöpfen sowie Kör­ perhaltungen in maximalen Winkelstellungen der beteiligten Gelenke einnehmen zu können. Die Beweglichkeit wird v. a. von der Dehnfä­

higkeit der Sehnen, Bänder und Gelenkkap­ seln sowie von der Gelenkstruktur bestimmt, welche die Bewegungsamplitude im betreffen­ den Gelenk charakterisiert. Beim aktiven Mobilisieren werden mittels Beuge- und Streckbewegungen sowie durch Pendel- und Drehbewegungen die Gelenk­ flächen bei möglichst geringem Druck als Eigenbewegung übereinander geführt; bei der passiven Mobilisation wird dies von Trai­ ningspartnern und Trainern oder Therapeu­ ten ausgeführt. Das „Dehnen“ zielt auf eine Anspannung mit folgender Entspannung der Muskulatur und der begleitenden Strukturen, besonders des Bindegewebes, ab. Beim Deh­ nen werden dynamische und statische Dehn­ prozeduren unterschieden sowie je nach Aus­ führung eine aktive bzw. passive Form. Ziele von Beweglichkeitstraining (2- bis 3-mal pro Woche) 55 Erhalt bzw. Verbesserung der Gelenkigkeit 55 Erhalt bzw. Verbesserung der Dehnfähigkeit der Muskulatur

16

369 Behandlung des Bewegungsapparats

55 Erhalt bzw. Vermeidung oder Beseitigung muskulärer Dysbalancen 55 Verbesserung des Körpergefühls und der Körperwahrnehmung

wird auf allgemeinen Prinzipien der Lebens­ stilveränderung, des Trainings und der Trai­ ningstherapie ausführlich eingegangen. Ein aktuelles Update stellt die Publikation verschiedener Autoren der Europäischen Ge­ sellschaft für Sportmedizin (7 www.­efsmascientific.­eu) dar, in der für eine Vielzahl von Erkrankungen und Risikofaktoren trainings­ therapeutische Interventionen zusammenge­ fasst sind.  

Aufwärmen und Abwärmen Jede Bewegungseinheit sollte in eine Einlei­ tungs-, eine Haupt- und eine Abschlussphase gegliedert werden. Synonyme Begriffe sind Aufwärmen bzw. Abwärmen. Je nach Inhalt des Hauptteils der Trainingsbelastung sollte der Aufwärmprozess etwa 10 Minuten und der Abwärmprozess 5–20  Minuten dauern. Mit zunehmendem Lebensalter sollte sich die Auf­ wärmphase verlängern. Ein klassischer Aufwärmprozess beginnt mit einer Aktivierungsphase, es folgt ein Mobi­ lisieren, dann Dehnen und dann Koordinieren, um auf die jeweilige sportlich ausgerichtete Bewegungstechnik vorzubereiten. Beim Ab­ wärmen folgt einem langsamen Deaktivieren mit geringerer Intensität ein Detonisieren, also z. B. Auslockern mit Selbstmassage, Übungen zur Gelenkmobilisation, anschließend Dehnen von nicht überbeanspruchten Muskeln, wo­ raufhin eine aktive oder passive Regeneration (z.  B.  Sauna, Dampfbad, Vollbad, Wechseldu­ sche, Massage) erfolgen kann. 16.4.8  Beispiele präventiver

und rehabilitativer Trainingstherapien

Für eine detaillierte Planung der Trainingsthe­ rapie sei auf die entsprechenden Publikationen nationaler und internationaler Fachgesell­ schaften, wie z.  B.  ACSM (American College of Sports Medicine 2002, 2010), sowie auf die Publikation Physical Activity in the Prevention and Treatment of Disease des Swedish National Institute of Public Health (Professional Association for Physical Activity, Sweden) (YFS 2010) verwiesen, welche über Internet abrufbar ist. In dieser ausgezeichneten Zusammenstellung

16.4.9  Fallbeispiel

Patient 39  Jahre, 188  cm, 84  kg, in gu­ tem ­ Allgemein- und Ernährungszustand, BMI 23,77  kg/m2; interner und orthopädi­ scher ­ Status unauffällig, EKG-Sinusrhythmus: 71 Schläge/min, unauffälliger Kurvenverlauf. Erstuntersuchung: Februar 2015

kAnamnese

Unauffällig bis auf eine Kreuzbandplastik am linken Knie; derzeit ohne Beschwerden. kTrainingsanamnese

Hauptsportart Radfahren, Nebensportart: Schwimmen; Trainingsziel: Gesundheitssport, Hobby-Rennen, Verbesserung der Grundla­ genausdauer. Derzeitige Jahreskilometer zwi­ schen 4900 und 5900 km. kErgebnisse der Ergometrie Stufenzahl

Maximalwerte

Submaximalwerte (aerobe Schwelle)

Submaximalwerte (anerobe Schwelle)

7





Watt (Leistung)

294

171

214

Watt pro kgKG

3,5

2,04

2,55

Puls (Schläge/ min)

176

139

155

370

R. Crevenna et al.

Stufenzahl

Maximalwerte

Submaximalwerte (aerobe Schwelle)

Submaximalwerte (anerobe Schwelle)

8





Laktat (mmol/l)

12,0

2

4

32,73

VO2 (ml/ kgKG) berechnet

53,92

39,131

44,55

72,79

% der Maximalleistung

100

70,29

81,18

Maximalwerte

Submaximalwerte (aerobe Schwelle)

Submaximalwerte (anerobe Schwelle)

7





Laktat (mmol/l)

11,6

2

4

VO2 (ml/ kgKG) berechnet

43,53

26,91

% der Maximalleistung

100

58,16

Dem Patienten wurden sowohl die Herz­ frequenzbereiche für regeneratives Training, stabilisierendes Training und entwickelndes Training übermittelt, sowie – bezogen auf sein Trainingsziel  – eine langsame Steigerung des Gesamtumfangs bei etwa gleicher Verteilung zwischen Grundlagenausdauer und entwi­ ckelndem Training. zz Zweitbefund: Februar 2016

Kilometerleistung im Jahr 2015: 10.000  km, Körpergewicht: 77,5 kg, BMI 21,93 kg/m2. Kli­ nische Untersuchung unauffällig, EKG-Sinus­ rhythmus: 62  Schläge/min, unauffälliger Kur­ venverlauf. kErgebnisse der Ergometrie Stufenzahl

Maximalwerte

Submaximalwerte (aerobe Schwelle)

Submaximalwerte (anerobe Schwelle)

8





Watt (Leistung)

340

239

276

Watt pro kgKG

4,39

3,08

3,56

Puls (Schläge/ min)

184

156

167

16

Stufenzahl

kVergleich von Herzfrequenz und Laktat-Leistungskurven an den beiden Untersuchungsterminen

Die Ergebnisse der zweiten Ergometrie zeigen eine eindeutige Rechtsverschiebung der Laktat­ leistungskurve mit Verbesserung der Grundla­ genausdauer und etwa gleicher Charakteristik im aerob-anaeroben Übergang sowie im anae­ roben Bereich. Durch die Verbesserungen an der aeroben und anaeroben Schwelle können im submaximalen Bereich höhere Leistungen über eine bestimmte Zeitdauer besser toleriert werden. Oder anders ausgedrückt: Bei gleicher physikalischer Leistung ist die kardiozirkulato­ rische (Herzfrequenz niedriger) und die meta­ bolische (Laktat niedriger) Beanspruchung geringer. Ferner hat sich auch die Maximalleis­ tung erhöht. Insgesamt zeigt der Befund einen deutlichen Trainingsfortschritt. Der Patient ist seiner Zielvorstellung, bei Hobbyrennen eine gute Leistung zu bringen, wesentlich näher ge­ kommen. 16.4.10  Studien/Evidenzlage

Die aufgeführten Studien dokumentieren eine Vielzahl weltweit durchgeführter epidemiolo­ gischer Studien, Reviews und Metaanalysen, welche die negativen Auswirkungen langjähri­ ger körperlicher Inaktivität und mehrstündiger Sitzzeiten ohne Unterbrechung beschreiben.

371 Behandlung des Bewegungsapparats

Dies wird auch als „Diseasome der körper­ lichen Inaktivität“ bezeichnet. Im Gegensatz dazu beugen regelmäßige körperliche Aktivi­ tät und Sport einer Vielzahl an chronischen Erkrankungen vor und beeinflussen deren Ri­ sikofaktoren positiv. Regelmäßige körperliche Aktivität und Sport, indiziert und dosiert nach einer Sporttauglichkeitsuntersuchung, stellen daher die besten präventiven Maßnahmen zur Erhaltung und Stabilisierung der Gesundheit, einer hohen Lebensqualität und Mobilität dar. zz Endorsed by The Obesity Society, Young et al. (2016)

Dieses wissenschaftliche Gutachten der Ame­ rican Heart Association gibt einen Überblick über die aktuelle Evidenz zum Thema sit­ zender Lebensstil (Untersuchungsmethoden, Prävalenz, Determinanten, Assoziation mit der Inzidenz und Mortalität von Herz-Kreis­ lauf-Erkrankungen, mögliche zugrunde lie­ gende Mechanismen und Interventionen). Eingeschlossen sind außerdem Empfehlungen für die Forschung in dem sich entwickelnden Gebiet der Herz-Kreislauf-Gesundheit kFazit

Es wird weitere Evidenz benötigt als Grund­ lage für weitere Maßnahmen im Gesund­ heitssystem und für künftige quantitative Richtlinien zu körperlicher Inaktivität und Herz-­Kreislauf-­Gesundheit. zz Milani und Lavie (2015)

Chronische Erkrankungen verursachen 75  % der gesamten Gesundheitskosten und sind für den Großteil der Todesfälle in den USA ver­ antwortlich. Es gibt in der Behandlung chro­ nischer Erkrankungen neue Methoden, die zusätzliche Möglichkeiten eröffnen. Vorgestellt wird ein Modell, das teambasierte Betreuung in Kombination mit patientenzentrierten Metho­ den einschließt und für das Management chro­ nischer Erkrankungen vielversprechend ist. zz Ekelund et al. (2016)

In dieser Metaanalyse wurden 16  Kohorten­ studien ausgewertet, die die tägliche Sitzzeit

16

bzw. die tägliche Zeit vor dem Fernseher sowie die täglich körperliche Aktivität der Proban­ den untersucht hatten. Diese Daten wurden mit Angaben zur Gesamtmortalität verglichen, woraus eine Risikoabschätzung vorgenommen wurde. kFazit

Moderate körperliche Aktivität für ca. 60– 75  Minuten pro Tag scheint das mit langen Sitzzeiten assoziierte erhöhte Sterberisiko auf­ zuheben. Das erhöhte Risiko, das mit langen Fernsehzeiten assoziiert ist, wird dadurch al­ lerdings nur abgeschwächt, nicht aber elimi­ niert. Die Ergebnisse liefern weitere Evidenz für den Nutzen körperlicher Aktivität, ins­ besondere in Gesellschaften, in denen immer mehr Menschen stundenlang sitzende Tätig­ keiten ausüben müssen, was für das Gesund­ heitswesen bei künftigen Empfehlungen be­ deutend sein kann. zz Kohl et al. (2012)

Körperliche Inaktivität ist die vierthäufigste Todesursache weltweit. In der Publikation wer­ den die momentanen globalen Anstrengungen zusammengefasst, die diesem Problem ent­ gegenwirken und die richtungweisend für den Kampf gegen die Pandemie der körperlichen Inaktivität sind. zz Pedersen (2009)

Das „Diseasome der körperlichen Inaktivi­ tät“ wird durch ein Cluster von Erkrankungen bestehend aus Diabetes, Herz-Kreislauf-Er­ krankungen, Kolon-, Brustkrebs, Demenz und Depression definiert. Sowohl körperliche Inak­ tivität als auch abdominelle Adipositas sind mit dem Auftreten dieser Erkrankungen assoziiert. Körperliche Inaktivität scheint ein starker un­ abhängiger Risikofaktor für die Akkumulation von Bauchfett und damit für die Entstehung von chronischen Entzündungen zu sein. Der protektive Effekt von Bewegung kann z. T. der antiinflammatorischen Wirkung von regelmä­ ßigem Training zugeschrieben werden. Sich kontrahierende Skelettmuskeln setzen Myo­ kine frei, die die Fettverbrennung beeinflussen

372

R. Crevenna et al.

und den erwähnten Risken und Erkrankungen vorbeugen. Weitere Studien zur Trainingstherapie Lite­ raturverzeichnis. zz Adressen/Links

Österreichische Gesellschaft für Sportmedizin (ÖGSMP) Postfach 2 A-8036 Graz [email protected] 7 http://www.­sportmedizingesellschaft.­at  

Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention (Deutscher Sportärztebund) (DGSMP) e.V. Klinik Rotes Kreuz Königswarter Str. 16 D-60316 Frankfurt/Main [email protected] 7 http://www.­dgsp.­de  

Schweizer Gesellschaft für Sportmedizin (SGSM) Rabbentalstr. 83 CH-3013 Bern [email protected] 7 https://www.­sgsm.­ch  

European Federation of Sports Medicine Associations (E.F.S.M.A) [email protected] 7 http://efsma.­eu  

16

International Federation of Sports Medi­ cine (F.I.M.S) Maison du Sport International Av. de Rhodanie 54 CH-1007 Lausanne [email protected] American College of Sports Medicine (ACSM) 401 W. Michigan Street Indianapolis, IN 46202-3233 USA [email protected] 7 http://www.­acsm.­org/  

Fysisk aktivitet i sjukdomsprevention och sjukdomsbehandling (FYSS) Schweden [email protected]

7 http://fyss.se/wp-content/uploads/2011/06/ fyss_2010_english.pdf  

Zusammenfassung 55 Regelmäßige körperliche Aktivität und Sport wirken pleiotrop, d.  h., sie beeinflussen alle Systeme des menschlichen Organismus. 55 Sie werden deshalb auch als „Polypill“ bezeichnet, da sie auf Herz-Kreislauf-System, Lungenfunktion, Stoffwechsel, vegetatives System und Hormonsystem, Immunsystem, neuroendokrines System, Psyche und Bewegungsapparat (Knochen, Sehnen, Muskeln) wirken. 55 Zur Feststellung des Gesundheitszustands und zur Überprüfung der Gesundheitsstabilität ist ein sog. Pre-Participation-Screening, also eine Sportvorsorgeuntersuchung notwendig, welche unbedingt ein Ruhe-EKG, im günstigen Fall auch eine Belastungsuntersuchung mit Belastungs-EKG und Messung des Belastungsblutdrucks enthalten soll. 55 Aus den erhobenen Befunden kann nicht nur der Gesundheitsstatus, sondern auch die Eignung für bestimmte Sportarten festgestellt werden. 5 5 Aus der Belastungsuntersuchung können darüber hinaus auch die jeweiligen fundierten Trainingshinweise zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit gegeben werden. Diese werden dann erfolgreich sein, wenn das Training bzw. die körperliche Aktivität nach den Gesetzmäßigkeiten der medizinischen Trainingslehre durchgeführt wird. 55 In der Beratung soll v.  a. auf die Kriterien einer individuellen und variablen Sport­ ausübung, der richtigen Dosierung von Umfang, Häufigkeit, Dauer und Intensität eingegangen werden. 55 Im Gesundheitssport, v.  a. im höheren Alter, liegt der Schwerpunkt auf Trainings-

373 Behandlung des Bewegungsapparats

hinweisen hinsichtlich Ausdauer, Kraft, ­Beweglichkeit, Koordination und Balance, um die allgemeine Leistungsfähigkeit zu erhalten oder zu verbessern und damit auch Lebensqualität (gesunde Jahre) und Mobilität auf einem möglichst hohen Niveau zu erhalten. 55 Bei leistungssportlicher Ausübung einer Sportart mit der Zielvorstellung definierter Leistungsziele ist die langfristige Beratung in der Hauptsportart mit den entsprechenden Kontrolluntersuchungen sinnvoll und notwendig.

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374

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381

Homöopathische Medizin – Methode und Anwendungen, Grenzen und Möglichkeiten Michael Frass und Jutta Gnaiger-Rathmanner 17.1

Geschichte und Vorstellung der Methode – 382

17.2

Grundbegriffe/Definitionen – 382

17.3

Anamnese, Diagnostik und Therapie – 384

17.4

Homöopathische Arzneimittel – 387

17.4.1 17.4.2 17.4.3 17.4.4

 ufbereitung – 387 A Darreichungsformen – 388 Potenzierung – 388 Arzneimittelbilder – 389

17.5

I ndikationen, Möglichkeiten und Grenzen der Homöopathie – 389

17.6

Arzneimittelqualität – 390

17.7

Plazebo – 390

17.8

Ablauf einer Konsultation – 391

17.9

Fallbeispiele – 392

17.10 Zusammenfassung wissenschaftlicher Studien – 396 17.11 Ausbildung – 397 Literatur – 399

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_17

17

382

M. Frass und J. Gnaiger-Rathmanner

17.1  Geschichte und Vorstellung

der Methode

Im Jahr 1755 wurde Christian Friedrich Samuel Hahnemann (. Abb. 17.1) in Meißen als Sohn eines Porzellanmalers geboren. Schon früh wurde er zu Disziplin und Problemlösungskompetenz erzogen. Seine außerordentliche Begabung wurde sehr bald erkannt und seine Schulbildung gefördert. Über dem Eingang zur Fürstenschule St. Afra, die er besuchte, stand der Spruch Sapere aude (wage zu wissen, wage Deinen Verstand einzusetzen) aus dem 5. Brief des Horaz; in umgekehrter Reihenfolge hat Hahnemann später diesen Spruch seinem Organon der Heilkunst (7 Abschn. 17.2) vorangestellt. Im Rahmen seines in Erlangen begonnenen Medizinstudiums kam er u. a. auch nach Wien, wo er bei Joseph Freiherr von Quarin, dem Leibarzt von Kaiser Joseph II. und Mitgestalter des Alten Allgemeinen Krankenhauses Wien, im heute noch existierenden Krankenhaus der Barmherzigen Brüder studieren durfte.  



Die Medizin zur Zeit Hahnemanns war geprägt durch wissenschaftlich nicht fundierte Verfahren, wie z.  B.  Aderlässe, Blutegel, Klistiere, hoch dosierte Verabreichung toxischer Medikamente, wie z.  B.  Quecksilber bei Syphilis. Hahnemann war von dieser Art der Medizin enttäuscht und brachte seine große Familie kraft seiner polyglotten Begabung mit Übersetzungen vorwiegend medizinischer Werke durch. Dabei führte er den in 7 Abschn.  17.2 beschriebenen Chinarindenversuch durch. Hahnemann fing an, seine Patienten homöopathisch zu behandeln. Da er die Arzneimittel selbst herstellte, gab es immer wieder Auseinandersetzungen mit den Apothekern, die das alleinige Herstellrecht hatten, sodass er oftmals mit seiner Familie umziehen musste. Nach dem Tod seiner Frau Henriette Küchler, mit der er 11  Kinder hatte, zog er nach Köthen. Als er 80 Jahre alt war, kam die 35-jährige Pariser Malerin Melanie d’Hervilly Gohier zur Behandlung zu ihm nach Köthen. Sie lernten einander näher kennen und heirateten. Mit Melanie übersiedelte er nach Paris, wo er weiterhin forschte und arbeitete. Dieser Lebensabschnitt war auch insofern bedeutsam, als Paris damals das Zentrum der Wissenschaften war und sich die Homöopathie von dort aus rasch weltweit verbreiten konnte. Hahnemann starb 1843 im Alter von 88 Jahren und ist auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris begraben.  

>> Besonders betont werden muss, dass die Homöopathie von einem einzigen Mann nahezu vollendet werden konnte.

17

17.2  Grundbegriffe/Definitionen

..      Abb. 17.1  Christian Friedrich Samuel Hahnemann (© Georgios Kollidas/7 stock.­adobe.­com)  

Bei der Übersetzung eines Werkes des damals berühmtesten europäischen Arztes William Cullen wird die Wirkung der Chinarinde besprochen, die darin besteht, dass das Kauen von Chinarinde Malariasymptome hervorruft, was von Cullen durch die tonisierende Wirkung auf den Magen sowie deren Bitterkeit

383 Homöopathische Medizin

17

erklärt wurde. Hahnemann bezweifelte diese Erklärung, da ja viele Substanzen bitter schmecken können, und führte einen Selbstversuch durch Kauen von 2-mal täglich 15 Gramm (!) Chinarinde durch. Die dabei von ihm wahrgenommenen Symptome ähnelten denen des Wechselfiebers, das er in Rumänien kennengelernt hatte. Durch eine nicht näher dokumentierte Überlegung begründete Hahnemann damit die Grundlagen der Homöopathie. Die entscheidende Definition lautet: >> Similia similibus curentur (Ähnliches möge [muss] durch Ähnliches geheilt werden).

zz Simile-Regel (Ähnlichkeitsregel)

Sie wird folgendermaßen erklärt: Bei der Arzneimittelprüfung am Gesunden wird die zu prüfende Substanz vom Prüfer so lange eingenommen, bis dieser Symptome an sich bemerkt. Von da an werden die verschiedenen von den Prüfern festgestellten Zeichen ohne jede Interpretation genau aufgezeichnet und in einem Kopf-zu-Fuß-Schema geordnet. Voraussetzung zur korrekten homöopathischen Arzneifindung ist dann das vorurteilsfreie Erfassen des Individuums mittels einer genau durchgeführten Anamnese. Unter Zuhilfenahme einer ausreichenden Arzneimittelkenntnis wird nunmehr mittels eines Analogisierungsprozesses die heilende Arznei gewählt – das sog. homöopathische Simile. >> Leidet ein Patient also an ähnlichen Symp­ tomen, wie sie die Gesunden während der Arzneimittelprüfung erfahren haben, so wird er mit eben diesem Arzneimittel geheilt.

Dieser Vorgang kann anhand des Arzneimittelbildes der Tollkirsche (Atropa belladonna) (. Abb. 17.2) skizziert werden: bei Einnahme der potenzierten Atropa-­belladonna-­Arznei beobachteten die gesunden Prüfer pochende Kopfschmerzen, erweiterte Pupillen und Tachykardie; leidet nun ein Patient (oft im Rahmen eines Infekts) an diesen Symptomen, so werden durch die Gabe von Atropa belladonna  

..      Abb. 17.2  Tollkirsche (Atropa belladonna) (© PhotoSG/7 stock.­adobe.­com)  

nicht nur die angeführten Symptome, sondern auch eventuell vorhandenes Fieber geheilt. Ähnliches kann beim Schneiden der Küchenzwiebel konstatiert werden: während die Augen der meisten Gesunden dabei tränen, kann die Küchenzwiebel bei übermäßigem Tränen und rinnendem Schnupfen erfolgreich homöopathisch eingesetzt werden. Da es aber vereinzelt Gesunde gibt, die beim Schneiden der Küchenzwiebel keine Tränen verlieren, zeigt sich hier schon die individuelle Verschiedenheit, die eben für die Verschreibung homöopathischer Arzneimittel so wichtig ist und daher besonders bei chronischen Erkrankungen keine Routineverordnung erlaubt. zz Hahnemanns wichtigste Werke

Das Organon der Heilkunst (Hahnemann 1982; . Abb. 17.3) stellt das Werkzeugbuch der Homöopathen dar. Das Organon ist in 6  Ausgaben erschienen. Darin sind die Grundlagen der Homöopathie in einem Vorwort, einer Einleitung und 291  Paragraphen zusammenfasst. Paragraph 1 besagt:  

»» „Des Arztes höchster und einziger Beruf

ist, kranke Menschen gesund zu machen, was man Heilen nennt.“

384

M. Frass und J. Gnaiger-Rathmanner

..      Abb. 17.3  Organon der Heilkunst, 6. Auflage (© öghm, mit freundlicher Genehmigung)

17.3  Anamnese, Diagnostik und

Therapie

..      Abb. 17.4  Organon der Heilkunst, 6. Auflage, § 1 an der Mauer des Hauses in der Wallstraße in Köthen, in dem Hahnemann zuletzt gearbeitet hatte

17

Hieraus ist zu ersehen, dass nicht Krankheiten behandelt, sondern kranke Menschen geheilt werden (. Abb. 17.4). Die Reine Arzneimittellehre beschreibt sämtliche bei den Arzneimittelprüfungen an Gesunden aufgetretenen Zeichen. Die Chronischen Krankheiten sind Hahnemanns Meisterwerk, das er erst im hohen Alter in Paris abschloss.  

Similia  – das zu Heilende am kranken Menschen – werden durch eine eingehende Anam­nese ermittelt und mittels dem ähnlichen potenzierten Arzneimittel therapiert. Die homöopathische Anamnese unterscheidet sich nicht grundsätzlich von einer konventionellen Befragung der Patienten. Es wird jedoch besonderer Wert da­ rauf gelegt, dass der Arzt dem Patienten als vorurteilsloser Beobachter (§ 6, Organon) aufmerksam zuhört und ihn nur wenig unterbricht, um ergänzende Fragen zu stellen und Unklarheiten zu beseitigen. Die Darstellung des Patienten muss unbedingt ernst genommen werden. Die Grundhaltung des homöopathischen Arztes beim Gespräch mit dem Patienten zeichnet sich durch Respekt aus, der sich im Zuhören, Ausredenlassen, Geltenlassen, Annehmen und Ernstnehmen der vom Patienten geschilderten Symptome und Beschwerden ausdrückt. Für den Homöopathen ist diese respektvolle Haltung dem Patienten gegenüber eine unbedingte Voraussetzung.

385 Homöopathische Medizin

Homöopathen dürfen dem Patienten keine leading questions, also keine Fragen, die den Patienten in eine bestimmte und möglicher­weise falsche Richtung führen könnten, stellen. Für viele Patienten ist diese Art der Anamnese ungewohnt, so sehr, dass sich sogar Kinder nach Jahren an die ausführliche und teilnehmende Art der Anamnese erinnern. Zugleich bedeutet es aber auch, dass es mit dieser Anam­nese zu einer großen Erleichterung beim Patienten kommen kann. Dieses Gesprächsklima erzeugt angenehme Rahmenbedingungen für den Patienten, ein Wohlbefinden, das zur Mittelfindung essenziell ist, jedoch niemals zur Heilung ausreicht. Der Wohlfühleffekt verschwindet nach einiger Zeit, die Heilung oder Besserung muss auf homöopathisch-­ medikamentösem Weg erreicht werden. >> Eine homöopathische Anamnese erfordert Geduld seitens des Arztes, um dem Patienten genügend Raum und Zeit zur Entfaltung zu gewähren. Die Freiheit des Homöopathen von Vorurteilen ist einer der wichtigsten Aspekte in der Anamnese.

Entscheidend ist auch das gezielte Nachfragen, besonders um die Umstände und die Eigenschaften der Beschwerden genau zu erfassen und um einen eventuellen Auslöser der Beschwerden zu finden. Zur homöopathischen Anamnese gehören auch die physikalische Krankenuntersuchung sowie das Berücksichtigen sämtlicher verfügbarer konventioneller Befunde wie z. B. Laborwerte und Ergebnisse bildgebender Verfahren. Samuel Hahnemann war einer der ersten Ärzte seiner Zeit, der das von René-Théophile-Hyacinthe Laënnec erfundene Stethoskop verwendete. Allerdings wird in der Homöopathie die Diagnose nicht durch den Namen einer Krankheit, sondern durch die verordnete Arznei ausgedrückt. Zudem werden aber auch emotionale und mentale Symptome berücksichtigt, Stärken und Fähigkeiten erfasst, um den Patienten als Individuum („das Unteilbare“, „das, was nicht geteilt werden soll“) ganz zu begreifen. Der Grundsatz Similia similibus curentur – das Heilende der homöopathischen Arznei  –

17

beschreibt die Aufgabe, Arzneien zu kennen und richtig anzuwenden. Die Arzneifindung in der Homöopathie wird je nach Tradition verschiedener homöopathischer Schulen unterschiedlich gelehrt und durchgeführt. >> Hervorzuheben ist, dass sich Homöopathen bei der Arzneifindung vor Vereinfachungen hüten sollten.

„Blickdiagnosen“ beeindrucken eventuell als Show-Element; der praktische Alltag sieht jedoch anders aus. Um das Simile zu finden, muss die Fülle an Symptomen, bestehend aus den subjektiv geäußerten Symptomen und den objektiven Zeichen des Patienten, aufgeschlossen werden. Die wertvollen und brauchbaren Symptome müssen herausgearbeitet werden, um sie in einem zweiten Schritt in eine für die Arzneimittelfindung passende Ordnung zu bringen (Hierarchisierung). Ergänzt wird die Anamnese durch die Ergebnisse klinischer Untersuchungen. Beim methodisch konsequenten Vorgehen, wie es in der klassischen Homöopathie gelehrt wird, ist diese Hierarchie von Symptomen dann anhand von Büchern (Repertorien) oder Computerprogrammen mithilfe der akri­bischen homöopathischen Repertorisation in eine Reihe von angezeigten, infrage kommenden Arzneien umzusetzen. Aus dieser Liste von Arzneien ist das passende Simile sodann in einem Analogisierungsprozess auszuwählen, der einen direkten Vergleich der Patientensymptome (des Patientenbildes) mit den in der homöopathischen Literatur beschriebenen Arzneien (Materia-Medica-Vergleich) darstellt. Dieses Verfahren beinhaltet sowohl wissenschaftliche als auch künstlerische Elemente. Bei der Bewertung der Hierarchie werden solche Symptome als homöopathisch hochrangiger angesehen, die eindeutiger, intensiver und spontaner von dem Patienten geäußert werden. Auffallende Symptome genießen bei der homöopathischen Arzneifindung einen besonderen Stellenwert, indem sie z. B. den Wert eines lokalen Symptoms erhöhen.

386

M. Frass und J. Gnaiger-Rathmanner

Hahnemann hierzu im Organon, in dem wichtigen § 153:

»» „Bei dieser Aufsuchung eines homöopa-

thisch specifischen Heilmittels, das ist, bei dieser Gegeneinanderhaltung des Zeichen-Inbegriffs der natürlichen Krankheit gegen die Symptomenreihen der vorhandenen Arzneien, um unter diesen eine, dem zu heilenden Uebel in Aehnlichkeit entsprechende Krankheits-­Potenz zu finden, sind die auffallendern, sonderlichen, ungewöhnlichen und eigentheitlichen (charakteristischen) Zeichen und Symptome des Krankheitsfalles, besonders und fast einzig fest in’s Auge zu fassen; denn vorzüglich diesen, müssen sehr ähnliche, in der Symptomenreihe der gesuchten Arznei entsprechen, wenn sie die passendste zur Heilung sein soll. Die allgemeinern und unbestimmtern: Eßlust-Mangel, Kopfweh, Mattigkeit, unruhiger Schlaf, Unbehaglichkeit u.s.w. verdienen in dieser Allgemeinheit, und wenn sie nicht näher bezeichnet sind, wenig Aufmerksamkeit, da man so etwas Allgemeines fast bei jeder Krankheit und jeder Arznei sieht.“

17

Der Wert dieser „auffallenden, sonderlichen, ungewöhnlichen und eigenheitlichen (charakteristischen) Zeichen und Symptome“ ist unbestritten hoch. Die eventuelle Überbewertung dieser „§  153-Symptome“ kann aber auch zu einer Verzerrung führen. Um zu differenzieren, ob ein vom Patienten geäußertes Symptom auffallend oder pathognomonisch (krankheitstypisch und daher nicht auffallend), bemerkenswert oder hysterisch überhöht ist, bedarf es eines profunden medizinischen Wissens und neben ausreichender homöopathischer und konventioneller Therapieerfahrung auch einer guten Allgemeinbildung und Menschenkenntnis. Symptome aus dem Geist- und Gemütsbereich stehen hierarchisch über Schlaf- und Traumsymptomen sowie vor Symptomen aus dem Sexualbereich und diese wiederum vor Allgemeinsymptomen. Dann folgen ätiologi-

sche Symptome (Angaben über die Auslösungen, Ursachen von Störungen) und Lokalsymp­ tome. >> Allgemeine Symptome sind also höherwertig gegenüber lokalen Symptomen und Zeichen.

Der Arzt hält nun alle diese vom Patienten und seinen Angehörigen geäußerten Symptome fest, möglichst ohne zu unterbrechen. Die Anamnese bildet nun die Vorabreit zur Übersetzung der geschilderten Symptome in die Sprache des Repertoriums. So wird z. B. die Aussage eines Patienten

»» „Ich habe stechende Schmerzen im Oberschenkel, die sich beim Gehen bessern“

in repertorialer Sprache – als lokales Symptom mit einer auffallenden Modalität – lauten:

»» „Extremitäten – Schmerzen – stechend – Oberschenkel – Gehen bessert“

und würde die Arzneien Agaricus, Alumina, Argentum metallicum, Dulcamara, Ferrum metallicum, Kali carbonicum, Kali sulfuricum, Lachesis, Rhus tox und Sulfur umfassen. Dabei kann auch eine unterschiedliche Graduierung der Arzneien in der Repertoriumsrubrik berücksichtigt werden: Die Arzneien Alumina, Lachesis und Sulfur sind einwertig, die anderen Arzneien zweiwertig gelistet. Es ist also davon auszugehen, dass das angegebene Symptom durch die höherwertig angegebenen Arzneien von mehreren Ärzten, bis in die Zeit Hahnemanns zurückgehend, häufig erfolgreich behandelt worden ist. Eine alleinige Repertorisation könnte den Eindruck erwecken, dass lediglich eine Gruppe von ausgewählten Patientensymptomen einer solchen Rubrikenbeschau unterzogen wird. Der Rest erscheint wie ein simpler, am besten von einem Computer durchgeführter, rechnerischer Akt, der geradewegs zum richtigen Mittel führt. Rechnerisch (und damit nachvollziehbar und erlernbar) vorzugehen, kann aber nicht bedeuten, dass das heilende Simile tatsächlich simpel errechenbar, als einfache Zahl

387 Homöopathische Medizin

dargestellt, auf Knopfdruck abrufbar wäre. Der entscheidende und auch von erfahrenen Homöopathen oftmals aus Zeitgründen vernachlässigte Schritt ist der bereits weiter oben an­ge­deutete Materia-Medica-­Vergleich, das Ana­ logisieren von Textstellen im Arzneibild (in der Arzneimittellehre, in der homöopathischen Grundlagenliteratur) mit Symptomen des Patienten. Erst durch Herbeiführung einer solchen maximalen Übereinstimmung wird die Arzneiwahl nachvollziehbar und sicher. Voraussetzung der richtigen Mittelwahl ist natürlich die Kenntnis der sog. homöopathischen Arzneimittelbilder, die durch Prüfung am Gesunden entstanden sind. Diese Ergebnisse an gesunden Prüfern sind um klinische und toxikologische Erkenntnisse erweitert worden. „Richtige“ homöopathische Verordnungen lassen sich nicht vorausschauend angeben oder gar beweisen. Nach dem simplen, aber fraglos bewährten Motto „Wer heilt hat recht!“ erweist sich die Gunst eines Similes immer erst durch die genaue Beobachtung eines ausreichend langen Behandlungsverlaufs. >> Nur am subjektiven Befinden und an den objektiven Befunden des Patienten sind die Verordnungen zu messen.

Ein homöopathischer Arzt betrachtet sich i. Allg. als Verordner von Arzneien. Ein eventuell psychotherapeutisch orientiertes (oder lediglich mitfühlend-anteilnehmendes) Ge­ spräch zwischen Patient und homöopathischem Arzt soll vom therapeutisch-­homöopathischen Prozess sowohl bei der Anamneseführung wie auch bei der Beurteilung des Behandlungsverlaufs klar abgrenzbar bleiben. Plazeboeffekte sollen als solche erkennbar und von der Wirkung der verordneten homöopathischen Arznei unterscheidbar sein. Homöopathische Arzneien wirken auch ohne das transportierende Medium „Sprache“ oder „Zuwendung“ und auch ohne die notwendige Präsenz des Arztes  – Tatsachen, die sowohl in tagtäglicher praktischer Erfahrung als auch durch Versuchsanordnungen vielfach nachgewiesen worden sind.

17

17.4  Homöopathische

Arzneimittel

>> In der klassischen Homöopathie werden Arzneien als Einzelmittel verwendet.

17.4.1  Aufbereitung

Da verschiedene Arzneimittel in unverdünnter Form toxisch sein können, hat Hahnemann die Methode des Potenzierens oder Dynamisierens entwickelt. Nach der Definition des EUAB (Europäisches Arzneibuch) werden homöopathische Zubereitungen aus Substanzen, Stoffen oder konzentrierten Zubereitungen nach einer homöopathischen Verfahrenstechnik hergestellt. In der Homöopathie werden potenzierte Arzneimittel eingesetzt, die aus verschiedenen Bereichen der Natur, aus biochemischen und synthetischen Ausgangsstoffen stammen. Hahnemann kannte ungefähr 150  Arzneien, heute werden rund 4000  Stoffe nach homöopathischen Vorschriften verarbeitet. Etwa 65 % der Arzneien werden aus dem Pflanzenreich gewonnen, 30 % stammen aus dem Bereich der Mineralstoffe und Metalle und 5  % aus dem Tierreich. Die Ausgangsstoffe werden nach bestimmten Vorschriften potenziert. Die aus den beschriebenen Ausgangsmaterialien gewonnenen flüssigen Zubereitungen werden als Urtinkturen bezeichnet. Werden diese flüssigen Verdünnungen weiter potenziert, werden sie als Dilutionen bezeichnet. Die Zubereitungen mit Laktose (Milchzucker) werden Verreibung oder Trituration genannt. Im HAB (Homöopathisches Arzneibuch) werden die verschiedenen Konzentrationen als Verdünnungsgrade bezeichnet, die durch Verdünnen und anschließendes Verschütteln entstehen. Die Arzneimittel werden in verschiedenen polaren Medien potenziert. Als geeignete Arzneiträger wird Ethanol in verschiedenen Konzentrationen eingesetzt. Laktose (Milchzucker) wird für Verreibungen, Saccharose als Ausgangsprodukt für (Rohrzucker-)Globuli,

388

M. Frass und J. Gnaiger-Rathmanner

des Weiteren Aqua destillata für Lösungen und Glyzerin für Arzneizubereitungen tierischen Materials verwendet. Die in der jeweiligen Potenzstufe gelösten Stoffe hängen sowohl von der Art der Arznei (Pflanze, Mineralstoffe, biochemische Stoffe) als auch vom Lösungsverfahren ab. In der Homöopathie werden unterschiedlichste Ausgangssubstanzen verwendet, sodass je nach Beschaffenheit der zu verarbeitenden Substanz verschiedene Aufbereitungsmaßnahmen erforderlich sind. Hahnemann erkannte bereits, dass viele frisch gepflückte Pflanzen einen wesentlich höheren Arzneigehalt besitzen. Er hat, soweit möglich, die frischen Pflanzen ausgepresst, den Presssaft mit Alkohol stabilisiert und auf diese Weise Urtinkturen zubereitet. Die Pflanzen werden je nach Löslichkeit ihrer Inhaltsstoffe und nach ihrem Saftgehalt mit verschiedenprozentigem Alkohol in einem bestimmten Verhältnis aufbereitet. 17.4.2  Darreichungsformen

Die Abgabe durch den Apotheker erfolgt dann in den meisten Fällen in Form von Arzneiglobuli. In der Homöopathie gibt es verschiedene Arten der Darreichungsform. Am bekanntesten ist die Applikation in Form von Globuli. Globuli - Aus Saccharose (Rohrzucker) gefertigte Kügelchen, die in verschiedenen Größen zur Verfügung stehen. Diese werden nach den Vorschriften des HAB mit der frisch potenzierten Arzneimittellösung in einer Petrischale imprägniert und anschließend getrocknet. Dilutionen - Sie werden zur flüssigen Potenzierung, als Darreichungsform als Tropfen und als flüssige Q-Potenzen verwendet, bei Letzteren mit niedriger Alkoholkonzentration.

17

17.4.3  Potenzierung

Zu den originalen, auf Hahnemann zurückgehenden Potenzarten zählen die C-(Centesimal-) Potenzen und die Q-(Quinquagintamillesimal-) Potenzen, die aufgrund eines Übersetzungsfehlers fälschlicherweise als LM-Potenzen bekannt sind.

Die D-(Dezimal-)Potenzen wurden von dem berühmten Homöopathen Constantin Hering (1800–1880) in die Therapie eingeführt. Naturwissenschaftlich-kritisch orientierte Ärzte wollten mit einer mathematisch kleineren Unterteilung der Potenzschritte einen organotropen Bezug erreichen. Auf dem Etikett des potenzierten Arzneimittels ist nacheinander angegeben: 55 der Arzneiname in lateinischer Nomenklatur nach HAB (z. B. Atropa belladonna), 55 die Potenzierungsart (C, D, Q, LM, K), 55 die Potenzstufe (z. B. 12, 30, 200, 1000, 10.000). >> Potenzierung = Verdünnung + Dynamisation (Verschüttelung)

Bei jedem Verdünnungsschritt erfolgt bei flüssigen Substanzen auch eine Verschüttelung auf eine Oberfläche wie z. B. ein Buch. Mit jedem Potenzierungsschritt steigt die Potenzstufe, die hinter dem jeweiligen Buchstaben für die Potenzierungsart angegeben ist. Es wird davon ausgegangen, dass durch diesen komplexen Prozess der Substanzgehalt der Arznei zwar abnimmt, die spezifisch-homöopathische Information jedoch in demselben Maß ansteigt. Die wissenschaftliche Untersuchung des Potenzierungsphänomens ist Gegenstand internationaler Forschung. Selbstverständlich kann das Prinzip der Homöopathie aber auch mit nicht oder niedrig potenzierten Arzneimitteln angewandt werden. Interessanterweise sind jedoch die höher potenzierten Arzneimittel oft wirksamer als die niedrig potenzierten, bei denen zudem auf eventuelle Toxizitäten Rücksicht genommen werden muss. Die Potenzhöhe der richtig ausgewählten Arznei ist von geringerer ­Bedeutung als die spezifische Qualität des Similes. Die in Komplexmitteln beinhalteten „Arzneimischungen“ entsprechen nicht Hahnemanns Vorgaben. In § 273 seines Organons ist nachzulesen:

»» „In keinem Falle von Heilung ist es nöthig

und deßhalb allein schon unzulässig, mehr als eine einzige, einfache Arzneisubstanz

389 Homöopathische Medizin

auf einmal beim Kranken anzuwenden. Es ist nicht einzusehen, wie es nur dem mindesten Zweifel unterworfen sein könne, ob es naturgemäßer und vernünftiger sey, nur einen einzelnen, einfachen, wohl gekannten Arzneistoff auf einmal in einer Krankheit zu verordnen, oder ein Gemisch von mehreren, verschiednen. In der einzig wahren und einfachen, der einzig naturgemäßen Heilkunst, in der Homöopathie, ist es durchaus unerlaubt, dem Kranken zwei verschiedene Arzneisubstanzen auf einmal einzugeben.“

Dieser Anleitung Hahnemanns folgen die „klassischen“ Homöopathen, die sich also bemühen, in ihrer Arbeitsweise in der Tradition Hahnemanns zu stehen. 17.4.4  Arzneimittelbilder >> Neben der bereits geschilderten patientenzentrierten Erfassung der Krankengeschichte, die ein großes Verständnis für die Vielfalt des menschlichen Verhaltens und Denkens voraussetzt, ist eine genaue Kenntnis der Arzneimittelbilder ebenso unabdingbar.

Vorrangig sind es die Resultate der sog. homöopathischen Arzneimittelprüfung (auch „homöopathische Arzneimittelselbsterfahrung“), die ein solches „Arznei(mittel)bild“ einer Sub­ stanz charakterisieren. Dazu gesellen sich die toxikologischen Eigenschaften einer Substanz sowie die damit erhaltenen klinischen Erfahrungen, die mit eben dieser Substanz an möglichst vielen Patienten gewonnen und aufgezeichnet wurden. Die Arzneimittelprüfung/Arzneimittelselbst­ erfahrung soll am empfindlichen, mög­lichst gesunden Menschen durchgeführt werden, um das Mittel nach homöopathischen Gesichtspunkten einsetzen zu können. Diese Forderung trifft für die Mehrzahl der heute verwendeten homöopathischen Arzneien zu, jedoch nicht für Komplexpräparate und leider auch nicht für alle verfügbaren Mittel.

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In Anbetracht der Fülle von Zeichen ist es unmöglich, die Arzneimittelbilder sämtlicher zur Verfügung stehender homöopathischer Arzneien (die homöopathische „Materia medica“) auswendig zu wissen. Dieses gesammelte Wissen ist in den Arzneimittellehren zusammengefasst, die für den Studenten der Homöopathie und für den Arzt in Buchform und in elektronischer Aufbereitung zur Verfügung stehen. 17.5  Indikationen, Möglichkeiten

und Grenzen der Homöopathie

Da die Homöopathie, wie schon in § 1 des Organons (Hahnemann 1982) dargestellt, eine medizinische Methode ist, die nicht Krankheiten, sondern kranke Menschen behandelt bzw. heilt, ist das Festlegen und Reduzieren auf bestimmte Indikationen grundsätzlich unzulässig. >> Im Vordergrund steht immer das kranke Individuum, dessen Befindlichkeit den Homöopathen leitet.

Die Homöopathie ist nur eine Methode innerhalb des Gebäudes einer „großen ganzen Medizin“, der „einen Medizin“, die – wie einige ihr verwandte ganzheitlich ausgerichtete und ebenfalls auf der Regulationsmedizin beruhenden Therapiemethoden auch  – die gesunden Anteile eines Individuums anspricht. Ohne Vorhandensein dieser Reserven ist Gesundung nicht möglich. Dies ist auch die Antwort auf die Frage nach den Grenzen der Homöopathie: Homöopathie kann nicht wirken, wenn die Reserven des Patienten, von denen Regeneration, Reparation, Heilung ausgehen können, zu schwach sind oder fehlen. Diese Voraussetzung besteht sowohl für den Patienten als Ganzes als auch für die einzelnen Organe und Gewebe. Bei allen Störungen und Erkrankungen, die der Substitution einer bestimmten Substanz bedürfen (z.  B.  Hormonmangelzustände bei Funktionslosigkeit des betroffenen Organs),

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M. Frass und J. Gnaiger-Rathmanner

kann die fehlende Substanz (z.  B.  Insulin) homöopathisch nicht ersetzt werden. Hier ist die Kombination konventioneller und homöopathischer Medizin gefragt. Akute Infekte (z.  B.  Otitiden) sind andererseits homöopathisch sehr oft erfolgreich behandelbar. Vo­ raussetzung sind Kenntnisse der konventionellen Medizin sowie Erfahrung im Umgang mit homöopathischen Arzneimitteln. In einer Zeit, in der die Gefahr von bakterieller Resistenzbildung durch übermäßigen und ungezielten Gebrauch von antimikrobiellen Arzneimitteln besteht, ist es gut zu wissen, dass Homöopathie hier nicht nur bei leichten, sondern auch bei schweren infektionsbedingten Zuständen hilfreich sein kann. Die aktuellen Dokumentationen beziehen sich nicht nur auf die Vor-Antibiotika-Ära oder den Einsatz homöopathischer Medizin in der Dritten Welt. In der Praxis bedeutet dies, dass kein Patient von der homöopathischen Behandlung grundsätzlich ausgeschlossen wird. Ausnahmen sind Patienten mit mechanisch bedingten Erkrankungen, bei denen eine sofortige konventionelle Intervention erforderlich ist. Die Tatsache einer chirurgischen Intervention hat auch Hahnemann ausdrücklich anerkannt (§  7 und §  186 Organon). Allerdings kann die Homöopathie auch bei mechanisch bedingten Erkrankungen wertvolle additive Dienste leisten; z. B. können bei Knochenbrüchen zur Schmerzreduktion Arnica montana und zur besseren Kallusbildung Symphytum officinale resp. Calcium phosphoricum eingesetzt werden. Hier zeigt sich wieder die für den Patienten hilfreiche Symbiose von konventioneller und komplementärer Medizin im Sinne der „einen Medizin“. Durch die tief greifende Wirkung der Homöopathie können auch Patienten mit weit fortgeschrittenen Erkrankungen von der Verordnung einer passenden potenzierten Arznei profitieren (Gleiss et  al. 2016). Entscheidend ist die vorurteilslose und nichtfanatische Herangehensweise zum Wohl des Patienten. Eine umfassende Kenntnis der Medizin einschließlich anderer komplementärer Methoden ist unerlässlich, um den Patienten bezüglich seiner Situation verantwortlich beraten zu kön-

nen. Aus homöopathischer Sicht ist eine Ursache der Prävalenz chronischer Krankheiten in heutiger Zeit oft durch Suppression akuter Krankheiten zu erklären. Daher ist es aus homöopathischer Sicht wichtig, alle „Drainageorgane“ wie Gastrointestinaltrakt, Urogenitaltrakt, Lunge, Haut, Schleimhäute und Uterus „offen“ zu halten und nicht durch Unterdrückung ein Krankheitssymptom zu verdrängen. Wenn beispielsweise ein Ekzem während einer homöopathischen Behandlung auftritt, ist davon abzuraten, dieses Ekzem mit konventioneller Behandlung zu verdrängen, da damit eine Drainagemöglichkeit behindert wird. 17.6  Arzneimittelqualität

Für die Produktion homöopathischer Arzneimittel sind hohe Qualitätsstandards entscheidend (Muchitsch und Frass 2001) Die Herstellung erfolgt nach dem Europäischen homöopathischen Arzneibuch. Die Dokumentation der Provenienz der verwendeten Sub­ stanzen ist dabei ebenso wichtig wie die genaue Berücksichtigung der Herstellungsrichtlinien. 17.7  Plazebo

Mit Homöopathie wird häufig sofort „Plazebo“ assoziiert. Während dieser Begriff für „Scheinmedikamente“ allgemein bekannt ist, wird nur wenig über den Ursprung des Wortes aus dem Lateinischen nachgedacht: „Ich werde gefallen“. Dieses Verständnis eröffnet wiederum völlig neue Perspektiven. Im Rahmen der zentralen Fortbildungstagung der Österreichischen Apothekerkammer 1990 zitierte K. H. Spitzy, Vorstand der Abteilung für Chemotherapie an der Universität Wien, G.  S.  Kienle, der zwischen Wirksamkeit und Wirkung unterscheidet. In der Heilbehandlung ist nicht alles wirksam, was wirkt, und auch nicht alles unwirksam was nicht wirkt. Wirkung bedingt messbare physiologische Veränderungen, Wirksamkeit bedeutet Heilung oder Linderung von Erkrankungen (Frass et al. 2006b).

391 Homöopathische Medizin

Überlegungen zum Plazeboeffekt (Frass et al. 2006b) 1. Die wahre Natur des Plazeboeffekts ist unbekannt. 2. Plazebo wurde nie im Sinne von Interaktionen zwischen Molekülen erklärt und muss daher als immateriell eingestuft werden, ähnlich wie die „Vitalkraft“ in der Homöopathie. 3. „Immaterielle“ und daher nicht messbare Interaktionen werden i. Allg. von der konventionellen Medizin als ungeprüft verworfen. 4. Überraschenderweise betrachtet die konventionelle Medizin ein Plazebo aber als etwas „Reales“: Der Plazeboeffekt, obwohl unerklärlich, gilt als integraler Bestandteil der Kultur in der konventionellen Medizin. Die Theorie klingt einfach: Wenn der Patient damit rechnet, dass es ihm durch die Einnahme eines Medikaments besser gehen wird, ist es wahrscheinlich, dass dies auch der Fall sein wird. Das Problem dabei ist, dass sich z. B. Schmerzen nicht objektiv messen lassen und man sich vollkommen auf die Aussagen der Patienten verlassen muss. Somit ist es schwierig zu beweisen, dass Plazebos nicht nur eine psychische Wirkung haben (der Patient empfindet den Schmerz als weniger stark, obwohl die Reize die gleichen sind), sondern wirklich den Schmerzreiz lindern.

Hróbjartsson und Gøtzsche (2001, 2004) haben in Metaanalysen Plazebo und „Nichts-­ Tun“ verglichen: Dabei offenbare sich die Machtlosigkeit des Plazebos, das nämlich nicht mehr vermöge als „Nichts-Tun“; lediglich bei mäßigen Schmerzen könne ein geringfügiger Effekt konstatiert werden. Außerhalb von klinischen Studien sei kein Platz für Plazebo. Diese interessanten Studien bedeuten aber auch, dass die Rolle von Plazebos neu überdacht werden

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muss. Zieht man in Betracht, dass wie schon in den oben angeführten Studien (Frass et al. 2005a, b; 7 Abschn.  17.10) auch Intensivpatienten im Tiefschlaf auf homöopathische Medikamente reagieren und Homöopathie sich vielfach in der Intensiv- und Notfallmedizin (Frass und Bündner 2007) bewährt hat, so ist davon auszugehen, dass sich die Wirksamkeit der Homöopathie klar von der des Plazebos unterscheidet.  

17.8  Ablauf einer Konsultation zz Grundlagen zum Ablauf einer homöopathischen Konsultation

Zunächst wird eine genaue Anamnese erhoben, bei der besonderer Wert auf mögliche Ursachen oder zeitliche Abläufe der Symptomatik gelegt wird. Neben der akuten Erkrankung, der Familienanamnese, Kinderkrankheiten, früheren Erkrankungen werden die vegetativen Symptome genau erfasst. Bei den Beschwerden werden auch die Modalitäten genau berücksichtigt, z.  B. neben dem Ort der Schmerzen auch die Ausdehnung und Richtung, die Art der Schmerzen, zeitliche Auffälligkeiten, eine Beeinflussung durch Wetter sowie durch lokale Einflüsse wie Kälte oder Wärme, Druck, Plötzlichkeit des Auftretens oder Verschwinden der Schmerzen. Der Arzt hört aufmerksam zu und dokumentiert die vom Patienten geschilderten Beschwerden, er stellt nur zwischendurch ergänzende Fragen und bemüht sich, die Schilderung des Patienten möglichst nicht zu unterbrechen. Der Patient beschreibt seine Beschwerden möglichst ohne Fremdwörter und ohne Interpretation. Wenn die Anamnese inkl. Berücksichtigung sämtlicher relevanter Ergebnisse konventioneller Untersuchungen beendet ist, sucht der Arzt anhand der Symptome, die er nach der Wichtigkeit geordnet hat, nach dem passenden Arzneimittel unter Verwendung eines Repertoriums. Ist das ähnliche Arzneimittel gefunden, wird dieses dem Patienten verschrieben, der es nach Vorschrift einnimmt. Der Patient

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M. Frass und J. Gnaiger-Rathmanner

hat dann die Aufgabe, sich gut zu beobachten und Auffälligkeiten festzuhalten. Nach einiger Zeit erfolgt ein Follow-up, bei dem ein Vergleich der bisherigen und der jetzigen Gesundheitslage erstellt wird. zz Ablauf eines praktischen Falls

Die Mutter eines 5-jährigen Knaben berichtet, ihr Sohn leide an Fieber bis 39 °C sowie an Schmerzen, die quer über das Abdomen nach rechts verlaufen. Ansonsten ist die Anamnese unauffällig. Das Repertorium (Zandvoort Complete Repertory) gibt unter 55 1161: Abdomen, Pain, general, extending across 55 1162: Abdomen, Pain, general, extending transversely als Hauptmittel Chelidonium an. Eine Gabe von Chelidonium C30 heilt den Knaben innerhalb kurzer Zeit. 17.9  Fallbeispiele

zz Fallbericht 1: Verschwinden des Restless-­ Legs-­Syndroms nach homöopathischer Behandlung eines grippalen Infekts (Frass et al. 1995)

Patientin J. E., 33 Jahre kFamilienanamnese, Kinderkrankheiten und Impfungen

55 Nicht erhoben.

kErhobene Befunde

Bei der Untersuchung finden sich eine schmerzlose linksbetonte Angina tonsillaris sowie eine geringgradige Lymphknotenschwellung links zervikal; übriger physikalischer Untersuchungsbefund unauffällig. kKonventionelle Diagnose

Angina tonsillaris sowie Lymphknotenschwellung links zervikal. kMethodenspezifische Diagnose

55 Throat, inflammation, left 55 Throat, inflammation, tonsils 55 Fever, septic kArzneimittelauswahl

Aufgrund der Symptome (gemäß Kent’s Repertorium Generale; Künzli und Barthel 1989) wird nach entsprechender Repertorisation und Individualisation als passendes Mittel das Gift der Buschmeisterschlange, Lachesis muta (. Abb. 17.5), ausgewählt. Kurz vor dem Verlassen der Praxis spricht die Patientin ein ihrer Meinung nach kurioses Phänomen an: seit mehr als einem Jahr leide sie, nachdem sie sich ins Bett gelegt habe, an „Ameisenkribbeln“ in den Beinen. Sie müsse dann aufstehen, wobei Herumgehen und Kniebeugen den Zustand besserten. Nach ca. einer Stunde könne sie dann einschlafen. Dieses Phänomen sei zuletzt mehrmals pro Woche aufgetreten und habe das Einschlafen empfindlich gestört.  

kFrühere Krankheiten

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Angina tonsillaris war in der Vergangenheit 4-mal aufgetreten und jedes Mal antimikrobiell behandelt worden. kJetzige Krankheiten und aktuelle Anamnese

Die Patientin kommt erstmals zur homöopathischen Behandlung. Sie leidet seit 3  Tagen an hohem Fieber um 40  °C.  Wegen Rezidiv-­ Neigung verlangt die Patientin dieses Mal nach einer homöopathischen Therapie.

..      Abb. 17.5  Buschmeisterschlange (Lachesis muta) (© mgkuijpers/7 stock.­adobe.­com)  

393 Homöopathische Medizin

Da die Zeit für eine ausführliche homöopathische Anamnese nicht ausreicht, kann bei kurzer Repertorisation gefunden werden, dass Lachesis auch beim Symptom 55 Restlessness, lower limbs, warmth of bed als wichtigstes Mittel angeführt ist. Da Lachesis ohnehin schon für die Patientin ausgewählt worden ist, wird dem Symptom keine weitere Beachtung geschenkt. Bei der Patientin waren schon früher eine arterielle Verschlusskrankheit, eine venöse Insuffizienz, eine dermatologische, neurologische, psychopathologische oder rheumatologische Ursache ausgeschlossen worden. Auch alle Routinelaborparameter waren unauffällig, insbesondere bestand kein Hinweis auf eine Eisenmangelanämie oder Urämie, auch war kein Zusammenhang mit einer Schwangerschaft nachweisbar.

drom seit dem 19.  Jahrhundert bekannt. Die erfolgreiche Behandlung des Restless-Legs-­ Syndroms ergab sich als Nebenbefund bei der Patientin, die sich eigentlich vorwiegend wegen hohem Fieber und Angina tonsillaris in homöopathischer Behandlung befand. kAnmerkungen, Kritik

Bei der Patientin wurde keine Erhebung der Familienanamnese, von speziellen Kinderkrankheiten und früheren Krankheiten durchgeführt. Auch die Anamnese des Restless-Legs-Syndroms ist nur bruchstückhaft. Trotzdem, oder gerade deswegen, ist der Behandlungserfolg als sehr positiv einzuschätzen, da Zeit- und Empathiefaktor hier weitgehend ausgeschlossen werden können. zz Fallbericht 2: Sturz auf das Steißbein – ein Fall für Hypericum (Frass 1996)

Patient E. P., 52 Jahre

kBehandlung

kFamilienanamnese

Lachesis muta wird in der Potenz C30 in einer einmaligen Gabe von 5  Streukügelchen oral verabreicht.

Vater: Diabetes mellitus II.

kVerlauf

Die Patientin ist am Tag nach der Gabe von Lachesis bereits fieberfrei und hat am folgenden Tag auch keine Beschwerden seitens der Tonsillen mehr. Ein Jahr später kommt die Patientin aus anderen Gründen wieder zur Behandlung. Auf die Frage, was denn aus den „unruhigen Beinen“ geworden sei, gibt sie an, dass im Vorjahr 3 Tage nach der Lachesis-Gabe das Restless-Legs-Syndrom einmalig sehr stark aufgetreten, aber danach verschwunden sei. Seit mehr als einem Jahr seien die Missempfindungen also ausgeblieben. kErgebnis

Es wird anhand einer Kasuistik berichtet, dass das Restless-Legs-Syndrom bei dieser Patientin nach homöopathischer Therapie dauerhaft verschwand. Als Vorteil erwiesen sich die einmalige Applikation des Arzneimittels sowie das rasche Nachlassen der Beschwerden. In der Homöopathie ist das Restless-Legs-Syn-

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kKinderkrankheiten und Impfungen

Nicht erhoben. kFrühere Krankheiten

Adipositas permagna und Folgekrankheiten wie Diabetes mellitus Typ  II mit Polyneuropathie, Hypertonie und Hypertriglyzeridämie (Syndrom X). Beim Einhalten von Diät ist der Patient erst seit Auftreten einer Osteomyelitis in der rechten Großzehe vor einem Jahr konsequent. Die Osteomyelitis konnte übrigens nach antimikrobieller Vorbehandlung im Krankenhaus mit homöopathischen Mitteln anschließend gut drainiert und schließlich zur Abheilung gebracht werden. Von plastisch-­ chirurgischer Seite war bereits eine Amputation der Großzehe vorgeschlagen worden. Der Patient ist von Beruf Mechaniker und ein Workaholic. kJetzige Krankheiten und aktuelle Anamnese

In diesem Winter mit wochenlangen Schneefällen und ständigen Minustemperaturen

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M. Frass und J. Gnaiger-Rathmanner

stürzt der Patient bei Glatteis auf dem Gehweg vor seiner Haustüre und fällt dabei mit voller Wucht auf sein Steißbein. Am übernächsten Tag kontaktiert der Patient die homoöpathische Praxis, da er weder sitzen ­ noch liegen kann. kErhobene Befunde

Physikalische Untersuchung; Röntgen von Becken, Steißbein, Kreuzbein unauffällig. kKonventionelle Diagnose

Contusio ossis coccygei. kMethodenspezifische Diagnose

Repertorisierung in Kent’s Repertorium Generale (Rücken, Schmerz, Coccyx, nach einem Fall: Hyp, Mez, Sil) (Künzli und Barthel 1989). kBehandlung

zz Fallbericht 3: Homöopathie in der Wartezeit vor einer Herztransplantation (Frass et al. 2000)

Patient F. F., 40 Jahre

1 × 5 Globuli Hypericum C30.

kFamilienanamnese, Kinderkrankheiten, Impfungen und frühere Krankheiten

kVerlauf

Nicht erhoben.

Der Patient nimmt eine Dosis von 2  Globuli am Vormittag, worauf sich zunächst noch keine Wirkung zeigt. Nach Einnahme weiterer 2 Globuli tritt bei dem Patienten das Gefühl auf „als ob es zunächst im Steißbein arbeite und dann unter Ächzen und Krächzen ein Stück des Steißbeins abbreche und, den Schmerz mitnehmend, wegfliege“. Dieses Gefühl wiederholt sich wellenartig an- und abschwellend alle 5 Minuten über einen Zeitraum von ca. 2 Stunden. kErgebnis

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55 Timothy F. Allen (2011) führt in seiner Encyclopedia of Pure Materia Medica auf S. 57 unter Neck and Back, Lumbar an: Paralytic pain in the small of the back. 55 John Henry Clarke (2005) schreibt in seinem Dictionary of Practical Materia Medica, S. 950, Absatz No. 20, Neck and Back: Violent pains and inability to walk or stoop, after a fall on the coccyx. 55 Die ausführliche und besondere Schilderung dieses Symptoms ist deshalb bemerkenswert, da der Patient sehr realitätsbezogen ist. Er selbst hat die Hypericum-Wirkung als außergewöhnlich empfunden.

Nach diesen beiden aufregenden Stunden kann der Patient wieder einigermaßen sitzen und liegen, in der weiteren Folge bessert sich der Zustand so rasch, dass er am nächsten Tag beinahe vollständig beschwerdefrei ist. kAnmerkungen, Kritik

55 Dieser Fall zeigt ein Als-ob(as if)-Symp­ tom, das sich weder in Roberts (1997) Sensations as if. A Repertory of Subjective Symptoms noch in Ward (1999) Unabridged Dictionary of Sensations as If findet.

kJetzige Krankheiten und aktuelle Anamnese

55 Der Patient ist ledig und Beamter. Er verbringt seinen Urlaub zusammen mit einem Freund im Salzburger Land. Er beabsichtigt, einen Urlaub ohne Stress, mit viel Ruhe und einigen Bergwanderungen zu verbringen. Bei den ausgedehnten Wanderungen verspürt Herr F. erstmals eine Dyspnoe und klagt über Husten. Er sagt zu seinem Freund, er habe nun, da er 40 Jahre alt sei, wahrscheinlich eine Art körperliche Midlife-Crisis. Nach dem Urlaub muss er im Treppenhaus auf dem Weg in den 3. Stock zu seinem Hausarzt wegen Luftnot zweimal stehen bleiben, um sich zu erholen. Er sagt zum Arzt, dass er sich jetzt wie ein alter Mann, wie ein Pensionär, vorkomme. Im EKG zeigen sich Unregelmäßigkeiten, der Arzt verschreibt Medikamente und ein paar Tage Krankenstand. Der Zustand des Patienten verschlechtert sich jedoch, es wird ihm schwarz vor den

395 Homöopathische Medizin

Augen, sodass er erneut seinen Hausarzt aufsucht, da er glaubt, seine Medikamente seien zu hoch dosiert. Der Arzt stellt eine Hypotonie fest und verordnet seinem Patienten weitere Medikamente. In derselben Woche sucht dieser einen Internisten auf. Beim Röntgen der Lunge zeigt sich ein vergrößertes Herz. Daraufhin wird der Patient in ein Krankenhaus überwiesen. 55 Am 3. Tag des Krankenhausaufenthalts erleidet der Patient einen Schlaganfall mit Parese der linken Hand sowie einer temporären Aphasie. Der Patient ist von diesem Ereignis besonders betroffen, denn er hatte zunächst die Herzmuskelentzündung als banal eingestuft („Ich habe vorher nie etwas gehabt, nur Blasen an den Füßen vom Wandern“) und die Medikamente abgelehnt, und war auf ein derart gravierendes Ereignis nicht gefasst gewesen. Von ärztlicher Seite wird von der für den Patienten so einschneidenden Handparese kaum Notiz genommen. Das Befinden und die Feinmotorik bessern sich während der nächsten 2 Wochen leicht. Der Patient ist sehr bedrückt von seinem zunehmenden Haarausfall und bringt dies auch zum Ausdruck. Der behandelnde Arzt empfiehlt lediglich, er solle sich eine Perücke kaufen. 55 Der Patient wird nach ca. 3 Wochen entlassen und klagt weiterhin über Kreislaufprobleme und Schwindelanfälle. Er beginnt dennoch sofort, wieder zu arbeiten. Kurze Zeit später wird der Patient wegen zunehmender Luftnot und massiven peripheren Ödemen wieder in demselben Krankenhaus, das er ablehnt, aufgenommen. Er hat intensive Angst, was nunmehr passieren würde. Auf seine Frage nach dem weiteren Verlauf erhält er lediglich die Antwort, es würde ein psychologisches Gutachten angefordert. Dieses Gutachten ergibt eine situationsadäquate reaktive depressive Verstimmung. 55 Eine Woche nach der neuerlichen Einlieferung in das Krankenhaus erleidet der Patient einen zweiten Schlaganfall mit

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Sprachstörung („Ich habe nicht reden können, sinnlose Buchstaben kamen aus meinem Mund. Ich wollte der Schwester etwas sagen, das ist nicht gegangen“). Der Patient fühlt sich nicht beachtet und durch seine Hilflosigkeit gedemütigt. Er ist gegenüber der Medikation misstrauisch und fängt an, sie nicht mehr einzunehmen und zu sammeln, weil er befürchtet, die Arzneien könnten einen neuen Schlaganfall auslösen. 55 Lediglich 5 Tage kann der Patient zur Weihnachtszeit bei seiner Schwester verbringen. Wegen starken Hustens und Hämoptysen wird er neuerlich in dasselbe Krankenhaus überwiesen (Er sagt zu den Sanitätern: „Wenn Ihr mich dort hinbringt, ist das tödlich, Ihr bringt mich um!“). Im Rettungswagen schließt er mit seinem Leben ab. Im Spital hat er ausgeprägte Angst, im Schlaf zu ersticken und hält sich über knapp 2 Wochen künstlich wach. Auf Betreiben seiner Schwester wird der Patient in ein zentrales Krankenhaus verlegt. Während der Tage bis zur Verlegung wird er von den Ärzten bei den Visiten kaum beachtet. 55 Bei der Aufnahme in das Zentralkrankenhaus ist der Patient in denkbar schlechtem Zustand. Bei den Voruntersuchungen zu einer Herztransplantation wird festgestellt, dass seine Zähne beherdet sind und daher extrahiert werden müssen. Die Beschaffung der dadurch notwendigen Zahnprothesen gestaltet sich aus organisatorischen Gründen äußerst langwierig (4 Monate), was für den nunmehr zahnlosen und daher auf breiige Speisen angewiesenen Patienten sehr belastend ist. Er nimmt etwa 15 kg ab und erzählt jedem nahezu zwanghaft über seinen vorangegangenen Krankenhausaufenthalt. Zu diesem Zeitpunkt lernt ihn die Psychologin der Klinik kennen. Nicht nur sie, sondern auch ihre Kollegin fühlen sich von seinen hilflosen und an der falschen Stelle vorgebrachten Ausbrüchen schwer belastet.

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M. Frass und J. Gnaiger-Rathmanner

kErhobene Befunde

Echokardiographie, Laborbefunde. kKonventionelle Diagnosen

Reaktive depressive Verstimmung, dilatative Kardiomyopathie auf Basis einer Myokarditis, Herzspitzenthrombus, Mitralklappeninsuffizienz III, Vitiligo, Penicillinallergie. kMethodenspezifische Diagnose

Aufgrund der vielen vorangegangenen Belastungen und Demütigungen (Fehlen von Haaren und Zähnen als Abgrenzungs­ organ, Kachexie, Leistungsknick, Nicht-­ernst­ genommen-­Werden, Lähmungen, Verlust der Identität als Berufssoldat), des unterdrückten und an der falschen Stelle geäußerten Ärgers, des erlittenen Unrechts, der Überempfindlichkeit und des verletzten Stolzes wurden folgende Rubriken gewählt (Complete Repertory, van Zandvoort 2007): 55 Ailments from grief, sorrow, care 55 Ailments from mortification, humiliation, chagrin kBehandlung

Der Patient erhält insgesamt 2  Gaben von je 5  Globuli (Delphinium) Staphisagria C12 im Abstand von 16 Stunden. kVerlauf

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Gleich nach der ersten Gabe ist der Patient am nächsten Tag weicher, klarer, offener, und er spricht zielgerichtet. Er äußert sich erstmals ruhig ohne Anklagen, Jammern, jedoch berichtet er über Selbstmordgedanken, sich mit der Pistole umbringen zu wollen. Er kann nunmehr im Gespräch mit den Transplantationsärzten seine Situation darlegen. Die Ärzte nehmen ihn plötzlich ernst und bemerken sein völlig verändertes Verhalten. Er wird nunmehr auf die hochdringliche Transplantationsliste gesetzt und 5  Tage später erfolgreich transplantiert. kErgebnis

Der Patient wird entlassen und in ein Rehabilitationszentrum überstellt. 4  Monate später nimmt er an einem körperlich sehr belastenden

Ausbildungsprogramm beim Bundesheer teil. Er erfreut sich, den Umständen entsprechend, guter Gesundheit und äußert sich dankbar gegenüber seiner Psychologin. Die Vitiligo ist übrigens zwischenzeitlich fast verschwunden. kAnmerkungen, Kritik

Bei diesem Fall kann sehr gut die Kooperation zwischen konventioneller und komplementärer Medizin zum Wohl des Patienten beobachtet werden. Familienanamnese, Kinderkrankheiten, frühere Krankheiten und Impfanamnese wurden nicht erhoben. 17.10  Zusammenfassung

wissenschaftlicher Studien

Zur wissenschaftlichen Untersuchung der Homöopathie gibt es eine große Zahl experimenteller und klinischer Studien. Überraschenderweise gibt es zur Forschung in der Homöopathie kaum Förderungen, sei es aus öffentlicher oder privater Hand. Dies liegt wohl in der fehlenden Möglichkeit der kommerziellen Verwertung homöopathischer Präparate. Trotz der schwierigen Situation die Voraussetzungen zu wissenschaftlichen Arbeiten betreffend wurden in den letzten Jahren einige hochkarätige Arbeiten in international angesehenen Journalen publiziert, die die Wirkung der Homöopathie bestätigen: zz Thermolumineszenz in Hochpotenzen von Lithium- und Natriumchlorid

Louis Rey, französisch-schweizerischer Physiker und Biologe und lange Jahre Forschungsdirektor der Firma Nestlé, konnte in einer eindrucksvollen Studie belegen, dass die Tieftemperatur-Thermolumineszenz bei hoch potenziertem Natriumchlorid (NaCl) und Lithiumchlorid (LiCl) Ergebnisse erbringt, die sich von reinem schwerem Wasser unterscheiden (Rey 2003). Hochpotenzen von Lithium- und Natriumchlorid in schwerem Wasser (D2O) wurden bei einer Temperatur von 77 K mit Röntgen- bzw. γ-Strahlen beschossen und anschließend langsam wieder auf ­Raumtemperatur erwärmt. Während dieser

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397 Homöopathische Medizin

Phase wurde ihre Thermolumineszenz gemessen und festgestellt, dass das ausgesandte Licht spezifisch für die ursprünglich gelösten Salze ist. zz Kindliche Diarrhö

ist zweifellos die Studie von Heiner Frei, der gezeigt hat, dass Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom von Homöopathie profitieren (Frei et al. 2005).

Jacobs (Jacobs et  al. 1994) und Reilly (Reilly et  al. 1994) publizierten in renommierten Journalen die Ergebnisse klinischer Studien zum Thema kindliche Diarrhö, der häufigsten Todesursache von Kindern weltweit, die die Wirkung der Homöopathie belegen.

zz Intensivpatienten

zz Vergleich von plazebokontrollierten Studien in Homöopathie und Allopathie

kAnmerkung

Sämtliche Metaanalysen (Kleijnen et  al. 1991; Linde et al. 1997; Cucherat et al. 2000; Hahn 2013) konnten zeigen, dass Homöopathie mehr „kann“ als Plazebo. Selbst die Shang-­Studie (Shang et al. 2005) zeigt bei genauerer Analyse der Interpretation der Schlussfolgerungen ein positives Ergebnis zugunsten der Homöopathie (Frass et al. 2006a). Aus den Resultaten der Shang-Studie geht zunächst hervor, dass bei beiden Gruppen eine signifikante Wirksamkeit besteht, solange alle 220 Studien berücksichtigt wurden. Die Autoren erkennen eine weniger ausgeprägte Heterogenität bei den homöopathischen Studien an. Zudem wurde eine höhere Qualität der untersuchten Studien bei der Homöopathie-­Gruppe konstatiert (19 % vs. 8 %). Wenn die Autoren die Zahl der eingeschlossenen Studien auf „größere Untersuchungen höherer Qualität“ reduzieren, scheinen die Resultate zwischen konventioneller Medizin und Homöopathie zu differieren. Allerdings ist die Reduktion auf 8 (Homöopathie) vs. 6 (konventionelle Medizin) Studien weder in der Einleitung noch in der Methodik erwähnt, es muss also bezweifelt werden, dass sie a priori vorgesehen war. Damit handelt es sich bei der Festlegung auf größere Untersuchungen höherer Qualität um eine Post-festum-­Hypothese und nicht um das ursprüngliche Studiendesign. zz ADHS bei Kindern

Es gibt in der Homöopathie auch eine große Zahl von prospektiven randomisierten kontrollierten Studien. Eine der interessantesten

Selbst Intensivpatienten im künstlichen Tiefschlaf zeigten positive Ergebnisse, sowohl bei Sepsis (Frass et al. 2005a) als auch bei übermäßiger trachealer Schleimproduktion und damit verzögerter Extubation (Frass et al. 2005b). Eine umfangreiche Untersuchung im Auftrag des australischen Gesundheitsministeriums (NHMRC) zur Evidenz der Wirksamkeit der Homöopathie aus dem Jahr 2015, die nie in einem medizinischen Journal publiziert wurde und lediglich eine Regierungsvorlage darstellte, unterscheidet sich deswegen von seriösen Studien, weil Studien mit einer Teilnehmerzahl von weniger als 150 ausgenommen wurden. Dies ist eine willkürliche Festlegung, wie sie nicht einmal von der Cochrane Database gefordert wird. Zahlreiche weitere Probleme zeigen, dass diese Arbeit schwerwiegende Mängel aufweist. 17.11  Ausbildung

Die postpromotionelle Ausbildung zum Homöopathen dauert mindestens 3  Jahre, um eine entsprechende Kompetenz zur Behandlung von Patienten mit chronischen Krankheiten zu erlangen. Zwei Ärztegesellschaften, die in Linz ansässige Ärztegesellschaft für Klassische Homöopathie (ÄKH; 7 www.­aekh.­at) sowie die in Wien beheimatete Österreichische Gesellschaft für Homöopathische Medizin (ÖGHM; 7 www.­oeghm.­at), führen in Österreich die Ausbildung durch. Durch die gezielte Ausbildung ergibt sich für die Ärzte die Möglichkeit, die Heilung chronisch rezidivierender Erkrankungen zu erlernen – z. B. verlangen rezidivierende Anginen, Enuresis, Sinu­ sitis, Allergie, Bluthochdruck, chronische Schmerzen wie Migräne, Rheuma, Lumboischialgien etc. wegen ihrer hohen Rezidivraten  



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M. Frass und J. Gnaiger-Rathmanner

oft Alternativen zur herkömmlichen Therapie. Durch die Seminare ergibt sich durch die ganzheitliche Betrachtung des Patienten auch eine Intensivierung der Arzt-Patienten-Beziehung. Die Ärzte erhalten einen Grundkurs und ab dem 2. Jahr auch eine praktische Ausbildung. In den Ausbildungsseminaren werden die Ärzte mit Theorie, Praxis und Materia Medica (Arzneimittellehre) vertraut gemacht, und ihre Bedeutung für das tägliche Arbeiten wird anhand von praktischen Beispielen veranschaulicht. Die weiteren Themen beinhalten die ersten Arzneien mit einer anschaulichen Vorstellung anhand von Fällen. Die Theorie wird praxisnah durch Live-Anamnesen mit Patienten durch erfahrene Lehrer vertieft. Zusätzlich gibt es genügend Zeit für ausführliche Diskussionen zwischen Studierenden und Ausbildnern. Diese werden zwischen den Seminaren auf der Lernplattform fortgesetzt. In den Kursen werden insgesamt 350 Stunden absolviert. Die Ausbildung wird mit einer Diplomprüfung mit Fragen zur Theorie und Analyse von Fallbeispielen abgeschlossen. Mit erfolgreich absolvierter Diplomprüfung verleiht die österreichische Ärztekammer das Diplom „Komplementärmedizin: Homöopathie“. Die Ärztegesellschaft für Klassische Homöopathie (ÄKH) und die Österreichische Gesellschaft für Homöopathische Medizin (ÖGHM) sind Mitglieder und akkreditierte Ausbildungsinstitutionen des European Committee for Homeopathy (ECH). Als einziger europäischer Verband für ärztliche Homöopathie vereint der ECH 40 homöopathische Gesellschaften aus 25  Ländern. Da der Ausbildungsstandard der ÄKH und der ÖGHM den ECH-Standard erfüllt, kann durch den Inhaber des Ärztekammerdiploms „Komplementärmedizin: Homöopathie“ auch das europäische ECH-Diplom beantragt werden. Die StudentInnen Initiative Homöopathie (SIH; 7 https://www.­sih.­at/home/) an der Medizinischen Universität Wien führt Seminare zur theoretischen Ausbildung in der Homöopathie durch. Die Teilnahme an 150  Stunden SIH-Ausbildung mit abgeschlossenem Theoriemodul berechtigt zur Übertrittsprüfung in die Ärztegesellschaften. Nach Absolvieren der Übertrittsprüfung kann im 2.  Jahrgang der  

Ausbildung eingestiegen werden. Ein SIH-­ Abschluss mit Diplom berechtigt dazu, ohne Übertrittsprüfung in den 2. Jahrgang der Ausbildung einzusteigen. Sekretariate/Anlaufstellen/Links

kAdressen

Ärztegesellschaft für Klassische Homöopathie (ÄKH) Südtiroler Straße 16 A-4020 Linz [email protected] Österreichische Gesellschaft für Homö­ opathische Medizin (ÖGHM) Billrothstraße 2 A-1190 Wien [email protected] Deutscher Zentralverein homöopathischer Ärzte (DZVhÄ) Hauptstadtbüro Komplementärmedizin Axel-Springer-Straße 54 B D-10117 Berlin [email protected] Wissenschaftliche Gesellschaft für Homö­ opathie e. V. (WissHom) Wallstraße 48 D-06366 Köthen (Anhalt) [email protected] Schweizerische Ärztegesellschaft für Homö­ opathie (SAHP) Buzibachstrasse 31 b CH-6023 Rothenburg [email protected] StudentInnen Initiative Homöopathie (SIH) c/o Universitätsvertretung Medizin, AKH Ebene 6M Währinger Gürtel 18–20 A-1090 Wien [email protected], [email protected] kLinks

Ärztegesellschaft für klassische Homöopathie: 7 http://www.­aekh.­at/  

399 Homöopathische Medizin

Österreichische Gesellschaft für Homöopathische Medizin (ÖGHM): 7 http://www.ho-

17

Homeocur: 7 https://www.­homeocur.­com/ Spagyra: 7 https://www.­spagyra.­at/ Remedia: 7 https://www.­remedia.­at/ Peithner: 7 https://www.­peithner.­at/ Deutsche Homöopathische Union (DHU):  





moeopathie.­at/



Wissenschaftliche Gesellschaft für Homöopathie: 7 http://www.­wisshom.­de/ Deutscher Zentralverein homöopathischer Ärzte: 7 https://www.­dzvhae.­de/ Schweizerische Ärztegesellschaft für Homöopathie: 7 https://www.sahp.­ch/ StudentInnen Initiative Homöopathie:









7 https://www.sih.­at/home/  

ICSMR (International Society for Complementary Medicine Research): 7 https://www.­  

iscmr.­org/

Gesundheitsforschung: 7 http://www.gesund 

heitsforschung.at/

Homeopathy Research Institute: 7 https://  

www.­hri-research.­org/

Carstens Stiftung: 7 https://www.­carstens-­

7 https://www.­dhu.­de/ Dellmour: 7 http://www.­dellmour.­org/  



Zusammenfassung 55 Die klassische Homöopathie ist folgendermaßen gekennzeichnet: 55 Sie erfolgt unter Verwendung von Einzelmitteln nach der Ähnlichkeitsregel 55 Die eingesetzten Arzneimittel wurden an Gesunden und an Kranken geprüft 55 Es ist eine arzneiliche Methode; die Arzneimittel werden potenziert, d. h. verdünnt und verschüttelt.



stiftung.­de/

Central Council for Research in Homoeopathy in India: 7 http://ccrhindia.­org/ Società Italiana di Omeopatia e Medicina Integrata (SIOMI): 7 http://www.­siomi.­it/ National Center for Complementary and Integrative Health (NCCIH): 7 https://www.nih.

Literatur







gov/about-nih/what-we-do/nih-almanac/nationalcenter-complementary-integrative-health-­nccih British Homeopathic Association: 7 https:// www.britishhomeopathic.org/ Homeopathy for Everyone: 7 https://hpathy. com/ Faculty of Homeopathy: 7 https://facultyofhomeopathy.org National Center for Homeopathy: 7 https:// www.homeopathycenter.org/ Hahnemann Gesellschaft: 7 http://www.hahnemann-gesellschaft.de American Institute of Homeopathy: 7 http:// www.homeopathyusa.org/  











Sola Salus  – Institut für Homöopathieforschung: 7 http://www.homeopathicresearch.­eu Homresearch: 7 http://www.­homresearch.org/ Wiener internationale Akademie für Ganzheitsmedizin (GAMED): 7 https://www.ga 





med.or.at/

Maria Treu Apotheke: 7 https://maria-treu-­  

apotheke.­at/

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401

Homotoxikologie Christian Plaue 18.1

Geschichte und Vorstellung der Methode – 402

18.2

Grundbegriffe/Definitionen – 402

18.3

Diagnostik – 405

18.4

Therapie – 406

18.5

(Haupt-)Indikationen – 407

18.6

Ablauf einer Konsultation – 407

18.7

Fallbeispiel – 408

18.8

 issenschaftliche Studien/Case Reports und W Wirksamkeitsnachweise – 408

18.9

Ausbildung – 411 Literatur – 412

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_18

18

402

C. Plaue

18.1  Geschichte und Vorstellung

der Methode

18

Dr. Hans-Heinrich Reckeweg (1905–1985), Begründer der Homotoxikologie, war Allgemeinmediziner und Homöopath im Berlin der Zwischenkriegszeit. Seine Erfahrungen mit der Homöopathie in der täglichen Praxis hatten ihm gezeigt, dass der Einsatz der Homöopathie Hahnemanns aus Zeitgründen nicht in der von ihm gewünschten Breite erfolgen konnte. So erfolgreich er auch damit war, es fehlte ihm immer mehr die Zeit für ausreichende Anamnesen. Aufgrund der behördlichen Vorschrift, dass er nur dann praktizieren dürfe, wenn er etwa 10  % seiner Patienten, die sich die Behandlung nicht leisten konnten, kostenlos behandeln würde, war seine Praxis heillos überlaufen. Im Gegenzug bekam er die Erlaubnis, in seiner Praxis individuelle homöopathische Arzneimittel für seine Patienten herzustellen. Reckeweg, der die naturheilkundlichen Maßnahmen bei seinem Vater, einem Heilpraktiker, gesehen hatte, wandte sich neben der konventionellen Medizin der Homöopathie zu, und bald reifte in ihm der Gedanke der Homotoxikologie. Er wollte bei einer Behandlung mit homöopathischen Arzneimitteln eine erleichterte Anwendung schaffen  – der Grundstein einer neuen naturheilkundlichen Therapierichtung war damit gelegt. Diese betrachtete er als „ein Bindeglied zwischen konventioneller Medizin und Homöopathie.“ Wie viele andere geniale Menschen verfolgte auch er seine Ideen zur Verbesserung seiner Behandlungen gezielt und beharrlich. Neben der Entwicklung eines eigenen therapeutischen Gedankengebäudes wurde von ihm auch ein eigenes Arzneimittelsortiment kreiert mit dem Ziel, im Prinzip jede zur damaligen Zeit auftretende Erkrankung mit den Arzneimitteln der antihomotoxischen Therapie behandeln zu können. Daraus entstand später die Firma Heel in Berlin, die er schließlich zur wirtschaftlichen Blüte brachte.

Nachdem er in den späten 1970er-Jahren die Firma wegen zunehmender rechtlicher Einschränkungen bezüglich der Zulassung neuer bzw. des Erhalts der bestehenden Arzneimittel verkauft hatte, übersiedelte er in die USA. Dort baute er erneut ein Unternehmen auf, das nach seinen Therapierichtlinien Arzneimittel für den amerikanischen Markt erzeugte. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er in Baden-Baden, wo er schließlich am 13. Juni 1985 starb. Reckeweg war Zeit seines Lebens unermüdlich unterwegs, um seine therapeutischen Gedanken und seine Homotoxikologie unter der Kollegenschaft zu verbreiten. Wie so oft bei Neuerungen, wurde auch er als Verfechter der Naturheilkunde teilweise heftig angefeindet. Er sah Homöopathie und Homotoxikologie als gleichwertige Therapierichtlinien, und so kommunizierte er es auch seinen Kollegen. 18.2  Grundbegriffe/Definitionen Homotoxikologie - Wörtlich übersetzt: die Lehre von den „Menschengiften“.

Nach Reckeweg sind die Symptome, die ein Mensch bei einer Erkrankung zeigt, die Reaktionen des Organismus auf eine Überlastung der Matrix (auch Grundsubstanz oder extrazelluläre Matrix [ECM] genannt) mit belastenden Substanzen. Die „verschlackte“ und „übersäuerte“ Matrix kann ihrer Funktion als Überträgermedium von Nähr- bzw. Abbaustoffen und der Weiterleitung der Reizimpulse nicht mehr nachkommen. Viel später, Mitte der 1950er-Jahre, wurde die Matrix von Prof. Alfred Pischinger, Ordinarius für Histologie in Wien, erforscht (7 Kap.  8, Das System der Grundregulation). Pischinger postulierte, dass die Zelle ohne ihr Milieu (Grundsystem) nicht lebensfähig sei und damit eigentlich eine Fiktion. Für Pischinger war die Interzellularsub­stanz Brücke zwischen Zelle und den übergeordneten Regelsystemen. Er sah darin die Grundlage und das Verbindungsglied für alle Regelvor 

403 Homotoxikologie

gänge. Alle für die Zelle ­entscheidenden Informationen würden über das Grundsystem transportiert. Daher sei eine durchgängige Matrix die Bedingung für eine funktionierende Versorgung der Zellen. Erst der Anatom Prof. Hartmut Heine konnte in den späten 1990er-Jahren mithilfe moderner Forschungsmethoden wie z.  B. der Elektronenmikroskopie diese Annahmen bestätigen und ergänzen (7 Abb.  8.2). Eine von ihm getroffene Aussage lautet:  

»» „Das Grundsystem ist das primäre Regelsystem aller sauerstoffabhängigen Organismen.“ (Heine 1997)

Das Filtersystem der Grundsubstanz, beste­ hend aus fein verästelten Netzen aus Glyko­ saminoglykanen (Zuckerpolymeren), verhindere bei Belastung durch die Homotoxine diesen lebensnotwendigen Austausch von Informationen und Nährstoffen für die Zelle. >> Reckewegs Gedankengang war es, den Organismus bei der Ausleitung der für den Organismus belastenden Stoffe (exogene und endogene Homotoxine) zu unterstützen und damit die Regulationsfähigkeit zu verbessern oder überhaupt wiederherzustellen.

Lange vor Prof. Pischinger in Wien hatte sich Reckeweg also mit der Grundsubstanz befasst. Sein Hauptaugenmerk lag neben der Behandlung akuter Beschwerdebilder in der Anregung der Entgiftungsleistung der Ausscheidungsorgane. Damit wird die Regulationsfähigkeit des Organismus verbessert, und die Selbstheilungskräfte werden mobilisiert. Schmerz, Fieber, Erbrechen und Durchfall sind Symptome, die in der Medizin damals wie heute überwiegend als zu unterdrückende Symptome angesehen wurden bzw. werden. Reckeweg deutete Schmerz als ein Warnsignal und Fieber, Erbrechen oder Durchfall als die einzigen effizienten Möglichkeiten des Körpers, sich Belastungen durch z. B. Viren, Bakterien oder Substanzen zu widersetzen, und

18

daher bewertete er sie als nicht zu unterdrückende Symptome. Erst langsam kehrt die Medizin gegenwärtig wieder zum Gedanken der Unterstützung der Selbstheilungskräfte zurück. Allmählich wird z. B. Fieber auch wieder als körpereigene Maßnahme und nicht a priori als zu unterdrückendes Symptom gesehen. >> Die eigentliche geniale Leistung Reckewegs liegt in der Kombination von naturheilkundlich ausgerichteten Arzneimitteln (er nannte das „Biologische Medizin“) mit Indikationen aus der konventionellen Medizin.

zz 6-Phasen-Tabelle

Reckeweg stellte für seine Kollegen zum Verständnis die sog. 6-Phasen-Tabelle zusammen, in der die einzelnen Symptome aller Organsystembereiche in Phasen eingeteilt und darauf die jeweils sinnvollen therapeutischen Maßnahmen aufgesetzt werden. Damit sollte allen Kollegen, die sich noch nicht mit einem naturheilkundlichen Behandlungskonzept befasst hatten, der Einstieg in diese von ihm entwickelte Methode erleichtert werden. Ein Übersichtsbeispiel zeigt . Abb. 18.1.  

kHumorale Phasen Die beiden humoralen Phasen sind nach Re-

ckeweg Maßnahmen des Organismus, um sich dieser Belastungen zu „entledigen“. Die antihomotoxische Therapie unterstützt diesen Vorgang durch die Anregung der Ausscheidungsfunktionen (Schnupfen, Fieber, Durchfall etc.) in der Exkretionsphase. Wenn dies nicht gelingt (weil die Matrix bereits stark belastet ist), „wandert“ die Erkrankung in die nächste Phase. In der Inflammationsphase versucht der Körper, den Regenerationsprozess physiologisch über Entzündungen ablaufen zu lassen. Jede Entzündung hat, speziell, wenn sie akut auftritt, ihre Funktion. Sie sollte daher unterstützend abklingen und das überlastete Organ wieder in den Zustand der Beschwerdefreiheit (Gesundheit) zurückführen.

404

C. Plaue

Humorale Phasen Organsystem

Exkretionsphasen

Matrixphasen

Zelluläre Phasen Dedifferenzierungsphasen

lmprägnations- Degenerationsphasen phasen

Depositionsphasen

Ablage -rung

BIOLOGISCHER SCHNITT

Haut Nervensystem Sensorisches System Bewegungsorgan Atemwege HerzKreislauf-System Gastrointestinalsystem Urogenitalsystem Blut Lymphsystem

lnflammationsphasen

Ausscheidung

Entartung

Stoffwechsel Hormonelles System Immunsystem Alteration

Reaktion

Fixierung

Chronifizierung

Defizite

Entkoppelung

Psyche

..      Abb. 18.1  6-Phasen-Tabelle, Übersicht. Gezeigt werden Organbereiche, einzelne Phasen und deren Funktion

kMatrixphasen

18

Gelingt es nicht, in den ersten beiden Phasen die Regulation erfolgreich zu unterstützen, kommt die Erkrankung in die erste Matrixphase. Zuerst geht die Symptomatik in die Depositionsphase über, welche vor dem sog. biologischen Schnitt liegt. Den biologischen Schnitt hat Reckeweg als jene Grenze definiert, an der die Wiederherstellung des Gesundheitszustands „links davon leichter, rechts davon schwerer“ (bzw. gar nicht mehr) zu erreichen ist. In diesen Phasen werden in der Matrix die momentan nicht ausscheidbaren Homotoxine erst einmal „zwischengelagert“ – aber in einem durchaus noch ausscheidungsfähigen Zustand. Schafft es der Organismus (bzw. die entsprechende therapeutische Maßnahme) nicht, diese Homotoxine aus der Matrix abzutransportieren, wird in der Imprägnationsphase ersichtlich, dass es zur Belastung und Blockade des Grundregulationssystems kommt. Die Schadstoffe werden dauerhaft in die Matrix „eingebaut“ und beginnen jetzt, die Durchlässigkeit der Grundsubstanz zu blockieren.

Ergebnis ist neben einer schlechten Versorgung der Zelle eine Übersäuerung der Matrix. Diese Übersäuerung führt letztlich zur chronischen Krankheit. Ab dieser Phase wird es schwer bis unmöglich, eine Wiederherstellung der Befindlichkeit zu erreichen; Ziel bei den betreffenden Patienten ist es aber, eine Verschlimmerung zu verhindern. Für die Matrixphasen hat Reckeweg spezielle homöopathisch aufbereitete Arzneimittel zusammengestellt, welche einerseits die Organregeneration (über die Suis-­Organpräparate und die Composita) und andererseits die Verbesserung der Energiesituation in der Zelle steuern (hier sind die homöopathisierten Katalysatoren zu nennen). kZelluläre Phasen In der Degenerationsphase beginnen sich

die Zellen langsam zu verändern, und sie verlieren allmählich ihre Funktion. Hier ist es mittels eines etwas umfangreicheren Therapieregimes noch möglich, ein rascheres Fortschreiten der Erkrankung zu verhindern oder diese zumindest zu verlangsamen. Darüber

18

405 Homotoxikologie

hinaus beschreibt Reckeweg die letzte Stufe als Dedifferenzierungsphase, in der die Zellen eine Wandlung in Richtung Krebszelle durchgemacht haben. >> Die Homotoxikologie hilft mit ihren Arzneimitteln, auch hier regulierend und nicht – wie bei der allopathischen Behandlung – unterdrückend zu wirken. Daneben sind als wesentliche „Basis“ einer naturheilkundlichen Behandlung besonders die Zufuhr von weiteren Toxinen (belastende Nahrungsmittel, Arzneimittel, Genussmittel und in der heutigen Zeit auch Stress, physikalische Belastungen und Schlafmangel) zu vermeiden, zumindest aber zu reduzieren.

Reckeweg spricht von einer „progressiven Vikariation“, wenn sich die Symptomatik in der 6-Phasen-Tabelle von links nach rechts verändert (eventuell mit dem Begriff „Etagenwechsel“ aus der konventionellen Medizin vergleichbar). Ziel ist es, eine „regressive Vikariation“ zu erreichen, sprich: den Symptomverlauf in seinem Auftreten umzukehren und in vorhergehende Phasen zurückzuführen, um damit in den Zustand der Beschwerdefreiheit zurückzukommen. 18.3  Diagnostik

Um die einzelnen Symptome besser zuordnen zu können, hat Reckeweg für die Ausbildung im Umgang mit der 6-Phasen-Tabelle für die wesentlichen Bereiche konkrete Angaben gemacht (. Abb. 18.2). Sinn der Behandlung nach antihomotoxischen Gesichtspunkten ist es, dem Immunsystem durch Reduzierung der Homotoxine mittels der gezielten medikamentösen Therapie (und den vorher angesprochenen Begleitmaßnahmen) die Möglichkeit zur Regulation zu geben.  

kRegressive und progressive Vikariation

Neben sämtlichen konventionellen Methoden (Blut-, Röntgen-, elektrophysiologische Untersuchungen) dienen viele komplementäre Testverfahren wie Elektroakupunktur nach Voll (EAV, 7 Kap.  13), Applied Kinesiology (7 Kap. 12), VEGA-Test u. a. der unterstützenden Ermittlung von geeigneten Medikamenten.  



zz Leukozytentest nach Pischinger

Der Test ist eine spezifisch homotoxikologische Methode, um die Reaktionsfähigkeit des

Humorale Phasen Organsystem

Matrixphasen

lnflammationsphasen

Depositionsphasen

Schweiβ

Ekzem

Warzen

Bewegungsorgan

Synovialflüssigkeit

Arthritis

Gelenkkörper

Atemwege

Flieβschnupfen

Angina

chronische Bronchitis

Gastrointestinalsystem

Gallefluss

Hepatitis

Gallensteine

Urogenitalsystem

Urinfluss

Nephritis

Nierensteine

Haut

..      Abb. 18.2  Detaillierte 6-Phasen-Tabelle

Zellulläre Phasen Dedifferenzierungsphasen

lmprägnations- Degenerationsphasen phasen

BIOLOGISCHER SCHNITT

Exkretionsphasen

Hyperpigmentierung

Dermatosen

Hautkrebs

beginnende Arthrose

Arthrosis deformans

Knochenkrebs

Asthma

Emphysem

Lungenkarzinom

Leberverfettung

Leberzirrhose

Leberkrebs

Nephrose

Schrumpfniere

Nierenkrebs

406

C. Plaue

Patienten auf krankheitserzeugende Störreize zu ermitteln. kDurchführung

55 Blutabnahme separat an beiden Armen und danach Gabe von Ubichinon compositum und Coenzyme compositum i.v., ebenfalls jeweils rechts und links. 55 Weitere Messungen beidseits nach 1 h bzw. 3 h nach der ersten Abnahme. 55 Zu erwarten ist ein Leukozytenanstieg nach 1 h um ca. 1000 Zellen/μl mit Rückgang zum Ausgangswert nach 3 h. Andere Reaktionsmuster lassen auf Störungen wie Entzündungen, Reaktionsstarre und andere Malfunktionen schließen. Speziell Seitendifferenzen weisen auf ein Herdgeschehen auf der betroffenen Körperhälfte hin.



>> Therapeutisches Ziel ist die Rückführung der Krankheit aus einer Phase rechts des biologischen Schnitts (Phasen 4–6) in eine Phase links davon (Phasen 1–3) (. Abb. 18.2).  

Dazu muss in jedem Fall die Ausleitung von Homotoxinen mit den entsprechenden Biotherapeutika-Antihomotoxika in Gang gesetzt 18.4  Therapie werden. Wegen der hohen Komplexität von Krankheiten, besonders wenn diese chronifizz Unterschied der Biotherapeutika-­ ziert sind, kommt es für den Erfolg der antiAntihomotoxika zu klassischen Homö­ homotoxischen Therapie entscheidend daropathika auf an, die Biotherapeutika-­Antihomotoxika Während der klassisch therapierende homöo- „phasengerecht“ einzusetzen. Dabei kann als pathische Arzt ausschließlich mit sog. Einzel- Daumenregel gelten, dass insbesondere die mitteln therapiert, deren Inhaltsstoffe nach den sog. Compositum-Präparate bei den Krankfestgelegten Herstellungsregeln des homöopa- heiten in den Matrixphasen 3 und 4 (Dethischen Arzneibuchs potenziert werden und position und Imprägnation) sowie in der deren Anwendung nach Anamnese und an- Degenerations- und Dedifferenzierungsphase schließender Repertorisation gemäß der Simi- indiziert sind. Dies gilt im Wesentlichen desle-Regel erfolgt (7 Kap. 17, Homöopathische Me- halb, weil neben den spezifischen klassischen dizin), werden Biotherapeutika-­Antihomotoxika homöopathischen Wirkstoffen weitere antivom antihomotoxisch therapierenden Arzt in homotoxische Wirkstoffe wie potenzierte Suder Regel indikationsorientiert eingesetzt. Die is-Organauszüge, Katalysatoren, Nosoden Biotherapeutika-­Antihomotoxika bestehen meist und  – in einigen Fällen  – auch die sog. hoaus Kombinationen homöopathischer Stoffe und möopathisierten Allopathika in diesen Präpasind nach der Legaldefinition der EU-Richtlinie raten enthalten sind. 92/73 EC homöopathische Arzneimittel, die ausWie sich in der Praxis gezeigt hat, können schließlich nach den Vorschriften des amtlichen klassische homöopathische, gut gewählte Sideutschen Homöopathischen Arzneibuches miles eine Krankheit, die sich in den Phasen (HAB 2017) hergestellt werden. 4 oder 5 befindet, oft nicht in eine regressive Im Gegensatz zu den klassischen homöo- Vikariation überführen, wenn nicht dafür pathischen Einzelmitteln kommt es beim Sorge getragen wird, dass z. B. bestimmte Entherapeutischen Einsatz der Biotherapeutika-­ zymdefekte oder Blockaden auf der zellulären Antihomotoxika wesentlich darauf an, dass Ebene vorher durch richtig gewählte antiho 

18

diese Arzneimittel entsprechend den Maßgaben der Homotoxikologie nach Reckeweg eingesetzt werden. Dies bedeutet, dass der Arzt zunächst die Phase bestimmt, in der sich zurzeit die Krankheit des zu behandelnden Patienten gemäß der 6-Phasen-Tabelle nach Reckeweg (. Abb.  18.2) befindet. Wegen des phasenhaften Verlaufs von Krankheiten muss der Arzt sein Augenmerk auf Vikariationseffekte, d.  h. den Wechsel einer Krankheit von einer Phase in eine andere, richten.

407 Homotoxikologie

motoxische Wirkstoffe wie Katalysatoren, Suis-Organbestandteile, Nosoden und homöopathisierte Allopathika aufgehoben werden. Erst nach Aufhebung der Blockaden tritt die Wirkung des angezeigten Similes ein, denn das homöopathische Einzelmittel setzt ein noch zumindest teilweise auf stimulative Reize antwortendes Terrain voraus. Reaktionsblockaden müssen mit anderen Strategien aufgebrochen werden, z. B. mit der antihomotoxischen Ausleitung, der Auto-­ Sanguis-­ Stufenkur, der Neuraltherapie und der Diätetik. Zur Erreichung der „regressiven Vikariation“ sind demnach gut gewählte Einzelmittel plus Injeele/forte aus dem Bereich der Katalysatoren, Nosoden und Suis-Organe oder entsprechende Kombinationen, besonders Compositum-Präparate, geeignet. Wenn ein regressiver Vikariationseffekt eingetreten ist und sich die Zweit- oder Drittkrankheit (Stellvertreterkrankheit) z. B. in die Phase 2 zurückentwickelt hat, sind auch klassische Einzelmittel oder die üblichen Spezialitäten der Biotherapeutika-Antihomotoxika, welche lediglich Kombinationen klassischer Einzelbestandteile enthalten, erfolgreich anwendbar.

18

18.5  (Haupt-)Indikationen

Reckeweg hat in seiner Ordinatio Antihomotoxica et Materia Medica insgesamt 474 definierte Indikationen angegeben (Heel 2007). Es war sein erklärtes Ziel, für alle wesentlichen, in der Praxis vorkommenden Erkrankungen ein biologisch-antihomotoxisches Therapiekonzept anzubieten. Er wollte seinen Kollegen die Homotoxikologie als alleinstehende Therapieform, aber auch als Ergänzung zu den konventionell-­ medizinischen Methoden vorstellen. Reckeweg hat in seinem Standardwerk den Einsatz der verschiedenen Arzneimittel und das therapeutische Vorgehen genau beschrieben. Neben dem Einsatz der von ihm zusammengestellten Mittel hat er auch adaptierte Methoden wie z. B. die Auto-Sanguis-­Stufentherapie (eine spezielle Form der Eigenblutbehandlung) oder die Verwendung der homöopathisierten Katalysatoren für die Behandlung der reaktionsarmen/-starren Patienten in seine Lehre eingefügt. 18.6  Ablauf einer Konsultation

Faktoren für eine zielführende Anwendung von Biotherapeutika-­ Antihomotoxika 55 Festlegung der Phase, in der sich die Krankheit befindet 55 Erfassung von Vikariationseffekten 55 Ausleitung von Homotoxinen 55 Antihomotoxische oder homöopathische Behandlung der nach der Vikariation entstandenen Krankheit in der Ausleitungsphase

Das Arzneimittelbild der Homöopathie kann durch Kombination mehrerer Arzneimittelbilder, wie es z.  B. in den antihomotoxischen Compositum-Präparaten gegeben ist, schärfer individuell eingestellt werden. Die Antihomotoxika eignen sich gleichzeitig zum indikationsbezogenen Einsatz.

Konventionell-medizinische Anamnese und phy­sikalische Patientenuntersuchung je nach Maßgabe. Bei der Exploration im Sinne einer homotoxikologischen Anamnese ist zusätzlich nach aktuellen oder früheren Belastungen infektiöser oder toxischer Natur zu fragen, z. B. 55 Kinderkrankheiten, 55 Impfungen, 55 Operationen, Unfälle (Narben), 55 Infektionskrankheiten mit/ohne Erregernachweis, 55 chronische Entzündungen, 55 Zähne (Metalle, andere Fremdstoffe, Wurzelbehandlungen), 55 Verdauung (Konsistenz, Frequenz, Geruch, Beschaffenheit des Stuhls), 55 Zeichen von Übersäuerung (z. B. Sodbrennen),

408

C. Plaue

55 Flüssigkeitszufuhr, 55 Rauchen, Alkohol, 55 Medikamenteneinnahme (auch frühere!), 55 Ernährung, 55 berufliche Tätigkeit, 55 Hantieren mit giftigen Substanzen, 55 Familienanamnese, 55 Schlafqualität, 55 psychische Belastungen, 55 Sexualleben. 18.7  Fallbeispiel Patientin, 67 Jahre, chronische Sinusitis kDiagnostisches Vorgehen

Die Anamnese wurde lege artis durchgeführt. Besonderer Wert wurde gelegt auf die Fragen nach 55 Antibiotikaeinnahme, 55 Stuhlbeschaffenheit, 55 Ernährungsgewohnheiten, 55 Rauchverhalten, 55 Infekthäufigkeit.

und Darmsanierung wurde geachtet. Schwermetallausleitung war nicht notwendig, eine allgemeine Entgiftungsförderung durch ausreichende Wasserzufuhr wurde empfohlen. Im Anschluss wurde nach ca. 4 Wochen mit einer Auto-Sanguis-Stufentherapie nach Reckeweg begonnen, welche in 4 Schritten mit jeweils unterschiedlichen homotoxikologischen Präparaten in Kombination mit einem Tropfen Eigenblut verabreicht wird. 55 Symptomatisches Mittel: Traumeel i.v. 55 Terrainmittel: Lymphomyosot verschüttelt mit Eigenblut s.c. 55 Organmittel: Mucosa compositum s.c. 55 Nosode: Sinusitis Nosode Heel s.c. Sinn der abgestuften Anwendung ist es, jeweils einen Schritt weiter in die Krankheitstiefe voranzuschreiten und in verschiedenen Ebenen der 6 Phasen eine Wirkung zu entfalten. kErgebnis

Bei der Patientin konnte nach 5 Behandlungen eine vollständige Wiederherstellung normaler Schleimhautverhältnisse in den Nebenhöhlen erzielt werden (. Abb. 18.3).  

Rauchen, Allergien und besondere psychische Belastungen wurden von der Patientin negiert. Medikation: Lipidsenker (Fibrate) regelmäßig, Analgetika bei Bedarf. Zur genaueren Diagnose wurden neben Standardblutwerten ein Immunstatus, eine Stuhlkultur und eine Spurenelementanalyse durchgeführt. Zusätzlich wurde nach einer eventuellen Histaminintoleranz gesucht. Es wurde eine Schwäche in der zellulären Abwehr (Viren) entdeckt, der humorale Teil des Immunsystems zeigte sich intakt.

18

kTherapie

Zunächst wurde akut eine Kombination von Allopathika (abschwellende Nasentropfen und ein Antiphlogistikum) mit einem Phytotherapeutikum (Kaloba) und einem homotoxikologischem Präparat (Euphorbium comp.) verabreicht. Auf eine entsprechende Ernährung

18.8  Wissenschaftliche Studien/

Case Reports und Wirksamkeitsnachweise

zz Forschung in der Homotoxikologie

Im Fokus einer starken Forschungsabteilung und internationalen Kooperationen mit Instituten und Experten stehen zwei Ziele der Fa. Heel im Vordergrund: 1. Nachweis der Präparate-­Wirksamkeit, 2. Entschlüsselung der Wirkmechanismen durch Grundlagenforschung. Aus beiden Feldern gibt es laufend neue Ergebnisse, die regelmäßig publiziert werden. Sie liefern gesicherte Argumente in der Diskussion um die Belegbarkeit der Homöopathie  – systematisch und aktuell (s. unten, Übersicht zu klinischen Studien).

409 Homotoxikologie

18

a

b

..      Abb. 18.3  Übersichtsaufnahmen (kraniale Computertomographie) vor (a) und nach Abschluss der homotoxikologischen Behandlung (b). Deutlich

sichtbarer Rückgang der geschwollenen Schleimhaut auf Normalniveau

410

C. Plaue

zz Von Hahnemann zu moderner Forschung

Die Simile-Regel von Hahnemann besagt, dass eine Substanz bestimmte Symptome beim Gesunden hervorrufen kann, die, in „Verdünnung“ (Potenzierung) gegeben, bei Kranken „ähnliche“ Symptome kurieren kann (7 Kap. 17). Grundlage jeder homöopathischen Therapie sind deshalb Arzneimittelbilder der Einzelmittel, die ausführliche Sammlungen von Symptomen darstellen. In dieser klar definierten Form war die Arzneimittelprüfung am Gesunden zu Hahnemanns Zeit revolutionär und hatte als wissenschaftliches Experiment bereits Grundzüge der heutigen Arzneimittelforschung. Auch heute, nach über 200 Jahren Therapiegeschichte in der Homöopathie, zeigt sich die Homotoxikologie dieser Grundlage verpflichtet – allerdings auch unter Einbeziehung der modernen Pharmazie und Medizin. Homöopathische Arzneimittelprüfungen sind keine undefinierten Versuche, sondern klinische Prüfungen an gesunden Probanden. Sie entsprechen internationalen Vorschriften wie EU-Direktiven und CPMP/ICH-Guidelines (7 http://www.ema.europa.eu/ema/index.­  



jsp?curl=pages/regulation/general/general_ content_000362.­jsp, 7 http://www.ema.europa. eu/docs/en_GB/document_library/Scientific_ guideline/2009/09/WC500003687.­pdf; zuletzt

schon mehrfach gelungen; (s. unten, Übersicht zu klinischen Studien). Zweiter Ansatz der Generierung neuer Sichtweisen in der Medizin ist die Grundlagenforschung. Die antihomotoxischen Kombinationsarzneimittel sind auf die Gesetzmäßigkeiten der Homotoxikologie zugeschnitten. Charakteristisch für diese Arzneimittel ist ein Effekt in drei Bereichen, der in der Summe die therapeutische Wirksamkeit ausmacht: 55 matrixentgiftendes Potenzial („Homotoxin-­Ausleitung“), 55 organstärkendes Potenzial, 55 immunmodulierendes Potenzial. Das die Matrix entgiftende Potenzial bedingte historisch die Sammelbezeichnung „Antihomotoxika“. Die wissenschaftliche Verifizierung aller drei bislang empirisch ­ermittelten Effekte ist Gegenstand der Grundlagenforschung. Für den Nachweis der klinischen Wirksamkeit wird neben den homöopathischen Arzneimittelprüfungen eine Vielzahl von Studien (s. unten) durchgeführt. Fragestellungen der Studien sind die bewährten Indikationen. Zwei Arten von Untersuchungen sind von besonderer Bedeutung:



abgerufen am 7.1.2018), der Deklaration von Helsinki, der Berufsordnung der Ärzte sowie dem arzneimittelrechtlichen Vorgehen. Die klinischen Studien entsprechen den Good Clinical Practice Guidelines (7 http://ichgcp.net/ de/, zuletzt abgerufen am 07.01.2018). Sie regeln für klinische Prüfungen Planung, Durchführung und Dokumentation und stellen die Glaubwürdigkeit der Daten sowie die Rechte der Probanden und Patienten sicher. Ziel der Forschung ist es, neue Perspektiven in die Medizin zu bringen. So werden Wirksamkeitsstudien durchgeführt, in denen die Homöopathika mit allopathischen Arzneimitteln verglichen werden. Der wissenschaftliche Nachweis der Ersetzbarkeit chemischer Substanzen durch Homöopathika ist in der Homotoxikologie ein großes Anliegen (und  

18

zz Anwendungsbeobachtungen (AWB) bzw. neu nichtinterventionelle Studien (NIS)

Bei diesem Studientyp werden große Fallzahlen erfasst und mithilfe statistischer Methoden deskriptiv ausgewertet. Ziel ist es, statistisch valide Aussagen zu bestimmten Merkmalen wie Verträglichkeit oder Sicherheit zu bekommen. Auch Ereignisse, die erst eine Langzeituntersuchung an den Tag bringt, sind Gegenstand der AWB. zz Klinische Studien

Sie ist eine von der konventionellen Medizin anerkannte wissenschaftliche Methode, die unter kontrollierten Bedingungen die Wirksamkeit eines Präparats nachweisen kann. In der antihomotoxischen Medizin wurden in den letzten 20 Jahren eine Reihe von klinischen Studien zu verschiedenen Präparaten durchgeführt und publiziert.

411 Homotoxikologie

18

kBirnesser et al. (2003): Gonarthrose Beispiele für klinische Studien in der antihomotoxischen Medizin 55 Zeel T-Lösung zur Injektion bei Arthritis in diversen Gelenken: Lesiak et al. (2001) 55 Zeel T-Lösung zur Injektion bei Arthritis im Knie: Gottwald und Weiser (2000) 55 Behandlung der Gonarthrose: Birnesser et al. (2003) 55 Möglichkeiten einer Lymphtherapie bei diabetischer Polyneuropathie: Dietz (2000) 55 Adjuvante Behandlung der peripheren diabetischen Polyneuropathie: Eiber et al. (2003) 55 Antivirale Aktivität: Roeska und Seilheimer (2010) 55 Symptomatische Behandlung von Atemwegsinfektionen: Schmiedel und Klein (2006) 55 Effekte auf kortikosteroidabhängiges Asthma: Matusiewicz (1997) 55 Behandlung von funktioneller Dyspepsie und Helicobacter-pylori-Gastritis: Ricken (1997) 55 Behandlung von Spasmen bei Kindern: Müller-Krampe et al. (2004) 55 Vergleich Traumeel mit Diclofenac bei Knöchelverstauchung: Gonzalez de Vega et al. (2013) 55 Wirksamkeit von Traumeel bei chemotherapieinduzierter Stomatitis bei Kindern nach Stammzelltransplantation: Oberbaum et al. (2001) 55 Vergleich Traumeel mit Diclofenac und Plazebo bei Sehnenschmerzen: Orizola und Vargas (2007) 55 Behandlung von nichtvestibulärem Schwindel: Strösser und Weiser (2002) 55 Behandlung von Schwindel: Wolschner et al. (2001) 55 Symptomatische Behandlung von akuten fieberhaften Infekten: Müller-Krampe et al. (2002)

Bei der prospektiv offenen multizentrischen Kohortenstudie wurde ein Vergleich zwischen der Einnahme von Cox-2-Inhibitoren (Celecoxib und Rofecoxib) mit Zeel comp N-Tabletten bei Gonarthrose in den Stadien I + II vorgenommen. Nach 6 Wochen zeigte sich eine äquivalente Wirkung bei signifikant besserer Verträglichkeit von Zeel (p < 0,0001). kEiber et al. (2003): Diabetische Polyneuropathie

Hier wurde eine Vergleichsuntersuchung von einer Behandlung mit Alphaliponsäure +/− Lymphomyosot bei diabetischer Polyneuropathie durchgeführt. In der Gruppe, die zusätzlich Lymphomyosot erhielt, ergaben sich signifikante Vorteile der Wirkung bzgl. Parästhesien, Spontanschmerz, Taubheitsgefühl und palpabler Ödeme am Fuß und Unterschenkel. Auch trat die Besserung signifikant schneller ein. kOberbaum et al. (2001): Mukositis bei Chemo-/Strahlentherapie

Es wurde die Wirkung einer oraler Applikation von Traumeel S bei Jugendlichen mit Lymphomen oder Leukämien, welche unter einer chemo-/strahlenbedingten Stomatitis litten, untersucht. In der Verumgruppe (die Studie war doppelblind, randomisiert und plazebokontrolliert) konnte die Schwere und Dauer der therapieinduzierten Stomatitis signifikant verringert werden. 18.9  Ausbildung

Um ein Zertifikat der Österreichischen Ärztegesellschaft für Biologische Regulationsmedizin und Homotoxikologie zu erlangen, ist es notwendig, die Grundlagenseminare 1–7, ein Spezialmodul und ein Spezialseminar zu absolvieren. Für den Nachweis der praktischen Erfahrungen mit der antihomotoxischen Therapie werden im Prüfungsseminar – das Kolloquium

412

C. Plaue

kann in einem der Grundlagenseminare nach Vereinbarung abgelegt werden  – 3 gut dokumentierte Fälle gemeinsam diskutiert und Kenntnisse der Grundlagen der Homotoxikologie überprüft. Details zu den Fragen sind dem Fragenkatalog, der auch als PDF-Datei von der österreichischen Homepage heruntergeladen werden kann, zu entnehmen. Zusätzlich wird zwischen den Kursen in regelmäßigen und verpflichtenden, in allen Bundesländern stattfindenden Qualitätszirkeln über aktuelle Fälle berichtet. Unter der Anleitung erfahrener Homotoxikologen werden die entsprechenden Therapievorschläge ausgearbeitet. Schon während der Ausbildung ist es den Mitgliedern der Gesellschaft möglich, sich bei Therapieproblemen über die Gesellschaft mit spezialisierten Kollegen zu unterhalten. Therapieanfragen aus allen komplementär- oder konventionell-medizinischen Gebieten werden kurzfristig beantwortet. In Deutschland ist nach dem Zusammenschluss zweier ehemaliger ganzheitsmedizinischer Gesellschaften, der Internationalen Gesellschaft für Homöopathie und Homotoxikologie und der Internationalen Gesellschaft für Biologische Medizin, nun die INGK (Internationale Gesellschaft für Natur- und Kulturheilkunde, 7 http://www.­ignk.­de/) für die Homotoxikologie zuständig. In der Schweiz gibt es derzeit keine eigene Gesellschaft für homotoxikologische Medizin. Eine spezifische Ausbildung mit Zertifikat oder Diplom gibt es in beiden Ländern derzeit nicht (es gab sie früher in Deutschland).  

zz Sekretariat/Anlaufstelle/Links

18

Österreichische Ärztegesellschaft für Homotoxikologie und antihomotoxische Medizin Postfach 64 A-1232 Wien [email protected] 7 www.­homotox.­at  

International Society of Homotoxicology and Homeopathy (ISoHH): 7 www.­isohh.­org Internationale Gesellschaft für Natur- und Kulturheilkunde: 7 http://www.­ignk.­de/  



Zusammenfassung 55 Die Homotoxikologie versteht Krankheiten und deren Symptome als Versuch des Organismus, sich von chronischen oder akuten Giftbelastungen (interne Stoffwechselprodukte oder externe Toxine durch Nahrung, Luft, Krankheitserreger etc.) zu befreien. 55 Der Begründer der Therapieform, H.-H. Reckeweg, teilte die verschiedenen Ausprägungen in eine 6-Phasen-Tabelle ein. Der sog. biologische Schnitt zwischen der 3. und 4. Phase kennzeichnet die Grenze zwischen noch bestehender Regulationsfähigkeit und Notwendigkeit der therapeutischen Hilfe rechts des Schnitts (Phasen 4–6). 55 Ziel der Behandlungen ist es, durch Entgiftungsförderung und Organunterstützung eine möglichst komplette Restitution der Selbstregulationsfähigkeit des Organismus zu erreichen und, wo dies nicht erreicht werden kann, zumindest eine möglichst umfangreiche Reduktion der Symptomatik für eine verbesserte Lebensqualität zu erzielen. 55 Die Homotoxikologie fungiert auch als Bindeglied zwischen traditionellen Naturheilmethoden und moderner Wissenschaft. Dies zeigt sich im Einsatz von homöopathisch potenzierten Molekülen des Zellstoffwechsels und neuzeitlichen chemischen Stoffen, die gerade durch Blockade von zellulären Enzymen die Ursache von vielen chronischen Krankheiten darstellen.

Literatur Birnesser H, Klein P, Weiser M (2003) Modernes Homöopathikum ist COX-2-Hemmern ebenbürtig. Sonderdruck 25(4):261–264. Kirchheim-Verlag, Mainz Dietz A-R (2000) Matrixtherapie bei Typ-II-Diabetikern – eine Praxisstudie. Biol Med 29(1):4–9 Eiber A, Klein P, Weiser M (2003) Periphere diabetische Polyneuropathie. Adjuvante homöopathische Behandlung verstärkt den Therapieerfolg. Allgemeinarzt 8/2003. Kirchheim-Verlag, Mainz Gonzalez de Vega C, Speed C, Wolfarth B, Gonzıalez J (2013) Traumeel vs. diclofenac for reducing pain and improving ankle mobility after acute ankle sprain. A multicentre, randomised, blinded, con-

413 Homotoxikologie

trolled and non-inferiority trial. Int J Clin Pract 67(10):979–989 Gottwald R, Weiser M (2000) Treatment of osteoarthritis of the knee with Zeel T.  Medicina Biológica 13(4):109–113.2 HAB (Homöopathsches Arzneibuch) (2017) Amtliche Ausgabe, 9. Aufl. Deutscher Apotheker Verlag, Stuttgart Heel (Hrsg) (2007) Ordinatio Antihomotoxica et Materia Medica. Praktisches Lehrbuch der Antihomotoxischen Therapie. Aurelia, Baden-Baden. (Abrufbar für angemeldete Ärzte) http://homotox.­at/downloads/ordination-fuer-fachkreise/. Zugegriffen am 07.01.2018 Heine H (1997) Lehrbuch der biologischen Medizin. Grundregulation und Extrazelluläre Matrix, 2. Aufl. Hippokrates, Stuttgart Lesiak A, Gottwald R, Weiser M (2001) Skutecznosc kuracji preparatem Zeel T w iniekcjach dostawowych okolostawowych i domiesniowych w chorobie zwyrodnieniowej stawow. Medycyna Biologiczna kwiecień czerwiec zeszyt 2:30–36.1 Matusiewicz R (1997) The effect of a homeopathic preparation on the clinical condition of patients with corticosteroid-dependent bronchial asthma. Biomed Ther XV(3):70–74 Müller-Krampe B, Gottwald R, Weiser M (2002) Symptomatische Behandlung von akuten fieberhaften Infekten mit einem modernen Homöopathikum. Biol Med 31(2):79–85 Müller-Krampe B, Klein P, Weiser M (2004) Behandlung von Spasmen bei Kindern. Vergleich eines Homöo-

18

pathikums mit Butylscopolaminiumbromid. Jatros Pädiatrie, Kinder-und Jugendheilkunde 20(4):1–8 Oberbaum M, Yaniv I, Ben-Gal Y et al (2001) Randomisierte, kontrollierte klinische Studie zum Nachweis der Wirksamkeit von Traumeel S® bei der Behandlung von chemotherapieinduzierter Stomatitis bei Kindern nach Stammzelltransplantation. Cancer 92(3):684–690 Orizola AJ, Vargas F (2007) The efficacy of Traumeel® versus diclofenac and placebo ointment in tendinous pain in elite athletes: a randomized controlled trial. Med Sci Sports Exerc 39(5 Suppl):S79, abstract 858 Ricken K-H (1997) Die Antihomotoxische Behandlung der funktionellen Dyspepsie sowie der Helicobacter-­pylori-Gastritis. Biol Med 26(2):56–61 Roeska K, Seilheimer B (2010) Antiviral activity of Engystol® and Gripp-Heel®: an in-vitro assessment. J Immune Based Ther Vaccines 8:6 Schmiedel V, Klein P (2006) A complex homeopathic preparation for the symptomatic treatment of upper respiratory infections associated with the common cold: an observational study. Explore 2:109–114 Strösser W, Weiser M (2002) Behandlung von nichtvestibulärem Schwindel mit einem modernen Homöopathikum. Biol Med 31(1):4–9 Wolschner U, Strösser W, Weiser M, Klein P (2001) Treating vertigo  – homeopathic combination remedy therapeutically equivalent to dimenhydrinate results of a reference-controlled cohort study. Biol Med 30(4):184–190

415

Mikroimmuntherapie Ursula Bubendorfer und Petra Blum 19.1

Einführung – 416

19.2

Geschichte – 416

19.3

Grundbegriffe/Definitionen – 417

19.4

L abordokumentierte Diagnostik in der Mikroimmuntherapie – 419

19.4.1 19.4.2

 iagnostische Hilfsmittel in der Mikroimmuntherapie – 419 D Labordokumentierte Verlaufskontrolle – 423

19.5

Therapie – 423

19.6

Hauptindikationen – 423

19.6.1 19.6.2

 ikroimmuntherapie bei Infekten – 423 M Mikroimmuntherapie bei Herpesinfektionen und -reaktivierungen – 424 Mikroimmuntherapie bei Entzündungen – 425 Mikroimmuntherapie bei Allergien – 426 Mikroimmuntherapie bei Stress und Depressionen – 427 Mikroimmuntherapie in der Onkologie – 429

19.6.3 19.6.4 19.6.5 19.6.6

19.7

 blauf einer Konsultation mit Beschreibung eines A praktischen Falls – 430

19.8

Studien/Evidenzlage – 431

19.9

Ausbildung – 434 Literatur – 435

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_19

19

416

U. Bubendorfer und P. Blum

19.1  Einführung

Ein intaktes Immunsystem ist Voraussetzung für einen gesunden Organismus; auf diese Erkenntnis baut die Mikroimmuntherapie auf. Mikroimmuntherapie - Therapeutischer Ansatz, durch den das Immunsystem unter Anwendung von Zytokinen und anderen Immunmodulatoren in niedrigen und niedrigsten Dosierungen sanft und gezielt reguliert werden soll.

Die Mikroimmuntherapie nutzt, wie die klassische Immuntherapie, die natürlichen Kommunikationswege des Immunsystems: Sie setzt synthetisch hergestellte immunkompetente Substanzen (Zytokine, Nukleinsäuren u.  a.) ein, um gezielt Informationen an das Immunsystem zu übermitteln (. Abb. 19.1). Im Gegensatz zum klassischen Ansatz werden diese Substanzen in niedrigen (low dose) und niedrigsten Dosierungen (ultra-low dose), entsprechend den natürlichen kaskadenartigen Reaktionsabläufen, verabreicht, was ihre Unschädlichkeit garantiert. Durch diese gezielte Informationsübermittlung werden fehlgeleitete Signalwege des Immunsystems, je nach Indikation, aktiviert, moduliert oder gehemmt. Dadurch soll es wieder effizient und natürlich  

..      Abb. 19.1 Mikroimmuntherapie: Kommunikation mit dem Immunsystem durch den Einsatz von immunkompetenten Substanzen wie Zytokinen und Nukleinsäuren. © Internationales Institut für Mikroimmuntherapie (Institut 3IDI)

19

auf Immunstörungen und angehäufte Belastungen reagieren. Die Mikroimmuntherapie bietet eine neue Sichtweise der krankmachenden (pathophysiologischen) Zusammenhänge auf der Ebene der Immunabwehr und ermöglicht so ein besseres Verständnis der hochkomplexen Netzwerke des Körpers und der Wechselwirkungen zwischen äußeren und inneren Faktoren, die das Immunsystem beeinflussen. Dieser Therapieansatz kann bei einer Vielzahl von Erkrankungen angewendet werden, denen eine Fehlfunktion des Immunsystems zugrunde liegt (u. a. virale und bakterielle Erkrankungen, Allergien, Autoimmunerkrankungen, Krebs). 19.2  Geschichte

Die Mikroimmuntherapie wurde in den 1970er-Jahren durch den belgischen Arzt Dr. Maurice Jenaer begründet (. Abb.  19.2). Er hatte die Idee, Verdünnungen und Verschüttelungen von unspezifischen Nukleinsäuren (DNA, RNA) als Grundinformation für Zellsysteme zu verwenden, um den Allgemeinzustand von Patienten mit Tumorerkrankungen zu unterstützen. Die überraschend positiven  

Desoxiribonukleinsäure

zytotoxische T-Zelle

aktivierte T-Zelle

T-Helferzelle

dendritische Zelle

B-Zelle

Zytokine

417 Mikroimmuntherapie

19

zz Zytokine (Botenstoffe)

..      Abb. 19.2  Dr. Maurice Jenaer, der Begründer der Mikroimmuntherapie. © Labo’Life

Ergebnisse bei seinen Patienten bestärkten seine Vorstellung, dass der Einsatz von immunkompetenten Substanzen in potenzierter Aufbereitung tatsächlich einen regulierenden Einfluss auf ein gestörtes Immunsystem hat (Jenaer 2002, 2008). Dank der rasanten Fortschritte in den Bereichen der biologischen Grundlagenforschung, der Immunphysiologie und der Immunologie, insbesondere durch die Entdeckung der Zytokine (Botenstoffe), erfuhr die Mikroimmuntherapie einen raschen Aufschwung. Heute ist diese Therapie Bestandteil der täglichen Behandlung durch viele Allgemeinmediziner und Fachärzte in Europa. 19.3  Grundbegriffe/Definitionen

Die Mikroimmuntherapie beruht auf dem Zusammenspiel von 7 grundlegenden Wirkungsmechanismen (Jenaer 2008): Wirkungsmechanismen der Mikroimmuntherapie 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.

Zytokine Mikrodosen Verdünnungsmodulation Ausrichtung auf verschiedene Ebenen Sequenzielle Informationsübermittlung Spezifische Nukleinsäuren (SNA) Absorption durch das Lymphsystem

Sie bilden die Grundlage der in der Mikroimmuntherapie eingesetzten Präparate. Es handelt sich um spezialisierte Proteine, die für die Kommunikation zwischen den Zellen des Immunsystems verantwortlich sind. Die wichtigsten derzeit bekannten Zytokine sind 55 die Interleukine (unterteilt in IL-1–IL-36), 55 die Interferone (IFN-α, -β und -γ), 55 die Wachstumsfaktoren (u. a. G-CSF und TGF) und 55 die Tumornekrosefaktoren (TNF-α und -β). Die Gesamtheit der mikroimmuntherapeutischen Komponenten wird ausschließlich durch biotechnologische Synthese hergestellt. zz Mikrodosen

Die Komponenten der mikroimmuntherapeutischen Präparate werden in niedrigen (low dose) und niedrigsten (ultra-low dose) Dosierungen verwendet. Diese Mikrodosen sind den normalen Konzentrationen im Organismus angepasst. Ein weiterer Vorteil der Mikrodosen liegt im Bereich der Informationsübertragung. Eine hoch verdünnte und durch Verschüttelung potenzierte Substanz überträgt Informationen auf klinisch nachvollziehbare Weise. Darüber hinaus bieten die in der Mikroimmuntherapie eingesetzten Mikrodosen einen weiteren Vorteil, der sowohl für die Patienten als auch für die behandelnden Ärzte von unschätzbarem Wert ist: Die Mikroimmuntherapie ist sehr gut verträglich. zz Verdünnungsmodulation

Die Feinabstimmung der Wirkung der Mikroimmuntherapie basiert teilweise auf dem Prinzip der Hormesis (Lushchak 2014) und teilweise auf den Erkenntnissen im Bereich der Anwendung von niedrigen Dosierungen (Tournier 2017). 55 Zur Stimulation der Wirkung eines Zytokins bzw. einer anderen immunregulierenden Substanz wird eine niedrige Verdünnung verwendet.

418

U. Bubendorfer und P. Blum

55 Zur Modulation der Wirkung wird eine mittlere Verdünnung verwendet, durch die der Organismus über den Nutzen der betreffenden Substanz informiert wird. 55 Zur Hemmung (Einbremsung) der Wirkung ist eine hohe Verdünnung erforderlich. Durch die Verwendung von verschiedenen Verdünnungsstufen lassen sich die Funktionen des Immunsystems in Abhängigkeit von den festgestellten Erkrankungen stimulieren, modulieren oder hemmen. zz Ausrichtung auf verschiedene Ebenen

Im Gegensatz zu dem in der klassischen Immunologie üblicherweise angewandten Konzept des „selektiven Antagonisten“ entfaltet die Mikroimmuntherapie ihre Wirkung auf verschiedenen Ebenen. Dabei ist sie nicht nur auf die Bekämpfung der Symptome, sondern auch auf die Beseitigung der tiefer liegenden Krankheitsursachen ausgerichtet; sie eignet sich demnach sowohl zur Vorbeugung als auch zur Behandlung unterschiedlicher Erkrankungen.

es sich um einen winzigen Teil aus einem einzigen Gen eines Organismus. Durch die SNA soll z.  B. der Replikation eines Virus oder der unkontrollierten bzw. fehlgeleiteten Expression eines Gens entgegengewirkt werden. Die therapeutische Innovation der SNA wurde durch Labo’Life international patentiert. zz Absorption durch das Lymphsystem

Das lymphatische System ist in physiologischer Hinsicht sozusagen die Schaltzentrale der Immunantwort und gleichzeitig Treffpunkt und Mobilisierungsort der an der Immunreaktion beteiligten Zellen. Das zur Verabreichung der Mikroimmuntherapie verwendete galenische Verfahren der sublingualen Applikation (. Abb.  19.3) entspricht am ehesten dem natürlichen Vorgang der Aufnahme einer Information durch die v.  a. dort vorhandenen immunkompetenten Zellen. Dadurch soll eine optimale Informationsvermittlung an das Immunsystem ermöglicht werden.  

zz Sequenzielle Informationsübermittlung

Die Mikroimmuntherapie wird in sequenzieller Abfolge eingesetzt. Jede Rezeptur enthält eine bestimmte Verteilung von Zytokinen und anderen Immunregulatoren in unterschiedlichen Konzentrationen, die in zeitlich abgestufter Form eingenommen werden. Dadurch wird die physiologische Immunantwort, die ihrerseits kaskadenartig und in zeitlich abgestufter Form abläuft, nachgeahmt und chronologisch wiederholt, wodurch eine effektive Immunreaktion ausgelöst werden kann.

zz Spezifische Nukleinsäuren (SNA)

19

Neben den Zytokinen als Botenstoffe des Immunsystems enthalten die Rezepturen der Mikroimmuntherapie eine weitere, in niedrigen Dosierungen eingesetzte Wirkstoffgruppe: die spezifischen Nukleinsäuren (specific nucleic acids, SNA). SNA sind aus DNA oder RNA abgeleitete synthetische Oligonukleotide. Dabei handelt

..      Abb. 19.3  Sublinguale Einnahme der Mittel der Mikroimmuntherapie. © Internationales Institut für Mikroimmuntherapie (Institut 3IDI)

419 Mikroimmuntherapie

>> Die Mikroimmuntherapie „spricht die gleiche Sprache“ wie das Immunsystem. Die Mikroimmuntherapie ersetzt nicht das Immunsystem, sie zwingt es nicht in eine bestimmte Richtung und blockiert auch nicht seine Funktion. Sie überträgt lediglich auf schonende und subtile Weise Informationen.

19.4  Labordokumentierte

Diagnostik in der Mikroimmuntherapie

Das Verständnis der Immunologie, der interaktiven Zellregulation und der hochvernetzten immunologischen Systeme hat zu vielen neuen Erkenntnissen über Regulationsmechanismen im Körper geführt. Dadurch wurden ganz neue Wege eröffnet, sowohl bezüglich des Verständnisses des hochkomplexen immunologischen Netzwerks als auch der vielfältigen Möglichkeiten, die entsprechenden pathologischen Vorgänge zu therapieren. 19.4.1  Diagnostische Hilfsmittel

in der Mikroimmuntherapie

Die Mikroimmuntherapie orientiert sich bei chronischen Erkrankungen wie chronischen Infekten, chronischer Müdigkeit, Allergien, Autoimmun-Tendenzen und onkologischen Problemen u. a. an folgenden Punkten: Für die Mikroimmuntherapie wichtige diagnostische Hilfsmittel 1. Ausführliche Anamnese 2. Blickdiagnose 3. Labordiagnostik, speziell bei chronischen Erkrankungen –– Basislaboruntersuchungen –– Diagnostik des „immunitären Ist-­ Zustands“: Lymphozytentypisierung, Proteinprofil, Inflammationsprofil –– HLA-Typisierung –– Weitere Laboruntersuchungen

19

zz Ausführliche Anamnese

Sie stellt den wichtigsten Teil jeder ganzheitsmedizinischen Diagnostik dar, um in der Zusammenschau mit den Beschwerden und Krankheitsbildern die wahren komplexen Ursachen erfassen zu können. Dabei werden u. a. folgende Aspekte ermittelt: 55 speziell bei Kindern: Schwangerschaft, Geburt, 1. Lebensjahr, frühere Erkrankungen und Therapien (insbesondere Infekte und die Einnahme von Antibiotika), 55 genaue Beschreibung von Beschwerden und Erkrankungen, 55 Erkrankungen der Eltern und Geschwister, 55 Impfungen und mögliche Impfreaktionen, 55 Unfälle, Operationen, Herdbelastungen, 55 Zahnpanorama, 55 Verdauungsprobleme, 55 Therapien und Dauermedikationen, 55 Allergien, 55 Schmerzen, 55 usw. Da Erkrankungen hauptsächlich mit dem Lebensstil in Verbindung stehen, ist es außerdem wichtig, folgende Informationen zu erheben: 55 Beruf, sozialer Status, 55 Trinkgewohnheiten, 55 Ernährung, 55 Bewegung, 55 Suchtmittel: Tabak-, Alkohol- oder Koffeinkonsum. zz Blickdiagnose

Die körperliche Untersuchung, insbesondere Gewicht, Bauchumfang, Haltung, Beweglichkeit der Gelenke und der Wirbelsäule sowie der Zustand der Haut, der Zunge, der Zähne, des Darms (Meteorismus, Druck-/Klopfempfindlichkeit) ergeben oft subtile Hinweise für vorhandene Schwachstellen.

zz Labordiagnostik, speziell bei chronischen Erkrankungen

Die Punkte 1 und 2 sind die Grundvoraussetzungen für individuell entsprechende Laboruntersuchungen, die eine weitere Orientierungshilfe für das daraus resultierende therapeutische Konzept und für Verlaufskontrollen sind.

420

U. Bubendorfer und P. Blum

kBasislaboruntersuchungen

Die klassischen ausführlichen Laborparameter, die Sofortallergie-Diagnostik (IgE Rast), die Schilddrüsenfunktionsparameter, die virale Serologie (ELISA) (speziell Herpesviren: Zytomegalie-, Epstein-Barr-, Varizella-Zoster-­ Viren) sowie bakterielle Belastungen (Chlamydien, Helicobacter, Borrelien) ergeben zunächst eine grobe Orientierung für Behandlungsschwerpunkte. Außerdem ist bei Autoimmuntendenzen und -erkrankungen eine Autoantikörper-Diagnostik (z. B. antinukleäre Antikörper, Schilddrüsen-Antikörper) unabdingbar. Die Enzymdiagnostik wie z.  B. die Bestimmung

von DAO (Diaminoxidase) (Nachweis von Hist­ aminintoleranz) sowie Untersuchungen auf Laktose- und Fruktoseintoleranz lassen in­ direkt auf den Zustand des Darms schließen. Diagnostik des „immunitären Ist-Zustands“

kLymphozytentypisierung

Sie gibt Auskunft über den zellulären Immunstatus, wobei unterschiedliche Lymphozyten-­ Subpopulationen quantitativ erfasst werden. Die Darstellung der Ergebnisse in Säulenkolonnen ermöglicht eine einfache und übersichtliche Interpretation der komplexen immunologischen Zusammenhänge im Praxisalltag (. Abb. 19.4).  

250

200

150

100

50

regulatorische T-Zellen

B-Zellen (B19+5)

B B19+5 T4+25 B-Zellen

natürliche Killerzellen (NK) 3

natürliche Killerzellen (NK) 2

aktivierte T-Zellen

Ratio T8z/T8s

T8-Zellen

seneszente T8-Zellen

T4-Zellen

T8s T8z/T8sTakt NK1 NK2 NK3 natürliche Killerzellen (NK) 1

19

zytotoxische T8-Zellen

T8 T4/T8 T8z Ratio T4/T8

T4

Lymphozyten

Lymp. T3 T-Zellen

0

..      Abb. 19.4  Vereinfachte Darstellung der Lymphozytentypisierung. Blau Normalbereich, grün und rot Patientenwerte. © Internationales Institut für Mikroimmuntherapie (Institut 3IDI)

421 Mikroimmuntherapie

kProteinprofil

Es bietet einen raschen, klaren Überblick bezüglich der humoralen Ebene des Immunsystems; dabei werden „flüssige Bestandteile des Blutes“ wie Immunglobuline, Entzündungs- und Ernährungsproteine bestimmt (. Abb. 19.5).  

kInflammationsprofil

Es werden die Serumkonzentrationen unterschiedlicher Zytokine und anderer Proteine

200

Immunglobuline

150

bestimmt. Das Inflammationsprofil ist hilfreich, um inflammatorische Prozesse unterschiedlicher Herkunft zu differenzieren: die T-Zell-vermittelte, monozytäre oder granulozytäre Entzündung sowie die Entzündung aus einem Herdgeschehen (. Abb. 19.6).  

zz HLA-Typisierung

Ihr liegt die Erkenntnis zugrunde, dass viele Krankheiten mit bestimmten HLA-Antigenen

Entzündungsproteine

Ernährungsproteine

143 124 112

107 100

97

93

19

92

86

50

11

IGM

IGG

IGA

C3

AGP

HPT

ATP

TRF

ALB

Immunglobulin M

Immunglobulin G

Immunglobulin A

Komplementfaktor

α1-Glykoprotein

Haptoglobin

α1-Antitrypsin

Transferrin

Albumin

0

..      Abb. 19.5  Vereinfachte Darstellung des Proteinprofils. Blau Normalbereich, grün und rot Patientenwerte. © Internationales Institut für Mikroimmuntherapie (Institut 3IDI)

U. Bubendorfer und P. Blum

Makrophagen GramMonozyten negative

Bakterien

LPS-bindendes Protein (S)

Inflammation

TH1 viral

Tumornekrosefaktor-α (TNF-α) (S)

chronische

Interferon-γ (IFN-γ) (S)

TH3

Interleukin 23 (S)

Interleukin 8 (S)

Interleukin 6 (S)

Interleukin 5 (S)

TH2 Akute GranuEosinophile Inflammation lozyten Parasiten

Interleukin 10 (S)

422

..      Abb. 19.6  Vereinfachte Darstellung des Inflammationsprofils. © Internationales Institut für Mikroimmuntherapie (Institut 3IDI)

19

assoziiert sind. Dadurch lassen sich R ­ ückschlüsse auf das Krankheitsrisiko ziehen. Das humane Leukozytenantigensystem (HLA-­System, HL-Antigene, human leukocyte antigen) umfasst eine Gruppe menschlicher Gene, die für die Funktion des Immunsystems zentral sind. Der serologische genetische Code wird bei Autoimmunerkrankungen in speziellen Labors bestimmt, um zusätzliche diagnostische Hinweise bezüglich einer Autoimmuntendenz zu bekommen. Der individuelle serologische HLA-Code wird dann therapeutisch in Form von C27-Globuli verabreicht, um die genetische Disposition bei Autoimmunerkrankungen (Hashimoto-Thyreoiditis, multiple Sklerose, Psoriasis, Rheuma etc.) modulierend einzudämmen.

zz Weitere Untersuchungen

Laboruntersuchungen wie Nahrungsmittel­ intoleranztests oder Mikrobiota- und Schleimhaut-Diagnostik spielen in der Beurteilung des Darms, des „Basislagers“ des Immunsystems, eine wichtige Rolle. So geben sie Hinweise auf einen möglichen Barriereverlust des Darms (leaky gut) oder auf eine chronische Entzündung der Schleimhäute (silent inflammation). >> Das Ziel der zuvor genannten dia­ gnostischen Hilfsmittel ist es, eine differenzierte Diagnostik und individuell adaptierte Therapiestrategie, insbesondere bei chronischen Erkrankungen, zu erreichen.

423 Mikroimmuntherapie

19.4.2  Labordokumentierte

Verlaufskontrolle

Die labordokumentierte Verlaufskontrolle unterstützt des Weiteren die rhythmisch sanft regulierende therapeutische Feinabstimmung mit entsprechenden mikroimmuntherapeutischen Formeln, um die Dysbalance im Immunsystem des chronisch kranken Patienten allmählich in ein natürliches, selbstregulierendes, physiologisches Gleichgewicht zu überführen. >> Die beschriebenen biologischen Untersuchungen sind ein moderner medizinischer Ansatz, der sowohl diagnostisch als auch in der konkreten therapeutischen Umsetzung seine Stärken entfaltet. Sie sind hilfreiche Meilensteine für das Verständnis und die Therapie von hochkomplexen Krankheiten, die heutzutage immer häufiger und in immer jüngerem Alter in Erscheinung treten.

19.5  Therapie

Wie in 7 Abschn.  19.4 ausgeführt, sind eine ausführliche Diagnose, das Gespräch mit dem Patienten und die Erfahrung des Arztes Vo­ raussetzungen für eine erfolgreiche Behandlung. Die Mikroimmuntherapie hat sich besonders bewährt bei 55 akuten und chronischen Infektionen, 55 akuten und chronischen Entzündungen, 55 Allergien, 55 Autoimmunerkrankungen, 55 Depressionen und 55 Neoplasien.  

Dazu werden unterschiedliche Präparate eingesetzt, die eine für die Erkrankung spezifische Zusammensetzung aufweisen und auf die Behebung der Ursachen der Immunstörungen hin konzipiert sind. Die Mikroimmuntherapie kann auf synergistische Weise mit anderen Therapieverfahren als Teil eines ganzheitlichen Therapieplans kombiniert werden.

19

19.6  Hauptindikationen

Die Indikationen der in diesem Kapitel beschriebenen Formeln leiten sich von den Eigenschaften und den Verdünnungsstufen der Inhaltsstoffe ab und entsprechen den Erfahrungen der den medizinischen Gesellschaften für Mikroimmuntherapie in Europa angehörenden Ärzte. Die hier präsentierten Informationen zielen nicht darauf ab, die Arzt-­Patient-­ Beziehung zu ersetzen, sondern diese zu ergänzen. Es ist wichtig, die mikroimmunthe­ rapeutischen Präparate (besonders bei chronischen Fällen) individuell und unter Kontrolle eines Arztes oder Heilpraktikers anzuwenden. 19.6.1  Mikroimmuntherapie bei

Infekten

Verschiedene Ursachen, wie u. a. eine schlechte oder unausgewogene Ernährung, Bewegungsmangel, ständiger Stress sowie Umweltbelastungen, führen zu einer Schwächung des Immunsystems und somit zu einer erhöhten Infektanfälligkeit. Vor allem Kinder sind häufig davon betroffen. Auftretende Infekte werden bei diesen oftmals zu schnell und ungezielt mit fiebersenkenden Medikamenten und Antibiotika behandelt, die das hochkomplexe, natürliche Abwehrsystem zunehmend schwächen und zur Chronifizierung von Infekten (chronische Rhinitis, chronische Otitis, chronisch-rezidivierende Bronchitis etc.) beitragen. Unspezifische Reaktionen der angeborenen Immunabwehr, wie z. B. Fieber sind erforderlich, um eine adaptive spezifischere Immunantwort auszulösen und somit pathogene Erreger effizient bekämpfen zu können. Die Schnittstelle zwischen angeborenem und adaptivem Immunsystem ist der Schrittmacher für den weiteren Verlauf einer Infektion. Genau an dieser Schnittstelle setzt die Mikroimmuntherapie an, durch die dem Immunsystem wieder zu seiner natürlichen Reaktionsfähigkeit und Effizienz bei der Infektabwehr verholfen werden soll (. Abb.  19.7). Dabei werden in der spezifischen mikroimmunthe­  

424

U. Bubendorfer und P. Blum

IL-6

Rekrutierung

TNF-α

IL-1 Bakterien

angeborene Immunabwehr

Makrophage IL-1, IL-6, TNF-α

Antigen

neutrophiler Granulozyt infiammatorischer Monozyt

Zell-Zell-Interaktion und Aktivierung von Zellen der erworbenen Immunität

Proliferation

IL-2

erworbene Immunabwehr

IL-2

T-Helferzelle IL-2 antigenpräsentierende Zelle zytotoxische T-Zelle

IL-2

IL-6

Antikörper

IL-2

grün stimulierende Wirkung

B-Zelle

IL-5, IL-2

IL-6 Plasmazelle

..      Abb. 19.7  Vereinfachte Darstellung des Einsatzes der Mikroimmuntherapie bei Immunschwäche (Erläuterungen im Text). © Internationales Institut für Mikroimmuntherapie (Institut 3IDI)

19

rapeutischen Formel u. a. proinflammatorische Zytokine wie z. B. TNF-α, IL-1 oder IL-6 (Newton und Dixit 2012) eingesetzt, die eine wichtige Rolle in der Rekrutierung von Zellen der angeborenen Immunität (neutrophile Granulozyten, Monozyten) zum Infektionsort und somit bei der Beseitigung des Krankheitserregers spielen. Diese Zytokine liegen in stimulierenden Verdünnungen vor, um diesen Prozess zu unterstützen. Außerdem sind Zytokine wie IL-2 (Liao et al. 2013) in stimulierender Verdünnung enthalten, um die Proliferation von Zellen der erworbenen Immunabwehr zu fördern. IL-6 (Hunter und Jones 2015) dient ebenfalls der Differenzierung der B-Zellen in Plasmazellen, denen eine entscheidende Rolle in der Abwehr zukommt, da sie Antikörper produzieren. Somit wirkt die Mikroimmuntherapie gezielt und regulierend auf unterschiedliche Immunzellen der angeborenen und der adaptiven Immunreaktion ein, damit eine effiziente Auseinandersetzung mit den Krankheitserregern erfolgen kann.

>> Die Mikroimmuntherapie eignet sich sowohl für Kinder als auch für Erwachsene als eine allgemeine hocheffiziente Stärkung des Immunsystems gegenüber unterschiedlichen Viren, Bakterien und Parasiten. Sie ist damit sehr hilfreich bei allen Fällen von akuter oder chronischer Immunschwäche.

19.6.2  Mikroimmuntherapie bei

Herpesinfektionen und -reaktivierungen

Chronische Infektionen gelten heutzutage als Auslöser unterschiedlicher schwerwiegender Erkrankungen. Vor allem Herpesviren, die latent im Körper verbleiben und sich anschließend reaktivieren, stellen einen Risikofaktor für die Gesundheit dar. Die Gruppe der Herpesviren mit dem Herpes-­simplex-, Zytomegalie-, Epstein-Barr- und Varizella-Zoster-Virus wird mit der Entstehung und dem Fortschreiten

425 Mikroimmuntherapie

unterschiedlicher neurologischer Beschwerden (Meyding-­Lamadé und Strank 2012), Autoimmunerkrankungen (Posnett 2008), Tumoren (Alibek et al. 2014) etc. in Verbindung gebracht.

19

19.6.3  Mikroimmuntherapie bei

Entzündungen

Eine Entzündung (Inflammation) ist eine physiologisch notwendige und normale Immun>> Es ist wichtig, diese Viren rechtzeitig zu reaktion des Körpers auf bestimmte Reize wie erkennen und effektiv zu behandeln, Infektionen (Viren, Bakterien etc.) oder auf um das Gleichgewicht im Organismus einen Gewebeschaden. Durch die Entzündung wiederherzustellen und Folgeerkransollen Immunzellen mobilisiert, der auslösende kungen zu vermeiden. Insgesamt hängt Reiz beseitigt und die angerichteten Schäden die Erkrankungsschwere einer Infektion repariert werden (Medzhitov 2008). Die Entvon der immunologischen Ausgangszündung ist somit ein wesentlicher Bestandteil lage ab. des Heilungsprozesses. Zytokine spielen, wie Die Mikroimmuntherapie bietet effiziente in 7 Abschn. 19.3 erwähnt, eine wichtige VerDiagnose- und Therapiemöglichkeiten in mittlerrolle in der Immunreaktion und somit diesem Bereich (7 Abschn. 19.4). Sie verfügt auch bei Entzündungen. Auf der einen Seite über diverse Formeln, durch die das Immun- gibt es entzündungsfördernde Zytokine wie system unter Berücksichtigung der virusspe- TNF-α oder IL-1, die u.  a. das Anlocken von zifischen Pathophysiologie reguliert werden Immunzellen zum Infektionsort, deren Aktikann. vierung und die Freisetzung weiterer Zytokine Die Mikroimmuntherapie unterstützt die bewirken und somit eine wichtige Rolle in der Immunabwehr bei akuten Infektionen und Re- Abwehr spielen (Feghali und Wright 1997). aktivierungen der o.  g. Viren aus der Herpes-­ Auf der anderen Seite gibt es entzündungsGruppe: hemmende Zytokine wie IL-10 oder TGF-β, 55 Herpes-simplex-Virus, die freigesetzt werden, sobald der Krankheits55 Zytomegalievirus, erreger bekämpft wurde (Cavaillon 1993). 55 Epstein-Barr-Virus, Diese tragen zum Abklingen der Entzündung 55 Varizella-Zoster-Virus. sowie zur Abschaltung der aktivierten Zellen bei, wodurch die Balance im Körper wiederDas Ziel der Anwendung Mikroimmunthera- hergestellt wird. Sollte dieser Prozess nicht in pie in diesem Bereich ist es: angemessener Weise vollzogen werden, kön55 das Immunsystem durch den Einsatz nen diese Reaktionen zu einem Dauerzustand von unterschiedlichen Botenstoffen und werden. Sie verlaufen meist unterschwellig; anderen Immunregulatoren in der Ausman spricht in diesem Zusammenhang auch einandersetzung mit den Viren zu untervon silent inflammation. stützen, 55 die Virusvermehrung und Infektion ande- >> Diese lang anhaltenden Entzündungen tragen zur Entstehung unterschiedrer Zellen mithilfe von spezifischen Nuklelicher chronischer und autoimmuner insäuren (SNA) einzudämmen, Erkrankungen wie rheumatoide Arthritis, 55 der Viruspersistenz und den damit einArteriosklerose, metabolisches Syndrom hergehenden Erkrankungen entgegenzuoder Diabetes Typ 2 bei (Koshiyama wirken.  



>> Durch die Mikroimmuntherapie sollen die körpereigenen Selbstheilungskräfte trainiert sowie virale Erkrankungen gezielt und nachhaltig behandelt werden.

2010).

Die Mikroimmuntherapie kann bei entzündlichen Prozessen eine entscheidende Rolle spielen. In der Formel zur Regulierung des Immunsys-

426

U. Bubendorfer und P. Blum

TNF-α

Rekrutierung

IL-1

Bakterien

angeborene Immunabwehr

Makrophage IL-1, IL-6, TNF-α neutrophiler Granulozyt

Antigen

Zell-Zell-Interaktion und Aktivierung von Zellen der erworbenen Immunität

infiammatorischer Monozyt

Proliferation

IL-2

erworbene Immunabwehr

IL-2 T-Helferzelle IL-2

antigenpräsentierende Zelle

zytotoxische T-Zelle

IL-2 Antikörper

IL-2

rot

hemmende Wirkung

B-Zelle

IL-5 IL-2,

IL-6 Plasmazelle

..      Abb. 19.8  Vereinfachte Darstellung des Einsatzes der Mikroimmuntherapie bei Entzündungen (Erläuterungen im Text). © Internationales Institut für Mikroimmuntherapie (Institut 3IDI)

tems bei akuten und subakuten Entzündungen sind u.  a. TNF-α, IL-1 und IL-2  in hemmenden Verdünnungen enthalten, um der Aktivität unterschiedlicher an der Entzündungsreaktion beteiligter Zellen – sowohl der angeborenen als auch der erworbenen Immunität – entgegenzuwirken. Dadurch soll die Entzündungskaskade abgeschwächt und die Balance wiederhergestellt werden (Reig 2014) (. Abb. 19.8). Daneben gibt es eine andere Mikroimmuntherapie-Formel, die wesentlich komplexer aufgebaut ist und hauptsächlich zur Modulierung von chronischen Entzündungsreaktionen bestimmt ist. Diese enthält u.  a. Zytokine wie TNF-α, IL-1, RANTES (regulated on activation, normal T cell expressed and secreted) in hemmenden Verdünnungen sowie IL-10 oder TGF-β in stimulierenden Verdünnungen, um die Balance zwischen pro- und antiinflammatorischen Zytokinen wiederherzustellen. Weitere gewebespezifische Zytokine üben ebenfalls eine regulierende Wirkung aus (Reig 2014).  

19

Im Falle von Erkrankungen wie rheumatoider Arthritis oder chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen kommen Formeln mit einer spezifischen Zusammensetzung und Struktur zum Einsatz. >> Durch die Mikroimmuntherapie soll eine spezifisch modulierende Wirkung auf akute und chronische Entzündungen und deren Folgewirkungen erzielt werden.

19.6.4  Mikroimmuntherapie bei

Allergien

Bei der Allergie handelt es sich um eine Überreaktion des Immunsystems gegen eigentlich harmlose, körperfremde Substanzen, sog. Allergene (Pollen, Tierhaare usw.). Das Immunsystem von Allergikern stuft diese Substanzen als gefährlich ein und bekämpft sie mit einer fehlgeleiteten Abwehrreaktion.

427 Mikroimmuntherapie

>> Allergie bedeutet Intoleranz und in der Folge Dauerstress für das Immunsystem.

Die Mikroimmuntherapie kann einen wesentlichen Teil dazu beitragen, den Organismus unter regulierendem Einsatz von Botenstoffen zu einer ausgeglichenen Immunantwort zurückzuführen und demnach den ununterbrochenen Balanceakt zwischen physiologischer Toleranz und Intoleranz direkt auf der Ebene des Immunsystems zu unterstützen. Ablauf einer allergischen Reaktion Dieser wird zunächst erläutert, um die Rolle der Mikroimmuntherapie bei Allergien besser verstehen zu können: Wenn ein Allergen in den Körper eindringt, wird es von antigenpräsentierenden Zellen wie Makrophagen oder dendritischen Zellen absorbiert, prozessiert, über HLA-­II-­Moleküle präsentiert und von T-Helferzellen (Th) erkannt. Es ist wichtig, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass die Th-Zellen nach dem Kontakt mit einem Antigen aktiviert werden und sich anschließend funktionell in spezielle Subpopulationen (Th1-, Th2oder Th17-Zellen) ausdifferenzieren. Bei gesunden Menschen besteht eine Balance zwischen diesen Zellen. Bei Allergikern hingegen verschiebt sich das Gleichgewicht in Richtung der Th2-Zellen, d. h., es kommt zur vermehrten Aktivierung dieser Zellen. Die Th2-Zellen produzieren verschiedene Botenstoffe, die wiederum eine Entzündungsreaktion auslösen. Zu diesen Botenstoffen gehören zum Beispiel IL-4 und IL-13, welche die Produktion von IgE durch die B-Zellen anregen. Diese Antikörper sind an der akuten Auslösung allergischer Reaktionen beteiligt. Sie binden an Mastzellen, die nach Stimulierung und Quervernetzung durch Allergene mit der Freisetzung von Abwehrstoffen wie Histamin oder Prostaglandinen reagieren (Galli et al. 2008). Die allergische Sofortreaktion kann das gesamte Spektrum der bekannten Symptome umfassen wie Hautrötung, Schnupfen, Juckreiz, Schleimhautschwellung und Verengung der Atemwege. Sie wird dann fortgesetzt mit der Ausschüttung von IL-5, IL-3 und GM-CSF durch T-Lymphozyten. Dadurch werden eosinophile Granulozyten in die Entzündungsbereiche gelenkt.

19

Immunsystem wieder in die Lage versetzt werden, in angemessener Weise auf Allergene zu reagieren.

Die Mikroimmuntherapie setzt bei der Entstehung der Immunreaktion mit der Differenzierung der T-Helferzellen zu Th1- bzw. Th2-Zellen an und wirkt darüber hinaus auf den gesamten Ablauf der allergischen Reaktion ein. Die spezifische Formel enthält u.  a. Zytokine wie IL-4 und IL-13 in hemmenden Verdünnungen, um die Differenzierung von Th2-Zellen sowie die Produktion von IgE durch B-Zellen und somit die Degranulation von Mastzellen zu vermindern. Gleichzeitig soll durch den Einsatz von Zytokinen wie IL-5 und IL-13 in hemmenden Verdünnungen der Aktivierung eosinophiler Granulozyten entgegengewirkt werden (. Abb. 19.9). Bei chronischen Infekten und Immunschwäche, die bei Allergikern häufig auftreten, können andere Mikroimmuntherapie-Formeln zum Einsatz kommen, um die Th1/Th2-­ Balance wiederherzustellen. Sollten Infektionen mit einem Herpesvirus (Epstein-Barr-Virus, Zytomegalievirus, Varizella-­ Zoster-Virus) vorliegen, die eine nicht zu unterschätzende Rolle bei Allergien spielen können, werden die entsprechenden spezifischen Formeln angewendet.  

>> Durch die Mikroimmuntherapie kann das Immunsystem an seinen Schaltstellen effektiv und natürlich in Richtung mehr Toleranz moduliert werden, um den „allergischen Marsch“ und die Tendenz in Richtung Autoimmunität bzw. chronischer Krankheit zu stoppen.

19.6.5  Mikroimmuntherapie bei

Stress und Depressionen

>> Bei einer Allergie handelt es sich um eine hochkomplexe und vielschichtige Reaktion des Immunsystems, bei der unterschiedliche Immunmediatoren beteiligt sind. Durch die Mikroimmuntherapie soll auf diesen unterschiedlichen Ebenen in zeitlich abgestufter Form agiert und das

Stress kann sich  – in einem bestimmten Maß  – positiv auf die Funktionsfähigkeit des Organismus auswirken. Eine langandauernde, chronische Stressbelastung ist jedoch eine der Hauptursachen für Funktionsstörungen im komplex vernetzten Nerven-, Hormon-

428

U. Bubendorfer und P. Blum

Allergene

IL-4 IL-4

naive T-Zelle antigenpräsentierende Zelle

IL-5

IL-4

Th2-Zelle

IL-13

Degranulation IL-4 IL-13

IL-5 IL-13

B-Lymphozyt

IgE

IL-13

eosinophiler Granulozyt Mastzelle rot hemmende Wirkung

..      Abb. 19.9  Vereinfachte Darstellung des Einsatzes der Mikroimmuntherapie bei Allergien (Erläuterungen im Text). © Internationales Institut für Mikroimmuntherapie (Institut 3IDI)

19

und Immunsystem und kann zur Entstehung schwerwiegender Erkrankungen wie z. B. Depressionen beitragen. Eine Hypothese zur Entstehung von Depressionen geht davon aus, dass diese im weitesten Sinne auf einer Störung des Stresshormonsystems, der sog. Hypothalamus-­Hypophysen-NebennierenAchse (HPA-Achse), beruhen (Board et al. 1956). Der Hypothalamus produziert CRF (syn. CRH, Kortikotropin-Releasing-Hormon), der auf die Hypophyse steuernd einwirkt. In dieser wird entsprechend ACTH (adrenokortikotropes Hormon) gebildet, das wiederum regulierend in der Nebenniere eingreift, um Kortisol zu produzieren. Unter Stress verändert sich dieser Regelkreis. Der Hypothalamus produziert verstärkt CRF, dementsprechend wird in der Hypophyse die ACTH-Bildung angekurbelt, und es wird verstärkt Kortisol in der Nebenniere gebildet (Varghese und Brown 2001). Neben der verstärkten Freisetzung von Kortisol aufgrund der Hyperaktivität der HPA-­ Achse kann u. a. eine Verminderung des Spiegels von Serotonin (dem „Glückshormon“) im Gehirn auftreten, was zur Entstehung von depressiven Symptomen beiträgt (Dinan 1994).

Manche depressive Patienten weisen nicht nur eine gesteigerte Sekretion von Kortisol, sondern auch von proinflammatorischen (entzündlichen) Th1-Zytokinen auf. Die antiinflammatorischen Th2-Zytokine sowie die Th3-Zytokine als Regulatoren werden dagegen vermindert produziert (Myint et al. 2005). Somit ergibt sich eine Th1-Lastigkeit in Richtung Entzündungsstoffwechsel. Proinflammatorische Th1-Zytokine üben eine aktivierende Wirkung auf die HPAAchse aus und greifen in den Tryptophan-Stoffwechsel ein. Tryptophan, eine Aminosäure, die als Vorläufer von Serotonin gilt, wird durch das Enzym Indolamin-­ 2,3-Dioxygenase (IDO) zu Kynureninen abgebaut. Proinflammatoriche Zytokine stimulieren die Wirkung dieses Enzyms und führen somit zu einem Mangel an Tryptophan und damit einhergehend auch an Serotonin (Christmas et al. 2011). Neurotoxine an den Nervenzellen werden ebenfalls durch die Entstehung von Kynureninen erhöht. Diese Dysbalance zwischen den Th1-, Th2- und Th3-Zytokinen und der damit einhergehende Mangel an wichtigen Neurotransmittern wie Serotonin können auf unterschiedliche Ursachen wie chronischer

19

429 Mikroimmuntherapie

Stress, chronische Infektionen und meist eine gestörte Darmflora mit Barriereverlust zurückgeführt werden. >> In diese beschriebene Regelkreisstörung der HPA-Achse, in die Regulation der Th1-, Th2- und Th3-Zytokine sowie in die Regulation des Kynurenin-­Metabolismus greift die für Depressionen spezifisch konzipierte Formel der Mikroimmuntherapie ein.

Die Regulation der HPA-Achse erfolgt durch den Einsatz von CRF in hemmender Verdünnung, um den Kortisolspiegel zu senken (Lejeune 2014). Um die Dysbalance zwischen den Th1-, Th2- und Th3-Zytokinen wiederherzustellen, werden proinflammatorische Zytokine Th1 wie z. B. IL-1 oder TNF-α in hemmenden Verdünnungen und antiinflammatorische Zytokine Th2 wie z. B. IL-4 sowie Th3-­Zytokine wie TGF-β in stimulierenden Verdünnungen eingesetzt (Lejeune 2014) (. Abb. 19.10). Über die Regulation der Zytokine wird gleichzeitig der Kynurenin-Metabolismus ausgeglichen, da nun die Balance der Th1- und Th2-Zytokine allmählich wiederhergestellt wird. Somit stabilisiert sich auch das Gleichgewicht  

IL-2 IL-1

rot

zwischen Neuroprotektion und Neurodegeneration. Um das Netzwerk „Stoffwechsel–Hormonsystem–Immunsystem“ zu regulieren, kann unterstützend eine andere Mikroimmuntherapie-­ Formel eingesetzt werden, die u. a. Substanzen wie DHEA (Dehydroepiandrosteron) oder DMSO (Dimethylsulfoxid) in stimulierenden Verdünnungen enthält. Dadurch sollen das Immunsystem, das hormonelle System sowie das Nervensystem stabilisiert werden. >> Die Mikroimmuntherapie stellt eine hilfreiche und sanfte Therapiemöglichkeit dar, durch die das komplexe Netzwerk zwischen Immun-, Nerven- und Hormonsystem allmählich reguliert werden kann.

19.6.6  Mikroimmuntherapie in der

Onkologie

„Krebs“ ist ein Oberbegriff für unterschiedliche Erkrankungen, die bestimmte Merkmale wie das unkontrollierte Wachstum von entarteten (mutierten) Zellen (Krebszellen) gemeinsam haben. Ein leistungsstarkes Immunsystem ist zumeist in der Lage, diese Zellen zu erkennen

IL-6

IFN-γ TNF-α

IL-4

IL-10

IL-12

hemmende Wirkung

IL-1 IL-2 IL-6 IL-12 IFN-γ TNF-α Th1

blau modulierende Wirkung

IL-4 IL-10 Th3 TGF-β Th2

TGF-β

grün stimulierende Wirkung ..      Abb. 19.10  Vereinfachte Darstellung des Einsatzes der Mikroimmuntherapie bei Depressionen (Erläuterungen im Text). © Internationales Institut für Mikroimmuntherapie (Institut 3IDI)

430

U. Bubendorfer und P. Blum

und sie anschließend zu zerstören. Allerdings haben Krebszellen unterschiedliche Mechanismen entwickelt, um der Immunüberwachung zu entgehen (Loose und Van de Wiele 2009), wodurch die Entstehung eines Tumors und die Abwanderung in andere Gewebe (Metastasen) begünstigt werden. Vor allem bei vorliegender Immunschwäche, bedingt durch lang anhaltenden Stress, Giftstoffe, Übersäuerung, chronische Entzündung und chronische Infektionen in entsprechenden Organsystemen, sowie einem Barriereverlust des mukosalen darmassoziierten Immunsystems, versagen die hocheffizienten immunologischen Kontrollmechanismen: Krebszellen entwickeln zunehmend Escape-Strategien und bleiben von der körpereigenen Abwehr unentdeckt. Die Regulierung des Immunsystems ist somit ein wichtiger Baustein in der Krebstherapie, und die Mikroimmuntherapie kann einen bedeutenden Beitrag dazu leisten. Krebserkrankungen, bei denen mikroimmuntherapeutische Formeln, zur Unterstützung der konventionellen Therapie angewendet werden können 55 Solide Tumoren 55 Chronische lymphatische Leukämien, akute lymphoblastische Leukämien, M. Hodgkin 55 Non-Hodgkin-Lymphome 55 Akute oder chronische myeloische Leukämie 55 M. Kahler 55 Gehirntumoren

>> Durch diese Präparate soll eine spezifische antitumorale Immunantwort in Gang gesetzt sowie der Tumorinvasion und Metastasierung entgegengewirkt werden.

19

So enthält beispielsweise die für solide Tumoren spezifische Formel Zytokine wie TNF-α oder IL-2 in stimulierenden Verdünnungen, um Immunzellen wie dendritische Zellen, Makrophagen, NK-Zellen (natürliche Killer-

zellen) oder zytotoxische T-Zellen, welche an der Bekämpfung von Krebszellen beteiligt sind, zu aktivieren (Reig 2013). Das Präparat enthält ebenfalls Wachstumsfaktoren wie epidermaler Wachstumsfaktor (EGF) und Zytokine wie TGF-β in hemmender Verdünnung, um der Metastasierung von Tumoren entgegenzuwirken. Der Beitrag der Mikroimmuntherapie zur biologischen Krebsmedizin beschränkt sich bei Weitem nicht nur auf den Bereich der reinen Tumortherapie, sondern kann bereits vor dieser präventiv ansetzen. Unterschiedliche Faktoren, wie chronische Entzündungsprozesse, die Reaktivierung von Viren und dadurch extreme Dauerstressbelastungen des Organismus auf vielen Ebenen, können das Auftreten von Entartungsprozessen begünstigen. Mit der Ausschaltung oder einer modulierenden Herunterregulierung dieser krebsfördernden Dauerstörsignale durch unterschiedliche Formeln der Mikroimmuntherapie kann dem Auftreten von Krebserkrankungen entgegengewirkt werden. >> Durch die Mikroimmuntherapie sollen konventionelle Krebstherapien wie Chemo- oder Strahlentherapie nicht ersetzt, sondern lediglich synergistisch ergänzt werden. Eine konventionelle Krebstherapie sollte deshalb nie unterbrochen werden, um die Rebalancierung des Immunsystems mit Mikroimmuntherapie einzuleiten.

19.7  Ablauf einer Konsultation

mit Beschreibung eines praktischen Falls

Patient: 5-jähriger Junge kAnamnese

55 55 55 55 55

Geburtsdauer 17 Stunden – Sektio Chronische Rhinorrhö Nach fast jedem Infekt: Bronchitis Antibiotika 3- bis 4-mal/Jahr Beidseitiger Mukotympanon (Paukenerguss)

431 Mikroimmuntherapie

55 2009 Paukenröhrchen und Adenotomie 55 Alle Impfungen 55 Schnarchen und Zähneknirschen kErhobene Befunde

55 Reduzierter Allgemein- und Ernährungszustand 55 Landkartenzunge, dunkle Augenringe 55 Angulär und zervikal erbsengroße Lymphknoten 55 Vergrößerte und zerklüftete Tonsillen 55 Verdickte Trommelfelle auf der rechten und der linken Seite, Mukotympanon 55 Lymphopenie, Eisenmangel 55 C-reaktives Protein (CRP): negativ 55 Epstein-Barr-Virus(EBV)-Serologie: IgG positiv, IgM negativ 55 Vitamin-D3-Mangel 55 HNO: Tubenventilationsstörung auf der linken Seite kImmunstatus

Es ist ein typisches Bild eines hyporeaktiven Immunsystems mit Lymphopenie zu verzeichnen. Außerdem sind die NK3-Zellen (die Hauptwaffe gegen Viren) vermindert und die B-Lymphozyten sowie B19+5 erhöht, was auf eine allergische/toxische Konstellation hinweist. Die Kathedralenbildungen im Immunstatus zeigen die aktive Auseinandersetzung sowohl mit viralen als auch bakteriellen und mykotischen Komponenten, mit dem Hintergrund allergischer Reaktionsmuster. kProteinprofil

Es zeichnet sich ein relativer Immunglobulinmangel ab. kDiagnosen

55 55 55 55 55 55 55 55

Rezidivierende spastische Bronchitis Mukotympanon rechts-links Adenoide Vegetationen Nasale Sprache Dyslalie Vitamin-D-Mangel „Immunitäre“ Hyporeaktivität Verdacht auf Atopietendenz (verminderte regulatorische T-Zellen)

19

kTherapie und Verlauf

Das Mittel der Wahl ist eine Formel der Mikroimmuntherapie, die unspezifisch sehr gut immunaktivierend und proinflammatorisch  – also TH1-betont – bei akuten oder chronischen Infekten und auch antagonistisch antiallergisch wirkt. Zusätzlich werden als ganzheitliche, synergistische Basistherapie Prä- und Probiotika sowie eine Ernährungsumstellung verordnet: weniger einseitig, weniger süß, weniger Weißmehl und Kuhmilchprodukte (Verschleimungstendenz). Nach 3 Monaten ist ein guter Allgemeinund Ernährungszustand zu verzeichnen. Bislang war der Einsatz von Antibiotika nicht erforderlich, und das Kind schnarcht nicht mehr. Laut HNO-Befund ist kein Mukotympanon mehr ersichtlich, Nasenhöhlen und Nasengänge sind frei. Bei einem Infekt tritt nur kurzeitig über ca. 2 Stunden ein spastischer Husten auf. Dieses einfache Beispiel zeigt, wie rasch und effizient mit Mikroimmuntherapie im Rahmen einer ganzheitlich-synergistischen Therapiestrategie eine Wiederherstellung der Balance des Immunsystems bei Kindern möglich ist. Dieses einfache, klar strukturierte Konzept erweitert die therapeutische Palette mit oft erstaunlich guten und anhaltenden Erfolgen. Bei chronischen Erkrankungen, sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen, haben sich der rasch und einfach interpretierbare Immunstatus und das Proteinprofil (beide in Form von Graphiken) für die labordokumentierbare Therapie und Verlaufskontrolle in der Praxis seit vielen Jahren bewährt. Die zunehmend und anhaltend stabilere Immunlage beweist die nebenwirkungsfreie Effizienz dieser sanft regulierenden Therapie. 19.8  Studien/Evidenzlage zz Mikroimmuntherapeutische Anwendung von Zytokinen bei experimenteller autoimmuner Enzephalomyelitis (Camps et al. 2016)

In dieser von Anna Camps und Kollegen an der Universität Barcelona durchgeführten Studie wurde bei Mäusen mit induzierter EAE

432

U. Bubendorfer und P. Blum

(experimentelle autoimmune Enzephalomyelitis) die Wirkung des mikroimmuntherapeutischen Einsatzes einer spezifischen Kombination von Zytokinen auf den Krankheitsverlauf untersucht. Es wurden folgende Zytokine, die in enger Verbindung zur neuroinflammatorischen Reaktion stehen, in unterschiedlichen Verdünnungen angewendet: 55 die proinflammatorischen Zytokine IL-1ß, IL-1r, TNF-α, IL-12 und IFN-γ in hemmenden Verdünnungen, 55 die entzündungshemmenden Moleküle IL-1Ra, IL-10, IL-4, PGE2, TGF-ß und IL13 in stimulierenden Verdünnungen, 55 IL-6 in einer modulierenden Verdünnung. Die klinischen Symptome der Tiere wurden täglich aufgezeichnet. Außerdem wurde die Aktivierung der Mikrogliazellen sowie die Infiltration durch periphere Immunzellen mittels Durchflusszytometrie und Immunhistochemie analysiert. In der Gruppe der Mäuse, die mit der oben angeführten Kombination von Zytokinen behandelt wurden, konnte ein verzögerter Eintritt der EAE sowie eine signifikante Verringerung der Symptome während der chronischen Phase im Vergleich zur unbehandelten und mit Plazebo behandelten Gruppe verzeichnet werden. Diese Ergebnisse korrelierten mit einer verringerten Aktivierung der Mikrogliazellen und einer niedrigeren Anzahl von Lymphozyten (etwa 50 %). Diese Studie zeigt, dass durch die mikroimmuntherapeutische Verabreichung von Zytokinen die neuroinflammatorische Reaktion und somit der Verlauf bestimmter Erkrankungen des zentralen Nervensystems positiv beeinflusst werden können. zz Wirkung der Mikroimmuntherapie bei Patientinnen mit High-risk-HPV-­ Genitalinfektionen (Thomas et al. 2016)

19

Diese prospektive Verlaufsuntersuchung wurde in einer privaten gynäkologischen Praxis durchgeführt. 36 Patientinnen zwischen 20 und 45 Jahren, mit normalem Body-Mass-­Index und Nichtraucherinnen, wurden von Juli 2011 bis Januar 2014 nachbeobachtet. Die Patientinnen

waren alle High-risk-HPV-Trägerinnen (HPV: humanes Papillomvirus) und wiesen einen zytologischen Befund ASCUS (atypical squamous cells of undetermined significance) bzw. CIN I (cervical intraepithelial neoplasia I) auf. Ihr letzter normaler Pap-Abstrich war nicht älter als 12 Monate. Je nachdem, ob sie mit dem für HPV-­ Infektionen spezifischen Mikroimmuntherapeutikum über die Dauer von 6 Monaten behandelt werden wollten oder nicht, wurden sie entweder in die Medikationsgruppe oder in die Kontrollgruppe (konventionelle Überwachung ohne Medikation) eingeteilt. Ziel war es, die therapeutische Wirkung der Mikroimmuntherapie in der Behandlungsgruppe im Vergleich zur unbehandelten Kontrollgruppe hinsichtlich der HR­ HPV-Clearance und des zytologischen Befunds (Regression von CIN I zu ASCUS oder zytologische Normalisierung) festzustellen. Nach 12 Monaten wurde eine virale Clearance bei 8 Patientinnen (44,4 %) der Kontrollgruppe und bei 14 Patientinnen (77,8  %) der Behandlungsgruppe beobachtet (p  =  0,086). Bei Patientinnen über 25 Jahre, die ein höheres Risiko haben, an Gebärmutterhalskrebs zu erkranken, war die HPV-Clearance in der Medikationsgruppe (81,3  %) im Vergleich zur Kontrollgruppe (20  %) signifikant höher (p  =  0,004). In dieser Altersgruppe hatte die Behandlung ebenfalls die stärkste Wirkung auf die zytologische Normalisierung (Regression von CIN I zu ASCUS und von ASCUS zum Normalzustand) und erreichte im Vergleich zur Kontrollgruppe beinahe statistische Signifikanz (p  =  0,053). Die Mikroimmuntherapie wurde gut vertragen, und es wurden keine Nebenwirkungen verzeichnet. zz Klinische Wirksamkeit der Mikroimmuntherapie, einer immunmodulierenden, sublingualen Behandlung bei Heuschnupfen (Van der Brempt et al. 2011)

Der belgische Pneumologe und Allergologe Xavier Van der Brempt führte eine plazebokontrollierte Doppelblindstudie mit insgesamt 41 Heuschnupfen-Patienten (Alter zwischen 6 und 41 Jahren) durch, um die Bedeutung und

433 Mikroimmuntherapie

die klinische Wirksamkeit der Mikroimmuntherapie bei der Behandlung von Pollenallergie nachzuweisen. Laut der Untersuchung, die im Juni 2004 während der Pollensaison stattfand, konnte mit der Mikroimmuntherapie eine bedeutende Reduzierung des Konsums von unterstützenden Medikamenten (wie lokalen und oralen Antihistaminika, lokalen Kortikoiden und Augentropfen) (p  =  0,002/Längsschnittanalyse) sowie die Optimierung des ­Gesamtergebnisses (p  =  0,017/Längsschnittanalyse) erzielt werden. Im Vergleich zur Plazebo-Kontrollgruppe konnte bei den Patienten, die mit Mikroimmuntherapie behandelt wurden, außerdem eine 20  %ige Verminderung der Anzahl der Tage (p > Reize wirken zunächst unmittelbar, haben aber auch Langzeiteffekte, die nicht sofort wahrgenommen werden können.

20

Kneipp begann 1849 sein Priesterstudium in München, 1852 wurde er geweiht und wurde Kaplan. Nach mehreren Anzeigen wegen Kurpfuscherei wurde er 1855 als Hausgeistlicher in ein Frauenkloster nach Wörishofen versetzt. Dort richtete er sich im Hof ein kleines Häuschen für seine Güsse ein. Er behandelte nur im kleinen Kreis, stellte sehr genaue und detaillierte Beobachtungen der Wirkungen seiner Anwendungen auf den Organismus an und entwickelte eigene neue Anwendungen. Erst nach 30-jähriger Übung und Entwicklung traute er sich zu, mit seinem ersten Buch Meine Wasserkur 1886

an die Öffentlichkeit zu gehen. Er wollte sicher sein, auf keinen Fall mit seinen Behandlungen Schaden anzurichten. Damit verwirklichte er auch das alte hippokratische Prinzip primum nil nocere (das Wichtigste ist, nicht zu schaden). 1889 folgte das Buch So sollt ihr leben. Kneipp suchte von Beginn an den Kontakt zu den Ärzten und begrüßte die Gründung des Internationalen Vereines Kneipp’scher Ärzte am 2. Februar 1894 mit 26 Gründungsmitgliedern. 1901, bei der 8. Generalversammlung, waren 90 Mitglieder aus vielen europäischen Ländern, aber auch aus Nord- und Südamerika und Russland, anwesend (Baumgarten 1901, S. 344–348). Die Krankheitstheorie Kneipps ist nicht theologisch bzw. metaphysisch, sondern bewegt sich auf den Grundlagen der Humoralpathologie:

»» „All diese Krankheiten, welche Namen sie

immer führen mögen, haben, so behaupte ich, ihren Grund, ihre Entstehungsursache, ihr Würzelchen, ihren Keim im Blute, vielmehr in Störungen des Blutes, mag dieses nun in seiner im gesunden Zustande geordneten Circulation gestört, oder in seiner Zusammensetzung, in seinen Bestandtheilen durch nicht dahin gehörige, schlechte Säfte verdorben sein.“ (Aus der Einleitung zur 1. Auflage von Meine Wasserkur, zitiert nach Kneipp 1888, S. 6–7)

Kneipp steht also am Übergang der traditionellen europäischen, seit Hippokrates auf die Humoralpathologie gegründeten Medizin und der heutigen, ideologisch durch François Magendie auf Physik, Chemie und Anatomie begründeten modernen Medizin. Seine Zeit war geprägt von therapeutischem „Nihilismus“. Das bedeutet, dass es viele wissenschaftliche Diagnosen und sehr wenige Heilmittel gab. Es bestand also große Not für die kranken Menschen. Diese Lücke suchte Pfarrer Kneipp zu schließen. Er schreibt:

»» „Mich hat nicht der Beruf oder die Vorliebe für das Medicinieren dazu gebracht, die heilsamen Wirkungen des Wassers zu erproben, sondern die bittere Noth. Noth

439 Kneippmedizin – traditionelle europäische Medizin

20

lehrt beten und seinen Verstand gebrauchen.“ (Aus dem Vorwort zur 1. Auflage von So sollt ihr leben, zitiert nach Kneipp 1889, S. VI–VII)

In der Praxis haben sich in der Kneippmedizin 5 Bereiche der Behandlung durchgesetzt, die heute als Kneippsche Säulen bezeichnet werden: Die Säulen der Kneippmedizin 1. 2. 3. 4. 5.

Wasser Ernährung Heilkräuter Bewegung Lebensordnung

Die Kneippschen Behandlungen wurden sehr rasch zu einer breiten Volksbewegung und zur wirklich weit verbreiteten naturheilkundlichen Methode. Das zeigt die enorme Auflage seiner Bücher. Bis 1900 waren ca. 400.000 Exemplare von Meine Wasserkur in Umlauf und in viele Fremdsprachen übersetzt (Baumgarten 1901, S.  184). Pfarrer Kneipp hatte von Beginn seines öffentlichen Wirkens an mit seiner Methode sehr große therapeutische Erfolge in breiten Bevölkerungskreisen und half allen, ob arm oder reich, unabhängig von der sozialen Schicht. 1912 wurde im Wiener Stadtpark ein Brunnendenkmal enthüllt, das noch heute an Sebastian Kneipp erinnert (. Abb. 20.1). Schon früh entwickelte sich bei seinen Schülern eine ärztliche Richtung mit Dr. Al­ fred Baumgarten an der Spitze und eine Laienrichtung angeführt von Prior Bonifaz Reile.  

20.1.2  Historische Einordnung

der Kneippmedizin

Um zu zeigen, wie sehr Kneipp mit den genannten 5 Bereichen in der traditionellen europäischen Medizintradition verankert ist, ist es angebracht, einen kurzen medizinhistorischen Überblick zur Einordnung in die traditionelle europäische Medizin zu geben, bevor die Art ihrer Anwendung besprochen wird.

..      Abb. 20.1  Kneippbrunnen im Wiener Stadtpark (© Rupert Klötzl, Wien, mit freundlicher Genehmigung)

Abendländische hippokratisch-­ galenische Medizintheorie Nach dem Verständnis dieser Schultradition ruht der praktische Teil der Heilkunst auf den 3 Säulen 55 Pharmazie, 55 Chirurgie, 55 Diät (= Lebensordnung). Die Kunst des Arztes besteht darin, die zum gegebenen Zeitpunkt richtige Therapie oder auch eine Kombination verschiedener Therapien zu finden und dem Patienten zu verabreichen.

Antike Medizintheorie Nach Schipperges (1988) werden unterschieden: zz Die natürlichen Dinge (res naturales)

Dabei handelt es sich um alles das, worauf der Mensch keinen Einfluss hat: Konstitution, Kör-

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G. Breuss et al.

pergröße, Haar- und Augenfarbe etc. Heute würde man sagen: die genetische Disposition. zz Die Dinge gegen die Natur (res contra naturam)

Dieser Bereich in der antiken Krankheitslehre betrifft die Krankheiten selbst.

Die nicht natürlichen Dinge (res non ­naturales) kDie 6 Lebensbereiche

Mit „nicht natürlich“ ist hier im Gegensatz zum erstgenannten Bereich alles das gemeint, worauf der Mensch im Rahmen seiner Lebenskultur gestaltend Einfluss nehmen kann, sowohl auf sich selbst als auch auf seine Umgebung. Es sind Faktoren, die nicht unabänderlich, nicht angeboren sind. Es sind 6, nach heutigem Verständnis auch „natürliche“ Faktoren, die im Rahmen der Lebensführung geordnet werden müssen. k„Aer“: Licht und Luft

Hier werden Einflüsse auf den Organismus durch die Luft berücksichtigt, die wiederum selbst nach Temperatur, Feuchtigkeit, Geruch und Reinheit beurteilt wird. Auch das Klima, die Einflüsse der Jahreszeiten, der Wind und die geographische Lage (Seehöhe, Lokalklima, Orientierung, Bodenbeschaffenheit) kommen hier zum Tragen. Wir sprechen heute von Biorhythmus. Nutzen und Schaden der Sonnenstrahlung, lichtabhängige Befindlichkeitsstörungen zeigen die Aktualität und Bedeutung dieser Einflüsse. k„Cibus et potus“: Speise und Trank

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An diesen Bereich wird als erstes beim Wort „Diät“ gedacht. Essen und Trinken sind aber nur ein Teil des Ganzen. Die Arten von Nahrungsmitteln und die Wirkungen der verschiedenen Speisesorten auf den Organismus werden hier berücksichtigt, ebenso ihre Beschaffenheit, Verdaulichkeit und Bekömmlichkeit  – je nach Konstitutionstyp. Das Wasser, seine Wirkung auf das Äußere – je nach Härte und Temperatur und überhaupt auf die Gesundheit – werden hier ebenso behandelt wie der Wein.

k„Motus et quies“: Bewegung und Ruhe

Das rechte Maß von Ruhe und Bewegung ist für die Erhaltung und Förderung von Regeneration und Gesundung unumgänglich. Ruhigstellung als Voraussetzung der Heilung ist von alters her bekannt und kann einzelne Körperteile (Verletzung, Knochenbruch, Entzündung) oder den Gesamtorganismus (Bettruhe) betreffen. Störungen durch Bewegungsmangel, Bewegungseinschränkungen, aber auch Wirkungen von Bewegungsübungen sowie Konditionsfragen werden hier berücksichtigt. Sehr wichtig ist auch das rechte Verhältnis von Schonung und wiederbeginnender Belastung zum richtigen Zeitpunkt und im rechten Ausmaß. k„Somnus et vigilia“: Schlaf und Wachen

Dauer und Zeitpunkt des Schlafes, seine Bedeutung für Regeneration, Leistungsvermögen und Zusammenhänge mit seelischen Vorgängen sind hier zu beachten, ebenso Schlafstörungen durch zu spätes Essen und Trinken oder durch Nachtarbeit. Heilschlaf gehört zu den ältesten Therapien, aber auch Schlafentzug bei bestimmten Formen der Depression. k„Repletio et inanitio“: Füllung und Entleerung

Dieser Bereich umfasst die Regelung der Ausscheidungen wie Stuhl und Winde, Harn, Menstrualblut, Auswurf aus Nase und Rachen und Erbrechen. Auch das Geschlechtsleben, Baden und Schwitzen werden hier berücksichtigt. k„Affectus animi“: Seelenregungen, Leidenschaften

Ursprünglich wurden hier die 6 Affekte Zorn, Freude, Angst, Furcht, Traurigkeit und Scham behandelt. Gerade auch deren Zusammenhänge mit der körperlichen Disposition sind hier zu berücksichtigen, man denke etwa an die Melancholie. Heute wird von psychischen Faktoren gesprochen. >> Kneipp steht somit eindeutig in der humoralpathologischen Tradition der hippokratisch-galenischen, europäi-

441 Kneippmedizin – traditionelle europäische Medizin

schen Medizin, die aufgrund ihrer Ablehnung durch die Universitätsmedizin ab dem 19. Jahrhundert zur „Naturheilkunde“ wurde.

20.2  Diagnostik

Die Diagnostik beginnt mit der in der Medizin üblichen klinischen Fünf-Sinnes-Diagnostik und endet, je nach Bedarf, mit aktueller Laborund bildgebender Diagnostik gemäß dem aktuellen State of the Art.

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Zentral ist zunächst die persönliche Motivation für Gesundheitsmaßnahmen und die Formulierung von individuell erreichbaren Zielen, um so die Autonomie des Patienten zu fördern. Dafür sind verschiedene konkrete Therapievorschläge geeignet. Kneipp hat es kurz zusammengefasst:

»» „Auflösen, ausleiten, kräftigen“. (Kneipp 1897, S. 8 f.)

20.3.1  Wasser – die Hydrotherapie

kAblauf einer Konsultation

»» „Ist das Wasser für den gesunden Men-

Für die Konsultation wird ausreichend Zeit für die Anamnese eingeplant, und es wird ein klinischer Status erhoben. Nötige Befunde werden berücksichtigt. Temperament und Konstitution, persönliche Entwicklungsund Reifestadien, v. a. die momentane Reak­ tionsbereitschaft gehen in die Diagnose ein. Die aktuelle Reaktionsfähigkeit kann z.  B. mit einem kleinen Wasserkontakt – eine Hand wird im Handwaschbecken kurz kaltem Wasser ausgesetzt – getestet werden. Als therapeutische Empfehlung ergeben sich Anwendungen bzw. Maßnahmen aus den 5 Säulen. Der Patient braucht Bereitschaft zur eigenen Aktivität, er wird detailliert beraten und begleitet und weniger körperlich behandelt.

Die wichtigste Säule der Kneipptherapie ist das Wasser mit allen seinen heilenden Eigenschaften, insbesondere Temperatur, hydrostatischer Druck, Auftrieb und Reibung. Für bestimmte Anwendungen (Bäder) können natürliche Zusätze beigegeben werden. Kneipp hat in die seit der Antike bekannte Hydrotherapie wesentliche, von ihm entwickelte Neuerungen eingebracht. Nach seinem ihm vertrautesten ärztlichen Schüler Alfred Baumgarten sind dies (Baumgarten 1901, S. 417):

>> Alle fassbaren und wirksamen Lebensumstände sind ein Teil der Diagnose. Das bedeutet, dass die empathische Anamnese sehr wichtig ist.

20.3  Therapie

Wie in 7 Abschn. 20.1.1 ausgeführt, haben sich in der Kneippschen Tradition 5 Säulen der Therapie herauskristallisiert. Sie entsprechen den konkret analysierbaren Methodenschwerpunkten, die im therapeutischen Alltag jedoch zunächst nur gedankliche Hilfen bei der therapeutischen Interaktion sind, und werden in den folgenden Abschnitten im Detail dargestellt.  

schen ein vorzügliches Mittel, seine Gesundheit und Kraft zu erhalten, so ist es auch in der Krankheit das erste Heilmittel; es ist das natürlichste, einfachste, wohlfeilste und, wenn recht angewendet, das sicherste Mittel.“ (Kneipp 1889, S. 45)

Neuentwicklungen durch Kneipp in der Hydrotherapie 55 55 55 55

Güsse Kräuterwechselbäder Originelle Wickelformen Generelle Vorschriften über die Kürze aller Anwendungen 55 Vorschrift des Nichtabtrocknens 55 Prinzipielle Betonung der Notwendigkeit der Reaktion nach jeder Wasseranwendung 55 Abhärtungsvorschriften, welche nicht nur hydrotherapeutische Maßnahmen betreffen, sondern auch Vorschriften

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55

55 55 55

für naturgemäße Diät und Kleidung umfassen Offizielle Einführung der Gießkanne (ohne Brause – dicker druckloser Wasserstrahl) Technik bei Teildampfbädern Hochausgebildete Technik bei der Erteilung der Waschungen Vorschrift des Nachdünstens nach dem Gebrauch der Wickel

kKlassische Anwendungsformen

55 Waschungen, 55 Auflagen und Wickel, 55 Bäder (. Abb. 20.2), 55 Güsse (. Abb. 20.3), 55 Dämpfe.  



Die Anwendungen müssen fachgerecht gezeigt, gewissenhaft gelernt und ausgeführt werden. Ihre Darstellung im Detail ist an dieser Stelle nicht möglich (s. Schleinkofer 2003). Güsse und die Kürze der Anwendungsdauer wurden zu hervorstechenden Merkmalen der Kneipptherapie. kWeitere Verhaltensmaßregeln

55 Wasser naturkalt, Körper warm, 55 nach der Anwendung bedecken/erwärmen/bewegen, nicht abtrocknen, nicht dabei reden,

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..      Abb. 20.2  Armbad (© Gebhard Breuss, Wien, mit freundlicher Genehmigung)

..      Abb. 20.3  Schenkelguss (© Gebhard Breuss, Wien, mit freundlicher Genehmigung)

55 nach einer Hauptmahlzeit 2 Stunden keine Wasseranwendung, 55 richtiger Wechsel verschiedener Anwendungen, keine Gleichförmigkeit. Diese Anwendungen werden unterschiedlich eingesetzt, um den Körper zu regulativen Reaktionen zu zwingen. Der Reiz durch die Anwendung ist zunächst eine Art Störung, d. h., er bringt den Körper aus seinem regulativen Gleichgewicht. Dieser reagiert darauf mit adaptierenden Effekten, v.  a. in Bezug auf die Temperatur- und Kreislaufregulation. Ein besonders wichtiger Effekt ist die „Störgrößenaufschaltung“ bei wiederholtem Reiz. Der Körper leitet den nun bekannten Störreiz direkt an das Regulationszentrum, das die entsprechende Antwort sofort einleitet, dadurch wird Zeit gespart! Im Alltag wird ein geübter „Kneippianer“ bei Regenwetter mit nassen und kalten Füßen sofort auf diesen Negativreiz re-

443 Kneippmedizin – traditionelle europäische Medizin

gulativ antworten und sich in der Folge nicht verkühlen. Es gibt bei den Effekten Sofortreaktionen (z. B. Gefäßweitstellung) und Langzeiteffekte (Verbesserung der Immunlage), die erst nach wiederholten Reizen auftreten. Temperaturbereiche beim angewendeten Wasser 55 55 55 55 55 55 55 55

Sehr kalt (10–15 °C) Kalt (16–22 °C) Kühl (23–33 °C) Indifferent (34–36 °C) Warm (37–38 °C) Sehr warm (39–40 °C) Heiß (41–44 °C) Extrem heiß (45–56 °C)

Für Vollbäder werden meist indifferente oder warme Temperaturen verwendet, bei den Wech­ selanwendungen als kalter Part Temperaturen um ca. 15  °C.  Das warme Wasser muss dann mindestens 20 °C wärmer sein, um die Reizwirkung zu erreichen (Schiller 2010, S. 377). Sowohl der heiße als auch der kalte Reiz wird mit einer initialen Gefäßkontraktion beantwortet. Erst danach kommt es zur Erweiterung der kleinen Gefäße, die Haut färbt sich rosa. Wenn zu lange gegossen wird, kommt es zu einer neuerlichen Gefäßkontraktion, die sich negativ auswirkt. Bei der initialen Phase kann fallweise die Kontraktion zu lange anhalten. Es muss dann eine andere Anwendung gewählt werden, etwa ein ansteigendes Bad. Begonnen wird dabei mit der Indifferenztemperatur, langsam wird heißes Wasser dazugegeben. Anhaltende Gefäßkrämpfe werden somit vermieden. kKonsensuelle Reaktion

Darunter werden die gleichartigen Reaktionen an allen Extremitäten verstanden, auch wenn nur ein Teil derselben behandelt wird: linke Extremitäten reagieren zusammen mit denen auf der rechten Seite, Arme reagieren mit den Beinen und umgekehrt. Daraus ergeben sich vielfältige

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Möglichkeiten. Wenn z. B. eine Extremität nicht begossen werden kann (etwa bei einer Schädigung der Haut), wird die andere behandelt, und man erhält auf beiden Seiten Reaktionen. kKörpertemperatur

Durch ein heißes Bad oder einen Wickel wird die Körperkerntemperatur etwa um 1 °C erhöht. Das führt zu einer Durchblutungssteigerung, einer Zunahme der Stoffwechselreaktionen sowie einer Aktivierung des Immunsystems. kHydrostatischer Druck

Es kommt zu einer Verschiebung der Flüssigkeitsvolumina im Körper. Der Umfang ­reduziert sich, und zwar bei den Extremitäten bis zu 1,5 cm, beim Bauch bis zu 5,5 cm und beim Brustkorb ca. 3,5 cm (die Rippen halten dagegen). Dadurch kommt es zu einer Verschiebung von etwa einem Liter Blut in Richtung Brustraum. Das bedeutet für das Herz eine massive Mehrbelastung. >> Vollbäder müssen daher mit Vorsicht angewendet werden!

kAuftrieb

Er wird z. B. bei der Wassergymnastik ausgenutzt. Ein 70 kg schwerer Mensch wiegt unter Wasser nur etwa 7  kg. So lassen sich unter Wasser viele Übungen durchführen, die außerhalb des Wassers zu beschwerlich oder sogar schmerzhaft wären. kReibung

Sie kommt bei der Unterwassermassage, dem Bürstenbad und dem Blitzguss zum Tragen. Die Reibung hat auf die Gewebe einen durchknetenden Effekt (. Abb. 20.4).  

kBadezusätze

Es konnte nachgewiesen werden, dass die Haut sehr gut von den Badezusätzen durchwandert wird und heilsame Wirkstoffe in das Blut gelangen. Bei regelmäßiger Anwendung verstärkt sich dieser Effekt, sodass eine regelmäßige Wiederholung der Zugabe des gleichen Badezusatzes sinnvoll ist.

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..      Abb. 20.4  Bürstung (© Heinz Schiller, Bad Mühllacken, mit freundlicher Genehmigung)

kAnwendungsdauer

Die Anwendungen sind kurz, und Kneipp wurde im Verlauf seiner Tätigkeit immer zurückhaltender, er vermochte die heilsamen Reize immer gezielter zu setzen. Angelpunkt dabei ist die Beachtung der „Reaktion“, die unbedingt eintreten muss, wie z. B. das Warm werden der Füße nach dem Wassertreten in kaltem Wasser. Das ist jedoch nicht ausreichend – entscheidend ist die positive Ganzkörperreaktion. Da es die Wärme ist, die wiedererlangt werden und letztlich bleiben muss, ist die Kneippsche Hydrotherapie – trotz Anwendung von kaltem Wasser – immer ein „Wärmeregime!“ (Baumgarten 1901, S. 411). >> Kneipp erkannte, dass die mildeste, gerade noch wirksame Anwendung die beste ist, v. a. im Hinblick auf Langzeiteffekte.

20.3.2  Ernährungstherapie

»» „Trockene, einfache, kräftige, nicht verküns-

telte und durch scharfe Gewürze verdorbene Hausmannskost und das unverfälschte Getränk, das in jedem Quell der liebe Herrgott spendet, beides genügsam gebraucht, ist dem Menschenkörper am besten und förderlichsten.“ (Kneipp 1888, S. 10)

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Pfarrer Kneipp hat bei der Ernährung nicht sehr viele Ratschläge gegeben, aber immer Wert auf große Einfachheit gelegt. Heutzu-

tage hat das Wissen über gesunde Ernährung massiv zugenommen, Kneipps Grundidee der natürlichen Ernährung bleibt jedoch immer noch aufrecht. Der Mensch hatte über Jahrtausende immer wieder Hungerperioden zu überstehen. Der Körper hat sich angepasst und Überlebensmechanismen entwickelt: 55 Er setzt in Zeiten des Überflusses schnell Fett an. Dies erreicht er, indem das Sättigungsgefühl spät einsetzt und er mehr essen kann, als aktuell gebraucht würde. 55 Ein zweiter Trick besteht darin, dass Fett ein guter Geschmacksverstärker ist. In Notzeiten zehrt der Mensch dann von diesen Fettreserven. Heute gibt es in den Industrieländern keine Hungerperioden mehr, körperliche Schwerarbeit ist meist auch nicht mehr notwendig. Daher ist Adipositas ein bedeutendes Gesundheitsproblem. Wichtiger als das Gesamtgewicht ist die Fettverteilung im Körper. Das viszerale Fett gilt heute als Risikofaktor. Die Messung des Bauchumfangs kann hier einfach differenzieren. Gegessen wird zu viel und dann auch noch falsch, oft zu hastig oder auch zu einseitig. >> Das Grundprinzip Kneippscher Ernährung ist eine gut verträgliche Mischkost.

Das bedeutet: 55 Es ist zwar alles erlaubt, aber Milchprodukte, Gemüse und Obst sollten, wenn sie vertragen werden, einen Schwerpunkt bilden. 55 Kohlenhydrate sollen reichlich gegessen werden, aber die richtigen, d. h. solche, die keinen raschen, sondern einen moderaten Blutzuckeranstieg bewirken. Insulinspitzen sollen vermieden werden, denn sie führen zu neuerlichem Hunger und damit zu Nahrungsaufnahme. Die direkte Stoffwechselwirkung von Insulin ist ungünstig, der Fettabbau wird gehemmt. 55 Häufig ist das Essen nicht frisch oder nicht selbst gekocht. So duftet es weniger, weil es oft aus Großküchen kommt und lange

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warm gestellt wird. Durch geringeres Geschmackserleben tritt der Sättigungsreflex später ein, was zum Überessen führt oder auch zum Naschen danach. Das alte Sprichwort, man solle morgens wie der Kaiser, mittags wie ein Edelmann und abends wie ein Bettelmann essen, konnte durch Studien als wirksam bestätigt werden (de Castro 2004). Bei Aufnahme einer bestimmten Nahrungsmenge am Morgen ist die Gewichtszunahme geringer als bei gleicher Kalorienaufnahme am Abend. Da nach einer kohlenhydratreichen Mahlzeit am Abend ausgeschüttetes Insulin sowohl den nächtli­ chen Fettabbau hemmt als auch fettgewebsaufbauend wirkt, sollten nach Kneipp Kohlenhydrate eher gemieden werden. Ferner sollte tierisches Fett, das indirekt über den Stoffwechsel die vermehrte Bildung von ent­ zündungsfördernden Gewebshormonen be­ wirkt, durch Fischöl oder auch durch  Leinöl ersetzt werden. Die darin enthaltenen hoch ungesättigten Fettsäuren wirken entzündungs­ hemmend. >> Fleisch ist zwar ein wertvoller Bestandteil der Nahrung (Proteine, Spurenelemente und Vitamine), sollte aber nur in Maßen verzehrt werden. Wichtig ist es auch, auf die Tierhaltung und die biologische Wertigkeit zu achten.

Kneipp in Meine Wasserkur auflistet, gibt einen guten Überblick:

»» „I. Tinkturen von Arnika, Enzian, Heidel-

beeren, Rosmarin, Wachholderbeeren, Wegwart, Wermuth. II. Thee von Angelika, Anserine, Attich, Augentrost, Baldrian, Bitterklee, Brennessel, Dornschlehblüten, Eibisch, Eichenrinde, Erdbeeren, Hagebutten, Hollunder, Huflattich, Johanniskraut, Kamille, Lindenblüten, Lungenkraut, Malve, Minze, Mistel, Rosmarin, Raute, Salbei, Schafgarbe, Schlüsselblume, Spitzwegerich, Tausendguldenkraut, Veilchen, Wachholderbeeren, Waldmeister, Wegwart, Wermuth, Wollkraut, Wühlhuber, Zinnkraut. III. Pulver von Alaun, Aloe, Angelika, Attich, Augentrost, Baldrian, Fenchel, Foenum graecum, Huflattich, Leinsamen, Minze, Salbei, Santala, Wermuth. IV. Oele von Anis, Fenchel, Kampher, Raute, Wachholderbeeren; ferner Mandelöl, Nelkenöl, Spicköl.“ (Kneipp 1888, S. 160)

Viele dieser Kräuter gehören auch heute zum Standard und sind sehr verbreitet (. Abb. 20.5). Manche sind kaum mehr in Gebrauch, andere dazugekommen. Spezifische Kneippsche Heilkräuter gibt es in diesem Sinne nicht. Dennoch sind sie wesentlich im Gesamtkonzept der Kneippmedizin. Es sind mild wirksame  

20.3.3  Heilkräuterkunde

»» „Fast sämtliche meiner Tees und Extrakte,

Öle, Pulver rühren von früher geachteten spottbilligen Heilkräutern her, welche der liebe Herrgott im eigenen Garten, auf freiem Felde, manche ums Haus herum an abgelegenen und unbesuchten Stellen wachsen läßt.“ (Kneipp 1888, S. 111)

Pfarrer Kneipp verwendete traditionell lokal in der Bevölkerung bekannte Heilkräuter. Für manche hatte er Vorlieben und empfahl sie gemäß seinen Erfahrungen besonders. Der „Inhalt einer kleinen Hausapotheke“, wie ihn

..      Abb. 20.5  Kräuter (© Rupert Klötzl, Wien, mit freundlicher Genehmigung)

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G. Breuss et al.

Mittel, die deshalb von den Patienten teilweise auch eigenständig angewendet werden können. Verwendet werden sie in der Krankheitsvorbeugung (z.  B.  Venen-Tee bei familiärer Disposition zu Krampfadern) oder bei leichteren Befindlichkeitsstörungen (wie getrocknete Heidelbeeren bei einfachem Durchfall) oder funktionellen Beschwerden.

Der Tee soll meist 4 Wochen lang getrunken werden. Mehr als 7 verschiedene Bestandteile sollen nicht verwendet werden. 20.3.4  Bewegungstherapie

»» „So ist notwendig, daß alle Theile des Kör-

pers in Thätigkeit kommen, damit nicht an verschiedenen Stellen sich schlechte Stoffe ansammeln und es dem Menschen geht, wie dem stehenden Wasser, welches bald anfängt zu versumpfen.“ (Kneipp 1889, S. 32)

>> Bei ernsten Erkrankungen als Begleittherapie (Blasentee bei Harnwegsinfekten) muss jedoch unbedingt eine nötige medikamentöse Therapie fortgeführt werden.

Bei der Anwendung von Heilpflanzen muss eine gute Pflanzenkenntnis vorhanden sein. Zu empfehlen sind heute phytotherapeutische Standardlehrbücher und Pflanzenkodizes (Länger und Kubelka 2001; Länger und Schiller 2004; Maertens 2003; Weiss und Fintelmann 2009), wobei zu diesem Wissen die Erfahrung in der individuellen Anwendung hinzukommen muss. Bei einer Pflanze kann sich die Wirkung der Wurzel, des Krautes oder der Blüten unterscheiden, man muss also wissen, was man verschreibt. Bei manchen Heilpflanzen gibt es zudem sehr ähnlich aussehende Giftpflanzen, die nicht verwechselt werden dürfen. Auch die Zubereitung als Tee, Tropfen oder Frischpflanzenpresssaft ist von Bedeutung. Ein Tee wird immer aus 4 Komponenten zusammengestellt:

Bewegungstherapie im Sinne von Kneipp soll den Menschen gesünder machen und nicht sportliche Hochleistungen hervorbringen (. Abb. 20.6). Die Vorgaben für die Häufigkeit und Intensität sind individuell anzupassen. Ausdauertraining wird mehrmals in der Woche empfohlen, dazu noch etwas Kraft- und Koordinationstraining. Die Bewegung verbessert Kraft, Ausdauer, Schnelligkeit, Flexibilität und Koordination. Jede dieser Eigenschaften ist sehr wichtig, aber je nach Ziel unterschiedlich zu betonen. In der Sturzprophylaxe etwa sind Koordination und Kraft von größerer Bedeutung als Ausdauerbewegung. Der Kneipparzt sieht den Menschen sehr individuell. Daher ist es wichtig, die Empfehlungen auf die jeweilige Ausgangslage und die Ziele zuzuschneiden. Das bedeutet u. U., dass nicht alle obigen Grundsätze von Beginn an  

Bestandteile eines Tees nach Kneipp

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55 Grundmittel: 1–2 Pflanzen, die in der jeweiligen Indikation am besten wirken 55 Ergänzungsmittel: für einen anderen Aspekt der Krankheit oder als Potenzierung des Grundmittels 55 Füllmittel: für eine schöne Farbe und Volumen (man trinkt auch mit den Augen) 55 Korrigens: für einen guten Geschmack

..      Abb. 20.6  Bewegung (© Rupert Klötzl, Wien, mit freundlicher Genehmigung)

447 Kneippmedizin – traditionelle europäische Medizin

umgesetzt werden können. Dafür wird der Patient aber motiviert, eine Änderung in seinem Leben durchzuführen. Der Erfolg einfacher Ratschläge, z. B. Treppensteigen statt mit dem Lift fahren, macht vielleicht sogar Lust auf mehr, was eine Heranführung an das individuell angestrebte Ziel ermöglicht. 20.3.5  Ordnungstherapie

»» „Im Maße liegt die Ordnung. Jedes Zuviel und Zuwenig setzt anstelle von Gesundheit die Krankheit.“ (Kneipp 1888, S. 7)

Krankheiten entstehen wesentlich durch Störung der dem Menschen gemäßen Ordnung. Daher erfordert die Behandlung die Wiederherstellung der ursprünglichen Ordnung durch Finden und Einüben des rechten Maßes. Kneipp machte die Lebensordnung (So sollt ihr leben) zu einer Grundsäule seiner Therapie. Die Anwendung aller Heilmittel muss im Zusammenhang eines geordneten Lebensganzen stehen.

»» „Des Weisen Aufgabe ist es, zu ordnen.“

(Thomas von Aquin um 1260 in Summa contra gentiles; Neuausgabe: Thomas von Aquin et al. 2001)

Die Ordnungstherapie umfasst zwei Bereiche: 1. die Ordnung der äußeren Lebensbereiche und deren letzte Ausrichtung auf ein jenseitiges Leben (Kneipp war ja katholischer Priester), 2. die Berücksichtigung der biologischen zeitlichen Rhythmen. Zum ersten Punkt:

»» „Der Mensch besteht aus einer Körper-­

Geist-­Seele-Einheit. Keiner dieser drei Teile kann man heraustrennen, ohne Stückwerk zu produzieren. Auch die Schulmedizin hat dies erkannt und die reine körperbetrachtende Sichtweise mit dem psychosomatischen Blickwinkel ergänzt. Es ist aber wichtig, die Bedürfnisse des Menschen in seiner Ganzheit zu sehen. Der Mensch ist

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individuell auch auf ein Jenseits, in welcher Form auch immer, orientiert, und kann daraus große Kraft schöpfen. Gerade in unserer heutigen hektischen Zeit wird übersehen, dass Zeiten der Aktivität Zeiten der Ruhe und der Regeneration gegenüberstehen müssen. Diese Zeiten der Ruhe und Selbstbesinnung müssen bewusst gelebt werden, denn ein Ignorieren führt zu vegetativen Erkrankungen, Burnout und Depressionen. Ein gutes Buch, ein Gespräch mit wirklichen Freunden oder ein Spaziergang in unserer herrlichen Natur ist ein Heilmittel, ebenso auch autogenes Training, oder Meditation.“ (Schiller 2010, S. 381)

Durch Beschränkung auf das als wesentlich Erkannte fallen unnötige Belastungen von uns ab, und wir können zu engagierter Gelassenheit finden. Gerade in der Stille lässt sich aber auch die Größe des Schöpfers erfahren. In Verbindung mit diesem Schöpfer, der den Menschen in seiner Liebe geschaffen und sie ihm mitgegeben hat, kann die heilende Kraft des positiven Zugehens auf das Leben erkannt werden. Natürlich hängt es entscheidend von der Lebensphilosophie und den religiösen Einstellung ab, nach welchen Kriterien jemand sein Leben ordnet. So kommen bei der Ordnungstherapie sehr unterschiedliche therapeutische Ansätze, Psychotherapie- und Entspannungsmethoden zum Einsatz. Zum zweiten Punkt: Die praktischen Empfehlungen von Pfarrer Kneipp wurden durch die wissenschaftliche Chronobiologie bestätigt. Zwei Beispiele dazu: 55 die Veränderung der Körpertemperatur während des Tages, 55 die Kurreaktionen. Die Körpertemperatur steigt bis ca. 15 Uhr an, fällt dann wieder ab und ist etwa um 3 Uhr nachts am niedrigsten. Das bedeutet, der Körper will sich am Vormittag aufwärmen und am Nachmittag abkühlen. Wird mit den Anwendungen dieses Bestreben unterstützt, ist der Reiz geringer, und gleichzeitig wird der

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G. Breuss et al.

biologische Rhythmus gefördert. Arbeitet man entgegengesetzt, wird der Körper in seiner Reaktion mehr gefordert. >> Die gleiche Anwendung kann also am Vormittag etwas anderes bewirken als nachmittags.

Die Kurreaktion tritt etwa am 3. Tag in leichterer Form auf und ist etwa am 7. Tag am stärksten. Nach 14 Tagen tritt sie nochmals auf, allerdings schon abgeschwächt, und nach 3 Wochen ist sie kaum mehr spürbar. Beendet jemand schon nach einer Woche seinen Kuraufenthalt, fährt er am Höhepunkt der Kurreaktion nach Hause, was sicher problematisch ist. 20.3.6  Das Wesen der

Kneipptherapie insgesamt

Wirklich spezifische, neue Therapien hat Kneipp in die Hydrotherapie eingebracht. Sind es also Bäder, Güsse und Waschungen, die „Kneipp“ ausmachen? Häufig findet man diese Meinung, noch dazu, wenn man feststellt, dass Bewegungsratschläge, Ernährungstherapie oder Heilkräuterkunde auch außerhalb der Kneipptherapie zur Anwendung kommen. Das Leitbild der Kneippmedizin hilft hier weiter, denn es geht um mehr!

»» „Kneippen ist eine Lebenseinstellung! Ziel

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ist es, umfassende Gesundheit mit einfachen und natürlichen Mitteln zu erhalten oder zu erlangen oder ein sinnerfülltes Leben trotz einer Krankheit zu ermöglichen. Dabei soll der Mensch zu mehr Eigenverantwortung für diese seine Gesundheit geführt werden. Die Selbstheilungskräfte können durch die 5 Kneippschen Säulen Hydrotherapie – Phytotherapie – Ernährung – Bewegung – Lebensordnung besonders gut aktiviert werden, sie richten sich an den Menschen in seiner Körper-­ Geist-Seele-Einheit. Die Beachtung der Natur und ihrer Gesetze hat für den Kneipper einen besonders hohen Stellenwert.“ (7 http://www.­kneippmedizin.­at/die 

fuenf-­saeulen/leitbild/, zuletzt abgerufen am 12.09.2018)

Die Einsicht in der europäischen Medizintradition seit Hippokrates, dass Gesundheit nicht ein stabiler Zustand sei, sondern gegen alle Störfaktoren immer wieder neu errungen werden müsse, ist bei Kneipp lebendig. Kneippen ist die immer neue Einübung der Gesundung, soweit es in unserer eigenen Macht liegt. Sich auf natürliche Rhythmen einzulassen, erfordert Geduld. Gesundheit muss wachsen. Sie kann nicht in Kurzzeitangeboten produziert werden. Dem robusten Charakter Kneipps entsprechend, sind die Anweisungen klar, direkt, einfach und ungekünstelt. Kneipptherapie fordert und fördert – auch mit längerfristigen Zielen  – und unterscheidet sich so von Wohlfühlangeboten. Ist die Kneippmedizin noch modern? Ja, und mehr als das: Sie war und ist ihrer Zeit voraus. Denn auch in der konventionellen Medizin wurde erkannt, dass viele Störungen mit Medikamenten allein nicht behandelt werden können. „Lebensstilmodifikation“ heißt das heute – und es ist nichts anderes als die Einbeziehung der altbekannten Säulen der Lebensordnung, der Ernährungsempfehlungen und einem richtigen Maß an Bewegung. Ergänzt mit Heilkräuterkunde und überragt durch die spezifische Kneippsche Wassertherapie ergibt das die 5 Säulen, die erst in Summe das größere Ganze ergeben. 20.4  Indikationen

Indikationen für die Kneipptherapie 55 Alle Beschwerdezustände ohne akuten Bedarf eines medizinischen Eingriffs; viele Formen von „Rheuma“, Kopfschmerz 55 Erschöpfungszustände, Energiemangel, Depressivität, Übergewicht 55 Regulationsprobleme, die unter stets wechselnden Lebensumständen auftreten, wie z. B. unklare Unverträglichkeiten und Wetterfühligkeit

449 Kneippmedizin – traditionelle europäische Medizin

55 Psychosomatische Indikationen: manche Formen der Migräne, Reizdarm, unspezifische Ausschläge etc. 55 Infektanfälligkeit, unspezifische Immunschwächen 55 Kreislauflabilität, vegetative Beschwerden 55 Als komplementäre Methode unterstützend bei den meisten organischen Krankheiten

20.5  Fallbeispiel zz Patientin, 35 Jahre

Die Patientin berichtet über immer wieder auftretende orthostatische Kreislaufprobleme und (Beinahe-)Stürze, Neigung zu weichen Stühlen, ebenfalls über leichtes Untergewicht, das sie nicht aufholen könne. In der Anamnese ergeben sich: 55 asthenische Konstitution = Bindegewebsschwäche, 55 sanguinischer Charakter, 55 Neurotizismus in Richtung übertriebener Ordnungsliebe. Befunde und internistische Untersuchung er­ bringen keine Anhaltspunkte für eine konven­ tionell-­medizinische Therapie. Die therapeutische Empfehlung umfasst folgenden Plan: 55 Frühmorgendliche kalte Oberkörperwaschung (allgemeine Kräftigung – Biorhythmus), 55 vormittags Wechselknieguss (mit kalt/ warmem Wasser als Kreislauftraining), 55 einen im Kurbetrieb vorgegebenen Tagesablauf mit geregelten Mahlzeiten, 55 genügend Zeit für gutes Genießen und Kauen der schonend zubereiteten Speisen, 55 Rezept für Weißdorn-Tropfen bei Gefühl der Kreislaufschwäche, 55 Bewegungsprogramm in Gruppen, 55 Biographiearbeit für reduzierte (belastende) „Ordnungsliebe“.

20

Erste Kontrollen der Veränderungen finden nach Maßgabe des Falles nach 1–3 Wochen statt. kErgebnis

Die Patientin hat keine orthostatischen Kreislaufprobleme mehr und weist eine höhere Stuhlkonsistenz und 0,5  kg mehr Körpergewicht auf. 20.6  Studien/Evidenzlage

Hochklassige Studien, die die Wirksamkeit von adäquaten Maßnahmen in den Bereichen Ernährung und Bewegung, ebenso für Phytotherapeutika, belegen, wurden in großer Zahl publiziert. zz Für den Bereich Lebensordnung/ Wirkung der Kneippkur insgesamt: Leuchtgens et al. (1999)

Diese Studie hatte zum Ziel, die Auswirkungen der Kneippkur, von den Autoren „gut standardisierte Komplextherapie“ genannt, auf Schmerz, Lebensqualität und Medikamentenverbrauch in einem Zeitraum von einem Jahr zu belegen. An insgesamt 6 definierten Zeitpunkten zu Beginn, während und am Ende der Kur sowie 3 schriftlichen Follow-ups 3, 6 und 12 Monate nach Ende der Kur wurden die Daten erfasst. 363 Patienten, überwiegend mit Erkrankungen des Bewegungssystems und/oder des Herz-Kreislauf-Systems wurden eingeschlossen. Es wurde eine individuell adaptierte Therapiekombination aus den Komponenten Hydro-, Bewegungs-, Phyto-, Ernährungsund Ordnungstherapie verabreicht, wobei die erkrankungsspezifische medikamentöse Be­ handlung, soweit erforderlich, fortgesetzt wurde. kHauptzielparameter

Schmerz, Patientenselbsteinschätzung (Fragebogen) und Medikation. Die erhobenen Parameter zum Schmerzausmaß besserten sich im Kurverlauf signifikant und blieben über den Nachbeobachtungszeitraum auf diesem

450

G. Breuss et al.

Niveau. Das gleiche galt für mehrere Aspekte der subjektiven Befindlichkeit und den Medikamentenverbrauch. Die Autoren folgerten daraus:

»» „Für die Beurteilung der klinischen Rele-

vanz einer komplexen Therapiemaßnahme wie einer drei- bis vierwöchigen Kur ist die Frage nach der Bedeutung des spezifischen Effekts einzelner Komponenten sekundär. Im Vordergrund steht die Frage nach Relevanz des ­gesamten Therapiekonzepts. Die vorliegenden Ergebnisse weisen auf eine möglicherweise mindestens ein Jahr anhaltende Langzeitwirkung hin.“ (Leuchtgens et al. 1999)

zz Studie von Goedsche (2005)

Eine weitere wichtige Studie ist die Dissertation von Katrin Goedsche (2005) zum Einfluss serieller Kaltwasserreize auf die Lungenfunktion, die Immunabwehr und die Befindlichkeit von Patienten mit chronisch obstruktiver Bronchitis (COPD). In dieser Studie wurde gezeigt, dass serielle Kaltwasserreize, appliziert für die Dauer von 10 Wochen (3 × wöchentlich Oberguss, 2 × wöchentlich kalte Waschungen), die Häufigkeit der Atemwegsinfektion reduzieren können. Kontrollzeitpunkte: 10 Wochen vor der Therapieserie, unmittelbar davor und danach, und 12 Wochen nach Therapieende. In dieser Studie werden auch vier weitere, ältere Studien zitiert, die eine Aktivierung der zellulären (Th1-)Immunabwehr durch Kneippsche Hydrotherapie (Kaltwasseranwendungen) nachweisen. kZielparameter

20

55 Lungenfunktion (Ganzkörperplethysmographie), Peak-Flow vor und nach jedem Guss, 55 Blutgase vor und nach Belastung (6-Minuten-Gehtest), 55 Routinelabor (Blutbild, Differenzialblutbild, BSG, CRP), 55 Experimentelles Labor:

55Lymphozytensubpopulationen (CD3, CD4, CD8, CD19, CD16/56), 55Intrazelluläre Zytokinexpression (IL-2, IL-4, IL-5, IFN-γ, TNF-α) von CD3/ CD4- und CD3/CD8- Lymphozyten, 55 Infekthäufigkeit, 55 Lebensqualität (Fragebogen): 55Krankheitsspezifisch: SGRQ (St. George Respiratory Questionnaire), 55Krankheitsunspezifisch: SF 36 (Medical Outcome Study – short form), 55 Subjektives Befinden nach Hydrotherapieserie. Goedsche schreibt bei den Schlussfolgerungen:

»» „Das Immunsystem wurde durch die Hy­

drotherapie-Serie moduliert. Es kam zu Veränderungen der Lymphozytensubpopulationen und der Zytokine, die eine Verschiebung der Immunabwehr in Richtung der Th1-­Reaktion andeuten. Darunter zählen die Zunahme der Lymphozyten und des Zytokins IFN-γ zum Zeitpunkt der Oberguss-Serie. Die zunehmende Verschiebung der Verhältnisse von IFN-γ zu IL-4 und IL-2 zu IL-5 in Richtung der Th1-typischen Zytokine IFN-γ und IL-2 im Zeitraum der Nachbeobachtung kann als Langzeiteffekt gedeutet werden. In diesem Kontext ist die Abnahme der für die Th2-­Reaktion typischen Zytokine IL-4 und IL-5 im Zeitraum der Oberguss-Serie, wobei der fallende Trend hierbei auch noch 12 Wochen nach Abschluss der Anwendungen anhielt, zu interpretieren. Diese Veränderungen entsprechen den Erkenntnissen über die Abläufe im Organismus bei der sogenannten Abhärtung. Damit kann eine funktionelle Adaptation immunologischer Regulationen der Patienten durch verbesserte homöostatische Abläufe angenommen werden. Es kann keine Aussage über die Dauer der Abhärtungswirkung gemacht werden. Dazu bedarf es größerer Zeitstrukturen für den Nachbeobachtungs-Zeitraum.“ (Goedsche 2005)

451 Kneippmedizin – traditionelle europäische Medizin

Diese Studie hat gezeigt, dass kalte Obergüsse bei COPD-Patienten der Verbesserung von Prognose, Lebenserwartung und Lebensqualität dienen. Damit sollte angeregt werden, die Hydrotherapie regelmäßig entweder vom Patienten selbst zu Hause oder im Rahmen einer Rehabilitationsmaßnahme durch Physiotherapeuten anzuwenden (Goedsche 2005, S.  120, 122; Goedsche et al. 2007). zz Studie von Breuss und Mosgoeller (2016)

Die Untersuchung der Auswirkung von Kneipp­ güssen auf die Herzfrequenzvariabilität durch G.  Breuss und W.  Mosgoeller hat signifikant positive Ergebnisse erbracht. Durch syste­ matische Messungen der Herzratenvariabilität (HRV) vor, während, und nach einer spezifischen Kneipp-Anwendung wurde die Wirkung auf das vegetative Nervensystem objektiviert. kErgebnisse

55 Die untersuchten Anwendungen führten zu einer Erniedrigung des Ruhepulses, zur Hebung des Vago- bzw. Senkung des Sympathikotonus. 55 Kalte Anwendungen wirkten am Vormittag wenig, am Nachmittag stark. 55 Warme Anwendungen waren vormittags effektiver als in der zweiten Tageshälfte. 55 Die Wirkung von Wechselbädern war vor- und nachmittags gleich. 55 Bezüglich der Wirkung wurde keine Altersabhängigkeit festgestellt. 55 Bei Kalt-, Warm- und Wechselanwendungen profitieren Frauen tendenziell mehr als Männer. 20.7  Ausbildung

Das Ausbildungsprogramm umfasst 6 zweieinhalbtägige Teilseminare, insgesamt 92 Unterrichtseinheiten. Ein Teilseminar behandelt die allgemeinen Grundlagen, die anderen fünf jeweils eine der 5 Kneipp-Säulen. Zusätzlich muss ein einwöchiges Praktikum in einem Kurhaus absolviert werden. Zum Abschluss wird ein Kolloquium abgelegt.

20

Wesentliche Inhalte des Ausbildungsprogramms 55 Theoretisches Wissen über Funktion und Wirkung hydrotherapeutischer Maßnahmen und medizinischer Packungen 55 Erweitertes Wissen über Ernährungsmedizin 55 Bewegungstherapie 55 Kräuterheilkunde und natürliche Lebensrhythmen 55 Praktische Durchführung von Kneippschen Güssen, Teil- und Vollbädern sowie Wickeln 55 Lebensstilberatung unter Einbeziehung von Ernährung, Bewegung und biologischen Rhythmen 55 Stressmanagement und Präventionsberatung 55 Wissen über Kurreaktionen und regulatorische Besonderheiten

zz Kontakt/Links

Österreichische Gesellschaft für Kneippmedizin/Traditionelle Europäische Medizin [email protected] 7 https://www.­kneippmedizin.­at/ 7 http://www.­kneippbund.­at/ 7 https://www.­a rztakademie.­a t/diplome-­ zertifikate-­cpds/oeaek-diplome/kneippmedizin/  





Zusammenfassung 55 Die Kneippmedizin ruht auf 5 Säulen: 55 Wasser, 55 Ernährung, 55 Heilkräuter, 55 Bewegung, 55 Lebensordnung. 55 Sie ist kein geschlossenes System, sondern ein umfassendes, humoralpathologisch orientiertes Konzept für Gesundheit und Wohlbefinden, das auf den ganzen Menschen eingeht und die individuelle Verantwortung und Aktivität für die Gesundung fordert und fördert. 55 Die Wirkung der gezielten Reizeffekte auf biologische Rhythmen und Regulationssysteme

452

G. Breuss et al.

wird durch moderne Methoden wie die Herzfrequenzvariabilität dokumentiert und bestätigt. 55 Ihre Langzeitwirkung der Verbesserung der Immunabwehr wurde nachgewiesen. 55 Effektivität und Wirksamkeit der Lebensstilmodifikation ist allgemeiner Konsens.

Literatur Allgemein

20

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453 Kneippmedizin – traditionelle europäische Medizin

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455

Anthroposophische Medizin Harald Siber 21.1

Methodische und historische Grundlagen – 456

21.1.1 21.1.2

 udolf Steiner – Anthroposophie als R Kulturerneuerungsprozess – 456 Welt- und Menschenbild der Anthroposophie – 458

21.2

Anthroposophisch erweiterte Medizin – 460

21.2.1 21.2.2 21.2.3

 er dreigliedrige Mensch – 461 D Gesundheit – Krankheit – Heilung – 462 Krankheit und Entwicklung – 463

21.3

Heilmittel und Therapieformen – 464

21.3.1 21.3.2 21.3.3

 on der Diagnose zur Therapie – 464 V Heilmittel aus den Naturreichen – 465 Nichtmedikamentöse Therapieformen – 468

21.4

Therapeutika – neue Wege der Zusammenarbeit – 470

21.5

Indikationen – 471

21.6

Nebenwirkungen – 472

21.7

Behandlungsdauer – 473

21.8

Behandlungskosten und Kassenvergütung – 473

21.9

Selbstbehandlung – 474

21.10 Verlauf einer Konsultation mit Fallbericht – 474 21.11 Fallbeispiel – 474 21.12 Studien/Evidenzlage – 475 21.13 Ausbildungsrichtlinien – 476 Literatur – 478 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_21

21

456

21

H. Siber

21.1  Methodische und historische

Grundlagen

Der Siegeszug der modernen Naturwissen­ schaft, der um die Mitte des 19. Jahrhunderts seinen Anfang nahm, hat bis heute wenig von seiner Faszination verloren. Beeindruckende Fortschritte  – nicht nur auf medizinischem Gebiet – konnten durch konsequente Anwen­ dung des abstrakten Denkens, das vom Gefühl und vom Willensleben immer unabhängiger wurde, errungen werden. Das Wissenschafts­ ideal der Wertfreiheit, das im präzisen, kalten und rasend schnellen maschinellen Rechen­ prozess zum Ausdruck kommt, bedeutete al­ lerdings oftmals den Verlust sinnerfüllten Wirk­ lichkeitserlebens und verantwortungsvol­ len Handelns. Viele drängende Gegenwarts­ probleme – von der Zerstörung der Umwelt bis zu gesellschaftlichen Problemen  – sind auf dem Boden dieser Entwicklung zu sehen. Die moderne Medizin hat zweifellos in vielen Teilbereichen großartige Erfolge zu ver­ zeichnen. Trotzdem nehmen chronische Krank­ heiten und degenerative Leiden auch bei jüngeren Menschen immer mehr zu. Die Ne­ benwirkungen der hochwirksamen, auf Einzel­ symptome ausgerichteten Medikamente be­ treffen oftmals den ganzen Menschen und stellen eine immer größere Beunruhigung für Patienten dar. Die Technisierung in der Medizin ist Ausdruck der Überbetonung des stofflich-­ materiellen Aspekts des Menschen. Der subjektiv leidende Kranke mit seinen urei­ genen Ausdrucks- und Empfindungsmöglich­ keiten geht bei der apparativen Suche nach ob­ jektiven Befunden oftmals verloren. Immer mehr Patienten fühlen sich in der rein naturwissenschaftlich orientierten Medizin nicht in ihrem ganzen Menschsein angespro­ chen und verstanden und begeben sich auf die Suche nach einer Ganzheitsmedizin, die von ei­ ner immer größer werdenden Zahl von komple­ mentären oder alternativen medizinischen Rich­ tungen für sich in Anspruch genommen wird. Die Orientierung wird für Patienten, aber auch für interessierte Ärzte immer schwieriger,

zumal die geistigen Hintergründe durch man­ nigfaltige Vermischungen alter Traditionen oder naturwissenschaftliche Verbrämungen oft schwer erkennbar sind. Daher sind nachvoll­ ziehbare Ausbildungsrichtlinien und Diplome für komplementärmedizinische Methoden, wie sie die Ärztekammer geschaffen hat, eine wichtige Orientierungshilfe und Abgrenzung gegen Scharlatanerie. Die interessierte Ärzteschaft hat damit die Möglichkeit, sich mit den Erkenntnisgrundla­ gen der verschiedenen Richtungen bewusst auseinanderzusetzen und zu prüfen, inwieweit sie die Bewährungsprobe im praktischen Le­ ben der Gegenwart bestehen können. 21.1.1  Rudolf Steiner –

Anthroposophie als Kulturerneuerungsprozess

Rudolf Steiner (. Abb.  21.1) wurde 1861  in Kraljevec an der österreichisch-ungarischen Grenze geboren. Schon in der Kindheit emp­ fing er vielfältige Eindrücke aus einer Welt, die über das irdisch Sinnfällige hinausging und ihn mit den geistigen Wesen hinter der sicht­ baren materiellen Welt in Verbindung brachte. Nach der Reifeprüfung im Jahr 1879 studierte er zunächst in Wien Biologie, Chemie und Physik. Steiner schildert in seiner Autobiographie (1925) eindringlich das geistige Klima der Jahrhundertwende, das zu Beginn des natur­ wissenschaftlichen Zeitalters durch die Ver­ leugnung der realen Existenz des menschli­ chen Geistes gekennzeichnet war. Erst durch die Beschäftigung mit Goethe und dessen na­ turwissenschaftlichen Schriften konnte er eine Brücke zwischen wissenschaftlicher Naturer­ kenntnis und seiner eigenen inneren Geistes­ anschauung finden. Nach der ­ Herausgabe von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften und der Mitarbeit an der Sophienausgabe legte er die Früchte dieser intensiven Auseinander­ setzung in seiner Dissertationsschrift Wahrheit und Wissenschaft und in seinem philosophi­  

457 Anthroposophische Medizin

21

..      Abb. 21.2  Goetheanum in Dornach/Schweiz (© Valery Shanin/stock.adobe.com)

..      Abb. 21.1  Rudolf Steiner, 1919. Foto: Karel Novak, Prag, (Rudolf Steiner Archiv, mit freundlicher Genehmigung)

schen Hauptwerk Philosophie der Freiheit (1894) der Öffentlichkeit vor. 1897 übersiedelte er als freier Schriftsteller und Vortragender nach Berlin. Bald erschie­ nen auch seine grundlegenden Schriften Theosophie (1904a), Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten (1904b) und Geheimwissenschaft im Umriss (1909). Neben seiner Vortragstätigkeit wandte sich Rudolf Steiner ab 1910 verstärkt dem künstle­ rischen Bereich zu. Es entstanden die vier Mysteriendramen, die das Schicksal einer Men­ schengruppe auf dem Einweihungsweg dar­ stellen. Das erste Goetheanum wurde nach seinen Plänen als Doppelkuppelbau aus Holz errich­ tet, wobei er selbst als Plastiker, Maler und Bildhauer tätig war. Es wurde durch Brandstif­ tung zerstört und 1925–1928 nach den Plänen Steiners als zukunftsweisender Betonbau er­ richtet (. Abb. 21.2).  

Die Eurythmie als neue Bewegungs­ kunst  – als sichtbare Sprache und sichtbarer Gesang – wurde begründet, ebenso die Sprach­ gestaltung als Grundlage einer neuen Büh­ nenkunst. Die Idee der Dreigliederung des sozialen Organismus als Antwort auf die chaotischen Zustände am Ende des Ersten Weltkrieges konnte die politisch verantwortlichen Men­ schen nicht erreichen. Bis heute stellt die unheilvolle Vermischung von politisch-­recht­ lichen, wirtschaftlichen und kulturell-­geistigen Bereichen die Ursache für den sozialen Unfrieden zwischen den Völkern dar. Von 1917–1923 entstanden auf Anfragen von Mitarbeitern aus verschiedenen Berufs­ sparten zunächst Fachkurse, die schließlich zu anthroposophischen Tochterbewegungen in vielen Lebensbereichen führten. Die Waldorf-Schulbewegung nahm 1919 in Stuttgart ihren Ausgang und wurde urs­ prünglich für die Kinder der Mitarbeiter der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik ins Leben gerufen. Heute sind Rudolf-Steiner-­ Schulen weltweit verbreitet und erwecken großes Inter­ esse in der Öffentlichkeit. Auch in der Heilpädagogik kam es zu Schulgründungen für seelenpflegebedürftige Kinder und im Rahmen der Camphill-­ Be­ wegung zur Gründung von über 100 Heimen mit Werkstätten für behinderte Menschen in aller Welt.

458

21

H. Siber

Die Bewegung für religiöse Erneuerung führte zur Begründung der Christengemein­ schaft, die ihr Zentrum in Stuttgart hat und heute ebenfalls weltweit verbreitet ist. Die biologisch-dynamische Landwirtscha­fts­ methode ist u.  a. durch die Anwendung von speziellen Präparaten auf die Gesundung von Erde und Kulturpflanzen ausgerichtet. Die stre­n­ gen Qualitätsrichtlinien solcher Produkte sind mit dem Demeter-­Warenzeichen geschützt. Die Entwicklung der anthroposophischen Medizin und Pharmazie entstand hauptsäch­ lich aus der Zusammenarbeit mit einem Ärzte­ kreis um die holländische Ärztin Ita Wegman.

schaftlichen Kriterien der Exaktheit und Objektivität standhalten kann, zu einem stu­ fenweisen Erleben der geistigen Welt in klarem Bewusstsein entwickelt werden. In jedem Menschen schlummern geistige Kräfte, die durch entsprechende Übungen ge­ weckt und gesteigert werden können. Der mo­ derne anthroposophische Schulungsweg ver­ zichtet bewusst auf Körper- und Atemübungen und andere asketische Maßnahmen der Ver­ gangenheit. Die verschiedenen Techniken der Konzentration, der Meditation und der be­ wussten inneren Führung des Lebens werden in den Grundwerken Rudolf Steiners ausführ­ lich beschrieben und begründet.

21.1.2  Welt- und Menschenbild

 ie vier Wesensglieder des D Menschen

der Anthroposophie

Anthroposophie als Erkenntnisweg Mit Anthroposophie (vom griechischen anthropos – Mensch und sophia – Weisheit) be­ zeichnet Rudolf Steiner eine Erkenntnisme­ thode, die zu dem Bewusstsein führt, dass der Mensch nicht nur Bürger der Erdenwelt, son­ dern auch einer geistigen Welt ist:

»» „Unter Anthroposophie verstehe ich die

wissenschaftliche Erforschung der geistigen Welt, welche die Einseitigkeiten einer bloßen Naturerkenntnis ebenso wie diejenigen der gewöhnlichen Mystik durchschaut und die, bevor sie den Versuch macht, in die übersinnliche Welt einzudringen, in der erkennenden Seele erst die im gewöhnlichen Bewusstsein und in der gewöhnlichen Wissenschaft noch nicht tätigen Kräfte entwickelt, welche ein solches Eindringen ermöglichen.“ (Steiner 1908)

Dem gegenwärtig unüberhörbaren Ruf nach einer Erweiterung des Bewusstseins trägt An­ throposophie in besonderer Weise Rechnung, die sie von traditionellen Verfahren grundsätz­ lich unterscheidet. Unbewusste Beziehungen zur übersinnlichen Welt (Mediumismus, Trance) müssen heute durch Schulung, die den wissen­

Der physische Leib stellt den stofflich-­ materiellen Anteil des Menschenwesens dar. Er unterliegt den Gesetzmäßigkeiten der Physik und Chemie und ist damit das Untersuchungs­ objekt der Naturwissenschaft, die erforscht, was messbar, zählbar und wägbar ist. Durch diesen physischen Leib ist das Mineralreich im Menschen repräsentiert. Die Gesetzmäßigkeiten des Lebendigen sind allerdings mit den Gesetzen der toten Ma­ terie nicht ausreichend zu beschreiben. Dieser Tatbestand wird am Vergleich zwischen dem belebten Organismus und dem Leichnam an­ schaulich. Das ungehinderte Wirken der che­ mischen und physikalischen Kräfte äußert sich in den im Tode einsetzenden Fäulnis- und Ver­ wesungsprozessen. Im lebendigen Organismus muss also eine Kräftewirksamkeit vorhanden sein, die dem Wirken dieser materiellen Kräfte entgegengesetzt ist. Sie wird als Lebensleib (Ätherleib) be­ zeichnet und ist übersinnlicher Natur. Die Ebene des Lebens ist der unbelebten Natur hie­ rarchisch übergeordnet und bringt die Fähig­ keit zu Ernährung, Wachstum, Regeneration und Fortpflanzung hervor. Der Lebensleib re­ präsentiert das Pflanzenreich im Menschen. So wie sich der Lebensleib der physischen Grundlage bedient, um einen lebendigen Or­

459 Anthroposophische Medizin

ganismus hervorzubringen, durchdringt der Seelenleib (Astralleib) das Lebendige, um Träger des Bewusstseins zu werden. Innere Er­ lebnisse kommen in der Fähigkeit zur aktiven Bewegung und zur Lautbildung zum Aus­ druck. In der Evolution wird damit der Schritt vom Vegetativen zum Seelischen vollzogen. Durch den Seelenleib ist das Tierreich im Menschen repräsentiert. Der Mensch als hierarchisch höchststehen­ des Naturreich verfügt außerdem noch über ein geistiges Wesensglied, das Ausdruck seiner Individualität, seiner Unvergänglichkeit ist. Das Ich verleiht Bewusstsein seiner selbst und gestaltet in seinen Taten die unverwechselbare Biographie des Menschen, die Ewigkeitscha­ rakter besitzt. Nur ein Ich besitzt die Fähigkeit, im Denken in Freiheit Ideeninhalte so zu ver­ knüpfen, dass etwas Neues, Schöpferisches entsteht (. Abb. 21.3).  

>> Aus dem harmonischen Zusammenwirken der vier Wesensglieder physischer

..      Abb. 21.3  Mensch und Natur

21

Leib, Lebensleib, Seelenleib und Ich entsteht die gesunde Funktion von Leib, Seele und Geist im menschlichen Organismus.

Schicksal und Wiederverkörperung Zu den großen Rätseln des Lebens gehört die Frage nach der Herkunft des Menschen, nach seinem Schicksal auf Erden und seiner nach­ todlichen Existenz. Aus der Geisteswissen­ schaft eröffnen sich tiefe Einblicke in diese Be­ reiche, und es können neue Erkenntnisse über die Gesetzmäßigkeiten von Leib, Seele und Geist gewonnen werden. Die Gestalt des Leibes wird durch die Ge­ setze der Vererbung bestimmt. Das Leben der Seele, die eine Vermittlerrolle zwischen dem Leib und dem Geist im Leben zwischen Geburt und Tod erfüllt, kommt im selbstgeschaffenen Schicksal zum Ausdruck. Der Geist unterliegt dem Gesetz der Wiederverkörperung in wie­ derholten Erdenleben.

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21

H. Siber

Diese Zusammenhänge werden bildhaft nachvollziehbar, wenn man auf den Rhythmus von Wachen und Schlafen schaut. Der Schlaf kann als „der kleine Bruder des Todes“ angese­ hen werden, denn während man schläft, hat man auf die fortlaufenden Ereignisse eine Zeit lang keinen Einfluss. Dennoch hängt das Le­ ben am folgenden Tag von den Wirkungen der Taten des Vortages ab. Ebenso verhält es sich mit den Taten aus vergangenen Erdenleben, die der sich wieder verkörpernde Geist als Schicksal aus früheren Inkarnationen mitbringt. Das Leben der Seele in der Gegenwart ist somit das Ergebnis des selbstgeschaffenen Schicksals des menschli­ chen Geistes. Alles, was wir tun, aber auch unterlassen, zieht Folgen nach sich, in denen die Sehnsucht des Geistes nach Gerechtigkeit und Ausgleich zum Ausdruck kommt. Dabei darf der Blick aber nicht nur auf eine einzige Inkarnation ge­ richtet werden, ebenso wenig wie ein Leben aus einem einzigen seiner Tage verstanden und gerecht beurteilt werden kann. Es steht in der Freiheit des Menschen, wie er sich in einer schicksalsgefügten Situation verhält: ob er die Gelegenheit zum Ausgleich ergreifen kann oder neue Konflikte begründet, die zukünftiges Schicksal werden. Das vom Menschen selbst bereitete Schick­ sal (Karma) wird von göttlichen Mächten ge­ führt und verwaltet. Die alte orientalische Vor­ stellung von der Seelenwanderung wird somit in der anthroposophischen Geisteswissenschaft von der abendländisch-christlichen Idee der Reinkarnation des Menschengeistes abgelöst. Die Menschheit steht vor einer Epoche, in der sie die Schicksalszusammenhänge auf­ grund der geisteswissenschaftlichen Darstel­ lungen nicht nur begreifen, sondern immer mehr auch wird schauen können. Der große Entwicklungsschritt zur Freiheit ist daran ge­ bunden, wissen zu können, was die Menschen der Welt noch schuldig sind. >> Solange Freiheit lediglich aufgefasst wird als die Möglichkeit, tun zu können, was man will, muss sie Illusion bleiben,

der die Schicksalsgesetze verborgen sind. Erst durch die Erkenntnis dieser Gesetze wird der Mensch künftig in freiem Entschluss die bewusste Verantwortung für sein Schicksal und das von Natur und Erde tragen können, denn Freiheit beruht auf Handeln aus Einsicht.

21.2  Anthroposophisch erweiterte

Medizin

Auf Anfrage von Ärzten, die an Vorträgen Ru­ dolf Steiners teilnahmen, kam es ab 1920 zur Abhaltung von medizinischen Fachkursen und damit zur engen Zusammenarbeit mit der inte­ ressierten Ärzteschaft. Bald entstanden in Ar­ lesheim/Schweiz und in Stuttgart auch klini­ sche Einrichtungen und anthroposophische Heilmittelfirmen. Aus diesen Anfängen heraus verbreitete sich die anthroposophisch-medizinische Be­ wegung zunächst in Mitteleuropa und ist heute weltweit tätig. Tausende Ärzte arbeiten in ver­ schiedenen Gebieten der Medizin und bemü­ hen sich um eine Erweiterung der Heilkunst gemäß dem Motto, das Rudolf Steiner 1925 formulierte:

»» „Nicht um eine Opposition gegen die mit

den anerkannten wissenschaftlichen Methoden der Gegenwart arbeitende Medizin handelt es sich. Diese wird von uns in ihren Prinzipien voll anerkannt. Allein wir verfügen zu dem, was man mit den heute anerkannten wissenschaftlichen Methoden über den Menschen wissen kann, noch weitere Erkenntnisse hinzu, die durch andere Methoden gefunden werden, und sehen uns daher gezwungen, aus dieser erweiterten Welt- und Menschenerkenntnis auch für eine Erweiterung der ärztlichen Kunst zu arbeiten. Nur derjenige, der nicht nur verlangt, man müsse sein Wissen bejahen, sondern der dazu noch den Anspruch erhebt, man dürfe keine Erkenntnis vorbringen, die

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über die seinige hinausgeht, kann unseren Versuch von vorneherein ablehnen.“ (Steiner und Wegman 1925)

Die Arbeit an den anthroposophischen Grund­ lagen, die hier skizzenhaft dargestellt werden, vermag insbesondere therapeutisch tätigen Menschen einen neuen geistigen Hintergrund für ihre aufopferungsvolle und schwierige Tä­ tigkeit zu geben. 21.2.1  Der dreigliedrige Mensch

Die Dreigliederung des Menschen geht von der räumlich-funktionellen Betrachtung des Menschenwesens aus und erkennt Krank­ heitstendenzen als Impulse, die am falschen Ort auftreten können, weil die ausgleichende Funktion des rhythmischen Systems überfor­ dert ist. Der Gesichtspunkt des viergliedrigen Men­ schen hingegen berücksichtigt mehr den zeit­ lichen, evolutionären Aspekt der Krankheits­ entstehung, wie er in der Entwicklung des Menschen, im Reifungsprozess, zum Ausdruck kommt. In Pädagogik, Heilpädagogik und Psy­ chologie, in Entwicklungskrisen kommt der Frage nach dem richtigen Zeitpunkt eines Ent­ wicklungsschrittes eine besondere Bedeutung zu. Denn sowohl Retardierung als auch Akze­ leration sind als Krankheitstendenzen einzu­ stufen. Für den unbefangenen Beobachter lässt sich am menschlichen Organismus, wie er sich körperlich ausgestaltet, eine Gliederung in drei Hauptbereiche erkennen (. Abb. 21.4): 55 Nerven-Sinnes-System, 55 Stoffwechsel-Gliedmaßen-System, 55 rhythmisches System.  

Der obere Mensch mit Schwerpunkt im Kopf­ bereich ist v. a. auf Nerven- und Sinnestätigkeit ausgerichtet, was in der Konzentration von Sinnesorganen und des zentralen Nervensys­ tems in dieser Region zum Ausdruck kommt. Wahrnehmen, Denken und Vorstellen stützen sich auf das sog. Nerven-­Sinnes-­System.

..      Abb. 21.4  Der dreigliedrige Mensch

Der untere Mensch hat sein Zentrum in der Bauch- und Gliedmaßenregion, die sich durch intensive Stoffwechselvorgänge in den Verdauungs-, Ausscheidungs- und Reproduk­ tionsorganen sowie in der Muskulatur aus­ zeichnen. Dieser Funktionsbereich wird als Stoffwechsel-Gliedmaßen-System bezeichnet und bildet die leibliche Grundlage für das Wol­ len. Zwischen diesen beiden polar entgegenge­ setzten Bereichen stellt der mittlere Mensch mit den im Brustkorb befindlichen rhythmi­ schen Organen Herz und Lunge sowohl eine räumliche als auch eine funktionelle Trennung dar. Durch Atmung und Herztätigkeit werden die einseitigen Tendenzen des oberen und un­ teren Menschen rhythmisch zum Ausgleich ge­ bracht. Damit wird die Grundlage für das Füh­ len im sog. rhythmischen System geschaffen. Im Organismus wirken diese drei Systeme ständig ineinander und durchdringen sich le­ bendig. Sie sind über den ganzen Körper aus­ gebreitet und wirksam  – ihre Schwerpunkte allerdings haben sie jeweils im oberen, mittle­ ren und unteren Menschen.

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H. Siber

>> Die Idee der Dreigliederung ermöglicht einen neuen Zugang für die Betrachtung von Gesundheit und Krankheit.

21.2.2  Gesundheit – Krankheit –

Heilung

Der mechanistische Gesundheits- und Krank­ heitsbegriff der Gegenwart muss überwunden werden, wenn Medizin wieder Heilkunst wer­ den soll. Krankheit ist nicht bloß ein Erbde­ fekt, Maschinenschaden oder ­Organversagen, sondern ein Naturprozess, der im dreigliedri­ gen Organismus am falschen Ort auftritt und durch die Urheilkraft des Rhythmus aus dem mittleren Menschen heraus nicht ausgeglichen werden kann (. Abb. 21.5).  

 rankheitstendenz des Nerven-­ K Sinnes-­Systems Diese kommt in der Verhärtung, der Sklerose, der Kristallisation zum Ausdruck. Die Abbau­ tätigkeit des wachen Bewusstseins lähmt die Lebensprozesse so weit ab, dass Teilungsfähig­ keit und Regeneration im Nerven-Sinnes-­ Bereich weitgehend verloren gegangen sind. Hier herrschen winterliche Lebensbedingun­ gen: Kälte, Ruhe und Todesprozesse sind Qua­ litäten, auf deren Grundlage sich Sinneswahr­ nehmung und klares Bewusstsein entfalten können. Denn um klar wahrnehmen und den­ ken zu können, braucht man einen „kühlen Kopf “, die Bewegungs- und Lebensprozesse des Stoffwechsels müssen zurückgedrängt werden. Daher ist das Gehirn vor Erschütterungen, die seine Funktion beeinträchtigen würden, durch Schwimmen im Gehirnwasser geschützt. Der direkte Kontakt zwischen dem Blut als Vertreter der Stoffwechselkräfte und der Ner­ vensubstanz wird durch die Gehirnhäute ver­ hindert (Blut-Hirn-Schranke).

Krankheitstendenz des Stoffwechsel-­Gliedmaßen-Systems Auch das Stoffwechsel-Gliedmaßen-System birgt die Tendenz zur Erkrankung in sich: Auf­lösungsund Entzündungsprozesse sind Aus­druck des

..      Abb. 21.5  Prozesse und Krankheitstendenzen im dreigliedrigen Menschen

überschießenden, aufbauenden Lebens, das in dem immer in Bewegung befindlichen Stoff­ wechselsystem mit der Wär­mebildung einher­ geht. Muskulatur und Ver­dauungsorgane brau­ chen Wärme, um funktionieren zu können, und sie bilden Wärme, indem sie ihre Tätigkeit ent­ falten. Im unteren Menschen finden sich somit sommerliche Verhältnisse, die in vegetativen Le­ bensprozessen, in Wachstum, Regeneration und Reproduktion ihren Ausdruck finden. Als typische Beispiele für überschießende Stoffwechselprozesse, die bis in das Nerven-­ Sinnes-­ System vordringen, können Migräne oder Entzündungsprozesse wie Mittelohrent­ zündung oder Gehirnhautentzündung ange­ führt werden. Wenn die Verhärtungsprozesse des Ner­ ven-­ Sinnes-Systems zu tief in den unteren Bereich vordringen, können z.  B.  Krampfzu­ stände im Verdauungstrakt oder Steinbildun­ gen als Ausdruck der Kristallisationstendenz

463 Anthroposophische Medizin

entstehen, die sich dann ebenfalls in krampf­ artigen Schmerzen äußern können. >> Krankheit entsteht demnach dadurch, dass Naturprozesse, die in den entsprechenden Körperregionen rechtmäßig wirksam sind, diese Grenzen durchbrechen und sich am falschen Ort manifestieren.

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>> Jede therapeutische Maßnahme muss darauf abzielen, diese Kräfte zu unterstützten. Die Stärkung des rhythmischen Systems, der Mitte des Menschen, ist dazu ein besonders wichtiger Beitrag.

21.2.3  Krankheit und Entwicklung

Aus dem bisher Dargestellten geht hervor, dass jeder Mensch seine eigene Mitte, Gesundheit, finden muss und dass somit auch Krankheit Gesundheit ist nur dann möglich, wenn die ein individueller Zustand ist. Mitte im rhythmischen Ausgleich der Polari­ Krankheitsgefühl ist nicht immer nur Aus­ täten gefunden werden kann. Das rhythmi- druck von sog. objektiven Befunden, sondern sche System stellt somit den Urheiler im Men­ eben auch des subjektiven Befindens. Anderer­ schen dar, der die Einflusssphären des oberen seits können sich auch Menschen, die objektiv und des unteren Menschen räumlich und zeit­ als krank eingestuft werden, gesund fühlen. lich begrenzt und gleichzeitig rhythmisch mit­ Der Weg vom Kranksein zur Gesundung einander verbindet. ist immer mit Anstrengung auf leiblicher, see­ Der Wechsel von Wachen und Schlafen im lischer und geistiger Ebene verbunden. In der Tageslauf ist ein Abbild der abbauenden und Krankheit verliert der Mensch meist vorüber­ aufbauenden Kräftewirksamkeiten im Orga­ gehend bereits erworbene Fähigkeiten, ein nismus. Der Mensch, der als einziges Wesen entwickeltes Vermögen. Ein Rückfall in ein der Schöpfung über Selbstbewusstsein verfügt, früheres Entwicklungsstadium tritt ein: man ist damit gleichzeitig den vielfältigsten Erkran­ wird bettlägerig, muss Hilfe bei den täglichen kungsmöglichkeiten ausgesetzt. Verrichtungen in Anspruch nehmen, das Be­ Im Wachen führen die vom Nerven-­Sinnes-­ wusstsein ist oftmals durch Erschöpfung, System ausgehenden Abbauprozesse zur Schmerz, Fieber etc. beeinträchtigt. Manche Entfaltung unseres klaren Tagesbewusstseins bisher selbstverständliche Fähigkeit muss in und in der Folge davon zur abendlichen Ermü­ der Genesungsphase wieder mühsam erlernt dung. Im Schlaf verlieren wir dieses Bewusst­ werden. sein und regenerieren den Leib aus den Kräf­ Der Einschnitt, den Krankheit mit sich ten des Stoffwechsels heraus. bringt, stellt ein Aufwacherlebnis dar, das oft­ Im Einschlafen lösen sich Seele und Geist mals schmerzhaft zum Bewusstsein bringt, was aus der Bindung mit dem Leibe, im Aufwachen bisher verschlafen, verdrängt wurde. Eine neue ziehen sie wieder in die körperliche Hülle ein. Entwicklungsphase wird damit eingeleitet, die Der Rhythmus von Schlafen und Wachen ist die Möglichkeit zur Neuordnung, zum Neube­ somit dem Prozess von Ausatmung und Einat­ ginn in sich birgt, wenn die Botschaft der mung vergleichbar. Krankheit verstanden und ernst genommen Der Schlaf stellt einen mächtigen natürli­ wird. chen Heilprozess dar. Er aktiviert die aufbau­ enden, regenerierenden Kräfte, die man auch >> Sich mit diesen Zusammenhängen gemeinsam mit dem Patienten auseinanSelbstheilungskräfte nennen kann. In der anth­ derzusetzen und somit dem Wesen und roposophischen Medizin werden sie als ätheri­ dem Sinn der Krankheit nachzuspüren, sche Kräfte bezeichnet. Paracelsus sprach von gehört zu den Aufgaben der anthropodiesen Kräften als vom „inwendigen Arzt“ als sophisch erweiterten Medizin. Grundlage für jeden Heilungsvorgang.

Krankheitstendenz des rhythmischen Systems

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H. Siber

Krankheit und Schicksal sind untrennbar mit­ einander verbunden. Der Entwicklungsge­ danke der wiederholten Erdenleben wirft auch auf den Umgang mit Krankheit, Leiden und Tod ein neues Licht. Dem negativen Krank­ heitsaspekt in unserer Kultur muss der positive Gesichtspunkt der Bewusstwerdung, der Ent­ wicklung und Reifung entgegengehalten wer­ den. Entwicklung ist allerdings immer mit Ge­ fahren verbunden. Gesundung, Heilung zielt somit nicht ausschließlich auf eine Wiederherstellung eines alten Zustandes ab, sondern vielmehr auf das Erringen einer neuen seelisch-geisti­ gen Gesundheit, die gegebenenfalls auch körperliche Gebrechen und Behinderungen ertragen und schließlich auch annehmen kann. >> Heilung muss demnach in viel umfassenderer und individuellerer Art und Weise betrachtet werden, als das in unserem Gesundheitssystem bisher geschieht. In den therapeutischen Überlegungen muss das Prinzip der gezielten Behandlung von Einzelsymptomen ergänzt werden von einer therapeutischen Gesinnung, die allen Dimensionen der menschlichen Wesenheit Rechnung trägt.

21.3  Heilmittel und

Therapieformen

21.3.1  Von der Diagnose zur

Therapie

Vor jeder therapeutischen Maßnahme sollte das Bemühen um eine umfassende Diagnose stehen. Diagnostische Verfahren haben in der Medizin heute einen hohen Standard er­ reicht, sie beziehen sich jedoch weitgehend auf den physisch-sinnlichen Bereich des Menschen. Selbstverständlich wird auch der anthro­ posophisch orientierte Arzt diese Möglichkei­ ten in Anspruch nehmen, die heute Grund­

lage einer exakten Diagnose im Bereich des Leiblichen darstellen. Dazu gehören neben der körperlichen Untersuchung die Labordia­ gnostik, die verschiedenen bildgebenden Ver­ fahren sowie diverse andere Spezialuntersu­ chungen. Neben der konventionellen medizini­ schen Diagnose bemüht sich der anthroposo­ phische Arzt aber auch um die Berücksichti­ gung anderer Wesensqualitäten, die den Menschen in Gesundheit und Krankheit aus­ machen. Dabei gilt es insbesondere, die indi­ viduellen, einmaligen Konstellationen in der Krankengeschichte aufzufinden, die vom see­ lischen und geistigen Wesen des Menschen geprägt sind. Wie unterschiedlich sind oft Menschen, die alle an der gleichen Krankheit leiden. Eine in­ dividuelle Betrachtung muss Körperbau, Gang und Haltung, Temperament, charakterliche Gegebenheiten ebenso wie die soziale Situa­ tion und das kulturelle Umfeld in das Gesamt­ bild mit einbeziehen. Die Intensität und die Art und Weise des Zusammenwirkens der höheren Wesensglie­ der im Leib lassen sich an bestimmten Befin­ densäußerungen erkennen, die beobachtet und gezielt erfragt werden müssen. In einer umfassenden Krankengeschichte gewinnen Informationen über das Befinden beim Ein­ schlafen und Aufwachen, über das Traumerle­ ben und die Schlafqualität ebenso Bedeutung für das Ganze, wie der Appetit, Vorlieben, Ab­ neigungen und Unverträglichkeiten beim Es­ sen oder Verdauungsprobleme. Auch die Re­ aktion auf Umwelt- und Wettereinflüsse wie Hitze, Kälte, Nebel, Regen, Föhn, Sonne usw. lassen wichtige Rückschlüsse auf die Gesamt­ verfassung zu. >> Ein solches Gespräch braucht eine vertrauensvolle Atmosphäre und einen entsprechenden zeitlichen Rahmen. Nur dann kann neben den organischen Befunden auch die seelische und die geistige Dimension, die in der Biographie eines Menschen zum Ausdruck kommt, Berücksichtigung finden.

465 Anthroposophische Medizin

21.3.2  Heilmittel aus den

Naturreichen

Der Mensch stellt als viergliedriges Wesen eine Zusammenfassung der Natur dar, mit der er durch eine gemeinsame Entwicklung eng ver­ bunden ist. In der anthroposophischen Evoluti­ onslehre wird dargestellt, wie sich Mineral-, Pflanzen- und Tierreich aus der ursprünglich einheitlichen Entwicklung schrittweise herausge­ löst haben, sodass sie schließlich als Naturreiche dem Menschen gegenüberstehen (. Abb. 21.6). Aus dieser Urverwandtschaft mit der Natur resultiert auch die tiefe Heilbeziehung, die Na­ tursubstanzen im Menschenwesen entfalten können.  

a

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In der äußeren Natur liegt unendlich breit gefächert vor, was im Menschen unter der Füh­ rung des Ich zu einer Einheit zusammengefasst wird. In der Krankheit verselbstständigen sich solche Naturprozesse im Menschen. Substan­ zen aus den Naturreichen können die entspre­ chenden Heilprozesse im Organismus anregen, wenn sie durch die Kunst des Pharmazeuten zum Arzneimittel weiterentwickelt werden.

 ie Kunst der HeilmittelzubereiD tung Aus den mineralischen, pflanzlichen und tieri­ schen Ausgangsstoffen werden durch die Herstellungsverfahren der anthroposophisch

b

a

c

..      Abb. 21.6  a Mineralreich: Antimonit, b Pflanzenreich: Hyoscyamus niger (Schwarzes Bilsenkraut), c Tierreich: Apis mellifica (Honigbiene) (© Weleda AG, Schwäbisch Gmünd, mit freundlicher Genehmigung)

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erweiterten Pharmazie menschengemäße Heil­ mittel hergestellt. Ein wesentlicher Unter­ schied zur gegenwärtigen pharmazeutischen Tendenz, Wirkstoffe zu isolieren oder zu syn­ thetisieren, besteht in der Verwendung des na­ türlichen Substanzgefüges, wie es in der Natur vorhanden ist, denn das Ganze ist immer um­ fassender als eine isolierte Substanz, ja sogar mehr als die Summe der einzelnen Bestand­ teile. Nicht nur die chemischen und physikali­ schen Gesetze einer Substanz sind für die Wir­ kung als Heilmittel maßgebend, sondern auch deren Herkunft und Entwicklungsgeschichte als Ausdruck des Weges, den der Stoff in der Natur gegangen ist, denn der Weg, den man beschritten hat, hat eine verändernde und prä­ gende Wirkung, die sowohl an der Biographie eines Menschen als auch an der Geschichte ei­ nes Minerals oder einer Pflanze erlebt werden kann. Kalziumcarbonat findet sich z.  B. in der Austernschale, in Korallen, im Kalkgebirge in verschiedenen Erscheinungsformen und auch in der Eichenrinde als pflanzliches Ablage­ rungsprodukt. Trotz der einheitlichen chemi­ schen Formel drückt sich in diesen vers­ chiedenen Variationen das Kalkwesen in unterschiedlicher Art und Weise aus und kann daher jeweils besondere Heilqualitäten entfalten. >> Die Kunst der pharmazeutischen Zubereitung hat ebenfalls mit dem Beschreiten eines Weges zu tun. Die in der Natur begonnenen Prozesse finden ihre Fortsetzung in den pharmazeutischen Prozessen, wenn diese im Einklang mit der Natur stehen. Dadurch kann sich das in der äußeren Erscheinung oftmals noch verborgene Wesen der Substanz entfalten und offenbaren und somit zum Heilmittel werden.

Die folgenden drei pharmazeutischen Kunst­ griffe seien stellvertretend für viele andere er­ wähnt, die in der anthroposophischen Medizin ebenfalls Anwendung finden:

kWärmeprozesse

Gerade diese Prozesse können verschiedene Qualitäten zur Erscheinung bringen. So kann die Heilmittelwirkung z. B. auf bestimmte Kör­ perregionen ausgerichtet werden, je nachdem, ob ein Kaltauszug einer Frischpflanze, eine Ab­ kochung einer Wurzel oder Rinde oder eine Röstung oder Veraschung vorgenommen wird. kRhythmische Anwendungen

Sie stellen einen weiteren Kunstgriff bei der Heilmittelherstellung dar, denn alle Lebens­ vorgänge laufen rhythmisch ab. Einen solchen Verlebendigungsprozess der toten Arzneiroh­ stoffe stellt das homöopathische Potenzie­ rungsverfahren dar. Dieser rhythmische Auf­ lösungsprozess stellt eine Befreiung von den Stoffkräften dar, wobei gleichzeitig die geistar­ tigen Arzneikräfte entfaltet und dem Verdün­ nungsmedium eingeprägt werden. kVegetabilisierte Metalle

Das Verfahren geht auf Rudolf Steiner zurück und besteht in der Düngung von Heilpflanzen mit bestimmten Metallsalzen und anschlie­ ßendem Kompostierungsprozess. Dieser Vor­ gang wird über 3 Jahre wiederholt. Die letzte Pflanzengeneration stellt den Ausgangsstoff für die anschließende Potenzierung dar. Dabei wird die Beziehung der 7 Planetenmetalle zu bestimmten Pflanzen besonders berücksichtigt und dadurch therapeutisch an die zugehörigen Organsysteme herangebracht (. Tab. 21.1). Die anthroposophisch erweiterte Pharmazie hat das Ziel vor Augen, von der Qualität der Arzneirohstoffe bis zum Herstellungsprozess den Menschen als Maßstab heranzuziehen. Sein Heilbedarf verweist sowohl auf die Substanz als Ausdruck der gewordenen Natur als auch auf den Herstellungsprozess als Ausdruck des Wer­ denden in der pharmazeutischen Kunst.  

 rzneiformen und deren A Anwendung Anthroposophische Heilmittel können prinzi­ piell innerlich, äußerlich oder durch Injektion zur Anwendung gebracht werden:

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..      Tab. 21.1  Die 7 Planetenmetalle in ihrer Beziehung zu den Organen Metall

Organbildung

Pflanzen mit Beziehung zum Metall-Organ-Prozess

Wirkort des Prozesses

Blei

Milz

Eisenhut, Wegwarte

Nervensystem, Knochen, Festes

Zinn

Leber

Löwenzahn, Wegwarte

Knorpel, Gelzustand

Eisen

Galle

Brennnessel, Schöllkraut

Blut, Atmung

Gold

Herz

Johanniskraut, Primel

Herz-Kreislauf

Kupfer

Nieren-, Nebennierensystem

Kamille, Melisse, Tabak

Ernährungsstrom, Blutbildung

Quecksilber

Lunge

Keimzumpe

Lymphe, Strömendes

Silber

Gehirn

Lebensbaum, Keimzumpe

Wässriges, Regeneration

kInnerliche Anwendung

Dafür stehen wässrige und alkoholische Lö­ sungen, Verreibungen oder Tabletten sowie Kügelchen, die mit der Arzneilösung besprüht sind, zur Verfügung. Diese Arzneiformen wir­ ken hauptsächlich über den Stoffwechsel. Zäpfchen und Augentropfen stellen weitere spezielle Anwendungsformen dar. kInjektionen

Sie können subkutan oder intravenös erfol­ gen und stellen zweifellos eine Intensivierung der Therapie dar, die durch die Wahl des In­ jektionsortes noch besonders betont werden kann. Sie entfalten ihre Wirkung über das vernetzte Grundsystem im Bindegewebe und somit über das rhythmische System des Men­ schen. kÄußere Anwendungen von Tinkturen, Salben, Ölen oder Badezusätzen

Sie ergänzen das therapeutische Angebot wir­ kungsvoll. Umschläge, Einreibungen und Bä­ der regen über die Haut den Sinnesorganismus stark an. >> Die anthroposophische Medizin verfügt über ein umfangreiches Heilmittelangebot. Es reicht von homöopathisch potenzierten bis zu stofflich konzentrier-

ten Präparaten, die in ihrer Komposition und besonderen pharmazeutischen Herstellung auf bestimmte Organbereiche oder Erkrankungstendenzen ausgerichtet werden können.

Für die Wahl der Potenzhöhe kann der Ge­ sichtspunkt der Dreigliederung Hinweise ge­ ben: 55 Tiefe Potenzen bis D8 wirken v. a. im Stoffwechselbereich, 55 mittlere von D8 bis D15 bevorzugt im rhythmischen System, 55 hohe von D15 bis D30 auf das Nerven-­ Sinnes-­System. Die Häufigkeit und die Art der Arzneiverabrei­ chung richten sich nach der individuellen ärzt­ lichen Einschätzung und Verordnung. Als Re­ gel kann gelten, dass stoffliche Arzneien und tiefe Potenzen bis zu mehrmals täglich, höhere Potenzen allerdings viel seltener verabreicht werden sollten. Eine Injektionsbehandlung sollte einer ärztlichen Begleitung vorbehalten bleiben. Äußere Anwendungen erfreuen sich eines immer größeren Interesses, setzen aber Kennt­ nisse in der Hauskrankenpflege voraus, die in praktisch orientierten Kursen vermittelt wer­ den können.

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Anthroposophische Heilmittelbetriebe Das pharmazeutische Herstellungsverfahren verbindet die Natursubstanz mit dem kranken Menschen. Im Dienste dieser Zielsetzung ar­ beiten und forschen seit über 70 Jahren die bei­ den größten und ältesten a­ nthroposophischen Heilmittelbetriebe WELEDA und WALA als Hersteller von Medikamenten und Körperpfle­ gepräparaten. Vom Heilpflanzenanbau nach den Richtli­ nien der biologisch-dynamischen Landwirt­ schaft über die Wahl des richtigen Zeitpunkts für Ernte und Verarbeitung bis hin zu den ver­ schiedenen Herstellungsverfahren werden Ge­ sichtspunkte der anthroposophischen Natur­ erkenntnis in diesen Betrieben praktisch zur Anwendung gebracht. Ein breites Angebot von kosmetischen Präpa­ raten und Körperpflegemitteln, die aus natürli­ chen Rohstoffen ohne synthetische Duft- und Konservierungsstoffe hergestellt und nicht an Tie­ ren getestet werden, steht ebenfalls zur Verfügung. Um die Erforschung und Herstellung von Mistelpräparaten, die in der anthroposophi­ schen Medizin als Krebsheilmittel eine große Bedeutung haben, bemühen sich mehrere Hersteller (Iscador, Helixor, Abnoba-­Viscum, Iscucin).

21.3.3  Nichtmedikamentöse

Therapieformen

Neben der medikamentösen Therapie spielen künstlerische Therapien, Massage, Heileuryth­ mie, Gesprächstherapie und Biographiearbeit eine immer größer werdende Rolle innerhalb der anthroposophischen Medizin.

Rhythmische Massage Die rhythmische Massage nach Dr. Ita Weg­ man gründet auf dem ganzheitlich-­ an­ thro­ posophischen Menschenbild. Diese neue Massagetechnik bringt besondere Griff­ qualitäten zur Anwendung, die durch Binden und Lösen rhythmisch in den Behandlungs­

verlauf eingewoben werden. Neben den auf Druck beruhenden Griffen spielt die saugende Griffqualität eine große Rolle. Dabei gilt es, rhythmisch atmende Prozesse anzuregen, die den Wesensgliedern ein gesundes Eingreifen in den Leib ermöglichen. Der mechanistische Ansatzpunkt der klassischen Massage spielt dabei eine untergeordnete Rolle. In der Ausbildung des Therapeuten wird besonderes Augenmerk auf die Überwindung überschießender, willkürlicher Bewegungsab­ läufe gelegt – die Griffe bedürfen einer verin­ nerlichten und gelassenen Ausführung. Erst dann können die Hände zum selbstlosen Die­ ner der heilenden Geister werden.

Heileurythmie Heileurythmie ist eine von Rudolf Steiner be­ gründete Bewegungstherapie, die aus der künstlerischen Eurythmie entwickelt wurde. Die Bewegungselemente der Eurythmie grün­ den auf den Bildegesetzmäßigkeiten der Spra­ che und der Töne als Ausdruck der menschli­ chen Seele. Eurythmie ist in der Bewegung sichtbar gewordene Sprache und sichtbar ge­ wordener Gesang. Heileurythmische Bewegungen unterstüt­ zen die Bildungskräfte erkrankter Organe, wenn die Gebärden der Organerkrankung an­ gepasst werden. Im übenden Erlernen solcher bewusst erlebter Bewegungen können durch vokalische und konsonantische Übungsreihen sowohl gestaltende als auch lösende Prozesse im Organismus angeregt werden. Die ärztliche Diagnose stellt eine Grund­ lage für die Zusammenarbeit mit Heileuryth­ misten dar, die aufgrund einer mehrjährigen intensiven Ausbildung entsprechend qualifi­ ziert sind.

Künstlerische Therapien Die therapeutische Wirkung künstlerischer Betätigung kann heute von jedem Menschen unmittelbar erlebt werden. Mehr denn je be­ dürfen die aus dem abstrakten Denken unseres Tagesbewusstseins entsprungenen, kränken­ den zivilisatorischen Einflüsse, die oftmals mit einer Verarmung der Gefühlswelt einherge­

469 Anthroposophische Medizin

hen, einer Belebung und Erfrischung aus dem Bereich der aufbauenden, regenerierenden, schöpferischen Kräfte. Aus dieser nächtlichen Sphäre erhalten wir unsere kreativen Impulse, unsere Bilder und Visionen für die Gestaltung der Zukunft. Diese Fähigkeit, die dem Kind im Spiel noch ge­ schenkt ist, muss der Erwachsene bewusst pfle­ gen, übend wiedererringen. Die in der Krankheit verloren gegangene Einheit von Leib, Seele und Geist und die Be­ ziehungen des Menschen zur Welt können durch aktive künstlerische Betätigung neu be­ lebt werden. Der Patient ist dabei aktiv am Hei­ lungsverlauf mitbeteiligt. Er ist aufgerufen, Altes zu verwandeln, Fähigkeiten übend zu entwi­ ckeln und somit Neues, Zukünftiges zu schaffen. Die Auswahl der verschiedenen Kunstthe­ rapien ist von der Gebärde der Krankheit und von der Persönlichkeit des Patienten abhängig. Eine Zusammenarbeit von Arzt und Therapeut bildet auch hier die Grundlage für eine medizi­ nische Diagnose und eine darauf abgestimmte Behandlung. >> Es sei darauf hingewiesen, dass anthroposophische Kunsttherapie nicht im Ausleben, Abreagieren unbewusster Gefühle und anschließender psychologischer Interpretation der Ergebnisse ihre Aufgabe sieht, sondern im übenden Umgang mit den künstlerisch vermittelten ausgleichenden therapeutischen Prozessen.

Plastisches therapeutisches Gestalten In der Arbeit mit Ton, Holz und Stein werden die formenden, strukturierenden Prozesse be­ sonders angeregt, was u.  a. in der Behandlung auflösender Krankheitsprozesse hilfreich ist. Ausgehend von einfachen Grundformen kön­ nen entsprechend dem Material verschiedene Gestaltverwandlungen herausgearbeitet werden.

Therapeutisches Malen Im Umgang mit der fließenden Farbe er­ schließt sich eine lichtdurchflutete Seelenwelt, die Erstarrungen und Verkrampfungen wieder

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aufzulösen und neu zu gestalten vermag. Da­ für kommen verschiedene Techniken vom Zeichnen über das Nass-in-nass-Malen bis zum Schichtmalen zur Anwendung. Auch die differenzierte seelische Wirkung der verschie­ denen Farben kann so gezielt berücksichtigt werden.

Musiktherapie Der Leib ist das Instrument der Seele, die in der Atmung rhythmisch in den Körper ein­ zieht und einen Innenraum ausbildet, der ei­ nen Resonanzraum ausbildet. Das Umgehen mit den musikalischen Elementen von Dur und Moll, von Harmonie und Dissonanz, von Melodie und Rhythmus muss der Gestimmt­ heit des Patienten abgelauscht werden und wird durch die Verwendung geeigneter Instru­ mente unterstützt.

Sprachgestaltung Aus dem Seeleninneren spricht sich das Ich des Menschen, sein Geist, im Wort aus, in dem schöpferische Kräfte walten. Die heilenden Im­ pulse der von Rudolf Steiner begründeten Sprachgestaltung wirken aus der Herzensre­ gion des Menschen.

Anthroposophisch orientierte Psychotherapie Die Einseitigkeit des organ- und zellbezoge­ nen medizinischen Therapieansatzes führte als notwendige Ergänzung zur zunehmenden Berücksichtigung psychosomatischer Kon­ zepte in der Medizin. Daraus entwickelte sich eine immer größer werdende Zahl von ver­ schiedenen psychotherapeutischen Schulen mit völlig unterschiedlichem geistigem Hin­ tergrund. >> Für den anthroposophischen Arzt ist es eine Tatsache, dass jeder Krankheit ein psychosomatisches Geschehen zugrunde liegt. Wenn für ein seelisches Erlebnis kein angemessener Ausdruck gefunden werden kann, dann besteht die Gefahr, dass dieses Gefühl zu einem leiblichen Abdruck führt.

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Eine funktionelle Organerkrankung bringt leiblich unbewusst zum Ausdruck, was an see­ lischer Erlebnisfähigkeit verloren gegangen ist. Anthroposophische Medizin ist insofern psy­ chosomatische Medizin als sie die Entwick­ lungsgesetze von Leib, Seele und Geist be­ schreibt und deren Zusammenwirken im Organismus von Anfang an in den therapeuti­ schen Ansatz einbezieht.

Gesprächstherapie In der Gesprächstherapie muss zunächst eine warme Vertrauensatmosphäre geschaffen wer­ den, die eine offene Begegnung zulässt. Ein­ fühlungsvermögen, Geduld und Interesse am anderen Menschen sind ebenso wie Mut und Geistesgegenwart Qualitäten, die zum Auffin­ den des roten Fadens in der individuellen Krankengeschichte notwendig sind. Die Kenntnis der Entwicklungsgesetzmä­ ßigkeiten von Leib, Seele und Geist stellt für den anthroposophisch orientierten Therapeuten ein Grundmotiv dar, das in der individuellen Situa­ tion jeweils abgewandelt erscheint. Aus Er­ kenntnis muss gemeinsam Raum geschaffen werden für das Neue, für die Wandlung, für den freiwilligen Verzicht auf Beengendes, das aus der Vergangenheit kränkend in die Gegenwart hin­ einwirkt und die Zukunftsentwicklung lähmt. >> Dabei muss sich der Therapeut davor hüten, manipulierend oder schematisierend die Freiheit des Patienten einzuengen. Der Patient hingegen muss erkennen, dass Gesprächstherapie Arbeit bedeutet, die ohne Konfrontation und Erschütterung nicht zur inneren Verwandlung führen kann, denn Gesundheit ist weder ein Konsumartikel noch ein Genussmittel. Sie muss immer wieder neu errungen werden.

Biographiearbeit In der Biographiearbeit werden die oben geschil­ derten Motive der Gesprächstherapie unter dem Gesichtspunkt des Lebenslaufs aufge­ griffen. Grundlage dafür ist die Kenntnis der Entwicklungsrhythmen (7-Jahres-Rhythmen,

Mondknoten etc.) und der Schicksalsgesetz­ mäßigkeiten der wiederholten Erdenleben. Der moderne Mensch erlebt intensiv, dass die Biographie in der Gegenwart ein immer indi­ viduelleres Gepräge bekommt. Was in der Ver­ gangenheit durch Tradition, Volks- und Stan­ deszugehörigkeit oder die Geschlechterrolle bestimmt war und oftmals erduldet wurde, führt heute zu Brüchen, Erschütterungen und Lebenskrisen. Das innere Ringen um die indi­ viduelle Antwort auf die Lebensfragen, die sich nicht mehr nach dem alten Muster erklären las­ sen, ist das Motiv der Biographiearbeit. Es gilt, die Lebensziele des Ich, die schon vorgeburtlich veranlagt sind, in der Umbruch­ situation neu aufzusuchen und mit Gestal­ tungswillen aktiv zu ergreifen. In Einzelgesprächen oder in Gruppenarbeit können biographische Motive in künstlerischen und sozialen Übungen bearbeitet werden und aus einer offenen, fragenden Haltung der eige­ nen Biographie gegenüber im Vertrauen auf den Schicksalsfaden neue Ausblicke auf das Lebensziel getan werden. 21.4  Therapeutika – neue Wege

der Zusammenarbeit

Der Impuls, die Zusammenarbeit von Ärzten, Therapeuten und Patienten auf Grundlage der anthroposophischen Medizin bis in eine neue Sozialstruktur zu verdichten, geht auf Dr. Ita Wegman zurück. Ärzte und Therapeuten üben selbstständig ihre Berufe aus, im Idealfall in gemeinsamen Räumlichkeiten, und pflegen eine gemeinsame therapeutische Arbeit, die sich nicht nur auf den Patienten, sondern auch auf das kulturelle Umfeld positiv auswirkt. Im Therapeutikum können Menschen ein­ ander begegnen, die sich eigenständig mit Fra­ gen der Gesundheit und Krankheit auseinan­ dersetzen möchten. Dazu dienen Vorträge, Seminare, künstlerische Darbietungen und Kurse sowie das therapeutische Angebot für die Patienten, die aktiv an ihrer Genesung mit­ arbeiten wollen.

471 Anthroposophische Medizin

Das Bemühen um eine Reform des Gesund­ heitswesens auf anthroposophischer Grund­ lage, um Gesundheitserziehung, Hauskran­ kenpflege und menschenwürdiges Sterben im häuslichen Bereich soll vom Therapeutikum in die Umgebung ausstrahlen und Keimzelle hei­ lender sozialer Impulse werden. Dazu bedarf es der Menschen, die den Wert einer solchen Institution ermessen können und auch zur tat­ kräftigen Unterstützung bereit sind. In vielen Ländern wurde der Impuls zur Schaffung von Therapeutika bereits aufgegrif­ fen, besonders intensiv in Holland, in Deutsch­ land und in der Schweiz. Auch in Österreich existieren mehrere Therapeutika auf Grund­ lage eines Trägervereins, der aus Patienten und Interessenten gebildet wird. 21.5  Indikationen

Aus den bisherigen Ausführungen ist deutlich zu entnehmen, dass anthroposophische Medi­ zin keine Alternativmedizin, sondern eine Er­ gänzung und Erweiterung der naturwissen­ schaftlichen Medizin darstellt. Neben neuen Heilmitteln und neuen therapeutischen Ver­ fahren, die Selbstheilungskräfte anregen, wird der anthroposophische Arzt selbstverständ­ lich auch auf gegenwärtig übliche medikamen­ töse, chirurgische und apparative Behandlungs­ methoden zurückgreifen, wenn eine direkte Beeinflussung des physischen Leibes not­ wendig ist, die anders nicht erreicht werden kann. In jedem Fall steht allerdings das Bemühen um eine Berücksichtigung aller menschlichen Wesensbereiche in der Begegnung mit dem Pa­ tienten im Zentrum. Aus dieser Gesinnung er­ geben sich neue Gesichtspunkte für das Ver­ ständnis und für die Anwendung aller heute verfügbaren therapeutischen Möglichkeiten. >> Das therapeutische Spektrum der anthroposophischen Medizin umfasst neben der allgemeinmedizinischen hausärztlichen Versorgung alle medizinischen Fachrichtungen.

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Dieses integrative Konzept kommt insbeson­ dere in anthroposophischen Krankenhäusern zum Tragen, die es im europäischen Raum in Deutschland, in der Schweiz, in Holland, Eng­ land und Schweden gibt. Einige davon sind Schwerpunktkrankenhäuser, die das gesamte medizinische Spektrum bis zur Intensivmedi­ zin beinhalten. In Österreich arbeiten in diesem Sinne praktische Ärzte und Fachärzte für innere Me­ dizin und Onkologie, Orthopädie, Kinder­ heilkunde, Dermatologie, Neurologie, Psychia­ trie, Gynäkologie und Zahnheilkunde. Somit stehen für die meisten Erkrankungen und Leidenszustände Gesichtspunkte und Erfah­ rungen für eine Behandlung auf Grundlage anthroposophisch erweiterter Medizin zur Verfügung. Bei funktionellen Erkrankungen und bei erhaltener Regulationsfähigkeit des Organis­ mus kann mit anthroposophischen Heilmit­ teln allein ausgekommen werden. Bei schwe­ ren organischen oder auch psychiatrischen Erkrankungen werden die Therapieprinzipien der Suppression oder Substitution oft unver­ zichtbar sein. Kombinationen mit anderen Therapiever­ fahren sind prinzipiell möglich, manchmal so­ gar unbedingt notwendig. Diese Entscheidung kann der anthroposophische Arzt allerdings im Einzelfall nur gemeinsam mit dem Patien­ ten treffen. Der ethische Individualismus, wie ihn Stei­ ner in seinem philosophischen Hauptwerk Philosophie der Freiheit (1894) dargestellt hat, ist somit auch Grundlage ärztlichen Handelns. Die geistige Individualität des Menschen ist ewig und unzerstörbar und somit auch in ei­ nem kranken oder behinderten Körper als wir­ kend anzusehen. Das Vertrauen in die Entwicklungsfähig­ keit des menschlichen Wesens auch in aus­ sichtslos erscheinenden Krankheitssituationen kann Resignation überwinden und den thera­ peutischen Mut anregen. Würdevolles Sterben und der Tod als Be­ standteil des Lebens nehmen in diesem evolu­

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tionären Konzept ebenfalls einen wichtigen Stellenwert ein. Die Idee der Reinkarnation und der selbstverursachten Schicksalsbildung kann in diesem Zusammenhang viele Anre­ gungen geben. zz Misteltherapie bei Krebs (. Abb. 21.7)  

>> Die Behandlung mit Mistelpräparaten, die von Steiner in die Krebstherapie eingeführt wurden, stellt eine Ergänzung der konventionell-medizinischen Krebsbehandlung, jedoch keine Alternative dar.

Die konventionellen Therapiestrategien rich­ ten sich direkt gegen maligne Zellen, die durch Operation, Bestrahlung und Chemo­ therapie möglichst stark reduziert werden sollen. Dabei wird auch gesundes Gewebe geschädigt und das Immunsystem suppri­ miert. Im Gegensatz dazu wirkt die Misteltherapie neben einer zytotoxischen Komponente im­ munstimulierend und immunmodulierend. Die körpereigenen Abwehr- und Ordnungs­ kräfte werden gestärkt und das Befinden des Patienten gebessert. Gesundes Gewebe, wie z. B. das Knochenmark, wird im Gegensatz zur Chemotherapie nicht geschädigt, sondern in seiner Regenerationsfähigkeit sogar angeregt. Aus diesem Grund eignen sich Mistelpräparate auch zur Begleitbehandlung einer Chemothe­ rapie, um deren Nebenwirkungen zu vermin­ dern. Für bestimmte Krebsarten hat sich die Kombination mit Chemotherapie, Bestrahlung oder Hormontherapie als besonders günstig erwiesen. Die Wirksamkeit der Misteltherapie ist mittlerweile nicht nur durch die Erfahrung Tausender Patienten und Ärzte, sondern auch durch zahlreiche wissenschaftliche Unter­ suchungen gut belegt – Mistelpräparate gehö­ ren zweifellos zu den bestuntersuchten Me­ dikamenten der Komplementärmedizin Eine aktuelle Übersicht über klinische Studien zur Misteltherapie geben Kienle und Kiene (2017).

..      Abb. 21.7  Viscum album (Mistel) (Foto: Jürg Buess, Iscador AG, mit freundlicher Genehmigung)

Hauptindikation ist die postoperative Rezi­ divprophylaxe in Kombination mit anderen sinnvollen Strategien, die sich aus der jeweili­ gen Tumorart und dem Tumorstadium erge­ ben. Bei Metastasierung und in der Palliativ­ therapie ermöglicht die Misteltherapie u. U. ein längeres und besseres Leben mit mehr Lebens­ qualität trotz einer fortschreitenden Erkran­ kung (Misteltherapie beim fortgeschrittenen oder metastasierten Pankreaskarzinom: Galun et al. 2012, Tröger et al. 2013). Die umfangrei­ chen Forschungsergebnisse zur Mistel sind in folgender Publikation übersichtlich zusam­ mengefasst: Kienle und Kiene (2003). 21.6  Nebenwirkungen

Jede wirksame therapeutische Maßnahme kann vorübergehende, für den Patienten un­ erwünschte Begleiterscheinungen haben. An­ throposophische Heilmittel haben bei sachge­ mäßer Anwendung allerdings niemals toxische Wirkungen und sind frei von gefährlichen und irreversiblen Nebenwirkungen. Allergische Reaktionen gegen Heilmittel aus Naturstoffen sind prinzipiell nicht auszuschließen, jedoch eher selten. Möglich sind Reaktionen, die mit Verän­ derungen des Befindens einhergehen, welche Ausdruck der Anregung von Heilprozessen sind. Ähnlich wie bei Kurreaktionen oder beim Fasten können vorübergehend Be­

473 Anthroposophische Medizin

schwerden wie Müdigkeit, Veränderungen der Ausscheidungen, der Schlaftiefe und des Gemütszustands auftreten, manchmal auch eine kurzzeitige Verstärkung der Krankheits­ symptome. Für den anthroposophischen Arzt können solche Veränderungen wichtige Hin­ weise für die Dosierung darstellen und die richtige Arzneimittelwahl bestätigen. Für den Patienten verlieren dadurch Begleiterschei­ nungen ihren beunruhigenden Charakter, und sie können als Heilreaktionen positiv erlebt werden. 21.7  Behandlungsdauer

Die Behandlungsdauer ist vom Wesen der Krankheit und der Verfassung des Patienten abhängig. Akute Krankheiten (z.  B.  Kinder­ krankheiten, entzündliche Erkrankungen der oberen Luftwege) haben meist eine gute Selbst­ heilungstendenz. Gelingt es, den Krankheits­ prozess richtig zu führen und nicht nur zu un­ terdrücken, kann Heilung eintreten. Immer wiederkehrende Erkrankungen (z. B. chronisch rezidivierende Infekte, Aller­ gien) sind Ausdruck einer Konstitutions­ schwäche, oftmals auch unzweckmäßiger Le­ bensweise und Behandlung. Hier gilt es, ebenso wie bei den chronischen Krankheiten, symptomatische Maßnahmen möglichst ein­ zuschränken. Die Selbstheilungskräfte müs­ sen angeregt werden, und der Patient muss zur Mitarbeit aktiviert werden. Ein solcher Prozess kann Monate bis Jahre in Anspruch nehmen. 21.8  Behandlungskosten und

Kassenvergütung

Die Behandlungskosten setzen sich aus dem ärztlichen Honorar und den Kosten für Medi­ kamente und Therapien zusammen. Anthro­ posophische Ärzte sind in Österreich meist als Privatärzte ohne Kassenverträge tätig. Das derzeitige Kassenverrechnungssystem

21

erlaubt keine dem zeitlichen Aufwand der anthroposophischen Medizin auch nur annähernd entsprechende Honorierung und stellt somit auch keine ausreichende wirt­ schaftliche Grundlage für den Arzt dar. Nach Einreichung der bezahlten Honorarnote wird von den Kassen ein Teilbetrag (der jeweils gültige Tarifsatz) an den Patienten rückver­ gütet. Medikamente der anthroposophischen Therapierichtung werden bis auf Ausnahmen (z. B. Misteltherapie bei Krebs) von den Kassen nicht vergütet. Gelegentlich werden homöopa­ thisch hergestellte Medikamente nach unein­ heitlichen und schwer durchschaubaren Kri­ terien in den Bundesländern chefärztlich genehmigt. Therapien (Massage, Heileuryth­ mie, künstlerische Therapien) sind durchwegs vom Patienten selbst zu tragen und werden leider bisher nicht vergütet. Anthroposophische Medizin, klassische Homöopathie, traditionelle chinesische Medi­ zin und Phytotherapie werden in der Schweiz ab dem 1. August 2017 definitiv von der obliga­ torischen Krankenpflegeversicherung (Grund­ versicherung) übernommen. Voraussetzung ist, dass die Methoden von einem Schulmediziner praktiziert werden, der in einer der vier Methoden einen FMH-anerkannten Fähig­ keitsausweis erworben hat. Der weitaus größte Teil des Leistungsan­ gebotes in der Gesetzlichen Krankenversi­ cherung in Deutschland ist den Krankenkas­ sen vorgegeben. Einige spezielle Leistungen jedoch können sie von sich aus zusätzlich er­ bringen. Von einigen Krankenkassen wird auch die anthroposophische Medizin vergü­ tet. Nichtverschreibungspflichtige Arznei­ mittel und damit der größte Teil der Arznei­ mittel der besonderen Therapierichtungen (anthroposophische, homöopathische und pflanzliche Arzneimittel) wurden allerdings 2004 aus dem Leistungskatalog gestrichen. Inzwischen bieten Krankenkassen ihren Ver­ sicherten gegen Extrakosten Wahltarife für Arzneimittel der besonderen Therapierich­ tungen an.

474

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21.9  Selbstbehandlung

Für die Selbstbehandlung des mündigen Pati­ enten und für die Verwendung in der Haus­ apotheke gibt es eine Reihe von Präparaten und Maßnahmen der Hauskrankenpflege, die in der Literatur und in Informationsveranstal­ tungen dargestellt werden. Informationen für Patienten mit vielen Links zu dem therapeutischen Umfeld, Gesund­ heitsfragen und Broschüren stellen die deutsch­ sprachigen Patientenorganisationen zur Verfü­ gung: 7 http://www.­oepam.­at 7 http://www.­gesundheit-aktiv.­de 7 https://www.­anthrosana.­ch/deutsch/  





Grundlagen der Hauskrankenpflege wer­ den in dem praxisorientierten Handbuch Therapeutische Wickel und Kompressen von Mo­ nika Fingado (2008) gut dargestellt. >> Vor der Selbstbehandlung von länger dauernden, ernsteren und unklaren Krankheitszuständen muss allerdings gewarnt werden – sie gehören in die Hand des Arztes, damit notwendige Maßnahmen auf der Grundlage einer medizinischen Diagnose rechtzeitig und gezielt erfolgen können.

21.10  Verlauf einer Konsultation

mit Fallbericht

Für die Erstkonsultation ist ein ausreichender Zeitrahmen von ca. 60 Minuten zu veranschla­ gen. Sie beinhaltet eine ausführliche Anam­ nese und Untersuchung. Das ärztliche Gespräch dient neben der Er­ hebung der aktuellen Beschwerden und der Vorgeschichte dem Auffinden des roten Fadens in der Krankengeschichte und der Konstituti­ ons- und Wesensgliederdiagnostik. Spezielle anamnestische Fragen ermöglichen eine Ori­ entierung über die ätherische und seelische Verfassung. Schon beim ersten Kontakt zeigt sich am Gang, am Händedruck, an der Stimme, aber auch am Wärmehaushalt, am Hautturgor

und an der Hautfeuchtigkeit, wie der Lebens­ leib ausgeprägt ist. Die Stimmung, das Tempe­ rament liefern dann erste Hinweise auf die seelische Verfassung  – der Leib ist ja das Instrument der Seele. Die Ziele eines Men­ schen, seine Taten, die er in der Biographie als Ausdruck seiner Individualität vollbringt, ver­ weisen uns auf das Ich des Menschen und des­ sen Eingreifen in die Leiblichkeit. 21.11  Fallbeispiel zz Patient, 31 Jahre

Erstkonsultation 1991 wegen seit 3 Jahren be­ stehender chronisch-rezidivierender Sinusitis mit anschließend monatelanger Sinubronchi­ tis. Zahlreiche Vorbehandlungen mit Antibio­ tika hatten keine anhaltende Besserung gezeigt und wurden sehr schlecht vertragen. Zuletzt wurden, wegen der Verweigerung weiterer An­ tibiotika durch den Patienten, vom HNO-Arzt abschwellende Nasentropfen und kortisonhal­ tiges Nasenspray verordnet. Diese wurden mit sichtlichem Gewöhnungseffekt seit Monaten angewandt. Der groß gewachsene Geiger mit blassem Kolorit und pastöser Haut imponiert als hoch­ sensible und hochbegabte Künstlernatur mit einem labilen vegetativen Nervensystem. Seit der Erkrankung ist er oft hypochondrisch, in­ nerlich unruhig und ängstlich gestimmt. An­ dererseits ist er leicht gereizt, bekommt bei Är­ ger Herzklopfen, einen roten Kopf und beginnt zu schwitzen. Er reist gerne und genießt das Leben als Künstler und Pädagoge, ist jedoch ständig überfordert, weil er sich bei guten be­ ruflichen Angeboten schwer entscheiden kann und zu viele Aufgaben gleichzeitig an verschie­ den Orten übernommen hat. Infekte werden durch die permanente Überforderung, Reisetätigkeit, Schlafmangel sowie durch Kälte und Zugluft ausgelöst. Eine allergische Disposition erscheint wahrschein­ lich und bestätigt sich im Test mit positivem Ergebnis auf Gräser-, Getreide-, Beifuß- und Buchenpollen. Der Lungenfunktionstest zeigt ein unauffälliges Ergebnis.

475 Anthroposophische Medizin

Im Lokalbefund zeigen sich: eine Sinusitis links mit Druckschmerz am 2. Trigeminusast, ein Tubenkatarrh links, eine spärliche gelbliche nasale Dauersekretion sowie eine retronasale Schleimstraße bis in den Rachenraum – offen­ bar als Ursache der chronischen Bronchitis mit heftigem Husten, der beim Hinlegen und im Schlaf stärker wird. Der übrige Status zeigt keine Auffälligkeiten. kTherapeutische Maßnahmen

Aufgrund der allergischen Belastung und der ständigen Sekretion als Zeichen eines mangel­ haft geformten Lebensleibes wird eine Injekti­ onstherapie mit Gencydo eingeleitet, die vom Patienten 3 × wöchentlich eigenständig durch­ geführt wird. Dieses Präparat wurde von Stei­ ner als Basismittel gegen das Überborden des allergischen Entzündungsprozesses bis in den Bereich des Nerven-Sinnes-Systems entwi­ ckelt. Die Fähigkeit der Grenzbildung an den Schleimhäuten wird durch Citrus (Zitrone) und Cydonia (Quitte) angeregt, die zentrifuga­ len Tendenzen im ätherischen Leib können geformt und die Schleimbildung verfestigt werden. Als konstitutionelle Therapie wurde ver­ ordnet: Hepar sulfuris D4 3 × täglich 1 Messer­ spitze. Enthalten ist Conchae, der Austern­ schalenkalk, der die ätherischen Kräfte stärker an den Leib bindet und somit eine verfesti­ gende Tendenz hat, wie sie ja auch physiolo­ gisch in der Knochenbildung zum Ausdruck kommt. Sulfur als zweiter Inhaltsstoff von He­ par sulfuris hat eine reinigende und anregende Wirkung auf das Stoffwechselsystem, führt den fehlgeleiteten Entzündungsprozess wieder in den unteren Menschen zurück und fördert dort die Ausscheidungsprozesse. Nach 6-monatiger Therapie wird eine we­ sentliche Besserung der Beschwerden angege­ ben: die Nase ist meist frei, es besteht kein Hus­ ten mehr, die Kortison-Nasentropfen wurden eigenständig abgesetzt. Zur weiteren Ausheilung der chronischen Entzündung im oberen Menschen wird in der Folge Quarz D6 für weitere 3 Monate als lichtver­ wandte Substanz, die Gestaltungsprozesse in den

21

Lebensprozessen trägt, oral eingesetzt. Durch die Verwandtschaft des Kiesels zum Nerven-Sin­ nes-Prozess können nach Abklingen der akuten Symptome die Ausheilung unterstützt und die Sinnesfunktionen des Riechens und Schmeckens, die durch die Verschleimung deutlich beein­ trächtigt waren, wiederhergestellt werden. Die Gencydo-Injektionstherapie wird im 2. Behandlungsjahr mit jeweils mehrwöchigen Pausen im Frühjahr und Herbst bis zum Jah­ resende fortgesetzt und dann beendet. kErgebnis

Die Beschwerden sind vollständig abgeklun­ gen und bis heute ohne weitere Therapie auch nicht mehr aufgetreten. Der Patient hat bald nach seiner Heilung auch in sein Leben mehr Ordnung und Ruhe bringen können. Er hat seinen festen Platz als erfolgreicher Musiker und Pädagoge gefunden. 21.12  Studien/Evidenzlage

Aus dem umfangreichen angeführten Studien­ material seien 3 neuere Studien herausgegrif­ fen, welche die Stellung der Misteltherapie in der komplementären Krebstherapie untermau­ ern und in den unterschiedlichen Anwen­ dungsformen als subkutane Injektion, als peri­ tumorale Injektion und als lokale Instillation auch einen Einblick in die verschiedenen Wir­ kungsmechanismen geben. zz Galun et al. (2012)

In dieser Untersuchung zur Lebensqualität beim fortgeschrittenen Pankreaskarzinom wurde das Mistelpräparat ansteigend dosiert und 3-mal pro Woche subkutan injiziert. In der offenen randomisierten Phase-III-Stu­ die mit 220 Patienten, die außer „best supportive care“ keine indikationsspezifischen Therapien mehr enthielten, ergab sich ne­ ben der Überlegenheit bezüglich des Ge­ samtüberlebens auch eine deutliche Verbes­ serung der Lebensqualität in den Bereichen Schmerz, Fatigue, Schlaflosigkeit und Appe­ titlosigkeit.

476

21

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kFazit

Die Misteltherapie verbesserte im Vergleich zu alleinigen Behandlung nach „best supportive care“ Lebensqualität und Gesamtüberleben si­ gnifikant und erwies sich somit als wirksame Zweitlinientherapie. zz Rose et al. (2015)

An 37 Patienten mit nichtmuskelinvasivem Bla­ senkarzinom wurde die höchste tolerierte Dosis von Blasen-Instillationen mit Abnobaviscum F2 gesucht und mithilfe eines bei der vorausge­ henden Resektion belassenen Markertumors die Remissionsrate gemessen. Auch bei 675 mg (entsprechend ca. 0,5  mg Mistellektin) wurde keine dosislimitierende Toxizität erreicht. Nach 12 Wochen (Dosiseskalation bei wöchentlicher Instillation in den Wochen 1–6) zeigte sich eine Remissionsrate von mindestens 55,6 %. kFazit

Lokale Instillationstherapie der Blase mit Mis­ telpräparaten weist bei fehlender Toxizität eine signifikante Remissionsrate auf. zz Metelmann et al. (2015)

Die Studie berichtet von einer MR-­ do­ kumentierten erfolgreichen Behandlung ei­ nes Plattenepithelkarzinoms der Zunge durch peritumorale Applikation von Abnobaviscum Abietis 0,2 mg. Eindrucksvoll ist auch die his­ tologische Aufarbeitung einer Biopsie im Therapieverlauf, die zeigt, wie squamöse Tu­ morzellen von einer Entzündungsreaktion umgeben und somit in epithelialem Gewebe eingekapselt werden. Auch die Progression der Lymphknotenmetastasen wurde gestoppt, der Allgemeinzustand war ausgezeichnet. Ein unbehandelter zweiter Tumor der Nieren wuchs jedoch unbeeinflusst weiter. kFazit

Mistellektine fördern in zytotoxischen Dosen die Sekretion von TNF-α und IL6 – diese Wir­ kung kann nur mit der peritumoralen Anwen­ dung erreicht werden.

21.13  Ausbildungsrichtlinien zz Österreich

55 Das ÖÄK-Diplom Komplementäre Medizin – Anthroposophische Medizin ist seit 2001 approbiert und kann von Ärzten aller Fachrichtungen angestrebt werden. 55 Die Ausbildungsziele sind die Vermittlung und Erarbeitung von Grundkenntnissen der anthroposophischen Medizin und das Erlernen der Erkenntnismethodik, der Diagnostik und der Therapiefindung mit Befähigung zur selbstständigen Weiter­ arbeit und Anwendung in der Praxis. 55 Die Ausbildungsdauer beträgt 3 Jahre mit insgesamt 255 Ausbildungsstunden, die Ausbildung ist in Seminare und Praktika gegliedert. 55 Das detaillierte Programm steht über die Homepage zum Download zur Verfü­ gung (7 http://www.­anthromed.­at/ ausbildung/). Weitere Informationen zu Inhalten und Terminen sind über das Sekretariat der GAMÖ (Gesellschaft für Anthroposophische Medizin in Öster­ reich) zu erhalten.  

zz Deutschland

55 Die Anerkennungsordnung beschreibt die Ausbildung zum Anthroposophi­ schen Arzt (GAÄD). Für die berufsbezo­ gene Weiterbildung z. B. zum Arzt für Anthroposophische Medizin gelten weltweit einheitliche Zertifizierungsver­ fahren. 55 Die Vernetzung und Akkreditierung der Angebote für die ärztliche Weiterbildung in Anthroposophischer Medizin in Deutschland erfolgt durch die Akademie Anthroposophische Medizin der GAÄD. 55 Das Netzwerk Aus- und Weiterbildung umfasst einzelne und regelmäßig wieder­ kehrende (modulare) Veranstaltungen ebenso wie berufsbegleitende (curriculare) Weiterbildungskurse.

477 Anthroposophische Medizin

55 Die Akkreditierung von Weiterbildungs­ angeboten für Ärzte und Medizinstuden­ ten ist eine Basis des Netzwerks Aus- und Weiterbildung Anthroposophische Medizin in Deutschland. Sie ist Vorausset­ zung, damit die Teilnahme an einer Weiterbildungsveranstaltung im Rahmen der Zertifizierung zum Anthroposophi­ schen Arzt (GAÄD) anerkannt wird. zz Schweiz

21

ten, in Heilberufen Tätige sowie Apotheker wer­ den. Eine Liste der praktizierenden Ärzte und der Therapeutika können zusammen mit zahlreichen weiteren grundlegenden Informationen über die Homepage abgerufen werden. Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland e. V. Herzog-Heinrich-Straße 18, D-80336 Mün­ chen Tel.: 089 716 77 76-0, Fax: 089 716 77 76-49 [email protected] 7 https://www.­gaed.­de/  

55 Es bestehen 2 Ausbildungsstätten, die mit einem FMH-anerkannten Diplom abschließen: 1. Ärzteausbildung Arlesheim, Klinik Arlesheim (7 https://aerzteausbildung.­ com/, 7 https://www.­klinik 



arlesheim.­ch/karriere/ausbildung/58-­ aerzteausbildung).

2. Ärzteseminar für anthroposophisch erweiterte Medizin (7 http://www.­ vaoas.­ch/), berufsbegleitende Aus- und Weiterbildung, Sekretariat Aerztesemi­ nar (7 https://www.­aerzteseminar.­ch/).

Vereinigung anthroposophisch orientierter Ärzte in der Schweiz Geschäftsstelle VAOAS Pfeffingerweg 1, CH-4144 Arlesheim Tel.: +41 (0)61 705 75 11, Fax: +41 (0)61 705 75 12 [email protected] 7 http://www.­vaoas.­ch/  





kLinks zur Literaturrecherche

Cambase (7 http://www.­cambase.­de/) AnthroMedLibrary (7 http://www.­anthro­ med.­org/) Buch.Anthro24 (7 https://www.­anthrome­ dics.­org/) Medline/PubMed (7 https://www.­ncbi.­nlm.­ nih.­gov/pubmed/) Medline/Dimdi (7 https://www.­dimdi.­de) BioMed Central (7 https://www.­biomed­ central.­com/)  





zz Kontaktadressen und Links

Gesellschaft für Anthroposophische Medizin in Österreich A-1040 Wien, Tilgnerstraße 3 Tel.: +43 664 4416144 Fax: +43 1 25330338412 E-Mail: [email protected] 7 http://www.­anthromed.­at/  

Ziel dieser Gesellschaft ist es, die anthroposo­ phisch erweiterte Medizin zu erarbeiten und zu fördern, Ärzte und Therapeuten fortzubilden so­ wie die Ausbildungsordnung für Ärzte festzule­ gen. Die Gesellschaft unterstützt alle aus dem Geist einer solchen erweiterten Heilkunst stam­ menden therapeutischen Initiativen und Einrich­ tungen und vertritt diese gegenüber öffentlichen Stellen. Mitglieder können Ärzte, Medizinstuden­







kAnthroposophische Forschungsinstitute und Krankenhäuser

55 Forschungsinstitut Havelhöhe/Berlin (FIH) 55 European Scientific Cooperative on Anthroposophic Medicinal Products (ESCAMP) 55 Kollegiale Instanz für Komplementärme­ dizin/Bern, Schweiz (KIKOM) 55 Institut für Klinische Forschung/Berlin (IKF)

478

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55 Medizinisches Seminar Bad Boll 55 Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke 55 Analyse rhythmischer Strukturen in physiologischen Signalen/AG Uni Witten/ Herdecke 55 Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe 55 Filderklinik/Stuttgart 55 Institut Hiscia – Verein für Krebsfor­ schung/Arlesheim, Schweiz 55 Universität Witten/Herdecke 55 Institut für angewandte Erkenntnistheorie und medizinische Methodologie (IFA­ EMM) 55 Carl Gustav Carus Akademie/Hamburg 55 Louis Bolk Institut/Driebergen, Nieder­ lande kDer Merkurstab

Fachzeitschrift für anthroposophische Me­ dizin, erscheint 6-mal jährlich. Herausgeber ist die Medizinische Sektion der Freien Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum, Dornach, Schweiz, und die Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland e. V. Die Zeitschrift Der Merkurstab veröffentlicht grundlegende Darstel­ lungen zur anthroposophischen Medizin, wissenschaftliche Studien zur Wirksamkeit anthroposophischer Arzneimittel und The­ rapiekonzepte, Fallbeschreibungen aus der ärztlichen, kunst-, bewegungs- und sprach­ therapeutischen sowie pflegerischen Praxis, aktuelle Berichte aus Wissenschaft und For­ schung sowie Tagungsberichte und Rezensi­ onen. Die Zeitschrift ist in den Zeitschrif­ tendatenbanken AMED (Allied and Complementary Medicine Database; Her­ steller: British Library, London) und in CAMBASE (Complementary and Alterna­ tive Medicine Database; Hersteller: Univer­ sität Witten Herdecke) gelistet und auch in einer englischsprachigen Version verfügbar. Weitere einführende Literatur ist auf der Homepage der GAMÖ abrufbar: 7 http://  

www.anthromed.at/literatur-fuer-die-ausbildung/. Zugegriffen am 30.09.2018.

Zusammenfassung 55 Anthroposophische Medizin bezieht die leibliche, seelische und geistige Wesenheit des Menschen in die diagnostischen und therapeutischen Überlegungen mit ein. 55 Heilmittel aus dem Mineral-, Pflanzen- und Tierreich in speziellen pharmazeutischen Zubereitungen unterstützen den Heilungsprozess. 55 Künstlerische Therapien aktivieren die Mitarbeit des Patienten am Gesundungsprozess. 55 Diese Erweiterung der Heilkunst auf geisteswissenschaftlicher Grundlage stellt keinen Gegensatz zur universitären Medizin dar. 55 Die Ausbildung von Ärzten dient der Qualitätssicherung und der gleichberechtigten Integration in ein Gesundheitssystem für mündige Patienten. 55 Anthroposophische Kliniken sind im deutschsprachigen Raum auch als Schwerpunktkrankenhäuser in die Grund­versorgung integriert (7 http://www.­anthro-kliniken.­de/deuts­ chland.­html; 7 http://www.­anthro-­kliniken.­ de/­schweiz.­html).  



Literatur Fingado M (2008) Therapeutische Wickel und Kompressen. Handbuch aus der Ita Wegman Klinik. Verlag am Goetheanum, Dornach Galun D, Tröger W, Reif M et al (2012) Mistletoe extract therapy versus no antineoplastic therapy in patients with locally advanced or metastatic pancreatic cancer. Ann Oncol 23(Suppl 9):712P Kienle GS, Kiene H (2003) Die Mistel in der Onkologie – Fakten und konzeptionelle Grundlagen. Schattauer, Stuttgart Kienle GS, Kiene H (2017) Klinische Studien zur Misteltherapie der Krebserkrankung  – eine Übersicht. Merkurstab 70(3):176–186 Metelmann HR, Woedtke v T, Masur K et  al (2015) Immunotherapy and immunosurveillance of oral cancers: perspectives of plasma medicine and mistletoe. In: Rezaei N (Hrsg) Cancer immunology: cancer immunotherapy for organ specific tumors. Springer, Berlin/Heidelberg/New York

479 Anthroposophische Medizin

Rose A, El-Leithy T, vom Dorp F et al (2015) Mistletoe plant extract in patients with nonmuscle invasive bladder cancer: results of a phase Ib/IIa single group dose escalation study. J Urol 194(4): 939–943 Steiner R (1894) Philosophie der Freiheit, GA 4. Rudolf Steiner, Basel Steiner R (1904a) Theosophie, GA 9. Rudolf Steiner, Basel Steiner R (1904b) Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten. GA 10. Rudolf Steiner, Basel Steiner R (1908) Philosophie und Anthroposophie, GA 35. Rudolf Steiner, Basel Steiner R (1909) Geheimwissenschaft im Umriss. GA 13. Rudolf Steiner, Basel Steiner R (1925) Mein Lebensgang GA 28. Rudolf Steiner, Basel Steiner R, Wegman I (1925) Grundlegendes für eine Erweiterung der Heilkunst, GA 27. Rudolf Steiner, Basel Tröger W, Galun D, Reif M et al (2013) Viscum album [L.] extract therapy in patients with locally advanced or metastatic pancreatic cancer: a randomised

21

clinical trial on overall survival. Eur J Cancer 49(18):3788–3797 Aktuelle Grundlagenwerke1 Fintelmann V (2007) Intuitive Medizin. Hippokrates Verlag, Stuttgart Girke M (2012) Innere Medizin. Grundlagen und therapeutische Konzepte der Anthroposophischen Medizin, 2. Aufl. Salumed, Berlin Girke M (2014) Geriatrie. Grundlagen und therapeutische Konzepte der Anthroposophischen Medizin. Salumed, Berlin Goebel W, Glöckler M (2008) KinderSprechStunde, 16. Aufl. Urachhaus, Stuttgart Jachens L (2012) Dermatologie. Grundlagen und therapeutische Konzepte der Anthroposophischen Medizin. Salumed, Berlin Maris B (2012) Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Salumed, Berlin Steiner R (2014) Pathologie und Therapie. Texte zur Medizin  – Herausgegeben von Prof. Dr. med. Peter Selg. Salumed, Berlin

1

Diese sind zu wichtigen Fachgebieten verfügbar und geben einen fundierten Überblick über die therapeutischen Strategien.

481

Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr Sepp Fegerl und Alex Witasek 22.1

Dr. Franz Xaver Mayr (1875–1965) – 483

22.1.1 22.1.2 22.1.3 22.1.4

 er Gesundheitsbegriff von F. X. Mayr – 484 D Wie sieht ein gesundes Abdomen aus? – 484 Gesunder Verdauungsablauf – 485 Enteropathie-Syndrom nach F. X. Mayr – 486

22.2

Tonuslehre nach F. X. Mayr – 488

22.2.1 22.2.2 22.2.3

 ypertones Stadium – 488 H Hypotones Stadium – 489 Atones Stadium – 490

22.3

Diagnostik nach F. X. Mayr – 490

22.3.1 22.3.2 22.3.3 22.3.4 22.3.5 22.3.6 22.3.7 22.3.8

 örperhaltungen nach F. X. Mayr – 491 K Bauchformen nach F. X. Mayr – 492 Perkussion des Bauchraums – 493 Palpation des Magen-Darm-Trakts – 494 Succussionen nach F. X. Mayr – 495 Humoraldiagnostische Zeichen – 496 Körpermaße nach F. X. Mayr – 498 Anamneseerhebung – 501

22.4

 influss des Verdauungstrakts auf E den Bewegungsapparat – 502

22.4.1 22.4.2 22.4.3 22.4.4 22.4.5 22.4.6

 ervikalsyndrom – 502 Z Thoraxschmerz – 503 Lumbalgie – 503 Viszeromuskuläre und viszerokutane Reflexzonen – 504 Entschlackung und Bewegungsapparat – 504 Der Mayr-Arzt und sein eigener Bewegungsapparat – 505

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_22

22

22.5

Therapie nach F. X. Mayr – 505

22.5.1 22.5.2 22.5.3 22.5.4 22.5.5 22.5.6

S chonung – 506 Säuberung – 508 Schulung – 509 Substitution – 509 Manuelle Bauchbehandlung – 510 Ambulant oder stationär? – 510

22.6

Indikationen und Kontraindikationen – 511

22.7

Ernährungsweise nach F. X. Mayr im Alltag – 511

22.8

 bjektivierbare Ergebnisse der Therapie nach O F. X. Mayr – Fallberichte – 513

22.9

Studien/Evidenzlage – 514

22.10 Ausbildungsordnung und die Gesellschaft – 517 Literatur – 517

483 Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr

22

22.1  Dr. Franz Xaver Mayr

(1875–1965)

Franz Xaver Mayr (. Abb. 22.1) wurde 1875 in Österreich, im steirischen Ennstal geboren, seine Familie lebte seit Jahrhunderten als Bauern in Gröbming, wo er in intensivem Kontakt mit der Natur aufwuchs. Schon als Kind hütete er das Vieh auf der Alm, mit 11 Jahren musste er Vieh einkaufen, wobei er seinen kritischen Blick zur Beurteilung des Gesundheitszustands entwickelte. Während des Medizinstudiums an der Universität in Graz war er Ferialpraktikant im Prießnitzschen Kurhaus und musste dort die Bäuche darmkranker und obstipierter Patienten behandeln. Dabei fiel ihm auf, dass  

an der Universität keine Kriterien für das Erkennen gesunder Abdomina vermittelt

wurden, ja dass sogar Grundsätzliches zur Diagnostik der Bauchorgane fehlte. Da er bald den Dünndarm als das zentrale Organ für die Verdauungsaufgaben erkannte, erschien es ihm wichtig, gesund von krank unterscheiden zu können; denn wo kein Wissen zur Diagnostik vorhanden ist, ist auch keine fundierte Therapie möglich, oder aber sie ist ein Glücksspiel. Also begann er, an kritische Beobachtung gewöhnt, selbst mit der Erforschung des Verdauungstrakts – eine Aufgabe, die er mit großer Akribie und Hingabe bis zu seinem Tod im 90. Lebensjahr verfolgte. Nach seiner Promotion startete sein großes Forschungsprojekt: Er ging von der Annahme aus, dass keiner seiner Patienten, auch nicht die subjektiv „Bauchbeschwerdefreien“ einen wirklich gesunden, sich selbst gründlich reinigenden Darm hätte und behandelte alle Patienten konsequent so, als seien sie verdauungskrank. Sie erhielten eine Darm-Schonkost, eine Darmsäuberung durch salinische Wässer und eine manuelle Darmanregung. Begleitend führte er über Jahrzehnte systematisch vergleichende Messungen des Bauches und Körpers durch. Seine Hände dienten ihm dabei als wichtigstes Messgerät.

..      Abb. 22.1  Franz Xaver Mayr. (© Internationale Gesellschaft der Mayr-Ärzte, mit freundlicher Genehmigung)

So war es ihm möglich, im Laufe der Jahrzehnte eine Regelhaftigkeit in der Unterschiedlichkeit der „Bäuche“, ihre Verbesserung unter der Therapie und das Erreichen einer nahezu immer gleichen Form und Größe des gesunden Abdomens nach erfolgreicher Behandlung zu beobachten. Eine Patientenhand reichte aus, um einen gesunden Bauch vollständig zu bedecken, und dieses Ergebnis ließ sich auch durch Weiterführen der Therapie nicht verändern. Mit der Zeit entdeckte er auch die Auswirkungen des Darms auf die Körperhaltung, ebenso wie auf die Haut. Bei der Diagnose begann er, sich am Zustand der Idealgesundheit zu orientieren, er fand „Zeichen der Gesundheit“ als Optimalform und entwickelte systematisch die reproduzierbaren Kriterien der Diagnostik nach Mayr. Damit war schon sehr früh bei Abweichungen von der Optimalgesundheit eine

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wissenschaftlich fundierte Diagnostik möglich und damit eine gezielte, vorbeugende Therapie noch im Krankheitsvorfeld! Die Ergebnisse seiner Forschungsarbeiten fasste F. X. Mayr in seinen Büchern zusammen: 55 1912: Studien über Darmträgheit, ihr Wesen, ihre Folgen, ihre radikale Behandlung 55 1920: Schönheit und Verdauung 55 1921: Fundamente zur Diagnostik der Verdauungskrankheiten 55 1949: Wann ist unser Verdauungsapparat in Ordnung? Außerdem bildete er interessierte Kollegen im Sinne seiner Erkenntnisse aus und hielt sie dazu an, diese ständig kritisch zu hinterfragen und zu erweitern. 22.1.1  Der Gesundheitsbegriff von

F. X. Mayr

In vielen Bereichen der Medizin orientieren wir uns an Normwerten einer subjektiv beschwerdefreien Durchschnittsbevölkerung. Das ist sicherlich ganz interessant, aber schon am Beispiel der Zahnmedizin wird deutlich, dass dies nicht der richtige Ansatz zur Erfassung der Gesundheit sein kann. Denn wer möchte schon ein Durchschnittsgebiss haben?

»» „Lasst uns fragen: Was ist das Beste? Und nicht: Was ist das Übliche?“ (Seneca)

Optimale Gesundheit ist ein Zustand, der sich nicht weiter verbessern lässt. Diese Optimalnorm entspricht einem Idealbild, an dem wir uns orientieren können und nach dem wir streben sollen, welches aber häufig nicht vollständig erreichbar sein wird. F. X. Mayr formulierte die Systematik der 55 Kennzeichen des optimal-gesunden Abdomens, 55 Kennzeichen der optimal-gesunden Körperhaltung, 55 Kennzeichen der optimal-gesunden Körpersäfte, 55 Kennzeichen der optimal-gesunden Haut.

So können folgende Zustände unterschieden werden: 55 Optimaler Gesundheitszustand bei völligem Gesundsein, 55 suboptimaler Gesundheitszustand und 55 durchschnittlicher Gesundheitszustand bei „Scheingesundheit“, 55 noch nicht kranker Zustand im Krankheitsvorfeld, 55 bevor letztlich die Krankheit entsteht. Wer mit „Mayrschen Augen“ zu schauen gelernt hat, wird die vielen „Scheingesunden“ und „noch nicht Kranken“ erkennen und ihnen im Vorfeld eine ursächliche, nicht belastende, natürliche Therapie anbieten kön­ nen  – echte Vorsorgemedizin und Gesundheitspflege, aber auch Basis für die Behandlung von Krankheiten. Mayr war ein Visionär in Richtung allgemeiner Gesundheit und erkannte deren Bedeutung für die Gesellschaft wie für die Volkswirtschaft, seine Methode zielte auf diaita im wahrsten Sinne des Wortes. 22.1.2  Wie sieht ein gesundes

Abdomen aus?

Die Bauchform ist im Wesentlichen geprägt vom Zustand der darunterliegenden Organe, sie spiegelt also v.  a. den Dünndarm wider, der in seinem gesunden Spannungszustand wenig Raum benötigt. Von vorn ist die Abgrenzung des Dünndarmkonvoluts dann deutlich als „U-Delle“ zu erkennen, die selbst im Stehen über den Beckenorganen schwebt und sich nicht schwer auf diesen abstützt (. Abb. 22.2).  

kBauchmaß

Wie bereits erwähnt, wird in der Diagnostik nach F.  X.  Mayr gerne die eigene Hand als Messinstrument für die Diagnostik wie auch zur Kontrolle des Behandlungserfolgs benutzt. Dabei sollte eine Patientenhand den gesunden Bauch bedecken können.

485 Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr

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..      Abb. 22.2 Gesundes Abdomen. (© Internationale Gesellschaft der Mayr-Ärzte, mit freundlicher Genehmigung)

kUntersuchungsgang

Bei Mayr galt: Untersuchung zuerst, Anamnese danach. Dem aufmerksamen Beobachter bieten sich viele unvoreingenommene Informationen durch Betrachten des Patienten, seiner Bewegungen, seiner Haltung, seiner Stimme, seines Verhaltens. Das natürliche Schauen, der kritische Blick, liefert wesentliche Puzzlesteine für eine vollständige Diagnose. 22.1.3  Gesunder

Verdauungsablauf

Bevor Energie aus der zugeführten Nahrung gewonnen werden kann, muss ein Mindestmaß an Energie für Aufspaltungs- und Verdauungsprozesse aufgewendet werden. Somit gilt eine uralte Regel, die besagt:

»» „Je müder wir sind und umso später es

ist, desto leichter verdaulich muss unsere Nahrung beschaffen sein!“

Auch beeinflusst die vegetative Ausgangslage den Verdauungsablauf grundlegend. Ein

erhöhter Sympathikotonus befähigt zu Kampf oder Flucht, hat aber mit Verdauungsaufgaben nichts zu tun. Der Sphinktertonus von Pylorus und Ileozäkalklappe wird erhöht, das untere Colon descendens verkrampft längerstreckig, die Durchblutung und Motorik des Darms sis-

tiert, die Sekretion der Verdauungssäfte wird eingestellt und der Darmtrakt vorübergehend zu einem Vorratsbehälter reduziert – mit dem Nachteil, dass bei Körpertemperatur und Anwesenheit von Mikroorganismen ungestört Zersetzungsvorgänge der Nahrung stattfinden. >> Für eine gute Verdauungsleistung wird zunächst Ruhe und freie Energie benötigt.

kMundraum

Das gründliche Kauen dient der mechanischen Aufbereitung und Zerkleinerung der Nahrung, die dadurch vergrößerte Oberfläche der Nahrungspartikel ermöglicht einen intensiveren Kontakt mit den Verdauungssäften. Der Speichel wird untergemischt, der α-Amylase zur Vorverdauung von Kohlenhydraten enthält sowie als Proenzym Speichel-Lipase, die im Magen durch den sauren pH aktiviert wird. Die Speichelflüssigkeit dringt bis in die Tiefe der Zungenoberfläche vor und benetzt die dort liegenden Geschmacksknospen, sodass die Aromen, die beim Kauen eines Bissens freigesetzt werden, wichtige Geschmacksund Geruchsinformationen liefern, die an das Gehirn weitergeleitet werden. Von dort aus werden die nachfolgenden Verdauungsorgane „vorinformiert“ und aktiviert. Es ist kein Zufall, dass bei Verkostungen, ob fest oder flüssig, nur sehr kleine Bissen und Schlückchen

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genommen werden, denn so erfolgt die Vermischung von Aroma und Luft in für den Geruchs- und Geschmackssinn optimaler Weise. Diese kephale Verdauungsphase hat wesentlichen Einfluss auf die Aktivierung der Verdauungsprozesse im weiteren Verdauungstrakt, und zwar bis zu 40 %. >> Wir sollten uns also bewusst sein, dass bis hierher noch willentlich und aktiv an einer guten Verdauungsleistung mitgearbeitet werden kann.

kMagen Im Magen wird der Speisebrei durch kräftige

Knetbewegungen der Magenwand mit den Magensäften durchmischt und weiter zerkleinert. Ein stark saures Milieu schützt vor vielen pathogenen Mikroorganismen. Es bietet den Verdauungsenzymen im Magen optimale Bedingungen für ihre Wirkung, wodurch die weitere Aufspaltung der Nahrungsbestandteile erfolgt (gastrische Verdauungsphase).

kDarm Der Dünndarm als Zentrum von Verdauung

und Nahrungsaufnahme ist zweifellos das Verdauungsorgan schlechthin. Darüber hinaus ist er der Ort der Begegnung und Auseinandersetzung mit Fremdstoffen. Kontrolliert werden diese komplexen Vorgänge durch Hormone und das autonome sowie das enterale Nervensystem, das sog. Darmhirn. Die typische, frotteehandtuchartige Schleimhaut mit ihrem extrem oberflächenvergrößernden Effekt durch Zotten und Mikrozotten (Mikrovilli) kann sich durch eine gut funktionierende Ring- und Längsmuskulatur dem Speisebrei eng anlegen. Somit ist hier alles ideal vorbereitet für einen intensiven Kontakt und die weitere Aufspaltung und Absorption (intestinale Verdauungsphase). Die Bakterienbesiedelung ist im Dünndarm vergleichsweise gering und nimmt in Richtung Ileozäkalklappe deutlich zu. Bei Störungen des Verdauungsgleichgewichts, beispielsweise nach Antibiotikagebrauch oder auch durch übermäßigen Zuckerkonsum, kann es hier aber zu

massiver bakterieller Überwucherung mit ausgeprägten Blähungen kommen. 22.1.4  Enteropathie-Syndrom

nach F. X. Mayr

In westlichen Industriegesellschaften sind Funktionsstörungen des Magen-Darm-Trakts und Beeinträchtigungen vieler anderer Körperfunktionen eher auf eine falsche Ernährungsweise und nicht nur auf die falsche Auswahl der Nahrung zurückzuführen. Es wird zu schnell, zu viel, zu oft und zur falschen Zeit gegessen und zu wenig gekaut. Die Fähigkeit, ein natürliches Sättigungsgefühl zu spüren, ist oft verloren gegangen, und häufig wird über diesen Punkt hinaus bis zum absoluten Völlegefühl gegessen. Wenn dies noch dazu in gestresstem Zustand passiert und damit die Aktivität des für die Verdauung zuständigen Parasympathikus, unterdrückt wird, ist die Verdauungsleistung zusätzlich geschwächt. Unzureichend gekaute und durch Einspeichelung kaum vorverdaute Nahrung gelangt während einer hektischen Mahlzeit in den Magen. Dort muss sie länger als normalerweise verweilen, damit die Zerstörung der Zelloberflächen von Nahrungsbestandteilen durch die Salzsäure erfolgen kann, die Nahrung dadurch besser durch die Enzyme spaltbar wird und die entsprechenden Spaltungsprozesse vollendet werden können. Der somit übersäuerte Speisebrei belastet das Duodenum und erschöpft im Laufe der Zeit die Basenreserven der Bauchspeicheldrüse und der Duodenaldrüsen. Da aber die Pankreasenzyme, die in das Duodenum abgegeben werden und die Nahrung weiter spalten, nur im neutralen bis alkalischen Bereich ihre volle Wirksamkeit entfalten können, bedingt ein übersäuertes Duodenum eine Verdauungsschwäche, und nur halb verdaute Speisen gelangen in tiefere Darmabschnitte. Je tiefer der Darmabschnitt, umso mehr Darmbakterien gibt es, die dort in Form von

487 Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr

Fäulnis und Gärung wirksam werden. Es bedarf für diese Zersetzungsvorgänge noch nicht einmal einer gestörten Darmflora, alle physiologischen Darmbakterien sind zu Fäulnis und Gärung fähig und können somit bei wiederholten Zersetzungsvorgängen das Milieu im entsprechenden Darmabschnitt entscheidend verändern. Bei Fäulnis entstehen: Indol, Kresol, Skatol, biogene Amine etc. Bei Gärung entstehen: Methanol, Ethanol, Propanol, Butanol und Säuren. Diese Fäulnis- und Gärungsgifte gelangen nicht nur in den enterohepatischen Kreislauf, wo sie von der Leber entgiftet werden können, sondern werden teilweise auch über die Lymphe direkt in den großen Kreislauf geschwemmt und erreichen so alle Organsysteme. Diese sog. intestinale Autointoxikation ist die Grundlage des Enteropathie-Syndroms nach F. X. Mayr. Primär wird der Darm selbst geschädigt: Nach einem anfänglichen Exzitationsstadium, in dem der Darm mit Krämpfen und eher Durchfall reagiert, erschlafft die Darmwand schließlich. In einem trägen, erschlafften Darm verlängert sich die Verweildauer des Stuhls, und daher verstärkt sich die Wirkung der in ihm enthaltenen Giftstoffe. Dieser Circulus vitiosus kann zu chronischer Obstipation, zur Bildung von Kotsteinen, Divertikeln und deren Entzündung bis hin zu Darmkrebs führen. Auch bei täglichem Stuhlgang kann eine Darmträgheit vorliegen, wenn 3 oder mehr Tage alte Stuhlmengen im Darm beherbergt werden und der abgesetzte Stuhl den Darm eigentlich schon viel früher hätte verlassen sollen. Die bei der Fehlverdauung entstehende Gasbildung sorgt für den nötigen Druck auf die schlaffe Muskulatur und täuscht so eine normale Verdauung vor – ein häufiges Missverständnis. >> Auch bei täglichem Stuhlgang kann eine chronische Darmträgheit vorliegen.

Darüber hinaus ist es durchaus möglich, dass alter Stuhl in den Ausbuchtungen des Dickdarms eingelagert wird. Häufig werden noch in der 3.  Therapiewoche alte Stuhlreste in mehr oder minder großen Mengen ausgeschieden, obwohl täglich Bitterwasser getrunken wurde. Eine gründliche Entleerung bedarf eben der

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ausreichenden Eigenaktivität der Darmmuskulatur. Es lassen sich 3  Stadien der Darmschädigung beobachten: 55 Exzitationsstadium mit Verkrampfung und Überaktivität, 55 Hypotonie mit Erschlaffung und verminderter Bewegung, 55 Atonie mit totaler Erschlaffung. Diese Stadien spiegeln sich im gesamten Körper, besonders an der Haut, wider. Auch die Körperhaltung wird durch die Enteroptose eines erschlafften Dünndarms verändert. Die Bauchatmung wird durch Verringerung der Zwerchfellbeweglichkeit eingeschränkt. Da das Zwerchfell während der Bauchatmung wie eine Membranpumpe den Blutkreislauf im Bauchraum unterstützt, leidet bei eingeschränkter Zwerchfellatmung die Durchblutung und somit die Regenerationskraft des Verdauungssystems. Die Verminderung des Lungenvolumens bedingt eine Verringerung der Sauerstoffaufnahme. Zusammen mit der Zufuhr von säureüberschüssigen Nahrungsmitteln und Gärung wird so die Entstehung einer latenten Gewebsübersäuerung begünstigt. >> Das Enteropathie-Syndrom nach F. X. Mayr beinhaltet letztlich eine durch falsche Ernährungsweise und Überforderung des Verdauungstrakts verursachte Funktionsbeeinträchtigung aller Organsysteme und kann somit als Zivilisationskrankheit Nr. 1 angesehen werden.

Forschungsergebnisse der letzten Jahre belegen die enorme gesundheitliche Bedeutung selbst von Mikroentzündungen, insbesondere im Darm (Buhner et  al. 2009). Mikroentzündungen lösen in der Schleimhaut eine Sensibilisierung des Darmnervensystems aus. 55 Die Botenstoffe von Mastzellen und enterochromaffinen Zellen aktivieren die Nervenzellen im Darm direkt. 55 Die irritierte Darmschleimhaut setzt nun vermehrt neuroaktive Körpersubstanzen wie Serotonin, Histamin und Proteasen frei.

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Neben der Verdauungsfunktion wird im Darm auch die Resorption von Nährstoffen, Elektrolyten und Wasser sowie die Aufnahme von Antigenen reguliert. Mithilfe der Mukosabarriere erfolgt ein kontrollierter Übertritt dieser Stoffe, vermittelt durch intestinale Tight-Junctions. Die Proteine Zonulin und Occludin sind für deren Funktion wesentlich. Bei Entzündungen werden die Tight-Junctions aufgelockert, wodurch die Durchlässigkeit der Darmmukosa erhöht wird (Leaky-gut-Syndrom, s. auch 7 Abschn.  22.3.6). Der folgende Anstieg von Zonulin sowie eine Störung der Occludin-Regulation führen zur Entwicklung T-Zell-vermittelter Darmentzündungen und zu einer Sensibilisierung des enteralen Nervensystems mit einer nachgewiesenen Häufung von Diarrhö, Reizdarm, juveniler Adipositas, Diabetes, rheumatischer Polyarthritis, Arteriosklerose, multipler Sklerose, Karzinomen u. a. (Cremonini und Talley 2004). Dieser Prozess ist maßgeblich am sog. „Inflamm-Aging“ beteiligt. Altern ist mit einem Entzündungsprozess auf allen Ebenen des Körpers verbunden und lässt Zellmembranen und Bindegewebsproteine „verhärten“, die DNA mutieren und Hormondrüsen „vertrocknen“. Biochemisch handelt es sich dabei um Oxidation, Peroxidation, Glykierung.  

22.2  Tonuslehre nach F. X. Mayr

Der Tonus, die Spannkraft, ist ein Zeichen und Maß für die Vitalität jedes Gewebes und gibt Aufschluss über die Situation der vegetativen Stimulation. Der Grad der funktionellen und trophischen Störungen des Darms und praktisch auch aller anderen Gewebe kann 4  Stadien entsprechend dem Stressmodell zugeordnet werden, das der ungarisch-kanadische Endokrinologe Hans Selye als die „unspezifische Reaktion des Organismus auf jede Art von Anforderung“ beschrieb (Selye 1950):

Von F. X. Mayr postulierte Adaptationsvorgänge 55 Aus dem Zustand eines gesunden Normotonus entwickelt sich bei einer akuten Reizung, Belastung bzw. Intoxikation ein relativ kurzzeitiges hypertones Exzitationsstadium. 55 Dieses geht bei zu starker oder zu langer Belastungsdauer in eine Hypotonie aller Gewebe über. In diesem Stadium sind die körpereigenen Regenerations- und Selbstheilungskräfte bereits eingeschränkt. 55 Wenn die Belastung, dadurch begünstigt, noch länger anhält, entwickelt sich eine Gewebsatonie mit irreversiblen Dystrophien. 55 Als letztes Stadium folgt der Tod.

Für den Darmtonus gilt nach F.  X.  Mayr folgende Einteilung (. Tab. 22.1, . Abb. 22.3):  



22.2.1  Hypertones Stadium

Dieses Exzitationsstadium tritt bei einer akuten Reizung bzw. Intoxikation eines an sich gesunden Gewebes auf und äußert sich als Übererregung mit Empfindlichkeit und Verkrampfung, zunächst lokal, dann auch generalisiert. kDarm

Spasmen in einzelnen Darmabschnitten, akute Diarrhö, aber auch spastische Obstipation, abdomineller Druckschmerz, Ulcus duodeni durch Hyperazidität. kMagen

Hyperazidität, Sodbrennen, (Stierhornmagen, erhöhter Pylorustonus). kHaut

Weißer Dermographismus, spastische Blässe durch Gefäßspasmus, Hyperhidrosis.

489 Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr

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..      Tab. 22.1  Stadien der Darmschädigung nach F. X. Mayr Merkmal

Normotoner Darm

Hypertoner Darm

Hypotoner Darm

Atonischer Darm

Reaktion

Normal

Exzitation

Paralytisch

Atrophie

Sensibilität

Normosensibel

Hypersensibel

Hyposensibel

Asensibel

Motorik

Normomotorisch

Hypermotorisch

Hypomotorisch

Amotorisch

Sekretion

Normosekretorisch

Hypersekretorisch

Hyposekretorisch

Asekretorisch

Form

Optimaler Tonus der Ring- und Längsmuskulatur, gut zusammengezogen, aber nicht verkrampft, wenig Platzbedarf, U-Delle

Verengt, verkrampft, Darmwalze

Schlaff erweitert

Sackartig aufgetrieben

Funktion

Optimale Verdauung ohne wesentliche Gärung oder Fäulnis

Reizperistaltik bis spastische Obstipation

Träge Peristaltik, Inhaltsvermehrung, Speisenzersetzung

Stagnierender Inhalt, Zersetzungsprozesse

a

b

c

d

..      Abb. 22.3  a Normotoner, b hypertoner, c hypotoner und d atonischer Darm. (© Internationale Gesellschaft der Mayr-Ärzte, mit freundlicher Genehmigung)

kMuskulatur

Hypertonus, verkrampfte Körperhaltung (Habt-Acht-Haltung und Anlaufhaltung nach Mayr), spastische Gesichtszüge, zusammengepresste Lippen. kHaare

Stehen zu Berge, fettig. Nach Ende der Reizung kann sich wieder ein Normotonus einstellen, sofern der Organismus zur Regeneration fähig ist.

22.2.2  Hypotones Stadium

Bei Andauern der Belastung entwickelt sich als Überforderungsreaktion das Stadium der Hypotonie, es kommt zur Schwächung, Erschlaffung und Funktionsminderung. kDarm

Träge, Neigung zur Obstipation, Verdauungsschwäche durch verringerte Verdauungsdrüsenaktivität, Ulcus duodeni durch

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Hyposekretion der Brunnerschen und Lieberkühnschen Drüsen und verminderte Schleimproduktion und somit Protektion, Divertikulose wegen Schwächung der Darmwand und erhöhtem Innendruck durch Gasbildung.

kMagen

kMagen

kMuskulatur

Längere Verweildauer der Speisen und damit Völlegefühl, Hakenmagen, eventuell Hypazidität.

Vermindert, schlaff.

kHaut

Rötung durch Gefäßdilatation, Faltenbildung, Zellulite, trocken. kMuskulatur

Hypotonie, müder Gesichtsausdruck, schlaffe Körperhaltung (lässige Haltung, Sämannshaltung nach Mayr), Neigung zu Gelenk- und Wirbelsäuleninstabilität. kHaare

Trocken, gespalten, brüchig. 22.2.3  Atones Stadium

Abhängig von der individuellen Vitalität kommt es bei Erschöpfung der Regulationsund Regenerationsprozesse zur Atonie und schweren Dystrophie. Mit der Dystrophie der Gewebe ist bereits der biologische Schnitt nach Reckeweg (7 Kap. 18, Homotoxikologie) überschritten. Dieses Stadium der Degeneration ist kaum mehr reversibel. Dauerhafte Schädigungen sind eingetreten, in der Regel zunächst einmal beschränkt auf einzelne Gewebe. Durch die gestörte Verdauungs- und somit Ernährungsleistung werden Mangelzustände gefördert.  

kDarm

Starke Enteroptose, Megakolon bzw. Colon elongatum, ausgeprägte Obstipation, Pankreasinsuffizienz, Maldigestion, durch angelagerte Kotreste und Schleimhautdystrophie auch manchmal Diarrhö.

Anazidität, Ulcus ventriculi, (Hakenmagen). kHaut

Trocken, Striae, faltiges, zerfurchtes Gesicht, Rhagaden.

kHaare

Ausfall. Primär wird der Darm selbst geschädigt: Nach einem anfänglichen Exzitationsstadium, in dem der Darm spastisch und hyperperistaltisch reagiert, erschlafft die Darmwand bis hin zur Atonie und späteren Dystrophie. In einem trägen, erschlafften Darm erhöht sich die Verweildauer des Stuhls, und es verstärkt sich daher die Wirkung der in ihm enthaltenen Gifte. Dieser Circulus vitiosus kann zu chronischer Obstipation, der Bildung von Kotsteinen, Divertikeln und Divertikulitiden führen. Dass der Stuhl auch kanzerogene Substanzen enthält, ist längst nachgewiesen und erklärt die Prädilektionsstellen für Kolonkarzinome: Rektum, Sigma, linke Flexur und Zäkum, da dort der Stuhl am längsten verweilt. 22.3  Diagnostik nach F. X. Mayr

Die sensible Diagnostik macht einen der größten Unterschiede zu anderen diätetischen und fastentherapeutischen Methoden aus. Sie ermöglicht es, mittels einer 5-Sinne-Diagnostik Abweichungen vom idealen Gesundheitszustand schon lange vor Ausbruch einer manifesten Erkrankung zu erkennen. Durch diese einfache, schnelle und dennoch ausführliche Diagnostik kann die Therapie sehr individuell angepasst und gesteuert werden. Im Rahmen der fast täglich durchgeführten ärztlichen manuellen Bauchbehandlungen lässt sich anhand der integrierten Diagnostik der Therapieverlauf genau beobachten, und eventuell vorteilhafte Korrekturen der Diät und Behandlungen können angebracht werden.

491 Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr

22.3.1  Körperhaltungen nach

F. X. Mayr

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kGroßtrommelträger mit kugelförmigem Gasbauch (3 in . Abb. 22.4)  

Die aufrechte Körperhaltung ist wesentlich beeinflusst vom Zustand des Verdauungstrakts. Für die Patienten ist die erklärende Analyse der Bauchform und Körperhaltung in der Regel faszinierend, wenn auch nicht immer begeisternd, weil sie ihnen viele gefühlte Zusammenhänge verständlich macht. Primäre Ursachen der verschiedenen Haltungsformen 55 Alle Körperhaltungen schaffen auf verschiedene Art mehr Platz für einen irritierten Darm und für ein durch mesenterialen Lymphstau hervorgerufenes Radixödem. 55 Muskelverkürzungen (besonders der Mm. psoas und iliaci) und Schwächen bzw. Gewebserschlaffungen verursachen besonders die schwachen Haltungen. 55 Die Körperhaltung ist auch Ausdruck der Persönlichkeit und in gegenseitiger Beeinflussung abhängig von der psychischen Situation.

Alle Haltungsänderungen verursachen Störungen und Fehlbelastungen im Bewegungsapparat, welche sogar Wegbereiter für degenerative orthopädische Erkrankungen (wie Diskushernien, besonders bei Anlaufhaltung, und Cox­ arthrosen, besonders bei Entenhaltung) sein können (. Abb. 22.4).  

kNormale Haltung (1 in . Abb. 22.4)  

Das Lot schneidet den äußeren Gehörgang, den Trochanter major und den Malleolus lateralis des Sprunggelenks. Die Verlängerung des Sternums kaudal des Manubriums trifft die Symphyse. kHabt-Acht-Haltung (2 in . Abb. 22.4)  

Meist mit beginnendem, oft auch eiförmigem Gasbauch kombiniert, aktive Haltung, Neigung zu generellem Muskelhypertonus.

Die Entwicklung eines metabolischen Syndroms wird begünstigt. Großtrommelträger sind leistungsstark und spüren durch ihre Vitalität meist wenig subjektiven Leidensdruck, während weniger vitale Menschen die Last des Bauches schon beim Anblick schwach macht. Dabei bereitet ihnen ihr Körper zahlreiche Beschwerden, an die sie sich gewöhnt und oft angepasst haben: Römheld-Syndrom mit Kurzatmigkeit, Nackenverspannung und eventuell Herzbeschwerden, Hyperhydriosis, Blähungen, Gärungsstühle, Schnarchen bis zur Schlafapnoe, Gonalgie und Senkfüße sind nur einige der möglichen Störungen. kLässige Haltung mit einem schlaffen Kotbauch (4 in . Abb. 22.4)  

Diese Menschen mit generell schwacher/müder Körperhaltung und Neigung zur Gewebsdystrophie weisen oft folgende Symptome auf: Obstipation, Trockenheit, Drüsenschwäche, Kältegefühl, Magenbeschwerden, instabile Gelenke und eine Wirbelsäule mit Neigung zu Lumbalgien, nervöse Schlafstörungen, Gleichmut bis zur Depression. Für den Verdauungsapparat wird durch eine Hyperlordose der kaudalen Lendenwirbelsäule mehr Platz im Becken geschaffen. kSämannhaltung (5 in . Abb. 22.4)  

Beherbergt wird immer ein schlaffer Kotbauch mit ausgeprägter Enteroptose. Typus und Beschwerden sind der lässigen Haltung ähnlich. kAnlaufhaltung und der für Irritationen und Entzündlichkeiten im Dünndarm charakteristische Spitzbauch (6 in . Abb. 22.4)  

Durch Aufhebung der Lendenlordose wird dorsal mehr Platz für den Verdauungstrakt geschaffen. Orthopädisch besteht eher die Gefahr einer Diskushernie. kSchlaffer Gas-Kotbauch (7 in . Abb. 22.4)  

Kombination von Fermentationsfolgen im Darm, oft ein Zwischenstadium zum Vollbild

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..      Abb. 22.4  Bauch- und Haltungsformen nach F. X. Mayr. (© Internationale Gesellschaft der Mayr-Ärzte, mit freundlicher Genehmigung)

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..      Abb. 22.5  Bauchformen nach F. X. Mayr; Erläuterungen s. Text. (© Internationale Gesellschaft der Mayr-Ärzte, mit freundlicher Genehmigung)

des Großtrommelträgers oder während der Rückbildung eines solchen. kEntenhaltung mit entzündlichem Gas-Kotbauch (8 in . Abb. 22.4)  

Sie ist ebenfalls eine muskelstarke Haltung. Bei Frauen liegt dieser Haltung zugrunde, dass bei einer Enteroptose der Dünndarm ventral von Uterus und Adnexe zu liegen kommt und damit die inneren Genitalien vor direktem Kontakt mit dem irritierten, entzündeten Dünndarm geschützt werden. Die Hyperlordose liegt

auf Höhe des 1. Lendenwirbels. Die damit verbundene nach vorne gekippte Beckenstellung begünstigt die Entstehung einer Coxarthrose. 22.3.2  Bauchformen nach

F. X. Mayr

Die Bauchform wird im Wesentlichen geprägt durch den Dünndarm. Je nach Zustand des Verdauungstrakts und Tonus des Darms ergeben sich die verschiedenen Bauchformen (. Abb. 22.5).  

493 Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr

kNormaler Bauch (1 in . Abb. 22.5)  

Charakteristisch ist die U-Delle, die den darunterliegenden Dünndarm begrenzt und dessen Spannkraft demonstriert. Hypertone Form

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Bauch seine Form bei Lagewechsel nicht. Typisch ist der schmerzhafte, harte, entzündliche Spitzbauch unterhalb des Nabels. kEntzündlicher Gas-Kotbauch (7 in . Abb. 22.5)  

kKahnbauch (2 in . Abb. 22.5)  

Dieser ist als Ausdruck eines hypertonen Stadiums eingezogen. Auch der Hungerbauch bei Untergewicht ist eingezogen, der Darm ist hier aber normoton. Hypotone Formen

kBeginnender Gasbauch

Durch Verlust der Spann- und Verdauungskraft kommt es zu Fermentationsprozessen im Darm mit Gasbildung, die zunächst meist im Oberbauch sichtbar sind. Gas drängt nach oben. kEiförmiger Gasbauch

Folgezustand bei weiterer Belastung. kKugelförmiger Gasbauch (3 in . Abb. 22.5)  

Die Bauchdecke wird durch die gasgefüllten Darmschlingen in alle Richtungen maximal vorgewölbt. kSchlaffer Kotbauch

Auch hier besteht ein Hypotonus, jedoch überwiegen Fäulnisprozesse; die gefüllten Darmschlingen hängen durch die reduzierte Spannkraft nach unten und üben Druck auf Blase, Genitalien, Lymphe und das venöse System aus. In Rückenlage drängen sie die Flanken nach außen. kSchlaffer Gas-Kotbauch (6 in . Abb. 22.5)  

Sehr häufige Mischform, manchmal auch ein Zwischenstadium bei der Rückbildung ausgeprägter Gasbäuche. Hypotone Formen mit hypertoner Reaktion

kEntzündlicher Kotbauch (5 in . Abb. 22.5)  

Es liegt ein teilweiser Hypertonus als Reizantwort auf Fermentationsprozesse im Dünndarm vor; durch diese Spannung verändert der

Die entzündliche Komponente führt auch hier zur harten Vorwölbung im Ober- wie zu dem typischen Spitzbauch im Unterbauch. kReiner Fettbauch

Ohne Vergrößerung der Darmschlingen kommt es selten zu einer wesentlichen Veränderung der Bauchform, Fettansammlungen in der Bauchdecke verursachen eine dick abhebbare Falte bzw. Bauchschürze. Im Gegensatz zu den anderen o.  g. Formen kann hier die Mayrsche manuelle Bauchbehandlung keine Verkleinerung durch Tonisierung der Darmanteile bewirken. 22.3.3  Perkussion des Bauchraums

Die Zwerchfellhöhe wird durch Perkussion des oberen Leberschalls in der Medioklavikularlinie bestimmt und sollte unterhalb der 6. Rippe liegen. Nach Feststellung des unteren Leberrandes ergibt sich auch die Lebergröße. Das Beklopfen der Bauchdecke bringt eine gute Orientierungshilfe durch die unterschiedlichen Klangformen und die Abwehrreaktion auf Schmerz oder Entzündung: kMagenperkussion 55 Normalfall: weich-tympanitischer Klopf-

schall 3 Querfinger breit über der Magenblase, ohne Auslösen unangenehmer Empfindungen. 55 Bei Hypertonus: die Magenblase klingt hart und gespannt und ist evtl. kleiner. 55 Bei Hypotonus: Senk- bis Hakenmagen, der bis in das kleine Becken reichen kann, die Magenblase ist ebenfalls größer. Die Perkussion hat keinen Hall, oft werden Plätschergeräusche ausgelöst. 55 Entleerungsstörungen bei erhöhtem Sphinkterdruck ergeben einen typischen metallischen, gespannten Klang.

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S. Fegerl und A. Witasek

Das gesunde übrige Abdomen zeigt Schenkelschall; Tympanismus ist immer Zeichen einer Erschlaffung der Darmwand mit konsekutiver Gasproduktion! Die Klangfarbe gibt wie beim Magen Auskunft über den aktuellen Muskeltonus. 22.3.4  Palpation des Magen-Darm-

Trakts

Beim Abtasten des Abdomens kann der Tonus von Magen, Dünndarm und Dickdarm sehr gut beurteilt werden. Dieses Abtasten erfolgt am besten mit der flachen Hand und weniger mit den Fingerspitzen und muss sehr zart und schmerzfrei erfolgen. Schichtweise „be-greift“ der Untersucher so den Bauch und spürt den Zustand des darunterliegenden Organs. >> Schmerz und Entzündung führen zu Abwehrspannung. Ein gesunder Bauch lässt sich bis weit in die Tiefe weich palpieren.

Magen Als Zeichen einer Exzitation ist die Bauchdecke im epigastrischen Winkel sehr häufig empfindlich und fest. Ist die Luftblase im Magen vergrößert und ein Plätschern leicht auslösbar, ist der Tonus des Magens vermindert. Eine verdickte, angespannt tastbare Bauchdecke in dieser Gegend deutet auf eine chronisch rezidivierende oder früher durchgemachte Gastritis hin.

Dünndarm Schon im Stehen kann an der Bauchform der Tonus des Dünndarms erkannt werden. Ein entzündeter Kotbauch geht mit einem erhöhten Tonus einher. Ein schlaffer Kotbauch deutet auf einen verminderten Tonus hin. Fast jeder Darmgeschädigte weist eine Enteroptose auf. In diesem Fall ist das Dünndarmmaß verkleinert oder die U-Delle überhaupt nicht mehr sichtbar. Die Enteroptose zieht oft einen Zwerchfellhochstand mit kompensatorischem Schulterhochstand und einer Einschränkung der HWS-Beweglichkeit nach sich.

kDer Enteroptosegriff

Der Behandler steht hinter dem Patienten und prüft die erreichbaren Winkel bei Rechtsdrehung und Linksdrehung der Halswirbelsäule (Schultern dabei festhalten, damit nicht mit Brust- und Lendenwirbelsäule gegenrotiert wird). Anschließend werden die Arme um den Patienten nach vorne gelegt und das Dünndarmpaket nach kranial gehoben. In diesem Zustand der künstlich aufgehobenen Enteroptose zeigt sich die Halswirbelsäule wesentlich beweglicher, und die Rotationswinkel werden größer. Ein sehr weich tastbarer Dünndarm kann entweder gesund sein oder bei starker Darmträgheit vorkommen. Dann ist er bereits aton und somit nicht mehr zu einer ausreichenden Peristaltik fähig. Da ein solcher atoner Darm bei den Succussionen (7 Abschn. 22.3.5) und Palpationen auch keine Schmerzen mehr erzeugt, könnte irrtümlicherweise auch angenommen werden, er wäre gesund. Ein hypertoner, spastischer Dünndarm kann mit einem Radixödem (s.  unten) verwechselt werden. Beide sind hart und leiten die Pulsationen der Aorta weiter. Manchmal können diese Pulsationen so stark sein, dass der Verdacht auf ein Aortenaneurysma aufkommen kann und erst eine Sonographie Klarheit bringt. Die Differenzialdiagnose zwischen spastischem, hypertonem Dünndarm und Radixödem kann mithilfe der Bauchbehandlung gestellt werden. Während einer Bauchbehandlung ist die Peristaltik des Dünndarms spürbar, während der Therapie kann sich das spastische Areal auflösen oder weiter wandern. Ein Radixödem bleibt stationär, verschwindet langsamer und lässt keine Peristaltik fühlen.  

Radixödem Bei chronischen Reizungszuständen bildet sich durch die intestinale Autointoxikation und die nachfolgenden Reaktionen ein mesenteriales Lymphödem. Dieses Ödem der Radix mesenterii erfordert Platz und kann den Darm nach unten und zur Seite verdrängen. Das Ödem befindet sich im Bereich um den Nabel und ist, wenn man es kennt, meist

495 Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr

gut als festes Paket tastbar und schmerzt. Es empfiehlt sich, zum Tasten nicht die Fingerspitzen, sondern die distale Handfläche im Bereich der Fingergrundgelenke zu verwenden. Bei weniger Druck ist mehr zu spüren!

Zäkum Das Zäkum nimmt eine Sonderstellung ein. Die Ileozäkalklappe stellt eine natürliche Engstelle dar, an der sich aggressiver Gärungsoder Fäulnisstuhl stauen kann, oder Blähungen und ein verminderter Tonus lassen dieses Rückschlagventil nicht mehr dicht schließen. In beiden Fällen werden das Zäkum und das terminale Ileum gereizt. Ein Ileozäkalklappensyndrom mit Schm­ erzen im rechten Unterbauch ist entsprechend häufig zu finden. Schließlich sind etwa 30  % der operierten Appendizes nicht entzündet und tragen dann die histopathologisch fragwürdige Diagnose „subakute Appendizitis“ (Lippert und Gastinger 1993). Während einer F.  X.-Mayr-Therapie ist oft relativ lange ein Druckschmerz über dem Zäkum auslösbar, der während der Bauchbehandlungen recht gut reduziert bis beendet werden kann.

Kolon Ein normotones Kolon ist weich, aber trotzdem gut zu tasten und zu umgreifen. Ein hypertones Kolon zeigt die typische Walzenform, wie sie auch bei Morbus Crohn tastbar ist. Die begleitende leichte Perikolitis mit einem ödematösen Mesokolon macht auch die Umgebung härter, wodurch das Umgreifen unmöglich werden kann. Am besten lassen sich Colon ascendes und Colon descendens begutachten. Das Colon ascendens wird mit Daumen und radialer Handkante getastet, das Colon descendens mit Kleinfinger und ulnarer Handkante. Ein spastisches Colon descendens findet sich z. B. bei emotionalem Stress, Reizdarm, Divertikulitis; oft ist perlschnurartig der zurückgehaltene Stuhl zu tasten.

Anus Als Ausdruck erhöhten (und unerwünschten) Gasdrucks im unteren Dickdarm kommt es häufig zu einem gesteigerten Tonus des inneren

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und/oder äußeren Analsphinkters, wobei sich diese Anspannung oft auf den gesamten Beckenboden ausdehnt. Diese, ursprünglich zur Kontrolle gedachte Spannungserhöhung wird zum Hindernis für eine normale Stuhlentleerung, was die Entstehung eines Reizdarms sehr fördert. Sekretion mit perianalem Juckreiz und Stuhlschmieren gehören ebenso zu den Folgen dieser gestörten Verschlussfunktion durch einen gereizten Darm. Der erhöhte Analsphinktertonus verhindert oft eine vollständige Darmentleerung mit der Konsequenz der geschilderten Beschwerden. Eine durch die Kur erzielbare bessere Entleerung des Kolons führt hier oft zu nachhaltiger Besserung. Noduli haemorrhoidales sind typische Zeichen eines hypotonen bzw. atonen Stadiums. Durch die rasante Stuhlpassage während der MayrPrevent-Therapie können sie virulent werden und manchmal auch bluten. Oft führt auch erst eine Mayr-Therapie zur Diagnosestellung, da vorher die Hämorrhoiden nicht bemerkt wurden. Die Tonusverbesserung der Gewebe während der Therapie verbessert dann schließlich doch längerfristig den Hämorrhoiden-Befund. 22.3.5  Succussionen nach

F. X. Mayr

Es handelt sich um eine scheinbar recht primitive Untersuchungsmethode, die aber sehr aufschlussreich ist. Succussionen funktionieren nach dem „Dawos-Prinzip“: Da, wo es weh tut, ist etwas nicht in Ordnung. Mit den Fingerspitzen wird sachte, aber doch bestimmt, entlang der Medianlinie des Abdomens von der Symphyse bis zum Xiphoid geklopft sowie mit der Faust auf die Hüften und den kaudalen seitlichen Thorax. Die Festigkeit der Schläge richtet sich individuell nach der Konstitution und Empfindlichkeit des Patienten. Oft geben die Patienten keinen Schmerz an, da sie stärkere Schmerzreize erwarten. Eine erhöhte Defense (Abwehrspannung) der

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S. Fegerl und A. Witasek

Bauchmuskulatur oder eine Abwehrreaktion deuten aber trotzdem auf eine gewisse Empfindlichkeit hin, die nochmals hinterfragt werden kann. Wenn starke Blähungen vorhanden sind, wirken die Gase als Stoßdämpfer und führen zu falsch negativen Befunden. 22.3.6  Humoraldiagnostische

Zeichen

Alle durch Fehlverdauung entstandenen Toxine, aber auch die beim normalen Stoffwechsel im Körper anfallenden Endprodukte müssen den Körper wieder verlassen können. Die physiologischen Ausscheidungsorgane sind: 55 Darm, 55 Niere, 55 Lunge, 55 Haut. Bei einer Funktionseinschränkung von Leber oder Niere können sich diese, abhängig von der lokalen Durchblutung und der Zirkulation der interstitiellen Flüssigkeit und vom pHWert, im Gewebe ansammeln. Wenn die Darmschleimhaut als größte Barrierefläche gegenüber Antigenen aus der Außenwelt irritiert ist (7 Abschn. 22.1.4), kann das sog. Leaky-gut-Syndrom auftreten. Die Darmschleimhaut wird durchlässiger, ausscheidungspflichtige Substanzen werden gewissermaßen irrtümlich rückresorbiert und akkumulieren im Blut. Besonders bei Darmträgheit kann der Darm seiner Ausscheidungspflicht nicht mehr ordnungsgemäß nachkommen. Notventile müs­ sen dieses Defizit kompensieren (z. B. über Stuhl, Urin, Atem). Ihre Ausscheidungsleistung und die Beschaffenheit der Körpersäfte und der Matrix sind gut zu beobachtende humoraldiagnostische Zeichen.  

Foetor faecalis Der normale Stuhl hat einen unaufdringlichen Skatol-Geruch; bei Fäulnisprozessen riecht er aasig-faulig, bei gestörter Fettverdauung ranzig, bei Gärung säuerlich.

Foetor urinosus Die Nieren sind als Ausscheidungsorgan auch zuständig für die Entsäuerung des Körpers, indem sie die H+-Ionen ausscheiden. Wie schnell sich die Nahrung in der Zusammensetzung des Urins widerspiegelt, kann man oft nach dem Genuss von Spargel oder Kaffee riechen. Gärungsgifte wirken oft harntreibend und führen zu säuerlichem, hellem bis farblosem Urin. Relativ dunkler, nachdunkelnder Urin, dumpf-faulig riechend, entsteht durch Fäulnisprozesse im Darm und enthält Indikan und Alkapton.

Foetor ex ore Die Lunge ist der zweite wichtige Säureausscheider, indem CO2 abgeatmet wird. Dass aber über die Atemluft auch ausgeschieden wird, ist leider allzu oft zu riechen. Faulige oder saure Atemluft zeugt von Fehlverdauung. Auch die Spätfolgen von reichlichem Knoblauch- oder Alkoholgenuss sind an der Atemluft untrüglich zu erkennen. Pathognomonisch sind Urämie- (Geruch der Atemluft nach Harn) und Ketongeruch. Mundgeruch kommt auch häufig von krankhaften Prozessen aus der Mundhöhle sowie, gerade bei Insuffizienz des Hiatus, aus dem Magen. Wenn die Entgiftung über diese drei natürlichen Ausscheidungsorgane nicht ausreichend erfolgt, werden vom Körper Notventile (s. oben) dazu herangezogen:

Foetor sudoris Es ist bekannt, dass Schweiß bei verschiedenen Menschen verschieden riecht. Ein saurer oder penetranter und übel riechender Schweiß erregt den Verdacht auf bakterielle Zersetzungsvorgänge im Magen-Darm-Trakt und ist eine absolute Indikation für eine entgiftende MayrPrevent-Therapie.

Foetor genitalis Auch die Drüsen der Geschlechtsorgane können ggf. zu den Ausscheidungsvorgängen des Körpers beitragen.

Haut Für sein „Lassen Sie mich sehen, wie es Ihnen geht“, zusammen mit einem prüfenden Kniff

497 Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr

in die Wange zur Abschätzung des Hautturgors, war F. X. Mayr berühmt. Diese Eigenart beruhte auf den bereits besprochenen Zusammenhängen. Schon die Farbe gibt Hinweise auf Vitalität, Sauerstoffversorgung und Ablagerungen. Über dem lateralen Jochbeinbogen wird die Haut mit Daumen und Zeigefinger abgehoben. Hiermit kann der Tonus der Haut gut und schnell festgestellt werden. Eine trockene, schlaffe Haut kann viele Ursachen haben, ist jedoch immer ein Zeichen für Dystrophie und Neigung zur Atonie. Auch die konstitutionelle Komponente spielt eine große Rolle. Die Haut mit ihrer großen Oberfläche ist reich an Schweiß- und Talgdrüsen. Werden über den Schweiß viele Toxine und Säuren ausgeschieden, können sich die Schweißdrüsen entzünden. Akneiforme Exantheme sind die Folge. Gerade Exantheme an den Intertrigo-Stellen (im Bereich von Körperfalten) deuten auf aggressiven Schweiß hin. Ein weiterer Hinweis sind vermehrte Leberflecken, seborrhoische Warzen und andere Altersveränderungen. Bei der Beurteilung der Subkutis finden sich häufig (durchaus auch schmerzhafte) Verquellungen als Hinweise auf eine „Verschlackung“ der extrazellulären Matrix, generalisiert oder lokal in Reflexzonen (7 Kap.  8, Das System der Grundregulation). Es entstehen Konglomerate aus AGE (advanced glycation end products) und Proteinen (z.  B.  Amyloid), die mit der normalen Zellfunktion interagieren (Wendt 1977, 1984; Wendt und Wendt 1979; Cefalu et al. 1995; Frye et al. 1998; Gafni 1997; Verzijl et al. 2000). Störungen durch Fehlfaltung von Proteinen sind wesentlich an der Entwicklung von Morbus Parkinson (α-Synuklein), AlzheimerErkrankung (β-Amyloid, Tau-Protein), Chorea Huntington (Huntingtin), bestimmten Formen von amyotropher Lateralsklerose sowie Mukoviszidose (CFTR-Protein) beteiligt (wahrscheinlich bei etwa 300 Krankheiten wie Diabetes, Krebs, Altern etc.). Durch geeignete diätetische Maßnahmen lässt sich eine gewisse Rückbildung erreichen. Die MayrPreventTherapie ist als eine Form von auf das Indi 

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viduum abgestimmtem modifiziertem Fasten eine der effektivsten Maßnahmen, diesen „Eiweißmüll“ ab-, und frische, funktionierende Proteine aufzubauen (7 Abschn.  22.5.1; zu den molekularen Mechanismen und zur klinischen Bedeutung des Fastens s. Longo und Mattson 2014; Castello et  al. 2010; Pedersen et al. 1999). Weiterhin lässt sich z. B. durch eine 12- bis 14-stündige Nahrungskarenz (Entbehrung von Nahrung) eine verstärkte Apoptose (programmierter Zelltod) von prämalignen Präkursorzellen (bösartige Vorläuferzellen) sowie eine gesteigerte Autophagie (s.  unten) erreichen. Der Start des programmierten Zelltods ist die Freisetzung des Proteins Cytochrom  c aus den Mitochondrien in das Zellinnere. Dafür wird die sonst dichte Membran der Mitochondrien durchlässig (Bianchi et  al. 2015; Derakhshan und Derakhshan 2015). Nach diesem Schritt ist die Apoptoseeinleitung irreversibel, und die Zelle wird abgebaut (Mariño et al. 2014: Regulation der Autophage; Mizushima et  al. 2004: In-vivo-Analyse in transgenen Mäusen). 2016 wurde der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin für die Entdeckung des Autophagie-Mechanismus an den japanischen Zellbiologen Yoshinori Ohsumi vergeben (Nobelförsamlingen – The Nobel Assembly at Karolinksa Institutet 2016; Sartor 2017).  

Schleimhaut Entgiftung über die Schleimhaut spiegelt sich als schlechter Mundgeschmack und ausgeprägter Zungenbelag wider. Zungenbeläge können alle Intensitäten und Farben zeigen. Gerade während einer Entgiftungstherapie nach F.  X Mayr beteiligen sich die Schleimhäute ebenfalls am Entgiftungsprozess. Die umfassendste und effektivste Zungendiagnostik ist in der traditionellen chinesischen Medizin beschrieben. Sie stellt eine hilfreiche Ergänzung dar. Auch das Zahnfleisch ist ein Spiegel des Gewebszustands und reagiert sichtbar auf Übersäuerung, Vitamin-, Mineralstoff- und Spurenelementemangel.

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S. Fegerl und A. Witasek

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..      Abb. 22.6  Verschiedene Halslängen aufgrund von Verdauungsstörungen gemessen in Querfingern. (© Internationale Gesellschaft der Mayr-Ärzte, mit freundlicher Genehmigung)

Augen Wenn die Tränenflüssigkeit zu aggressiv ist, liegt eine Reizkonjunktivitis vor. Eine aggressive Tränenflüssigkeit zeichnet Tränenstraßen an den lateralen Augenwinkeln, die v.  a. bei längerer Einwirkung pigmentiert sein können, insbesondere auch an der Seite, auf der der Patient üblicherweise schläft. Ein Subikterus lässt Rückschlüsse auf eine Leberbelastung zu, muss allerdings in Bezug auf ethnische Unterschiede und das mögliche Vorliegen eines Morbus-Gilbert-Meulengracht relativiert werden.

Blutgefäße Die verschiedenen Toxine beeinflussen nicht nur den Tonus des Darms, sondern auch der Blutgefäße. Teleangiektasien sind ein typischer Ausdruck von Gewebserschlaffung. Bei Alkoholikern sind diese Veränderungen an Wangen und Nase bekannt. Es ist weithin unbekannt, dass eine Couperose auch durch Fruktose oder Verzehr von zu viel Rohkost hervorgerufen werden kann, denn dabei entstehen (Fusel-) Alkohole durch Gärungsvorgänge im Darm. 22.3.7  Körpermaße nach F. X. Mayr

F.  X.  Mayr hat eine Vielzahl von Messungen entwickelt, die besonders gut zur Dokumentation des Therapieverlaufs und des Behandlungserfolgs geeignet sind. Für die Alltagstauglichkeit hat Mayr die Untersucherhand als

Vergleichsgröße genommen, es kann aber auch das Zentimetermaß verwendet werden. Im Stehen gemessene Körpermaße

Halsmaße (. Abb. 22.6)  

kVorderes Halsmaß

Abstand zwischen Jugulum und der Falte zwischen Hals und Unterkieferbeginn. Es wird in Querfingern (QF) angegeben und sollte normalerweise 4 QF betragen. kHinteres Halsmaß

Abstand zwischen dem Dornfortsatz des 7.  Halswirbels und der Tuberantia occipitalis. Auch dieses Maß sollte 4 QF betragen. kBeurteilung

55 Ist das vordere Halsmaß größer als das hintere, besteht eine Hyperlordose der Halswirbelsäule. 55 Ist das hintere größer als das vordere, handelt es sich um die häufig röntgenologisch diagnostizierte Streckstellung der Halswirbelsäule. (Bei den Röntgenbefunden muss allerdings meist relativiert werden, da besonders im Liegen eine rein willkürliche, funktionelle Streckstellung vorliegt.) 55 Sind beide Halsmaße verkleinert, liegt die Ursache an einem beidseitigen Schulterhochstand, mit dem ein Zwerchfellhochstand kompensiert wird. Dieser Umstand würde z. B. zum Römheld-Syndrom passen.

499 Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr

55 Vergrößerte Halsmaße sind Ausdruck eines hypotonen oder atonen Zustands und nur bei Asthenikern bzw. Dystrophikern zu beobachten. Schultermaße kBeidseitiger Schulterhochstand

Parallel zum verkleinerten Halsmaß findet sich der beidseitige Schulterhochstand. kEinseitiger Schulterhochstand

Häufig wird ein einseitiger Schulterhochstand beobachtet. Die Messung muss exakt erfolgen, da durch den abfallenden Verlauf der Mm. trapezii der Abstand der Messpunkte von der Medianlinie beidseits genau gleich sein muss. Der Untersucher formt mit beiden Händen und deren um 90  Grad abgespreizten Daumen ein U und berührt hinter dem Patienten stehend mit den Zeigefingern die Ohrläppchen des Patienten. Dann senkt er die noch immer in U-Form gehaltenen Hände senkrecht ab, bis sie auf den Trapezius-Wülsten zu liegen kommen. Dann ist bereits gut zu sehen, welche Schulter höher steht. 55 Ein Schulterhochstand rechts deutet primär auf eine Leberbelastung hin. Die Leber benötigt mehr Platz, das rechte Zwerchfell bleibt höher gestellt, und kompensatorisch wird die rechte Schulter angehoben. 55 Ein Schulterhochstand links deutet auf häufige Blähungen hin. Die Gase sammeln sich v. a. vor der linken Flexur und im Colon descendens, diese Strukturen werden stärker belastet und irritiert (nicht umsonst entstehen die meisten Divertikel im Sigma), und somit entwickelt sich ein Zwerchfellhochstand rechts. Um genügend Platz für Herz und Lunge zu schaffen, wird die linke Schulter höher gehalten. >> Die Ursachen für Schulterhöhendifferenzen sind vielfältig. Beinlängendifferenz und Skoliose sind die allgemein geläufigen Erklärungen. Viel häufiger ist jedoch der Verdauungstrakt Ursache dieser orthopädischen Fehlhaltung.

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kSchulterblattabstand

Auch der Abstand zwischen den Anguli mediales der Scapulae sollte laut F.  X.  Mayr im Idealfall nur 3 QF betragen. Da der Autor das bisher nur bei Kindern sah, kann er einen Abstand von 4  QF auch noch als Norm gelten lassen. Größere Abstände entstehen durch eine Hyperkyphose der Brustwirbelsäule und ein Vorziehen der Schultern, um mehr Platz für den Brustraum zu schaffen. Neben einer zu schwachen Rückenmuskulatur kann also auch hier ein Zwerchfellhochstand Ursache für einen zu großen Schulterblattabstand sein. Im Liegen gemessene Körpermaße

kBrustbeinhöhe

Ein gerader Stab wird so auf das Sternum gelegt, dass er noch über die Symphyse (den oberen Rand des Schambeins) ragt. Normalerweise müsste der Stab auf der Symphyse zu liegen kommen, also die Verlängerung des Sternums müsste waagrecht bis zur Symphyse reichen. Oft ragt der Stab jedoch viel höher hinauf und berührt die Symphyse nicht. Der Abstand zwischen Symphyse und Verlängerung des Sternums wird auch in QF angegeben und ist wieder ein Zeichen für einen kompensatorisch nach vorne vergrößerten Thorax. kLage des Zwerchfells

Diese wird knapp rechts des Sternums perkutiert und in QF kranial des Xiphoids angegeben. Normalerweise sollte sich die Zwerchfellgrenze auf der Höhe des Xiphoids befinden. Wenn die Luftblase des Magens sehr groß ist oder starke Blähungen bestehen, kann die Perkussion schwierig sein, da sich in diesem Fall der tympanitische Klopfschall über der Lunge kaum vom Klopfschall über dem geblähten Abdomen unterscheidet. Ein Zwerchfellhochstand findet sich sehr häufig und verbessert sich meist schon während einer einzigen Bauchbehandlung. Nach einer 3-wöchigen Therapie nach F. X. Mayr befindet sich bei fast jedem Patienten das Zwerchfell wieder an der richtigen Stelle über dem Xiphoid.

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S. Fegerl und A. Witasek

kEpigastrischer Winkel

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Er wird mit beiden Daumen gemessen. Da das Xiphoid eine sehr unterschiedliche Größe haben kann, muss darauf geachtet werden, dass die Daumen während der Messung in die Nische zwischen Xiphoidspitze und Rippenansätzen ragen. Der Winkel sollte im Idealfall 30–40  Grad betragen. Er kann einseitig oder symmetrisch vergrößert sein, wenn ein Zwerchfellhochstand, chronische Blähungen oder ein irritiertes Organ eine kompensatorische Erweiterung des Thorax verlangen. Auch er verkleinert sich schon während einer 10-minütigen Bauchbehandlung eindrucksvoll.

a

b

kDistantia iliocostalis minima

Der kleinste Abstand zwischen Rippenbogen und Crista iliaca wird ebenfalls in Querfingern angegeben. Er sollte 1–2 QF betragen. kGroßbauchmaß (. Abb. 22.7c)  

Die gespreizte Hand wird auf den Patientenbauch gelegt, und mit dem Kleinfinger wird die linke Spina iliaca anterior superior und gleichzeitig mit dem Zeigefinger der linke Rippenbogen berührt. Dann wird der Abstand vom radialen Handgelenk zur rechten Spina iliaca anterior superior in QF gemessen. Dieses Maß ist kein absolutes, sondern ein relatives Maß, das hauptsächlich zur Verlaufskontrolle dient. Der geübte Mayr-Arzt kann anhand der Veränderung des Großbauchmaßes die Gewichtsveränderung während der Therapie recht gut abschätzen. Natürlich ist der Einfluss von Meteorismus dabei wesentlich. Wenn sich das Großbauchmaß in den ersten beiden Therapietagen um 2–3  QF verkleinert hat, ist das sicherlich hauptsächlich auf eine Tonussteigerung und eine massive Entgasung des Darms zurückzuführen. Das Bauchmaß kann auch in Zentimetern angegeben werden, was besonders bei einem Wechsel der Untersucher (und somit unterschiedlichen Handgrößen) sinnvoll ist: Vom Rand der Spina iliaca anterior superior über den Nabel bis zum Rippenrand, rechts und links.

c

..      Abb. 22.7  a–c Bauchmaße nach F. X. Mayr. (© Internationale Gesellschaft der Mayr-Ärzte, mit freundlicher Genehmigung)

501 Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr

kBauchmaß (. Abb. 22.7a)  

Die gespreizte Hand wird so auf den Bauch des Patienten gelegt, dass der Zeigefinger den linken Rippenbogen und der Daumen auf gleicher Höhe den rechten Rippenbogen berührt. Dann wird der Abstand zwischen radialem Handgelenk und rechter Spina iliaca anterior superior und zwischen Kleinfingerspitze und linker Spina iliaca anterior superior in QF gemessen. Das Bauchmaß wird somit in zwei Werten angegeben, einem rechten und einem linken (z .B. BM 2/3). Damit können also auch Asymmetrien dokumentiert und kontrolliert werden. kDünndarmmaß (. Abb. 22.7b)  

Der Abstand zwischen Spina iliaca anterior superior und der U-Delle des Dünndarmpakets wird ebenfalls in QF angegeben. Dabei wird wiederum ein rechtes und ein linkes Dünndarmmaß angegeben. Je nach Lage des Dünndarmpakets können diese Maße durchaus unterschiedlich ausfallen. Bei vielen Patienten ist aufgrund von vermindertem Darmtonus und einer daraus resultierenden massiveren Enteroptose, von Blähungen und Adipositas keine U-Delle zu sehen. In diesem Fall beträgt das Dünndarmmaß beidseits Null.

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Untersucher nähert sich mit den Daumen von distal her den Malleoli mediales der Sprunggelenke, bis er an diesen „hängenbleibt“. Wenn nun eine Beinlängendifferenz auffällt (und das ist häufiger, als man glauben möchte), soll sich der Patient aufsetzen und möglichst weit nach vorne beugen. Wenn dann die Beine gleich lang sind, handelt es sich um eine funktionelle Beinlängendifferenz, welche u. U. durch ein einseitig irritiertes Kolon verursacht sein kann. 22.3.8  Anamneseerhebung >> Anders als sonst in der Medizin üblich, untersucht der Mayr-Arzt den Patienten, bevor er die Anamnese erhebt.

Dadurch ist er von der Krankengeschichte unbeeinflusst und betrachtet unvoreingenommen seine Eindrücke vom physischen Aspekt seines Patienten. Darüber hinaus kann er den Patienten auf Beschwerden und Verhaltensmuster aufmerksam machen, an die sich dieser bereits gewöhnt hat oder die ihm gar nicht bewusst sind. Bei Abweichungen von einem gesunden Befund muss konkret nachgefragt werden:

kNabelmaß

Es verhält sich umgekehrt proportional zum Dünndarmmaß. Gemessen wird beidseits der Abstand zwischen Nabel und U-Delle, wiederum in QF. kRadixödem

Zur Kontrolle des klinisch bedeutsamen Radixödems bewährt sich die regelmäßige Überprüfung, gemessen in Querfingern vom Nabel nach beiden Seiten und dem Unterrand. kBeinlängendifferenz

Da ein einseitig irritiertes Kolon über eine einseitige Verkürzung des M. iliacus eine Beckenverwringung und somit eine funktionelle Beinlängendifferenz verursachen kann, soll diese wie folgt gemessen werden: Der Patient liegt möglichst gerade auf dem Rücken. Der

Mögliche Beschwerden, nach denen bei der Anamneseerhebung zu fragen ist 55 Kopfschmerzen (wann, wo, wie, wie oft, Auslöser)? 55 Verstopfte Nase? 55 Schnarchen, Verdacht auf Schlaf­ apnoe? 55 Häufiges Auftreten von Herpes labialis oder Aphthen? 55 Zahnschmerzen? Zahnfleischbluten? Mundgeruch, Mundgeschmack? 55 Nackenverspannung? 55 Kurzatmigkeit? Herzbeschwerden? 55 Stechen in der Brust (wo genau, Schmerzauslösung durch Druck, in Belastung) 55 Aufstoßen? Sodbrennen? Völlegefühl?

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S. Fegerl und A. Witasek

55 Magenschmerzen (vor oder nach dem Essen)? 55 Stuhlgang (wie oft, Konsistenz, Schleim, Unverdautes, Blut, vollständig entleerend)? 55 Blähungen, Winde (morgens, abends, Geruch, Zeitpunkt nach dem Essen)? 55 Bauchschmerzen (wo, wann, wie oft)? 55 Hämorrhoiden? Stuhl- oder Harninkontinenz? 55 Schmerzen beim Geschlechtsverkehr (wo)? Scheidenpilz (wie oft)? Hautausschläge (Juckreiz)? Hautschwellungen? 55 Schlafstörung (Einschlafen, Durchschlafen, wann)? 55 Müdigkeit (morgens, nach dem Essen, immer)? 55 Depression (mit erkennbarer Ursache oder unerklärlich)? 55 Rauchen (wieviel, pack years, bei welcher Gelegenheit, Aufhörwille) 55 Medikamente (auch Vitamine, Mineralstoffe etc.)?

Erhebung eines Ernährungsprotokolls 55 Mahlzeiten (wann, was), Zwischenmahlzeiten (in Ruhe, nebenbei)? 55 Wie viel Rohkost/Salat/Obst wird gegessen (wann, auch abends)? 55 Wie viel Fleisch/Fisch/Huhn wird gegessen? 55 Wie viel wird getrunken (Wasser, Kaffee, Alkohol)? 55 Heißhunger? (wonach, süß, wie oft, wie viel)

Bei den meisten dieser Themen kann es vorkommen, dass der Patient sie ohne konkrete Befragung von sich aus nicht erwähnt, da er sich entweder daran gewöhnt hat, nervös und aufgeregt ist oder den Arzt ursprünglich nur für sein engeres Problem oder akute schwerere Erkrankungen zuständig sieht.

22.4  Einfluss des

Verdauungstrakts auf den Bewegungsapparat

Schon die Statistik der Beweggründe, warum Patienten eine stationäre F. X.-Mayr-Kur durchführen, zeigt, dass Beschwerden des Bewegungsapparats an erster Stelle stehen. Das hat auch damit zu tun, dass krankhafte Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule, der Gelenke und Muskelverspannungen von sich aus mehr Schmerzen verursachen als ein kranker Darm. Die Enteropathie wird meist zuerst vom Mayr-Arzt entdeckt, der Kreuzschmerz vom Patienten. Wie eng die Verbindung zwischen Enteropathie und Veränderungen im Bereich des Bewegungsapparats ist, wie weit quasi der Darm in die Orthopädie eingreift, wird im Folgenden gezeigt. 22.4.1  Zervikalsyndrom

Dabei handelt es sich um einen Sammelbegriff aller möglichen Beschwerden im Bereich der Halswirbelsäule und der Nacken- und Schultermuskulatur. Eine häufige Ursache dafür ist der Zwerchfellhochstand. Die Verminderung des elastischen Lungenzugs, mesenterialer Lymphstau, intrabdominelle Fettablagerungen und abnorme Gas- und Kotmengen im Darm verhindern eine ausreichende Kontraktion des Zwerchfells. Dadurch ist die Bauchatmung eingeschränkt, für Lunge und Herz ist zu wenig Platz. Um diese Verkleinerung des Thorax auszugleichen, weitet sich dieser nach der Seite aus, der epigastrische Winkel wird größer, und der Schultergürtel wird angehoben. Die Mm. levatores scapulae, trapezii und scaleni sind jedoch nicht für eine solche Dauerbelastung ausgelegt und neigen zu Verkürzungen und Gelosen-Bildung. Besonders fatale Wirkung haben die einseitigen Schulterhochstände. Eine Lebervergrößerung bzw. eine Irritation des Colon ascendens führen zu einem Hochstand der rechten Schulter. Eine Irritation des Colon descendens (meist mit Blähungen vergesellschaftet) lässt die linke

503 Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr

Schulter höher stehen. Der Schulterhochstand ist ein aktiver muskulärer Prozess. Maßgeblich daran beteiligt ist der M.  trapezius. Da dieser an den Dornfortsätzen der Halswirbel entspringt, kann er diese seitlich drehen, wenn eine Asymmetrie des Muskeltonus unter den beiden Mm. trapezii vorhanden ist. Somit führt ein Hochstand der rechten Schulter zu einer Linksrotation der Halswirbelsäule und nach der Lovett-Regel zu einer Einschränkung der Seitneigung nach rechts. Darüber hinaus sind auch Blockaden von Halswirbeln eine häufige Begleiterscheinung dieser funktionellen Störungen. Sie werden jedoch trotz kompetentester chirotherapeutischer Behandlungen immer wieder auftreten, solange der Magen-Darm-Trakt nicht saniert ist. Auch Migräne und Schulter-Arm-Syndrom können ihre Ursprünge im Intestinaltrakt haben. 22.4.2  Thoraxschmerz

Viele Patienten haben Angst um ihr Herz und ihre Lunge, wenn es im Brustkorb sticht. Allzu oft sind jedoch blockierte Rippen, Zerrungen und Insertionstendopathien der Zwischenrippenmuskulatur die Ursachen. Auch hier sind der Zwerchfellhochstand, die Daueranspannung des Brustkorbs, die überstrapazierte Brustatmung und asymmetrische Reizungen im Abdomen dafür verantwortlich, dass die Interkostalmuskulatur überlastet ist und die Brustwirbelsäule eine verstärkte Kyphose und teilweise sogar eine Skoliose entwickelt. Magenbuckel, Duodenumbuckel, Gallenbuckel, linker Flexurenbuckel und Leberbuckel sind eindrucksvolle Zeichen einer Beeinflussung der Rippen- und Thoraxmuskeln durch gestörte Bauchorgane. 22.4.3  Lumbalgie

Dieses Beschwerdebild ist oft so therapieresistent, dass es von vielen Betroffenen als legitime Alterserscheinung stillschweigend geduldet und erlitten wird. Die scheinbare Therapiere-

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sistenz erklärt sich aus dem ungemein starken Einfluss des Darms auf den unteren Teil der Wirbelsäule. Die abdominell bedingte Fehlhaltung der Lenden-Becken-Hüft-Region ist auch der Ursprung vieler Mayrscher Körperhaltungen (7 Abschn.  22.3.1). Eine Schlüsselrolle nehmen dabei die Iliopsoas-Muskeln ein. Die eng nachbarschaftliche Beziehung zwischen Dickdarm und Psoasmuskel prädestiniert für wechselseitige Störungen. Ist der gesamte Dickdarm gereizt, verkürzen sich beide Iliopsoas-Muskeln und hyperlordosieren die Lendenwirbelsäule. Der Alphawinkel des Sakrums ist vergrößert (und das typische Koxarthrosebecken entsteht), was in typischer Form der Entenhaltung nach F.  X.  Mayr entspricht. Diese Patienten neigen zur Entwicklung einer Koxarthrose, welche sich im Anfangsstadium oft mit Knieschmerzen äußert. Damit der Psoas-verkürzte Patient mit Entenhaltung nicht nach vorne umfällt, muss er die ischiokrurale und krurale Muskulatur verstärkt anspannen. Eine Überlastung dieser Muskeln kann zu ischialgiformen Schmerzen und Insertionstendopathien im Bereich des Kniegelenks und der Ferse (Achillodynie, Fersensporn) führen. Gemäß langjähriger Erfahrung verursachen Insertionstendopathien zirka die Hälfte aller chronischen Gonalgien. Die alleinige Irritation von Colon ascendens oder Colon descendens bewirkt die Verkürzung nur eines Iliopsoas-Muskels. Die daraus folgende Kippung des Os ileum nach ventral und somit die Verwringung des Beckens kreieren eine funktionelle Beinlängendifferenz. Infolgedessen entwickeln sich eine Überlastung von Iliosakral-, Hüft-, Knie- und Sprunggelenken sowie eine kompensatorische lumbale Skoliose, die ihrerseits auch oft Beschwerden verursacht. Die wechselseitige Verbindung zwischen Kolon und M.  iliopsoas wird während der Mayrschen Bauchbehandlung sowie nach erfolgter Kur häufig deutlich. Die Abnahme der spastischen Entzündlichkeit des Darms führt zur Detonisierung der Psoas-Muskulatur,  

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S. Fegerl und A. Witasek

und umgekehrt kann mitunter ein anhaltend druckdolentes Zäkum durch Dehnung der Psoas-Gruppe aufgelöst werden, sodass die dadurch ehemals verursachten Beschwerden verschwinden können. Aber auch umgekehrt kann die Dehnung bzw. Dekontraktion des Psoas-Muskels sofort den Dickdarm positiv beeinflussen. >> Wenn also während einer Mayr-Kur z. B. das Zäkum anhaltend druckdolent ist, empfiehlt es sich in jedem Fall, den M. iliopsoas zu prüfen und ggf. zu dehnen und zu dekontrahieren. Als Dehnungsmethode bewährt sich die postisometrische Relaxation und als Dekontraktionsmethode die Beugung des Hüftgelenks gegen den Widerstand des Patienten, indem dieser die gluteale und ischiokrurale Muskulatur anspannt.

Aber auch andere Mayrsche Körperhaltungen haben negative Auswirkungen auf die Lendenwirbelsäule: Die Anlaufhaltung mit ihrer verminderten bis aufgehobenen Lordose der Lenden­ wirbelsäule ist eine hervorragende Voraussetzung für eine Diskusprotrusion oder gar eine Diskushernie. Der verstärkte Druck der Lendenwirbel auf den vorderen Teil der Bandscheiben erleichtert das Ausbrechen des Nucleus pulposus nach dorsal bei stärkerer Belastung. Die ischialgiformen Beschwerden durch die starke Beanspruchung der ischiokruralen Muskulatur entsprechen denen der Entenhaltung (s. oben). Patienten mit lässiger Haltung und Sämannshaltung haben andere Probleme: Damit sie nicht nach hinten umfallen, müssen sie den M.  quadriceps stärker anspannen. Dieser drückt dann die Kniescheibe mehr an das Kniegelenk  – eine weitere Erklärung für die häufige Chondropathia patellae. Darüber hinaus sind diese Patienten meist eher muskelschwach und leiden unter einer instabilen Lendenwirbelsäule mit Pseudospondylolisthesen und Beschwerden bei längerem Sitzen und Liegen.

..      Abb. 22.8  Viszeromuskuläre und viszerokutane Reflexzonen. (© Internationale Gesellschaft der Mayr-Ärzte, mit freundlicher Genehmigung)

22.4.4  Viszeromuskuläre und

viszerokutane Reflexzonen

Es existieren weitere intestinal-orthopädische Zusammenhänge: Wie die Tafeln von Bergsmann zeigen, bestehen Zusammenhänge zwischen den einzelnen Organen und prominenten orthopädischen Problemzonen (Bergsmann und Bergsmann 1992) (. Abb. 22.8).  

22.4.5  Entschlackung und

Bewegungsapparat

Neben der Heilung der Enteropathie und der Verbesserung der Körperhaltung ist es die Gewebeentschlackung, die eine MayrPrevent-Kur zum orthopädischen Therapeutikum macht.

505 Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr

22

Da Gelenkknorpel und Bandscheiben im Erwachsenenalter keine Blutgefäße enthalten und somit von ihren Umgebungsflüssigkeiten ernährt werden, kommt der Reinigung und Reinhaltung dieser Kompartimente große Bedeutung zu. Die Verbesserung der Hämorrheologie (Hämodynamik) und somit der Mikrozirkulation und die Entsäuerung der Gewebe sind diesbezüglich sicher die orthopädisch wirksamsten Entschlackungskriterien. Auch durch Umwelteinflüsse und intestinale Autointoxikation eingelagerte Säuren und Gifte können sich negativ auf den Bewegungsapparat auswirken. So wie das Schröpfen ein erprobtes Mittel zur Entgiftung einzelner Körperstellen über die Haut darstellt (7 Abschn. 15.2.2, HildegardMedizin, Ausleitverfahren), ist die MayrPreventKur eine Generalentschlackungsmethode über Darm und Nieren. Durch die Verbesserung der körpereigenen Sensibilität und der Regulative wirkt die MayrPrevent-Kur aber fördernd auch auf systemische wie regionale Heilungsprozesse.

Wenn die manuelle Bauchbehandlung sitzend durchgeführt wird, muss die Behandlungsliege so schmal sein, dass der Patient nicht durch Seitwärtsrutschen die Distanz zum Arzt vergrößern kann. Würde der Patient zu weit vom sitzenden Behandler entfernt liegen, würde dessen Wirbelsäule in ständiger Skoliose verharren, und auch die Belastung der Tuber ischiadici wäre unsymmetrisch. Auf keinen Fall sollte der Behandler auf dem Bett des Patienten sitzen, da dann zusätzlich noch eine Torsion der Wirbelsäule dazukäme. Die beste Behandlungsmethode ist sicherlich die Bauchbehandlung im Stehen: Der Patient legt sich auf eine elektrisch oder mechanisch höhenverstellbare Liege und wird exakt in die richtige Höhenposition transferiert. Der Arzt behandelt stehend mit vergleichsweise geringer Belastung der Wirbelsäule. Dazu ist zu bemerken, dass der Druck auf die Bandscheiben selbst bei optimaler aufrechter Wirbelsäulenhaltung im Sitzen immer stärker ist als im Stehen.

kEin Fallbeispiel

>> Die MayrPrevent-Kur stellt oft eine kausale Therapie dar und ist immer eine nützliche adjuvante Behandlung für orthopädische Krankheitsbilder. Die Entgiftung und Entsäuerung der Gewebe, die Verbesserung der enteralen Resorptionsrate von Vitalstoffen, insbesondere Mineralstoffen, die Sanierung des MagenDarm-Trakts und damit die Verbesserung der Körperhaltung und nicht zuletzt die Verringerung von Übergewicht sind die Hauptursachen der Wirkung bei Erkrankungen des Bewegungsapparats.



Eine ca. 50-jährige Patientin litt seit Jahren unter Schulterschmerzen links. Während einer MayrPrevent-Kur bildete sich im Bereich des Akupunkturpunkts Galle  21 im M.  trapezius ein etwa pflaumengroßer Abszess. Dieser wurde inzidiert, worauf sich eine braune, fötide Flüssigkeit entleerte. Die Wunde granulierte aus, und die Schulterschmerzen traten seither nicht wieder auf. 22.4.6  Der Mayr-Arzt und sein

eigener Bewegungsapparat

Um die Belastung des Bewegungsapparats des Therapeuten während der manuellen Bauchbehandlungen zu minimieren, sind sinnvolle Behandlungspositionen erforderlich. Schließlich kann der behandelnde Arzt nicht dem Patienten gute Ratschläge über das richtige Verhalten und die richtigen Bewegungsabläufe geben und dabei selbst schädliche Fehlhaltungen einnehmen.

22.5  Therapie nach F. X. Mayr

Die MayrPrevent-Therapie basiert auf 4 Säulen 55 55 55 55

Schonung Säuberung Schulung Substitution

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22.5.1  Schonung

22

Schonung wird v.  a. durch die Zusammenstellung der Diät und die Art der Nahrungsaufnahme bewirkt. Schonung beginnt damit, in Ruhe und Bewusstheit zu essen, die Mahlzeit gründlich zu kauen – als gute Richtgröße gilt: jeden Bissen mindestens 30-mal. Die diätetische Einstellung reicht von Teefasten über Milch-Diät und erweiterte Milchdiät bis hin zur milden Ableitungsdiät nach Rauch. >> Bestehende Intoleranzen müssen berücksichtigt werden!

Die Verordnung der Diätform wird individuell vorgenommen und richtet sich nach der Konstitution und dem Gesundheitszustand des Patienten. Eine gewisse Monotonie ist in vielen Fällen hilfreich. Vermieden werden soll auf jeden Fall eine Überforderung des Darms mit der Folge von Gärungs- und Fäulnisprozessen. Die meisten Mayr-Ärzte beschränken sich dabei nicht auf die verschiedenen Fastenformen bzw. Semmel-Diäten der Mayrschen Schule und legen ihren Schwerpunkt auf Essverhalten und Essensschulung für den Alltag.

Diätstufen >> Entscheidend für den Erfolg ist bei allen reduzierenden Diäten das Bewusstsein der Freiwilligkeit! Fasten ist nicht Hungern! Im Stresszustand des Hungerns laufen völlig andere Vorgänge im Körper ab als beim Fasten.

Für eine gut abgestimmte Diät gilt es zu erkennen, wer in der Diät wann wieviel an Eiweiß benötigt! Die Beurteilung von Subkutis und Bindegewebe (7 Abschn.  22.3.6, Haut) kann dabei weiterhelfen; ein Zuviel an Eiweiß ist genau so ungünstig wie ein Zuwenig.  

 eefasten, Kalorienrestriktion und T Unverträglichkeiten Es ist spirituell interessant, um den Umgang mit dem Nichts zu lernen und die eigene Psyche schnell von Abfallstoffen zu befreien, aber auch für die zelluläre Entgiftung und Regeneration ist

das Teefasten ein starker und effektiver Impuls. Wenn der Ernährungszustand des Patienten es erlaubt, soll das abendliche Teefasten zu Heilzwecken möglichst lange beibehalten werden. Die positive Wirkung einer 12- bis 16-stündigen Nahrungskarenz (i. Allg. werden 14 Stunden angestrebt) auf Reparaturvorgänge an der DNA und zur Pro-Apoptose-Regulation von präkanzerösen Zellen ist bekannt (7 Abschn. 22.3.6, Haut). Eisenberg et al. (2014) beschrieben den Zusammenhang zwischen Fasten und Lebensdauer auf zellulärer Ebene: „Gesundes Altern hängt vom Entfernen von defekten Zellbestandteilen ab, das zum Großteil durch Autophagie vermittelt wird. … Unsere Ergebnisse erklären die Diätabhängigkeit der Lebenserwartung und die Regulation der Autophagie.“ Wenn die verschiedenen Kräutertees mit Honig konsumiert werden, müssen sie gelöffelt werden. Damit wird der Honig schneller resorbiert, der Blutzucker steigt, und das Sättigungsgefühl tritt früher ein. Leidet der Patient unter Meteorismus, soll kein Honig verwendet werden. Eine Kalorienbeschränkung kann effektiver als körperliche Betätigung die Faktoren beeinflussen, die mit einer längeren Lebensdauer assoziiert sind. TNF-α ist als zentraler Mediator der systemischen Entzündungs- und Immunreaktion mit Wirkung auf eine Vielzahl von Zielzellen (Granulozyten, Endothelzellen, Hepatozyten, Hypothalamus, Fett- und Muskelzellen, Monozyten/Makrophagen) dabei vermindert. Geringere Konzentrationen an TNF-α dienen der physiologischen Abwehr von Infektionen – z. B. durch Bakterien oder Viren. Entsprechend der individuellen Situation wird auf Nahrungsmittelunverträglichkeiten eingegangen, Kuhmilch wird aufgrund der Häufigkeit an Intoleranzreaktionen meist routinemäßig durch Schafmilchprodukte ersetzt, wegen der Glutenproblematik kommen immer öfter glutenfreie Diätformen zum Einsatz, Hefe wird weitestgehend gemieden. Häufig wird auf die energetische Bedarfslage des Patienten nach TCM-Prinzipen mit wärmender Nahrung reagiert. Diese Abstimmung der Diät braucht wohl am meisten Erfahrung und gehört zu den schwierigsten Anforderungen an den MayrPrevent-Arzt.  

507 Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr

MayrPrevent-Diät (historisch „Milch-Semmel-Diät“) „Milch-Semmel-Diät“ ist zu einem bekannten Begriff geworden, wobei zumeist übersehen wird, worum es dabei geht: Ein überlasteter und irritierter Darm braucht zunächst genauso sehr Schonung wie ein überlastetes und gereiztes Gelenk, das bis zur Besserung zuerst ruhig gestellt wird, bevor wieder mit einem Aufbautraining begonnen wird. Genau so wird auch bei den Verdauungsorganen vorgegangen. >> Es handelt sich also um eine kalorienreduzierte, leicht verdauliche Intensivdiät mit niedriger glykämischer Belastung! Das Ziel ist das Wiedererlangen einer möglichst guten Verdauungskapazität für eine möglichst hochwertige Ernährung!

In der Diät werden 6 Stufen unterschieden: >>Stufenweises Vorgehen bei der MayrPrevent-Diät 1. Fasten mit Kräutertee, klarer Gemüsebrühe 2. Kautrainer + Zulage 3. Kautrainer + Zulage + Eiweiß-/Öl-/ Fettzulage 4. Kautrainer + Zulage + Eiweiß-/Öl-/ Fettzulage + Gemüsecremesuppe 5. Suppe + leichte Aufbaudiät als Trennkost 6. Suppe + leichte Aufbaudiät

Danach erfolgt ein individueller Kostaufbau, Rohkost etc. Die Einstufung muss sehr individuell erfolgen, nicht jeder kann und sollte mit dem strengen Fasten der Stufe  1 beginnen! Es kann durchaus vorkommen, dass Stufe  4 die strengste sinnvolle Schonform darstellt. Ebenso differenziert ist mit der Dauer in den einzelnen Diätstufen zu verfahren. zz Stufe 1: Fasten

Bei entsprechender Konstitution ist Fasten die intensivste Diät, der „königliche Heil-

22

weg“. Es werden lediglich dünn gebrühte, „blonde“ (Heil-)Kräutertees (evtl. mit ein wenig Honig, Zitronen- oder Orangensaft), gutes Wasser, stille Mineralwässer und klare (mineralstoffreiche, basische) Gemüsebrühen verwendet. Dabei soll der Rhythmus der Mahlzeiten beibehalten und die „Fastenspeise“ gelöffelt werden. Während der Diät wird abends, vorzugsweise bei allen Patienten, die Stufe 1 (Fasten mit Kräutertee oder Gemüsebrühe) gewählt – zur Entlastung der Verdauungsorgane und um die wertvollen metabolischen Effekte eines mindestens 14-stündigen Fastens zu erzielen. Die zumeist verwendeten Kräutertees werden nur kurz aufgebrüht, enthalten viele Mineralstoffe, Spurenelemente und Aromen. Wirkungen von verwendeten Kräutertees 55 Anserine: entkrampfend für Darm und Harnwege 55 Fenchel: gegen Blähungen, entkrampfend, fördert die Entgiftung des Darmes 55 Johanniskraut: beruhigend für das Nervensystem 55 Lindenblüten: unterstützt die Entgiftung über Haut und Nieren 55 Schafgarbe: regt den Pfortaderkreislauf an 55 Zinnkraut: kräftigt das Bindegewebe, fördert die Ausscheidungstätigkeit der Nieren 55 Zitronenmelisse: stärkend für Nerven und Herz

Die klare Gemüsebrühe enthält vorwiegend nichtblähende, in kleine Stücke geschnittene Knollen- und Wurzelgemüse (Karotten, Rüben, Sellerie, Stangensellerie, Fenchel, Kürbis, Pastinaken usw.) und wird mit frischem Liebstöckel, 1–2 Lorbeerblättern und 3–4 Wacholderbeeren ca. 30–40  Minuten lang geköchelt. Sie enthält ebenfalls viele Mineralstoffe, Spurenelemente und Aromen.

508

S. Fegerl und A. Witasek

zz Stufe 2: Kautrainer mit Zulage

22

Mayr bezeichnete das als „Fasten, ohne zu fasten“; es geht um das Erlernen des guten Kauens und Einspeichelns. Als Kautrainer bewährte sich dabei ein Stück altes Brot, aus Schongründen heute oft glutenfrei, zusammen mit einer Zulage, die meist Eiweiß zuführt. Es kann anstelle von glutenarmem Brot auch Kokosfleisch verwendet werden. Die Auswahl der verwendeten Lebensmittel berücksichtigt dabei individuelle Allergien, Intoleranzen und Unverträglichkeiten. Ein kleiner Bissen wird 30-mal gekaut und dann mit der Eiweißzulage vermischt und weiter saugend gekaut und eingespeichelt. Die Patienten lernen wieder das Schmecken mit allen Sinnen  – eine wesentliche Hilfe für den Alltag danach! Auch das Sättigungsgefühl wird dadurch wieder deutlicher und früher wahrnehmbar.

zz Stufe 3: Kautrainer mit Zulage und Eiweiß-/Öl-/Fettzulage

In dieser Stufe wird zur Anreicherung der Schonkost eine weitere Zulage mit hochwertigen Eiweißen und Fettsäuren gegeben. zz Stufe 4: Kautrainer mit Zulage und Eiweiß-/Öl-/Fettzulage sowie Gemüsecremesuppe

Hier wird im Sinne eines Aufbautrainings eine gut bekömmliche, pürierte, basische Gemüsesuppe zur Diät hinzugefügt. Dabei soll das Prinzip des Kauens und guten Einspeichelns weiterverfolgt werden. zz Stufe 5: Suppe und leichte Aufbaudiät als Trennkost

Angelehnt an die „milde Ableitungsdiät nach Rauch“ wird bei der milden Aufbaudiät noch stärker auf eine niedrige glykämische Wirkung der Nahrung und auf eine gute Versorgung mit wertvollen Ölen und Fetten geachtet. Wenn diese Ernährungsform gut vertragen wird, kann das schonende Trennkostprinzip verlassen und zur nächsten Diätstufe übergegangen werden.

zz Stufe 6: Suppe und leichte Aufbaudiät

Je nach Verträglichkeit wird der Aufbau weiter fortgesetzt und geht immer mehr in eine gesunde Normalkost über. Obst und Rohkost können je nach individueller Verträglichkeit sukzessive eingeführt werden. >> Da Monotonie ein Therapieprinzip darstellt und die Lebensmittel weitgehend ohne zusätzliches Salz oder Würze verwendet werden, kommt es zu einer Sensibilisierung der Geschmacksknospen. Es gelingt dadurch leicht, später mit weniger Zucker, Salz, Würze, Alkohol und anderen Reizstoffen auszukommen.

22.5.2  Säuberung

Jeden Morgen wird Bitterwasser (1 gestrichener Teelöffel Magnesiumsulfat, aufgelöst in 0,25  l Wasser) getrunken. Diese salinische Berieselung des Darms hilft, alten Stuhl aufzuweichen und auszuspülen und in den Darm abgegebene Körpergifte und Schlacken möglichst schnell zu entsorgen, bevor sie über die oft irritierte und damit besonders permeable Darmschleimhaut rückresorbiert werden können. Darüber hinaus werden durch das Bitterwasser der Gallefluss und damit die Darmperistaltik angeregt. Außerdem zeigen neue Untersuchungen einen recht positiven Einfluss auf die Zusammensetzung der Darmflora. Eine zweite wichtige Säuberungshilfe stellt die ärztliche manuelle Bauchbehandlung mit abdomineller Lymphdrainage und Sekretionsförderung in das Darmlumen dar. Des Weiteren stellt diese Behandlung eine effektive Atemtherapie dar. Das Trinken von durchschnittlich 3 l Wasser bzw. Kräutertee fördert die Ausscheidung harnpflichtiger Substanzen. Wie stark der Körper während einer MayrTherapie entgiftet, zeigen Geruch und Aggressivität von Stuhl, Harn, Atemluft, Schweiß und sogar Tränenflüssigkeit. Die Gabe von Basenpulver hilft, zu entsäuern und unterstützt die Säuberungsprozesse (7 Abschn. 22.5.4).  

509 Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr

22.5.3  Schulung

Das gründliche Kauen und Einspeicheln der Kursemmel und die relativ große Trinkmenge während des Tages führen zu einem gesunden Essverhalten. Der Patient erlernt wieder, sich zum Essen Zeit zu nehmen, seinen Geschmackssinn zu sensibilisieren und sein natürliches Sättigungsgefühl zu spüren. Das Essen soll wieder zur Mahl-Zeit im wahrsten Sinne des Wortes werden, und für die meisten Patienten ist es eine neue Erfahrung, Trinken und Essen zu trennen, um so die eigene Verdauungsarbeit nicht zu komplizieren. >> Das bewusste Erleben und Genießen der von der Natur mit mannigfaltigen Gerüchen und Geschmacksnuancen ausgestatteten Lebensmittel und das bewusste Erleben der Nahrungsaufnahme als Genuss und Zeit der Ruhe sollen helfen, dieser essenziellen Betätigung einen höheren Stellenwert zu geben und sie nicht als Völlerei und falsch verstandene Ersatzbefriedigung zu missbrauchen.

Die manuelle Bauchbehandlung schult darüber hinaus die Zwerchfellatmung, die von vielen Menschen gar nicht mehr spontan praktiziert werden kann, obwohl sie eigentlich die natür..      Abb. 22.9 Intrazelluläre Basenpufferkapazität (IZB) während 3 Wochen Therapie nach F. X. Mayr. Schwarz: Verumgruppe, rot: Plazebogruppe. (© A. Witasek, mit freundlicher Genehmigung)

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liche Ruheatmung darstellt. Die Zwerchfellatmung ist eine wichtige Unterstützung für den Lymphfluss und die Durchblutung des Bauchraums. Ferner beginnt der Darm auf den Impuls der manuellen Bauchbehandlung hin, mit einer Normalisierung von Funktion und Tonus zu antworten. 22.5.4  Substitution

Da viele Menschen, bedingt durch falsche Essgewohnheiten, Fastfood, Stress, Umweltveränderungen etc., immer häufiger unter einem Mangel an Mineralstoffen, Vitaminen und Basenreserven leiden, ist die individuelle Substitution von Basen, Mineralstoffen und Vitaminen ein fixer Bestandteil der MayrPrevent-Therapie geworden. Auch sind Magen-, Dünndarm-, Leber- und Pankreasaktivität von ausreichend basischen Mineralstoffen abhängig. Basenpulver, ein Mineralstoffgemisch, welches v.  a. Natriumhydrogenkarbonat, Kaliumhydrogenkarbonat, Kalziumkarbonat und Magnesiumzitrat enthält, wirkt einer Fastenazidose entgegen und bekämpft erfolgreich eine inzwischen sehr häufig zu beobachtende latente Gewebsazidität (. Abb.  22.9; s.  auch 7 Abschn.  22.9, Lanser Säure-Basen-Studie).  



mmol/l 30

25

20

15

10 IZB1

IZB2

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22.5.5  Manuelle Bauchbehandlung

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Sie ist ein essenzieller Bestandteil der MayrPrevent-Therapie und darf ausnahmslos nur von entsprechend ausgebildeten Ärzten durchgeführt werden. Sie ist keine Massage, sondern eine wichtige und sensible ganzheitliche Behandlung mit folgenden Wirkungen:

Effekte der manuellen Bauchbehandlung nach Mayr kAbdominelle Lymphdrainage

Besonders das Radixödem, also die Lymphstauung im Mesenterium, wird verkleinert und der Lymphfluss insgesamt verstärkt. kDurchblutungsförderung im Bauchraum

Spasmen des Magen-Darm-Trakts werden gelöst, und seine Regeneration wird gefördert, die Leber wird entstaut. kÜbung der natürlichen Zwerchfellatmung

Viele Menschen haben die Bauchatmung als natürliche Ruheatmung verlernt, bei der das Zwerchfell wie eine Membranpumpe den Lymphfluss und die Durchblutung im Bauchraum fördert. kAktivierung der Zottenpumpe

Die Abgabe von Lymphe, Stoffwechselendprodukten und anderen ausscheidungspflichtigen Substanzen in das Darmlumen wird verstärkt und somit die Entgiftung des Körpers gefördert. kTonisierung des Dünndarms

Ein tonisierter Darm ist die Voraussetzung für eine gute Verdauungsfunktion! Erst dadurch wird die Schleimhaut in intensiven Kontakt mit dem Darminhalt gebracht und kann, nach Möglichkeit, ihre Funktion erfüllen! Damit wird auch der häufigen Enteroptose entgegengewirkt. kGanzheitsmedizinische und psychologische Begleitung und Beratung des Patienten während der gesamten Therapiedauer

Durch den direkten Kontakt des Arztes zum Patienten öffnet sich dieser auch leichter, und Zusammenhänge zwischen Psyche und Körper werden schneller und gründlicher sichtbar.

Durch den Aufbau eines größeren Vertrauensverhältnisses wird die Adhärenz (Compliance) des Patenten verbessert. Gleichzeitig kann der Arzt ausreichende Informationen zur eigenverantwortlichen Gesunderhaltung vermitteln. kTherapiekontrolle

Die immer wieder durchgeführte Diagnostik gibt wichtige Hinweise auf den Therapieerfolg und ermöglicht eine individuelle Justierung von Behandlung, Diätetik und Substitution. kDemonstrare ad dolores

Auch ein skeptischer Patient wird durch die für ihn deutlich spürbaren Zusammenhänge viel kooperativer. 22.5.6  Ambulant oder stationär?

Die MayrPrevent-Therapie kann ambulant oder stationär durchgeführt werden.

Ambulante Therapie kVorteile

55 Lange Behandlungsdauer möglich, 55 langsame diätetische Einleitung und Ausleitung möglich, 55 kein Urlaub erforderlich, 55 günstigerer Preis 55 gute Anpassung an die Alltagstauglichkeit kNachteile

55 Beruf und Familienangelegenheiten können weiter belasten, 55 weniger Energie zur Regeneration, 55 keine tägliche Betreuung, 55 keine Akuthilfe bei Kurkrisen oder Zwischenfällen, 55 weniger Verständnis der Mitmenschen, 55 Verführungen der Umwelt, 55 kein großes Spektrum an Zusatztherapien verfügbar.

Stationäre Therapie kVorteile

55 Viel freie Energie für Regenerationsprozesse im Körper,

511 Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr

55 viel Zeit für sich selbst, 55 Urlaubsatmosphäre wirkt zusätzlich heilend, 55 oft deutlicherer Impuls für einen Neubeginn, eine Neuorientierung, 55 tägliche medizinische Betreuung, 55 Aufenthalt im Kreise Gleichgesinnter, 55 keine Ablenkung und Verführung zu Kurfehlern, 55 kompetente Zusatztherapien vor Ort. kNachteile

55 Nur relativ kurze Therapiedauer wegen beschränkter Urlaubszeit, 55 Nachbetreuung durch geographische Trennung vom Heimatort oft mangelhaft, 55 höhere Kosten. 22.6  Indikationen und

Kontraindikationen

Hauptindikationen für die Therapie nach F. X. Mayr 55 Gastritis, Reizmagen, Dyspepsie, Refluxbeschwerden 55 Leberbelastung, Diabetes mellitus Typ 2 und 3 55 Unspezifische Kolitis, Colon irritabile, chronisch-entzündliche Darmkrankheiten 55 Chronisch-rezidivierende Divertikulitis 55 Diarrhö, chronische Obstipation, Meteorismus 55 Chronische Kopfschmerzen (sowohl Migräne als auch Spannungskopfschmerz) 55 Exantheme, Urtikaria, Allergien, Psoriasis 55 Rheuma, Weichteilrheuma, Fibromyalgie 55 Gelenk- und Wirbelsäulenbeschwerden 55 Infektanfälligkeit, chronische Sinusitis 55 Schlafstörungen, Schlafapnoe, Schnarchen 55 Psychovegetative Erschöpfung, Leistungseinbruch, Burnout 55 Kinderwunsch 55 Selbstfindung

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Kontraindikationen für die Therapie nach F. X. Mayr 55 Absolute Kontraindikationen ȤȤ Schwerere psychische Erkrankungen (Schizophrenie, Psychosen, Suizidgefährdung) ȤȤ Thyreotoxikose ȤȤ Infauste Malignome 55 Relative Kontraindikationen ȤȤ Colitis ulcerosa und Morbus Crohn ȤȤ Akute Infekte ȤȤ Multiple Sklerose

22.7  Ernährungsweise nach

F. X. Mayr im Alltag

>> Ernährung ist das Resultat aus zugeführter Nahrung plus individueller Verdauung.

In vielen Zeitungen, Illustrierten und Wochenmagazinen ist nachzulesen, welche Nahrung gesund ist. Und das meiste davon trifft zu. Die Frage ist nur: Kann alles auch richtig verdaut werden? Der Körper nährt sich nicht von dem, was auf dem Teller liegt, sondern von dem, was der Darm aufnimmt. Es nützt also nichts, die wertvollste vollwertige Nahrung zu sich zu nehmen und diese dann nicht ordnungsgemäß verdauen zu können. >> Wie gegessen wird und wie gut der Verdauungstrakt arbeitet, ist wesentlich wichtiger als das, was gegessen wird.

Ernährungsphysiologen erforschen auf das Milligramm genau, was und wieviel der Mensch pro kg Körpergewicht und Zeiteinheit zum Leben braucht. Meist empfehlen sie, alle Lebensmittel in möglichst unbehandeltem und unverfälschtem Zustand zu essen, ohne zu beraten, wie sie zu essen sind und ob sie in diesem Zustand überhaupt ordnungsgemäß verdaut werden können. Nach F.  X.  Mayr sieht die richtige Ernährungsweise wie folgt aus: zz In entspanntem Zustand essen

Es gibt zwei Systeme, die für die autonomen Funktionen im Körper verantwortlich sind: Sym-

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S. Fegerl und A. Witasek

pathikus und Parasympathikus. Bei Stress dominiert das sympathische Nervensystem und bereitet den Organismus auf Flucht oder Kampf vor, generell versetzt es den Körper bei Bedarf in erhöhte Leistungsbereitschaft. Es wirkt als Gegenspieler des parasympathischen Nervensystems. Dieses steuert Prozesse, die der Regeneration des Körpers, dem Aufbau von Energiereserven und der Wiederherstellung der Homöostase dienen. Bei Stress wird der Parasympathikus gedrosselt. Die Verdauungsorgane arbeiten dadurch weniger, und die Darmbewegung wird reduziert. Es kommt daher bei Stress leichter zu Fehlverdauung in Form von Gärung und Fäulnis und damit zu Blähungen, Völlegefühl, Müdigkeit, bis hin zu echten Magenschmerzen, Darmkrämpfen oder auch Stuhlverstopfung. Durch die in 7 Abschn. 22.1.4 beschriebene Autointoxikation werden alle Organsysteme belastet, verstärkt durch die übrigen Stresserscheinungen. Daher sollte die Essenszeit als Urlaubszeit betrachtet werden, zu der keine Probleme thematisiert und keine schwerwiegenden Besprechungen abgehalten werden. Entspannt zu essen ist trotz belastender Probleme relativ einfach: durch das Bewusstsein, dass die Probleme während des Essens nicht zu lösen sind, und die Erkenntnis, dass ärgerliche Dinge bereits passiert sind und somit unveränderbar in der Vergangenheit liegen. Die weit verbreiteten Geschäftsessen sind daher als verbindendes Element zwar aus psychologischer Sicht verständlich, aber physiologisch ungesund.  

zz Langsam essen

Es ist fast trivial, darüber zu schreiben, denn jeder weiß es, aber kaum einer tut es. Nur wer sich die Zeit gönnt und zur Ruhe kommt, kann langsam essen. Nur wer zu schnell isst, kann zu viel essen. Nur wenn zu schnell gegessen wird, steigt der Blutzuckerspiegel erst an, wenn schon viel zu viel Nahrung aufgenommen wurde. Schon während eines genüsslichen langsamen Mahls wird die Nahrung verdaut und teilweise in das Blut aufgenommen. Der Blutzucker steigt an und gibt dem Gehirn die Information, dass genug gegessen wurde. Das sich einstellende Sättigungsgefühl verhindert eine übermäßige Nahrungsaufnahme. Ungezügelten „Essorgien“ ist damit

leichter Einhalt geboten bzw. wird eher bemerkt, wenn es bei diesem übermäßigen Essen eigentlich um etwas anderes geht, nämlich um Beruhigung (oder eher Betäubung?), Belohnung oder um eine Art, Aggressionen zu dämpfen. zz Gut kauen und einspeicheln

Wo beginnt die Verdauung? Eben nicht im Mund, wie häufig angenommen wird, sondern schon vorher: in der Küche. Der Koch „kaut vor“, was nicht wörtlich gemeint ist, sondern: er zerkleinert die Nahrung. Der Koch denaturiert Eiweiß durch Erhitzen und macht Vieles besser verdaubar. Praktisch unverdauliche Stärkekristalle werden durch Erhitzen bekömmlich, viele Blocker von Verdauungsenzymen in den Oberflächen roher Lebensmittel werden erst durch Kochen inaktiviert. Eine rohe Kartoffel ist praktisch ungenießbar, gekocht ist sie ein hervorragendes und den Verdauungstrakt schonendes Nahrungsmittel. Ein roher Brotteig ist ungenießbar etc. Schon beim Anblick der Speisen „läuft einem das Wasser (der Speichel) im Munde zusammen“, und wenn dann das Essen schließlich serviert wird, gilt es, die „Mahl-Zeit“ zu genießen und nicht zur Schling-Zeit verkommen lassen (schließlich hat der Mensch Mahlzähne, um das Essen durch Zermahlen zu zerkleinern und seine Oberfläche zu vergrößern, um den Verdauungsenzymen die weitere Aufschlüsselung zu erleichtern). zz Den Durst vor dem Essen mit Wasser stillen

Viele Menschen haben die Angewohnheit, während des Essens auch den Durst zu stillen. Werden direkt zum Essen größere Mengen Wasser getrunken, werden die Verdauungssäfte verdünnt und wirken nicht mehr so gut. Es ist daher viel besser, eine halbe oder auch nur eine Viertelstunde vor dem Essen so viel Wasser zu trinken, dass der Durst gestillt ist. Dann kann zu einem guten Essen einen wirklich guter Tropfen zur Verfeinerung der Esskultur getrunken werden; für den Geschmack reicht eine kleine Menge aus. >> Durst wird sehr oft mit Hunger verwechselt.

513 Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr

Es passiert hin und wieder: Nach einem reichlichen Abendessen und einem langen, gemütlichen Abend zieht eine unsichtbare Kraft einen unaufhaltsam zum Kühlschrank, der dann zu mitternächtlicher Stunde ausgeraubt wird – bar jeder Vernunft, bar jeder Notwendigkeit und Schuldgefühle schürend. Zwei Ursachen kommen dafür infrage: 1. Der vermeintliche Hunger war in Wirklichkeit Durst. Empfehlung: Wasser trinken, wenn zur Unzeit Hunger verspürt wird. Meist stellt sich dadurch Zufriedenheit ein. 2. Es liegt eine Übersäuerung vor, im Speziellen des Zwölffingerdarms. Wenn dieser übersäuert ist, wird die Bauchspeicheldrüse dazu angeregt, vermehrt basische Verdauungssäfte auszuschütten. Empfehlung: Die Einnahme von Basenpulver, 1 Teelöffel in 0,25 l Wasser, bringt dieses Ungleichgewicht wieder in Ordnung und hilft meist gegen den Hunger. Die gleichen irreführenden Mechanismen liegen zugrunde, wenn sich um 11 Uhr vormittags ein dominanter Hunger einstellt, obwohl das Mittagessen für 12 Uhr bereits geplant ist. Auch hier helfen die angeführten Tricks. zz Bei Sättigungsgefühl aufhören

Was ist der Unterschied zwischen Sattsein und Nicht-mehr-essen-können? Nach dem Genuss einer Hauptmahlzeit mit Fleisch und Beilagen und einem kleinen Bier ist man meist satt. Wenn aber noch ein Nachschlag in der Küche „lauert“, ist die Versuchung, noch mehr zu essen, groß. Um die Kehle zwischendurch zu befeuchten, kommt auch noch ein weiteres Bier dazu. Wieder einmal hat man sich maßlos überessen und nimmt sich vor, es nie wieder zu tun. Doch dann wird trotzdem ein Dessert verspeist. Warum? Mehr Herzhaftes hätte man nicht mehr gebraucht, Süßes jedoch schon, denn Süßes stimuliert das Lustzentrum im Gehirn. Außerdem hilft die Abwechslung, mehr essen zu können. Wäre mit dem Dessert eine halbe Stunde gewartet worden, wäre wahrscheinlich die Lust darauf von selbst verschwunden, da dann der Blutzuckerspiegel durch die verdauten Speisen hoch genug gewesen wäre. Aber durch Gier und Hektik kann es zur Völlerei kommen.

22

Manchmal liegt es aber auch an der Überforderung der Verdauungskapazitäten (postprandiale Müdigkeit), die nach neuerlicher, schnell verfügbarer „Energie“ verlangt. zz Abends keine Rohkost essen

Rohkost wie Obst und Salat ist für den Menschen relativ schwer verdaulich, da dieser sich – anders als Wiederkäuer – schwer tut, Zellulose zu verdauen. Gegen Früchte zum Frühstück oder bei der Mittagsmahlzeit, dazu auch einen Salatteller, ist nichts einzuwenden, da tagsüber das Verdauungssystem gut arbeitet. Nachts ist die Verdauungsleistung jedoch reduziert, und dann kann der Verzehr von Rohkost problematisch werden: die nicht ausreichend verdauten Früchte und Salate werden verstärkt von Darmbakterien durch Gärung zersetzt, und dabei entsteht nicht nur Ethylalkohol, sondern auch Methanol, Butanol, Propanol, also 10-fach giftigere Alkohole. Darüber hinaus werden Säuren gebildet, die den Magen-DarmTrakt reizen. Der Nachtschlaf wird durch die entsprechenden Abbauprozesse, die parallel dazu nötig sind, empfindlich gestört. Auch übermäßiges Schnarchen und Schlafapnoe-Anfälle können Ausdruck dieser „Alkoholvergiftung“ durch Gärungsprozesse sein. 22.8  Objektivierbare Ergebnisse

der Therapie nach F. X. Mayr – Fallberichte

Es ist immer wieder erstaunlich, wie sich schon nach wenigen Minuten Bauchbehandlung pathologische Körpermaße verbessern, der Hautturgor straffer wird und sich Darmund Magenverkrampfungen lösen. Der Zwerch­ fellhochstand verringert sich, der epigastrische Winkel wird kleiner, das Lungenvolumen nimmt wieder zu, und die Körperhaltung kann sich bereits nach 15 Minuten Bauchbehandlung verbessern. Dank dieser einfachen und exakten Diagnostik nach F. X. Mayr kann der Therapieerfolg ständig gemessen, dokumentiert und dem Patienten vermittelt werden.

514

S. Fegerl und A. Witasek

a

b

22

..      Abb. 22.10  Großtrommelträger mit Gasbauch a vor und b nach der Therapie nach F. X. Mayr. (© A. Witasek, mit freundlicher Genehmigung)

zz Fallbeispiel 1

Patient: Großtrommelträger mit Gasbauch (. Abb. 22.10)

a

b



zz Fallbeispiel 2

Patient: Entzündlicher Kahnbauch (. Abb. 22.11)  

zz Fallbeispiel 3

Patientin: Entzündlicher (. Abb. 22.12)

Gas-Kot-Bauch



22.9  Studien/Evidenzlage zz Retrospektive Langzeitstudie zu den Auswirkungen regelmäßiger Therapien nach F. X. Mayr auf Laborparameter (unveröffentlicht, nähere Informationen bei Dr. A. Witasek)

Diese Studie über die Entwicklung von Gewicht, Blutdruck und Blutlaborparametern

..      Abb. 22.11  Patient mit entzündlichem Kahnbauch a vor und b nach der Therapie nach F. X. Mayr. (© A. Witasek, mit freundlicher Genehmigung)

515 Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr

a

22

b

..      Abb. 22.12  Patientin mit entzündlichem Gas-Kot-Bauch a vor und b nach der Therapie nach F. X. Mayr. (© A. Witasek, mit freundlicher Genehmigung)

von Patienten, die über mehrere Jahre hindurch jährlich eine mindestens 2-wöchige stationäre Therapie nach F.  X.  Mayr durchführten, ergab folgende, jeweils zu Beginn der Kuren ermittelte Werte: Veränderungen von Laborwerten während einer MayrPrevent-Kur Hämatokrit ↓ Verhältnis CD4/CD8 ↓ CRP (C-reaktives Protein) ↓ γ-GT (γ-Glutamyltransferase) ↓ Erhöhte GOT (Glutamat-OxalacetatTransaminase) ↓ 55 Erhöhte GPT (Glutamat-PyruvatTransaminase) ↓ 55 Verhältnis GOT/GTP ↑ 55 Triglyzeride ↓ (. Abb. 22.13) 55 55 55 55 55



55 55 55 55 55 55 55

Cholesterin ↓ (. Abb. 22.13) Verhältnis LDL/HDL ↓ Harnsäure ↑ Blutzucker ↓ Proinsulin ↓ C-Peptid ↓ Vitamin B12 ↑  

zz Lanser Säure-Basen-Studie (Witasek et al. 1996)

Wie diese Studie zeigt, werden Gelenk- und Muskelschmerzen, Herzbeschwerden, Bauchbeschwerden, Bluthochdruck, Hautausschlä­ge, Juckreiz, Schlafstörungen etc. durch Basenpulver positiv beeinflusst. Sogenannte Kurkrisen mit Kopfschmerzen und Übelkeit

..      Abb. 22.13  a, b Auswirkungen regelmäßiger Therapien nach F. X. Mayr auf den langjährigen Gesundheitszustand. Triglyceridwerte a und Cholesterinwerte b zu Beginn einer jährlichen Therapie nach F. X. Mayr. (© A. Witasek, mit freundlicher Genehmigung)

n 20

a

160 144 150 140 130 120 110 100 90 80 1995

b

280 270 258 260 250 240 230 220 210 200 1995

m g/dl

22

S. Fegerl und A. Witasek

m g/dl

516

in den ersten 3  Tagen wiesen nur 30  % der Gruppe, die Basenpulver einnahm, jedoch 70 % der Plazebogruppe auf (. Abb. 22.14). Interessant ist, dass trotz eines Gehalts von 48  % NaHCO3 im Basenpulver der SerumNatriumspiegel bei den Probanden, die eine Basenpulvergabe erhielten, im Vergleich zur Plazebogruppe sank. Das rührt daher, dass in der Niere die Natriumausscheidung mit der H+-Ionen-Ausscheidung konkurriert und im dicken aufsteigenden Ast der Henle-Schleife Chloridionen nötig sind, um Na+ rückresorbieren zu können. NaHCO3- ist daher also nicht mit NaCl und dessen Einfluss auf den Blutdruck gleichzustellen. Auch Blutsenkungsgeschwindigkeit, Fibrinogen und Gesamtcholesterin fielen in der Verum-Gruppe signifikant stärker ab. Üblicherweise wird 3-mal täglich 1 TL Basenpulver in 0,25 l Wasser zwischen den Mahlzeiten verordnet. Bei besonders empfindlichem Reizmagen werden 5-mal täglich ½ TL, ebenfalls in 0,25 l lauwarmem Wasser, besser vertragen. Die sog. Dystrophiker, also Menschen mit dünner Haut, eher asthenischer Konstitution,

143 128 120 105

1996

1997

1998

1999 n 20

253

1996

249

250

1997

1998

234

Plazebo-Gruppe

1999

Verum-Gruppe



Krise

30% 70%

30% Keine Krise

70%

..      Abb. 22.14  Fastenkrise. Die Plazebogruppe erlitt deutlich häufiger Krisen in Form von Kopfschmerzen, Muskelkrämpfen oder Übelkeit als die Verumgruppe, die Basenpulver bekam. (© A. Witasek, mit freundlicher Genehmigung)

geringer Drüsenaktivität (trockene Haut und Schleimhäute) und niedrigem Blutdruck benötigen mehr Kochsalz. Sie sollen das Essen zusätzlich etwas salzen. Oft erweist sich auch die zusätzliche Verabreichung von Magnesium und Kalium als sinnvoll. Antioxidanzien helfen, freie Sauerstoffradikale einzudämmen. Zink und Vitamin B12 kommen ebenfalls häufig zur Anwendung.

517 Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr

22.10  Ausbildungsordnung und

die Gesellschaft

Die Internationale Gesellschaft der MayrÄrzte hat über 400 ordentliche Mitglieder und aufgrund der komplexen Zusammenhänge strenge Ausbildungsrichtlinien. Um Mayr-Arzt werden zu können, müssen 180  Unterrichtseinheiten innerhalb von mindestens 2  Jahren absolviert werden, wobei die Teilnahme an mindestens 2 Kursen von je 2 Wochen Dauer, in deren Rahmen die Kursteilnehmer selbst eine MayrPrevent-Therapie durchführen, verpflichtend ist. Jeder MayrPrevent-Arzt verfügt also über diese wichtige Selbsterfahrung als Kurender und kann sich somit besser mit seinen Patienten identifizieren und sie sicherer begleiten. Jeder fertig ausgebildete Mayr-Arzt erhält nach bestandener Prüfung von der Österreichischen Ärztekammer ein ÖÄK-Diplom für „Diagnostik und Therapie nach Dr. F. X. Mayr“. Um das MayrPrevent-Qualitätssiegel der Internationalen Gesellschaft zu bekommen und zu erhalten, muss mindestens alle 2 Jahre ein Auffrischungskurs mit 15 Unterrichtsstunden besucht werden, im Rahmen dessen die neuesten Ergebnisse aus Wissenschaft und Forschung zu diesem Thema vermittelt werden. zz Adressen und Links

Internationale Gesellschaft der Mayr-Ärzte Kochholzweg 153 A-6072 Lans 7 www.mayrprevent.com; 7 www.fxmayr.com  



Dr. Sepp Fegerl Ärztlicher Leiter Kurhotel und Ambulatorium Vollererhof Morzgerstr. 38 A A-5020 Salzburg [email protected] Zusammenfassung/Fazit 55 Die Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr ist ein unentbehrliches Werkzeug für den ganzheitlichen Darmspezialisten.

22

55 Eine verallgemeinernde Reduktion auf „Milch und Semmel“ zeugt von wenig Kenntnis der Methode. 55 Die MayrPrevent-Medizin stellt eine Symbiose aus universitärer Medizin, Erfahrungs- und Naturheilkunde dar und eignet sich ideal zur Erkennung, Behandlung und auch Vermeidung vieler chronischer und sog. Zivilisationskrankheiten. 55 Als Folge dieser ganzheitlichen Betrachtungsund Behandlungsweise muss die Ausbildung zum MayrPrevent-Arzt folgende Kriterien erfüllen: 55 eine solide theoretische Ausbildung auf dem neuestem Stand der Anatomie, Physiologie, Gastroenterologie und Ernährungsmedizin, 55 gekoppelt mit den Erfordernissen aus der Erfahrungsheilkunde. 55 Die Diagnostik nach Dr. F. X. Mayr orientiert sich am Optimalzustand, Abweichungen davon lassen sich damit lange vor Ausbruch einer manifesten Erkrankung erkennen. 55 Die Therapie nach Dr. F. X. Mayr geht davon aus, dass dem Darm eine elementare Bedeutung in der Steuerung der Gesundheit des Menschen zukommt. Sie beschäftigt sich primär mit der Regeneration des gesamten überforderten Verdauungstrakts; im Zentrum des therapeutischen Handelns stehen 55 die salinische Darmberieselung, 55 diätetische Maßnahmen und 55 spezielle Bauchbehandlungen durch den Arzt. 55 Entgiftung, Entschlackung, Entsäuerung und Regeneration des gesamten Organismus werden bewirkt durch: 55 Schonung, 55 Säuberung, 55 Schulung, 55 Substitution.

Literatur Bergsmann O, Bergsmann R (1992) Projektionssymptome. Facultas, Wien Bianchi G, Martella R, Ravera S et al (2015) Fasting induces anti-Warburg effect that increases respiration but re-

518

22

S. Fegerl und A. Witasek

duces ATP-synthesis to promote apoptosis in colon cancer models. Oncotarget 6(14):11806–11119 Buhner S, Li Q, Vignali S et  al (2009) Activation of human enteric neurons by supernatants of colonic biopsy specimens from patients with irritable bowel syndrome. Gastroenterology 137(4):1425–1434 Castello L, Froio T, Maina M et al (2010) Alternate-day fasting protects the rat heart against age-induced inflammation and fibrosis by inhibiting oxidative damage and NF-kB activation. Free Radic Biol Med 48(1):47–54 Cefalu WT, Bell-Farrow AD, Wang ZQ et  al (1995) Caloric restriction decreases age-dependent accumulation of the glycoxidation products, N epsilon-(carboxymethyl)lysine and pentosidine, in rat skin collagen. J Gerontol A Biol Sci Med Sci 50(6):B337–B341 Cremonini F, Talley NJ (2004) Review article: the overlap between functional dyspepsia and irritable bowel syndrome – a tale of one or two disorders? Aliment Pharmacol Ther 20(Suppl 7):40 Derakhshan M, Derakhshan R (2015) Fasting and apoptosis: a mini review. J Fasting Health 3(4):166–168 Eisenberg T, Schroeder S, Andryushkova A et al (2014) Nucleocytosolic depletion of the energy metabolite acetyl-coenzyme a stimulates autophagy and prolongs lifespan. Cell Metab 19(3):431–444 Frye EB, Degenhardt TP, Thorpe SR, Baynes JW (1998) Role of the Maillard reaction in aging of tissue proteins. Advanced glycation end product-dependent increase in imidazolium cross-links in human lens proteins. J Biol Chem 273(30):18714–18719 Gafni A (1997) Structural modifications of proteins during aging. J Am Geriatr Soc 45(7):871–880 Lippert H, Gastinger I (1993) Prospektive Studie zur Appendizitis. Chir Gastroenterol 9:210–213 Longo VD, Mattson MP (2014) Fasting: molecular mechanisms and clinical applications. Cell Metab 19(2):181–192 Mariño G, Pietrocola F, Eisenberg T et  al (2014) Regulation of autophagy by cytosolic acetyl-coenzyme A. Mol Cell 53(5):710–725 Mizushima N, Ohsumi Y, Matsui et  al (2004) In vivo analysis of autophagy in response to nutrient starvation using transgenic mice expressing a fluorescent autophagosome marker. Mol Biol Cell 15:1101–1111 Nobelförsamlingen (The Nobel Assembly at Karolinksa Institutet) (2016) The Scientific Background for the Noble Prize 2016 in Physiology or Medicine to Yoshinori Ohsumi, Karolinska Institutet. https://www. nobelprize.org/nobel_prizes/medicine/laureates/2016/advanced-medicineprize2016.pdf. Zugegriffen am 23.06.2018 Pedersen CR, Hagemann I, Bock T, Buschard K (1999) Intermittent feeding and fasting reduces diabetes incidence in BB rats. Autoimmunity 30(4):243–250 Sartor H (2017) Nobelpreis der Medizin 2016: Was bedeutet Autophagy für die Praxis? OM & Ernährung 158

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519 Diagnostik und Therapie nach F. X. Mayr

Rauch E (2011a) Die Darmreinigung nach Dr. med. F.X.  Mayr: Wie Sie richtig entschlacken, entsäuren und ein ganz neues Lebensgefühl gewinnen, 43. Aufl. Trias, Stuttgart Rauch E (2011b) Die F.X. Mayr-Kur und danach gesünder leben: Richtig entschlacken, den Darm sanieren und die passende Ernährung für sich entdecken. Trias, Stuttgart Rauch E (2015) Lehrbuch der Diagnostik und Therapie nach F.X.  Mayr. Kriterien des Krankheitsvorfeldes, der Gesundheit und Krankheit, 4.  Aufl. Thieme, Stuttgart Werner B (1998) Leitfaden zu F.X. Mayr-Kur und zu ergänzenden Verfahren der biologischen Medizin. Haug, Stuttgart Winkler M (1989) Regeneration und Funktionsverbesserung von Zellen durch ärztlich kontrolliertes Fasten. Biol Med 4

22

Witasek A (1996) Auswirkungen eines basischen Mineralstoffgemisches auf den Organismus während standardisierter Ernährungsbedingungen im Sinne einer Therapie nach Dr. F.X. Mayr. Erfahrungsheilkunde 8 Witasek A (1998a) Veränderungen von Beschwerdebildern, klinischen Meßdaten und Laborbefunden durch eine Therapie nach Dr. F.X.  Mayr. In: Bachmann R, Saller R (Hrsg) Naturheilverfahren in der Praxis. Perimed-Spitta, Balingen Witasek A (1998b) Hypertonie, eine Stoffwechselerkrankung? In: Bachmann R, Saller R (Hrsg) Naturheilverfahren in der Praxis. Perimed-Spitta, Balingen Worlitschek M (2003) Praxis des Säure-Basen-Haushaltes. Grundlagen und Therapie, 5. Aufl. Haug, Stuttgart

521

Neuraltherapie – Grundlagen und Anwendung Kurt Gold-Szklarski, Wolfgang Ortner und Johanna Osztovics 23.1

Definition und historischer Überblick – 522

23.2

Regulationsmedizin – 522

23.2.1 23.2.2 23.2.3

 llostase – 523 A Pathologische Regulationszustände – 524 Störfeld – 525

23.3

Holistische Diagnostik – 526

23.3.1 23.3.2

T rigger und Triggerstraßen – 528 Das diagnostische Procedere: Anamnese – Inspektion und Palpation – Funktionsprüfung – 528

23.4

Injektionstherapie mit Lokalanästhetika – 530

23.4.1 23.4.2 23.4.3

 euraltherapeutische Injektionstechniken – 531 N Vorgehen bei der Injektionstherapie – 532 Therapieplanung – 532

23.5

I ndikationen, Kontraindikationen und Nichtindikationen – 533

23.6

Fallbeispiel – 534

23.7

Einschätzung der Methode – 535

23.8

Studien, Evidenzlage – 535

23.9

Das österreichische Ausbildungssystem – 537 Literatur – 538

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_23

23

522

K. Gold-Szklarski et al.

23.1  Definition und historischer

Überblick

Neuraltherapie - Neuraltherapie ist eine Be-

23

handlungsmethode, die sich während der letzten 100 Jahre in Europa entwickelt hat. Sie basiert auf der Beobachtung besserer Wundheilung nach operativen Eingriffen in Lokalanästhesie und unerwarteter regulativer Effekte als Folge von anästhesiologischen Behandlungen. Die Neuraltherapie integriert Erkenntnisse der Akupunktur und der manuellen Medizin und wird daher auch als „abendländische Akupunktur“ bezeichnet. Sie ist ein holistisches Diagnose-und Therapieverfahren mittels Lokalanästhetika, eine Form von Regulationstherapie und Methode der ersten Wahl zum Erkennen und Ausschalten von Störfeldern.

Die Neuraltherapie ist untrennbar mit den Namen der Brüder Ferdinand und Walter Huneke verbunden. Sie hatten 1925 ihrer migränekranken Schwester irrtümlich ein procainhaltiges Rheumamittel intravenös statt intramuskulär gespritzt und konnten so ihren Migräneanfall kupieren. Durch weitere Nachbehandlungen konnte sie mit Dauerwirkung geheilt werden. Der nächste Meilenstein war die Entdeckung des Störfeldes. 1940 entdeckten die Brüder Huneke, dass die Schulterschmerzen einer Patientin von einer Osteomyelitisnarbe am Unterschenkel, dem „Herd“, herrührten, nachdem aufgrund einer Behandlung der Narbe mit Lokalanästhetika die Beschwerden schlagartig verschwanden (Entdeckung des „Sekundenphänomens“). Dass Lokalanästhetika neben ihrer anästhetischen Wirkung auch positiven Einfluss auf die Wundheilung haben, war schon vor mehr als 100 Jahren von Gustav Spiess beschrieben worden (Spiess 1902). Diese Arbeiten gerieten jedoch in Vergessenheit. Erst durch die Brüder Huneke wurde diese Methode weiterentwickelt und breit angewendet. Peter Dosch hat in seinen Arbeiten verstärkt auf die Aktivierung von Selbstheilungsmechanismen durch die Wirkung über das neurovegetative System hingewiesen (Dosch 1995). Den Schritt von der Statik zur Dynamik machte Otto Bergsmann (. Abb. 23.1) mit der Veranschaulichung der Regulationsprinzipien, die auch in den 1930er-Jahren schon formuliert worden waren (Bergsmann und Bergs 

..      Abb. 23.1  Otto Bergsmann (© Bildarchiv der ÖNR, mit freundlicher Genehmigung)

mann 1988). Außerdem hat Bergsmann durch die präzise Darstellung der reflektorischen Krankheitszeichen neue Wege des therapeutischen Zugangs ermöglicht und durch seine unermüdliche Lehrtätigkeit viele Kollegen von der Methode überzeugt. Nicht zuletzt war es Alfred Pischinger, der das alle Zellen umgebende Milieu (extrazelluläre Matrix, Grundsystem, 7 Kap.  8) als wesentlichen Informationsträger erkannt hat (Pischinger 1975). Die Vereinigung dieser wissenschaftlichen Erkenntnisse hat zu einem ganzheitlichen Diagnose- und Therapieansatz geführt.  

23.2  Regulationsmedizin

Um den Begriff der Regulationstherapie verständlich zu machen, ist ein Abriss über die Grundzüge der Regulationsmedizin erforderlich. Regulationsmedizin verlässt das lineare Ursache-Wirkungs-Denken der konventionellen universitären Medizin und beschäftigt sich mit den permanent ablaufenden Adaptationsmechanismen im Organismus. Dies sind lebensnotwendige Anpassungsvorgänge an ständig wechselnde äußere und innere Bedingungen. Der Körper ist als offenes thermodynamisches System zu ständigem Austausch von Energie und Materie mit der Umwelt gezwungen. Stabile energetische Verhältnisse sind gleichzusetzen mit seinem Tod. Die Exposition an wechselnde äußere Verhältnisse ist auch erforderlich, um das System zu trainieren

523 Neuraltherapie – Grundlagen und Anwendung

(allostatische Exposition). Dies wird durch gezieltes Setzen von Temperaturreizen auch therapeutisch in der Kurmedizin, der Klimakammer und der physikalischen Medizin genutzt. Regulationsmedizin - Zusammenfassung aller Heilmethoden, die die Erkenntnisse der Biokybernetik (s. unten) in ihr Konzept integrieren. Gemeinsame Eigenschaft dieser Methoden ist, dass sie körpereigene Anpassungsmechanismen fördern, dabei aber die Art der Reaktion primär offen lassen. Der Organismus wird mit einem unspezifischen Reiz konfrontiert und kann je nach Regulationslage mit Verbesserung, mit passagerer Verschlechterung oder gar nicht reagieren (Regulationsstarre).

Biokybernetik - Wissenschaft, die die Regulationsvorgänge in komplexen Systemen erforscht. Sie beschäftigt sich mit allen dynamischen Systemen, in denen durch Übertragung, Verarbeitung und Rückkopplung von Informationen Selbstorganisation stattfindet.

1934 schrieb K.  Goldstein über die „organismische Selbstregulation“ in der Auseinandersetzung des Körpers mit der Umwelt:

»» „Für den Organismus besteht die Notwendigkeit, dass jede, durch die Umweltreize gesetzte Veränderung des Organismus in einer bestimmten Zeit sich wieder ausgleicht, so dass der Organismus wieder in jenen ‚mittleren‘ Zustand der Erregung, der seinem Wesen entspricht, diesem adäquat ist, zurückgelangt.“

Weiter:

»» „Eine genauere Beobachtung lehrt, dass

die auf einen Reiz erfolgende Reaktion nicht nur variieren kann, sondern dass der Vorgang sich nie in der isolierten Reaktion erschöpft, dass vielmehr immer in verschiedener Weise weitere Gebiete, ja der ganze Organismus an der Reaktion beteiligt sind.“ (Goldstein 1934)

zz Wichtige Begriffe zum Verständnis ­biokybernetischer Vorgänge Homöostase - Ein durch Kreisprozesse erzielter Gleichgewichtszustand des Organismus zur Erhaltung von Stabilität bei wechselnden inneren und äußeren Bedingungen. Kleinste Einheit zur Erhaltung des Gleichgewichtszustands ist der Regelkreis.

23

Feedback - Beeinflussung eines Geschehens durch die steigernde oder dämpfende Rückwirkung der Folgen auf seinen Verlauf. Unterschieden werden negative Rückkopplung (Feedback-Hemmung, z. B. Thy­ roxin – TSH), positive Rückkopplung (Entzündungskaskaden) und Kombinationen beider Möglichkeiten (Gerinnungssystem). Folge der positiven Rückkopplung (Iteration) ist, dass durch winzige Änderungen der Ausgangsbedingungen oder nur einer Variablen das dynamische System nach mehrmaligem Durchlaufen der Feedback-Schleife in eine völlig neue Organisationsstufe gelangen kann (Selbstorganisation). Ökonomie - Beantwortung jedes Reizes auf einer seiner Bedeutung zugeordneten Ebene des Regulationssystems unter minimalem Energie- und Zeitaufwand. Schwingungsfähigkeit - Nichtlineare Anpassung an einen gesetzten Reiz. Im Idealfall reagiert der Organismus mit einer Sinusschwingung (Reiz → Reizantwort → Dämpfung → Antwort → Dämpfung usw. bis zur Stabilität), im pathologischen Fall kann eine überschießende oder eine zu geringe Reizantwort resultieren oder jede Reaktion unterbleiben.

Allostase - Physiologische Adaptationsmechanismen, die den zu kontrollierenden Parameter so variieren, dass er sich den antizipierten Anforderungen anpasst. Das Prinzip der Allostase beschreibt den physiologischen Idealvorgang. Durch allostatische Exposition werden alle Regulationssysteme trainiert, und das Ökonomieprinzip kann so verwirklicht werden.

23.2.1  Allostase

Allostase bezieht sich auf ein Netzwerk von interagierenden Mediatoren, deren zielgerichtete und passagere Veränderungen dauerhafte Stabilität bewirken. Ein leicht verständliches Beispiel dafür ist die Thermoregulation: Der Organismus muss sich an verschiedene Außentemperaturen anpassen, wobei die Kerntemperatur in einem sehr engen Bereich konstant gehalten wird. Andererseits ist Fieber eine sinnvolle Sollwertveränderung der Kerntemperatur im Rahmen immunologischer Prozesse, die wiederum Adaptation erfordert. Ein weiteres Beispiel stellt die Anpassung der Herzfrequenz an Aktivität dar. Die Sensoren (Propriorezeptoren, Chemorezeptoren) melden unter Belastungsbedingungen eine Bedarfssteigerung, es erfolgt eine Verschiebung der Zielparameter, die Herzfrequenz steigt an.

524

K. Gold-Szklarski et al.

Sistieren die Signale, dann erfolgt unter physiologischen Bedingungen die Rückführung der Zielparameter in die Ruhelage, und die Herzfrequenz normalisiert sich wieder.

23

Primäre Mediatoren der Allostase (McEwen und Wingfield 2003) 55 Systemisch: ȤȤ Glukokortikoide, DHEA (Dihydroepiandosteron), Katecholamine, Zytokine (IL-6, TNF-α), Thyroxin, Insulin, Leptin, Hypophysenhormone 55 Gewebsfaktoren: ȤȤ CRH (Kortikotropin-Releasing-Hormon), EAA (excitatory amino acids), Monoamine, GABA (γ-Aminobuttersäure), Glycin, Neuropeptide (Neuropeptid Y, CCK, Substanz P, Enkephalin, Dynorphin), Zytokine (TNF-α, IL-1, Il-6, Il-4, Il-10, IFN-γ)

23.2.2  Pathologische

Regulationszustände

Die vernetzte Aktivität sämtlicher Subsysteme der Regulation bietet ein hohes Maß an Kompensationsfähigkeit, ist aber aufgrund der Komplexität störanfällig. Dabei ist eine Störung in der Regel anfangs oligosymptomatisch, weil die Kompensationsmechanismen zu diesem Zeitpunkt noch effektiv sind, im Hintergrund ablaufen und sich der Wahrnehmung entziehen. Wird das Ziel der Abwehrstrategien nicht rechtzeitig erreicht, so kann das System nur durch erhöhten Energieaufwand stabilisiert werden. Es entsteht eine Dysbalance zwischen noxischen und protektiven Faktoren. Daraus folgt, dass es je nach Dauer der Exposition zu rein temporären funktionellen Anpassungsvorgängen kommen kann, die mit der Elimination der Noxe wieder sistieren (allostatische Situation), oder zu chronischen Verlaufsformen, wenn eine Beseitigung der Störungsursache über längere Zeit nicht gelingt (allostatische Belastung).

Allostatische Situation - Prinzipiell reversible Störung der regulatorischen Systeme, die mit exzessiver Produktion bestimmter Mediatoren und inadäquater Produktion anderer Faktoren einhergeht (z. B. die chronische Steigerung inflammatorischer Zytokine und niedriger Kortisolspiegel beim Chronic-Fatigue-Syndrom) (McEwen und Wingfield 2003).

Allostatische Belastung - Kumulative pathophysiologische Veränderungen oder Symptome, die durch einen lang andauernden Verbleib in einer allostatischen Situation durch Überbeanspruchung allostatischer Mechanismen entstehen (McEwen und Wingfield 2003).

Eigenschaften der allostatischen ­Situation – reversivel 55 Erhöhte Spiegel proinflammatorischer Zytokine 55 Überschießender oder abgeschwächter zirkadianer Rhythmus der Kortisolproduktion 55 Erhöhte nächtliche Kortisolausschüttung 55 Niedrige DHEA-Kortisol-Ratio 55 Erhöhte nächtliche Katecholaminausschüttung 55 Abnormer Insulinspiegel

Folgen allostatischer Belastung – irreversibel (McEwen und Wingfield 2003) 55 ZNS: regionale Hirnatrophie, kognitive Beeinträchtigung 55 Kardiovaskulär: Arteriosklerose, ventrikuläre Hypertrophie, Zeichen für oxidativen Stress (Peroxidbildung in den Endothelzellen, dadurch Relaxationsstörung der Gefäßwand) 55 Immunsystem: Verzögerte Wundheilung, verzögerte immunologische Antworten, Chronic-Fatigue-Syndrom und Schmerz 55 Metabolisch: erhöhtes HbA1c, abdominale Fettansammlung, ungünstiges HDL-LDL-Verhältnis, Abnahme der Knochendichte

525 Neuraltherapie – Grundlagen und Anwendung

Chronifizierter Schmerz ist in diesem Kontext Ausdruck einer persistierenden insuffizienten Anpassungsreaktion. Er resultiert wie jeder Schmerz primär aus der überschießenden Freisetzung noxischer Gewebsfaktoren („Entzündungssuppe“) und der Apperzeption durch den Organismus. Durch das Verharren einer erkrankten Region in permanenter Allostase kommt es zu degenerativen Veränderungen (Entzündung → Nekrose, Fibrosierung, Kalzifikation), und die Erkrankung entwickelt sich von einer rein funktionellen zur morphologisch erfassbaren Veränderung. Das gemeinsame Gesetz von Schmerz und Entzündung (Omoigui 2007) 55 Die verschiedenen Mediatoren der Entzündung sind in unterschiedlichen Konzentrationen bei allen Schmerzsyndromen vorhanden und letztendlich verantwortlich für die Schmerzentstehung 55 Jedes Schmerzsyndrom zeigt ein eigenes spezifisches dynamisches inflammatorisches Profil 55 Entzündung kann auch ohne strukturelle Veränderungen, die mit den derzeit verfügbaren bildgebenden Verfahren erfassbar sind, bestehen 55 Entzündung und Entzündungsreaktionen produzieren immer strukturelle Veränderungen und umgekehrt 55 Die Mechanismen für Wind-up, zen­ trale Sensibilisierung und Neuroplastizität sind integrierender Bestandteil der Entzündung

23.2.3  Störfeld

Der Begriff allostatische Belastung beschreibt einen pathophysiologischen Vorgang. Bei Verläufen mit ausreichender Intensität/Dauer entstehen dabei subjektiv wahrnehmbare Beschwerden und deutliche Erkrankungszeichen (manifeste Erkrankung). Dieselben Mechanismen existieren in geringerer Intensität in Regionen, in denen durch gestörte Abheilungsvor-

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gänge entzündliche Residuen verblieben sind. Dies führt zum viel diskutierten Begriff des Störfelds, der für die Neuraltherapie von zentralem Interesse ist. Zur Begriffsbestimmung: Herd - Ein Herd steht für ein entzündliches Geschehen, dessen Pathogenität ausreicht, um eine manifeste Erkrankung zu verursachen. Er ist in der Regel keimbesiedelt und induziert die Erkrankung entweder lokal (Abszess, Phlegmone, Empyem) oder durch hämatogene Streuung. Selbstverständlich führt solch ein Herd auch zu Regulationsstörungen, wie sie für Störfelder beschrieben sind. Gegenüber reinen Störfeldern zeichnet er sich jedoch zusätzlich dadurch aus, dass er über ausreichend Potenzial verfügt, um eine Erkrankung direkt zu starten (Beispiele: Tonsillitis, Karditis, Pulpitis, Spondylodiszitis). Da ein Herd vom Patienten selbst und auch vom Arzt wahrgenommen wird, wird ihm die nötige Aufmerksamkeit seitens des Immunsystems und der Therapeuten zuteil. Es bestehen also gute Chancen für dessen Elimination, und das System kann im Idealfall wieder in die Ausgangslage zurückschwingen.

Störfeld - Jeder Prozess im Körper, bei dem eine lokale Dysfunktion einer Region zu Regulationsstörungen des gesamten Organismus führt. Die Antwort des Organismus ist vorerst eine lokale lymphozytär-­ plasmozytäre Infiltration und Desaggregation der Grundsubstanz um nichtabbaubares Material (Fremdsubstanzen oder alterierte körpereigene Stoffe), aber auch in funktionsgestörten Segmenten des Bewegungsapparats! Das Störfeld im engeren Sinn ist keimfrei (Beispiel: Cholezystektomie-Narbe → rechtsseitiges Schulter-Arm-Syndrom).

Häufige Störfelder sind 55 Narben (nach Operationen, Trauma, Impfung, Pyodermien), 55 wiederholt erkrankte Organe (rezidivierende Tonsillitis, Otitis, Sinusitis etc.), 55 Erkrankungen des Zahn-Mund-Kiefer-­ Bereichs, 55 ossäre, ligamentäre, arthrogene Erkrankungen oder Traumafolgen. Das Störfeld versetzt den Organismus in eine allostatische Situation, die prinzipiell bis zu dessen Elimination bestehen bleibt. Es wird aber durch seine geringe bzw. fehlende Symptomatik von Patient und Arzt kaum wahrgenommen, bestehende Beschwerden werden in keinen Kausalzusammenhang dazu gebracht. Es hat dadurch die Chance, über lange Zeit auf den Organismus einzuwirken, und dieser muss per-

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K. Gold-Szklarski et al.

manent Kompensationsarbeit leisten. Bildlich gesprochen, ist er abgelenkt und reduziert somit seine immunologische Kompetenz. Dies führt zu erhöhter Empfänglichkeit für Folgeerkrankungen, die Kompensationsarbeit führt über ein Energiedefizit zu degenerativen Veränderungen. Schließlich wird das gesamte System labilisiert, und banale Reize können eine heftige Erkrankungssymptomatik auslösen (Zweitschlag nach Speranski. Beispiel: Zervikalsyndrom nach Autofahrt bei geöffnetem Fenster; Speranksi 1950). 23.3  Holistische Diagnostik Ziele der neuraltherapeutischen ­Diagnostik 55 Erfassen von Störungen und deren topographische Zuordnung (Segment, Nachbarstrukturen, Quadrant, ­Hemisphäre) 55 Erfassen von Irritationsfaktoren (Störfeld) und deren Projektionszeichen 55 Exploration der Stellen, an denen eine wirksame Behandlung ansetzen muss >> Die Therapielokalisation kann mitunter weit vom Locus dolendi entfernt sein.

Der Neuraltherapeut achtet auf Zeichen und Veränderungen, die üblicherweise übersehen oder als Bagatelle eingestuft werden. Die Methode versteht sich als holistisch, da die Aufmerksamkeit auf die Beziehung zwischen dem fokussierten Organ (bzw. Körperregion) und dessen Kontext (=  gesamter Organismus) gerichtet ist. Das ist unerlässlich, da Störfelder im gesamten Körper vorkommen und auch über weite Distanzen kausale Beziehungen zu aktuellen Syndromen haben können (Beispiel: Narbe am Unterschenkel → Migräne). Auch funktionelle oder strukturelle Veränderungen können sich am Symptom beteiligen, obwohl sie entfernt vom fokussierten Geschehen lokalisiert sind. Infolgedessen ist der Ort, an dem der Patient Schmerz angibt, nur selten gleichzusetzen mit der Therapielokalisation. Der Therapeut

sucht also nach Beziehungen zwischen dem aktuellen Zentrum der Beschwerden und assoziierten, meist oligosymptomatischen funktionellen oder strukturellen Veränderungen. Die komplexe Vernetzung des Organismus über neuronale, humorale, chemische, elektrische und physikalische Faktoren führt zu permanentem Informationsaustausch aller Strukturen untereinander. Jede Stelle des Körpers ist zu jedem Zeitpunkt über jeden Vorgang im Organismus informiert, auch wenn sie nicht aktiv beteiligt ist. Dieses komplexe System vollständig zu verstehen, ist unmöglich. Daher bedient man sich didaktischer Reduktionsmodelle. kSegmentregulatorischer Komplex nach Bergsmann

Dieser stellt ein wesentliches Modell für die Segmentdiagnostik dar und verdeutlicht die Verschaltung sämtlicher von einem Spinalnerven versorgter Strukturen und ihre Beziehung zum sympathischen Grenzstrang (. Abb.  23.2). Alle inneren Organe sind über den sympathischen Grenzstrang sensorisch und effektorisch an die Rückenmarksegmente angeschlossen. Auch die zu den metameren Segmenten gehörenden Bindegewebsformationen, Drüsen, Gefäße etc. sind auf die gleiche Art integriert. Bei Veränderung eines Sub­ strats werden alle übrigen angeschlossenen Segmente gleichsinnig umgestellt. Dies wird in der Neuraltherapie ausgenutzt.  

kBewegungssegment

Der von Junghanns geprägte Begriff beschreibt die Einheit von Dermatom, Myotom, Sklerotom, Neurotom und Enterotom (. Abb.  23.3), was auf der Embryonalentwicklung der Ursegmente und ihrer weiteren Reifung beruht. Sämtliche Partnerstrukturen behalten zeitlebens ihre Verwandtschaft als spinale Peripherie und reagieren bei Erkrankung einer Struktur ebenfalls mit pathologischem Verhalten.  

kProjektionszeichen

Es lassen sich sowohl von inneren Organen als auch von Gelenken ausgehende Projektionszeichen und die daraus resultierenden Mus-

23

527 Neuraltherapie – Grundlagen und Anwendung

HAUT Gefäße, Muskel Sympathischmotorisches Neuron

Somatomotorisches Neuron Sensorischsymphatisches Neuron sympathischmotorisches Neuron

RCG RCA

SOMATISCHER MUSKEL

ORGAN Grenzstrang ..      Abb. 23.2  Segmentregulatorischer Komplex nach O. Bergsmann. RCG Ramus communicans griseus, RCA Ramus communicans albus. (© Bildarchiv der ÖNR, mit freundlicher Genehmigung)

Gelenk Ligamente

Gelenkkapsel

Muskulatur

Sehnen

Bindegewebe

Vegetativum

lymphatisches System

Gefäßsystem

hormonelles System

Sinnesorgane PNS

Psyche

ZNS

..      Abb. 23.3  Bewegungssegment nach Junghanns. PNS peripheres Nervensystem, ZNS zentrales Nervensystem. (© Bildarchiv der ÖNR, mit freundlicher Genehmigung)

kelfunktionsketten feststellen (. Abb.  23.4), wobei erstere an spezifische Hautareale vorwiegend am Rumpf projizieren (Headsche  

Zonen) und letztere als referred pain Ausstrahlungsschmerzen in typischen peripheren Regionen verursachen.

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K. Gold-Szklarski et al.

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..      Abb. 23.4  Projektion des Herzens. (© Bildarchiv der ÖNR, mit freundlicher Genehmigung)

..      Abb. 23.5  Triggerstraße des M. glutaeus medius. (© Bildarchiv der ÖNR, mit freundlicher Genehmigung)

kStörfeldverdächtige Areale

Auch diese können durch die Palpation eingeschätzt werden, da sie die gleichen Projektionszeichen aussenden wie aktuell erkrankte Organe, jedoch in abgeschwächter Form.

Das System der myofaszialen Trigger stellt ein Modell zum Verständnis von Schmerzsyndromen und der kinetischen Ketten dar, die als Leitstrukturen der pseudoradikulären Schmerzausstrahlung von Bedeutung sind.

23.3.1  Trigger und Triggerstraßen

23.3.2  Das diagnostische

Trigger - Maximal hyperalgetische Muskelareale. Angesprochene Trigger stehen unter dauernder Spannung und sind gegenüber einfallenden Nervenimpulsen hyperreaktiv. Wird Druck auf sie ausgeübt, so leiten sie den resultierenden Schmerz in eine voraussagbare Übertragungszone (referred pain). Häufig (zu 70 %) sind sie kongruent mit Akupunkturpunkten.

Triggerpunkt - In der Neuraltherapie handelt es sich immer um myofasziale Trigger. Myofasziale Trigger sind sensorische Maximalpunkte an typischer Lokalisation der Skelettmuskulatur. Sie können diagnostisch und therapeutisch genutzt werden.

. Abb. 23.5 zeigt die Triggerstraße des M. glu 

taeus medius.

Procedere: Anamnese – Inspektion und Palpation – Funktionsprüfung

Die neuraltherapeutische Diagnostik basiert in erster Linie auf einer speziellen Form der Anamnese, der Inspektion und Palpation, der Funktionsprüfung und der diagnostischen Injektion. Bildgebende Verfahren und Laboruntersuchungen ergänzen das diagnostische Procedere, gelegentlich können zur Differenzierung weitere elektrophysiologische Testverfahren oder Thermoregulationsmessungen herangezogen werden (Elektroakupunktur,

529 Neuraltherapie – Grundlagen und Anwendung

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Infrarotthermographie). Diese Verfahren haben alle hinweisenden Charakter, liefern aber aufgrund ihrer Störanfälligkeit keine harten Fakten.

Anamnese Die Kernfragen bei der Anamneseerhebung lauten: 55 Welche Beschwerden liegen vor? 55 Welche Funktionsstörung löst die Beschwerden aus? 55 Wo liegt der mögliche Starter dieser Funktionsstörung?

Kriterien, die durch die Anamnese ­erfasst werden 55 Aktuelle Beschwerden und das Ausmaß der Beeinträchtigung der Lebensqualität 55 Schmerzquantifizierung und Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigung 55 Darstellen einer Entstehungskaskade durch störfeldbezogene Anamnese ab dem Zeitpunkt der Geburt (Vorerkrankungen, Labilisierung des Systems, Resistenzminderung für Sekundärerkrankungen) 55 Ausmaß und Art vegetativer Begleiterscheinungen als Indikator für das Fortschreiten der Regulationsstörung 55 Psychosozialer Status 55 Risikobeurteilung, Komedikation, Indikationsstellung, Kontraindikationen

Inspektion und Palpation >> Die neuraltherapeutische Palpation unterscheidet sich von herkömmlichen oder z. B. von orthopädischen Palpationstechniken dadurch, dass versucht wird, Schichten der Körperoberfläche zu unterscheiden.

Dabei wird wie folgt vorgegangen: 55 Zuerst muss sehr zart die Haut bestrichen werden, um ihren Funktionszustand zu erfassen (Hautstrich).

..      Abb. 23.6  Hautfaltentechnik nach Kibler. (© Bildarchiv der ÖNR, mit freundlicher Genehmigung)

55 Der nächste Schritt ist die Bindegewebspalpation, bei der die obere Subkutis erfasst wird (kleine Dellenbildung in der Haut) (Bindegewebsstrich). 55 Es folgt die Untersuchung der tieferen Subkutis mit der Hautfaltentechnik nach Kibler (. Abb. 23.6). 55 Der nächste Schritt ist die Muskelpalpation, bei der schon mehr Druck ausgeübt und mit kreisenden Fingerbewegungen versucht wird, die einzelnen Muskeln und ihre Maximalpunkte zu erfassen. 55 Erst danach erfolgen die Schmerzpalpation an Knochenvorsprüngen oder Muskelmaximalpunkten sowie die Perkussion und die passive Funktionstestung.  

Kriterien, die bei der Inspektion und Palpation erfasst werden 55 Beeinträchtigung der Haltung, Symmetrie, Gangbild, Mimik, energetischer Zustand, Krümmungsanomalien der Wirbelsäule, Residuen nach Verletzung oder Eingriffen 55 Veränderungen von Haut, Subkutis, Muskulatur und ihre segmentale Zuordnung 55 Projektionssymptome und ihre Zuordnung zu Organen und zu Elementen des Bewegungsapparats 55 Funktionsbeeinträchtigung von Elementen des Bewegungsapparats

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K. Gold-Szklarski et al.

Diagnostische Injektion und ­Palpationskontrolle

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Ein gutes Maß für die Wirkung der Injektionstherapie ist die Prüfung des Quellungszustands der extrazellulären Matrix (Heine 2007), der vorwiegend in der Subkutis erfasst werden kann. Es handelt sich um eine plötzliche Zustandsänderung der kolloidalen Struktur als Folge einer effektiven therapeutischen Maßnahme. Dies macht die Kontrolle des Therapieeffekts durch Palpation möglich. Die plötzlichen Veränderungen des Quellungszustands können durch segmentalreflektorische Beziehungen zum ursprünglichen Starter eines Syndroms in Beziehung gebracht werden. Somit kann die Injektion von Lokalanästhetika für eine kausale Diagnostik verwendet werden. Kriterien, die durch diagnostische Injektion von Lokalanästhetika erfasst werden 55 Zuordnung segmentaler Symptome zur Gesamterscheinung des aktuellen Syndroms 55 Bewertung möglicher Störfeldwirkung im Rahmen des Syndroms 55 Abschätzen der Regulationsfähigkeit des Organismus 55 Differenzierung funktioneller Anteile durch Aufdeckung ihrer Reversibilität 55 Erkennen von somatischen Engrammen, die das Allgemeinbefinden, die vegetative Regulation und die psychische Stabilität beeinträchtigen 55 Erfolgreiche Vermeidung der Fehldiagnose einer psychosomatischen bzw. somatoformen Störung

Die Diagnose „somatoforme Störung“ wird nicht grundsätzlich angezweifelt. Regulationsmediziner erleben jedoch in der Praxis wiederholt Fälle, in denen ursprünglich eine solche Diagnose gestellt wurde, sich die Beschwerden schließlich aber als rein somatisch entschlüsseln ließen. Die Kenntnis funktioneller somatischer Diagnostik ist zur Diagnosefindung ebenso erforderlich wie psychologisches und psychosomatisches Wissen.

Funktionsprüfung Ein Vorteil dieses diagnostischen Vorgehens im Rahmen der Schmerzmedizin ist das sofortige Erfassen von funktionellen Störungen ohne aufwändige apparative Diagnostik. Bei Patienten mit akuten Beschwerden kann somit schnell mit einer Therapie begonnen werden, auch wenn die gesamte Diagnostik noch nicht abgeschlossen ist (Ausnahme: Vorliegen einer Kontraindikation, 7 Abschn.  23.6). Veränderbare Anteile des Beschwerdebildes können von strukturellen differenziert werden. Außerdem können Beschwerden zugeordnet werden, die in segmentaler oder suprasegmentaler Beziehung zum Lokalbefund stehen. Fernstörungen durch muskuläre, arthrogene oder Faszienbeziehung können aufgedeckt werden. Bei einer Reihe von Störfeldern kann eine Beziehung zum Syndrom detektiert werden, obwohl der Übertragungsweg nicht erklärbar ist. Durch das sympathische Nervensystem und die extrazelluläre Matrix vermittelte Beziehungen werden diskutiert.  

23.4  Injektionstherapie mit

Lokalanästhetika

Verblüffende Beobachtungen aus der Anfangszeit der Lokalanästhesie führten zu einer Reihe von Erklärungsversuchen für die Wirkung der neuraltherapeutischen Injektion (Barop 1996; Hahn-Godeffroy 1991, 2002; Hoff 1954, 1963; Hopfer und Hopfer 1990). 55 Da Lokalanästhetika verwendet werden, wurde der anästhesiologische Effekt über lange Zeit als wichtigster Therapieeffekt bewertet. Lokalanästhetika antagonisieren alle Effekte der peripheren Sensibilisierung, wirken der Nozizeption und afferenten Schmerzweiterleitung entgegen und blockieren schon in geringer Dosierung die Übertragung in vegetativen Fasern, die für die Chronifizierung von Schmerz eine wichtige Rolle spielen (Setzen eines Differenzialblocks). 55 Eine weitere viel zitierte Erklärung ist der Sticheffekt, welcher eine Parallele zur Akupunkturwirkung aufweist.

531 Neuraltherapie – Grundlagen und Anwendung

23

55 Unbestritten ist bei der Wirkung der neuraltherapeutischen Injektion die zentrale Rolle des vegetativen Nervensystems. Sämtliche Modelle scheitern jedoch bei dem Versuch, die Wirkung einer Störfeldumflutung auf die Verbesserung im Immunsystem (Behandlung chronischer Entzündung) oder auf eine psychische Symptomatik (Behandlung von Panikstörung, Insomnie, depressiver Verstimmung etc.) darzustellen. Der wesentliche Unterschied zwischen der Störfeldumflutung und der therapeutischen Lokalanästhesie liegt in der Wirkdauer. Bei der Verwendung kurzwirksamer Substanzen (Procain, Lidocain, Halbwertszeit deutlich > Einhalten der Nachbeobachtungszeit!

Bei der Zweitkonsultation wird die Vorgehensweise an die anamnestischen und funktionellen Veränderungen angepasst; also muss ggf. eine neue Arbeitshypothese erstellt werden. Bildgebende und laborchemische Resultate werden integriert, die Medikation angepasst. Die Planung der weiteren Therapieintervalle resultiert aus dem Ansprechverhalten des Patienten und dem Ergebnis der Kontrolluntersuchung, d.  h., der neuerlichen Inspektion, Palpation und Funktionsprüfung. Nach 3–4  Konsultationen kann entschieden werden, ob sich der Patient für die Fortführung der Neuraltherapie eignet (monotherapeutisch oder adjuvant). Auch zu diesem Zeitpunkt besteht nur eine hypothetische Diagnose (Der Begriff Diagnose kommt aus dem Griechischen und bedeutet „durchschauend erkennen“). Die definitive Diagnose ist erst am Ende einer erfolgreichen Therapie sozusagen im Rückblick möglich.

kSegmenttherapie

Voraussetzung für den therapeutischen Ansatz ist die exakte Palpation und Auffindung palpatorisch erfassbarer Punkte und Areale. Die Miterfassung vegetativer Anteile über die Segmentregulatorik und das Wiederherstellen der vegetativen Balance ist dabei ein entscheidender Faktor für den Therapieerfolg. 23.4.2  Vorgehen bei der

Injektionstherapie

Nach Erheben der Anamnese, Palpation und funktioneller Untersuchung kann unter Berücksichtigung der Kontraindikationen und Risikofaktoren die erste Testinjektion erfolgen. Zu diesem Zeitpunkt besteht lediglich eine hypothetische Diagnose – die „Arbeitshypothese“. Bei Bedarf wird eine analgetische Medikation verordnet, und die weiteren diagnostischen Schritte werden veranlasst. Der Patient wird über die Möglichkeit einer Erstverschlechterung aufge-

23.4.3  Therapieplanung

Die Planung des therapeutischen Vorgehens ist der schwierigste Teil. Nichtvorhersagbare Faktoren 55 Aktuelle regulatorische Situation des Patienten 55 Störungen des Regulationsverhaltens durch bestimmte Erkrankungen oder Medikation (immunsuppressive Therapie, Chemotherapeutika etc.) 55 Teilweise fehlende strukturelle Beziehungen zwischen Symptomatik und Fernstörung 55 Diffuse Beschwerden wie Müdigkeit, Leistungsknick und vegetative Irritabilität

Alles das erfordert eine dynamische Vorgehensweise in jeder Dimension:

533 Neuraltherapie – Grundlagen und Anwendung

>> Probetherapie, präzises Follow-up und die Bereitschaft des Therapeuten, zu jedem Zeitpunkt seine Strategie zu ändern, sind unbedingt erforderlich. Individuelle Beziehungsstörungen zwischen Arzt und Patient sowie psychosoziale Faktoren müssen als mögliche Hindernisse in Betracht gezogen werden.

23.5  Indikationen,

Kontraindikationen und Nichtindikationen

Wie jede Therapieform bewegt sich auch die Neuraltherapie innerhalb definierter Grenzen. Da sie eine unspezifische Therapieform darstellt, ist die Liste der möglichen Einsatzbereiche umfangreich. kKausal

Störungen oder Erkrankungen, die durch Neuraltherapie allein oder in Kombination mit Physio-, Psychotherapie, chirurgischen und diätetischen Maßnahmen, anderen regulationsmedizinischem Methoden in kurativer Weise behandelt werden können. Behandelt werden die Störungen vorwiegend auf funktioneller Ebene, ohne relevante organmorphologische Veränderungen. kSymptomatisch

Neuraltherapie als adjuvante Therapie oder Erhaltungstherapie bei bestehenden morphologischen Organveränderungen zur Steigerung der Lebensqualität, zur Funktionsverbesserung und zur Medikamentenreduktion. Jede strukturelle Störung hat einen funktionellen Anteil, auch multimorbide geriatrische Patienten können noch erheblich von Neuraltherapie profitieren!

Indikationen für Neuraltherapie 55 Kopf: Migräniformer Kopfschmerz, Spannungskopfschmerz, neuralgiforme Kopfschmerzen: Trigeminus-, Okzipitalisneuralgie, atypische Gesichtsschmerzen

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55 Augenerkrankungen: Begleitkonjunktivitis, -iritis, vasomotorische Störungen, Störungen der Lidmotorik 55 HNO Bereich: Rhinoconjunctivitis vasomotorica, akute und chronische Sinusitis, Tubenfunktionsstörungen, Otitis, Erkrankungen des Gehörgangs (auch Lokalanwendung von Lokalanästhetika) sekundärer Tinnitus, propriozeptiver Schwindel, chronische Tonsillitis und Störungen durch Tonsil­ lektomienarben, funktionelle Störungen der Phonation (Heiserkeit, Hyoidtendopathie) und des Schluckakts 55 Erkrankungen im Zahn-Kieferbereich: Devitale Zähne und deren Folgen, Veränderungen am Leerkiefer (Ostitis), Veränderungen am Zahnhalteapparat, Pathologien des Kiefergelenks 55 Schilddrüse: Vegetativ dysregulatorische Störungen – milde Hyper- und Hypothyreose, klimakterische Beschwerden 55 Thorax: Regulatorische Störungen des Herzens (Arrhythmie, labile Hypertonie), regulatorische Störungen der Lunge und der Atemmechanik, Zwerchfelldysfunktion 55 Abdomen: Funktionelle Störungen der Oberbauchorgane (Gastritis, Störung im Leber-Gallen-Bereich, exokrine Pankreatopathie), Erkrankungen des Darms auf dysregulatorischer oder chronisch-­entzündlicher Basis (Colon irritabile, chronische Appendizitis, Morbus Crohn) 55 Urogenitalerkrankungen: Kolik der Niere oder der ableitenden Harnwege, funktionelle Blasenmotilitätsstörungen, chronisch-entzündliche Erkrankungen der ableitenden Harnorgane 55 Erkrankungen des Bewegungsapparats: Funktionell bedingte Gelenkstörungen, myofunktionelle Störungen im Sinne tonisch-algetisch-pseudoradikulärer Syndrome als Folge traumatischer Einwirkung oder im Rahmen des Herd-­

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Störfeld-­Geschehens, morphologisch bedingte Störungen der Gelenke als Folge traumatischer, arthrotischer oder entzündlicher Erkrankungen, Phantomschmerz, Sudeck-Syndrom (CRPS, komplexes regionales Schmerzsyndrom) ȤȤ Funktionelle Störungen (Zervikobrachialsyndrom, Lumbalgie, Sakralgie etc.) ȤȤ Morphologische Störungen der Wirbelsäulengeometrie, Diskopathie, Vertebrostenose, Erkrankungen der Intervertebral- und Kostovertebralgelenke, Morbus Bechterew 55 Vegetative Dysfunktion: Störung der Thermoregulation, der Schweißsekretion, der Vasomotorik (= Durchblutungsstörung), Schlafstörungen, Unterstützung bei klimakterischen Beschwerden, psychisch-dysregulatorische Zustände 55 Allergische Erkrankungen: Rhinokonjunktivitis, allergisches Asthma bronchiale 55 Wundheilungsstörungen: Sekundärheilung von Operationsnarben, chronische Ulcera cruris, Keloide, Narbenstrikturen nach Verbrennung, Impfnarben

Kontraindikationen für Neuraltherapie 55 Überempfindlichkeit gegenüber Procain und Lidocain (sehr selten) 55 Herzrhythmus- und Überleitungsstörungen (AV-Block II. und III. Grades) 55 Herzinsuffizienz ab NYHA III 55 Myasthenia gravis

Nichtindikationen für Neuraltherapie 55 Genetisch bedingte Erkrankungen 55 Psychiatrische Erkrankungen 55 Systemerkrankungen, Autoimmunerkrankungen

23.6  Fallbeispiel zz Patientin, 34 Jahre, sportlich

Die Patientin leidet seit 3  Tagen an massiven Schmerzen in der Nacken-Arm-Region rechts. Anamnestisch lassen sich rezidivierende leichte Einschränkungen in diesem Bereich erheben. Es besteht Ruheschmerz, die Abduktion gelingt nur bis 30  Grad, die weitere Prüfung der Schulterbeweglichkeit ist schmerzbedingt nicht durchführbar. Die neurologische Testung verläuft unauffällig, es bestehen lediglich Kribbelparästhesien in der gesamten Hand. Einschränkung der Rotation der oberen und mittleren HWS nach rechts. Die Haut im gesamten rechten oberen Quadranten ist feucht und weist einen Dermographismus ruber auf. Triggerpunkte finden sich im M.  trapezius, M. levator scapulae, M. supraspinatus, in den Mm.  rhomboidei und im M.  pectoralis. Zwei keloidartig veränderte Narben von mehreren Zentimetern Länge über dem Akromioklavikulargelenk und über dem Dornfortsatz C7 sind Residuen nach Hämangiom-­Operationen als Säugling. Eine Vorbehandlung mit NSAR oral und i.m. durch den Notarzt war wirkungslos. Als Auslöser werden von der Patientin starkes Schwitzen nach dem Sport und Kälteexposition angegeben. Als Therapiekonzept wird wegen einer Nadelphobie der Patientin vorerst eine Probetherapie der störfeldverdächtigen Narben durchgeführt  – die alternativ mögliche Triggerpunktinfiltration wird erst sekundär erwogen. Die Patientin reagiert mit einer vagalen Kippreaktion. Nach 10 Minuten klingen diese Symptome ab, und der Arm kann schmerzfrei bis 90  Grad abduziert werden. Die vorbestehenden aktiven Triggerpunkte sind bis auf den im M. trapezius nicht mehr nachweisbar. Bei der Zweitkonsultation berichtet die Patientin über starke Müdigkeit, der Arm sei nach wie vor bis 90  Grad abduzierbar, sie sei affektlabil und weinerlich. Es werden beide Narben ein weiteres Mal unterspritzt, was nach wenigen Minuten zu völliger Schmerzbefreiung führt. Die Kopfrotation ist in allen Lagen und Richtungen frei, sämtliche trigger-

535 Neuraltherapie – Grundlagen und Anwendung

aktiven Muskeln sind daraufhin asymptomatisch, es stellt sich lediglich das Gefühl eines „Muskelkaters“ ein. Die Stimmung hellt sich ebenso schnell auf, die Patientin will sofort wieder Sport treiben und muss zurückgehalten werden. Das gute Ansprechen erlaubt es, bei dieser Konsultation Anamnese und Untersuchung zu vervollständigen. Als weitere störfeldverdächtige Region wird der Zahn  45 mit Z.  n. Wurzelspitzenresektion identifiziert. Wegen der vorliegenden Beschwerdefreiheit wird hier vorläufig keine weitere Maßnahme gesetzt. kDiagnose

Pseudoradikuläres Schulter-Arm-Syndrom als Folge einer Störfeldbelastung durch zwei Narben und ausgelöst durch Kälteexposition nach Sport. Neuraltherapie wurde hier kausal und monotherapeutisch angewendet. Eine weitere Diagnostik erübrigt sich aufgrund des schnellen Ansprechens und des auch nach Monaten anhaltenden Effekts. 23.7  Einschätzung der Methode

Neuraltherapie kann jedem Therapeuten in allen klinischen Fächern in Bezug auf Dia­ gnostik und Therapie nützen. Sie kann ohne erwähnenswerte Interaktion mit jeder anderen Methode kombiniert werden. Allerdings wird bei Reizüberflutung die Selbstorganisationsfähigkeit des Organismus blockiert! Neuraltherapie ist eine sehr gut geeignete First-line-Schmerztherapie. Sie kann unmittelbar nach physikalischer Untersuchung begonnen werden, was einer Chronifizierung ebenso entgegenwirkt wie ihre antagonistische Wirkung auf allen Ebenen der peripheren Sensibilisierung. Bei länger dauernden Störungen und auch bei chronischen Schmerzpatienten können plastische Anteile des Syndroms entschlüsselt und so zumindest eine Teilentlastung des Patienten erreicht werden. Fehleinschätzungen und fatalistische Diagnosen können in ihrer Häufigkeit reduziert werden.

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Nachteil der Methode ist der geringe prädiktive Aussagewert. Die Ergebnisse sind stark an die Schulung des Therapeuten gebunden. Daher wirkt sich hier ein Wechsel von Therapeuten, wie er im Ambulanzbetrieb gängig ist, erschwerend aus. Schäden durch Neuraltherapie werden in der Regel nicht durch methodische, sondern durch Therapeutenfehler verursacht. Die Arzt-Patient-Beziehung ist ein wichtiger Faktor. Der oft diskutierte Plazeboeffekt ist eine positive Nebenerscheinung und generell anzustreben! Durch die intensive Beziehung und den Körperkontakt bei der Untersuchung ist das Ausmaß der Zuwendung für den Patienten deutlicher spürbar als bei rein medikamentöser Schmerztherapie. Derzeit ist die Integration von Neuraltherapie in den klinischen Alltag durch zahlreiche Hindernisse erschwert: Vermeintlicher Zeitdruck, fehlende Kenntnisse über die Methode, Fehleinschätzungen bzw. Vorurteile verhindern eine flächendeckende Nutzung. Andererseits betreiben viele Kollegen täglich teilweise unbewusst Neuraltherapie, indem sie therapeutische Lokalanästhesien, Narbeninfiltrationen oder Störfeldeliminationen (Zahnextraktion etc.) vornehmen. Wäre es möglich, sämtliche Beobachtungen und Erkenntnisse zusammenzuführen, dann würde sicherlich ein für alle Beteiligten spürbarer Nutzen entstehen. Das Gesundheitssystem könnte durch weniger Fehlzuweisungen und geringere Heilmittelkosten profitieren. Eine bessere Schulung der praktisch tätigen Therapeuten und das Hinzuziehen beratender Experten scheinen für die Realisation dieser Perspektiven empfehlenswert. Durch eine breitere Anwendung könnten auch die schon lange erwünschten klinischen Daten erhoben werden. 23.8  Studien, Evidenzlage zz Forschung Dozentur für Neuraltherapie (Dr. L. Fischer), KIKOM, Universität Bern

Fischer L, Barop H, Maxion-Bergemann S: Health Technology Assessment Neuraltherapie

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K. Gold-Szklarski et al.

nach Huneke (HTA) im Rahmen Programm Evaluation Komplementärmedizin (PEK) des Schweizerischen Bundesamtes für Gesundheit. Januar 2005 (7 http://www.­neuraltherapie.­  

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hahn- godeffroy.­d e/resources/HTA$2BR e port$2BNT_200502011_smb.­pdf. ­Zugegriffen

am 25.08.2018).

kFischer und Pfister (2007)

Mit Neuraltherapie wurde zwei Dritteln der überwiesenen Patienten mit therapieresistenten chronischen Schmerzen geholfen, und bei mehr als der Hälfte konnte auch langfristig der Schmerzmittelbedarf gesenkt werden. kPfister und Fischer (2009)

Diskutiert werden neue Aspekte zum Thema neurogene Entzündung. kVergleich Neuraltherapie – konventionelle Medizin: Kostenstruktur (Bissig et al. 2008)

Die Beobachtungsstudie wurde durchgeführt am Institut für Evaluative Forschung in Orthopädischer Chirurgie (IEFO), MEM Centre, Universität Bern, Stauffacherstrasse 78, Bern, Schweiz, und am Institut für Komplementärmedizin (KIKOM), Universität Bern, Imhoof-Pavillon Inselspital, Bern, Schweiz und ist anerkannt als Dissertation an der Universität Bern. Sie befindet sich derzeit in Publikation und erbrachte folgendes Ergebnis: Bei den totalen Kosten wurde keine Differenz festgestellt, jedoch eine andere Kostenstruktur, da weniger Medikamente, weniger Physiotherapien benötigt wurden, niedrigere Laborkosen anfielen sowie die Arbeitsunfähigkeit geringer war. kVergleich Neuraltherapie – konventionelle Medizin: Patientenzufriedenheit (Mermod et al. 2008)

Die Studie wurde durchgeführt am Institut für Evaluative Forschung in Orthopädischer Chi­ rurgie (IEFO), MEM Centre, Universität Bern, Stauffacherstrasse 78, Bern, Schweiz, und am Institut für Komplementärmedizin (KIKOM), Universität Bern, Imhoof-Pavillon Inselspital,

Bern, Schweiz. Ergebnis: Festgestellt wurde eine signifikant höhere behandlungs- und versorgungsbezogene Patientenzufriedenheit in der Grundversorgung muskuloskelettaler Erkrankungen durch Ärzte, die Neuraltherapie anwenden. kVergleich Neuraltherapie – konventionelle Medizin: Struktur, Prozess und Outcome (Dönges et al. 2005)

Zugrunde liegen verschiedene Beobachtungsstudien zur Qualität der Neuraltherapie im Schweizer Gesundheitssystem. Die Durchführung erfolgte am Institut für Evaluative Forschung in Orthopädischer Chirurgie, Universität Bern (A.  Busato) und am KIKOM, Dozentur Neuraltherapie, Universität Bern (L.  Fischer). Ergebnis: Bessere, positive Behandlungseffekte und höhere Patientenzufriedenheit in der Neuraltherapie-Gruppe, ebenso geringerer Bedarf an Medikamenten und kürzere Arbeitsunfähigkeit. kDissertation zur Anwendung von Lokalanästhetika bei chronischen Schmerzpatienten (Egli et al. 2010)

Die Arbeit wurde durchgeführt an der Universität Bern und betreut durch L.  Fischer, KIKOM, Dozentur Neuraltherapie, Universität Bern, und A.  Busato, Institut für Evaluative Forschung in der Orthopädischen Chirurgie, Universität Bern. Ergebnis: Bei 78  % der Patienten wurden innerhalb eines Jahres (nach durchschnittlich 9 Behandlungen) die Beschwerden gebessert oder Beschwerdefreiheit erzielt. zz Weitere Studien

55 Weinschenk et al.; Heidelberg University Neural Therapy Education and Research Group (The HUNTER Group) (2016) zur Reduktion der Spannung des M. trapezius 55 Hui et al. (2012) zur komplementären Behandlung von Zoster-assoziiertem Schmerz 55 Atalay et al. (2013) zur Effizienz von Physio- und Neuraltherapie bei chronischer Lumbalgie

537 Neuraltherapie – Grundlagen und Anwendung

zz Fazit

Die Auswertung der im Laufe dieser Studien gewonnenen Patientendaten konnte zeigen, dass die Neuraltherapie auch bei Versagen konventioneller Therapiemaßnahmen wirkt: 55 Zwei Drittel der z. T. über Jahre frustran behandelten Rückenschmerzpatienten hatten durch Neuraltherapie alleine eine anhaltende Besserung erfahren. 55 Neuraltherapie steigert die Effizienz anderer Therapien, z. B. von Physiotherapie. 55 Neuraltherapie kann zur Reduktion der Anzahl operativer Eingriffe am Bewegungsapparat beitragen. 55 In Neuraltherapie tätige Grundversorger verursachen signifikant niedrigere Medikamentenkosten, sie weisen (nach Ausschluss der Red Flags) seltener zur Bildgebung zu. 55 Neuraltherapie senkt die Dauer rückenschmerzbedingter Krankenstände. 55 Neuraltherapeutisch versorgte Patienten sind zufriedener als rein konventionell behandelte, sie sind besser geschult in Selbstwahrnehmung und Selbstfürsorge.

23

verantwortlich. Die Ausbildung erfolgt durch ein 8  Seminare umfassendes Curriculum und wird mit einer schriftlichen und mündlichen Diplomprüfung abgeschlossen. Kollegen mit Jus practicandi erhalten ein Diplom der Österreichischen Ärztekammer. Die Seminare sind DFP-approbiert. Das Diplom wird auch von ausländischen Neuraltherapie-­Gesellschaften anerkannt. Als Auffrischung für Diplomträger ist mindestens alle 5 Jahre eine auf der Webseite der ÖNR ausgewiesene Veranstaltung zu besuchen. Die ÖNR gewährt darüber hinaus wissenschaftlichen und forensischen Support. Nur in Österreich gibt es ein von der Ärztekammer anerkanntes Diplom für Neuraltherapie. Unabhängig davon erkennen die Gesellschaften Österreichs, Deutschlands und der Schweiz untereinander die Diplome an, da die Curricula weitgehend abgestimmt sind und auch länderübergreifend unterrichtet wird. zz Adressen/Links

Österreichische Medizinische Gesellschaft für Neuraltherapie und Regulationsforschung [email protected] 7 http://www.­neuraltherapie.­at/  

k„Alternative Wirkungen“ der Lokalanästhetika

Unabhängig von der Methode wurden in den letzten Jahren die Wirkstoffe Procain und v. a, Lidocain experimentell und klinisch intensiv beforscht. Die sog. „alternativen Wirkungen“ der Lokalanästhetika auf das Immunsystem, die Komplementkaskade, das inflammatorische Profil einiger Autoimmunerkrankungen und die Reduktion von Ileus und postoperativem Schmerz in der Bauchchirurgie lassen für die Zukunft erwarten, dass das Einsatzgebiet der Neuraltherapie wachsen wird. 23.9  Das österreichische

Ausbildungssystem

In Österreich ist die Österreichische Medizinische Gesellschaft für Neuraltherapie und Regulationsforschung ÖNR für Aus- und Fortbildung

Zusammenfassung 55 Neuraltherapie ist eine diagnostische und therapeutische Methode, die mit Infiltration von Lokalanästhetika arbeitet. 55 Zentraler Begriff der Neuraltherapie ist das Störfeld: 55 Es ist ein im Gewebe lokal inapparenter Signalgeber, 55 wirkt als Störfaktor physiologischer Reizübertragung und gilt als Auslöser funktioneller Störungen, 55 begünstigt die Entwicklung von Schmerzchronifizierung und strukturellen Alterationen. 55 Die Infiltration an das Störfeld wirkt regulatorisch auf den gesamten Organismus. 55 Die Methode ist mit jeder anderen ­Therapieform kombinierbar, die Wirkung auf Schmerzsyndrome und funktionelle ­Störungen ist durch Anwendungsstudien belegt.

538

23

K. Gold-Szklarski et al.

55 Die Nebenwirkungen beschränken sich bei Durchführung lege artis auf lokale Effekte des Stiches. 55 Mit der Verwendung eines Pharmakons (­Lokalanästhetikum) und dem neurophysiologischen Ansatz der Informationsübertragung ist die Neuraltherapie in der konventionellen Medizin verankert. Die Konzepte der Regulation und Selbstorganisation sind der Komplementärmedizin zu zuordnen.

hoff, Den Haag (Neuausgabe 2014, hrsg. Thomas Hoffmann und Frank W. Stahnisch, mit einem Vorwort von Bernhard Waldenfels und einem Geleitwort von Anne Harrington. Fink, Paderborn) Hahn-Godeffroy JD (1991) Zur Unverzichtbarkeit von Procain in der Neuraltherapie  – neue Aspekte der Benefit-risk. Abwägung. Ärzteschr Naturheilverf 32:722–730. Volltext unter http://www.­ neuraltherapie.­h ahn-godeffroy.­d e/resources/ Hahn-­G odeffroy_Procain_NTH_Huneke_Zusammenfass_Bewertung.­pdf. Zugegriffen am 22.08.2018 Hahn-Godeffroy JD (2002) Procain in der Neuraltherapie nach Huneke  – zusammenfassende Bewertung. In: Dosch P, Barop H, Hahn-Godeffroy JD Literatur (Hrsg) Neuraltherapie nach Huneke: Grundlagen, Techniken. Freudenstädter Vorträge, Bd 16. Haug, Atalay NS, Sahin F, Atalay A, Akkaya N (2013) CompariStuttgart, S 36–49 son of efficacy of neural therapy and physical the- Heine H (2007) Lehrbuch der biologischen Medizin, 3. rapy in chronic low back pain. Afr J Tradit CompleAufl. Hippokrates, Stuttgart ment Altern Med 10(3):431–435 Hoff F (1954) Die Stellung der Neuralmedizin in der GeBarop H (1996) Neuraltherapie nach Huneke. Lehrbuch samtmedizin. Vortrag vor dem Deutschen Ärzteund Atlas. Hippokrates, Stuttgart tag. Ärztl Mitt 39:445–450 Bergsmann O, Bergsmann R (1988) Projektionssymptome. Hoff F (1963) Neurale Therapie. In: Monnier M (Hrsg) Reflektorische Krankheitszeichen als Grundlage für Physiologie und Pathophysiologie des vegetativen holistische Diagnose und Therapie. Facultas, Wien Nervensystems. Vol II: Pathophysiologie. HippokraBeubler E (2000) Kompendium der medikamentösen tes, Stuttgart, S 815–831 Schmerztherapie. Springer, Berlin/Heidelberg/ Hopfer F, Hopfer G (1990) Neuraltherapie nach Huneke. New York In: Schimmel C (Hrsg) Lehrbuch der NaturheilBissig P, Schoeni-Affolter F, Fischer L, Busato A (2008) verfahren, Bd 2, 2. Aufl. Hippokrates, Stuttgart, S Is neural therapy cheaper than conventional me116–128 dicine? A comparison of cost structure in Swiss Hui F, Boyle E, Vayda E, Glazier RH (2012) A randomiprimary care providers  – an observational study. zed controlled trial of a multifaceted integrated Dissertation, Universität Bern complementary-­ alternative therapy for chroCassuto J, Sinclair R, Bonderovic M (2006) Anti-­ nic herpes zoster-related pain. Altern Med Rev inflammatory properties of local anesthetics and 17(1):57–68 their present and potential clinical implications. McEwen BS, Wingfield JC (2003) The concept of alloActa Anaesthesiol Scand 50:265–282 stasis in biology and biomedicine. Horm Behav Dönges A, Fischer L, Marian F et  al (2005) Evaluation 43(1):2–15 of neural therapy and comparison with conven- Mermod J, Fischer L, Staub L, Busato A (2008) Patient tional medicine: structure, process an outcomes. satisfaction of primary care for musculoskeletal dihttp://www.­terapianeural.­com/images/pdf/COMseases: a comparison between neural therapy and PARISON_NT_AND_CONVENTIONAL_MED_2005.­ conventional medicine. BMC Complement Altern pdfZugegriffen am 25.08.2018 Med 8(33):1–10 Dosch P (1995) Lehrbuch der Neuraltherapie nach Hu- Omoigui S (2007) The biochemical origin of pain – proponeke, 14. Aufl. Haug, Heidelberg sing a new law of pain: the origin of all pain is inflamEgli S, Pfister M, Ludin S et al (2010) Können Lokalanästhemation and the inflammatory response. Part 1 of 3 – a tika (Neuraltherapie) bei überwiesenen, therapiereunifying law of pain. Med Hypotheses 69(1):70–82 sistenten, chronischen Schmerzpatienten einen Cir- Pfister M, Fischer L (2009) Die Behandlung des kompleculus vitiosus durchbrechen? Neurophysiologie und xen regionalen Schmerzsyndroms (CRPS) der obeklinische Daten. Dissertation, Universität Bern ren Extremität mit wiederholter Lokalanästhesie Fischer L, Pfister M (2007) Wirksamkeit der Neuraltherades Ganglion stellatum. Praxis 98:247–257 pie bei überwiesenen Patienten mit therapieresis- Pischinger A (1975) Das System der Grundregulation – tenten chronischen Schmerzen. Schweiz Zeitschr Grundlagen einer ganzheitsbiologischen Medizin. GanzheitsMed 19(1):30–35 Haug, Stuttgart Goldstein K (1934) Der Aufbau des Organismus. Einfüh- Speranski A (1950) Grundlage einer Theorie der Medirung in die Biologie unter besonderer Berücksichtizin (ins Deutsche übertragen von Roques KR). Sängung der Erfahrungen am kranken Menschen. Nijger, Berlin

539 Neuraltherapie – Grundlagen und Anwendung

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23

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541

Orthomolekulare Medizin Rainer Schroth 24.1

Einführung – 542

24.1.1

 efinition und korrekte Anwendung der orthomolekularen D Medizin – 542 Albert Szent-Györgyi (1893–1986) und Linus Pauling (1901–1994) – 543 Nutzen der orthomolekularen Medizin – 544

24.1.2 24.1.3

24.2

Grundlagen und Funktionsweise – 544

24.2.1 24.2.2

 xidativer und nitrosativer Stress und freie Radikale – 545 O Entschärfung freier Radikale – 546

24.3

MTK-Prinzip (Messen–Therapieren–Kontrollieren) – 547

24.3.1 24.3.2 24.3.3

 essen – 547 M Therapieren – 548 Kontrollieren – 552

24.4

Orthomolekulare Infusionstherapie – 552

24.5

Hauptindikationen – 552

24.6

Orthomolekulare Medizin und Genetik – 553

24.6.1 24.6.2 24.6.3 24.6.4 24.6.5 24.6.6 24.6.7 24.6.8 24.6.9

 rundlagen – 553 G Epigenetik – 554 Oxidativer Stress und Telomere – 555 Omega-3-Fettsäuren und Apolipoprotein A1 – 555 Vitamin D – 556 Coenzym Q10 – 557 Freie Radikale – 559 Quecksilber – 560 Homocystein – 560

24.7

Ausbildung – 560 Literatur – 561

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_24

24

542

R. Schroth

24.1  Einführung

24

In der Medizin sind die Bücher nie geschlossen. Dieses Wissen macht den Beruf des Arztes spannend und den Arzt bescheiden, denn Vieles, was gestern als bewiesen erschien, muss morgen revidiert werden. Das gilt selbst für Substanzen, welche der Organismus seit Milliarden von Jahren selbst ausgetestet hat: Vitamine, Mineralstoffe, Spurenelemente, Enzyme, Aminosäuren u. a. In den letzten Jahrzehnten haben Forscher, besonders in den USA, geforscht, erprobt und entwickelt, was heute in der orthomolekularen Medizin angewendet wird. Einige Beispiele dazu gibt . Tab. 24.1.  

24.1.1  Definition und korrekte

Anwendung der orthomolekularen Medizin

Orthomolekulare Medizin - Es wird wissenschaftlich und praktisch der Frage nachgegangen, in welcher

Weise der Arzt bei der Erhaltung von Gesundheit und der Behandlung von Krankheiten Substanzen einsetzen kann, die dem Organismus wohlbekannt sind – im Unterschied zu therapeutisch angewandten Substanzen, die dem Körper von Natur aus fremd sind.

Die orthomolekulare Medizin gehört wie jede andere Form der Medizin in die Hand und Verantwortung des kompetenten und geschulten Arztes. Daraus folgt aber, dass die in der orthomolekularen Medizin zum Einsatz kommenden Substanzen als Arzneien verstanden werden, die der Arzt auswählt und präventiv oder therapeutisch gezielt verordnet. Mit orthomolekularen Substanzen greift der Arzt auf Stoffe zurück, die den Vorteil haben, dass sie den Organismus nicht durch Nebenwirkungen belasten, wie dies bei synthetischen Pharmaka oft der Fall ist. Das alles mag man auf den ersten Blick überzeugend oder widersprüchlich finden. Die Chance, sich damit zu beschäftigen, sollte jedenfalls ergriffen werden.

..      Tab. 24.1  Beispiele für die Veränderungen in der konventionellen und in der orthomolekularen Medizin Früher

Heute

Digitalis

β-Blocker, ACE-Hemmer

Röntgen

Sonographie, MRT, CT

Bettruhe nach Herzinfarkt

Frühe Mobilisation

Bettruhe bei Thrombophlebitis

Kontraindiziert

Speisesoda

Protonenpumpenhemmer (PPI)

Ulkus-Ursache psychosomatisch

Helicobacter pylori

Knie und andere Gelenke, z. B. Meniskusentfernung

Arthroskopie, künstliche Gelenke

Bandscheibenvorfall

Operation

Potenzprobleme

PDE5-Hemmer und andere Maßnahmen

Sehverlust durch grauen Star

Einfache Operation

Plötzlicher Herztod

Prävention durch Omega-3-Fettsäuren

Sepsis, akute Pankreatitis

i.v.-Selentherapie

Tumorprävention

Selentherapie u. a.

Vitaminmangelkrankheiten

Pharmaka zur Therapie und Prävention

543 Orthomolekulare Medizin

Zur korrekten Anwendung der orthomolekularen Medizin ist aus Sicht des Autors zweierlei nötig: 55 Ärzte müssen sich einer qualifizierten Ausund Fortbildung stellen. Was die entsprechende Ausbildung an den medizinischen Fakultäten angeht, so lässt diese in Europa noch immer auf sich warten. In der Zwischenzeit haben Ärzte, auch in Zusammenhang mit Apothekern, die Initiative ergriffen und bieten auf nationaler Ebene Fortbildungen an, die – nicht immer ausreichend qualifiziert, weil häufig firmengebunden – aus allen medizinischen Fachbereichen besucht werden. 55 Für orthomolekulare Arzneien muss eine Qualitätssicherung gelten, die dem ärztlichen Einsatz angemessen ist. Wegen einer dringend erforderlichen Qualitätssicherung orthomolekularer Arzneien muss es eine Zusammenarbeit von Arzt und Apotheker geben. Das ist erforderlich für die Entwicklung, Herstellung und Beratung in pharmakologischen Fragen. Dafür besteht in Europa dringender ­Nachholbedarf. Traditionelle Eigeninteressen im Gesundheitsund Pharmabereich sind dafür verantwortlich. Wo Pionierarbeit und Pilotprojekte weiterführen würden, wird die Entwicklungsarbeit durch Regelungen blockiert, deren Sinn oft nicht nachvollziehbar ist. Aus der eigenen jahrelangen Beschäftigung mit orthomolekularer Medizin in Wissenschaft und Praxis weiß der Verfasser, welche Behandlungserfolge möglich und wo die Grenzen zu setzen sind, und kann Kolleginnen und Kollegen nur ermuntern, die orthomolekulare Behandlung als Chance für die tägliche ärztliche Praxis aufzugreifen. 24.1.2  Albert Szent-Györgyi

(1893–1986) und Linus Pauling (1901–1994)

Den Pionieren Albert Szent-Györgyi und später Linus Pauling ist es zu verdanken, dass das

24

wissenschaftliche Interesse an der Bedeutung von Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen für Prävention und Therapie geweckt wurde. Albert Szent-Györgyi erhielt 1937 gemeinsam mit Sir Walter Norman Haworth den Nobelpreis für die Entdeckung von Vitamin C. Linus Pauling begründete die orthomolekulare Medizin und prägte auch den Namen. Er war Zeit seines Lebens ein Mann der Wissenschaft und erhielt 1954 für seine Forschungsarbeiten über die Molekülstruktur der Proteine den Nobelpreis für Chemie. 8 Jahre später wurde er für sein Engagement gegen Kernwaffentests mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, Artikel, wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Arbeiten zu Themen der Chemie und Biochemie – damals schon mit molekularbiologischen Ansätzen zu Gesundheit, Politik und Frieden. Allgemein bekannt wurden seine Bücher 55 Vitamin C and the Common Cold, 55 Cancer and Vitamin C und 55 How to Live Longer and Feel Better. Paulings Interesse war breit gestreut, und seine unorthodoxen wissenschaftlichen Ideen riefen kontroverse Diskussionen hervor und provozierten in der Regel auch die wissenschaftliche und medizinische, aber auch die politische Welt. Wie sehr er zu seinen Überzeugungen stand, zeigt folgende Anekdote: Präsident J. F. Kennedy lud das Ehepaar Pauling zu einer Feier für Nobelpreisträger in das Weiße Haus. Am selben Tag fand vor dem Weißen Haus eine Demonstration gegen oberirdische Atomtests statt. Linus Pauling nahm außerhalb der Absperrung an dieser Demonstration, ein Protesttransparent tragend, teil. An demselben Abend dinierte er mit seiner Gattin und den Kennedys. Als rhythmische Musik gespielt wurde, tanzten sie zur Freude der Zuschauer als Einzige. Trotz aller Eigenheiten war Linus Pauling ein Großer seiner Zeit. Man wird seinem Lebenswerk nicht gerecht, wenn es nur auf hoch dosiertes Vitamin C reduziert wird. Linus Pauling schuf den Begriff „orthomolekulare Medizin“ und definierte ihn wie folgt:

544

R. Schroth

»» „Orthomolekulare Medizin ist die Erhal-

tung guter Gesundheit und die Behandlung von Krankheiten durch Veränderung der Konzentrationen von Substanzen im menschlichen Körper, die normalerweise im Körper vorhanden und für die Gesundheit erforderlich sind.“ (Pauling 1968)

24

In dieser einfachen, gut verständlichen Definition, die 1968 in der Zeitschrift Science veröffentlicht wurde, ist alles enthalten, sowohl die Zielsetzung der orthomolekularen Medizin als auch die charakteristischen Substanzen, die in der orthomolekularen Medizin zum Einsatz kommen sollen. Damit hat Linus Pauling die orthomolekulare Nährstofftherapie auch als Teil der nutriologischen Medizin wissenschaftlich definiert. >> Einfach ausgedrückt steht die Optimierung wichtiger Funktionen im Mittelpunkt der orthomolekularen Medizin. Es geht um die adäquate Zufuhr von Mikronährstoffen, wie Spurenelementen, Mineralstoffen, Vitaminen, Fettsäuren, Aminosäuren u. a.

24.1.3  Nutzen der orthomolekularen

Medizin

Linus Pauling stellte fest, dass durch hohe Dosen von Vitaminen, Spurenelementen etc. eine arzneiliche Wirkung erzielt werden kann. Es wird in der orthomolekularen Medizin davon ausgegangen, dass Alterungsprozesse, chronische oder degenerative Erkrankungen mit einem Ungleichgewicht an Nährstoffen in Verbindung stehen können. >> Orthomolekulare Medizin ist der Oberbegriff für den Umgang mit orthomolekularen Substanzen, meist als Mikronährstoffe bezeichnet, zur Prävention und Therapie von Krankheiten.

Die wahllose, ungezielte Einnahme von Mi­ kronährstoffen mit vielfältiger Zusammensetzung (wie z.  B.  Multibionta, Geriartic Phar-

maton, Supradyn, Centrum A–Z) oder von Präparaten, bei denen der Beiname bereits die „Indikation“ ausdrückt (wie „junior“ für das Kind oder „Sport, Vision, Vital, Audio, Arthro“ etc.) erfolgt oft nach dem Motto einer Schrotschusstherapie („Einer der vielen Inhaltstoffe wird schon treffen“) und ist abzulehnen. Diese unwissenschaftliche Vorgehensweise wird zwar von Vielen als orthomolekulare Medizin bezeichnet und verkauft, sie ist es aber nicht! 24.2  Grundlagen und

Funktionsweise

Wie Mikronährstoffe „funktionieren“, ist zwar leicht beantwortet, erforderlich ist jedoch einfaches biochemisches Hintergrundwissen. Freie Radikale - Freie Radikale sind organische oder anorganische Verbindungen oder Moleküle, die ein oder mehrere ungepaarte Elektronen aufweisen. Biologisch wichtigste freie Radikale sind die Sauerstoffund Stickstoffradikale. Oxidativer Stress - Wird das physiologische Ausmaß von reaktiven Sauerstoffverbindungen (ROS) überschritten, kommt es zu oxidativen Schädigungen von Lipiden und Proteinen, d. h., Radikale und Radikalfänger halten sich nicht mehr die Waage.

Nitrosativer Stress - Beruht auf Schäden durch aggressive Stickstoffmonoxidradikale (RNS).

Der Schutz vor Schäden durch freie Radikale an Strukturen, aus denen der Organismus aufgebaut ist – Eiweiße, Fette und Kohlenhydrate –, erfolgt durch sog. Radikalfänger. Zahlreiche orthomolekulare Substanzen besitzen diese Eigenschaft. Einfache Beispiele für Effekte durch freie Radikale, auch oxidative oder nitrosative Schäden genannt, sind: ranzige Butter, bröckliger Kunststoff oder spröder Gummi oder auch ein in zwei Hälften geschnittener Apfel, dessen Oberfläche durch Oxidation rasch braun wird. Solche Vorgänge finden nicht nur in der freien Natur statt, sondern auch im Körper. kVitamine und Spurenelemente

Die Frage, wie ein Vitamin wirkt, wird inte­ ressanterweise häufig damit beantwortet, was

545 Orthomolekulare Medizin

es bewirkt, aber nicht wie es wirkt. Es ist ein Irrtum anzunehmen, dass Spurenelemente alleine eine Wirkung entfalten würden. Zu kurz gegriffen sind auch Aussagen wie: Selen hilft bei …, Zink hilft bei …, Eisen hilft bei … Keines dieser Spurenelemente bewirkt direkt etwas. Erst in Verbindung mit Enzymen kann es zu einer Wirkung kommen, wobei diese Mikronährstoffe oft Teil des aktiven Zentrums der Enzyme sind. Nur in dieser Kombination kommt es zur entsprechenden Reaktion. Biochemisch betrachtet, liegen der Wirkung Elektronentransfers und enzymatische Vorgänge zugrunde. 24.2.1  Oxidativer und nitrosativer

Stress und freie Radikale

Immer wieder tauchen in der Medizin neue Schlagwörter auf, die Medikamente, Therapieverfahren oder diagnostische Methoden betreffen. Einige Jahre lang beherrschen diese dann das therapeutische und diagnostische Vorgehen. Viele verschwinden rasch, und nur wenige erweisen sich als bahnbrechender Fortschritt. Dazu gehört zweifelsohne das Konzept vom oxidativen und nitrosativen Stress (Halliwell und Gutteridge 2010). Sauerstoff (O2) spielt bei der Entstehung freier Radikale eine wesentliche Rolle. Sauerstoff wird benötigt, um in den Mitochondrien aus Kohlenhydraten und Fetten Energie zu gewinnen, denn unter anaeroben Bedingungen können aus 1 Mol Glukose lediglich 2 Mol ATP gewonnen werden, unter aeroben Bedingungen (in Anwesenheit von Sauerstoff) dagegen 38 Mol ATP. Da molekularer Sauerstoff reaktionsträge ist, muss er, um seine oxidative Wirkung entfalten zu können, aktiviert werden. Im Rahmen dieser Aktivierung kommt es zum Anfall von sog. „aktivierten Sauerstoffstufen“ und freien Radikalen. Bei der oxidativen Phosphorylierung (Energiegewinnung in Form von ATP) werden immerhin bis zu 5 % des Sauerstoffs „radikalisch“.

24

Neben der o. g. Bildung freier Radikale in den Mitochondrien werden diese in größerem Maße auch durch Umwelteinflüsse wie Belastungen durch Ozon, Smog, Stickoxide, Zigarettenrauch und toxische Schwermetalle begünstigt. Ferner bewirken Chemikalien wie organische Lösungsmittel, Teerabkömmlinge, halogenierte Kohlenwasserstoffe, Pestizide und Zytostatika die Entstehung freier Radikale. Auch bei sportlichen Höchstleistungen, ex­ tremem Ausdauersport, Sonnenbaden, Aufenthalten im Solarium, Exposition gegenüber Röntgenstrahlen, Infektionen und Fieber etc. entstehen große Mengen an freien Radikalen. >> Oxidativer, nitrosativer Stress und andere Stressoren sind Schwerpunkte der orthomolekularen Medizin.

Das Verständnis der zugrunde liegenden biochemischen Vorgänge ist maßgeblich für die Anwendung und die Abschätzung der zu erwartenden Wirkung diverser Mikronährstoffe. Viele Kritiker kennen die biochemischen Zusammenhänge oft nur oberflächlich und behaupten, das Ziel der orthomolekularen Medizin sei die Vernichtung aller freien Radikale. Das entbehrt allerdings jeglicher Grundlage. >> Ausdrücklich muss hervorgehoben werden, dass der Organismus ohne freie Radikale nicht existieren könnte.

kAbwehr von Bakterien und Viren

Der Körper wehrt sich gegen Eindringlinge (Bakterien, Viren) zunächst mit der Produktion von freien Radikalen, welche diese zerstören. Der Ort der radikalischen Attacken und Gegenattacken ist meist die Zelle, und hier zunächst die Zellmembran, welche nach Schäden durch freie Radikale für manche Substanzen entweder ein unüberwindbares oder auch kein Hindernis mehr darstellt, besonders wenn die Schäden nicht repariert werden. Folgeschäden betreffen also die Zelle und alle ihre Strukturen einschließlich des Zellkerns mit der darin enthaltenen Erbsubstanz. Ein „günstiges“ Resultat liegt vor, wenn die Zelle durch den Schaden

546

R. Schroth

zugrunde geht. Ungünstig ist es, wenn die Zelle „nur“ geschädigt wird, denn dann könnte sie eventuell entarten.

24

>> Die Produktion von freien Radikalen wie auch die Eindämmung derselben, also das Gleichgewicht von freien Radikalen (Oxidanzien) und Radikalfängern (Antioxidanzien), entscheidet, neben anderen Faktoren, wesentlich über Gesundheit oder Krankheit.

weil Vitamin C als Antioxidans diese Reaktion verhindert. Auch wenn Butter an ihrer Oberfläche ranzig wird, handelt es sich um eine oxidative Veränderung, die durch Vitamin E verhindert werden kann. Ebenso hemmt Vitamin E im Körper die Oxidation von LDL-Cholesterin in Zusammenarbeit mit ß-Carotin. Dieser Vorgang ist wichtig, weil LDL-Cholesterin erst in seiner oxidierten Form für die Entstehung der Arterienverkalkung von Bedeutung ist.

Auch Fieber als früher Abwehrmechanismus gegen bakteriellen oder viralen Befall wirkt durch Aktivierung spezifischer und unspezifischer Abwehrmechanismen, bei welchen freie Radikale eine wesentliche Rolle spielen. Deswegen ist die in der Praxis fast routinemäßig durchgeführte Fiebersenkung ohne Zweifel kontraproduktiv. Ein guter vereinfachender Vergleich für das Wirken freier Radikale und Radikalfänger ist die Betrachtung eines Lagerfeuers: Die Funken stehen für die freien Radikale. Diese zu vernichten, wäre unsinnig, weil sie zum Feuer gehören bzw. der Körper auf sie angewiesen ist. Besser ist es, sie zu kontrollieren eventuell einzufangen. Hat man sie jedoch nicht im Griff, können sie selbst wieder unkontrolliert Feuer verursachen. Klug ist es, um das Feuer einen Schutzwall (Radikalfänger) zu ziehen, der aber nicht zu eng sein darf, weil sonst das Feuer unterdrückt wird. Das heißt, es dürfen auch nicht zu viele Radikalfänger verabreicht werden, weil dann ihr positiver Effekt nicht mehr gegeben ist.

>> Vitamin C, Vitamin E und andere Radikalfänger können nicht nur die Schnittfläche eines Apfels, sondern auch menschliche Zellen schützen. Sie machen gefährliche Moleküle oder deren Bruchstücke, die freien Radikale, unschädlich.

>> Ohne freie Radikale wäre Leben nicht möglich, aber – wie so häufig – ist es auch hier die Dosis, die das Gift macht!

Sie reagieren sehr langsam, und der Körper ist auf eine regelmäßige, ausreichende Zufuhr durch die Nahrung angewiesen. Neben Spurenelementen und Vitaminen gehören dazu u.  a. Coenzym Q10, Melatonin, Harnsäure, R-α-Liponsäure, verschiedene Aminosäuren sowie natürliche Pflanzeninhaltstoffe wie Tannine und Anthocyanidine.

24.2.2  Entschärfung freier Radikale

Die Wirkungsweise von Radikalfängern lässt sich einfach erklären: Wird die Schnittfläche eines Apfels mit Zitronensaft beträufelt, so bleibt diese hell, sie ist vor Oxidation geschützt und verfärbt sich nicht bräunlich, sie oxidiert nicht,

Vereinfachend lassen sich 3 Gruppen von Radikalfängern unterscheiden: Radikalfänger 55 Antioxidativ wirksame Enzyme 55 Nichtenzymatische Radikalfänger 55 Reparaturenzyme

kAntioxidativ wirksame Enzyme

Superoxiddismutasen (SOD), Katalasen, Peroxidasen, Glutathionreduktasen u.  a. Sie reagieren sehr rasch, müssen laufend nachgebildet werden und stehen daher nicht unbegrenzt zur Verfügung. Für ihre Aktivität benötigen sie z. B. Zink, Selen, Mangan, Eisen oder Kupfer. kNichtenzymatische Radikalfänger

kReparaturenzyme

Nach bereits vollzogener Schädigung reparieren sie die Schadstelle und beseitigen

547 Orthomolekulare Medizin

beschädigte Teile. Ob die Qualität der Reparatur der des Originals entspricht, ist fraglich, wenn es sich um zu viele Reparaturen handelt. Die Enzyme dieser Gruppe werden zur Reparatur von geschädigtem Eiweiß, von oxidierten Fetten und der Erbsubstanz eingesetzt. 24.3  MTK-Prinzip (Messen–

Therapieren–Kontrollieren)

Das MTK-Prinzip umfasst die umfangreiche Anamnese, die aufschlussreiche Analyse aus dem Blut, die richtige Bewertung der ­Blutparameter und gelegentlich auch genetischer Parameter. 24.3.1  Messen

Das Vorgehen gleicht dem in der konventionellen Medizin: 55 gründliche Anamnese, 55 klinische Untersuchung, 55 Klärung der Fragen: 55 Genügt eine Änderung der Ernährung? 55 Sind bestimmte Substanzen zu verordnen? zz Labordiagnostik

Die Verdachtsdiagnose, die eventuell schon den Weg zu einer bestimmten orthomolekularen Arznei zeigt, wird durch gezielte Labordiagnostik bestätigt. Bestimmte Parameter wie Leberwerte, Cholesterin oder Blutzucker zum wiederholten Mal zu überprüfen, erscheint aus orthomolekularmedizinischer Sicht nicht von großem Wert. Stattdessen wird mit der Bestimmung von Werten begonnen, welche zuvor noch nicht beachtet wurden, in der Regel sind das nahezu alle orthomolekularen Substanzen: 55 Die Vitamine A, E, D, C, B6, B12, Folsäure, Coenzym Q10, Homocystein u. a., 55 die Spurenelemente Natrium, Kalium, Magnesium, Kalzium, Eisen, Zink, Phosphor, Kupfer im Vollblut,

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55 Aminosäuren, Fettsäuren, Hormone und einige Parameter (Malondialdehyd, Carbonylproteine, oxidiertes LDL-­Cholesterin, Nitrotyrosin-Protein), um eine Belastung mit freien Radikalen festzustellen. 55 Auch eine Schwermetallmobilisation ist äußerst wichtig, wobei Quecksilber, Blei, Cadmium, Arsen, Aluminium, Zinn, Thallium u. a. bestimmt werden. Das wichtigste Merkmal der Toxizität von Schwermetallen ist deren Fähigkeit zur Komplexbildung mit funktionellen Gruppen zellulärer Moleküle: 55 R–SH, 55 R1–NH2, 55 R–OH, 55 R1–NH2–R2. Es muss durchaus nicht in jedem Fall alles untersucht werden. Nichts spricht gegen ein schrittweises Vorgehen. Bei den Ergebnissen müssen folgende Fragen beachtet werden: kWurde im richtigen Medium untersucht?

Die Verteilung der Elemente ist unterschiedlich. Manche befinden sich überwiegend in der Zelle, andere außerhalb. Kalium, Zink und Eisen finden sich zu über 90 %, Magnesium zu 70 % und Selen zu 35 %in der Zelle. Natrium und Kalzium sind zu 90 %, Kupfer ist zu 60 % im Plasma/Serum vorzufinden. Magnesium oder Zink im Serum zu analysieren, ist daher wenig sinnvoll und liefert falsche Resultate, da keine gesicherten Korrelationen bestehen. Die zellulären Magnesiumwerte sind bei Patienten mit hohem Blutdruck nur halb so hoch wie bei Patienten mit normalem Blutdruck; die Serumwerte sind dagegen gleich hoch! Ähnlich verhält es sich bei der Folsäure-­Bestimmung im Serum und im Erythrozyten. Nur die Bestimmung im Erythrozyten gibt verlässlich Auskunft über die Versorgung mit Folsäure. kWurde zur richtigen Tageszeit ­untersucht?

Es ist bekannt, dass es falsch ist, die Bestimmung von Eisen im Serum für die Beurteilung

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des Gesamtkörper-Eisenbestands heranzuziehen, da das Serum-Eisen einer ausgeprägten zirkadianen Schwankung unterliegt. Bei gesunden jungen Männern wurden um 9:00 Uhr Werte von 155 ± 16 μg/dl und 12 h später 65  ±  5  μg/dl gemessen. Diese hohen Schwankungen zeigten bei den zuvor überprüften Männern einen sehr breiten Streubereich. Dieser betrug um 9:00 Uhr 100–300 μg/ dl und 12 h später 20–100 μg/dl. Das führt zu einem sehr breiten Referenzbereich. Ein weiterer Grund, der die alleinige Bestimmung des Serum-Eisens nahezu unbrauchbar macht, besteht darin, dass ein Wert unterhalb des Referenzbereichs erst dann gemessen wird, wenn kein Speichereisen mehr vorhanden und das Funktionseisen erniedrigt ist (Thomas 2007). kWurde das Ergebnis richtig interpretiert?

Für Selen gilt ein offizieller Normwert von 80– 130 μg/l. Da jedoch die Selenaufnahme in Mitteleuropa im weltweiten Vergleich sehr niedrig liegt, entspricht der zuvor angegebene Wert nur einem statistischen Mittel. Er repräsentiert nicht die physiologisch wünschenswerten Grenzen. Eine maximale Aktivität z. B. des selenabhängigen Enzyms Glutathionperoxidase wird erst bei Selenkonzentrationen im Vollblut von 140–160 μg/l erreicht. kWurde zwischen physiologischem und pharmakologisch-therapeutischem Blutspiegel unterschieden?

Beispiele sind in . Tab. 24.2 aufgeführt.  

..      Tab. 24.2  Vergleich von physiologischem und pharmakologisch-therapeutischem Blutspiegel Substanz

Physiologische Konzentration

Pharmakologische Konzen­ tration

Selen

80–130 μg/l

140–160 μg/l

Coenzym Q10

0,80–1,40 mg/l

1,50–2,50 mg/l und höher

Vitamin C

4,5–2 mg/l

> 20 mg/l

kWurde auf Zusammenhänge zwischen den einzelnen Substanzen geachtet?

Beispiel: Magnesium ist ein Kofaktor von über 300 verschiedenen Enzymen. Eine wichtige Funktion ist die Aktivierung der Natrium-­ Kalium-­ ATPase, was bedeutet, dass Magnesium ein Kaliumkanalöffner ist. Solange Magnesiummangel besteht, kann ein Kaliumdefizit nicht ausgeglichen werden, da das zugeführte Kalium über die Nieren verloren geht. Eine Kette ist immer nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Das trifft auch auf Spurenelemente und Vitamine zu, denn die meisten wirken nicht als Einzelmoleküle, sondern haben oder brauchen Interaktionspartner. 24.3.2  Therapieren

Das orthomolekularmedizinische Therapieprinzip beruht auf der Erkenntnis, dass der menschliche Körper für ein gesundes und reibungsloses Funktionieren aller Organe bestimmte Mengen verschiedener Substanzen benötigt. Im Verständnis für alle biochemischen Vorgänge im Körper, die Zusammenhänge von genetischer Disposition und die Laboranalysen werden Vitamine, Mineralstoffe, Spurenelemente, Aminosäuren, Fettsäuren, Hormone und sonstige, im physiologischen Zellstoffwechsel vorkommenden Stoffe sinnvoll ergänzt. >> Beim Einsatz dieser Mikronährstoffe geht es um Prävention, das Beheben von Defiziten und die Anwendung pharmakologisch wirksamer Dosierungen zur Behandlung von Krankheiten.

Für den Therapieerfolg wichtige Kriterien bei der Wahl einer orthomolekularen Arznei 55 Die richtige Verbindung 55 Die Berücksichtigung von Interaktionen mit anderen Substanzen

549 Orthomolekulare Medizin

55 Die Qualitätskriterien höchste Reinheit und beste Bioverfügbarkeit 55 Die richtige Dosierung

Die richtige Verbindung Anhand von Beispielen soll im Folgenden gezeigt werden, dass für viele orthomolekulare Substanzen die Wahl der richtigen Verbindung maßgeblich für einen Therapieerfolg ist. Beispiele: Kalziumglukonat ist, bezogen auf die Resorption, wesentlich sicherer als Kalziumkarbonat, besonders wenn gleichzeitig Protonenpumpenhemmer (PPI) eingenommen werden. Kalziumglukonat wird pH-­unabhängig resorbiert, während Kalziumkarbonat ein saures Milieu benötigt, um in Kalzium und Karbonat zu dissoziieren. Analog dazu ist auch Magnesium nicht Magnesium und Zink nicht Zink. Die verschiedenen Vitamin-B12-­Verbin­ dungen zu kennen, ist für den Erfolg einer orthomolekularen Therapiemaßnahme maßgeblich. So wie bei vielen Substanzen, wie z. B. auch Vitamin E, Vitamin A oder Vitamin D, muss berücksichtigt werden, dass es sich immer nur um Sammelbegriffe handelt, unter denen zahlreiche Substanzen mit unterschiedlicher Wirkung zusammengefasst sind. Die in den meisten Fällen angebotene, inaktive Form von Vitamin B12 ist Cyanocobalamin. Cyanocobalamin kann erst nach vier aufwendigen chemischen Schritten in die aktiven Formen Methylcobalamin, Adenosylcobalamin und Hydroxocobalamin umgewandelt werden. Das erfordert eine gut funktionierende Leber und kann mehrere Wochen dauern. Die aktiven Formen haben unterschiedliche Wirkorte und daher auch unterschiedliche Funktionen: Me­ thylcobalamin ist im Zytosol lokalisiert, Adenosylcobalamin kann im Mitochondrium nachgewiesen werden. Da Vitamin B12 bei allen Zellteilungs- und Wachstumsprozessen, der Erythropoese, der Aktivierung von Folsäure durch Überführung in die aktive Tetrahydrofolsäure und bei einer großen Anzahl anderer Funktionen beteiligt ist, ist es nicht verwun-

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derlich, dass bei Cyanocobalamin-­ Gabe der erwartete Erfolg nicht eintreten kann. Hinzu kommt, dass Vitamin-B12-­Bluts­piegel oft falsch interpretiert werden. Bei Hepatitiden und Lebererkrankungen anderer Art bis zur Zirrhose kommt es sehr häufig vor, dass zwar normale Blutspiegel, jedoch niedrige Gewebespiegel der aktiven Formen von Vitamin B12 vorliegen. Deshalb sollte in der Diagnostik auf Parameter wie Holotranscobalamin, welches schon lange vor klinischen Anzeichen erniedrigt ist, oder Methylmalonsäure (MMA) zurückgegriffen werden. Die Vitamin-B12-­abhängige Umwandlung von Methyl-CoA zu Succinyl-CoA, die den Verbrauch von Vitamin B12 anzeigt, weist bei Vitamin-B12-Mangel einen erhöhten Wert des funktionellen Markers MMA auf. Der Hinweis auf Gütesiegel kann irreführend sein, wenn sich in einem Produkt keine aktive Form von Vitamin B12, sondern nur das inaktive Cyanocobalamin befindet, oder wenn nicht darauf verwiesen wird, dass Coenzym Q10 bei 5 % der Patienten überhaupt nicht und bei bis zu 28 % nur sehr langsam wirkt. Wirksame Coenzym-Q10-Spiegel  – und damit ein erkennbarer Erfolg – können damit nicht erreicht werden.

 erücksichtigung von Interaktionen B mit anderen Substanzen Unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW) ist die offizielle Bezeichnung für Nebenwirkungen von Medikamenten. Nicht nur UAW, sondern besonders auch Arzneimittelwechselwirkungen sind von großer klinischer Bedeutung. Nicht Krankheiten, sondern UAW stellten die fünfthäufigste Todesursache dar. Das zeigen z.  B. für Deutschland die Ebbesen-Studie und die Schnurrer-Analyse: Nach der Ebbesen-Studie gab es bei ca. 14.000 Aufnahmen in 2 Jahren 732 Todesfälle, 133 davon wegen UAW (Ebbesen et al. 2001). Laut Schnurrer-Analyse sterben im stationären internistischen Bereich 58.000 Patienten pro Jahr an UAW (OA Dr. B.  Stadler, Internist, Klinikum der Kreuzschwestern Wels, auf dem 2. Linzer Kongress für Allgemeinmedizin 2005; Schnurrer und Frölich 2003).

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Für die Niederlande werden bei 13.000 Aufnahmen 714 Patienten mit UAW berichtet, von denen die Hälfte starb (Leendertse et al. 2008). Auch die folgenden Zitate untermauern die Bedeutung der UAW:

»» „Die meisten Menschen sterben an ihren 24

Arzneimitteln und nicht an ihren Krankheiten. Medikamente und ihre Interaktionen stellen gerade heute eine Bedrohung für Leib und Leben dar.“ (Univ. Prof. Dr. Markus Müller, Leiter der Universitätsklinik für Klinische Pharmakologie Wien, auf dem Kongress der Österreichischen Gesellschaft für Innere Medizin 2008)

»» „Innerhalb der letzten 27 Jahre gab es keinen einzigen Todesfall durch Nahrungsergänzungsmittel – obwohl offizielle Gesundheitsexperten und Medien vor ihnen warnen. Stattdessen gab es – allein in den USA – 3 Mio. Tote aufgrund von verschreibungspflichtigen Medikamenten, die vorschriftsmäßig in wissenschaftlichen Studien geprüft und ordnungsgemäß zugelassen wurden. Medikamente, vor denen niemand (offiziell) warnt.“ (7 https://www.­zentrum-der-­ gesundheit.­de/tod-durch-medikamente-ia.­ html. Zugegriffen am 15.09.2018).  

Schon Molière (1622–1672) nahm in seinem Theaterstück Le Malade Imaginaire Bezug auf dieses Thema:

»» „Presque tous les hommes meurent de

leurs remèdes, et non pas de leurs maladies (Die meisten Menschen sterben an ihren Medikamenten und nicht an ihren Krankheiten).“

>> Da Mikronährstoffe und Arzneimittel oft die gleichen Resorptions-, Metabolisierungs- und Eliminationswege benutzen, sind diese Interaktionen unbedingt zu berücksichtigen.

Beispiel: Der Organismus hat einen großen Bedarf an Methylgruppen (CH3) zur Methylierung von DNA-Basen, Neurotransmittern und Phospholipiden. Folsäure, Methylcoba-

lamin sowie das im Homocysteinstoffwechsel entstehende S-Adenosyl-Methionin (SAM), Betain und Cholin sind die wichtigsten Lieferanten von Methylgruppen. Metformin kann durch Hemmung des kalziumabhängigen Vitamin-B12-Rezeptors in der Dünndarmschleimhaut die Resorption von Vitamin B12 verschlechtern. Reichlich Kaffee, Alkohol und Nikotin sind klassische „Methylgruppenräuber“. Diuretika führen nicht zur Ausschwemmung von sterilem Wasser, sondern eliminieren gleichzeitig zahlreiche wasserlösliche Substanzen wie die Vitamine B1, B2, B6 und B12, Kalium, Magnesium und Zink. Diese Verluste sind in jedem Fall zu berücksichtigen, wozu eine Analyse der entsprechenden Substanzen sehr hilfreich ist. Damit Vitamin B1 die volle Aktivität erlangen kann, wird eine ausreichende Versorgung mit Mangan und Magnesium benötigt. Vitamin B6, (Pyridoxal-5-Phosphat, P5P) wirkt nur in der Zelle. Um durch die Zellmembran zu gelangen, muss P5P zunächst den Phosphatrest abspalten. In der Zelle wird es sofort wieder rephosphoryliert. Beide Schritte benötigen Zink. Der Folsäureantagonismus von Methotrexat, der Wirksamkeitsverlust von Tetrazyklinen durch Kalzium sowie der Einfluss von Ballaststoffen auf die Resorption sind weitere Beispiele, bei denen an Interaktionen gedacht werden muss. Ein wichtiger Zusammenhang besteht bei der Fruktoseintoleranz: Der nicht im Dünndarm resorbierte Fruchtzucker verbindet sich auf seinem Weg in den Dickdarm mit der essenziellen Aminosäure Tryptophan (einer Vorstufe von Serotonin) und mit Zink, was zu einer Verarmung des Körpers an beiden Substanzen führt.

 öchste Reinheit und beste BioverH fügbarkeit als Qualitätskriterien >> Die Vermeidung von Konservierungs-, Zusatz- und Hilfsstoffen und die Verabreichung in Kapselform sind wichtige Hinweise auf hochwertige orthomolekulare Produkte.

551 Orthomolekulare Medizin

Zusätze, die lediglich der Produktionssteigerung dienen oder die den optischen Eindruck verbessern, sollten vermieden werden. Der Großteil der Masse eines Fertigarzneimittels besteht oft aus solchen Hilfsstoffen. Da unter den Patienten immer mehr Risikopatienten sind, die an Unverträglichkeiten und Allergien leiden, sollte darauf Rücksicht genommen werden. Beispiele: Lösungsmittel, Bindemittel, Emul­ gatoren, Coatings, Zerfallsbeschleuniger, Gleitund Schmiermittel (Magnesiumstearat, Ascorbylpalmitat), Fließregulierungsmittel, Trennmittel, Konservierungsstoffe (Benzoate, Parabene, Sorbate und Proprionate), R ­ esorptionsbeschleuniger, Geschmackskorrigenzien, Cyclamat, Aspartam, Farbstoffe, Granulierungsmittel, Gummi arabicum, Stabilisatoren wie Butylhydroxyltoluol und Butylhydroxylanisol. Zur Herstellung einer Tablette müssen aus technischen Gründen standardmäßig Hilfsstoffe (Gleitmittel, Pressmittel, Kleber, Formentrennmittel, Zerfallsverbesserer) mit möglichen unerwünschten Wirkungen eingesetzt werden. kEmpfehlung

Da jede tablettierte oder dragierte Arzneiform Hilfsstoffe enthält, sollten ungefärbte Kapselrezepturen aus vegetarischem Kapselmaterial bevorzugt werden. Auf Volldeklaration aller Stoffe ist zu achten. Auf vorkonservierte oder stabilisierte Rohstoffe ist zu verzichten.

Richtige Dosierung Oft werden die Dosierungen der Arzneien, welche in der Orthomolekularmedizin eingesetzt werden, kritisiert. Dabei orientieren sich viele an den sog. DACH-Werten und ziehen daraus falsche Schlüsse. Im Folgenden wird daher Grundsätzliches zum Stellenwert dieser Referenzwerte und zur Abgrenzung gegen orthomolekulare Arzneien erläutert: Bis vor 15 Jahren gaben die jeweiligen nationalen Gesellschaften für Ernährung bei ihren Empfehlungen zum Bedarf an Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen unterschiedliche Werte an. Im Jahr 2000 wurden erstmals von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), der Österreichischen

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Gesellschaft für Ernährung (ÖGE) sowie der Schweizerischen Vereinigung für Ernährungsforschung und der Schweizerischen Vereinigung für Ernährung (SGE/SVE) anstelle der alten Empfehlungen neue, gemeinsame Referenzwerte herausgegeben. Dieser wissenschaftliche Konsens der drei Gesellschaften fand seinen Niederschlag in dem im Jahr 2000 veröffentlichten Buch Referenzwerte für die Nährstoffzufuhr, nach den Fahrzeugkennzeichen der drei Länder kurz DACH-Werte genannt. Die Referenzwerte wurden folgendermaßen erklärt:

»» „Unter Referenzwerten versteht man Empfehlungs-, Schätz- und Richtwerte.“

Das angestrebte Ziel

»» „… durch eine Zufuhr in der Höhe der

Referenzwerte nährstoffspezifische Mangelkrankheiten (z. B. Rachitis, Skorbut, Pellagra) und Mangelsymptome, … aber auch eine Überversorgung mit Energie oder bestimmten Nährstoffen wie Fett und Alkohol zu verhüten.“

»» „Die Referenzwerte beziehen sich NICHT auf die Versorgung von Kranken und Rekonvaleszenten. Sie sind auch, mit Ausnahme von Jod, nicht ausreichend, um bei Personen mit einem Nährstoffmangel entleerte Speicher wieder aufzufüllen. Sie gelten ebenso wenig für Personen mit Verdauungs- und Stoffwechselproblemen wie für durch Genussgifte (z. B. erhöhter Alkoholkonsum) oder eine regelmäßige Medikamenteneinnahme belastete Personen.“

Wenn die Referenzwerte also weder für Kranke oder Rekonvaleszente noch für Patienten mit Verdauungs- und Stoffwechselstörungen und auch nicht für Menschen gelten, die regelmäßig Medikamente einnehmen müssen, dann sind sie keine Hilfe für den praktizierenden Arzt, denn dieser hat überwiegend mit einem Personenkreis zu tun, für welchen diese Referenzwerte, laut den Autoren dieses Buches, nicht gelten!

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24.3.3  Kontrollieren

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Ein wesentliches Kriterium ärztlichen Handelns ist die Kontrolle. Das trifft zu bei Diabetes, hohem Cholesterin, hohem Blutdruck, Eisenmangel, Kaliumdefizit, und genau das muss auch für die Anwendung orthomolekularer Arzneien gelten. Wenn Klinik und Messergebnis zusammenpassen, ist die getroffene Maßnahme in der Regel positiv zu bewerten. Nicht alles ist messbar und daher auch nicht kontrollierbar. Deswegen sind besseres Befinden, weniger Schmerz, mehr Vitalität, ­erholsamerer Schlaf höher zu bewerten als der gemessene Wert. In der orthomolekularen Medizin werden nicht Werte behandelt, sondern Menschen. Das stellt jedoch keinen Freibrief für ungezielte „Schrotschusstherapien“ dar. >> Das Prinzip Messen–Therapieren–Kontrollieren kennzeichnet eine seriöse orthomolekulare Medizin und unterscheidet sich von einer unsinnigen, ungezielten „Schrotschusstherapie“ (. Tab. 24.2, physiologische und therapeutische Blutspiegel).  

24.4  Orthomolekulare

Infusionstherapie

Große Erfolge lassen sich mit der Infusion orthomolekularer Substanzen erzielen. Im Vordergrund stehen Vitamin-C-­ Hochdosistherapien oder intravenöse Eisentherapien. Ferner eignen sich Infusionen zur Operationsvorbereitung und zur Nachsorge, als Begleitung von Chemotherapien, zur Verbesserung des Immunsystems, bei COPD, bei Wundheilungsstörungen, besonders bei Ulcera crura, bei Erschöpfungszuständen u. a. In Spezialseminaren werden die Vorteile von Infusionstherapien vermittelt, z.  B. die schnelle Verbesserung der subjektiven Befindlichkeit, die effektive und effiziente Auffüllung von Nährstoffdefiziten, die Umgehung des Gastrointestinaltrakts bei diversen Malabsorptionen, die individuelle Therapiemöglichkeit für jeden Patienten. Auch die Kontraindikatio-

nen und die häufigsten Fehler bei orthomolekularen Infusionen werden besprochen. Besonders bewährt haben sich Infusions-­ Seminare zur Ausschwemmung von Schwermetallen, wodurch Blockierungen zahlreicher funktioneller Gruppen durch diese aufgehoben werden (7 Abschn. 24.3.1, Labordiagnostik). Die richtige Anwendung von Eiseninfusionen und anderes mehr sind weitere beherrschende Themen von Infusionsseminaren.  

24.5  Hauptindikationen

In allen Bereichen der Medizin kann die orthomolekulare Medizin präventiv und kurativ angewendet werden: Die in der orthomolekularen Medizin eingesetzten „Arzneien“ finden übergreifend in allen medizinischen Fachbereichen effektive Anwendungsmöglichkeiten. Vitamine, Spurenelemente, Mineralstoffe, Fett- und Aminosäuren, Hormone, Enzyme, probiotische Bakterien und andere Nährstoffe, die im Körper biologisch vorkommen, werden als orthomolekulare Wirkstoffe erfolgreich eingesetzt: Indikationen für orthomolekulare Medizin (Auswahl) 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55

Bluthochdruck Herz-Kreislauf-Erkrankungen Diabetes mellitus Fettstoffwechselstörungen Osteoporose Abnutzung von Gelenken Chronisch rezidivierende Infekte Entzündungen Erschöpfungszustände, Stress und Burnout Depression Schilddrüsenerkrankungen Hautalterung und Anti-Aging-Strategien Fruktose- und Laktoseintoleranz Balance endokriner Funktionen Embryonalentwicklung, Schwangerschaft und Stillzeit Onkologische Begleitung

553 Orthomolekulare Medizin

55 Zahnmedizinische Erkrankungen (u. a. Parodontose, Parodontitis) 55 Augenerkrankungen (entzündliche Augenerkrankungen, Glaukom, Katarakt) 55 Sportmedizinische Indikationen

24.6  Orthomolekulare Medizin

und Genetik

Es wird manchen Leser erstaunen, bei der Beschreibung der Grundsätze der orthomolekularen Medizin auch auf die Genetik zu treffen. Wir leben in einer Zeit der raschen Wissenserweiterung, selbst jüngste wissenschaftliche Erkenntnisse (State of the Art) gelten morgen oft nicht mehr. Das ist gut so, denn Wissenschaft darf nicht mit gesichertem Wissen verwechselt werden, Wissenschaft ist die Suche nach Wissen. Fast jede wissenschaftliche Disziplin muss derzeit drastisch umdenken, und auch die orthomolekulare Medizin muss immer wieder hinterfragt werden. Warum orthomolekulare Arzneien nicht nur bei Vitaminmangelkrankheiten, sondern auch anderweitig zur Therapie eingesetzt werden können, konnte erst mithilfe der Genetik erklärt werden. In diesem Abschnitt sollen die Zusammenhänge dargelegt werden, welche u. a. erklären, warum bestimmte orthomolekulare Substanzen einmal hervorragende Ergebnisse liefern und ein anderes Mal nicht. Bei den einzelnen Themen werden auch die Genotypen angegeben. Es ist in diesem Rahmen nicht unbedingt notwendig, diese zu kennen, wichtig ist nur, zu wissen, dass es sie gibt und was sie bewirken. Gene lassen sich ein- und ausschalten Es war der Gipfel des materialistischen Denkens: Unser Erbgut, ein klein bisschen Chemie, sollte unser Aussehen, unsere Persönlichkeit, unsere emotionalen, intellektuellen und gesundheitlichen Veranlagungen bestimmen. „Die Gene sind unser Schicksal“, echote es allerorten durch die Presse und wöchentlich glaubte man, das „Raucher-Gen“, das „Depressions-Gen“ oder dergleichen mehr gefunden zu haben. Man meinte gar, der Natur nun endlich auf die Schliche gekommen zu sein: Das Human Genome Project bräuchte den Code nur noch entschlüsseln, und der Mensch wäre für die

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Wissenschaft fortan kaum mehr als eine Maschine, vorhersagbar bis auf das Lieblingsgericht. Damit ist es aus. Das gesamte bisherige Wissen über unsere Gene und unsere Vorstellung über eine genetische Identität muss schon wieder zu den Akten gelegt werden. Denn wie die Epigenetik zeigt, sind unsere Gene nicht das Gehirn unserer Zellen, sondern vielmehr eine Art Bibliothek von Programmen, die je nach Bedarf aktiviert werden können. Forschungen haben klar gezeigt: Intelligenz, Gesundheit und Charaktereigenschaften lassen sich nachträglich verändern. Unser Geist ist stärker als die Gene. Wir sind kein Schicksal unserer Gene. Die Gene steuern uns zwar – aber wir steuern auch sie. Aus einem Kommentar aus dem Jahr 2010 zum Thema Epigenetik: 7 http://alternativesdenken.wordpress. com/2010/09/19/epigenetik-gene-lassen-sich-ein-undaus­schalten/. (Zugegriffen am 15.09.2017).  

24.6.1  Grundlagen

Der menschliche Körper besteht aus etwa 50 Billionen Zellen. In den meisten befindet sich ein Zellkern, der 46 Chromosomen beherbergt. Ein Chromosom besteht aus der stark spiralisierten Erbsubstanz, der DNA-­Doppelhelix, sowie aus Strukturproteinen. Auf der DNA ist der Bauplan des menschlichen Körpers niedergelegt. Die genetische Information besteht beim Menschen aus ca. 3,2 Mrd. Bausteinen (Basenpaaren), und etwa 1 % davon sind die Bereiche, die Merkmale kodieren und Gene genannt werden. Gene enthalten „Anweisungen“ (in Form von Basensequenzen) für den Bau von Proteinen, die zumeist nur eine bestimmte Funktion haben (z. B. Enzyme, die eine bestimmte biochemische Reaktion im Körper ermöglichen). Für die Ausprägung vieler Merkmale (z. B. Augenfarbe) ist das Zusammenwirken verschiedener Gene erforderlich. Genetisch festgelegt sind neben den äußeren Merkmalen auch Stoffwechselprozesse, wie z. B. die Verdauung. Auch die Verstoffwechselung von Medikamenten hat eine genetische Grundlage. Alle Menschen tragen Genvarianten und auch Gendefekte (Mutationen) in sich. Diese kommen sehr häufig vor und sind verantwortlich dafür, dass manche Menschen ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkt, Osteoporose oder Hypertonie haben (genetische Disposition).

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Eine Genvariante zu haben, bedeutet in vielen Fällen nicht, mit Sicherheit eine Krankheit zu bekommen, sondern lediglich ein erhöhtes Erkrankungsrisiko. Ob eine Krankheit ausbricht, hängt auch von äußeren Einflüssen und vom Lebensstil ab. Verträgt eine Person z. B. aufgrund einer genetischen Variation keine Laktose, ist diese Person vollkommen beschwerdefrei, solange sie keine Milchprodukte zu sich nimmt. Zu Beschwerden kommt es erst, wenn bestimmte Umwelteinflüsse zum Tragen kommen, in diesem Fall die Laktosezufuhr über die Nahrung. kMutationsursachen

55 Eine sehr wichtige Ursache von Gendefekten ist Radioaktivität, wobei radioaktive Strahlen in die Zellen eindringen, die DNA beschädigen und damit die genetische Information verändern. 55 Eine weitere Ursache für Mutationen sind bestimmte Stoffe, wie z. B. heterozyklische aromatische Amine (HAA) und polyzyklische aromatische Kohlenwasserstoffe (PAK), die u. a. auf Gegrilltem vorkommen. Sie dringen ebenfalls in die Zellen ein und beschädigen diese, was bei Vorliegen eines bestimmten Genotyps zu Darm- und einigen anderen Krebsarten führen kann. 55 Die UV-Strahlung der Sonne kann ebenfalls Gene beschädigen und zu Hautkrebs führen. Ob ein Gendefekt tatsächlich weitergegeben wird, bestimmt der Zufall. Jeder Mensch ist einzigartig. Das Wissen über genetische Risiken bzw. Vorteile ist der nächste Schritt in der Präventivmedizin und eröffnet eine neue Generation der Gesundheitsvorsorge (personalisierte Medizin). kDas „Das-will-ich-gar-nicht-wissen-­ Phänomen“

Ein besonderes Phänomen stellt die Angst vor den Ergebnissen einer Genanalyse dar, was an falschen Vorstellungen oder am Halbwissen der Betroffenen liegt. Bei einer verantwortungsvoll durchgeführten Genanalyse werden sinnvollerweise lediglich solche Genvarianten untersucht, bei denen ggf. etwas unternommen werden kann.

Die meisten Genvarianten sind sog. SNPs (single nucleotide polymorphisms), d.  h., die Veränderung bezieht sich auf ein einzelnes Basenpaar. Der Umgang mit Risikofaktoren für Herzinfarkt, Schlaganfall, Osteoporose oder Übergewicht beeindruckt die meisten Menschen wenig. Bei Genvarianten handelt es sich ebenfalls nur um Wahrscheinlichkeiten und nicht darum, dass diese oder jene Krankheit mit Sicherheit eintreten wird. Das gar nicht wissen zu wollen, ist unbegründet und eher irrational. Genvarianten stellen die neueste Risikofaktoren-Generation dar. 24.6.2  Epigenetik

Epigenetik bedeutet, dass das Aktivitätsmuster von Genen durch äußere Faktoren verändert, beeinflusst, „geprägt“ werden kann. Epigenetische Mechanismen sind auch deshalb interessant, weil sie den Einfluss von Vitaminen, Spurenelementen und anderen orthomolekularen Substanzen auf die Aktivität der Gene erklären können. Auch auf Ernährungsfaktoren trifft dies zu. Die Methylierung der DNA ist einer der Mechanismen zur Regulierung der Genaktivität, die bewirken, dass die gleichen Gene bei verschiedenen Individuen unterschiedliche physiologische Aktivitäten (z. B. Grundumsatz, Blutzuckerregulation etc.) vermitteln können. Auch können nur väterliche oder nur mütterliche Allele durch Methylierung komplett ausgeschaltet werden (genomisches Imprinting). Das nichtmethylierte Allel vom einen Elternteil bleibt aktiv, das andere, methylierte ist stumm (Gen-Silencing).

Epigenetische Veränderungen der DNA 55 Durch viele Acetylierungen bleiben Gene aktiv 55 Durch viele Methylierungen werden Gene abgeschaltet 55 Methylierung wirkt auch indirekt, indem sie Deacetylierung fördert 55 Es sind noch weitere Modifikationen bekannt wie u. a. die Phosphorylierung

555 Orthomolekulare Medizin

Gene sind also in ihrer Aktivität beeinflussbar, und das durchaus auch in sehr kurzer Zeit. Vor und nach einer Bergwanderung, vor und nach einem Saunagang, vor und nach einer stressbelasteten Diskussion ist die jeweilige Genexpression völlig verschieden. Auch die Psyche und zwischenmenschliche Beziehungen beeinflussen das Erbgut. 24.6.3  Oxidativer Stress und

Telomere

Oxidativer und nitrosativer Stress spielen eine große Rolle in der Beeinflussung des epigenetischen Musters. Dazu ein Beispiel (7 www.­drhuber.­at/telomere/. Zugegriffen am 15.09.2018): Der Prozess des Alterns kann bis heute nicht ausreichend erklärt werden. Eine der zahlreichen Theorien des Alterns betrifft die Telomere, d. h. die Endstellen an den Chromosomen, die eine Schutzfunktion für die DNA ausüben. Die bei jeder Zellteilung stattfindende Verkürzung der Telomere braucht diese mit der Zeit auf, die Zelle teilt sich nicht mehr und ist damit gealtert (Seneszenz). Dem steuert das Enzym Telomerase entgegen, welches die Telomere wieder verlängert. Die Telomeraseaktivität alleine reicht jedoch nicht aus, um den Alterungsprozess der Zelle zu verhindern. Telomere sind sehr empfindlich gegen freie Radikale und gegen oxidativen Stress. Auch Stresshormone verkürzen Telomere, ebenso Übergewicht. Hormone, auch im Rahmen einer Hormonersatztherapie, sowie regelmäßiger Verzicht auf das Abendessen (dinner cancelling) verlängern sie. 55 Oxidativer Stress unterdrückt die Telomeraseaktivität in Endothelzellen. 55 Psychischer Stress reduziert die Telomeraseaktivität –„Stress verkürzt das Leben“ 55 Oxidiertes LDL-Cholesterin korreliert invers mit der Telomeraseaktivität. 55 Hohe Vitamin-D-Spiegel korrelieren mit längeren Telomeren in Leukozyten und korrelierten invers mit der CRP-­ Konzentration.  

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24.6.4  Omega-3-Fettsäuren und

Apolipoprotein A1

Der Nobelpreis für Medizin 1982 wurde Forschern für bahnbrechende Arbeiten über Omega-3-Fettsäuren verliehen. Erst 20 Jahre später wurden Omega-3-Fettsäuren durch positive Ergebnisse der GISSI-Studie medizinisch „salonfähig“ (Maggioni et al. 1991). Eine erhebliche Verringerung der Fälle von plötzlichem Herztod nach Gabe von mehrfach ungesättigten Fettsäuren in einer Sekundärpräventionsstudie sorgte für Aufsehen. Omega-3-Fettsäuren sind nicht nur aus kardialer Indikation von großer Bedeutung, sondern auch in der Schwangerschaft. In der Zellmembran eingelagert, sorgt Docosahexaensäure (DHA) für Fluidität und Integrität der Zellmembran. Für die Gehirnentwicklung nimmt der Embryo/Fetus Omega-­ 3-­Fettsäuren von der Mutter auf. Ist die Mutter damit schlecht versorgt, werden ihr auch noch die wenigen verfügbaren Omega-3-Fettsäuren entzogen. Das kann bei der Mutter kognitive und u. U. auch kardiale Probleme verursachen. Die Vorteile der Supplementierung mit DHA vor, während und nach der Schwangerschaft sind bessere motorische und kognitive Funktionen sowie eine bessere Sehfunktion. Eicosapentaensäure (EPA) ist innerhalb der Zelle lokalisiert und steht im Wesentlichen für Entzündungshemmung, Gefäßerweiterung und Gerinnungshemmung. Apolipoprotein A1 (APOA1), ein Strukturprotein, hält das HDL-Partikel zusammen, das im Wesentlichen Cholesterin, Triglyzeride und Phospholipide enthält (HDL ist ein Lipoprotein). In dieser Form wird Cholesterin zur Leber transportiert, wo es abgebaut oder ausgeschieden wird. Für APOA1 gibt es drei Genotypen: Bei Vorliegen der Genotypen A/A oder A/G, welche bei 12  % bzw. 38  % der Bevölkerung vorkommen, verbessern Omega-3-Fettsäuren die HDL-Cholesterinwerte. Beim Genotyp G/G können Omega-3-Fettsäuren die HDL-­ Werte dagegen verschlechtern. Um dieses Risiko, welches ja nicht bei jedem zum Tragen

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kommt, abzusichern, bewährt sich folgendes Vorgehen: 55 Die Blutfettwerte (Triglyzeride, Gesamt-, HDL-, LDL-Cholesterin) werden bestimmt. 55 Anschließend wird für 2 Monate ein qualitativ hochwertiges und entsprechendes EPA/DHA-Präparat gegeben. 55 Während der Einnahme nach 4 Wochen und am Ende der Einnahme, also nach 8 Wochen, werden die Blutfettwerte erneut bestimmt. Bei Abnahme des HDL-Cholesterins ist von einer entsprechenden Therapie eher abzusehen. So wertvoll Omega-3-Fettsäuren in vielen Bereichen sind, können sie sich, wie dieses Beispiel zeigt, auch zum Nachteil auswirken. 24.6.5  Vitamin D

Unter den orthomolekularen Substanzen ist Vitamin D der Shooting Star der letzten Jahre. Längst vorbei sind die Zeiten, als Vitamin D auf seine Wirkung bei Rachitis, Osteoporose und auf den Kalziumstoffwechsel reduziert wurde. Seit der Entdeckung der Vitamin-D-­ Rezeptoren in fast allen Geweben entsteht der Eindruck, Vitamin D sei ein Alleskönner. Calcidiol oder 25-(OH)D3 (hydroxyliertes Vitamin D3) wird an der Plasmamembran der Mitochondrien durch die magnesiumabhängige 1-α-Hydroxylase in das aktive Calcitriol oder 1,25-(OH)2D3 (doppelt hydroxyliertes Vitamin D3) umgewandelt. Der Vitamin-D-­ Rezeptor (VDR) ist ein Transkriptionsfaktor und kann die Transkription bestimmter Gene und damit auch den Stoffwechsel beeinflussen. Er wird durch Calcitriol 100-mal mehr aktiviert als durch Calcidiol. Calcitriol wird an den VDR gebunden. In dieser Form kann Calcitriol seine Wirkungen entfalten, die keineswegs nur auf den Kalziumund Phosphatstoffwechsel beschränkt sind. Vitamin-D-Rezeptoren finden sich in nahezu allen Geweben: in Bauchspeicheldrüse, Muskulatur, Haut, blutbildenden Zellen, Zellen des Immunsystems und besonders reich-

lich in Gehirn und Rückenmark. 500–6000 Vitamin-­D-Rezeptoren befinden sich in Zellen des Rückenmarks und des limbischen Systems. Letzteres ist u.  a. für die Verarbeitung von Emotionen und die Ausschüttung von Endorphinen verantwortlich.

Orthomolekularmedizinische Indikationen für die Gabe von Vitamin D (Auswahl) 55 Deutliche Verbesserung des Erfolgs einer Standardtherapie der chronischen Hepatitis C (Gschwandtner 2010) 55 Verbesserung der postprandialen Insulinsensitivität (Nagpal et al. 2009) 55 Steigerung der Muskelkraft (Ward et al. 2009) 55 Hemmung des altersbedingten Muskelabbaus, Verbesserung der Muskelkraft und des Gleichgewichts 55 Reduktion des Sturzrisikos (Bischoff-­ Ferrari et al. 2009) 55 Effektiv zur Vorbeugung winterlicher grippaler Infekte 55 Kognitive Beeinträchtigung: Die Gruppe mit dem niedrigsten Vitamin-D-Spiegel weist mehr als doppelt so oft kognitive Defizite auf als die Gruppe mit hohen Vitamin-D-Spiegeln (Llewellyn et al. 2009)

Das Vorliegen der VDR(rs1544410)-Genotypen A/G und A/A weist auf ein signifikant höheres Osteoporoserisiko hin. Dieses Risiko früh zu erkennen, ermöglicht ein frühes Gegensteuern mit orthomolekularen Arzneien. Zu diesen zählt neben Vitamin D und Kalzium eine weitere Palette von Spurenelementen und Vitaminen, da der Knochen ja nicht nur aus Kalzium besteht: 55 Vitamin K zur Bildung von Osteokalzin, 55 Mangan, Silizium, Bor, Magnesium und Zink zur Aktivierung der alkalischen Phosphatase, 55 Vitamin B6, Kupfer, Folsäure und einige andere Substanzen sind dafür ebenfalls notwendig,

557 Orthomolekulare Medizin

55 die Aminosäure Prolin, ein Grundbaustein von Kollagen, ist bedeutend; für dessen Wirkung muss Prolin in die aktive Form Hydroxyprolin umgewandelt (hydroxyliert) werden, wozu Vitamin C erforderlich ist, 55 außerdem hat sich das Isoflavon Ipriflavone bewährt, da es die Knochenaufbauzellen stimuliert und die Knochenabbauzellen hemmt. 24.6.6  Coenzym Q10

1955 wurde Coenzym Q10 (Ubichinon) entdeckt und kurz darauf seine Struktur aufgeklärt (. Abb.  24.1). Bis heute hat es noch im 

24

mer nicht die Anerkennung und den Einsatz in der Medizin erlangt, der aus komplementärmedizinischer Sicht angemessen wäre. Coenzym Q10 ist eine körpereigene Substanz, deren Produktion ab dem 40. Lebensjahr abnimmt. Sie besteht aus einem Chinongerüst, welches von den essenziellen Aminosäuren Phenylalanin und Tyrosin gebildet wird. Als Methylgruppendonator fungiert Methionin, wobei Folsäure und Vitamin B12 als Kofaktoren benötigt werden. Die lange Seitenkette wird über Mevalonsäure gebildet. Da Mevalonsäure ein Zwischenprodukt in der Cholesterinsynthese darstellt, ergibt sich ein gemeinsames Zwischenprodukt in der Synthese von Coenzym Q10 und Cholesterin. Aus . Abb.  24.2 ist ableitbar, dass durch Hemmung der HMG-CoA-Reduktase durch Statine (CSE-Hemmer) nicht nur die Cholesterinsynthese, sondern auch die Synthese von Coenzym Q10 reduziert wird (Gröber 2006).  

O H3C H3C

O

CH3

O

H O

CH3 10

..      Abb. 24.1  Chemische Struktur von Coenzym Q10

zz Wichtige Funktionen von Coenzym Q10

55 Coenzym Q10 schützt Membranen vor radikalischen Schäden 55 Coenzym Q10 wirkt als Radikalfänger bzw. Antioxidans in der Lipidphase der Mem­ branen

Acetyl-CoA

Acetoacetyl-CoA

+ H2O HMG-CoA HMG-CoA-Reduktase Mevalonsäure

Squalen-Synthetase Squalen Cholesterin

Farnesyl-PP

CSE-Hemmer

trans-Prenyl-Transferase Solanseyl-PP Coenzym Q10

..      Abb. 24.2  Schema der Synthese von Cholesterin und Coenzym Q10. CSE-Hemmer Cholesterinsyntheseenzym-­Hemmer

558

24

R. Schroth

55 Coenzym Q10 steuert wesentlich die Energiegewinnung in den Mitochondrien (oxidative Phosphorylierung, ATP) 55 Es nimmt dabei eine Schlüsselrolle als Elektronen- und Protonenüberträger auf Sauerstoff zwischen Komplexen der Atmungskette ein 55 Senkt man Coenzym Q10, lässt die Energieausbeute nach 55 Coenzym Q10 steuert auch Gap-Junctions, die für den Informationsaustausch zwischen Zellen wichtig sind 55 Coenzym Q10 steuert die Ionenkanäle für K+, Ca2+ und Cl–, ebenso auch Aquaporine (Wasserkanäle) oder die Vitamin-C-­ Transporter. Stresssituationen können bei allen energieintensiven Prozessen zu Defiziten an Coenzym Q10 führen. Gleiches stellt sich auch bei Belastungen durch Umweltgifte, Strahlung, Herz-­Kreislauf-­ Erkrankungen, Sport, Karzinome u. a. ein. Aufgrund der antioxidativen, membranstabilisierenden und energetischen Eigenschaften wird Coenzym Q10 bei verschiedenen Krankheiten und in bestimmten Situationen eingesetzt: Orthomolekularmedizinische Indikationen für die Gabe von Coenzym Q10 55 Herzinsuffizienz 55 Bluthochdruck 55 Kardiomyopathien

55 55 55 55 55

Diabetes mellitus Zahnfleischprobleme Karzinome Reifes Alter Besonders wichtig: Leistungs- sowie Hobbysport

Ob der Einsatz von Coenzym Q10 tatsächlich das Prädikat „erfolgreich“ verdient, muss hinterfragt werden. Ob eine Arznei wirkt oder nicht wirkt, wird oft daran abgelesen, ob der entsprechende Blutspiegel ansteigt, wobei selbstverständlich die Klinik nicht außer Acht gelassen werden darf. Die Aussage „Wert steigt  – erfolgreich therapiert“ trifft in vielen Fällen nicht zu. Coenzym Q10 ist eine inaktive, zunächst unwirksame Arznei. Sie muss im Körper durch das Enzym NAD(P)H Dehydrogenase, kodiert durch das Gen NQO1, in die aktive Form, Ubichinol (. Abb.  24.3), umgewandelt werden. Bei Vorliegen des Genotyps T/T kann Coenzym Q10 gar nicht, bei Vorliegen des Genotyps C/T nur sehr langsam umgewandelt werden. Die Tücke, und das ist das Täuschende, besteht darin, dass die gemessenen Blutwerte in jedem Fall ansteigen, weil bei der Messung immer nur die Summe von aktiver und inaktiver Form gemessen wird, was letztlich zu einer falschen Beurteilung führt. Die sichere Antwort bekommt man mit einer einfachen genetischen Analyse von NQO1.  

OH

H3C H3C

CH3

O

CH3

O OH

CH3

CH3 n-1

..      Abb. 24.3  Chemische Struktur von Ubichinol

559 Orthomolekulare Medizin

24

Durch Statine bedingte Myopathien basieren auf einer zusätzlichen genetischen Grundlage. Zum Abfedern der Nebenwirkung bei Myopathie ist eine Coenzym-Q10-Therapie in der aktiven Form wichtig.

55 Taurin, 55 R-α-Liponsäure, 55 Coenzym Q10, 55 Cystein, 55 Selenocystein, 55 Methionin.

24.6.7  Freie Radikale

Beispielhaft für die vielen enzymatischen Antioxidanzien werden hier die zu den Selenoproteinen gehörende selenabhängige Glutathionperoxidase (GPx1) und die kupfer-, mangan- und zinkabhängige Superoxiddismutase 2 (SOD2) kurz besprochen: 55 Das genetische Profil von SOD2 sagt aus, ob der Organismus ausreichend vor freien Radikalen geschützt ist und ob die Aufnahme von Zink, Kupfer, Mangan etc. aus der Nahrung ausreicht. Die Genotypen T/T und C/T bieten nur einen eingeschränkten Schutz. 55 Die Aktivität von GPx1, welche die Reduktion von Peroxiden wie Wasserstoffperoxid katalysiert, hängt von einer ausreichenden Selenversorgung ab. Die Genotypen T/T und C/T bieten ebenfalls nur einen eingeschränkten Schutz vor freien Radikalen.

Sauerstoff spielt bei der Entstehung freier Radikale eine wesentliche Rolle. Atmosphärischer Sauerstoff, den wir einatmen, wird in der Zelle benötigt, um aus der Nahrung Energie für die Zelle in Form von ATP zu gewinnen. Dieser Prozess läuft in den Kraftwerken der Zelle, den Mitochondrien, ab. Die Anzahl reicht von wenigen Dutzend bis zu mehreren tausend pro Zelle. Je mehr Energie in einem Organ benötigt wird, umso mehr Mitochondrien sind in seinen Zellen vorhanden. Auch außerhalb des Körpers zeigen sich täglich radikalische Reaktionen und Schäden. Wenn Butter an ihrer Oberfläche ranzig wird, sprich oxidiert, wenn Eisen rostet, Gummi morsch und Plastik spröde werden. Der Ort der radikalischen Attacken und Gegenattacken im Organismus selbst ist zumeist die Zelle mit ihren Strukturen, Zellmembran, Mitochondrien, DNA, RNA, Enzyme, Mikrosomen, Strukturproteine und andere. Im Rahmen der Phagozytose bekämpfen freie Radikale Bakterien und Viren. Der Mensch könnte ohne freie Radikale nicht überleben, doch das Gleichgewicht von freien Radikalen und Radikalfängern bzw. Oxidanzien und Antioxidanzien muss gewährleistet sein. Um dieses Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, ist der Körper einerseits mit enzymatischen Antioxidanzien ausgestattet und andererseits auf solche aus der Nahrung angewiesen. Dazu zählen, neben vielen anderen, 55 Vitamin C, 55 Vitamin E, 55 Folsäure, 55 β-Carotin, 55 Selen, 55 Zink, 55 Harnsäure,

Beide Beispiele zeigen, wie wichtig Zink, Selen und viele andere Spurenelemente im Zusammenhang mit Entgiftung und der ­Beseitigung freier Radikale sind. Warum GPx1, SOD2 oder andere Enzyme diese Spurenelemente benötigen, hat folgenden Grund: Nicht alle, jedoch viele Enzyme liegen in inaktiver Form vor. Sie müssen erst durch Metallionen oder Vitamine aktiviert werden, indem diese sich mit den Enzymen verbinden. Besteht z.  B. eine mangelhafte Selenversorgung, so stehen nur wenige aktive Enzyme zur Verfügung, bei guter Versorgung sind es entsprechend mehr. Oft werden freie Radikale im Kontext Freie Radikale – Freund oder Feind diskutiert. Der Musiker Neil Young fand in seinem Song From Hank to Hendrix (1992) eine zutreffende Formulierung:

»» „The same thing that makes you live can kill you in the end.“

560

R. Schroth

24.6.8  Quecksilber

24

Bezogen auf die Gefäße ist der Verlust der antithrombotischen Endothelfunktion und soDie Belastung des Immunsystems durch Um- mit die Förderung thrombogener Bedingunweltgifte ist auch heute noch bedeutend. Die gen Folge eines erhöhten Homocysteinspiegels. Zur Beurteilung, ob erhöhtes Homocystein Analyse, ob eine derartige Belastung vorliegt einen Einfluss auf kognitive Funktionen hat, oder nicht, sollte bei jeder gründlichen orwurde eine Studie an 1092 Personen, im Mittel thomolekularmedizinischen Untersuchung 76 Jahre alt und ohne Demenz, durchgeführt durchgeführt werden. Es ist erstaunlich, wie (Seshadri et al. 2002). Innerhalb von 8 Jahren häufig beträchtliche Belastungen diagnosentwickelten 111 Studienteilnehmer eine Detiziert werden: u.  a. mit Quecksilber, Cadmenz, 83 davon eine Demenz vom Typ Alzmium, Blei, Wismut, Nickel, Zinn, Palladium, heimer. Ein Homocysteinspiegel > 14  μmol/l Chrom, Arsen. verdoppelte das Risiko für eine Alzheimer-­ Es ist heute einfach, mit einem MobilisaErkrankung. tionstest mit DMPS (DimercaptopropansulFür den Abbau von Homocystein ist eine fonsäure) oder DMSA (Dimercaptobernsteinausreichende Versorgung mit Folsäure, Vitasäure) eine Belastung mit Schwermetallen min B , Vitamin B6 und Vitamin B2 erforderfestzustellen. Über die Entgiftungsphase II 12 lich. Eine Schlüsselrolle spielt die 5,10-Me­ in der Leber werden auch Pestizide wie u.  a. thylentetrahydrofolatreduktase (MTHFR). Pflanzenschutz- und SchädlingsbekämpfungsEin bekannter Polymorphismus führt zur Promittel entgiftet. duktion eines thermolabilen, daher teilweise Die Entgiftungsgene GSTM1, GSTP1 und GSTT kodieren für die sog. Glutathion-S-­ defekten Enzyms mit verminderter Aktivität. Transferasen, die solche Umweltgifte unschäd- Dieser T/T-Genotyp wurde mit moderaten lich machen, sofern die Gene funktionstüchtig Formen der Hyperhomocysteinämie sowie sind. Sind sie jedoch defekt, kann der Körper mit verminderten Folsäurekonzentrationen in nicht ausreichend entgiften. Zahlreiche chro- Plasma und Erythrozyten assoziiert und wird nische Probleme ergeben sich daraus und stel- mit einem erhöhten Risiko für eine Reihe von len auch einen limitierenden Faktor für die Erkrankungen in Verbindung gebracht. Dass suboptimale ­ Folsäurekonzentrationen bei Gesundheit dar. Schwangeren einen Risikofaktor für NeuralDas in der orthomolekularen Medizin häurohrdefekte beim Kind darstellen, ist bekannt. fig eingesetzte Glutathion spielt eine zentrale Rolle im Zusammenhang mit einer einge- >> Es ist wichtig, den offensichtlich erhöhschränkten Entgiftung von Pestiziden, Chemiten Bedarf an Folsäure bei Individuen kalien, Fungiziden, Herbiziden, Insektensprays vom MTHFR-T/T-Genotyp zu berücksichund Schwermetallen. tigen. 24.6.9  Homocystein

24.7  Ausbildung

Bis heute ist nicht bekannt, welche Funktion Homocystein im Stoffwechsel erfüllt. Dass überhöhte Homocysteinwerte einen eigenständigen Risikofaktor für Arteriosklerose (Yang et  al. 2005), venöse Thrombose, Osteoporose (McLean et al. 2004; van Meurs et al. 2004) und geistigen Abbau (Seshadri et al. 2002) darstellt, ist signifikant.

Die Ausbildung erfolgt in 6 Seminaren, welche meist in einem bis eineinhalb Jahren absolviert werden können und die Erlangung des Österreichischen Ärztekammer-Diploms in orthomolekularer Medizin, welches auch in Deutschland anerkannt ist, zum Ziel haben. In den Seminaren wird alles viel einfacher und praxisorientierter vermittelt, als das in einem

561 Orthomolekulare Medizin

Kapitel möglich ist. Das Wissen und die Sicherheit in der Anwendung in der eigenen Praxis zu erlangen, stehen im Vordergrund. Von größter Wichtigkeit ist eine firmenunabhängige Ausbildung. Es hat sich leider herausgestellt, dass viele Fortbildungen vorgeben, orthomolekulare Medizin anzubieten, in Wirklichkeit aber versteckte Verkaufsveranstaltungen sind, was der orthomolekularen Medizin nicht gut tut und sie angreifbar macht. Die einzige firmenunabhängige Ausbildung in Österreich bietet seit 15 Jahren die ÖGOM (Österreichische Gesellschaft für Orthomolekulare Medizin), an (7 http://www.­oegom.­at/).  

Zusammenfassung 55 Die bloße Verordnung eines Spurenelements oder eines Vitamins erfordert im Hintergrund Kenntnisse der Biochemie, der Toxikologie und in bescheidenerem Ausmaß auch der Immunologie. 55 Faszinierend ist die Nähe von orthomolekularer Medizin und Genetik. 55 Wer die einfachen Kenntnisse der Zusammenhänge zwischen orthomolekularen Arzneien und Genetik nicht berücksichtigt, wird das Erfolgspotenzial der orthomolekularen Medizin nicht nur nicht ausschöpfen, sondern in manchen Fällen auch dem Prinzip primum nil nocere nicht gerecht werden. 55 Der Überzeugung des Verfassers folgend, zahlt es sich aus, sich näher mit orthomolekularer Medizin zu beschäftigen, zum Vorteil von Patienten und Arzt.

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24

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563

Musischer Ansatz Gerhard Tucek und Harald Fritz-Ipsmiller 25.1

 öglichkeiten und Grenzen der Musiktherapie – Wege M zur Interdisziplinarität im Gesundheitswesen – 564

25.1.1 25.1.2 25.1.3 25.1.4 25.1.5 25.1.6 25.1.7 25.1.8

E inführung – 564 Methoden der Musiktherapie – 565 Musiktherapie als „beziehungsmedizinisches“ Angebot – 565 Regulation im Kontext aktiver und rezeptiver Musiktherapie – 569 Die Rolle der „musikalischen Biographie“ – 570 Fallbeispiel – 570 Studien, Evidenzlage – 571 Ausbildung in Österreich – 572

25.2

Ganzheitliche Kunsttherapie – 573

25.2.1 25.2.2 25.2.3 25.2.4 25.2.5 25.2.6 25.2.7 25.2.8 25.2.9 25.2.10 25.2.11

E inführung – 573 Kunsttherapeutische Ansätze – 573 Bildende Kunst – 575 Bewegung – 577 Sprache – 578 Musik – 579 Theatertherapie – 580 Kreativitätstherapie und Kunsttherapie – 580 Ganzheitliche Kunsttherapie aus ärztlicher Sicht – 581 Fallbeispiel – 582 Studien/Evidenzlage – 584

Literatur – 585

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_25

25

564

G. Tucek und H. Fritz-Ipsmiller

25.1  Möglichkeiten und Grenzen

der Musiktherapie – Wege zur Interdisziplinarität im Gesundheitswesen

Gerhard Tucek 25.1.1  Einführung

25

Gemäß World Federation of Music Therapy (7 https://www.wfmt.info/) ist Musiktherapie:  

»» „… the professional use of music and its

elements as an intervention in medical, educational, and everyday environments with individuals, groups, families, or communities who seek to optimize their quality of life and improve their physical, social, communicative, emotional, intellectual, and spiritual health and wellbeing. Research, practice, education, and clinical training in music therapy are based on professional standards according to cultural, social, and political contexts.“ (WFMT 2011)

Gesetzliche Rahmenbedingungen in Österreich Musiktherapeut ist in Österreich seit 2008 ein gesetzlich anerkannter Gesundheitsberuf (Muth 2008). Damit nimmt Österreich inter­ national eine Sonderstellung ein, da in Öster­ reich der musiktherapeutische Beruf – im Ge­ gensatz zu Deutschland, der Schweiz und anderen Ländern – gesetzlich geregelt ist. Ge­ mäß der gesetzlichen Regelung in Österreich ist Musiktherapie eine

»» „… eigenständige, wissenschaftlich-künst-

lerisch-kreative und ausdrucksfördernde Therapieform … Sie umfasst die bewusste und geplante Behandlung von Menschen, insbesondere mit emotional, somatisch, intellektuell oder sozial bedingten Verhaltensstörungen und Leidenszuständen, durch den Einsatz musikalischer Mittel in einer therapeutischen Beziehung zwischen einem (einer) oder mehreren Behandelten und

einem (einer) oder mehreren Behandelnden mit dem Ziel Symptomen vorzubeugen, diese zu mildern oder zu beseitigen oder behandlungsbedürftige Verhaltensweisen und Einstellungen zu ändern oder die Entwicklung, Reifung und Gesundheit des (der) Behandelten zu fördern und zu erhalten oder wiederherzustellen.“ (Muth 2008)

Aus diesem Zitat wird ersichtlich, dass der Ge­ setzgeber die therapeutische Wirkung von Mu­ siktherapie aus einer Kombination von mu­ sikalischem Geschehen und therapeutischer Beziehung sieht. Diese Entscheidung ist vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen Musikmedizin und Musiktherapie zu verstehen.

Musikmedizin und Musiktherapie Musikmedizin - versteht Musikwirkung im Sinne eines Pharmakons (Bernatzky et al. 2011) mit verallgemeinerbarer und vorhersagbarer Wirkung (Laczika et al. 2013). Die Wirkung der eingesetzten Musik gründet sich auf musikalische Elemente wie Rhythmus, Tempo, Dynamik, Verlauf und Tonfolgedichte, die auf die jeweiligen körpereigenen Rhythmen einwirken (Brandes et al. 2012). Musiktherapie - orientiert sich an einem „beziehungsmedizinischen“ Therapieverständnis, das in weiterer Folge in diesem Beitrag vertieft wird.

Über lange Zeit bestand ein ideologisch aufge­ ladener Konflikt zwischen diesen beiden un­ terschiedlichen Zugängen heilsamer Musik­ wirkung. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse ha­ ben diesen Streit inhaltlich weitgehend ent­ schärft, da sich beide Positionen wissenschaft­ lich rechtfertigen lassen: Vereinfacht gesagt, wirkt Musik „direkt“ über die Hörbahn, indem die Klanginformationen vom Ohr (Hörnerv) über den Hirnstamm und teilweise auch über das limbische System bis zum primären auditi­ ven Kortex (Schaltzentrale in der Großhirn­ rinde) gelangt. Auf diesem Weg beeinflusst Musik auch Atmung, Wachheit und Kreislauf. Hierauf beziehen sich musikmedizinische An­ sätze (Roederer 2000). Die primäre Hörrinde ist mit weiteren Area­ len in der Großhirnrinde verbunden, in denen Wahrnehmungs- und Interpretationsprozesse

565 Musischer Ansatz

der aufgenommenen Schallsignale stattfinden, die Assoziationen und Erfahrungen verarbeiten und in denen individuelle Erinnerungen abgelegt werden. Menschen verknüpfen mit ein und dem­ selben Musikstück situationsgebundene Erinne­ rungen und Emotionen. Auf diese Weise generie­ ren Personen ihre „musikalische Biographie“. Verallgemeinernd lässt sich das Musikverständ­ nis in der Musiktherapie mit einen Gedanken des Dirigenten Sir Simon Rattle zusammenfassen:

»» „Musik ist nicht das, was sie ist, sondern

das, was sie dem Menschen bedeutet“. (Aus einem Interview im Dokumentarfilm Rhythm is It aus dem Jahr 2004)

25

Die aktiven und dialogorientierten Techniken lassen sich in drei weitere Untergruppen diffe­ renzieren: 55 Stützende Spieltechniken wie z. B. An­ passen, Imitieren, Synchronisieren, Begleiten, 55 empathische Spieltechniken wie Teilen, Halt geben, Spiegeln, Aufnehmen, Reflektieren, 55 an Veränderung orientierte konfrontierende Techniken wie Intensivieren, Übertreiben, Veränderung einführen. Diesen therapeutischen Spieltechniken ist die Suche nach einem beziehungsorientierten Zugang zum Patienten gemeinsam.

25.1.2  Methoden der

Musiktherapie

Mit der rezeptiven und (inter)aktiven Musiktherapie haben sich methodisch zwei Inter­ ventionsformen herausgebildet (Wigram 2004; Bruscia 1987). Interventionsformen in der Musiktherapie 55 Rezeptive Formen gestalten sich aus: ȤȤ Einfachen Klanginterventionen ȤȤ Freien rezeptiven Interventionen ȤȤ Musikalischer Biographiearbeit ȤȤ Musikalischem „Fürspiel“ ȤȤ Themenzentrierten Interventionen (z. B. Arbeit mit inneren Bildern) 55 Aktive Formen bestehen aus unterschiedlichen Improvisationsformen, z. B.: ȤȤ Rhythmus-, dynamik-, klangorientierte musikzentrierte Improvisation ȤȤ An inneren Bildern, Situationen oder Symptomen orientierte themenzentrierte Improvisation ȤȤ Freie Improvisationen ȤȤ Musikalisches Rollenspiel für die Bearbeitung zwischenmenschlicher Konflikte bzw. zur Förderung sozialer Verhaltensweisen

25.1.3  Musiktherapie als

„beziehungsmedizinisches“ Angebot

In Ergänzung zu biomedizinischen Behand­ lungsmodellen fokussieren sich Musikthera­ peuten auf „beziehungsmedizinische“ und kommunikative Aspekte des Genesungspro­ zesses (Luban-Plozza et al. 1988).

Beziehungsmedizinische Kompo­ nente: Kommunikation Auf deren Bedeutung wies bereits Michael Ba­ lint hin, der davon sprach, dass der Arzt bei seinen Patienten zwei „Krankheiten“ zu behan­ deln habe (Balint 2001): 55 Zum einen sind es Empfindungen, Befürch­ tungen, Ahnungen und die subjektiv empfundenen Schmerzen des Patienten, 55 zum anderen ist es das medizinisch „fassbare“ Leiden. Zu ähnlichen Schlüssen kommt auch Paul Watzlawick, der jeder Kommunikation einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt zu­ schreibt (Watzlawick et al. 2007). Neben der in einer Sachinformation ent­ haltenen inhaltlichen Komponente offenbart der Beziehungsaspekt die emotionale Beziehung zwischen Sender und Empfänger.

566

G. Tucek und H. Fritz-Ipsmiller

Rezente Kommunikationsmodelle stellen allerdings die Annahme, dass fixe Botschaften zwischen einem Sender und einem Empfänger hin und her geschickt würden, radikal infrage (Storch und Tschacher 2014). Für die Ent­ schlüsselung von Wortbedeutungen ist nicht der Verstand, sondern vielmehr der Körper entscheidend (Lobel 2015).

25

Beziehungsmedizinische Kompo­ nente: Gemeinsames Handeln Der Neurowissenschaftler und Psychothera­ peut Joachim Bauer nennt  – im Gegensatz dazu  – fünf wesentliche Voraussetzungen für gelingendes kooperatives Handeln: Voraussetzungen für gelingendes kooperatives Handeln nach Bauer (2006)

Beziehungsmedizinische Kompo­ nente: Biologische Kennzeichen Mittlerweile ist zwischenmenschliche Begeg­ nung auch auf der Grundlage biologischer Pro­ zesse nachvollziehbar. Beispielsweise lässt sich soziales Verhalten, Empathie und die mensch­ liche Fähigkeit, Emotionen zu erkennen, auf der Basis von Spiegelneuronen erklären (Gal­ lese et al. 1996). Es wird beim Menschen eine enge senso­ motorische Kopplung von Wahrnehmung und Handlung angenommen. Daher werden kör­ perliche Äußerungen des Kommunikations­ partners durch Resonanz im eigenen Körper­ modell verstanden (Sebanz et al. 2003). Rizzolatti und Sinigaglia schreiben Folgen­ des über die Beteiligung des Systems von Spie­ gelneuronen im Kontext sozialer Handlungen:

»» „Das Spiegelneuronensystem ist offenbar

in der Lage, nicht nur den beobachteten Akt zu kodieren …, sondern auch die Intention, mit der er ausgeführt wird – und das liegt vermutlich daran, dass der Beobachter, wenn er Zeuge der Ausführung eines motorischen Aktes durch einen anderen ist, die möglichen folgenden Akte antizipiert, mit denen dieser Akt verkettet ist.“ (Rizzolatti und Sinigaglia 2008, S. 133)

Soziale Zuwendung führt zur Ausschüttung von Dopamin, Oxytozin und endogenen Opi­ oiden. Im Gegensatz dazu erhöht soziale Aus­ grenzung die Aggressionsbereitschaft (Eisen­ berger et  al. 2003). Soziale Isolation aktiviert die gleichen Hirnareale wie physischer Schmerz (Panksepp 2003).



1. Sehen und gesehen werden 2. Gemeinsame Aufmerksamkeit gegenüber etwas Drittem 3. Emotionale Resonanz 4. Gemeinsames Handeln 5. Wechselseitiges Verstehen von Motiven und Absichten

Diese 5 Punkte sind auch für eine gelingende musiktherapeutische Interaktion grundlegend. Hierfür benötigen Therapeuten neben ihren musikalisch-künstlerischen und verbalen Fer­ tigkeiten auch die Kompetenz zu sorgfältiger Beobachtung und Interpretation von körper­ sprachlichen Signalen wie Körperhaltung, Muskeltonus, Atmung, Blickkontakt, Mimik etc. Musiktherapie erreicht den Menschen selbst noch in Bewusstseinsstadien, in denen verbal-kognitive Methoden den Patienten nicht (mehr) erreichen. Entsprechende klini­ sche Bereiche sind Intensivstationen (Tucek 2013) und neurologische Rehabilitationsfelder (Tucek et al. 2014, 2015; Steinhoff et al. 2015). >> Gemeinsames musikalisches bzw. stimmliches Handeln macht emotionale Resonanz für den Patienten erlebbar, was wiederum das wechselseitige Verstehen von (positiven) Absichten erleichtert. Gemeinsame Aufmerksamkeit von Patient und Therapeut gegenüber dem musikalischen Geschehen entsteht im musikalischen Dialog.

25

567 Musischer Ansatz

Beziehungsmedizinische Kompo­ nente: Emotionale Resonanz Die Fähigkeit zu emotionaler Resonanz wird bereits in frühester Kindheit angelegt. Die Forschungsarbeiten des Kinderpsycho­ logen und Psychobiologen Trevarthen über Mut­ ter-Kind-Beziehungen beinhalten im Hinblick auf die Entwicklung empathischen Handelns wichtige theoretische Grundlagen für die Musik­ therapie (Trevarthen 1988, 1998, 1999, 2001). Er beschreibt ein im Menschen offenbar an­ gelegtes Bedürfnis nach Kommunikation, das durch „stimmige“ Interaktionsmuster zwischen Mutter und Säugling geprägt wird. So konnte er am Beispiel frühgeborener Kinder nachweisen, dass ein sich unwohl fühlendes Baby für die Be­ zugspersonen nur schwer zu verstehen ist, weil es  – durch den Aufenthalt im Inkubator iso­ liert  – nicht gelernt hat, auf seine Umgebung stimmig und absichtsvoll zu antworten (Aitken und Trevarthen 1997). Musiktherapie mit früh­ geborenen Kindern setzt daher an der Förde­ rung von stimmigem Kommunikationsverhal­ ten an (Haslbeck 2012, 2014). Kleinkinder entwickeln anhand empathi­ scher Umweltreaktionen auf ihre expressiven Äußerungen die Befähigung zu differenzier­ tem sozialem Rollenverhalten. Bei fehlenden empathischen Reaktionen, die sich u.  a. in asynchronem Antworten auf das kindliche Kommunikationsangebot äußern, reagiert die­ ses mit Verzweiflung und/oder Rückzug. Gestörtes Timing zwischen Kleinkind und Mutter führt so zum Verlust an Eigenrhythmus und Empathie. Asynchrone Kommunikations­ muster treten auf, wenn Mutter und Kind ge­ stresst und emotional „nicht aufeinander ein­ gestimmt“ sind. Nach Trevarthen zeigen Säuglinge bereits nach wenigen Wochen in ihrem Kommunika­ tionsverhalten eine ausgeprägte rhythmische und melodische Begabung. Diese nutzen sie im Austausch mit ihren Bezugspersonen (Trevart­ hen 2002). Auf diese Art entwickelt sich eine erstaunliche Präzision in der Synchronisation zwischen Mutter und Kind und in weiterer Folge die Grundlage für kulturelle Prägung (Trevarthen 2004).

Mittels computerisierter Klangmusterer­ kennung gelang es Trevathen und Malloch, Mutter-Kind-Interaktionen als musikalische Ereignisse zu entschlüsseln (Malloch et  al. 1997). Diese „kommunikative Musikalität“ entfaltet sich im Rahmen von etwa 30 Sekun­ den dauernden Sequenzen. Diese folgen einem Spannungsbogen, der aus Einleitung, Höhe­ punkt und Ausklang besteht. Das Prinzip kommunikativer Spannungs­ bögen kann auch im Rahmen musiktherapeu­ tischer Einheiten beobachtet und anhand von Videoanalysen (Moritz 2011) beschrieben wer­ den. Allerdings ist die Zeitspanne musikthera­ peutischer Kommunikationsbögen kürzer be­ messen als 30 Sekunden (Tucek et al. 2014).

Beziehungsmedizinische Kompo­ nente: Erlebte Beziehung als zen­ traler Faktor des Therapieerfolgs . Abb.  25.1 macht auf die Bedeutung der  

Wahrnehmung von Patienten auf das thera­ peutische Geschehen aufmerksam: 55 15 % des Therapieerfolgs sind von der grundsätzlichen Hoffnung des Patienten geprägt, wieder gesunden zu können. 55 30 % des Therapieerfolgs hängen davon ab, wie der Patient die therapeutische Bezie­ hung erlebt. 55 40 % des Therapieerfolgs hängen von thera­ peutisch nicht beeinflussbaren Faktoren ab. 55 In Bezug auf den Therapieerfolg liegt der Einfluss therapeutischer Techniken lediglich bei 15 % (Duncan et al. 2011).

15%

15%

40%

30%

..      Abb. 25.1  Faktoren mit Einfluss auf den Erfolg therapeutischer Interventionen: therapeutisch nicht beeinflussbare Faktoren (blau), Erleben der therapeutischen Beziehung (rot) und Hoffnung des Patienten (grün) sowie therapeutische Methoden und Fähigkeiten des Therapeuten (grau)

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25

G. Tucek und H. Fritz-Ipsmiller

Diese Ergebnisse relativieren einerseits den Glauben der Therapeuten an die Bedeutung „schulenspezifischer“ Techniken und verwei­ sen andererseits auf die Wichtigkeit der Erle­ bens- und Sichtweise des Patienten auf die therapeutische Beziehung. Diesem Faktor wird bis heute kaum Bedeutung beigemessen. Neu­ ere Forschungen zeigen die Verbindung von gelingender Therapie und körpersprachlicher Synchronisation im Sinne einer Embodied Communication (Storch und Tschacher 2014). Dieses Konzept beruht u. a. auf der Erkenntnis, dass mehr als 65 % des zwischenmenschlichen Austauschs über Gesten, Körperhaltung, Mi­ mik, Sprachmelodie etc. laufen (Argyle 1988). Nobe (2000) konnte sogar zeigen, dass im All­ tagsdiskurs bis zu 90 % des sprachlichen Aus­ tauschs durch Gesten begleitet werden. Ramseyer (2008) konnte anhand der Motion Energy Analyses die Synchronisation (d. h. die korrelierte Bewegungsenergie) zwi­ schen Patient und Therapeut im Rahmen ei­ ner Psychotherapie berechnen (Ramseyer 2008). Patienten mit sicherer Bindung zeigen ein höheres Maß an Synchronie in der Motion Energy Analysis. Schließlich war auch das Ausmaß der Erreichung der Therapieziele mit der motorischen Synchronisation verknüpft. Für die Musiktherapie eröffnen diese Ergeb­ nisse eine weitere Möglichkeit der Therapie­ evaluierung. Hillecke und Wilker (2007) entwickelten ein heuristisches Wirkfaktorenmodell der Mu­ siktherapie, das sich an Veränderungen in Be­ zug auf Emotionen, Aufmerksamkeit, Ko­ gnitionen, Verhalten und interpersonale Beziehungen mittels Musik orientiert. Den beziehungsmedizinischen Fokus zu­ sammenfassend, ein sinngemäßes Zitat von David Aldridge (persönliche Mitteilung): Aldridge verweist in seinen Schriften und Vor­ trägen vielfach auf die therapeutische Bedeu­ tung von Hoffnung in Zeiten des Verlusts. Der Therapeut hat den Patienten durch dessen Ge­ fühle von Isolation und Verlassenheit zu gelei­ ten und ihm dabei zu helfen, Leiden und Ab­ hängigkeit als Vertiefung des Lebens zu akzeptieren und zu verstehen.

Beziehungsmedizinische Kompo­ nente: Anthropologische Aspekte im Kremser Modell Konzeptionell folgt das Kremser Modell der Musiktherapie (Tucek 2014) einem biopsycho­ sozialen Therapieverständnis (Maslow 1981; Engel 1976), da im therapeutischen Prozess gleichermaßen auf physiologische, psychologi­ sche (persönliches Erleben, Verhalten, Lebens­ stil) und soziale Faktoren (familiäre, berufli­ che, umweltbezogene Lebensbedingungen) Bezug genommen wird. Das unter der Leitung des Kultur- und So­ zialanthropologen sowie Musiktherapeuten Gerhard Tucek entwickelte Konzept tritt für ein Verständnis von therapeutischer Bezie­ hungsgestaltung ein, das von den Ideen der gewaltfreien Kommunikation (Rosenberg 2004), der klientenzentrierten Psychotherapie (Ro­ gers 1972) sowie der positiven Psychotherapie (Peseschkian 2008) inspiriert ist. Es integriert zudem auch anthropologische (Gin­ grich 2007; Tucek 2007) und soziologische (Elias 1987; Desroche 1990) Elemente sowie Aspekte der Chronobiologie und Regulations­ medizin (Hildebrandt et al. 1998). Der Autor sieht aus medizinanthropologi­ scher Sicht ein zusätzliches Potenzial von Mu­ siktherapie im Entgegenwirken einer zuneh­ menden Verarmung sinnlichen Wahrnehmens und Erfahrens. Neuere Theorien des Embodiment (Csordas 2002) beschreiben das Ineinan­ dergreifen von Kultur und Individuum durch sinnhaftes Erfahren (Noseck-Licul 2013). Dies erinnert an Rudolf zur Lippes Sinnenbewusstsein:

»» „Lektüre und Studium können nur der

Ermutigung zu einer anderen, gelasseneren und offeneren Denkungsart und Lebenspraxis dienen, … Sie können die notwendige Übung, das Selbergehen des Weges, die eine Anstrengung des Begriffs wie des Gemüts verlangt, nicht ersetzen. Hilfestellung dabei versprechen jedoch die Kunst und eine sich an den Bedingungen der Lebensentfaltung orientierende Ästhetik, denn die in Aussicht gestellte

569 Musischer Ansatz

Bewusstseinserweiterung kann sich nur über eine progressive Entfaltung der Sinne vollziehen, …“ (zur Lippe 2000)

Das derart befreite Bewusstsein nennt zur Lippe Sinnenbewusstsein:

»» „Etwas uns Begegnendes auszudrücken

und unsere innere Verwandtschaft mit ihm beglückt oder entgegnend auszudrücken und zugleich mit diesem Ausdruck zu bestimmen, welche Bedeutung dieser Vorgang und seine Momente für unsere geschichtliche Situation als diese Menschen in dieser Gesellschaft zu dieser Welt haben, diese Vereinigung ist das Sinnenbewusstsein.“ (Hauskeller 2002)

Beide Konzepte verbindet der Gedanke, dass körperliche und geistige Prozesse einander be­ dingen, wobei diese wiederum kulturell und biographisch ausdifferenziert sind. Auf das Feld der Musiktherapie umgemünzt heißt dies, dass die Bedeutung von (musikthe­ rapeutischer) Kommunikation nicht im Vorhi­ nein feststeht, sondern sich erst zwischen den handelnden Personen prozesshaft entwickelt. Musik repräsentiert dabei keine feststehende Chiffre oder Botschaft, die es zu verstehen gilt. Im Rahmen der musiktherapeutischen Begeg­ nung gibt es lediglich ein gemeinsam erzeugtes Gefühl des „Verstehens und Verstandenwer­ dens“ (wie in den vorstehenden Abschnitten zum „beziehungsmedizinischen“ Ansatz und zur musikalischen Biographie skizziert). Um einen umfassenderen forscherischen Einblick in die therapeutische Realität am Krankenbett zu gewinnen, wird in Krems der­ zeit die Integration neurowissenschaftlicher und anthropologischer Zugänge vorangetrie­ ben (Vogl et al. 2015). 25.1.4  Regulation im Kontext

aktiver und rezeptiver Musiktherapie

Regulation - Gemeint ist die Fähigkeit des Menschen, auf akute Reize psychophysiologisch adäquat zu reagieren und nach Abklingen dieser

25

Phasen wieder in einen körperlich und mental entspannten Ruhezustand zurückzukehren, wobei Entspannung (Erholung) eine Regeneration (Adaptation) des Gesamtorganismus nach sich zieht. Die beiden Aktivitätsmodalitäten werden in der Fachsprache als Sympathikotonus (Aktivierung) und Parasympathikotonuns bzw. Vagotonus (Entspannung) beschrieben.

Hierbei spielt das autonome Nervensystem eine Schlüsselrolle. Dieses erhält die hämody­ namische Stabilität aufrecht, reguliert kardio­ vaskuläre, thermoregulatorische, gastrointesti­ nale, urogenitale, exokrin-endokrine und pupillomotorische Funktionen und gewähr­ leistet so die Erhaltung des inneren Gleichge­ wichts im menschlichen Organismus. Dieser bedarf beständiger rhythmischer Ordnungsgeber, die aus endogenen (innere Uhr) und exogenen Zeitgebern (Licht, Tag/ Nacht etc.) bestehen. Exogene Zeitgeber beein­ flussen endogene Prozesse ebenso, wie dies äu­ ßere Sinnesreize oder innerpsychische Pro­ zesse (z. B. Emotionen) tun. Ein gesunder Organismus ist in der Lage, die vielfältigen Impulse auszugleichen, in­ dem er dynamisch und flexibel auf innere Impulse und äußere Umweltreize reagiert. Krankheit findet u.  a. in der Störung dieser Periodizitäten ihren Ausdruck. Umgekehrt führt Krankheit auch zu Störungen dersel­ ben. So zeigen Patienten reduzierte, starre und konfuse biologische Rhythmen (bei­ spielsweise leiden viele erkrankte Menschen unter Schlafstörungen.) Darüber hinaus spiegelt sich auch jeder psychische Zustand als physiologisches Kor­ relat im autonomen Nervensystem. Auch mo­ lekularbiologische Forschungen (Tracey 2002) zeigen den Zusammenhang zwischen der Ak­ tivierung von Selbstheilungskräften und dem vagotonen Regulationszustand (Entspan­ nung) des autonomen Nervensystems. Ein derartiger Regulationszustand kann mittels zuvor angesprochener individuell be­ deutungsvoll erlebter musikalischer Inhalte und Ausdrucksformen im Rahmen einer the­ rapeutischen Beziehung hervorgerufen und unterstützt werden.

570

25

G. Tucek und H. Fritz-Ipsmiller

Methodisch kommen hierfür zur Anwen­ dung: 55 der wechselseitige musikalische Dialog zwischen Patient und Therapeut (aktive Formen), 55 die regulationsmedizinische Wirkung einer vom Therapeuten live gespielten Musik (rezeptive Formen), 55 den Kanon musiktherapeutischer Inter­ ventionen erweiternde therapeutische Bewegungs- und Tanzübungen. 25.1.5  Die Rolle der

„musikalischen Biographie“

Trotz der in 7 Abschn. 25.1.7 beeindruckenden Wirknachweise von Musiktherapie zerbricht die vielfach geäußerte Erwartung, eine bestimmte Art von Musik (bzw. ein konkretes Musikstück) wirke auf alle Patienten (und deren Krankheits­ bilder) gleichermaßen heilsam, an der klini­ schen Realität. Der Grund liegt sowohl in der kulturellen als auch der individuellen musikalisch-biographischen Prägung jedes Men­ schen sowie am jeweiligen Behandlungskontext. Kulturelle Prägung meint, dass bestimmte Klangmuster von Beginn an das Leben eines Menschen begleiten, ähnlich wie optische Reize oder Gerüche kulturell different und prä­ gend sind. Auch individuelle musikalische Vorerfahrungen sind eng mit solchen kulturel­ len Prägungen verwoben. So ist etwa in unter­ schiedlichen Kulturen die Sprachmelodie, in der eine Mutter sich mit ihrem Baby verstän­ digt, sehr ähnlich, während die Sprachen selbst unterschiedlich sind. Das Gehör des Kindes ist bereits am Ende des 4. Schwangerschaftsmo­ nats entwickelt (Maiello 1999, S. 140). Der Fe­ tus hört körperliche Klänge der Mutter wie Herzschlag, Atem, Verdauungsgeräusche so­ wie auch extrakorporale Klangkulissen wie z. B. Stimmen, Musik etc. Diese frühen Klan­ gerfahrungen hinterlassen bereits in der feta­ len Entwicklungsphase erste Erinnerungsspu­ ren, die das Neugeborene dazu befähigen, die Stimme der Mutter von der anderer Personen zu unterscheiden (Welzer 2011, S. 55).  

Auch in späteren Lebensphasen sind bio­ graphische (Schlüssel-)Erlebnisse oftmals an Klang- bzw. Musikerfahrungen geknüpft, was die Erinnerung an diesen klanglichen Reiz ko­ diert. Eine starke emotionale Verbindung zwi­ schen Klang/Musik und Erinnerung bleibt auch dann erhalten, wenn das Gedächtnis nicht mehr in vollem Umfang funktioniert. Dies hat u.  a. Implikationen für die Be­ handlung von Demenzpatienten. In diesem Bereich, wie auch in anderen musiktherapeuti­ schen Arbeitsfeldern, wird auf positiv besetzte musikalische Erfahrungen zugegriffen, um Menschen in Krisenzeiten dabei zu unterstüt­ zen, über die eigene musikalisch- klangliche Biographie emotional wieder an das Leben  – und die eigene Lebendigkeit – anzudocken. >> Im therapeutischen Prozess wird biographisch bedeutsame Musik oft zu einem Schlüssel zur Innenwelt des Patienten.

Hinsichtlich der häufig gestellten Frage nach Verallgemeinerbarkeit von Musikwirkung gilt es, zusätzlich zu dem bisher Besprochenen auch die prinzipielle Mehrdeutigkeit von Mu­ sik und bildender Kunst zu beachten. Es be­ darf immer des Zusammenwirkens von Zu­ hörer (Betrachter) und Musiker (Künstler), denn:

»» „Ohne die wahrnehmende und emotio-

nale Beteiligung der Betrachter ist Kunst unvollkommen.“ (Alois Riegl 1858–1905, zitiert in Kandel 2012)

25.1.6  Fallbeispiel

Im Folgenden wird ein Fallbericht zur Musik­ therapie in der Intensivmedizin dargestellt (Tucek 2014). Frau M. ist nach einer überstandenen Lungenoperation wach und ansprechbar. Ihre Entzündungswerte sind hoch, und sie fiebert mit über 40  °C.  Sie ist tracheotomiert und wird über eine Beatmungsmaschine assistiert beatmet.

571 Musischer Ansatz

Der Therapeut tritt an ihr Bett, nimmt ihre Hand und beginnt leise im Rhythmus ihres maschinell unterstützten Atems zu summen. Sie hält mit ihm Blickkontakt. Die Überwa­ chungsgeräte beginnen zu piepsen, und die für die Patientin zuständige Pflegerin überprüft alle Schläuche, die zu den Versorgungsgeräten führen. Frau M. lässt sich dadurch nur kurz ab­ lenken – sie scheint diese Vorgänge bereits ge­ wohnt zu sein – und taucht dann wieder in die Musik ein. Die zunehmend entspannte und sich vertiefende Atmung führt den Therapeu­ ten zu der Annahme, dass sie zur Ruhe kommt. Auf dem Monitor wird dies durch das Absin­ ken der Herzfrequenz sichtbar. Frau M. lächelt ihn an und gibt ihm damit zu verstehen, dass ihr die Musik gefällt. Der Überwachungsmoni­ tor zeigt ein leichtes Ansteigen der Herzfre­ quenz. Eine Co-Therapeutin  – Studierende des Kremser Studiengangs – setzt sich nun mit ih­ rer Gitarre an das Bett und begleitet das Sum­ men auf dem Instrument. Als der Therapeut damit zu einem Ende kommt, wechselt sie in ein österreichisches Volkslied. Frau M. reagiert darauf, indem sie ihren Kopf und ihre Beine im Takt zu wiegen beginnt. Das Therapeutenteam beginnt nun, das Lied mehrstimmig zu singen. Es entsteht der Eindruck, als würde dieser Klangteppich einen atmosphärischen Schutz­ raum bilden, der die Geräusche der Überwa­ chungsgeräte in den Hintergrund treten lässt. Es entsteht ein intimer Begegnungsraum zwi­ schen den interagierenden Personen. Frau M. lächelt und beginnt, mit einem Arm im Takt zu dirigieren. Ihre Herzfrequenz sinkt. Nach eini­ gen Minuten wird sie sichtlich müde, und die Sitzung wird beendet mit dem Versprechen, am übernächsten Tag wiederzukommen. kErgebnis

Die Videoanalyse des therapeutischen Gesche­ hens in Verbindung mit der Analyse der eben­ falls aufgezeichneten EKG-Daten zeigt eine fast durchgängige Synchronisation des Herz­ schlags von Frau M. mit dem Rhythmus des Liedes.

25

25.1.7  Studien, Evidenzlage

Eine 18 Studien einschließende Metaanalyse zum Schwerpunkt „Aufmerksamkeit“ konnte zeigen, dass aktive und rezeptive Musiktherapie Angst und Schmerzen vor medizinischen Eingriffen zu reduzieren vermag (Klassen et al. 2008). Eine weitere 42 randomisierte und kontrol­ lierte Studien inkludierende Metaanalyse weist in dieselbe Richtung. Auch dieser Review kommt zu dem Schluss, dass Musiktherapie perioperativ Angst und Schmerzen zu reduzie­ ren vermag (Aorn 2008). Einen „dosisabhängigen“, verbesserten Zu­ gang zu Gefühlen, Ausdruck von Stimmungen und Zuwachs an Selbstbewusstsein bei schwe­ ren psychischen Störungen mittels Musikthera­ pie fasst eine Metaanalyse von Gold et al. (2009) zusammen. Diese Metaanalyse beschreibt u. a. den Zusammenhang zwischen einer zuneh­ menden Wirkungssteigerung von Musikthera­ pie bei steigender Therapiestundenzahl. Zwei weitere Metaanalysen berichten über überwiegend positive Wirkungen von Musik­ therapie bei psychiatrischen Erkrankungen (Mössler et al. 2011) und bei Depression (Ma­ ratos et al. 2008). Einschränkend muss festgehalten werden, dass es aufgrund der großen Bandbreite des musiktherapeutischen Methodenverständnis­ ses sowie aufgrund der Heterogenität klini­ scher Rahmenbedingungen weiterer Studien bedarf, um einen signifikanten generalisierbaren Effekt darstellen zu können. Weitere neun Metaanalysen von randomi­ sierten und kontrollierten Studien in vielfälti­ gen Praxisfeldern der Musiktherapie lassen die Aussage zu, dass sich Musiktherapie in den letzten Jahren neben der gesetzlichen Veranke­ rung auch wissenschaftlich etabliert hat (Gold et al. 2006; Mössler et al. 2011; Bradt et al. 2010, 2011a, b, 2013a, b; Bradt und Dileo 2010, 2014) und weiterentwickeln wird. In der vergangenen Dekade haben sich Kon­ zepte wie die Melodic Intonation Therapy (Schlaug et al. 2009; Norton et al. 2009; Zumbansen et al. 2014), Neurologische Musiktherapie (Thaut et al. 2009; Thaut 2015) oder Music Supported Therapy

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G. Tucek und H. Fritz-Ipsmiller

(Altenmüller et al. 2009; Altenmüller und Schlaug 2015) etabliert. Diese übenden Verfahren sind v.  a. den neurowissenschaftlichen Untersu­ chungsmethoden und Paradigmen einfacherer zugänglich als „beziehungsmedizinisch“ orien­ tierte Musiktherapieverfahren.

25

>> Übende Verfahren beruhen auf einem Konzept, welche (lediglich) mit dem Erlenen modular aufgebauter Spieleinheiten in Verbindung stehen. Diese Konzepte stimmen nicht mit „beziehungsmedizinisch“ orientierten Musiktherapien, die auf freier Improvisation und Reflexion in einer therapeutischen Beziehung beruhen, überein.

55 Ein weiteres Ausbildungsprogramm (Lehrgang) wird seit 2010 an der Universität für Musik und darstellende Kunst Graz angeboten (7 https://www.­kug.­ac.­at/ kunstuniversitaet-­graz.­html). Dieser Lehrgang wird berufsbegleitend durchge­ führt und gründet auf einem humanis­ tisch-anthropologischen Grundverständnis. Sein Konzept folgt nach Eigendefinition einem biopsychosoziospirituellen Men­ schenbild. Mittels Gleichwertigkeitsfeststel­ lung mit dem Kremser Bachelor-Studien­ gang schließt auch der Grazer Lehrgang mit einem Bachelor-Äquivalent ab. 55 Das dritte Ausbildungsprogramm wird berufsbegleitend an der IMC Fachhochschule Krems angeboten (7 https:// www.­fh-krems.­ac.­at/). Dieses Studienkon­ zept folgt der Bologna-Architektur (Bache­ lor- und Masterprogramm).  



25.1.8  Ausbildung in Österreich

Während im angloamerikanischen Sprachraum eher ein behavioristisches – an der Verhaltens­ oberfläche orientiertes  – Therapieverständnis vorherrscht, steht im deutschsprachigen Eu­ ropa eher ein Therapieverständnis im Vorder­ grund, das auf Komponenten von Introspek­ tion und Einfühlung gründet. Anders als etwa in Deutschland oder der Schweiz ist die Ausbildungslandschaft in Ös­ terreich durchgängig an universitären oder hochschulischen Einrichtungen angesiedelt. Einen guten Überblick über weitere Ausbil­ dungen in Europa gibt folgender Link (zuge­ griffen am 06.06.2018): 7 http://www.­musik­  

therapie.­de/musiktherapie/studium-ausbildung/ europa.­html

In Österreich gibt es derzeit drei Ausbil­ dungsstätten für Musiktherapie: 55 Das älteste Studienprogramm (Diplomstu­ dium und PhD-Studium) ist seit 1959 an der heutigen Universität für Musik und darstellende Kunst Wien angesiedelt (7 https://www.­mdw.­ac.­at/). Dieses Studienangebot im Vollzeitformat ist klinisch orientiert und gründet auf einem humanistisch-psychodynamischen Modell. Derzeit ist das Studienangebot in Wien nicht im Bologna-Modell verankert.  

Alle drei Ausbildungsstätten stehen u.  a. im Rahmen der ÖMAK (Österreichische Ausbil­ dungsleiterInnen-Konferenz) in enger kollegi­ aler Zusammenarbeit. Unter der Federführung des Bundesministeriums für Gesundheit ist derzeit eine gemeinsame Ausbildungsrichtlinie in Ausarbeitung. Alle drei Hochschulen kooperieren eng mit Kliniken, Pflegeheimen und Rehabilitations­ einrichtungen. zz Links

Universität für Musik und darstellende Kunst Wien: 7 https://www.­mdw.­ac.­at/ Universität für Musik und darstellende Kunst Graz: 7 https://www.­kug.­ac.­at FH Krems: 7 https://www.­fh-krems.­ac.­at/ Weitere Ausbildungsstätten in Europa:  





7 http://www.­musiktherapie.­de/musiktherapie/ studium-ausbildung/europa.­html  

Zusammenfassung 55 Die Evidenzlage über die Wirksamkeit von Musiktherapie entwickelt sich derzeit sehr dynamisch. 55 Dennoch ist derzeit noch wenig über ihre (spezifischen) Wirkmechanismen im Hei-

573 Musischer Ansatz

lungsprozess bekannt. „Although the therapeutic use of music is found in many helping professions, the mechanisms behind its healing effect remain unclear.“ (Lin et al. 2011, S. 34) 55 Im Kontext eines ganzheitlichen Verständnisses von Gesundheit und Krankheit wird das Zusammenspiel unterschiedlicher Disziplinen gefördert. 55 So wird etwa in einem intensivmedizinischen Setting (Fallbeispiel) ein menschlicher Organismus mittels medizinischer und pflegerischer Handlungen am Leben erhalten. Musik und therapeutische Beziehung machen diesen Organismus in dieser Lebensphase zur „Person“. 55 Musiktherapie als beziehungsmedizinischer Ansatz nutzt biopsychosoziale Zusammenhänge. Biologische Regulationsprozesse werden über Musik und therapeutische Beziehung gefördert. Zentraler Bestanteil ist hier die sinnstiftende und orientierende Rolle von Musik, Biographie und Beziehung.

25.2  Ganzheitliche Kunsttherapie Harald Fritz-Ipsmiller 25.2.1  Einführung

»» „Kunst löst Menschen aus dem Leid heraus und verhilft ihnen in ihr Bestes!“ (H. Fritz-Ipsmiller)

Ziele ganzheitlicher Kunsttherapie 55 Freiheit von Symptomen: Bewältigung von somatischer, emotionaler, intellektueller oder sozial/kultureller, seelischer Erkrankung durch ȤȤ Beseitigung, Milderung oder Vorbeugung von Symptomen oder behandlungsbedürftigen Verhaltensweisen, Einstellungen oder Leidenszuständen und ȤȤ hergestellte bzw. wiederhergestellte körperliche, emotionale,

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intellektuelle, sozial/kulturelle und seelische Gesundheit 55 Freiheit zu Symptomen: ȤȤ Führung eines zufriedenen, hoffnungsvollen und aktiven Lebens, trotz Betroffenheiten ȤȤ Freiheit zu Erkrankung, Störung bzw. Leiden

Zwecke der Kunsttherapie 55 Prävention einschließlich Gesundheitsförderung 55 Behandlung von akuten und chronischen Erkrankungen 55 Rehabilitation bzw. Recovery 55 Förderung von Sinnes-, kreativen und künstlerischen Anlagen 55 Förderung von physischen, emotionalen, intellektuellen und sozial/kulturellen Kompetenzen einschließlich Supervision 55 Lehre und Forschung

Die Durchführung erfolgt durch die Anwen­ dung sinnlich-kreativ-künstlerischer Methoden.

25.2.2  Kunsttherapeutische

Ansätze

Es gibt nur eine Kunsttherapie, aber verschie­ dene Facetten hierzu. Ansätze der Kunstthera­ pie werden entweder nach philosophischen Gesichtspunkten oder nach der therapeuti­ schen Verwendung der Künste gegliedert. Ganzheitliche Kunsttherapie hat Holismus (Smuts 1938) als philosophische Ausrichtung und verwendet als therapeutische Methode alle künstlerischen Medien im Medienverbund (Knill et al. 2005; von Spreti et al. 2005). Nach Smuts (1938) lebt jeder Mensch ent­ lang einem „holistischen Befehl“, der ihn an­ stachelt, seine Gegebenheiten immer wieder in einer neuerlichen Metaebene zu sehen. Ganz­

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G. Tucek und H. Fritz-Ipsmiller

heitlichkeit wird also an sich schon durch das Leben selbst angeregt. In der ganzheitlichen Kunsttherapie geht es insbesondere um das Anheben der Ganzheit­ lichkeit über den Weg der Kreativität und Künste. Dass sie sich mit allen Künsten gleicher­ weise beschäftigt, fällt in ihren Anspruch auf Ganzheitlichkeit. Und dass der gegenwärtigen Art und Weise zu leben, Unversehrtheit essenzi­ ell zugrunde liegt, wird von den Therapeuten als Ansporn gesehen, sich mittels der Verwendung von Sinnesmodalitäten in das therapeutische bzw. Gesundheitsfeld kollegial einzubinden. zz Art Therapy

Margaret Naumburg führte 1950 den Begriff Art Therapy ein; sie sah sich als Psychotherapeutin. Edith Kramer startete ihr erstes Kunsttherapie­ programm im gleichen Jahr in der Wiltwick School for Boys, New York, und schrieb 1958 ihr erstes Buch mit dem Titel Art Therapy in a Children’s Community. Sie positionierte „art as therapy“ (Kramer 2000, S. 23) und verwendete bildnerische Medien zum Zwecke der Therapie (. Abb. 25.2).  

»» „Mein Standpunkt ist der eines ausübenden

Künstlers und Erziehers, der Erfahrung in diesen Bereichen mit allgemeinem Wissen über normale und pathologische Prozesse in der Kindheit verbindet. … Das Hauptgewicht meiner Arbeit aber beruht auf der heilenden Wirkung der Kunst. “ (Kramer 1997, S. 15)

zz Ganzheitliche Kunsttherapie

Paolo Knill entfaltete das intermediale Konzept der Künste und gründete mit Shaun McNiff 1974

..      Abb. 25.2  Ein Zeichen setzen!

den Fachbereich Expressive Arts Therapy der Lesley University, Cambridge, MA, USA (Eberhart und Knill 2009, S. 21). Ästhetik wird in das Zent­ rum des Verstehens von therapeutischer Verwen­ dung der Künste gestellt, und es wird auch ge­ glaubt, das Gebiet expressive arts therapy brauche ein Fundament, das sich auf die Anwendung von Künsten gründet (Levine in Knill et al. 2005, S. 9). Kunst ist nach Wagner (Univ.-Prof. Dr. der Universität für Angewandte Kunst in Wien) an sich schon ganzheitlich (Wagner 2000, S. 159). Die medizinische Psychologie legt nach Sonn­ eck (Univ.-Prof. Dr. der Medizinischen Uni­ versität Wien)

»» „… besonderes Gewicht darauf, einen

Menschen soweit als möglich in seiner Ganzheit zu betrachten, d. h. ihn über die Beziehung erkenntnisleitend einfühlend zu erfassen.“ (Sonneck et al. 1999, S. 16)

Die ganzheitliche Kunsttherapie ist auf diese beiden Positionen gegründet. Wagners einleitender Satz zur ganzheitli­ chen Kunsttherapie:

»» „Die Kunst kann, was die Kunst kann, und die Therapie macht ein System daraus!“

Auf die Frage, was denn nun die Kunst könne, antwortet er:

»» „Die Methode, die die Kunst allen anderen

Aneignungsmethoden des Begreifens voraushat, ist die Ganzheitlichkeit. Sie stellt alles im Bereich des Menschen, seine Vorstellungen, seine Begriffe, sein Empfinden, sein Denken, seine Bildvorstellungen, die Bildhaftigkeit, in ein Ganzes. Die Wirklichkeit ist für den Menschen eine organische Gesamterfahrung, wo die Vorstellung und die Wahrnehmung, das Unbewusste und das Bewusste, das Fiktive und das historisch Abgesunkene gleichzeitig angegangen werden. Das ist ein Phänomen, das nur der Kunst eigen ist und stellt wahrscheinlich auch das Spezielle dieser Ganzheitlichkeit dar.“ (Wagner 2000, S. 159)

Wenn nun durch medizinische Psychologie beabsichtigt wird, Ärzte bzw. Therapeuten da­

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hingehend zu aktivieren, dass sie, wie Sonneck anmerkt (s. oben), den Menschen so weit als möglich in seiner Ganzheit zu begegnen, so ist der Aufenthalt in der Kunst für den Menschen, ob Patient oder Arzt, ein Einsteigen und ein Einüben in Ganzheitlichkeit und ein Erweitern der Fähigkeit, sich in Richtung Ganzheitlich­ keit, Ganzheit, also Heil-Sein, Unversehrt-Sein und Vollständig-Sein auszurichten.

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dem jeweiligen Zwecke gemäß erregen, die Besonnenheit wecken, entgegengesetzte Leidenschaften hervorrufen.“

Über die Sprache könne immer wieder der Verstand in Anspruch genommen und der Geist, die Psyche, mit der Sinnlichkeit in ein normales Verhältnis gebracht werden, um der Verrücktheit ein inneres Hindernis in den Weg zu stellen, so Reil weiter.

zz Sensorische Stimulierung als Heilmittel

Johann Christian Reil (1803), Goethes Leib­ arzt, erwähnt bereits 1803 mit seinen Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen multiple sensorische Stimulierung als Heilmittel. Er weist auf rezeptive Musiktherapie mittels ins­ trumentaler und vokaler Musik hin. Tonkunst würde unmittelbar unsere Herzen ansprechen,

»» „… ohne erst, wie die Redekunst, ihren Weg durch die Phantasie und den Verstand zu nehmen.“

Zeichen, Symbole, Worte, Sprache seien Werk­ zeuge, durch welche Vorstellungen, Phantasie, Begriff und Urteile als äußere Potenzen auf den Kranken übertragen würde. Olfaktorische Sti­ mulierung würde durch ein wohlgeordnetes Etui von Parfümerien angeregt, und durch Na­ turalien oder Kunstprodukte, Originalien oder Bildnisse könne der Mensch auch optisch akti­ viert werden. Taktile Stimulierung könne da­ durch erfolgen, dass Glattes oder Raues, Kaltes oder Warmes, Leichtes oder Schweres der Kli­ entel zugemutet wird. Auch geschmacklich könne stimuliert werden. Aber das Bedeut­ samste sei das Theater. Es solle

»» „… jedes Tollhaus zum Behuf ihrer imposan-

ten Anwendung und zweckmäßigen Zusammenstellung ein für diesen Zweck besonders eingerichtetes, durchaus praktikables Theater haben, das mit allen nöthigen Apparaten, Masquen, Maschinerien und Decorationen versehen wäre – so könnte man – je nach Bedarf Furcht, Schrecken, Staunen, Angst, Seelenruhe usw. erregen und der fixen Idee des Wahnsinns begegnen, die Phantasie mit Nachdruck und

kFazit

Über die Künste ist Ganzheitlichkeit am direk­ testen zu erreichen, denn man gelangt über das Einlassen in künstlerisch-heilende Prozesse sofort über alle Ebenen hinaus an den Ur­ sprung von Gesundheit heran. Es hat jede der Künste eine eigene Wirkkraft.

»» „Kunst ist Sprache – es geht aber um mehr

als um sinnliches Ausdrücken von Befindlichkeiten; jeder Sinn, jede Kunst-Facette ist in sich selbst schon ‚Medium‘ mit innewohnender Wirkweise.“ (Benjamin 1916)

>> Ganzheitliche Kunsttherapie definiert sich nicht durch die Verwendung einer Kunstrichtung, sondern über das Einlassen in das Reich der Sinne.

25.2.3  Bildende Kunst

Therapeutisches Zeichnen Wenn sich ein Mensch auf den Prozess des Zeichnens einlässt, kann er etwas in seinem In­ neren in Bewegung setzen. Über die Beschäfti­ gung mit einfachen Zeichen kommt er mit sei­ ner inneren kreativen Energie in bewussten Kontakt. Er lässt sich auf das Zeichnen ein und kann innerlich und äußerlich einen Anschluss an das Kreative in sich selbst finden, und dies kann durch das Zeichnen weiterhin verstärkt werden. Strichqualität lässt auf innere Prozesse im Menschen schließen. Innerlich geschieht et­ was, wenn sich die Strichweise verändert! Durch das Zeichnen ist eine Förderung des Bewusst­ seins für die innere Wahrnehmung und auch

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der Fähigkeit, Inneres nach außen zu gestalten, zu erleben. Der Mensch entdeckt, wie er sich selbst durch diese inneren kreativen Kräfte ge­ stalten lassen kann. Spüren, Fühlen und dessen Ausdruck gelangt nach Außen, und der Mensch kommt in Übereinstimmung mit sich selbst!

Maltherapie

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Therapeutisch-bildnerisches Gestalten Gestalten weckt und stärkt die Fähigkeit, sich zu verwirklichen. Der Umgang mit Materialien löst emotionale Prozesse aus, die sich in den Gestaltungen widerspiegeln. Durch den Ge­ staltungsprozess kann der Mensch sein Tun und Handeln rehabilitieren. Es taucht alles das auf, was seine Selbstverwirklichung je belastet hat – und kann somit „ausgeschwemmt“ wer­ den. Während des Bildens, Formens, Modellie­ rens, Skulpturierens, Bauens entsteht ein inne­ rer Bildungs- und Formungsprozess. Durch das Formen und Gestalten kann im Inneren Haltung, Formung, Stabilisierung, Standfestig­ keit entdeckt und weiterentwickelt werden (. Abb. 25.4).

Durch den Umgang mit Farben werden innere Bewegungen und Empfindungen angeregt. Es werden beim Malprozess fließende Vorgänge in Gang gesetzt. Stagnation, Erstarrung, Hem­ mung, Verhärtung werden durch den Umgang mit Farbe und Form, mit Hell und Dunkel, mit Grenzen und Übergängen, mit Fließen und Verschwimmen verändert. Durch das Malen lässt sich an den rhythmischen Wechsel von Handeln und Wahrnehmen, von Bewegung und Ruhe, von außen und innen, von Welt und Mensch herankommen. Über den Sehsinn ver­ mittelt, werden Empfindungen und Reaktio­ nen im Inneren hervorgerufen, die den unterschiedlichsten Emotionen entsprechen (. Abb. 25.3). Durch fließende Vorgänge im Außen wer­ den innere Bewegungen und Empfindungen angeregt und zum Laufen gebracht. Starres kann sich auflösen, zu schnelle Formung und Verknotung kann erkannt werden, und da­ durch kann Neues entstehen. Bewegung in der Fläche, in der Abstufung von Licht und Dun­ kel, von Intensität entspricht innerer Bewe­ gung im Ausdruck.

>> Der Mensch erlebt beim therapeutisch-bildnerischen Gestalten regulierende, stabilisierende, konzentrierende, verdichtende, abgrenzende und beruhigende Wirkungen.

..      Abb. 25.3  Farben und Bilder fließen lassen

..      Abb. 25.4  Der Ton nimmt die Gestaltung auf





Durch das Einfühlen in die Gestaltungskräfte der Natur lässt sich an die Quelle der Künste an sich herankommen. Durch das Einlassen in ein Formen am amorphen Material sind Prä­ gungsimpulse – die Gestaltungskräfte an sich – zu erspüren. Der Mensch kann die Kräfte und Gesetzmäßigkeiten, die das Universum auf­ bauen, erspüren, und er kann sich auf diese Kräfte bewusst einlassen und sich und die Um­ welt mit ihnen mitgestalten.

577 Musischer Ansatz

Media-Mix und neue Bilderwelten Der Kunstbegriff hat sich im Laufe der Jahre deutlich erweitert und damit auch der Materi­ albegriff, über den Kunst transportiert wird. Farbe und Leinwand waren früher Materialien des Malers – heute geht dies weit darüber hi­ naus. Kollage, Pop-Art, Aktionskunst, Perfor­ mances, Printmedien, Photographie, Fernse­ hen, Video, Film erweitern die Kunst des Tafelbildes. Selbst-Inszenierung und expres­ sive Ausdruckskunst fassen genauso Fuß wie neue Medien, um Bilderwelten darzustellen. Kunst kann immer auch als Spiegel der Zeit gesehen werden, so wie auch die technischen Errungenschaften als Transportmittel der Kunst genutzt werden. Eine Beschäftigung mit neuen Medien bietet den Therapeuten die Frei­ heit, eine Auswahl zu treffen, um mit Materia­ lien und Techniken unsere Zugänge zu einem selbstbestimmten Inhalt zu bringen. Im Vor­ dergrund steht nicht die Technik, sondern der persönliche Zugang, der die Möglichkeiten des vielfältigen Materials einbezieht. Media-Mix versucht auch, den Einsatz mul­ timedialer Techniken als Informationsträger (visuell, auditiv, virtuell) in subjektive (oder auch virtuelle) Darstellungen einzubeziehen so­ wie „Realitäten“ mit ihnen zu manipulieren. Gerade hier entstehen vielfältige Möglichkeiten: einerseits, um Menschen abzuholen – anderer­ seits, um technische Hilfsmittel in spielerischer Form mit zu verwenden, sodass Menschen ih­ ren Lebens- und Erlebnisformen einen Aus­ druck verleihen und authentische und ästheti­ sche Ausdrucksformen entdecken  – so, wie Künstler ein Verständnis ihres Selbst finden.

Photo – Film – Audio – Video Photos liefern technische Mittel, die einen Aus­ druck erleichtern. Photographieren vermittelt eine Wahrnehmungsschulung, es schult den Blick. Das Licht entspricht in der Photographie dem Gefühl. Die Stimmung eines Bildes wird durch die Lichtsituation beeinflusst. Das Licht ist das Subtile im Bild. Jeder findet durch das Auge der Kamera andere wertvolle Motive. Es ist individuell sehr unterschiedlich, welches Motiv den Photographen reizt, was er wahr­

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nimmt, was er sieht und was ihm auffällt. Die Produkte, die er mit diesen Medien hervor­ bringt, zeigen einen Verlauf seiner Sichtweisen. Was geschieht, wenn jemand hinter einem anderen Menschen her ist und ihn photogra­ phiert? Wie geht es dem Photographen beim Verstecken hinter der Kamera und dem Beob­ achten anderer? Wer hat nicht ganz eigentüm­ liche Empfindungen, wenn photographiert wird? Der Photographierte erhält die volle Aufmerksamkeit. Kann er dabei weiterhin ge­ lassen sein? Unbemerkt kann man leichter na­ türlich sein, aber wenn man im Blickfeld ist, nimmt man leicht eine Haltung ein, eine Pose. Wann ist ein Mensch er selbst? Beim Filmen können Bewegungsabläufe verfolgt werden. Es lässt sich der Zusammen­ klang von Gestik und Mimik entdecken. Mini­ male Ausdruckssequenzen können herausge­ holt und herausgehoben werden. Wie werden Gefühle wirklich ausgedrückt? Durch diese Hilfsmittel kann der Sehsinn erweitert und das Licht verändert werden. Es kann Mehreres übereinander gesehen werden. Gefühle können durch die Veränderung von Belichtung oder Beleuchtung gestaltet und ver­ stärkt werden. Durch Mikrophone, Tonband­ geräte kann das auditorische Spektrum erwei­ tert werden, und durch Mehrspurgeräte lassen sich komplexe Hör-Wahrnehmungen insze­ nieren. 25.2.4  Bewegung

Bewegungstherapie Der kinästhetische Sinn wird schon bei den Bewegungen des Feten im Mutterleib erfahren. Durch Bewegung können Nähe, Distanz, Wei­ tergehen, Vorbeigehen, Aktion, Reaktion, Aus­ dauer erlebt werden. Lässt sich der Mensch bewusst in Bewegungsabläufe ein, kann er Ausrichtung, Zielstrebigkeit und energetische Basis am eigenen Leib erspüren. Bestimmte Bewegungsarten entsprechen Körperkonzepten. Die Motorik eines Men­ schen verändert sich durch das ganze Leben hindurch. Innere Bewegung und äußere Bewe­

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G. Tucek und H. Fritz-Ipsmiller

gung hängen zusammen. Innere Bewegung wird auch mit dem Körper ausgedrückt. Der Mensch lässt sich von innerem Erleben bewe­ gen. Durch Aufmerksamkeit auf Bewegungen kann er sein Handlungspotenzial erweitern. >> Neue Bewegungen bringen Veränderung im Verhalten. Erweiterte Bewegungsmöglichkeiten bringen erweitertes Leben.

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Wie sieht die individuelle Reichweite aus, was ist die Richtung? Führt der Mensch oder kann er sich führen lassen? Wie bewegt er sich von etwas weg, wie auf etwas zu? Kann er starten, verändern, stoppen? Wie geht er mit Forcieren von Geschwindigkeit und Tempo um?

Tanztherapie kFreier Tanz

Es können energiegeladene Empfindungen und Ausdrucksimpulse freigelassen und ent­ spannt werden (. Abb. 25.5).  

kNachahmender Tanz

Dadurch kann ein Mensch eine Einheit mit ei­ nem Du erreichen und zu besserem Verstehen gelangen. Durch Rituale und Kulte gelangt der spontane Ausdruck in Schrittfolgen, und er er­ langt eine Strukturierung und Kontrolle seiner Lebendigkeit. kWilder, ekstatischer Tanz

Eingeschliffenes kann darin gelockert werden.

Tanzrituale werden als Heilungsrituale verwendet, um heilende Prozesse in Gang zu setzen 55 Heilungs-Tanz: Ein erweiterter Bewusstseinszustand wird erreicht, und es werden Kräfte erlangt, mit denen Macht über Krankheit gewonnen wird 55 Religiöser Tanz: Es wird ein Verbundensein mit dem Kosmos erlangt 55 Initiations-, Jugendweih- und Hochzeitstanz: Übergänge in andere Entwicklungsstufen werden ausgedrückt oder eingearbeitet 55 Kathartischer Tanz: Die innere Befindlichkeit wird gesteigert und bis zu einem Höhepunkt verdichtet 55 Fruchtbarkeitstanz: Es wird Vitalisierung, Erneuerung und Kraftgewinn erlangt. 55 Gemeinschaftstanz: Menschen werden in die Gesellschaft hereingenommen und erleben Zusammengehörigkeit, Verbindung, Akzeptanz

25.2.5  Sprache

Sprachgestaltungstherapie Durch Sprachgestaltung werden persönlichste Empfindungen, Gefühle und Gedanken zum Ausdruck gebracht. Die Gestaltung der Spra­ che dient als Werkzeug, um etwas aus dem In­ neren nach außen zu tragen. Sprachfindung kommt aus tieferen Schichten als das Denken.

»» „Es gibt kein Geschehen oder Ding, weder in der belebten noch in der unbelebten Natur, das nicht in gewisser Weise an der Sprache teilhätte, denn es ist jedem wesentlich, seinen Inhalt mitzuteilen.“ (Benjamin 1916)

..      Abb. 25.5  Leichtigkeit durch Tanz

Die Sprache dient als Selbstgestaltungsele­ ment, zur geistigen Verwirklichung, um an persönliches Bewusstsein heranzukommen. Sprachlich ausgedrückte Gefühle haben eine andere Qualität als der Ausdruck von Gefüh­

579 Musischer Ansatz

len in einer anderen Sinnesart. Seelisch-Bild­ haftes wird höchstpersönlich in Lautfolgen, Wortwahl, Stimmwahl ausgedrückt. Über das Hören der Sprache des anderen ist es möglich, an dessen Innerstes zu gelangen. Sprachgestal­ tung dient dazu, sich verständlich zu machen, eigene Empfindungen und eigene Emotionen intensiver zu artikulieren. Sie führt zum Erle­ ben, wie sich Inneres bei einem selbst heraus artikuliert, und die Wirkung davon kann bei sich und bei anderen erfahren werden. Ferner lässt sich dabei entdecken, wie sich bei Gefüh­ len innere Spannungen zu Lauten, Worten ver­ dichten, nach Außen gelangen und Wirkungen erzeugen.

Poesietherapie >> Schreiben, verfertigen, dichten, machen, schaffen, ersinnen, verfassen, ausdenken von Texten = Dicht-Kunst.

Über Geschichten, Erzählungen, Gedichte kann ein individueller Gedankenfluss angeregt werden, und dadurch lassen sich mentale Mus­ ter regulieren. Kinder hören sich Märchen und Geschichten so oft an, bis sie die Inhalte locker und leicht konfrontieren können. Während des Schreibens kann der Schrei­ bende ein Sich-klar-werden entdecken. Durch Schreiben an andere oder an sich selbst lässt sich Klarheit schaffen. Im Schreiben können Menschen an ihre eigenen Empfindungen, Ge­ fühle, Gedanken herankommen. Über Tagebü­ cher lassen sich die seelischen Inhalte schrift­ lich ausdrücken. Durch Beschäftigung mit Geschichten, Märchen, Mythen, Sagen, Poesie, Gedichten kann man mit sich selbst archäolo­ gisch arbeiten. Erzählungen waren immer schon auch „Heil-­ Mittel“, weil sie Gefühle, Empfindungen, Erregungen, Stimmungen her­ vorrufen und verändern können. Das Dichten macht nicht erst dem Dichter Freude, sondern das Dichten entspringt der Freude. Gedichte spiegeln Gefühle und berüh­ ren verborgene Tiefen im Innersten des Men­ schen. Im schöpferischen Prozess gibt es kein Ich-bewusstes Selbst. Ein „transzendentes Es“ drückt sich aus!

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25.2.6  Musik

Musiktherapie Durch die Beschäftigung mit Musik wird der Hörsinn angesprochen und aktiviert. Der Mensch schwingt sich in Töne, Klänge, Geräu­ sche ein und beginnt mitzuschwingen, zu spüren, zu empfinden, zu fühlen. Empfindungen und Emotionen werden über den Körper als ureige­ nem Musikinstrument erlebt. Musik wirkt nicht nur auf den Wachzustand, sondern dringt auch während des Schlafes in unbewusste Schichten vor. Musik wirkt auch bis in unbewusste, sogar in komatöse und bewusstlose Zustände. kDer Körper – das ureigenste ­Musikinstrument

Ist ein Mensch aus seinem Maß, aus seinem Rhythmus, aus seiner eigenen Geschwindig­ keit herausgefallen und kann er seinen eigenen Takt schwer aufrecht halten, bei Stimmungs­ schwankungen und Stimmungsungleichge­ wichten, wenn Wachheit und Aufmerksamkeit verringert sind, dann kann er mit den Gestal­ tungsmitteln der Musik – Klänge, Töne, Klang­ figuren, Geräusche, Akkorde, Intervalle, Melo­ dien – eine Verwandlungskraft erleben, die ihn in der Zeitabfolge vorwärts zieht. kStimmungen werden über ­Musikinstrumente spürbar

Durch das Einlassen in musikalische Gestal­ tung kann ein inneres Bewegen in einem „ort­ losen“ Raum erlebt werden. Bei Störungen des Rhythmus, Verkrampfungen, eingeschränkter Bewegungsmöglichkeit kann durch Musik eine regulierende und ins Fließen bringende Wir­ kung erlebt werden. Zu den Möglichkeiten und Grenzen der Musiktherapie 7 Abschn. 25.1.  

Therapeutisches Singen Die Schwingungen der Stimmlippen verursa­ chen einen Primärklang, der aus Grund- und Obertönen zusammengesetzt ist. Atmen und Singen werden als etwas Grundlegendes erlebt. Die Stimme ist seit Jahrtausenden auf das

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Überleben ausgerichtet. Wenn etwas Unange­ nehmes passiert, ist die Stimme sofort beein­ trächtigt, und Angst erkennt man sofort an der Stimme. Der ganze Körper fungiert als Instrument. Beim Singen werden Blockaden überwunden, ein Sich-Trauen wird aktiviert. Das Singen ist stark mit dem Körperempfinden gekoppelt. Der ganze Körper gehört zum Singen. Singen befreit von Hemmungen. Bewusstes Atmen ist Voraussetzung! Es gilt, in sich hineinzuhö­ ren und in der Gegenwart zu sein. Durch Sin­ gen lässt sich schnell Freude erlangen oder bringen. Es gilt, jegliche Bewertung zu unter­ lassen und zu üben, sich und andere nicht zu bewerten, sondern sich und andere erklingen zu lassen. >> Durch Singen lässt sich Scham und Scheu überwinden. Wenn die Person loslässt und sich selbst bejaht, dann singt „es“ aus ihr heraus.

25.2.7  Theatertherapie

Über ein Sich-in-Figuren-Hineinspielen kön­ nen Menschen an neue Empfindungen und Emotionen herankommen. Sie können die Vielfalt der Gefühle in sich kennen und die ganze Palette an Emotionen auch ausdrücken lernen. Durch das Einlassen auf das „Theater­ spielen“ lässt sich die Freiheit erlangen, der Welt zu sagen, was man über sie denkt. Durch Imaginieren, Improvisieren oder Ausprobieren kann das Spiel des Lebens neu kreiert werden. Die verschiedenen Theaterformen können dabei helfen, die Vielfalt in einer Person, ihre inneren Stimmen, zu entdecken. Es gilt, zu be­ merken, wie stark sie durch innere Gestalten geformt ist, ihr altes Drehbuch zu entziffern, ihre alten Rollen, ihre alten Masken und Kos­ tüme zu erkennen und für sich ein neues Dreh­ buch zu schreiben. Es geht darum, in Rollen hineinzuschlüpfen, aber auch aus Rollen wie­ der herauskommen zu können. Durch Theater kann man jemandem etwas zeigen, etwas dar­ stellen, etwas mitteilen. Jede Rolle hat ihre ei­

..      Abb. 25.6  Entdecken der inneren Vielfalt durch Theater

gene Körpersprache, Sprache, Gestik, Mimik und Bewegung (. Abb. 25.6).  

>> Es ist wichtig zu lernen, auf die Gegenwart spontan zu reagieren und bewusst improvisieren zu können.

25.2.8  Kreativitätstherapie und

Kunsttherapie

Kunst definiert Wagner als

»» „Höchstentwicklung des kreativen Poten-

zials des Menschen in der Versinnlichung seines intellektuellen, emotionalen und sozialen Vermögens.“ (Wagner 2000, S. 29)

Er beruft sich auf das Stufenmodell kreativer Entwicklung, das durch Irving Taylor aufge­ stellt wurde.

»» „Five levels or dispositions to creativity,

apparently related do different stages of individual development, were identified by I. Taylor (1959) which were expressive, technical, inventive, innovative, and emergentive creativity.“ (Taylor und Getzels 1975, S. 3)

Nach Wagner sind die letzten 3 Stufen der krea­ tiven Entwicklung bereits Stufen der Kunst. Pa­ rallel zu diesen 5 Phasen kreativer Entwicklung liefert die ganzheitliche Kunsttherapie ihren kreativ-therapeutischen bzw. kunsttherapeuti­ schen Ansatz. Somit gibt es die Kreativitätsthe­

581 Musischer Ansatz

rapie parallel zu den ersten beiden Kreativitäts­ stufen und die Kunsttherapie, die auf den nächsten 3 Kreativitätsstufen aufbaut und der qualitativen Erweiterung der Kreativität zur Kunst entspricht. >> Kreativitätstherapie würde demnach Ausdruckstherapie und Gestaltungstherapie umfassen, und Kunsttherapie würde inventive, innovative und emergentive Kunsttherapie beinhalten.

Taylor baut seine Stufen der Kreativität u.  a. auch auf Forschungen von Pionieren der Psy­ chotherapie auf. So gab es bereits 1933 bei Sig­ mund Freud (primäre und sekundäre Pro­ zesse) und 1946 bei C.  G. Jung dessen Unterscheidung von Typen der Kreativität, welche Grenzen von psychisch-intellektuellem Material überschreiten würden, und anderen, welchen dies nicht gelänge. Auch für Fairbairn (1939) und Grotjahn (1957) ist Kreativität

»» „… a restitution for destructive impulses. …

The creative transformation is an attempt at restitution or restoration, through fantasy for example, to alleviate guilt and anxiety.“ (Taylor und Getzels 1975, S. 6)

In Opposition zu Freud und Jung würde bei Alfred Adler Kreativität eher dem Bewusstsein als dem Unterbewusstsein entspringen (Taylor und Getzels 1975). Zunehmend wurde gefun­ den, dass Frustration nicht notwendigerweise Kreativität verhindert, und Maddi betont 1965, dass Kreativität auch durch Vermeidung von Langeweile und durch Interesse an Neuem ak­ tiviert wird (in: Taylor und Getzels 1975, S. 14). Während bei Freud Heilung durch Be­ wusstwerdung gefördert wird, findet sein Schüler Otto Rank, der Mensch würde seeli­ sche Heilung dadurch erlangen, wenn er

»» „seine volle Schöpferkraft dem Leben und der Lebensgestaltung zuzuwenden vermag“,

wenn er also

»» „das volle Glück der Persönlichkeitsschöpfung (Rank) erreicht.“ (Rank 2000, S. 17)

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Ludwig Janus und Hans-Jürgen Wirth formu­ lieren in ihrer Einleitung zu Otto Ranks Kunst und Künstler (2000):

»» „Ranks Kritik an Freuds ambivalentem

Menschenbild öffnet den Blick dafür, dass Kreativität zu den grundlegenden Möglichkeiten des Menschen gehört, die ihn unter anderem dazu befähigen, einen Weg aus Neurose und psychischer Krankheit zu finden. Die Neurose selbst kann als (gescheiterte) kreative Leistung aufgefasst werden.“ (Rank 2000, S. 17)

Pieringer stellt nun Kreation der Kreativität gegenüber:

»» „Während nun Kunstwerke bewusst erfahr-

bare und damit verantwortbare Kreationen darstellen, sind menschliche Krankheiten unbewusste Gestaltungen aus der inneren Lebenskraft, die aber auch nach Bewusstwerdung und nach Entwicklung von Verantwortlichkeit drängen.“ (Pieringer 1995, S. 115)

25.2.9  Ganzheitliche

Kunsttherapie aus ärztlicher Sicht

Kunsttherapie wird nach Prof. Dr. Heber Fer­ raz-Leite (2016) in der Psychiatrie erfolgreich eingesetzt,

»» „… doch sie gewinnt wachsende Bedeu-

tung auch in anderen Sparten der Medizin wie der Psychosomatik, der Onkologie/ Hämatologie, der Pädiatrie oder der Geriatrie.“ (7 https://www.gesünderleben.­at/gesundheit/kunst-macht-gesund. Zugegriffen am 07.08.2018)  

Dr. Wolfram Voigtländer, Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psy­ chotherapie und Psychosomatik und der Klini­ ken Landkreis Heidenheim GmbH formuliert:

»» „Jede psychiatrische Einrichtung in Deutschland, die auf der Höhe der Zeit sein will, bietet heute in ihrem Behandlungsspektrum

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auch Kreativtherapien an. Tanz- und Bewegungstherapie gehören ebenso dazu wie Musiktherapie, Gestaltungs- und Kunsttherapie. Sie sind weitgehend Behandlungsalltag.“ (Voigtländer 2013).

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Da die Kunsttherapie in Österreich noch kein explizit eigenes Berufsgesetz hat, empfiehlt das Österreichische Ministerium für Gesundheit und Frauen eine enge Kooperation von Kunst­ therapeut und Arzt (BMGF 2006). Dr. med. Maria Lack (2017, persönliche Mitteilung) schreibt, dass über die Kunstthera­ pie, die allgemein über monomediale Medien durchgeführt wird (z.  B. therapeutisches Zeichnen oder Maltherapie oder Musikthera­ pie oder Theatertherapie), die Wirksamkeit bei Kindern und Jugendlichen durch sehr viele Studien bereits bewiesen worden sei. Und wei­ ter führt sie aus, dass auch

»» „… bei Angsterkrankungen, Depression,

psychosomatischen Erkrankungen, Essstörungen, Schlafstörungen, Burnout, Stresssymptomatik u. a. die ganzheitliche Kunsttherapie sicher ein wichtiger Pfeiler in einer ganzheitlichen Behandlung sein könnte und in Zukunft als unterstützende Therapieform mehr Bedeutung erhalten sollte.“

Eine zunehmende Bedeutung wird die Kunst­ therapie sicherlich in der Prävention und Therapie von Demenzpatienten einnehmen (7 Abschn.  25.2.11). Studien besagen, dass z.  B.  Tanz in hohem Prozentmaß einen sehr günstigen Einfluss auf den Krankheitsverlauf dieser Patientengruppe haben kann. Auch beim fortgeschrittenen Krankheitsbild ist die Kunsttherapie durchaus sinnvoll; so können beispielsweise bei Sprachverlust in den künst­ lerischen Medien alternative Möglichkeiten zum Kommunizieren und Ausdrücken gefun­ den werden. Malen und Singen können z. B. Erinnerungen wachrufen und Ressourcen aktivieren. Sehr viele Studien beweisen die Wirksam­ keit der Kunsttherapie bei Kindern und Ju­ gendlichen, sowohl als therapeutische als auch als präventive Maßnahme.  

Auch bei Angsterkrankungen, Depressio­ nen, psychosomatischen Erkrankungen, Ess­ störungen, Schlafstörungen, Burnout, Stress­ symptomatik u.  a. könnte die ganzheitliche Kunsttherapie sicher ein wichtiger Pfeiler in ei­ ner ganzheitlichen Behandlung sein und sollte in Zukunft als unterstützende Therapieform mehr Bedeutung erfahren (7 Abschn. 25.2.11).  

>> Die Vielfalt der künstlerischen Medien erlaubt einen großen Handlungsspielraum und eine individuelle Betreuungsform für nahezu alle Krankheitsbilder.

25.2.10  Fallbeispiel zz Patientin, 19 Jahre

Die Studentin leidet unter Panikattacken. Die Behandlung erfolgt durch Dr. Maria Lack, Ärztin für Allgemeinmedizin und Psycho­ somatik, Psychotherapeutin, in Zusammenar­ beit mit Konstanze Lack, ganzheitliche Kunst­ therapeutin (M.  Lack und K.  Lack 2017, persönliche Mitteilung). Sowohl die Ärztin als auch die Kunsttherapeutin führen ihre Anam­ nesen durch. Die ganzheitliche Kunsttherapeu­ tin beginnt mit dem Medium, das dem aktuellen Bedürfnis bzw. der Anlage der Patientin ent­ spricht. Im Behandlungsverlauf interveniert sie immer das Medium, das mit der Situation bzw. der Befindlichkeit der Patientin übereinstimmt. kAnamneseerhebung und Diagnostik (Dr. med. Maria Lack) Anamnese

Die 19-jährige Patientin klagt die seit 1½ Monaten über Kreislaufprobleme. Sie leidet un­ ter starker Müdigkeit, Kopfschmerzen, häufi­ gem Herzklopfen, Antriebs-, Konzentrationsund Schlafstörungen. Auch treten Panikattacken auf, besonders in der U-Bahn. Die Patientin hatte sich früher in Psychotherapie befunden, die allerdings erfolglos verlaufen war.

kDiagnose

Die Untersuchung ergibt zwar einen leicht er­ niedrigten Blutdruck, Vitamin-D-Mangel und geringen Eisenmangel, dies kann aber

583 Musischer Ansatz

die wiederholt auftretenden „Kreislaufpro­ bleme“, die der Patientin Angst bereiteten, nicht erklären. Im Labor fallen noch ein deut­ lich erhöhter Serotoninspiegel und grenzwer­ tig hohes Kortisol auf. Es wird die Diagnose F.40 phobische Störungen nach ICD10 ge­ stellt. Da die Patientin eine erneute Psycho­ therapie vehement ablehnt, erfolgt die Über­ weisung zur ganzheitlichen Kunsttherapeutin Konstanze Lack. kGanzheitlich-kunsttherapeutische Behandlung (Konstanze Lack)

Es werden wöchentliche Treffen vereinbart. Zu Beginn der kunsttherapeutischen Sitzungen wirkt die Patientin zwar sehr motiviert, sie ist aber durch ihre perfektionistische Herange­ hensweise zunächst gehemmt. Durch wieder­ holtes Betonen des „geschützten Raumes“ und allmählichen Beziehungsaufbau gelingt es ihr, sich zunehmend besser einzulassen. Beim Einsammeln assoziativer Worte, die mit ihrem damaligen Leben und Lebensgefühl in Verbindung stehen, taucht das Wort „Uni“ auf. Im diesbezüglich gemalten Bild stehen die Buchstaben in Flammen. Beim Umgestalten des Bildes greift die Patientin zu leuchtendem Orange. Danach wirkt das Bild für sie nicht mehr bedrohlich, dafür aber ein wenig „eintö­ nig“. Das Studium sei zwar interessant, aber in gewisser Weise ebenfalls eintönig. Sie fühle sich in eine Richtung gedrängt und habe das Gefühl, auf eine Sackgasse zuzugehen. Es erfolgt die Reaktivierung einiger vergesse­ ner Ressourcen: Sie holt ihre Gitarre aus dem Keller, und es wird gemeinsam gesungen. Beim Tönen und den dazugehörigen Atemübungen wird sie sich ihrer Anspannung bewusst, kann aber immer wieder loslassen. Sie erinnert sich, dass sie früher gerne photographiert hatte. Auf Motivsuche geht sie wieder öfter spazieren (und damit aus dem Haus). Dies hilft ihr auch, auf den Weg zur Uni zu gelangen und sich erfolgreich von der Angst abzulenken. Sie beginnt, Photos zu bearbeiten und zu Collagen zusammenzufü­ gen. Auch das Malen entdeckt sie als Ausdrucks­ form für sich. Besonders wichtig wird hier der Aspekt des willentlichen Verändern-­Könnens.

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Zwischendurch gibt es Rückfälle. Im Win­ ter verlässt sie wegen Schneefalls tagelang nicht das Haus. Danach hat sie einen „Anfall von Hyperaktivität“. Sie leidet unter diesen Schwan­ kungen zwischen Hyper- und Inaktivität. Sie gestaltet ein Bild zur „Hyperaktivität“, tupft da­ bei mit einem Schwamm rote Farbe in Form eines M auf einen großen Bogen Papier und meint dann, das mache ihr Angst. Beim fortge­ setzten Verändern des Bildes von Rot zu Blau taucht der Gedanke an ihren Freund auf, des­ sen Vorname mit einem M beginnt. Sie ver­ spürt das Bedürfnis, die blaue Farbe wegzu­ kratzen, kann es aber dabei belassen, diesen Gedanken nur auszusprechen. Für die inaktive Phase entsteht ein weiteres Bild, das Yin-YangSymbol, welches sie beruhigt. Sie entdeckt, dass Malen und Kritzeln ihr in der Hyperaktivität Entspannung bringen kann. Sie genießt es auch, mit Farbe zu spie­ len, ohne eine Erwartungshaltung darüber aufzubauen, wie das fertige Bild aussehen soll. Dabei bemerkt sie, dass ihr besonders Orange und Gelb gut tun, und sie überlegt, ihr Zim­ mer in diesen Farben zu streichen. In dieser Zeit entsteht zu Hause ihr erstes großformati­ ges Bild auf Leinwand, an dem sie eine Woche arbeitet und das sie ihrer Mutter schenken will. Sie malt regelmäßig, verschenkt einige Bilder an Freunde und entwickelt eine eigene Form der Initialen in Kurrentschrift als Zei­ chen für Eigenständigkeit und Originalität. Schließlich schafft sie es, zum ersten Mal seit Monaten wieder alleine mit der U-Bahn zu fahren; die Freude darüber und der Stolz, es geschafft zu haben, sind groß. Sie hofft auf eine allgemeine Verbesserung ihrer Befindlichkeit im kommenden Semester, weiß aber auch, dass Rückschläge möglich sind und auch diese wie­ der vorbeigehen. Sie meldet sich für einen Fotokurs an, in dem sie bald jemanden kennenlernt. Sie erkennt, dass ihr besonders der Wechsel von „völliger Struktur“ in Kindheit und Schule zu „völliger Freiheit“ und „Eigenorganisation“ schwer fällt. Sie habe das Gefühl, von einem Moment auf den anderen erwachsen werden zu müssen.

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kBehandlungserfolg

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Im kunsttherapeutischen Setting über 5 Monate kann die Patientin im Laufe des Prozessgesche­ hens gefahrlos mit ihrer Handlungsfähigkeit experimentieren und damit ihren Handlungs­ spielraum Schritt für Schritt erweitern. Es ge­ lingt ihr, selbst Struktur in ihren Tagesablauf zu bringen. Durch die Beschäftigung mit den dar­ stellenden Medien verbessert sich ihre Körper­ wahrnehmung, durch das Malen schafft sie es, Emotionen ein Ventil zu verschaffen und eine Form zu geben; sie lernt, sich zunehmend bes­ ser zu spüren und sich auszudrücken. Daher wird eine Somatisierung immer weniger not­ wendig; dort, wo der Körper ursprünglich die „Notbremse“ gezogen hatte, kann sie nun be­ reits früher und bewusster reagieren. Die Klien­ tin beschließt, dass es ihr ausreichend gut gehe und dass sie nun selbst mit den erprobten Me­ dien weiterarbeiten wolle und sich nur bei Be­ darf erneut melden würde. Damit kann sowohl die Ärztin als auch die ganzheitliche Kunstthe­ rapeutin übereinstimmen. 25.2.11  Studien/Evidenzlage zz Therapeutische Wirkweise künstlerischer Medien

55 Durch bildnerisch-therapeutische Medien wie Zeichnen, Malen oder Modellieren können Patienten Zugang zu Persönlich­ keitsanteilen erlangen, die sich verbal nur schwer erschließen lassen (Wendlandt 2002, S. 26 f). 55 Durch darstellend-therapeutische Medien wie Foto- und Videoarbeit kann subjektive Bedeutsamkeit spürbar und neu als Lebens­ zeichen erfahrbar werden. Durch Tonbandoder Videoaufzeichnungen kann differen­ ziertere Rückmeldung über eigene Gestik, Mimik bzw. Verspannung, Entspannung erhalten werden (Wendlandt 2002, S. 27). 55 Singen stimuliert das Immunsystem: Bei Chorsängern konnte durch Studien nachgewiesen werden, dass durch Singen der Anteil an IgA um bis zu 240 % ansteigt. Selbst zu singen ist das Gesündeste für den

Körper, fanden z. B. Forscher vom Institut für Musikpädagogik der Johann-Wolf­ gang-Goethe-Universität in Frankfurt/M heraus. In einem Pilotprojekt unter der Leitung von Professor Dr. Hans Günther Bastian untersuchten die Wissenschaftler in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Sängerbund den Laienchor einer Kirchenge­ meinde; die Probanden waren 8 Männer und 23 Frauen. In früheren Studien waren endokrine Reaktionen sowohl beim Rezipieren (Hören) als auch Produzieren (Singen) von Musik nachgewiesen worden (7 https://www.­welt.­de/wissenschaft/  

article962514/Warum-Singen-die-Gesundheitstaerkt.­html. Zugegriffen am 07.08.2018).

55 In einer Studie des Musikpsychologen Thomas Biegl (2004) erwies sich Singen als glücksbringende Methode: Die psychophy­ siologischen Glücksindikatoren Serotonin und Noradrenalin stiegen merklich an, das Stresshormon Adrenalin reduzierte sich durch das Singen. Eine Zunahme von Dopamin konnte nicht nachgewiesen werden, das körpereigene Opiat β-Endor­ phin wurde vermehrt ausgeschüttet. Hinsichtlich der mittels Fragebogen erhobenen Befindlichkeiten konnte eine Angstreduktion, eine Hebung der frohen Stimmung, eine Verringerung der Erschöp­ fung, eine Reduzierung einer eventuell vorhandenen Hemmung und eine generelle Steigerung des Wohlbefindens durch das Singen festgestellt werden. Aggressivität und Verlassenheitsgefühl verringerten sich nicht. 55 Singen an sich fördert nicht nur die Gesundheit, sondern das Singen in einem Chor erweitert dies noch. Laetitia Livesey et al. zeigten in ihrer Studie, dass auch die soziale Gesundheit angehoben wird. Beim Produzieren der Töne wird mit den anderen Chorsängern synchronisiert und koordiniert (Livesey et al. 2012). zz Krankheitsbilder und Kunsttherapie

55 Weis und Brähler berichten, dass sich – Studien zufolge – durch die Anwendung von Kunsttherapie die Kommunikation

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verbessert, negative Symptome sich reduzieren und gesteigertes Erleben von Kraft spürbar wird. Durch die Anwendung kunsttherapeutischer Interventionen konnte eine „Reduktion von Angst und Depression, ein geringeres Ausmaß des Erlebens von Stress, eine verbesserte Wahrnehmung von Gesundheit und eine Verbesserung der Krankheitsbewältigung erreicht werden“ (Weis und Brähler 2013, S. 130). 55 Bar-Sela et al. (2007) zeigten in ihrer Studie, dass Kunsttherapie Depression verbesserte und das Ermüdungsniveau von Krebspatienten bei der Chemothe­ rapie beeinflusste. 55 Die Lebensqualität von Menschen, welche an Krebs erkrankten, verbes­ serte sich durch die Anwendung von Kunsttherapie, und es konnten Angst, Depression und Schmerz reduziert werden (Puetz et al. 2013). Die Anwendung von Kunsttherapie in Gruppen mit älteren Menschen mit Demenz zeigte in einer Studie, dass Kunsttherapie und Freizeitgestaltung günstige und angemessene Interventionen sind. Kunsttherapie hat aber einen subtileren und dauerhafteren positiven Effekt. Die Klientel verbessert durch Kunsttherapie ihr Symptommanagement, ihr Empowerment und ihre Selbstfürsorge (Rusted et al. 2006). Traumatische Störungen: Auch die fragmentierten nonverbalen Erinnerungen können nach Schuster (2014) zu einer integrierten Geschichte des traumatischen Erlebnisses zusammengefügt werden. Anorexia nervosa: Die Erfahrung von Gefühlen der Beherrschung von Kontrolle kann erlangt werden, sodass in Bezug auf Essen und Trinken hinübergeleitet werden kann (Lüdeke 2010, S. 99). Der Deutsche Fachverband für Kunst- & Gestaltungstherapie (DFKGT 2013) listet Studien und Literatur in den Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftli­ chen Medizinischen Fachgesellschaften

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(AWMF) aus den Fachbereichen künstleri­ scher Therapien zu diversen Krankheits­ bildern auf, wie: 55 Depressive Störungen bei Kindern und Jugendlichen, 55 akute perioperative und posttraumati­ sche Schmerzen, 55 posttraumatische Belastungsstörung, 55 Demenz, 55 Essstörungen, 55 Mammakarzinom, 55 schwere psychische Störungen, 55 bipolare Störung, 55 Schlaganfall. Zusammenfassung 55 Vermehrt zeigen qualitative und quantitative Studien, dass durch sinnlich-kreativ-künstlerische Ansätze Gesundheit ge­ fördert bzw. zu Gesundheitsförderung beigetragen wird. 55 Jeder Sinn hat einen eigenen Sinn, jede sinnlich-kreative Ausrichtung bringt eine spezielle Wirksamkeit, und das Einbringen der Einflussgrößen von Kunst steigert die Selbstbestimmung und das Vertrauen in das eigene Tun. 55 Vor allem aber hilft ganzheitliche Kunsttherapie, die Freiheit zu etwaigen Symptomen anzuheben, sodass sich die Klientel vom kranken zum gesunden Pol ausrichtet.

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591

Ganzheitliche Zahnheilkunde Irmgard Simma-Kletschka und Eva Maria Höller 26.1

Grundlagen – 593

26.1.1 26.1.2 26.1.3 26.1.4 26.1.5 26.1.6 26.1.7 26.1.8 26.1.9 26.1.10 26.1.11 26.1.12

E inführung – 593 Mundraum – 593 Ganzheitliche funktionelle Diagnose – 595 Ganzheitliche Therapiemöglichkeiten – 596 Prophylaxe – 597 Mundraumentwicklung – Funktionskieferorthopädie – 600 Mundakupunktur – 600 Fallbeispiel: Trigeminusneuralgie – 605 Kraniomandibuläres System – 605 Ganzheitliche Zahnheilkunde für Kinder – 608 Fallbeispiel: Interzeptive Kieferorthopädie – 611 Ganzheitliche Zahnheilkunde und ganzheitliches Wohlbefinden – 614 26.1.13 Wissenschaftliche Studien – 614 26.1.14 Ausbildungsmöglichkeiten – 616

26.2

Chronische Entzündungen und Materialprobleme – 616

26.2.1 26.2.2 26.2.3 26.2.4 26.2.5 26.2.6

E inführung – 616 Prophylaxemaßnahmen – 618 Allgemeine Abwehrsteigerung und Immunstärkung – 619 Chronische Entzündungen im Kieferbereich – 620 Klassische Störherde – 621 Parodontologie – Entzündungen und Degeneration des Zahnhalteapparats – 625

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26

26.2.7

 ahnärztliche Materialien und unerwünschte Z Nebenwirkungen – 628 26.2.8 Metalle und Metall-Legierungen – 629 26.2.9 Metallfreie Möglichkeiten – 634 26.2.10 Fallbeispiel – 636 26.2.11 Studien/Evidenzlage – 637 26.2.12 Ausbildung – 637

Literatur – 638

593 Ganzheitliche Zahnheilkunde

26.1 Grundlagen Irmgard Simma-Kletschka 26.1.1  Einführung

In Anbetracht der Tatsache, dass immer mehr Menschen an sog. Zivilisationskrankheiten lei­ den, die mit Mitteln der konventionellen Me­ dizin nicht zur Zufriedenheit der Leidtragen­ den behandelt werden können und viele davon behandlungsbedürftige Erkrankungen des Kausystems als Mitursache haben, ist ein Blick auf die ganzheitliche Zahnheilkunde uner­ lässlich. Ganzheitliche Zahnheilkunde - Sie beschäftigt sich mit den multifunktionellen Bezügen des stomatognathen Systems (eine funktionelle Einheit von Zähnen, Paradontien, Alveolarknochen, Muskulatur, Kiefergelenken und Halswirbelsäule) zu Gesamtorganismus und Umwelt. Symptome des Kausystems werden nicht isoliert betrachtet, sondern mit dem allgemeinen Erscheinungsbild des Menschen und seinem Allgemeinbefinden in Bezug gebracht. Aus Konzepten, denen somatische, psychische, psychosoziale, biokybernetische und informative Vernetzungen zugrunde liegen, wurde über die Jahre ein ganzheitliches Behandlungskonzept erarbeitet. Es kann über aktuelle Belastungen, Herde und Störfelder, aber v. a. über die Regulationsfähigkeit des Patienten informieren und verfügt über Methoden, die das Kausystem als Stressbewältigungsorgan entlasten.

Funktionelle Krankheiten treten immer häufi­ ger auf und bilden nicht nur für den Zahnarzt eine zunehmende Herausforderung. Das dia­ gnostische Problem liegt in der meist schweren Durchschaubarkeit aufgrund der miteinander in Wechselwirkung stehenden verschiedenen Strukturen, Organe und Funktionen. Die Funktionsstörungen werden oft zusätzlich ver­ schleiert durch eine vegetativ-­psychische Be­ gleitsymptomatik. So ist erklärbar, dass die in vielen funktio­ nellen Erscheinungsbildern auftretenden myo­ faszialen und kraniomandibulären Schmerz­ syndrome nicht nur das Fachgebiet des Zahnarztes betreffen.

26

>> Es ist wichtig, kraniomandibuläre Dysfunktionen so früh wie möglich zu erkennen, um ein zweckmäßiges, effektives und kostensparendes Eingreifen zu ermöglichen.

Bei Kindern bezieht sich dies auf die Frühbe­ handlung in der Kieferorthopädie, Myofunk­ tion, Zunge am Gaumen, Osteopathie, Lymph­ therapien etc. Der Frontzahnkontakt muss vor dem Hauptwachstumsschub hergestellt wer­ den, um eine harmonische Kiefer- und Ge­ sichtsentwicklung zu ermöglichen. Diagnosemethoden und Therapiemöglich­ keiten im kraniomandibulären System, in dem Herd- und Störfeldgeschehen als dynamisches Geschehen, als Reaktion auf Reize (Stress), ge­ sehen werden, sind vielfältig. Im Folgenden wird ein Einblick in die vielfältigen Ressourcen des Kausystems und der ganzheitlichen Zahnmedizin, die Symptome als Kompensationsversuch des Körpers und die chronische Erkrankung als Zusammenbruch des Adaptations-/Kompensationsmechanismus beschreibt, gegeben. Damit soll auch das Inte­ resse an der weiterführenden Beschäftigung mit dieser interessanten Thematik geweckt werden. 26.1.2  Mundraum

Gerade der Mundraum und seine Funktionen balancieren im Sinne eines biokybernetischen Stressverarbeitungsprogramms von Kindheit an auf ausdrucksstarke Weise das Innen und Außen. Sowohl die konventionelle Medizin als auch die Komplementärmedizin beschreiben Mundhöhle, Zähne, Kiefergelenk, Kaumusku­ latur und Halswirbelsäule als Funktionseinheit und als Schlüsselstellen des menschlichen Kör­ pers und seiner Entwicklung. Die Kontaktfreu­ digkeit vom ersten Atemzug an, die Fähigkei­ ten sich hin- und zuzuwenden, sich zu freuen und sich Andersartigem zu öffnen, kommen durch Mund und Lippen zum Ausdruck. Die Nahrungsaufnahme, der soziale Umgang, der Austausch von Informationen gehören eben­

594

26

I. Simma-Kletschka

falls hierher. Nicht von ungefähr kommen Re­ dewendungen wie „sich durchbeißen“, „die Zähne zusammenbeißen“ oder „es schlucken oder ausspucken“. Viele Menschen in den Industrienationen der westlichen Welt neigen zur Überforderung, zu selbst erzeugtem Stress. Sinnsuche und die ständige Überflutung mit Eindrücken gehen bis an die Grenzen ihrer Kräfte und ihrer Inte­ grationsfähigkeit. Die Antwort des Kausystems ist z.  B.  Pressen und Knirschen (Bruxismus). Dabei wird der von außen kommende Druck bevorzugt über die Kaumuskulatur ausgelebt und zugleich auch über wichtige Bereiche des Zahnhalteapparats oder des Kiefergelenks. Psychische Belastungen werden im wahrsten Sinne des Wortes „zermalmt“. Als wichtige Instrumente zur Stressverar­ beitung sind Zähne und Mund ein notwendi­ ges Ventil, das durchaus geeignet ist, Anspan­ nungen und Stress zu verarbeiten. Bei Bruxismus in der Nacht sind Zähne und Kiefer mitunter einem immensen Druck ausgesetzt. In der Folge können auftreten: 55 Schmerzen in der Kaumuskulatur, 55 Knacken im Kiefergelenk, 55 Schmerzen und Bewegungseinschränkun­ gen in der Nacken- und Halsmuskulatur, 55 Migräne, 55 Spannungskopfschmerzen, 55 Nervenschmerzen, 55 Tinnitus, 55 Lymphstau, 55 Haltungsstörungen. Die allgemein bekannten Symptome im Kau­ system sind: 55 Karies, 55 Schliff-Facetten am Einzelzahn, 55 Überempfindlichkeit, 55 Zahnfehlstellungen, 55 chronische Zahnfleischentzündungen oder Zahnfleischtaschen, 55 devitale Zähne. Auch Herde und Störfelder sind die Folge von Funktionsstörungen und verursachen weitere Belastungen und Symptome.

>> Die ganzheitliche Zahnheilkunde stellt den Menschen in seiner Gesamtheit in den Mittelpunkt – nicht nur das Kausystem oder gar einen Zahn für sich allein. Sie berücksichtigt, dass im Körper alles mit allem vernetzt ist. Demzufolge bestehen von den Zähnen zu jedem Organ Beziehungen und umgekehrt.

Der Organismus, insbesondere das Kausystem, wird von einer Vielzahl von Regelsystemen ge­ steuert. Die in der konventionellen Medizin bekannten anatomisch-­neurophysiologischen Verknüpfungen bilden mit den Verschaltun­ gen über das kraniosakrale System und das Akupunktursystem vegetative funktionelle Si­ cherungsringe, um optimale Funktionen zu er­ möglichen. Durch den vorhandenen Rück­ kopplungsmechanismus und Biofeedback kön­nen Überlastungen einzelner Regelkreise kompensiert werden. Ab einer bestimmten Anzahl von Störun­ gen (Stress  – Stressor  – Stressreaktion) und weiterer nachkommender Belastungen ist die Regulations- und Kompensationsfähigkeit er­ schöpft, und es zeigen sich individuelle Kör­ persymptome, z. B. in Form diverser Zahner­ krankungen. Diese Symptome dürfen nicht nur isoliert betrachtet werden und auch nicht nach dem Ursache-Wirkungs-Prinzip. Sie müssen vielmehr als Überlastung der Regel­ kreise erkannt werden  – ein phänomenologi­ sches Geschehen. >> Funktionelle Überbeanspruchung in biologischen Systemen führt immer zunächst zu Adaptation, zu Kompensation und schließlich zu Dysfunktion und Blockade – zur Krankheit (Pischinger 2014).

Auch in der zahnmedizinischen Literatur wei­ sen weltweit führende Wissenschaftler wie Gelb (1985); Graber (1983); Ramfjord (1961); Schulte (1981); Jankelson (1979) und Slavicek (2000) auf die biokybernetischen Wechselwir­ kungen von Bisslage. Okklusion, Kiefergelenk, Zentralnervensystem und Muskulatur hin. Die funktionellen Wechselbeziehungen von Okklusion, Bisslage, Kiefergelenk, Muskulatur,

595 Ganzheitliche Zahnheilkunde

Halswirbelsäule und Zentralnervensystem erklä­ ren das Kausystem zum hauptsächlichen Stress­ beantwortungsorgan. Stresskontrolle erfolgt da­ her durch funktionskieferordische Geräte, durch Mundakupunktur, Kraniosakraltherapie, Osteo­ pathie, Logopädie, Atem- und Bewusstseins­ übungen (Sophrologie), um alle Organsysteme und das Reflexgeschehen, insbesondere das Zungen- und Schluckmuster, zu harmonisieren. Sie zeigen, dass Stress auf die körperliche Organebene „Kausystem“ verlagert wird. Das psychosomatische Wechselspiel bringt häufig Überlastungen und eingeschränkte Funktio­ nen mit sich. So sind Bissanomalien bei Kin­ dern und auch bei Erwachsenen immer Aus­ druck einer Funktionsstörung. 26.1.3  Ganzheitliche funktionelle

Diagnose

Ziel der ganzheitlichen Zahnmedizin ist es, kör­ perliche Beschwerden von Patienten, welche durch Störungen des Kausystems verursacht worden sind, nachhaltig zu therapieren. So ist es nicht verwunderlich, dass ganzheitliche Unter­ suchungen sowie kieferorthopädische Behand­ lungen deutlich mehr Zeit in Anspruch nehmen als ein herkömmlicher Besuch beim Zahnarzt. Bereits das Erstgespräch geht in die Tiefe, denn gleich zu Beginn der Behandlung stellt der Pa­ tient seine Krankheitsvorgeschichte genau dar.

Ganzheitliche Anamnese Anamnese in der ganzheitlichen Zahnmedizin 55 Allgemeinmedizinische Anamnese (Schwangerschaft, Geburtsverlauf, Stillphase etc.) 55 Zahnärztliche Anamnese, Okklusal-Index 55 Spezielle ganzheitliche Anamnese 55 Patientengespräch

Diese Anamnese zeigt Schwachstellen des Pa­ tienten und Bedürfnisse seines Körpers auf.

26

Funktionsdiagnostik Selbstverständlich ist die moderne Röntgendi­ agnostik auch in der ganzheitlichen Zahnme­ dizin notwendig. Auch das sog. Fernröntgen bildet den Schädel im Profil ab und gibt wert­ volle Auskünfte über skelettale und dentale Messparameter. Bei Kindern kann anhand des Handwurzelröntgens das zu erwartende wei­ tere Wachstum bestimmt werden. Zusätzlich zur instrumentellen und manu­ ellen Funktionsdiagnostik werden auch Ge­ sichts- und Haltungsphotographien angefertigt.

Inspektion Äußere Inspektion 55 55 55 55

55 55 55 55 55

Körperliches Erscheinungsbild Haltung von allen Seiten Symmetrie, Schwerkraftlinie Beweglichkeit und Funktion: Halswirbelsäule (HWS), temporomandibuläre Dysfunktion (TMD) Iliosakralgelenk Dyskinesien Myofunktion Lymphsystem Mundatmung

In der darauffolgenden Funktionsanalyse un­ tersucht der Zahnarzt die Kopf- und Gesichts­ symmetrie, er prüft Muskeln und Kieferge­ lenke und stellt die Beweglichkeit des Unterkiefers fest. Bei der Haltungsanalyse be­ gutachtet der ganzheitliche Mediziner die Kopf- und Körperhaltung, den Verlauf der Wirbelsäule sowie die Länge von Armen und Beinen. Er prüft, ob ein Lymphstau vorliegt. >> Es ist wichtig, dem Lymphsystem Aufmerksamkeit zu schenken.

Eventuelle Staus sind bei einer äußeren Inspek­ tion sichtbar. Erscheinungen bei der typischen Facies lymphatica: Haut gespannt und pastös, Augen verschwollen, Blick eingeschränkt, Na­ senöffnungen sehr klein und hypoplastisch; es bestehen Augenringe und gestaute Wangen. Geschwollene Drüsenketten des Halses, anam­

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I. Simma-Kletschka

nestisch begleitet von Tubenkatarrhen, Ge­ ruchs- und Geschmacksstörungen; Schwerhö­ rigkeit und gesteigerte Infektanfälligkeit gehen häufig damit einher. Oft folgt eine chronische Sinusitis, die zu Venen- und Lymphstau in den Schleimhäuten des Mundraums und der Atem­ wege, an den Tonsillen und am Waldeyerschen Rachenring führt. Diese ist zwangsläufig mit einer gestörten Myo- und Zungenfunktion, ei­ ner gestörten Nasenatmung und orofazialen Dyskinesien verbunden.

26

Innere Inspektion 55 55 55 55 55 55

Schleimhaut Zunge Lymphabfluss Uvula (mittig?) Zahnstatus Bisslage

Palpation kExtraoral

Muskelpalpation aktiv und passiv, HWS  – ­Adler-Langer-Druckpunkte u. a. kIntraoral

Muskelpalpation Retromolaren und Vesti­ bulum-Punkte (Mundakupunktur). Es besteht eine intensive Wechselbeziehung zwischen den inneren Organen und dem Kau­ system. Im Fall von funktionellen Störungen innerer Organe tritt oftmals eine Druckemp­ findlichkeit spezifischer Mundschleimhaut­ punkte auf. Durch gezielte Therapie eben sol­ cher druckempfindlicher Mundpunkte lassen sich umgekehrt funktionelle Störungen der verschiedensten Organe, auch im Bereich des Bewegungsapparats wie z. B. Wirbelsäule und Gelenke, bessern bzw. aufheben.

Testmethoden Die äußere und innere Inspektion des Mund­ raums sowie verschiedene komplementärme­ dizinische Testmethoden geben Aufschluss über die Gesamtgesundheit und die Regulati­ onsfähigkeit des Patienten.

Komplementärmedizinische Testmethoden 55 VAS-Schmerzskala (visuelle Analogskala) 55 Herd- und Störfelddiagnostik 55 Materialtestung 55 Instrumentell: Vega-Test (vegetativer Reflextest), Thermographie etc., Elektroakupunktur nach Voll (EAV, 7 Kap. 13) 55 Manuell: Mundakupunktur, Physioenergetik, Applied Kinesiology (AK), aurikulokardialer Reflex (RAC), Aurikulomedizin etc.  

Während der Dauer der kieferorthopädischen Behandlung oder der Schienentherapie wird laufend festgehalten, wie sich die Haltung des Patienten verändert, denn ganzheitliche Kie­ ferorthopädie bewirkt auch eine Aufrichtung des Menschen  – im körperlichen ebenso wie im geistigen Sinne. 26.1.4  Ganzheitliche

Therapiemöglichkeiten

Therapien, die in der ganzheitlichen Zahnheilkunde Anwendung finden 55 Körpertherapien: ȤȤ Osteopathie ȤȤ Kraniosakraltherapie ȤȤ Magnetfeldtherapie ȤȤ Lymphdrainage ȤȤ Logopädie ȤȤ Myofunktionelle Therapie (Muskelfunktionsübungen) ȤȤ Bewegungstherapie/Physiotherapie 55 Entspannungstherapien: ȤȤ Sophrologie ȤȤ Visualisierungen beim autogenen Training ȤȤ Hypnose ȤȤ NLP (neurolinguistische Programmierung)

597 Ganzheitliche Zahnheilkunde

55 Allgemeine Therapien: ȤȤ Homöopathie ȤȤ Orthomolekulare Therapie ȤȤ Biochemie nach Schüssler ȤȤ Amalgamausleitung ȤȤ Bachblüten ȤȤ Stressmanagement ȤȤ Akupunktur und Mikrosysteme ȤȤ TCM (traditionelle chinesische Medizin) ȤȤ Lasertherapie ȤȤ Herd- und Störfelddiagnostik ȤȤ Materialverträglichkeitstests 55 Ganzheitliche Therapien: ȤȤ Neuraltherapie ȤȤ Funktionskieferorthopädie ȤȤ Schienentherapie ȤȤ Manuelle und instrumentelle Testverfahren ȤȤ Mundakupunktur ȤȤ Physioenergetik ȤȤ Angewandte Kinesiologie

>> In der ganzheitlichen Zahnheilkunde ist es essenziell, den Patienten darauf aufmerksam zu machen, dass er selbst große Verantwortung für die Gesundheit seiner Zähne und die Position seines Kiefers trägt. Der Zahnarzt oder Kieferorthopäde kann nur Wege aufzeigen und Werkzeuge mitgeben. Um den möglichen Erfolg zu erreichen, muss eine aktive Partizipation des Patienten stattfinden.

26.1.5  Prophylaxe

Aus prophylaktischer Sicht obliegt es Zahnärz­ ten und insbesondere Kieferorthopäden, durch rechtzeitiges Normalisieren der Mundraum­ funktionen entscheidenden Einfluss auf die Zahnentwicklung, auf die Profil- und Gesichts­ entwicklung und v. a. auf die Gesundheit von Kindern zu nehmen. Atmung, Mundraum und Myofunktion, Haltung, Lymphsystem, vegeta­

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tives Nervensystem, Konzentration, Gedächt­ nis und Leistungsfähigkeit stehen damit in en­ gem Zusammenhang.

Speichelfluss >> Die traditionelle zahnmedizinische Prophylaxe (Zahnpflege, effektive Mundhygiene, Ernährungsempfehlungen, regelmäßige Zahnarztbesuche) ist sehr wichtig.

Diese sorgfältige Vorsorge kann zwar 50 % der Kariesdefekte bei Kindern und Erwachsenen verhindern; trotzdem leiden noch ca. 50 % der 6-Jährigen an Karies. Das saure Milieu im Mund sorgt u. a. für Wachstum und Vermeh­ rung von Mikroorganismen. Die Entstehung von Karies wird begünstigt, wenn die Pufferka­ pazität des Speichels nicht ausreicht, um das Milieu zu neutralisieren. Der Speichelfluss ist ebenso wie die Muskelspannung stressabhängig und vom vegetativen Nervensystem gesteuert. Wenn die Funktionen und die Dynamik im Mundraum verbessert werden und die Kau­ muskulatur aktiviert und entspannt wird (was früher durch das Kauen harter Nahrung er­ reicht wurde), erhöht sich der Speichelfluss und damit die Durchblutung der Mund­ schleimhaut und die Remineralisierungs- und Regenerationsfähigkeit des Zahnschmelzes. Übung, um Zunge und Mundraum zu entspannen und den Speichelfluss anzuregen 55 Die Zunge sollte in Ruhe und beim Schlucken am Gaumen liegen (Balance der äußeren und inneren Muskulatur – Kopfhaltung – kleiner Energiekreislauf ) (. Abb. 26.1) 55 Mit der Zunge schnalzen und den Gaumen spüren 55 Mit geschlossenen Lippen die Zunge vor den Zähnen kreisen: 9 × nach rechts und 9 × nach links 55 Dabei die Mundschleimhaut und die Zahnoberflächen ertasten und die Muskulatur spüren  

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I. Simma-Kletschka

wichtsnormalisierende Anti-Stress- und An­ ti-Aging-Therapie betrachtet werden, die das Immunsystem stärkt und durch erhöhte Aus­ schüttung von Endorphinen etc. zu einem gestei­ gerten Glücks- und Entspannungsgefühl führt.

55 Die Zunge wieder an den Gaumen legen, den Speichel schlucken und spüren, dass die Zunge am Gaumen liegt 55 Die Veränderungen im Mundraum wahrnehmen

Körperhaltung Kopfhaltung, Halswirbelsäule, Schultern, Arm­ länge, die gesamte Wirbelsäule, Becken und Beinlänge stehen mit der Position des Unterkie­ fers und mit dem Kausystem in unmittelbarem Zusammenhang. Fallspezifisch wird eine wirk­ same Therapie empfohlen, um die Körperhal­ tung zu korrigieren und zu unterstützen, z. B. Be­ wegungstherapie, Physiotherapie, Osteopathie, Kraniosakraltherapie, Mundakupunktur etc.

26 1

>> Es ist sehr wichtig, dass der Patient lernt, seine Aufmerksamkeit auf die eigene Körperhaltung zu richten, seine Mitte zu spüren, sich zu erfahren.

2 4

3

5 10 6 7

Schmecken und Kauen, das sog. „Schmauen“ führt in klinischen Studien zu einer erheblichen Reduktion der Insulinausschüttung, selbst bei kohlenhydratreicher Ernährung (Schilling 2005).

Lachen 8 9

..      Abb. 26.1  Position der Zunge am Gaumen in Ruhe und beim Schlucken und ihr Einfluss auf Halswirbelsäule und Kopfhaltung. 1 Nasenhöhle  – 2 Os palatinum (harter Gaumen) – 3 Gaumensegel (weicher Gaumen) – 4 Mundhöhle – 5 Zunge – 6 Gaumenzäpfchen – 7 Zungenbein – vordere Halsmuskulatur: 8 infra- und 9 suprahyoidale Muskulatur 10 Halswirbelsäule. (© Mary Bolton, mit freundlicher Genehmigung)

 ssgewohnheiten – langsam und E genussvoll kauen Die Art zu essen ist ausschlaggebend für Ge­ sundheit und Psyche. Es ist nicht nur wichtig, die Nahrung langsam und vollständig zu kauen, sondern auch mit Aufmerksamkeit und Genuss. Dies kann also als eine entschleunigende, ge­

Durch Lachen, eine wichtige Funktion des Mundraums, werden Botenstoffe wie Endor­ phine (ein Glückshormon) und Enkephaline – beide sind körpereigene Opioide  – vermehrt freigesetzt. Die Schmerzwahrnehmung wird positiv beeinflusst. Außerdem werden durch Lachen Stresshormone wie Kortikoide und Ka­ techolamine abgebaut. Seit langem ist bekannt, dass die Widerstandskraft des Organismus ge­ gen Krankheiten erhöht ist, wenn ein Mensch häufig und regelmäßig lacht (Hilarotherapie). Dies lässt sich durch die Befunde der moder­ nen Lachforschung ausdrücklich bestätigen.

Sophrologie Sophrologie - Entspannungstechnik, 1960 begründet von dem kolumbianischen Neuropsychiater Alfonso Caycedo. In der Sophrologie werden Atmung, Atemkapazität und Vollatmung genutzt, um Gewebe, Gehirn und Körperfunktionen und insbesondere das Bewusstsein zu stimulieren und zu harmonisieren, Stress zu kontrollieren und Gehirnaktivitäten zu balancieren.

599 Ganzheitliche Zahnheilkunde

Die Übungen bieten die einfachste Möglich­ keit, auf alle Körperfunktionen und somit ganzheitlich auf den Menschen einzuwirken und insbesondere die Mundraumfunktionen, die Myofunktion und das Reflexgeschehen des Schluckmusters zu entlasten. Mit Übungen aus der Sophrologie können die Körperfunktionen besser und schneller erlernt, stimuliert, erlebt und harmonisiert werden. Sie bieten somit eine Selbsthilfemöglichkeit, um die Gesund­ heit zu stabilisieren. Die Übungen aus der Sophrologie wirken auch im Sinne der Physioenergetik, besonders auf das Ungleichgewicht der Gehirnhälften, Blockadestellen der Halswirbelsäule (sowohl muskulär als auch gnathovertebral), Blockaden der 1. Rippe und des Ganglion stellatum sowie des Plexus solaris. Über die Proprio- und Interozeption sowie über die informationsverarbeitenden Ebenen ist das Gehirn mit den Organen sowie mit dem Muskelsystem und den Muskelspindeln ver­ bunden, und es besteht die Möglichkeit, durch Harmonisierung der Gehirnfunktionen auf die Reflexgeschehen im ganzen Körper einzuwir­ ken und sie zu programmieren. Methoden, die einerseits den Muskeltonus reduzieren und andererseits durch Stresskon­ trolle das überstimulierte Gehirn harmonisie­ ren können, verbessern reaktiv Dysfunktionen und vegetative Körperfunktionen und norma­ lisieren das Reflexgeschehen. >> Sophrologie ist ein Erlebnisvorgang, bei dem positive Ressourcen immer wieder aktiviert und mental fixiert werden, um auf Stressparameter und auf alle informationsverarbeitenden Systeme regulativen Einfluss zu nehmen.

Sophrologische Übung zur ­Stresskontrolle 55 55 55 55

Hinsetzen Die Schultern sinken lassen In den Bauch atmen Den Körper entspannen

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Mit der Entspannung des gesamten Körpers entspannt sich auch das Kausystem, und das Aktivitätsmuster in der überstimulierten Ge­ hirnrinde ändert sich. Es wird ein Bewusst­ seinsniveau erreicht, bei dem im EEG Theta­ wellen erscheinen und sich die Informationen zwischen den einzelnen Gehirnabschnitten und den Informationen zwischen Gehirn und Körper harmonisieren können. Das Gehirn als oberste Steuerzentrale ist das sauerstoffempfindlichste Organ im Körper; Atem- und Entspannungsübungen können zu einer Optimierung der Sauerstoffversorgung führen.

Atmung Die Atmung als primär vegetative und überge­ ordnete Funktion kann über die Muskulatur, d.  h. die Atembewegungen oder willkürliche, motorische Impulse, beeinflusst werden. Des­ halb kann Atemtherapie nicht auf körperlich orientierte Übungsmethoden verzichten. Keine Körperfunktion reagiert so zuverlässig und empfindlich auf Außenreize (psychische Ein­ flüsse, Stressoren etc.), was sich in Verände­ rungen der Atemfrequenz, des Atemrhythmus und auch des Atemvolumens äußert. Alle an der Atmung beteiligten Kräfte sind für die Ge­ staltung des Mundraums von Bedeutung. Es können daher durch den Einsatz der At­ mung, insbesondere der Vollatmung, die Ge­ webe dynamisiert werden. Übung Vollatmung 55 Ausatmen, einatmen, Bauch, Brust und Schultern füllen 55 Die Luft so lange wie möglich anhalten 55 Stoßartig durch die Nase ausatmen 55 In den Körper hineinspüren und Wahrnehmen (Propriozeption)

Eine weitere Möglichkeit (oder eigentlich die ini­ tiale und beste Möglichkeit), alle Körperfunkti­ onen zu verbessern, ist die Atmung – darunter Nasenatmung, Bauchatmung, Vollatmung.

600

I. Simma-Kletschka

26.1.6  Mundraumentwicklung –

Funktionskieferorthopädie

26

Biss- und Kieferanomalien stellen Symptome dar, die auf gestörte Reflexabläufe in der funk­ tionellen Matrix hinweisen. Funktionskieferorthopädische Geräte ha­ ben in Verbindung mit anderen Therapien (Atemtherapie und Logopädie, Kraniosakralos­ teopathie etc.) die Aufgabe, pathologische Mus­ kelaktionen in physiologische Bewegungsab­ läufe umzuwandeln. Die Ausformung der Zahnbögen und des Mundraums sowie die Sprache sind als Funktionen anzusehen, die mit dem Gesamtorganismus eng verbunden sind. Ziel der Funktionskieferorthopädie ist es, durch Eigenaktivität Impulse zur Regulation und Heilung setzen. Durch Nutzung der eigenen Muskelkraft werden Zähne und Kiefer bewegt und umgeformt. Ein neues B ­ ewegungskonzept bei selbstlegierenden festsitzenden Zahnspangen ermöglicht selbst beim Erwachsenen eine opti­ male Entwicklung der Zahnbögen und eine Har­ monisierung aller faszialen und knöchernen Strukturen. Anstelle von Extraktionen bei Platz­ mangel werden alle zur Verfügung stehenden Ressourcen aktiviert, um Platz für alle bleiben­ den Zähne und eine optimale Form zu schaffen. In der Funktionskieferorthopädie werden das Wissen aus der konventionellen Medizin um Funktion und Form und die neuen technischen Möglichkeiten selbstligierender Bracket-Systeme und High-Tech-Drähte kombiniert. Die interdisziplinären Herausfor­ derungen müssen vom Zahnarzt bzw. Kiefer­ orthopäden koordiniert werden. 26.1.7  Mundakupunktur

In der Mundschleimhaut befinden sich zahl­ reiche Akupunktur- und Reflexpunkte.

Somatotopie Die in . Abb.  26.2 dargestellte Mundsomato­ topie wird einerseits zur Diagnostik durch Pal­ pation und andererseits therapeutisch im Sys­ tem der Mundakupunktur mit deren  

Sofortwirkung genutzt, um aufgrund der Ver­ laufskontrolle Aufschluss über Belastungsund Funktionsstörungen zu gewinnen.

Mundakupunktur nach Gleditsch Die traditionelle, klassische Akupunktur wurde in den letzten Jahren durch eine Reihe weiterer Akupunktursysteme, die im Westen entwickelten Mikrosysteme (MAPS), ergänzt. Diese beruhen auf der neuen Erkenntnis, dass der Organismus mit der Vielzahl seiner Funktio­ nen und Organe auf begrenzte Körperpartien projiziert und kartographisch dargestellt wird. Die Gesamtheit solcher Projektionsfelder, von denen ausgehend diagnostische Rück­ schlüsse und therapeutische Einwirkungen auf innere Funktionen möglich sind, wird als So­ matotopie-Mikrosystem bezeichnet. Die Vielzahl der bisher ermittelten Mikro­ systeme – Mund, Ohr, Nase, Hand- und Fuß­ flächen, Schienbein, YNSA (Yamamoto New Scalp Acupuncture), ulnare Handkante etc.  – zeigt ein wesentliches Prinzip biologischer Or­ ganisation und Ordnung: die Wiederspiege­ lung und Präsenz des Ganzen in jedem seiner Teile (Somatotopie). Das technisch-physikalische Weltbild, das immer stärker von der Kybernetik geprägt wird, und die moderne Medizin stehen vor der Auf­ gabe, den physikalisch-kybernetischen Aspekt der Somatotopien als perfektes Kommunikati­ ons- und Informationssystem des Organismus zu erkennen und als Ressourcen nutzen zu lernen. Besonders naheliegend ist für den Zahn­ arzt die Mundakupunktur nach Gleditsch. Sie nutzt die Entdeckung von R. Voll und F. Kra­ mer, das System Zahn-Paradont-­Gingiva, das sog. Odonton (7 Kap. 13), als Einheit zu sehen, seine spezifischen Wechselwirkungen zu ei­ nem Meridianpaar und damit zu bestimmten Organfunktionen, Funktionskreisen und de­ ren Psychosomatik zuzuordnen. Die Besonderheit der Mundsomatotopie liegt darin, dass alle 5 Funktionskreise 8-mal projiziert und zugänglich sind. Die Mundschleimhautpunkte lassen sich ky­ bernetisch als Input zu den 5 Regelkreisen inter­ pretieren. Die Repräsentanten der 5 Funktions­  

26

601 Ganzheitliche Zahnheilkunde

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..      Abb. 26.2  Somatotopische Gliederung des Mundraums. Der Körper wird im Mundraum 8-mal abgebildet, entsprechend den 4 Quadranten und 4 Retromo-

31 32

33

0 0 0 33 31 32 Urogenital-System Ohr Sinus front. Tonsilla phar.

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larenräumen. a Blick in den Mundraum, b Zahnschema mit Organzuordnung. (© J. Gleditsch, mit freundlicher Genehmigung)

602

I. Simma-Kletschka

kreise in den 5 Zahngruppen aller Quadranten und Retromolarenräume und den umgebenden Schleimhautarealen bestätigt das traditionelle Fünf-Elemente-Modell des Akupunktursystems.

System der Vestibulumpunkte

26

Die enoralen Schleimhautpunkte im Vestibu­ lum finden sich labial bzw. bukkal den Zähnen vorgelagert, im Bereich der Schneide- und Eckzähne labial gegenüber den Zahnkronen und im Bereich der Molaren immer näher zur Umschlagfalte hin. Den Zähnen ist jeweils ein einzelner Aku­ punkturpunkt zugeordnet. Bei den Molaren und Weisheitszähnen finden sich 2 oder 3 Punkte, die jedoch wegen ihrer übereinstim­ menden Wechselbeziehung als ein Punkt gewer­ tet werden können. Die Nummerierung der Vestibulumpunkte entspricht der Nomenklatur der Zähne, mit dem Zusatz „O“ für oraler Punkt. Zugeordnet werden 55 den Inzisivi: die Punkte O11/12, O21/22, O31/32,O41/42 – der Nieren-Blasen-­ Funktionskreis, 55 den Eckzähnen: der Leber-Gallenblasen-­ Funktionskreis, 55 den Prämolaren des Unterkiefers sowie in­ folge eines Überkreuzungsphänomens den Molaren des Oberkiefers: der Milz-­ Pankreas-­Magen-Funktionskreis, 55 den Molaren des Unterkiefers sowie an den Prämolaren des Oberkiefers: der Lungen-­Dickdarm-­Funktionskreis, 55 den Weisheitszähnen: der Herz-­ Dünndarm-­Funktionskreis. Das Mundakupunktur-Mikrosystem im Vesti­ bulum erweist sich als eine Vierfachprojektion. In jedem Quadranten ist ein Funktionsbild des Organismus wiedergegeben. Die Wechselbeziehungen gelten in beiden Richtungen, d.  h. nicht nur von den Zähnen und den Mundakupunkturpunkten zu den Or­ ganen, sondern auch umgekehrt. So lassen sich viele umschriebene Veränderungen, wie etwa auf bestimmte Zahnfächer beschränkte Paro­ dontopathien, als Folge dieser Wechselbezie­

hungen und Belastungen der entsprechenden Funktionskreise deuten. In der Mundschleimhaut sind Akupunk­ turpunkte bei Irritation sehr leicht zu ertasten. Die sensible Innervation durch den N. trigemi­ nus reagiert äußerst empfindlich auf Spontan­ schmerz und gesteigerte Drucksensibilität. Jochen Gleditsch fand diese gesteigerte Druck- oder Spontanschmerzhaftigkeit zuerst bei der akuten und chronischen Sinusitis und im Gebiet der Oberkiefermolaren. Mit dem Aus­ heilen der Sinusitis ließ auch die Druckempfind­ lichkeit der Schleimhaut nach (Gleditsch 2004). Bei verschiedenen Krankheiten und Funk­ tionsstörungen werden umschriebene Areale des Vestibulums, insbesondere im Lippen- und Wangenbereich, druckempfindlich. Gelingt es, diese Druckempfindlichkeit durch eine gezielte Behandlung zu beseitigen, so werden auch oft die funktionellen Störungen und Beschwerden entfernt liegender Organe günstig beeinflusst.

Lokalisieren der Akupunkturpunkte Das Lokalisieren der Mundakupunkturpunkte erfolgt zweckmäßigerweise durch Palpation, die in Sekundenschnelle durchführbar ist. Wegen der Aspirationsgefahr können in der Mundhöhle keine normalen Akupunkturnadeln verwendet werden, und es hat sich die Injektionsakupunk­ tur als am besten praktikable Methode erwiesen. Bei Verwendung feinster Nadeln und geschick­ ter Injektionstechnik kann die Behandlung fast schmerzlos durchgeführt werden.

System der Retromolarenpunkte Die 5 Funktionskreise finden sich noch einmal im Gebiet der Retromolaren repräsentiert, d. h. in dem sich hinter den Weisheitszähnen erstreckenden 9er-Gebiet von Ober- und Un­ terkiefer. In diesem Gebiet ist die exakte punk­ tuelle Differenzierung schwierig, da die Punkte dicht geballt beieinander liegen. Dieses Gebiet hat besondere therapeuti­ sche und diagnostische Bedeutung. So lässt sich von den druckempfindlichen Retromola­ renpunkten aus eine weitgehende Entspan­ nung der Kaumuskulatur erreichen. Dies ist

603 Ganzheitliche Zahnheilkunde

erklärbar sowohl durch die dicht am Retromo­ larengebiet inserierenden Muskel- und Seh­ nenansätze der Kaumuskeln als auch durch die reflektorische Wirkung entlang der Muskel­ funktionsketten, wie sie aus der Trigger­ punkt-Therapie bekannt ist. >> Schmerzzustände, v. a. myofaziale Syndrome, atypische Gesichtsschmerzen, Spannungskopfschmerzen und Migräne lassen sich durch diese enoralen Punkte sehr gut behandeln.

Darüber hinaus hat das Retromolarengebiet eine reflektorische Wirkung auf die Halswir­ belsäule, speziell auf die Hals- und Nacken­ muskulatur (. Abb. 26.3). Paravertebrale Mus­  

26

kelspannungen lassen sich sofort lockern und lösen. Die Sofortwirkung ist auch palpatorisch kontrollierbar. Auch die Beweglichkeit der Halswirbelsäule kann auf diese Weise gebessert werden. Dies belegten Studien über die „So­ fortwirkung der Akupunktur“ (MAPS) (Gle­ ditsch 2007). Von Punkten des oberen Weisheitszahn-­ Retromolaren-­Gebiets aus lassen sich Schulter-­ Arm- und Ellenbogensyndrome beeinflussen, da hier neben dem Herz-Dünndarm-­Funktionskreis der Lungen-Dickdarm- und der Milz-Pankre­ as-Magen-Funktionskreis repräsentiert sind. Es handelt sich auch um ein bevorzugtes Therapie­ areal für Sinusitis, Rhinitis, Bronchitis und Span­ nungskopfschmerzen.

..      Abb. 26.3  Projektion zwischen verschiedenen Mikroakupunktursystemen (MAPS) – Ohr, Schädel, ulnare Handkante, Mund – und HWS. (© J. Gleditsch, mit freundlicher Genehmigung)

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I. Simma-Kletschka

Von den Punkten des unteren Weisheits­ zahn-Retromolaren-Gebiets aus können Be­ schwerden der Halswirbelsäule und der Lendenwirbelsäule behandelt werden, aber auch Funktionsstörungen des NierenBlasen-­ Funktionskreises, der sich wie der Leber-­Gallenblasen-­Funktionskreis im Re­ tromolarengebiet von Unter- und Oberkiefer darstellt. Die Verdichtung vieler funktioneller Wech­ selbeziehungen auf engem Raum erklärt die besondere therapeutische Wirksamkeit des Re­ tromolarengebiets, aber auch seine Rolle als häufiges Störfeld und Zentrum klinischer Be­ schwerdebilder, z.  B. des Kiefergelenks, und der Weisheitszahnproblematik.

 ufsuchen von Punkten bei A Mikrosystemen Die Punkte aller Mikrosysteme werden erst bei Irritation auffällig. Daher erfolgt das Aufsu­ chen der Punkte durch Palpation und durch die sog. Very-Point-Technik. Mundakupunktur wird als Injektionsaku­ punktur durchgeführt. Hierfür bieten sich an: 55 schwachprozentige Lokalanästhetika, 55 Procain, aber auch 55 physiologische Kochsalzlösung. Es ist entscheidend, den Punkt genau zu tref­ fen. Durch die Injektion werden feine Quad­ deln gesetzt, die sogleich einmassiert wer­ den. Die Massage dient gleichzeitig der palpatorischen Kontrolle, um festzustellen, ob der Very-Point getroffen und ausgelöscht wurde.

55 Im Zustand der Irritation sind sie verstärkt druck- und berührungsempfindlich und können dadurch leicht palpatorisch gefunden werden 55 Ebenso wie bei der Triggerpunkt-Therapie kann der lokale Schmerz- und Spannungszustand durch lokale Injektion mit einer Kochsalzlösung oder einem Lokalanästhetikum aufgelöst werden 55 Schmerzen und Druckempfindlichkeit im entsprechenden Reflexionsareal verschwinden nur bei exaktem Treffen und Therapieren der Punkte 55 Die Wirksamkeit der Akupunktur ist auf Krankheitsbilder beschränkt, bei denen die regulativen Kommunikations- und Funktionssysteme ansprechbar und aktivierbar sind (Ressourcen) 55 Während die Akupunktur früher als prophylaktische Therapie angesehen wurde, ist sie heute, in Folge der zunehmenden Stress- und psychischen Belastungen, zu einer interdisziplinären Behandlungsmöglichkeit geworden 55 Mikrosystem-Akupunktur als Initialund Immediärtherapie bei funktionsgestörten Patienten unterstützt durch rasche Symptomlinderung die Adhärenz (Compliance) des Patienten 55 Die analgetische, sedierende und harmonisierende Wirkung der Akupunktur kann das Stressmangement in der Zahnheilkunde wirksam unterstützen

kFazit Merkmale der Mundakupunktur 55 Mundakupunktur ist eine Reflextherapie, die ausgehend von spezifischen Punkten der Mundschleimhaut ausgeführt wird 55 Mundakupunkturpunkte stellen eine Somatotopie mit diagnostischer und therapeutischer Bedeutung dar

Mundakupunktur ist als Funktions- und Re­ gulationstherapie anzusehen, die als Ganz­ heitstherapie über die Grundregulation und das vegetative Nervensystem beantwortet wird. Sie kann die biokybernetischen Regel­ kreise harmonisieren. Der analgetische, se­ dierende und spasmolytische muskelrelaxie­ rende Effekt ist für alle Fachdisziplinen der Zahnheilkunde relevant.

605 Ganzheitliche Zahnheilkunde

26.1.8  Fallbeispiel:

Trigeminusneuralgie

Die 50-jährige Patientin leidet seit Jahren unter Wirbelsäulen- und Muskelschmerzen, seit Mo­ naten unter einer schweren Trigeminusneural­ gie, die interdisziplinär abgeklärt wurde. Nach 2 Mundakupunktursitzungen und Schienentherapie herrscht Beschwerdefreiheit. Gelegentlich treten noch Rückenverspannun­ gen auf. Der Zahnbefund zeigte ein Frontdiasthem und einen Unterkieferengstand, eine Dysba­ lance zwischen Form und Funktion der Zahn­ bögen und der Kiefergelenke und wurde ent­ sprechend kieferorthopädisch und prothetisch behandelt: 55 Funktionskieferorthopädische Analyse und festsitzende Therapie über 10 Monate, 55 Fronteinstellung Ober- und Unterkiefer, 55 Rekonstruktion.

26

a

b

. Abb.  26.4 und  26.5 zeigen die Verbesserung der Funktion des Kiefergelenks.  

26.1.9  Kraniomandibuläres

System

Das kraniomandibuläre System wird in der traditionellen Zahnmedizin isoliert nur als das Kausystem betrachtet. Der Fokus in Diagnos­ tik und Therapie liegt auf dem Kausystem. Kausystem - Es beinhaltet die Kaufunktion, okklusale Störungen, einen Hypertonus der Kaumuskulatur, Beweglichkeitseinschränkungen, morphologische Veränderungen der Kiefergelenke.

Kraniomandibuläres System - Es hat zusätzlich andere, weiterreichende Funktionen: Saugen, Schlucken, Knirschen, Pressen, Atmen, Sprechen, Mimik, sensorische Funktionen (Sehen, Hören, Riechen, Tasten), kraniale Beweglichkeit.

Die erweiterten Funktionen des kraniomandi­ bulären Systems spielen eine große Rolle und sollten untersucht, beobachtet und  – wenn notwendig – behandelt werden.

..      Abb. 26.4  Harmonisierung der Kiefergelenksbahnen vor a und nach b Mundakupunktur, gezeigt durch intraorale Stützstiftregistrierung (IPP) (© Dr. Simma-Kletschka)

Mundraumfunktionen 55 Kauen: ȤȤ Kaumuskulatur und Kiefergelenk ȤȤ Statische und dynamische Okklusion ȤȤ Kein Zahnkontakt beim Kauen, aber: ȤȤ Kauebene: Einleitung von Kraft in den Schädel

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606 I. Simma-Kletschka

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..      Abb. 26.5  a Muskelbefunde vor (blau) und nach der Behandlung (rot), b Befunde nach 1 Jahr; M. biventer, supra- und infrahyoidale Muskulatur: kein Befund mehr feststellbar. (Aus: Simma 2005)

607 Ganzheitliche Zahnheilkunde

55 Schlucken: ȤȤ Alle 1–2 Minuten kommt es aus der Ruheschwebelage zur Kontraktion der Adduktorenmuskulatur ȤȤ Maximaler Zahnkontakt in der habituellen Interkuspidationsposition (HIK) ȤȤ Propriozeptiver Input ȤȤ Kauebene: Einleitung von Kraft in den knöchernen Schädel ȤȤ Taktgeber für den Faszienrhythmus 55 Parafunktionen: ȤȤ Bruxismus: Knirschen und Pressen (Stressverarbeitung, Psychohygiene) ȤȤ Mundatmung ȤȤ Habits 55 Sonstige Funktionen: ȤȤ Saugen ȤȤ Tasten und Fühlen ȤȤ Verdauen ȤȤ Mimik (emotionaler Ausdruck) ȤȤ Sprechen

zz Kraniomandibuläre Dysfunktionen und Dysmorphien

Die Symptome der Funktionsstörungen des Kausystems sind vielfältig und gehen häufig über den Bereich des Kopfes hinaus. Bekannte Überlastungssymptome im Kausystem sind: Karies, Schliff-Facetten, Überempfindli­ chkeiten, Zahnfehlstellungen, chronische Zahnfleischentzündungen, devitale Zähne, Herde- und Störfelder, Kieferanomalien, Gesichtss­chädelasy­mmetrien, Muskelhyper­ trophien, Muske­ latrophien, Diskopathien, Kapselveränderungen im Kiefergelenk, Dys­ gnathien und Vieles mehr. Unphysiologischer Bruxismus, Lippenund Wangendyskinesien, Sprachfehler, Kiefer­ gelenkbeschwerden, Mundatmung und zahl­ reiche andere Pathologien sind Ausdruck einer kraniomandibulären Dysfunktion.

26

>> Es ist wichtig, dass diese so früh wie möglich erkannt werden, um ein zweckmäßiges, effektives und kostensparendes Eingreifen zu ermöglichen.

Da der Muskelfunktion bei der Ausformung der Kieferknochen, der Zahnbögen und des Parodontiums eine wesentliche Aufgabe zu­ kommt und myofunktionelle Störungen die Ursache für kraniomandibuläre Dysfunktio­ nen (CMD) darstellen, sollten sie so früh wie möglich behoben werden. Die Behandlung dieser Funktionsstörungen stellt eine interdis­ ziplinäre Herausforderung dar, muss aber in einer Vielzahl von Fällen vom Zahnarzt dia­ gnostiziert und koordiniert werden. kUrsache der Funktionserkrankungen

Funktionelle Überbeanspruchung in einem abgeschlossenen biologischen System führt re­ aktiv zu Adaptation, Kompensation, Dysfunk­ tion, Blockade und im Endeffekt zur Manifes­ tation in Form einer Krankheit. Funktionsstörungen innerhalb des Kausystems 55 Schliff-Facetten am Einzelzahn 55 Hypersensibilität 55 Chronische Entzündungen am Parodontium und Zahnfleischtaschen 55 Stomatitis und Lymphstau 55 Myofunktionelle Störungen 55 Gestörte Zungenfunktion 55 Kiefergelenkprobleme 55 Spannungskopfschmerz 55 Neuralgien und Pulpitiden 55 Sinusitis

Funktionsstörungen außerhalb des Kausystems 55 Zephalgien 55 Haltungsstörungen

608

I. Simma-Kletschka

55 55 55 55

Kiefergelenkschmerzen Geschichts-, Kopfschmerzen und Migräne Gesichtsasymmetrie HWS-Syndrom und Schulter-Arm-­ Schmerzen 55 Rückenschmerzen 55 Tinnitus und Schwindel 55 Winkelfehlsichtigkeit

26

Methode der Wahl ist die Schienentherapie in Kombination mit Mundakupunktur und Os­ teopathie. Die Positionierung des Kiefergelenks zur Halswirbelsäule etc. – also ein gut positio­ niertes stomatognathes System  – ist die wich­ tige Aufgabe des Zahnarztes. Durch Unterkieferschienen wird dem Sys­ tem die optimale Bisslage ermöglicht, der Un­ terkiefer und das Kiefergelenk können sich so positionieren, dass ein Funktionsoptimum er­ reicht werden kann. Durch den Einsatz von Schienen in Verbin­ dung mit Funktionstherapie und Mundaku­ punktur kann z.  B bei fehlender Okklusion schrittweise eine optimale Bisslage erreicht und anschließend mit der Restauration des Gebisses in einem funktionell harmonisierten System begonnen werden.

26.1.10  Ganzheitliche

Zahnheilkunde für Kinder

>> Schon im Kindesalter ist es wichtig, die Zähne richtig zu pflegen, das Wachstum und die Entwicklung des gesamten Körpers zu beobachten und idealerweise von einem ganzheitlichen Zahnarzt begleiten zu lassen.

Fehlfunktionen sind sehr früh erkennbar und entstehen oft schon vor der Geburt. Die allge­

meine Stresslast beginnt bereits während der Schwangerschaft geht weiter über das Geburts­ trauma und Traumata durch Stürze, Verletzun­ gen, Kinderkrankheiten etc., mit denen jeder kindliche Organismus in Laufe der Entwick­ lung zurechtkommen muss. Das alles hat Aus­ wirkungen auf Skelettwachstum, Atmung, Kreislauf, Lymphsystem, Immunabwehr, Mus­ kelfunktionen, Redoxsysteme, Säure-Basen-­ Haushalt, Wirbelsäulenfunktionen, adaptive Wachstumsprozesse und die Gestaltung eines funktionierenden Kausystems. Wie wichtig die Erhaltung der Zähne ist, erkennen viele meist erst, wenn es bereits zur Manifestation eines Ungleichgewichts in Form von Schmerzen, In­ fektanfälligkeit, kraniomandibulären Dysfunk­ tionen und Dysmorphien gekommen ist. Beispielhaft ist die komplementärmedizini­ sche Behandlung von „Schreikindern“, bei denen es durch das Geburtstrauma zur einer skelettalen Asymmetrie, dem sog. KiSS-­Syndrom (kopfge­ lenkinduzierte Symmetriestörung), gekommen ist. Durch frühzeitiges Erkennen und adäquates Therapieren können die Funktionen der Hals­ wirbelsäule und deren regulatives Potenzial akti­ viert und die körpereigenen Ressourcen mobili­ siert werden. Kraniomandibuläre Dysfunktionen, Dysmorphien und sich daraus ergebende allge­ meinmedizinische Erkrankungen (Infektanfäl­ ligkeit, Haltungsfehler, chronische Schmerzen etc.) können dem Kind oft durch wenige kompe­ tente Behandlungen erspart bleiben.

 unktion des Mundraums F bei Kindern Es ist außerordentlich wichtig, bereits früh auf die Mundraumfunktionen zu achten. Die Mundraumfunktionen gehen weit über das iso­ lierte Organgeschehen hinaus; sie sind von Ge­ burt an vitale Lebensfunktionen: Saugen, Schlu­ cken, Schreien, Mimik, Lächeln, Abtasten, Kontaktaufnehmen, Kauen und Atmen zeigen, welche dominante Rolle der Mundraum bei

609 Ganzheitliche Zahnheilkunde

Kindern hat. Diese Funktionen dienen v. a. der Entwicklung der bewussten Wahrnehmung und Kommunikation. Die Mundfunktionen bestim­ men den Ausdruck der Gefühle und fordern die Integration von Mund- und Körperfunktionen. Der Mundraum ist der zentrale Kommuni­ kationsort, und über ihn wird die Beziehung sowohl zwischen dem Neugeborenen und sei­ ner Mutter als auch zu seiner Umwelt initiiert. Mit dem Stillen findet die Verbindung zwi­ schen Mutter und Kind einen neuen Rahmen; es ist bedeutend als Interaktions-, Entwi­ cklungs- und Lernfaktor. Dem kommt daher gerade für das Erlernen der Mundraumfunkti­ onen, der sensorischen Kontaktaufnahme, dem Muskeltraining und dem Schluckmuster große Bedeutung zu. „Flaschenkinder“ benöti­ gen deswegen als Ersatz zur mütterlichen Brustanatomie speziell geformte Saugaufsätze, um diese physische Entwicklung zu unterstüt­ zen. Bedürfnisse und Reaktionen wirken sich entsprechend funktionell über die Mimik, über die Mundraumfunktionen, über Lächeln oder Schreien muskulär-neurovegetativ aus.

 edeutung der physiologischen B Muskelfunktion im Kindesalter Hyper- oder Hypotonus einer dyskinetischen Muskulatur führen zu einer pathologischen Ge­ bissentwicklung mit Ausbildung intra- und in­ termaxillärer Formanomalien im Bereich der Kiefer- und Gesichtsknochen. Die Progredienz erfolgt v. a. in der ersten Wechselgebissphase mit ca. 6 Jahren, wenn zuvor keine entsprechende Prävention eingeleitet wurde. Oft kommt es im puberalen Wachstumsschub zur einer zuneh­ menden Form- und F ­ unktionsanomalie. Eine oft auch asymmetrisch ausgeprägte oder fehlende Dynamik wie auch eine Hyperdynamik der oro­ fazialen Muskulatur behindern die transversale und anteriore Zahnbogenentwicklung und sind u. a. ursächlich für den Front­engstand.

26

Die Überforderung der Weichteilmatrix, der Muskulatur, des Bindegewebes oder auch des Lymphsystems bedingt skelettale Formano­ malien und umgekehrt. Insbesondere durchbrechende Zähne im Wechselgebiss bieten den muskulären Insta­ bilitäten eine breite Angriffsfläche. Prof. Roux (Jena) hielt bereits im Jahr 1896 fest, dass der Muskelfunktion bei der Ausformung der Kie­ ferknochen, der Zahnbögen und der Parodon­ tiums eine wesentliche Aufgabe zukomme. Fränkel, Balters, Bigenzahn und Tränkmann beschreiben die Kieferanomalie als Ausdruck orofazialer Dyskinesien (Fränkel und Fränkel 1992; Balters 1936, 1973; Bigenzahn et al. 2002; Springer et al. 2003; Tränkmann 1985). Myofunktionelle Störungen werden von Garliner als Störung der pharyngealen Moto­ rik definiert und verursachen nach Tränk­ mann schwere Dentitionsstörungen, struktu­ relle und anatomische Änderungen sowie entwicklungsphysiologische Störungen (Gar­ liner 1989; Tränkmann 1985). Dysfunktionen der oralen und ­perioralen Weichteile haben neben hereditären Faktoren einen großen An­ teil an der Entstehung kieferorthopädischer Fehlstellungen. Über einen längeren Zeitraum bestehende schwache Muskelkräfte haben ei­ nen dramatischen Effekt auf die Zähne, den Alveolarfortsatz und die Kieferknochen. Es be­ steht breite Übereinstimmung darüber, dass Muskelschwäche zu einer Zunahme des verti­ kalen Wachstums führt. Eine kräftige Kaumuskulatur mit daraus re­ sultierendem kräftigem Zusammenbeißen der Zähne verbessert die Funktion und die Stabili­ tät. Gutes Kauen und gute okklusale Kontakte bessern also die Funktion. Nach Proffit und White (1982) müssen die Zähne von Ober- und Unterkiefer jeden Tag für eine gewisse Zeit in Kontakt sein, um nicht zu elongieren (Okklu­ sion, Muskulatur, Kiefergelenk, ZNS nach Stal­

610

I. Simma-Kletschka

lard – organische Okklusion), sodass es also zu keinem vertikalen Wachstumsmuster kommt.

Kieferorthopädie bei Kindern

26

Kinder mit Zahnregulierung sind heute die Re­ gel, das Tragen von Brackets ist schon fast „nor­ mal“. Das hat verschiedene Gründe: Eltern legen großen Wert auf gesunde und schöne Zähne ihrer Kinder, und die negativen Folgen von Zahnfehlstellungen sind bekannt. Tatsächlich brauchen etwa 90 % der Kleinkinder eines Tages eine Zahnregulierung, allerdings nicht, weil das von Natur aus notwendig wäre, denn Zahnfehl­ stellungen entstehen nicht nur aufgrund geneti­ scher Vorgaben, sondern weil infantile Bewe­ gungsmuster nicht behoben werden. Schon in der Zeit des ersten Zahnwechsels sollten, wenn notwendig, ganzheitliche Be­ handlungen eingesetzt werden. Die Zahnstellung ist das Resultat der Mus­ kelkräfte, die auf Ober- und Unterkiefer ein­ wirken. Im kindlichen Organismus reagiert jedes Gewebe höchst empfindlich auf einen formativen Reiz, und kein Gewebe ist so form­ bar wie der kindliche Knochen. Die Milchzähne spielen eine wichtige Rolle für die Entwicklung. Sie sind nicht nur Platz­ halter für die bleibenden Zähne, sondern auch für die Kieferentwicklung verantwortlich. Die Kieferentwicklung hängt mit der übrigen Kör­ perentwicklung zusammen. Dies ist deutlich sichtbar an der Körperhaltung eines Kindes. Werden Milchzähne zu früh extrahiert, bleibt das Kieferwachstum zurück. >> Auch Milchzähne müssen wie bleibende Zähne gepflegt, versorgt, erhalten und im Zweifelsfall reguliert werden.

Der erste Teil des bleibenden Gebisses ist mit 12 Jahren komplett. Es ist wichtig, dass der sog. Frontzahnkontakt vor der Phase des größten Wachstums in der Pubertät hergestellt wird.

Frontzahnkontakt bedeutet, dass die Schneide­ zähne sich im bleibenden Gebiss berühren. Die Zähne sollten insgesamt eine optimale Bisslage aufweisen. Die Weisheitszähne entwickeln sich erst im Erwachsenenalter. Wenn im Kindesalter keine Behandlung durchgeführt wurde, ist oft nicht ausreichend Platz für eine problemlose Denti­ tion vorhanden, was erhebliche Probleme ver­ ursachen kann. Biss und Kieferanomalien stellen Symp­ tome dar, die auf gestörte Reflexabläufe in der funktionellen Matrix hinweisen. Die Ausfor­ mung der Zahnbögen und des Mundraums sowie die Gestaltung der Sprache sind als Leistungen anzusehen, die mit der Gesamtor­ ganisation des Körpers auf das Engste ver­ bunden sind. Veränderungen in Form und Gestalt sind ohne Bewegung niemals mög­ lich. Der Mund ist als ein Organ anzusehen, das die verschiedensten Funktionen in sich vereint. >> Funktionskieferorthopädische Geräte, Logopädie und andere Therapien haben die Aufgabe, pathologische Muskelaktionen in physiologische Bewegungsabläufe umzuwandeln. Die Behebung der Funktionsstörung hat Priorität vor direkten mechanischen Maßnahmen. Das Ordnen und Aktivieren der Bewegungsabläufe im orofazialen Raum erleichtert kieferorthopädische Behandlungen und ist eine Rezidivprophylaxe.

Die Tonusverhältnisse im Kehlkopfbereich in der anterioren und posterioren Halsmuskulatur so­ wie im kraniosakralen System werden in Form von Konstruktionsbiss, Bisshebung und Vor­ schub des Unterkiefers durch funktionskieferor­ thopädische Geräte beeinflusst. Funktionskiefer­ orthopädische Geräte unterstützen die Umwandlung von pathologischen Muskelaktio­

611 Ganzheitliche Zahnheilkunde

26

drom) hin, welche das Immunsystem deutlich schwächen. >> Muskel- und Zungenfunktion, Lippenschluss und Nasenatmung sind wichtige regulative Möglichkeiten, um Lymphstaus und Haltungsanomalien zu harmonisieren und ganzheitlich prophylaktisch zu wirken.

..      Abb. 26.6  Elastisch-offene Aktivatoren (EOA) (© Dr. Simma-Kletschka)

nen in physiologische Bewegungsabläufe (. Abb.  26.6). Gaumenbügel, Lippenpelotten und Wangenschilder dienen der Empfindungs­ verbesserung, der Raumentwicklung und daher auch der Stimulierung von Gaumensegel, Zwerchfellspannung und Lautbildung. Sowohl apparative Maßnahmen als auch Funktionsthera­ pien sollen durch Eigenaktivität Veränderungen hervorrufen.  

Silent inflammation Infektanfälligkeit im Kindesalter ist oft mit chronisch rezidivierender Rhinitis, Sinusitis, Otitis, Tonsillitis, Stomatitis, Bronchitis und dadurch behinderter Nasenatmung, die zu of­ fener Mundhaltung führt, verbunden. Es handelt sich um eine Störung innerhalb des Status lymphaticus und den Ausdruck chronisch entzündlicher Reizzustände. Funk­ tionelle Störungen der Mundraumfunktio­ nen und Schluck- und Sprachprobleme sind vorprogrammiert. Funktionsstörungen und Lymphstaus sind oft schon früh sicht- und dia­ gnostizierbar. Stillschwierigkeiten und diverse Befindlichkeitsstörungen im Säuglingsalter (unruhige „Schreikinder“) weisen auf osteopa­ thische Läsionen (Geburtstrauma, KiSS-Syn­

Lymphstau bei „Mundatmerkindern“ Der Lymphstau durch chronisch rezidivierende Infekte und chronische Mundatmung, Sinusi­ tits, Tonsillitis, gestörte Myofunktion ist ein Circulus vitiosus. Um auf alle Systeme positi­ ven Einfluss zu nehmen und die gestörten In­ formationen zwischen den verschiedenen menschlichen Wesensebenen der strukturellen, chemischen, emotionalen und bioinformativen Ebene zu harmonisieren und v. a. dem Patien­ ten bzw. den Kindern selbst den Körper und seine Funktionen wieder spüren und erleben zu lehren, sind Atem- und Entspannungsübun­ gen aus der dynamischen Entspannung, der Sophrologie (7 Abschn. 4.1), die einfachste und ganzheitliche initiale und begleitende Thera­ pieform.  

26.1.11  Fallbeispiel: Interzeptive

Kieferorthopädie

Patientin, 13 Jahre kDiagnose

Mundatmung, Lymphstau, offener Biss, asym­ metrische KLII rechts, Platzmangel für 13. kTherapie

Interzeptive Behandlung im Alter von 7–13 Jahren (. Abb. 26.7).  

612

I. Simma-Kletschka

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..      Abb. 26.7  Interzeptive kieferorthopädische Behandlung. a Vergleich Vorher/Nachher, b Zustand nach 1½ Jahren Myotrainer, c EOA nach einem Jahr, d Mit-

tenkorrektur und Lückenöffnung 13, Bissverschiebung rechts, e Zustand nach Behandlungsabschluss. (© Dr. Simma-Kletschka)

613 Ganzheitliche Zahnheilkunde

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..      Abb. 26.7 (Fortsetzung)

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I. Simma-Kletschka

Effekte der Umstellung von Mund- auf Nasenatmung

26

55 Entstauung des gesamten lymphatischen Gewebes 55 Erweiterung und Verbesserung der Resonanzräume 55 Optimierung der Kopf-, Kiefer- und Zungenhaltung 55 Zusammen mit dem Funktionszustand der Nebenhöhlen bedeutsam für die Entwicklung des Mittelgesichts 55 Beeinflussung der Bewegung von Zähnen im Oberkiefer

Alleine durch das Erlernen der Nasen- und Bauchatmung können die Muskelfunktionen, die Muskelspannung, der Speichelfluss, das Zungen- und Schluckmuster, das Reflexgesche­ hen zwischen Gehirn und Körper inklusive der Gehirnfunktionen, der Lateralität, der Balance, der Harmonie entscheidend verbessert werden. Bauchatmung, Nasenatmung, Lippenschluss, Zungenfunktion, Entspannung der Halswirbel­ säule können bei Kindern spielerisch mit Luft­ ballons und bunten Federn oder anderen Spielen trainiert werden. >> Die Übungen sollten mehrmals täglich ausgeführt werden, sodass es zur Gewohnheit wird, den Spannungszustand des Körpers und damit Stress zu kontrollieren.

26.1.12  Ganzheitliche

Zahnheilkunde und ganzheitliches Wohlbefinden

Alle diese theoretischen Überlegungen, gepaart mit allgemeinmedizinischem Wissen, können in der eigenen Praxis ohne großen technischen Aufwand angewandt werden. So mancher Pati­ ent, dem komplizierte Behandlungsmethoden oder Extraktionen bevorstehen, wird dankbar sein, wenn Zähne nicht isoliert betrachtet wer­ den, sondern als Teil eines Gesamtsystems, in

dem durch Probleme an diversen, auch nicht offensichtlich miteinander in Verbindung ste­ henden Orten interdisziplinäre Beschwerdebil­ der hervorgerufen werden können, die oft lang­ wierige Leidensgeschichten zur Folge haben. Die Kenntnis der Schlüsselfunktion und Ver­ netzung des kraniomandibulären Systems ist sehr wichtig. Medizinisches Wissen des Arztes, die ganzheitliche Betrachtung und ein eigenver­ antwortlicher Patient, der um seine körpereige­ nen Ressourcen weiß und sich wahrnehmen und spüren lernt, sind der Weg in Richtung Heilung und Harmonie von Körper, Geist und Seele  – oder auch ganzheitlichem Wohlbefinden. 26.1.13  Wissenschaftliche Studien Unmittelbare Effekte der Mikrosystem-Akupunktur (Mundakupunktur nach Gleditsch) bei Patienten mit orofazialen Schmerzen und kraniomandibulären Störungen (CMD) kSimma et al. (2009a, b)

Plazebokontrollierte Doppel-Blindstudie an der Universitäts-Zahnklinik Wien mit 23 Pa­ tienten mit orofazialen, zervikalen und kra­ niomandibulären Störungen, Kopfschmerzen und insbesondere lokalen Schmerzen im Be­ reich der orofazialen, zervikalen und tempo­ romandibulären Gelenke. Evaluiert wurde der Einfluss der Mundakupunktur bei Mund­ öffnung, muskulärer Spannung und Druck­ schmerzhaftigkeit; Hauptzielparameter: sub­ jektive Schmerzempfindung nach Palpation von 14 Muskeln und Muskelgruppen unmit­ telbar vor und nach der Behandlung (VASSkala). (. Tab. 26.1, . Abb. 26.8).  



kFazit

Akupunktur kann bei Patienten mit CMD eine sofortige Schmerzreduktion bewirken, sodass weitere therapeutische Maßnahmen erleichtert werden. kAktuelle Analyse von Simma et al. (2018)

Eine retrospektive Analyse von 887 Patienten mit temporomandibulären Störungen (TMD),

615 Ganzheitliche Zahnheilkunde

26

..      Tab. 26.1  Subjektive Schmerzempfindung (VAS-Skala 0–100) (Simma et al. 2009a) Subjektiver Schmerz

Akupunktur-Gruppe

Plazebo-Gruppe

Bei Mundöffnung

44,0 ± 23,3

34,1 ± 22,7

Muskuläre Spannung

24,9 ± 22,2

27,8 ± 16,2

Druckschmerzhaftigkeit

19,1 ± 11,9

6,2 ± 14,8

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..      Abb. 26.8  Muskelbefunde vor (blau) und nach der Behandlung (rot) (Verum-Gruppe) (Simma et al. 2009b)

die mit Mikrosystem-Akupunktur behandelt wurden, hat bekräftigt, dass dies eine effektive Strategie ist, die Schmerz- und Druckempfind­ lichkeit im Bereich der Tender-Points und der untersuchten Muskeln sofort zu reduzieren. kFazit

Angesichts der weltweit bei CMD auftretenden schmerzhaften Spannungen in der Kaumusku­ latur, Gesichts- und Kopfschmerzen (und den diversen Überlagerungssymptomatiken) über­ zeugt die Sofortwirkung dieser Methoden Arzt

und Patient und sollte daher weitere Verbreitung in der Zahn- und Allgemeinmedizin finden. kWeitere Studien zum Thema

Schmid-Schwab et al. (2006): RCT zur Mund­ akupunktur in der Behandlung des Syndroms der kraniomandibulären Dysfunktion. Kamali (2009): Dissertation zur Entwick­ lung eines standardisierten Akupunkturpunk­ teprogrammes mit Verlaufskontrolle. Simma (2000): Dissertation zur Akupunk­ tur bei kraniomandibulärer Dysfunktion.

616

E. M. Höller

26.1.14  Ausbildungsmöglichkeiten

26

55 Vorlesungen und Lehraufträge bei Studen­ ten zum Thema Ganzheitliche Funktionstherapien in der Zahnmedizin an den Uni­ versitätszahnklinken Wien und Graz 55 Sommer School, Universitätszahnklink Graz 55 Ringvorlesungen AKH Wien 55 Seminare Funktionstherapien 55 Österreichische Zahnärztekongresse 55 GAMED: Komplementäre Zahnmedizin – Kurärzte, interdisziplinäre Aspekte der ganzheitlichen Zahnmedizin 55 Mundakupunkturkurs 1–3 in Österreich und Deutschland (Charité Berlin) 55 Festspielgespräche zur Ganzheitsmedizin in Vorarlberg 55 Winterseminar zur Ganzheitsmedizin in Lech bzw. Zürs und andere Vortragstätig­ keiten 55 Beiträge bei Masterstudienlehrgängen Do­ nau-Universität Krems und Wien zz Kontakt

Präsidentin und Univ. Lekt. Prof. Dr. med. Dr. dent. Irmgard Simma-Kletschka Arlbergstraße 139 A-6900 Bregenz [email protected] 7 www.­simma.­at  

ÖGZMK Gesellschaft für Ganzheitliche Zahnheilkunde der Österreichischen Gesell­ schaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Verein Österreichischer Zahnärzte Zusammenfassung 55 Mundhöhle, Zähne, Kiefergelenk, Kaumuskulatur und Halswirbelsäule gelten in der konventionellen Medizin und in der Komplementärmedizin als Funktionseinheit und als Schlüsselstellen des menschlichen Körpers und seiner Entwicklung. 55 Als wichtige Instrumente zur Stressverarbeitung sind Zähne und Mund ein geeignetes Ventil, um Anspannungen und Stress zu verarbeiten. 55 Die funktionelle Diagnose besteht aus der ganzheitlichen Anamnese, gefolgt von Funk-

tionsdiagnostik, Inspektion und Palpation sowie der Anwendung von geeigneten Testmethoden. 55 Die funktionellen Wechselbeziehungen von Okklusion, Bisslage, Kiefergelenk, Muskulatur, Halswirbelsäule und Zentralnervensystem erklären das Kausystem zum wichtigen Stressbeantwortungsorgan. Die Antwort des Kausystems auf Stress ist z. B. Pressen und Knirschen (Bruxismus). 55 Stresskontrolle erfolgt durch funktionskieferorthopädische Geräte, Mundakupunktur, Kraniosakraltherapie, Osteopathie, Logopädie, Atem- und Bewusstseinsübungen (Sophrologie), um alle Organsysteme und das Reflexgeschehen, insbesondere das Zungen- und Schluckmuster, zu harmonisieren.

26.2

Chronische Entzündungen und Materialprobleme

Eva Maria Höller 26.2.1  Einführung

Die Basis der Arbeit im Rahmen der ganzheit­ lichen Zahnheilkunde ist sorgfältige, konven­ tionelle Zahnheilkunde. Der größte Teil des Aufgabengebiets ist Reparaturmedizin  – De­ fekte sind zu reparieren oder fehlende Zähne zu ersetzen. Der entscheidende Unterschied zur konventionellen Zahnheilkunde ist eine möglichst weitreichende Individualisierung bei der Entscheidung über die Sinnhaftigkeit einer Zahnerhaltung oder der Auswahl von Er­ satzmaterialien. Früher betrafen chronische Entzündungen v.  a. den Bauch- und Beckenraum. Für diese Regionen stehen heute sehr effiziente Antibio­ tika zur Verfügung. Heftige akute oder hartnä­ ckige chronische Entzündungen werden er­ folgreich und risikoarm operiert. >> Die Herdproblematik hat sich verlagert: 80 % der Herde befinden sich im Kopfbereich.

617 Ganzheitliche Zahnheilkunde

Auch im fortgeschrittenen Alter stellen Patien­ ten heute hohe ästhetische und funktionelle Ansprüche an einen Zahnersatz. Anzahl und Umfang zahnärztlicher Leistungen steigen ra­ pide an  – und in den meisten Fällen werden diese Restaurationen auch gut vertragen. Andererseits ergeben die Untersuchungen unserer Allgemeinärzte, dass bei chronisch Kranken zu etwa 50 % starke Belastungen aus dem Zahn- und Kieferbereich mitspielen (Wolfgang Gerz, persönliche Mitteilung im Kurs „Applied Kinesiology“)  – und diese Be­ lastungen lassen sich eliminieren, auch wenn dies manchmal aufwändig ist. So wie in allen anderen medizinischen Be­ reichen auch resultiert der aktuelle Zustand aus den genetischen Voraussetzungen und der Summe der verschiedenen Belastungen, d. h., es muss zuerst festgestellt werden, ob und wie gut ein Patient noch regulieren kann, damit be­ kannt ist, welche Behandlung ihm zumutbar bzw. welche Vorbehandlung nötig ist. Grundlage für eine umfassende Diagnostik, einen Behandlungsplan und die Auswahl neuer, verträglicher Lösungen sind Biotestverfahren (. Abb. 26.9), nach Möglichkeit unterstützt durch Laborverfahren. Besonders gut geeignet sind: 55 kinesiologische Verfahren (Applied Kine­ siology, Armlängenreflextest) (7 Kap. 11), 55 der aurikulokardiale Reflex (réflexe auriculocardiaque, RAC), 55 Elektroakupunktur nach Voll (7 Kap. 13) und ihre computerunterstützten Weiter­ entwicklungen.

26

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b







Bei diesen Verfahren können in kurzer Zeit viele Testungen hintereinander durchgeführt werden, ohne dass durch eine Testung die nachfolgenden verfälscht würden. Das ist z.  B. für die Herdoder Materialtestung essenziell. Es kommen lau­ fend neue Materialien auf den Markt, deren Zu­ sammensetzung nur unvollständig veröffentlicht wird – und für empfindliche Patienten stellt ein individueller Test die beste Möglichkeit dar. Auch Labors bieten ein Dentalscreening auf Entzündungen und Materialsensibilisie­ rungen an. Alle Untersuchungen durchzufüh­ ren, ist allerdings relativ teuer.

..      Abb. 26.9 Biotestverfahren: a Physioenergetik, b Applied Kinesiology

618

E. M. Höller

Aufgaben der komplementären Zahnheilkunde 55 Überprüfung chronisch kranker Patienten auf Störfaktoren aus dem Kieferbereich 55 Austesten vor großen Versorgungen (chronische Entzündungen, Materialverträglichkeit) 55 Empfehlung gut verträglicher Materialien

26

26.2.2  Prophylaxemaßnahmen

..      Abb. 26.10  Speisesoda oder Basenpulver zum Zähneputzen

Der Erhalt eigener gesunder Zähne ist oberstes Ziel. Alle von Zahnärzten empfohlenen Zahn­ reinigungsverfahren und Mundhygienemaß­ nahmen gelten genauso im komplementärme­ dizinischen Bereich. Unterschiede bestehen bei den chemischen Hilfsmitteln:

extrakt – erhältlich in Apotheken. 5 Tropfen in einem Schluck Wasser ergeben eine opti­ male Gurgellösung, die auch für den Lang­ zeitgebrauch geeignet ist. Die Spülung wirkt gegen Viren, Bakterien, Pilze und Parasiten, ohne die physiologische Mundflora zu zer­ stören. In einer solchen Lösung können auch Zahnspangen und Zahnersatz aller Art ge­ reinigt werden (nach mechanischer Säube­ rung mindestens eine Stunde pro Woche einlegen).

zz Zahnpasten

Im Wesentlichen sollte den Empfehlungen des Zahnarztes gefolgt werden; er kann beurteilen, wie abrasiv die Zahnpasta sein und ob sie Flu­ orid oder Kalzium enthalten sollte. Bei schwer kranken Patienten oder Multi­ allergikern könnten Detergenzien (wie Natrium­ laurylsulfat), Desinfektionsmittel (z. B. Triclo­ san) oder Farbpigmente (Titandioxid), die in Zahnpasten enthalten sein können, die Mund­ schleimhaut schädigen. kAlternative

Speisesoda (. Abb.  26.10): Die nasse Bürste in Natriumbikarbonatpulver tauchen  – Soda hat eine ideale Scheuer- und Massagewirkung und entsäuert (es wirkt natürlich entzündungsbrem­ send). Wer den Frischegeschmack vermisst, kann mit ätherischen Ölen schwach parfümieren (Pfefferminzöl, Zitronenöl u. a.). Im Handel sind auch Salzmischungen oder Pflanzenzahnpasten.  

zz Zahnspülung

Auch hier sind ätherische Öle gut einsetzbar, besonders gut funktioniert Grapefruitkern­

kAlternativen

Teebaumöl, Mixtura thymi. zz Fluorprophylaxe

Ein wiederkehrendes Thema ist die Fluorpro­ phylaxe. Nach Angaben von Homöopathen macht Fluor nicht nur Zähne hart, sondern auch die Knochen spröde und die Psyche starr. Außerdem hemmt Fluor nach Graf (2010) En­ zyme und Neurotransmitter und stört das Im­ munsystem, es hemmt die Bildung von Was­ serstoffbrücken und verändert so die Struktur der Eiweißketten. Der optimale Mittelweg sind lokale Fluo­ ridierungsmaßnahmen: Zahnpasten, sobald sie nicht mehr verschluckt werden, Gels, An­ wendungen beim Zahnarzt, kombiniert mit homöopathischen Kalziumsalzen und Kieselerde:

Die Kalziumsalze werden nach konstitutio­ nellen Merkmalen ausgesucht:

619 Ganzheitliche Zahnheilkunde

26

26.2.3  Allgemeine

Abwehrsteigerung und Immunstärkung

..      Abb. 26.11  Calcium carbonicum D12. Globuli zur konstitutionellen Kariesprophylaxe

55 Calcium phosphoricum für schlanke, be­ wegliche, hilflose, ängstliche Kinder, oft mit Polypen, 55 Calcium carbonicum (. Abb. 26.11) für behäbige, etwas dickere, manchmal unge­ schickte Kinder, lymphatischer Typ, 55 Calcium fluoratum für reizbare, überak­ tive, herumzappelnde Kinder, Gelenke überstreckbar, 55 Calcium sulfuricum für nachlässige Kin­ der mit Abneigung gegen Waschen, Toxin­ belastung, 55 Silicea für unsichere, empfindliche Kinder, mit schlaffem Gewebe, Mangel an Lebens­ wärme, auch für Bindegewebstherapie, Pa­ rodontalstärkung und bei Kiefergelenk­ problemen.  

kAnwendung

55 Als Kur 6 Wochen 2 × jährlich: Globuli D12 1 × täglich oder D30 1 ½ wöchentlich. 55 Schüssler-Salz-Tabletten: D6 2 × täglich 1–2 (besonders für Jugendliche geeignet). kAlternative

Klassische Konstitutionsmittel vom Homöopa­ then. Diese Mittel dienen nicht nur der Karies­ prophylaxe, sondern auch der physischen und psychischen Entwicklung der Kinder und kön­ nen auch kieferorthopädischen Fehlstellungen vorbeugen.

Als wichtigster Faktor gilt heute eine physiolo­ gische Darmflora, die wiederum Vorausset­ zung für eine gesunde und funktionstüchtige Schleimhaut ist. Diese hat Barrierefunktion gegen Keime (Immunglobuline), Toxine (dichte Zellverbände) und den Durchtritt großer Be­ standteile (Allergisierungsgefahr). Konservierungsmittel in der Nahrung, manche Medikamente (Antibiotika, Hor­ mone) und Dauerstress verändern das Milieu und zerstören die intakte Flora: Potenziell pa­ thogene Keime nehmen überhand, die schüt­ zende Schleimschicht, die auch der Erken­ nung von Fremdstoffen dient, wird zerstört. Die Schleimhautzotten werden reduziert, das Barriere-­ Epithel verliert den festen Zellzu­ sammenhalt, die aktive Resorption der wich­ tigen Vitalstoffe funktioniert nicht. Toxine und große Allergene können passiv diffundie­ ren und treffen auf die direkt unter der Schleimhaut liegenden Lymphfollikel; dieses Darmlymphsystem stellt ca. 80  % der anti­ körperproduzierenden Zellen im menschli­ chen Immunsystem (. Abb. 26.12). Bei Störungen in diesem System bricht die Abwehr gegen Krankheitserreger zusammen, es kommt zu allergischen Reaktionen auf Nah­ rungsmittel und Dentalmaterialien sowie zum Mangel an Vitalstoffen und damit zu unzurei­ chender Selbstheilung.  

>> Die Schleimhäute des Körpers bilden eine Einheit: Im Fall einer erkrankten Darmschleimhaut sind auch das Parodont und die Schleimhäute der Nasennebenhöhlen betroffen – für dauerhafte Erfolge in diesen Bereichen ist daher eine Darmsanierung erforderlich.

kDurchführung einer Darmsanierung 55 Säuberung mit geschrotetem Leinsamen

oder Glaubersalz.

620

E. M. Höller

..      Abb. 26.12 Gesunde Darmmukosa a und Darmmukosa bei Leaky-gut-Syndrom b

Ca, ...

a

Allergene

Hg Schlacken

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Hg

b Ca, ... Allergene

Schlacken

55 Überangebot erwünschter Keime: Milchsäure, Bifidus – in der Apotheke gibt es zahlreiche verschiedene Präparate, die im Idealfall wieder mit Biotest ausge­ wählt werden. Probiotische Milchpräpa­ rate sind nicht effektiv genug und enthal­ ten statt der natürlichen speziell gezüchtete Keimstämme. 55 Stabilisierung der Membransysteme durch Fettsäuren (in erster Linie Omega-­3-­Fettsäuren aus Leinöl oder Fischöl) und die Aminosäure L-Glu­ tamin, eventuell Vitamin B und Vitamin C. Manchmal helfen zusätzlich Aloe-Produkte oder pflanzliche Enzyme. Symbioselen­ kungen sollten durch Allgemeinärzte erfolgen, sie sind eine wichtige Grundlage für erfolgreiche zahnärzt­ liche Sanierungen. kWeitere immunregulierende Maßnahmen

Eigenbluttherapie, Heilpilze, Phytotherapeu­ tika wie Taigawurzel oder Pestwurz.

26.2.4  Chronische Entzündungen

im Kieferbereich

Abgestorbenes Nervengewebe, wurzelbehan­ delte Zähne oder Residualkieferostitis nach Zahnentfernung können massive Auswirkun­ gen auf den Organismus haben. Die Entzün­ dung spielt sich tief im Knochen ab und ist dia­ gnostisch wie therapeutisch schwer zugänglich. Chronische Entzündungen im Kieferbereich können sämtliche anderen Therapien blockie­ ren. Diese Entzündungen bereiten den Allge­ meinärzten daher oft Probleme und erfordern meist zahnärztlich-chirurgische Interventio­ nen.

Wirkungen einer chronischen Entzündung im Kiefergebiet kBakterien- oder Toxinausschwemmung mit rheumatiformen Fernproblemen Laborwerte

Antikörperbestimmung, Rheumafaktoren und Leukozytenstatus. Es handelt sich in erster Linie um Streptokokken, und zwar um Stämme, die auch Karies hervorrufen. Diese

621 Ganzheitliche Zahnheilkunde

sehen allerdings den anderen, in physiologi­ scher Rachen- und Darmflora vorkommenden Arten sehr ähnlich. Sie werden daher vom Or­ ganismus oft nicht als fremd identifiziert, die Entzündungen schwelen lange Zeit vor sich hin und können bei Resistenzsenkungen auf­ flammen. Die Abwehrschwäche gegen Strepto­ kokken kann auch familiär/genetisch auftre­ ten. Gerade bei diesen Patienten kann ein Implantat besser dem infizierten Eiweiß vorzu­ ziehen sein (Vorgeschichte und Meridianbe­ ziehung beachten!). kVeränderungen des Zytokinprofils

Durch die chronische Entzündung steigen die proentzündlichen Interleukine (IL) an. Jeder weitere Reiz löst leichter Entzündungen aus. Auch hier gibt es genetische Varianten: Patien­ ten mit einem bestimmten Interleukin-Allel neigen zu überschießenden und lang anhalten­ den Entzündungen (Interleukin-1α und -1β werden verstärkt gebildet, die antientzündli­ chen Zytokine TNF-α und IL-1RA vermin­ dert). Gegengesteuert werden kann nur durch Eliminieren aller behandelbaren Inflammatio­ nen sowie durch antientzündliche und im­ munmodulierende Therapie (Phytotherapie, Vitalstoffe). Verschiedene Entzündungsherde können sich summieren bzw. potenzieren: Allergische Reaktionen, Autoimmunprozesse und später eine Immunschwäche können die Folgen sein. kEnergetische Schwächung 80 % Wirkung entlang der Energieleitbahnen nach dem Akupunktursystem (s. Tabellen na­ch

Voll und Kramer, ­ Zahn-Organ-­ Beziehungen nach dem Akupunktursystem). Es gibt aber auch allgemeine Irritationen des Energieflusses im Körper, vergleichbar mit Fehlinformatio­ nen in einer Computersteuerung. Meridian­ stärkung kann helfen  – also z.  B.  Lebermittel bei Eckzahnproblemen.

kVeränderter Serotoninaufbau in Anwesenheit der Entzündungsbotenstoffe

Es kann zu einer depressiven Verstimmung durch die chronische Entzündung kommen.

26

26.2.5  Klassische Störherde

 hronisch entzündetes, devitales C Nervgewebe Eine chronische Pulpitis stellt eine große He­ rausforderung dar. Ein betroffener Zahn verur­ sacht immer wieder ziehende Schmerzen, oft ausstrahlend. Er reagiert auf den Kältetest (am besten mit Kohlensäureschnee) meist verzö­ gert. Mehrwurzelige Zähne können eine Teil­ gangrän entwickeln, d.  h., eine Wurzel kann bereits devital sein. Im Röntgen zeigen sich oft tiefe Füllungen, es lässt sich aber nicht feststel­ len, ob der Karies direkt bis zur Pulpa gereicht hat und somit die Streptokokken in die Tiefe gewandert sind. Eine Herdwirkung ist selten, aber möglich. kTherapieversuche

55 Arnica oder Hypericum D30 1 × täglich 5 Globuli über 1–2 Wochen. 55 Pulpa dentis D12 2 × 5 Globuli. 55 Eventuell Füllungstausch, Unterfüllung mit beruhigendem Kalziumhydroxid – 1 Tropfen Hypericum D30 eingemischt. 55 Wenn keine Besserung eintritt, muss eine Wurzelbehandlung durchgeführt werden.

Devitaler Zahn Eine chronisch entzündete Pulpa kann ganz absterben. Das devitale Eiweiß stellt einen star­ ken Giftstoff dar, es ähnelt Leichengift, aber auch Nervengas-Kampfstoffen. Trotzdem sieht das veränderte Eiweiß noch wie normale Kör­ perbestandteile aus und wird daher nicht eli­ miniert. Eine Potenzierung dieser organischen Zer­ fallsprodukte mit Quecksilber aus Amalgam ist möglich (Methylmerkaptan). Das Absterben eines Zahnnerven kann ohne jegliche Symptome erfolgen. Manchmal gibt es Schmerzen auf heiße Flüssigkeiten, Kälte bessert. Der Zahn reagiert nicht auf den Kältetest. Im Röntgen ist einige Wochen lang nichts erkennbar, die Knochenresorption dauert mindestens 6 Wochen.

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E. M. Höller

cillium, Aspergillus u.  a.), Gangränzellen (z. B. Tonsillengewebe), potenziert auf D4–6. kFür Zahnärzte praktisch

Tropfen oder Ampullen, verwendbar zum Ein­ nehmen, Einreiben, Injizieren. Spülen des Wurzelkanals und etwas Überspritzen (über den Apex hinaus) ist möglich. Besonders ge­ eignete Mittel: Nigersan (gegen Streptokok­ ken), Arthrokehlan und Pefrakehl (Mischflora mit Anaerobiern).

Wurzelbehandelter Zahn

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..      Abb. 26.13  Wurzelbehandelter Zahn mit Seitenkanälen

kTherapie

Möglichst rasch ist alles erreichbare tote Material zu entfernen, zu desinfizieren und mit einer Wur­ zelfüllung dicht zu verschließen. Problem dabei: Der Hauptkanal ist meist gut zugänglich, es gibt aber Seitenkanälchen in verschiedenen Höhen und Verzweigungen nahe der Wurzelspitze (. Abb.  26.13). Im günstigen Fall mumifizieren diese und stellen keinen Reiz für das Immunsys­ tem dar. Manchmal sind aber auch die Seitenka­ nälchen voll von Keimen und Toxinen. Dann kann es sein, dass sich der Zahn nicht ganz beru­ higt und beim Entfernen als Ganzes eine braune Verfärbung aufweist. Bei guter Abwehr kann ein solcher Zahn jahrelang ruhig bleiben, bei Zusatz­ belastungen aber eine Entzündung entwickeln.  

kDesinfektion

Spülen mit Wasserstoffsuperoxid (30  %) und Hypochlorsäure, trocknen. kAbwehrsteigernde Begleitmittel

Präparate der Fa. Sanum („homöopathische Antibiotika“): Abwehrstoffe aus Pilzen (Peni-

Dieser stellt ein diagnostisches Problem dar. Wirklich beurteilen lässt sich auch in gut auflösenden Spezialröntgenaufnahmen nur, ob die Wurzelfüllung etwa bis zur Wurzel­ spitze reicht und dicht aussieht. Die Wurzelfüllpaste ist ein Epoxidharz, dem als Kon­ trastmittel Barium zugesetzt wird, zum weiteren Abdichten dient eine Gummispitze. Den Pasten ist zum Abtöten von Keimen Formaldehyd zugesetzt. Allergien sind mög­ lich  – alternativ Präparate auf Kalziumsali­ cylat-Basis testen! Die Wurzelfüllung sollte kein Kortison ent­ halten. Dieses verschleiert eine Entzündung und wird nach Monaten resorbiert, wodurch Undichtigkeiten für eine Keimabsiedelung ent­ stehen. Heute wird oft unter dem Mikroskop und mit speziellen maschinellen Aufbereitungs­ systemen ein sehr breiter Kanal geschaffen, damit kein infizierter Zahnzement bestehen bleibt, und dann wird unter Druck sehr dicht gefüllt. Diese zeitaufwändige und teure Me­ thode erreicht aber die Seitenkanäle auch nicht  – hier ist weiterhin die körpereigene Abwehr gefragt. Wichtig sind eine Abdichtung zur Mundhöhle hin mittels Stiftverankerung (zugleich Bruchschutz, weil devitale Zahnsubstanz spröde ist), ein Stumpfaufbau und nach etwa 6 Monaten eine Überkronung. Unter sehr alten Stiften sind manchmal noch Messingstifte oder Amalgamaufbauten zu finden. Heute werden konfektionierte Titan- oder Stahlschrauben, gegossene Stiftaufbauten aus Metall oder

623 Ganzheitliche Zahnheilkunde

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weiches, fettglänzendes Entzündungsgewebe befindet, das leicht ausgelöffelt werden kann. Dieses Gewebe ist selbst im Computertomo­ gramm nicht zu erkennen, besser sind die Chancen im Szintigramm (Aktivitätsanrei­ cherung) oder in der Magnetresonanztomo­ graphie. Genau diese diagnostische Schwie­ rigkeit ist einer der Gründe, warum seitens der Zahnärztekammer Interesse an Biotestverfahren bestand: Mit kinesiologischen Verfahren lassen sich Lage und Ausdehnung eines Entzündungsareals genau herausfin­ den. Die Ergebnisse korrelieren gut mit den Operationsbefunden (Dr. Lechner und ei­ gene Erfahrungen). kLabortestverfahren

..      Abb. 26.14  Röntgenaufnahme von Zahn 36, abgekapselter Herd an der mesialen Wurzel (links), fragliche Entzündung an der distalen Wurzel (rechts)

glasfaserverstärkte Composite-Stifte verwen­ det, Stumpfaufbauten sind meist aus Compo­ site (Kunststoff). Eine Entzündung führt zu saurem Milieu. Dadurch werden Kalzium- und Phosphatio­ nen aus dem Knochen herausgelöst, es entsteht eine Aufhellung (ein schwarzer Fleck) im Röntgenbild (. Abb.  26.14). Die klassische Aufhellungszone ist üblicherweise von einem Wall aus Abwehrzellen umgeben, dadurch ab­ gekapselt und biologisch nicht sehr aktiv. Sie sollte aber trotzdem saniert werden, damit sie nicht im Fall einer Resistenzsenkung streuen kann.  

kDiagnostisches Hauptproblem

Die Knochenreduktion ist oft verschleiert durch Einlagerung von Zink, Kupfer oder Eisen, aber auch Schwermetallen wie Queck­ silber (Untersuchungen von Dr. Johann Lechner, München 1993; Lechner 1995, 1999). Im Fall einer Resektion ist dann zu se­ hen, dass sich rund um die Wurzelspitze

55 Sensibilisierung auf organische Zerfalls­ produkte: Thioäther und Merkaptane (Interferon-γ/Interleukin-10) 55 Schnelltest für Allgemeinärzte oder zur Demonstration für Patienten: Oro­ Tox-Test, bei dem mittels einer Papier­ spitze und Reagenzröhrchen der Gehalt an Giftstoffen (v. a. schwefelhaltige Verbin­ dungen) und Gesamteiweiß (Entzün­ dungsprodukte) an Farbskalen abgelesen wird. kTherapiemöglichkeiten

55 Revision, wenn die Wurzelbehandlung aussieht, als sei sie technisch verbesserbar. Wurzelspitzenresektion (möglichst mit abwehrsteigernder Vor- und Begleitbe­ handlung) oder Extraktion (mit ausgiebi­ gem Exkochleieren, wenn dies trotz mög­ licher Nahebeziehung etwa zur Kieferhöhle oder zum Unterkiefernerv möglich ist). 55 Begleittherapie: Sanum-Mittel, homöopa­ thische Schlangengifte (Crotalus B oder C 2 × 10 Tropfen, Lachesis D8 oder Viper D8 2 × 5 Globuli über jeweils 8 Wochen) oder ätherische Öle (Teebaumöl, Thymianöl, Zimtöl, Zitronenöl 2 × 1 Tropfen in Was­ ser). Die Auswahl der Präparate bzw. die Reihenfolge erfolgt am besten mit Biotest.

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>> Der Aufbiss auf einen beherdeten Zahn kann auch zur Verschiebung der Okklusion und des Muskelgleichgewichts führen und somit zu Bruxismus und Verspannungen.

testen meist einige Wochen wie eine Entzün­ dung, bei manchen Patienten kommt es auch zu einer bakteriellen Besiedelung (auf dem Blut­ weg?). Bei den meisten Patienten wird das Mate­ rial nach einigen Wochen toleriert.

Chronisch-persistierende ­Kieferostitis (Restostitis, NICO)

 erlagerte Zähne und Narben im V Mund

Sie kann auftreten, wenn es nach der Entfer­ nung eines Zahns nicht möglich war, ausrei­ chend stark zu exkochleieren, oder wenn es zu Heilungsstörungen kam. Das Aufspüren dieser Entzündungsareale ist besonders müh­ sam, die Patienten sind oft verzweifelt, weil ihnen psychische Ursachen unterstellt wer­ den. Das Problem ist häufiger geworden, weil empfohlen wird, zur Erhaltung des Knochens als Implantatlager Knochenersatzmaterialien in die Extraktionsalveole einzubringen. Diese werden zwar nicht resorbiert und zu perfek­ tem neuem Knochen umgebaut, wie die Pro­ duktwerbung in Aussicht stellt, sie sehen aber in Röntgenbildern aus wie normaler Kno­ chen, auch wenn dort manchmal Keime exis­ tieren und aktive Entzündungsvorgänge statt­ finden. Neuraltherapeutisches Anspritzen sichert die Diagnose, weil zumindest kurzfristig Fern­ beschwerden verschwinden und damit Zusam­ menhänge aufgezeigt werden. Dazu eignen sich auch Sanum-Mittel sehr gut. Sehr kleine Bereiche können mit den bei der Wurzelbehandlung empfohlenen Mitteln ausheilen  – sterile Flüssigkeiten können auch direkt in das Entzündungsgebiet gespritzt wer­ den (mit Anästhetikum vermischt). Nicht bewährt hat sich im Kieferbereich die Nosodentherapie (Kieferostitis-­Serienpackung, wöchentlich 1 Ampulle in sinkenden Potenzen).

Verlagerte Zähne können (selten) als Herde wirken, entweder aseptisch als energetisches Störfeld oder durch bakterielle Infektion auf hämatogenem Weg.

kKnochenersatzmaterialien, Aufbau vor Implantation

Kleine Trikalziumphosphat-Partikel wandern in lokale Lymphknoten weiter, größere Korallenk­ alk-Partikel oder Hydroxylapatit werden nicht zu regulärem Kieferknochen umgebaut, sondern in festem Bindegewebe eingelagert. Dies entspricht einer Fremdkörperreaktion. Ersatzmaterialien

kWeisheitszähne (Sapientes)

Sie liegen auf dem Meridian von Nebenniere, Energie- und Hormonhaushalt sowie Dünn­ darm (Unterkiefer) und Herz/Kreislauf, Herz­ rhythmus (Oberkiefer) und haben etwas mit spiritueller Entwicklung zu tun. Durchgebro­ chene, in Okklusion stehende Weisheitszähne stören nicht, schräg liegende können Herdwir­ kung haben. Wegen der vielen Funktionen der Region und der technisch einfacheren Opera­ tion sollte die Entwicklung etwa der halben Zahnwurzel abgewartet werden, bevor man sie entfernt. Bis zum 20. Lebensjahr kann die Auf­ richtung der Weisheitszähne homöopathisch gefördert werden (Glandulae suprarenales comp. 2 × 5 Globuli über etwa 8 Wochen alle 6 Monate). Narben im Mund stören normalerweise nicht, auch nicht Lippenbändchennarben, die das Lenkergefäß kreuzen.

Hierarchisierung kVorgehen bei mehreren Herden

Gesucht wird der aktivste Herd im Biotest (Prioritäts-Handmode, Ausgleich vieler pa­ thologischer Testpunkte). Bei ausreichender Regulation wird dieser saniert. Möglicher­ weise wird dann die nächste Entzündung akti­ viert, oder der Organismus hat genug Kraft, andere Regionen zu kompensieren oder aus­ zuheilen. Früher wurden oft alle toten Zähne auf ein­ mal extrahiert – mit dem Ergebnis, dass die Re­ gulation der Schwerkranken überfordert war und es zu massiven Verschlechterungen kam.

625 Ganzheitliche Zahnheilkunde

Lange bestehende chronische Entzündun­ gen und deren Fernwirkungen sind manchmal nicht mehr reversibel, weil große Gewebebe­ zirke bereits dauerhaft umgebaut sind, hier kann lediglich versucht werden, weitere Gewe­ bezerstörungen aufzuhalten.

Differenzialdiagnosen: Tonsillenlakunen, Nasennebenhöhlenentzündungen, Mastoid So wie bei Kieferentzündungen ist die Dia­ gnose im Fall einer chronisch-atrophierenden Entzündung mit bildgebenden Verfahren kaum möglich. Antibiotika erreichen auch bei hoher Dosierung und langdauernder Gabe keine vollständig wirksamen Spiegel, Keime oder Toxine verbleiben im Gewebe. Die chro­ nische Entzündung kann extrem symptomarm verlaufen. Durch die anatomische Nahebeziehung können manchmal Zähne und angrenzende Gebiete beteiligt sein, z. B. reichen die Wurzeln der Oberkiefermolaren in die Kieferhöhle. Praktischerweise passen die Heilmittel für beide Lokalisationen: Als Antibiotikum Amoxicillin/ Clavulansäure, bei Penicillinallergie Clindamy­ cin. Zur restlosen Ausheilung sollten im An­ schluss Sanum-Präparate oder homöopathische Schlangengiftmittel verwendet werden.

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Hinweise auf ein Herdgeschehen, aber keine Hinweise auf dessen Lokalisation zeigen. 26.2.6  Parodontologie –

Entzündungen und Degeneration des Zahnhalteapparats

Werden Zahnbeläge nicht regelmäßig und rasch entfernt, entsteht zähe Plaque, die bak­ teriell besiedelt wird und später durch Kal­ ziumeinlagerung verhärtet. Prophylaxe und Frühbehandlung bestehen daher aus akribi­ scher Zahnreinigung durch die Patienten und professioneller Zahnhygiene (ideal mit Handinstrumenten wie Scaler und Curette sowie Abstrahlen mit Sodaspray) (. Abb. 26.15).  

>> Zahnärzte müssen darauf achten, dass bei Füllungen, Kronen und Verankerungselementen des Zahnersatzes keine Schmutznischen entstehen können.

kLabor bei V. a. Herd im Knochen (Kiefer, Nasennebenhöhlen, Mastoid)

Das Verhältnis der Lymphozytensubpopulatio­ nen CD4:CD8 beträgt ca. 1:2. kÜberblicks-Lokalisationsverfahren

55 Decoderdermographie: Blockaden Stirn-­ Hand bei Kopfherd, 55 Thermographie: Kein Temperaturabfall in Zahn- oder Kieferbereich bei allgemeiner Abkühlung, 55 Terminale energetische Diagnostik (Kirli­ an-Photographie): Schwarze Toxinflecken im Daumenbereich. Diese Verfahren werden wegen des höheren Aufwands heute nur noch selten angewendet. Sie sind aber sehr geeignet, wenn sich zwar

..      Abb. 26.15  Mechanische professionelle Zahnreinigung mit Handinstrumenten

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Entstehung und Fortschreiten einer Parodon­ talentzündung hängen aber von vielen Fakto­ ren ab, sodass für Begleittherapien mehrere Möglichkeiten offen stehen. Allgemeine symptomatische Maßnahmen 55 Calendula-Tinktur: beruhigende Spülung 55 Salbeitee wirkt desinfizierend (auch ab dem 2. Tag postoperativ) 55 Heidelbeerblättertee: enthält Kieselerde, stärkt Bindegewebe 55 Arnika D2: beruhigt blutendes Zahnfleisch 55 Equisetum D2, Silicea D6: Bindegewebsstärkung 55 Mercurius D12 bei Speichelfluss, Ulzera, üblem Geruch 55 Thuja D30 bei Wucherungen 55 Lachesis D30 bei livider Verfärbung 55 Propolis-Gel bei offenen Stellen und Infekten

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zz Genetische Komponente

Patienten mit einem bestimmten Polymor­ phismus des Interleukin-1-Gens reagieren auf kleinste Reize mit starker und lang anhaltender Entzündung. Besteht eine Entzündung länger als 2 Wochen, kann diese selbst nach Wegfallen der auslösenden Ursache bestehen bleiben. Meist ist den Patienten bewusst, dass Paro­ dontose in ihrer Familie vererbt wird. kGentechnische Bestätigung

Bestimmung des IL-1/TNF-α-Genotyps (. Abb. 26.16). Die einzige Möglichkeit der Behandlung ist eine engmaschige Zahnreinigung und bei Be­ darf sogar das Entfernen von Zähnen, die nicht sauber zu halten sind (z. B. Bifurkationsbefall).  

zz Rolle von Mikroorganismen

Besonders starkes entzündliches und gewebs­ zerstörendes Potenzial haben Actinobacillus, Porphyromonas, Spirochäten, Bacteroides, Prevotella, Fusobakterien, Treponella sowie einige

..      Abb. 26.16  Mundschleimhautabstrich. Die Stäbchen werden für den Gentest in ein Speziallabor geschickt

Streptokokken. Wie im Darm führt die Ent­ zündung zum Barriereverlust. Bei rasch fortschreitender aggressiver Pa­ rodontitis ist es sinnvoll, die Zerstörung durch eine Antibiotika-Stoßtherapie zu stoppen, möglichst gezielt nach Antibiogramm. Direkt im Anschluss sollte eine Symbioselenkung erfolgen. Eine rein lokale Therapie ist sinnlos, es müssen Darmflora und Schleim­ hautsystem des Körpers behandelt werden. In­ tensivierung der Wirkung im Mundbereich: Tropfen, aufgelöste Keimmischungen oder Kapselinhalt etwa 5 Minuten im Mund behal­ ten und zwischen den Zähnen durchziehen. zz Toxine und Entgiftung

Die Mundschleimhaut ist eine wichtige Barri­ ere für Toxine und zugleich ein Ausschei­ dungsorgan, z.  B. dunkle Verfärbungen bei Schwermetallbelastung (Quecksilber, Blei) entlang der Gingiva. Die Regeneration der ge­ schädigten Schleimhaut erfolgt wie beim Darm mit Ölen und Glutamin. kLokaltherapie Ölziehen: Morgens vor dem Essen 1 Esslöffel

kalt gepresstes Sonnenblumenöl 5 Minuten zwischen den Zähnen durchziehen, ausspu­ cken – das Öl ist durch die ausgeleiteten Toxine oft stark verfärbt.

zz Einfluss von Übersäuerung

Der Säure-Basen-Haushalt wird durch Magen­ wandzellen, Niere und Atmung reguliert. Das Enzym Carboanhydrase, das dabei eine ent­

627 Ganzheitliche Zahnheilkunde

scheidende Rolle spielt, ist abhängig von Zink – Zinkgaben bringen die Regulation wieder in Gang. Stress führt über Nebennierenrindenhor­ mone zur Säurebildung, aber auch Entzündung produziert Säure. Im sauren Milieu funktioniert der Stoffwechsel schlechter, die Entzündung wird weiter begünstigt – ein Teufelskreis. Der Organismus hält den Blut-pH-Wert mithilfe der Puffersysteme im Blut normaler­ weise (in engen Grenzen) konstant. Bei gene­ reller Übersäuerung aufgrund einer Überlas­ tung der Systeme werden Kalzium und Phosphat (alkalisch) als Puffer aus dem Kno­ chen herausgelöst – es kommt zu Osteoporose und Parodontose. kInitialtherapie 55 Basenpulver (Mischungen aus Natriumbi­

karbonat mit Kalzium- und Magnesium­ salzen), 1–2 × ½ Teelöffel in Wasser zwi­ schen den Mahlzeiten. 55 Lokal kann Basenpulver auch zum Zähne­ putzen und Spülen verwendet werden. 55 Schwerkranken helfen auch Basenbäder (gute Entgiftung).

Als Dauerlösung kommt nur die Ernährungsumstellung in Betracht: 55 Als Säurebildner zu meiden sind Zucker, Weißmehl, Fleisch und phosphatreiche Softdrinks. 55 Basenbildner sind Kartoffeln und Gemüse. >> Stress macht sauer und fördert Entzündungen. Entspannungstechniken sind daher nicht als reine Psychotherapie zu verstehen.

zz Vitalstoffsubstitution

Auch in der konventionellen Medizin werden heute bei Osteoporose und in der Parodontal­ therapie Mineralstoffe und Vitamine einge­ setzt, in erster Linie Kalzium und Vitamin D.  Ein gesunder Knochen braucht allerdings auch eine bindegewebige Basis – für die Kolla­ gensynthese und die Elastizität des Gewebes werden Zink, Magnesium und Silizium, Vita­ min C und die B-Vitamine benötigt, für die

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Schleimhäute auch Folsäure (gehört zur Gruppe der B-Vitamine) und Vitamin A. Für die Zellatmung wird Coenzym Q10 be­ nötigt, es ist an der Atmungskette beteiligt. Mit Biotestverfahren kann gezielt ausge­ sucht werden, welche Mittel (in welcher Rei­ henfolge) eingesetzt werden sollen. Die schnellsten Erfolge wurden mit ausgetesteten, mäßig hoch dosierten Einzelmitteln (etwa an der oberen Grenze der empfohlenen Dosie­ rungsangaben) erzielt. Manchmal muss (auch aus finanziellen Überlegungen) auf Mischprä­ parate ausgewichen werden, die heute von vie­ len Firmen in guter Zusammensetzung ange­ boten werden. Chronisch Kranke sind oft nicht imstande, die Mineralstoffe zu resorbieren – es empfiehlt sich, in diesen Fällen anfangs auf homöopathische Präparate wie die Schüssler-Salze Cal­ cium phosphoricum, Magnesium phospho­ ricum und Silicium oder Zincum valerianum in Form von Tropfen auszuweichen. >> Das Ziel des ganzheitlichen Konzepts ist es, dass wieder ausreichend Vitalstoffe resorbiert werden – durch Schleimhautsanierung und Nebennierenstärkung.

zz Nebenniere

Die Nebennieren produzieren Stresshormone (Adrenalin) und Kortison. Sie geben auch Mi­ neralokortikoide ab. Durch Dauerstress wird die Nebenniere überfordert und kann ihren Re­ gulationsaufgaben nicht mehr nachkommen. Die Nebennieren liegen am oberen Pol der Nieren und werden auch von einem Seitenast der A. renalis versorgt. Bei Bindegewebsschwäche sinkt die Niere ab (statt sich kontinuierlich etwas auf und ab zu bewegen), die A. suprarenalis infe­ rior wird geknickt, die Nebenniere schlechter durchblutet. Die Patienten leiden an Müdigkeit und Energiemangel. Diese Schwäche kommt bei vielen Frauen vor. Ihnen geht es während einer Schwangerschaft besser, weil ab dem 4. Monat die (in diesem Entwicklungsstadium sehr gro­ ßen) Nebennieren des Kindes die Mutter mitver­ sorgen. Allerdings schwächt diese Überproduk­ tion das Organ des Kindes auf Dauer.

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kTherapiemöglichkeiten

kLange nicht heilende Mundecken

Die Nebennieren brauchen viel Zink, evtl. Se­ len. Es gibt auch Organpräparate, die in Europa aber kaum verwendet werden.

Ferrum phosphoricum D12 Globuli 2 × 5 über 6 Wochen.

kHomöopathische Präparate

26.2.7  Zahnärztliche Materialien

Glandulae surarenales comp., Phytocotal, Phy­ tohypophyson C. kNichtmedikamentöse Maßnahmen

Osteopathische Nierenhebung bzw. physiothe­ rapeutische Selbsthebungsübungen.

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zz Meridianeinflüsse

Diese zeigen sich an lokalen parodontalen Ein­ brüchen, also z. B. Knochenabbau im Molaren­ bereich bei Dickdarmproblemen, Rezessionen an Eckzähnen bei Leberstörungen. Zusätzlich zur konventionellen Parodon­ taltherapie sollte hier eine Meridianstützung erfolgen, etwa mit Phytotherapie; dann sind die Erfolgsaussichten sehr gut.

zz Okklusale Stabilisierung

Fehlbiss und Zähneknirschen stellen eine me­ chanische Überlastung dar und können eben­ falls zum Gewebeabbau führen. Bereits gelo­ ckerte Zähne gehen leicht verloren. Zur Stabilisierung können Zahnärzte vorü­ bergehend Zähne aneinander festkleben (paro­ dontale Schienung). Eine sehr wichtige Maß­ nahme ist das Tragen einer Aufbiss-­Schiene, die nachts eine Überlastung verhindert. Langfristig wird man versuchen, durch Einschleifen, neue Füllungen oder Kronen oder mittels Kieferortho­ pädie eine störungsfreie Okklusion zu erzielen. zz Aphten und Mundecken (eingerissene Mundwinkel, Mundwinkelrhagaden)

Eine dauerhafte Sanierungsmethode von Aph­ ten ist die Symbioselenkung. kKurzfristige Hilfe im Akutfall

Es werden trotzdem die tieferen Schleimhaut­ schichten erreicht und rasche Rezidive verhin­ dert mit: 1 Tropfen Grapefruitkernextrakt in Vaseline oder Heilsalbe (z. B. Solcoseryl Den­ tal), 2–3 × täglich auftragen und spülen (5 Tropfen in einem Schluck Wasser).

und unerwünschte Nebenwirkungen

Energieberater und Kinesiologen führen ver­ schiedenste Beschwerden sehr oft – manchmal auch zu Recht – auf Dentalmaterialen zurück. Allerdings ist die Verwendung dieser Mate­ rialien nicht der Bequemlichkeit oder Geldgier der Zahnärzte zuzuschreiben, sondern den ho­ hen Anforderungen, die deren Einsatz stellt: 55 Die Festigkeit soll dem des Zahnschmelzes entsprechen, um weder selbst abradiert zu werden noch den Gegenzahn zu schädi­ gen – das erfüllen z. B. Metalle und mo­ derne Kunststoffe. 55 Die Materialien müssen rasch genug ein­ setzbar sein, um eine Trockenhaltung zu ermöglich. 55 Nach einer anfänglichen Härtungsphase müssen sie gegen Speichel und Säure wi­ derstandsfähig sein. 55 Sie sollen bei thermischen Schwankungen ihr Volumen nicht verändern. 55 Die Materialien sollen (zumindest nach der Aushärtung) keine Schadstoffe abgeben. 55 Es muss auch preisgünstige Varianten für sozial schwächere Patienten geben. >> Einen Werkstoff, der alle diese Kriterien erfüllt, gibt es leider nicht.

Ganzheitliche Zahnmediziner müssen daher als auch konventionell arbeitende Zahnärzte immer wieder entscheiden, welche Materialeigenschaft für den jeweiligen Einsatz am wichtigsten ist. Zahnärztliche Werkstoffe verbleiben – einmal eingebracht – dauerhaft im Mund. Es gibt keine Erholungszeit für Entgiftungsprozesse oder das Immunsystem, wenn die Materialien für den in­ dividuellen Patienten ein Problem darstellen. Die Materialauswahl für chronisch Kranke oder Patienten mit Immunstörungen gehört

629 Ganzheitliche Zahnheilkunde

daher zu den wichtigsten Aufgaben komple­ mentärmedizinisch ausgerichteter Zahnärzte. Im Prinzip wird bei den Biotestverfahren ver­ sucht, die Regulationsmöglichkeiten zu erfassen. Um zu vermeiden, dass ein Material, das im Mo­ ment vielleicht passt, bei einer neu hinzukom­ menden Belastung aber Probleme verursacht, sollte der sicherste sinnvolle Werkstoff gewählt werden. Es kann auch eine toleranzerhöhende Allgemeinbehandlung (z. B. Darmsanierung) ge­ wählt werden, um dann eine qualitativ hochwer­ tige Zahnsanierung zu ermöglichen. >> Komplementärmedizinisch arbeitende Zahnärzte raten davon ab, wirkliche Pro­ blemmaterialien wie Amalgam oder Palladium einzusetzen, weil diese bei Unverträglichkeit immer wieder Zusatzbehandlungen erfordern.

Toleranzsteigerung ist eine sinnvolle Methode, um etwa eine rasch wirkende kieferorthopädi­ sche Legierung verwenden zu können oder eine aufwändige Geschiebelösung anzufertigen. >> Ein universell verträgliches Material gibt es nicht.

Zahnärztliche Werkstoffe werden ausführlich geprüft und als Medizinprodukte zugelassen. Viele Patienten vertragen alle zahnärztlichen Werkstoffe, für einige jedoch bleibt kaum mehr eine Möglichkeit zur erfolgreichen Restauration. Die einzig sinnvolle Lösung ist individuelle Aus­ wahl möglichst gut verträglicher Materialien bei gleichzeitiger Sanierung des Schleimhautsys­ tems und Stabilisierung der Immunabwehr. 26.2.8  Metalle und Metall-

Legierungen

Amalgam Quecksilber wird in Nasentropfen, Kontaktlin­ senlösungen, Impfungen verwendet, und es kommt in Meeresfischen vor, die Hauptquelle sind aber Zahnfüllungen. Amalgam - Gemisch aus Silber, Zinn, Zink und Quecksilber.

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Problematisch ist bei Amalgam hauptsächlich das enthaltene Quecksilber, ein Schwermetall und Neurotoxin. Besonders gefährlich sind Dämpfe, die beim Verlegen und Herausfräsen von Zahnfüllungen entstehen. >> Gegen Amalgampartikel, die durch Abrasion oder Herausbohren entstehen, stellt eine gesunde Schleimhaut eine gute Barriere dar – sie ist vor einem Materialtausch daher unbedingt zu sanieren!

Gelangt Quecksilber durch die Schleimhaut in das Blut, wird es sofort weiter in das Bindege­ webe transportiert. Ein Teil bleibt an Struktur­ proteinen hängen und „verschlackt“ das Mes­ enchym, der Großteil wird im Fettgewebe abgelagert – in erster Linie in den Ausleitorga­ nen Leber und Niere, aber auch in Hormon­ drüsen (Hypophyse, Schilddrüse, Ovar) und im Thymus (Abwehrorgan), im Reservefett und in den Markscheiden der Nerven sowie im Zentralnervensystem. Die Ausscheidung erfolgt hauptsächlich über Leber und Darm. Ein Teil der Ausleitung funktioniert über die Niere, ein letztes Ventil ist auch die Haut (Ausschläge). zz Genetische Entgiftungsdefekte

Normalerweise kann der Körper Schwerme­ talle über das Glutathionsystem in der Leber entgiften. Dieses kann, genetisch bedingt, re­ duziert sein (Polymorphismus der Glutathion-­ S-Transferasen). Außerdem ist dieses System auch für Alkohol, Narkotika, Lösungsmittel, einige Antibiotika, Pflanzenschutzmittel und Bilirubin (Porphyrie!) zuständig. Überlastun­ gen sind leicht möglich. Die genetische Untersuchung ist relativ teuer und wurde daher bei den zahlreichen Amalgamstudien nicht berücksichtigt. Das ist der Hauptgrund, warum auch sehr groß ange­ legte Studien wie das Forschungsprojekt Amalgam mit 5000 Teilnehmern (GAT – German Amalgam Trial, 2008, Klinikum rechts der Isar, TU München, Prof. Melchart) keine klare Aussage zur Schädlichkeit von Amalgam machen konnten. Angesichts der großen Zahl verlegter Füllungen in Relation zur Anzahl der

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E. M. Höller

Problempatienten wurde seitens der konven­ tionellen Medizin behauptet, alle Symptome seien psychisch bedingt. So ergab etwa eine Studie der Arbeitsmedizin mit der Universi­ tätsklinik Wien, dass im Blut der Patienten kein erhöhter Quecksilberspiegel nachgewie­ sen werden konnte  – das wurde interpretiert als Beweis für psychische Ursachen der Symp­ tome (präsentiert von Prof. Sperr auf dem Ös­ terreichischen Zahnärztekongress).

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messen – bei normaler Nierenfunktion korre­ liert dieser Wert mit der Depotbelastung. Bei diesem Test werden auch notwendige Mine­ ralstoffe ausgeschwemmt, er belastet die Niere und kostet Energie – deswegen wird er nicht in großem Stil angeboten und soll v. a. nur zur Diagnose und eventuell zur Therapiekon­ trolle, aber nicht zur Ausleitung verwendet werden. Die Krankenkassen erkennen den Test als Nachweis einer Amalgambelastung nicht an.

Symptome bei Amalgambelastung

kBiotestverfahren

55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55

kTestmittel

Müdigkeit Konzentrationsstörungen Verwaschene Sprache Tremor Schlafstörungen Depressive Verstimmung Allergie- und Infektneigung Ekzeme Blutdruckschwankungen Herzrhythmusstörungen Infertilität Störungen auf Zellebene: ȤȤ Membranstörungen ȤȤ Blockade der Zellatmung und Energiegewinnung ȤȤ In Anwesenheit von Quecksilber kommt es zu Fehlern beim Ablesen der m-RNA, Enzyme werden nicht gebildet oder funktionieren mangelhaft ȤȤ Blockade des Stofftransports in Axonen von Nervenzellen

Ohne Zusatzbelastung des Patienten können Grad und Orte der Belastung festgestellt und Ausleitmittel und verträgliche Provisorien aus­ getestet werden. Es ist sinnvoll, zuerst zu testen, ob Amal­ gam wirklich der relevante Störfaktor ist, und auch, ob der Patient derzeit eine Amalgamsa­ nierung verkraften kann oder ob eine Vorbe­ handlung nötig ist, um diese gefahrlos und er­ folgreich durchzuführen.

Der Test auf Amalgambelastung erfolgt mit homöopathischen Ampullen. Für alle anderen Materialien werden kleine Prüfkörper herge­ stellt – möglichst so verarbeitet, wie sie tatsäch­ lich eingesetzt werden. Diese müssen mehrmals einige Minuten Kontakt mit der Mundschleim­ haut haben und werden auch im Mund getestet (. Abb. 26.17).  

Diagnostik kLaboruntersuchungen

In Blut oder Harn ist nur bei akuter Vergiftung ein Nachweis möglich. Für die Feststellung ei­ ner chronischen Belastung muss Quecksilber aus den Fettgeweben mobilisiert werden. kDMPS- oder DMSA-Test

Nach einer Stunde wird die Konzentration des mobilisierten Quecksilbers im Harn ge­

..      Abb. 26.17  Materialproben zur Testung im Mund

631 Ganzheitliche Zahnheilkunde

26

Ideale Vorgehensweise bei Amalgambelastung 55 Biotest auf Belastung und Zustand des Darmsystems 55 Ankurbeln der Ausleitsysteme 55 Gezielte Ausleitung spätestens ab Beginn des Ausfräsens bis mindestens 4 Wochen danach 55 Schrittweiser, langsamer Amalgamtausch, Verlegung von Langzeitprovisorien 55 Ausleitung aus dem Zentralnervensystem erst am Schluss

Therapie kAmalgamausleitung

55 Zink, Vitamin C und schwefelhaltige Ami­ nosäuren wie Cystein. 55 Phytotherapeutika oder Homöopathika als Organstützung, z. B. Quassia D2 Dil. für die Leber, Berberis für die Niere, Lymph­ mittel. 55 Bindung des Schwermetalls im Darm mithilfe von Grünalgen (Chlorella, Spirulina), Heilerde, Zeolith. Die entstehenden Komplexe werden nicht resorbiert, ver­ hindern aber die Rückresorption des be­ reits ausgeschiedenen Quecksilbers im Rahmen des enterohepatischen Kreis­ laufs. 55 3 L Wasser oder (nicht saurer) Kräutertee täglich. 55 Leichte Bewegung, Schwitzen, evtl. Ko­ lon-Hydrotherapie (belastend). kAmalgamtausch

55 Je langsamer, umso stärker die Belastung und umso eingeschränkter die Regulation. 55 Bei durchschnittlicher Belastung: 2–3 mittlere Füllungen alle 3–4 Wochen. 55 Bei starker Belastung, z. B. bei Krebspatien­ ten: 1–2 Füllungen alle 6–8 Wochen. Am wichtigsten ist eine perfekte Absaugung – idealerweise mit dem Clean-up-System (. Abb. 26.18):  

..      Abb. 26.18  Das Clean-up-System saugt rund um den Zahn ab

Eine Gummimanschette umfasst den Zahn mitsamt der Fräse, Staub und Dämpfe werden direkt abgesaugt. Das ist effektiver als die um­ strittene Cofferdam-Methode und erlaubt, dass der Patient immer wieder ausspült. In das Spülwasser werden Selen-Brausetabletten ge­ geben, die mit eventuell vorhandenen Queck­ silberteilchen unlösliche Komplexe bilden. Nach Möglichkeit wird die Füllung zer­ schnitten, sodass größere Teile ausbrechen, was allerdings nicht immer möglich ist. Die Praxis sollte gut gelüftet werden. Für be­ sonders empfindliche Patienten und das Praxis­ team stehen goldbeschichtete Schutzmasken zur Verfügung, evtl. Sauerstoffzufuhr über Nasen­ schläuche. kZwischenversorgung

Sehr bewährt hat sich eine Zwischenversor­ gung (für einige Wochen bis zu 2 Jahre, laufend kontrollieren!): Quecksilber dringt in die Den­ tinkanälchen vor und kann aus diesen in das Material der Zwischenversorgung zurückdif­ fundieren. Beim Entfernen der Provisorien ist oft eine dunkle Verfärbung zu erkennen.

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E. M. Höller

kProvisorium

Geeignet sind meist Glasionomer- und Stein­ zemente (auch lichthärtend), bei vielen Pati­ enten auch Kunststoffe (eventuell bei Provi­ sorien ohne Bondings). Diese Materialien sind nicht so abrasionsstabil und nicht so randdicht wie dauerhafte Füllungen, belasten aber das Entgiftungssystem der Leber nicht. kZNS-Ausleitung

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55 Erfolgt nach Abschluss der Ausleitung aus dem Bindegewebe. 55 Liquorgängig wäre DMSA – dieser Kom­ plexbildner verursacht aber oft Kopf­ schmerzen. 55 Sanfteres Vorgehen mit spagyrischen Ko­ riandertropfen, Vitamin C und N-­ Acetylcystein. 55 Hilfreich ist auch das Antioxidans Alpha­ liponsäure. 55 Die allgemeine Ausleitung läuft weiter, da­ mit es zu keiner Rückdiffusion in das Ge­ hirn kommt. 55 Es gibt Laboruntersuchungen, ob die BlutHirn-Schranke dicht ist: 55Risikomarker S-100, produziert von Astrozyten. >> Nach Beendigung der Ausleitung kann sich ein verlässlicher Materialtest für die bleibende Versorgung anschließen.

Amalgam und Goldlegierungen sollen nicht gemischt werden, es kann zu verstärkter Kor­ rosion und eventuell einem Quecksilbernie­ derschlag auf der Goldoberfläche kommen. Gerade bei der Amalgamsanierung arbei­ ten Zahnärzte sehr gerne mit Allgemeinärzten zusammen. Der Materialtausch selbst erfor­ dert bereits viel Zeit. Vorbehandlung und ­Ausleitung können die Zahnärzte nicht selbst durchführen, besonders wenn Patienten di­ verse Grunderkrankungen mit Dauermedika­ tion haben. zz Allergie auf Quecksilber

55 Selten. 55 Schwere neurologische Entzündungen, multiple Sklerose, Ekzeme etc.

..      Abb. 26.19 Goldgussfüllungen

kNachweis

Lymphozytentransformationstest (7 Abschn. 26.2.8.2), Epikutantest meist negativ.  

kTherapie

Amalgamtausch unter hoch dosiertem Korti­ sonschutz und Vitamin-C-Infusion in einer Sitzung (Schubprophylaxe).

Metall-Legierungen Gold- und Stahllegierungen werden schon lange verwendet und wurden für eine optimale Versorgung gehalten, weil sie in der Härte dem Zahnschmelz ähnlich und durch den dichten Randschluss wenig anfällig für Sekundärkaries sind (. Abb.  26.19). Je mehr allerdings über das Immunsystem bekannt ist, umso kritischer werden Metalle im Mundraum gesehen, ob­ wohl sie aus zahntechnischer Sicht viele Mög­ lichkeiten eröffnen.  

zz Veränderungen des Zytokinmusters in Richtung Entzündung

Bei genetischer Disposition verwandeln sich T-Lymphozyten in proentzündliche Effektor­ zellen und produzieren Interferon-γ. Wird gleichzeitig IL-10 produziert, kommt es zu ei­ ner tolerierten Sensibilisierung. Bei Patienten, die Interferon-γ produzie­ ren, aber kein IL-10, muss das entsprechende Metall entfernt werden. Bei der tolerierten Sensibilisierung können möglichst alle Ent­ ­

633 Ganzheitliche Zahnheilkunde

zündungspotenziale im Körper minimiert und immunmodulierende Therapien durchgeführt werden. kLabornachweis

Effektorzelltypisierung (Institut für Medizini­ sche Diagnostik Berlin, Kurierdienst). kSonderfall: Titanstimulierungstest

Makrophagen phagozytieren Titanpartikel und bilden TNF-α und IL-1β. Dies führt zu allgemeinen Entzündungsprozessen und lo­ kaler Aktivierung der Osteoklasten. Der Großteil der Implantate besteht heute aus Ti­ tan. Vor großen Arbeiten wäre ein solcher Test sinnvoll, da diese (seltene) Reaktion mit Biotests bislang nicht sicher erfasst werden kann. zz Allergien auf Metalle

Es handelt sich um Typ-IV-Allergien. kNachweis: Lymphozytentransformationstest (LTT)

55 Lymphozyten werden mit Metallsalzen in­ kubiert – eine überproportionale Vermeh­ rung der Lymphozyten zeigt die Sensibili­ sierung. 55 Im Labor Bieger (Bieger 1999) wurde eine Statistik bei Patienten mit vermuteter Me­ tallproblematik erstellt: Nickel 46 %, Gold 10 %, Palladium 10 %, Titan 6 %. 55 Es kommt praktisch nie zu lokalen Symp­ tomen, sondern zu Allgemeinerkrankun­ gen wie Fibromyalgie und chronischem Müdigkeitssyndrom. 55 Allergisierungen nehmen zu bei ver­ stärktem Kontakt mit Metallen auf­ grund technischer Entwicklungen, etwa durch Palladium in Fahrzeugkatalysato­ ren. 55 In vielen Fällen können über Symbioselen­ kung und Schleimhautstabilisierung die Materialien wieder verträglich gemacht werden. Als Akuthilfe lassen sich die Be­ schwerden mit einer Metallnosode lindern (z. B. Palladium-D30-Globuli, 2 × pro Wo­ che, maximal 6 Monate).

26

zz Autoimmunerkrankungen

Die Oberflächenstrukturen der Metalle ähneln körpereigenen Proteinen, z.  B. gibt es eine Ähnlichkeit zwischen Quecksilber und den antinukleären Antikörpern der Schilddrüse und zwischen Gold und der glomerulären Ba­ salmembran in der Niere. Eigenes Gewebe wird angegriffen. Diskutiert wird, ob Viruser­ krankungen wie Herpes-simplex-Infektionen oder Masern diese Immunfehlleistungen för­ dern (Fujinami et al. 2006). Bei diesen sehr ernsthaften Erkrankungen sollte das auslösende Metall sofort entfernt werden  – unter optimaler Absaugung und eventuellem Kortisonschutz. Danach ist eine Immunmodulation sinnvoll. zz Weitere Metallwirkungen

55 Elektromagnetische Effekte, 55 Stimulierung des Sympathikus durch Gold, 55 mögliche homöopathische Wirkungen, 55 belastende Zusatzstoffe zur besseren Ver­ arbeitung: Indium, Gallium etc., 55 Korrosion aller Legierungen (besonders bei Verwendung verschiedener Me­ talle – bis zum Bruch von Implantat­ schrauben), 55 Palladium hat auch eine toxische und im­ munsuppressive Komponente sowie eine Wirkung auf den Hormonhaushalt.

>> Viele Zahnärzte empfehlen aus diesen Gründen eine metallfreie Versorgung.

Nicht alle funktionell angenehmen Lösungen sind technisch ohne Metalleinsatz möglich. Die Empfehlung lautet daher, die Materialien individuell auszusuchen und bei Verdacht auf Unverträglichkeiten Biotests und Laborunter­ suchungen einzusetzen. Sinnvoll ist es, möglichst nur eine Legierung für die gesamte Restauration auszuwählen. Dafür eignen sich z. B. Bio-Hochgold-Legierun­ gen, Reintitan (grau) oder NEM-Legierungen. Letztere sind eine Art Chirurgiestahl und ver­ ursachen kaum Probleme. Sie sind zahntech­ nisch etwas schwieriger zu verarbeiten, werden

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E. M. Höller

Wegen der besseren Verarbeitungsmöglichkeit sind heute fast alle Composites lichthärtend. Probleme bereiten verarbeitungsverbessernde Zusatzstoffe und Haftvermittler. kBeispiele für Zusatzstoffe

26 ..      Abb. 26.20  Einseitige Teilprothese mit Riegelverankerung

aber auch aus Preisgründen in letzter Zeit häufi­ ger eingesetzt. kProblem der Verankerung von herausnehmbaren Prothesen an den Restzähnen (. Abb. 26.20)  

Die preiswerteste Lösung sind Metallklam­ mern, auch gibt es bereits elastische Kunst­ stoffklammern. Wesentlich angenehmer sind Schnappverschlüsse oder Geschiebe aus Me­ tall. Zirkonoxid-Geschiebe sind sehr klobig. Eine gute Lösung sind Doppelkronen aus Me­ tall oder einer Kombination aus Zirkonoxid und Spezialkunststoff. kVerblendungen mit Kunststoff oder Keramik

Diese ändern nichts an den Metalleffekten, sie stellen nur eine kosmetische Verbesse­ rung dar. 26.2.9  Metallfreie Möglichkeiten

Composite-Füllungen Es handelt sich um Methacrylat-Kunststoffe mit Füllkörpern zur Erhöhung der Stabilität. Füllkörper sind größere Kunststoffpoly­ mere, Quarz-, Glas- oder Keramikpartikel.

Härter wie Campherquinon und Peroxide, Photostabilisatoren, Weichmacher, Fluor ge­ gen Karies, Barium als Kontrastmittel, Farb­ stoffe wie Eisenoxid. Teilweise haben diese Zu­ satzstoffe toxisches Potenzial. Kunststoffe sind weniger stark toxisch als Amalgam, die Abgabe von zytotoxischen Stof­ fen dauert aber länger (etwa 7 Tage). Amal­ gambelastete vertragen Composites meist erst nach erfolgter Ausleitung (Glutathion-Ent­ giftungsschiene). In erster Linie können Kunststoffe als Allergene wirken  – sie sind umso gefährlicher, je kleiner und hydrophiler sie sind. Kunststoffe sind prinzipiell hydrophob. Um eine feste Haf­ tung am Dentin zu erzielen, wird mit Condi­ tionern versucht, die Dentinkanälchen offen zu halten. Auf diese große Oberfläche werden die Bondings aufgetragen – und damit flüssige, noch nicht abgebundene Monomere in direk­ ten Kontakt mit den Zellfortsätzen aus der Pulpa (und damit mit dem hochreaktiven Grundsystem) gebracht. Besonders gefährlich ist das kleine Como­ nomer HEMA (2-Hydroxyethylmethacrylat); es ähnelt der Struktur von Hexosen, ist hydro­ phil und gelangt in das Zellinnere. Ebenfalls hohes Allergiepotenzial hat TEGDMA (Trie­ thylenglykoldimethacrylat). Es gibt bereits erste Kunststoffe ohne HEMA und TEGDMA, aber ohne jegliches dünnflüssiges Monomer ist eine fest haftende Kunststoff-Füllung nicht möglich. Sehr tiefe Stellen sollten zum Pulpaschutz mit Zementen abgedeckt werden. >> Bonding sparsam verwenden, bei Provisorien nach Amalgam eventuell weglassen! Nicht einatmen!

Bei den schweren Basismonomeren weist Bis­ GMA (Bisphenolglycidylmethacrylat) eine ös­ trogenähnliche Wirkung auf.

635 Ganzheitliche Zahnheilkunde

kNachweis einer Sensibilisierung auf Methacrylate und Comonomere

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Keramik und Zirkonoxid

Zur Befestigung von manchen technischen Arbeiten werden Kleber gebraucht, die auch ohne Licht aushärten: Dualkleber. Diese haben eine sehr gute Haftfähigkeit und bringen bei der Befestigung der spröden Keramikarbeiten einen gewissen Elastizitätsausgleich. Chemisch ähneln sie den Bondings. Sie werden über das Glutathionsystem entgiftet und daher direkt nach einer Amalgamsanie­ rung oft nicht vertragen, sind nach einigen Monaten aber meist wieder einsetzbar.

Keramik wäre zwar gut verträglich, ist aber spröde und bruchanfällig. Dies gilt auch für Presskeramik und Spritzgussverfahren. Selten können Probleme mit Keramikfarben auftre­ ten (sie enthalten u. a. Cadmium, Eisen). Am stabilsten – aber nicht immer verträg­ lich – ist auf Metallgerüste aufgebrannte Ke­ ramik. Gute Erfahrungen liegen mit auf ei­ nem Zirkonoxidkern aufgebrannter Keramik vor  – damit sind auch große Brücken mög­ lich. Die Okklusion muss sehr genau einge­ stellt werden, sonst kann die Keramik abplat­ zen (Chipping). Zirkon ist chemisch gesehen ein Metall, doch bisher sind keine Wirkungen auf das Im­ munsystem bekannt. Yttriumstabilisiertes Zir­ konoxid wird fast immer vertragen, obwohl Yttrium eigentlich toxisch ist. Aluminiumsta­ bilisiertes Zirkonoxid verursacht manchmal Schwierigkeiten. Laborgefertigte Zirkonoxidvarianten sind sehr passgenau, aus Blöcken gefräste nicht ganz so exakt. Reines, unverblendetes Zirkon­ oxid ist sehr hart und nur in einer weiß-opa­ ken Farbe erhältlich. Die manchmal kritisierte Radioaktivität liegt unter der normalen Um­ weltstrahlung und ist vernachlässigbar. Die Hersteller empfehlen, Keramikarbeiten mit Dualklebern zu befestigen, da deren Elasti­ zität einen Bruchschutz darstellt. Die Befesti­ gung von Inlays ist anders nicht möglich. Bei Kronen kann bei hochsensiblen Patienten auf Phosphatzement ausgewichen werden, der fast immer gut verträglich ist.

kUnterfüllungen zum Pulpaschutz

kZirkonoxidimplantate

LTT-Test (7 Abschn. 26.2.8.2). Am stärksten be­ troffen sind durch den häufigen Kontakt Zahn­ ärzte und Assistentinnen. Symptome sind Ek­ zeme, Gelenk- und Kopfschmerzen, spastische Bronchitis. Es handelt sich um eine Typ ISensibilisierung. Labornachweis: Basophilen-­ Degranulationstest. Bei Patienten wird am häu­ figsten eine länger anhaltende Hypersensibilität an Zähnen beobachtet, obwohl die Füllungen nicht sehr tief reichen. Manchmal kommt es auch zum Absterben der Pulpa. Helfen können homöopathische Ausleitmittel (Lebermittel).  

>> Kunststoffe möglichst restlos durchhärten! In Schichten verlegen, leistungsstarke Polymerisationslampen verwenden!

Als problematisch ist die prophylaktische Fissurenversiegelung mit ultradünnflüssigen Kunststoffen bei Kindern anzusehen.

Kunststoffhaltige Befestigungszemente

55 Phosphatzement muss einige Minuten härten und ist sauer. 55 Kalziumhydroxid ist basisch, enthält aber nicht immer verträgliche Härter. 55 Neue Entwicklung: Di- und Trikalzium­ silikat (Biodentine). 55 Mit diesen Materialien lässt sich eine Schutzschicht gegen Monomere errichten, dies bedeutet aber einen größeren Zeitauf­ wand und vermindert die Haftung der Füllung.

Diese heilen nicht in festem Knochen ein, son­ dern in straffem Bindegewebe. Die Verlustrate liegt höher als bei Titanimplantaten, weshalb viele Chirurgen nur mit Titansystemen arbei­ ten. Prinzipiell kommen immer mehr Implan­ tatformen und auch Aufbauteile aus Zirkon­ oxid auf den Markt, eine endgültige Beurteilung ist noch nicht möglich. Sorgen bereitet aber die extreme Härte des Materials, die für Kiefer­ knochen und Kiefergelenk möglicherweise eine Belastung darstellt.

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Prothetikkunststoffe Es handelt sich ebenfalls um Methacrylate, die aber nicht in Kontakt mit der Pulpa kommen. In seltenen Fällen kann es über die Mund­ schleimhaut Allergien auf den Monomeran­ teil oder auf den roten Farbstoff geben. Manchmal ist auch die Polymerisation nicht vollständig abgeschlossen. Es kann helfen, die Prothese einige Stunden in 60 °C heißem Wasser (möglichst in einem Drucktopf) nach­ zuhärten.

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kSymptome bei Allergie

Mundbrennen, Geschmacksirritation. >> Achtung: Ähnliche Symptome zeigen sich durch Leberbelastung mit Wohngiften, neuen Medikamenten u. ä. – Ausleitmittel versuchen!

kAlternativen zu Methacrylaten im Fall einer Allergie (LTT-Test, evtl. Epikutantest)

55 Vinylpolymerisat Luxene – es kann aller­ dings nur im Labor adaptiert werden. 55 Für Patienten mit Metallproblemen: Poly­ ether-Etherketon PEEK oder Polyamid/ Nylon (z. B.Valplast). Daraus können eine leicht elastische Prothese und auch Klammern hergestellt werden, auch für den Außenteil von Doppelkronen ist es geeignet. Das elastische Material steht in Verdacht, zu stärkerem Kieferkammab­ bau zu führen. Änderungen sind eben­ falls nur im Labor möglich. Sie enthalten kein Methacrylat und geben kaum Mono­ mer ab. kDie Rolle des zahntechnischen Labors

Bei technischen Arbeiten hängt die Qualität von der sorgfältigen Verarbeitung der Aus­ gangsstoffe ab. Verunreinigungen der Legie­ rungen oder Lunker und Risse in Metallen ver­ schlechtern die Verträglichkeit erheblich. Es muss auch Verlass darauf sein, dass die Labors die ausgetesteten teuren Materialien und die zugehörigen Hilfsmittel (Speziallote, Einbett­ massen etc.) tatsächlich verwenden. Labors sollten neue Technologien kennen, z. B. Laser

statt Löttechnik einsetzen. Qualitätsansprüche verursachen hohe Kosten, die sich aber lang­ fristig rentieren. 26.2.10  Fallbeispiel

Patientin, 53 Jahre, ständig müde, infektanfäl­ lig und mit Ausschlägen an den Streckseiten der Extremitäten. kAnamnese

Die konventionell-medizinische Durchunter­ suchung war unauffällig, Blutbild, Allergielabor und diverse Infektionsnachweise erbrachten keine Hinweise. Der Allgemeinmediziner stellte die Verdachtsdiagnose ­Amalgambelastung, die Patientin weist 12 mittlere Amalgamfüllungen auf. kDiagnostik

Im Testverfahren Armlängenreflex (Physio­ energetik) werden die wichtigsten homöopa­ thischen Suchampullen nach DDr. Schimmel (Elektroakupunktur) sowie zahnspezifische Ampullen (Fa. Stauffen oder Eigenanfertigun­ gen aus aktuellen Materialien) durchgecheckt: 55 Mineralstoff- und Fettsäuremangel, Dick­ darm- und Dünndarmdysbiose, 55 Silberamalgam D8 und D30. Composites und Dualkleber. 55 Therapielokalisationen (Akupunkturzo­ nen): 55Dünndarm, Dickdarm, Leber, Aus­ schläge, Vegetativum 2 (Ohrpunkt, Müdigkeit), Thymus (zelluläre Abwehr), 55alle sind aufhebbar durch Amalgam, was den Zusammenhang beweist. kTherapie

Die Dünndarmdysbiose hat Priorität und be­ stimmt den Therapieablauf: 55 Symbioselenkung mit Darmkeimmischun­ gen nach Test, 55 gleichzeitig Vitalstoffsubstitution – begin­ nend mit Zink und Leinöl, 55 Ausleitung, zuerst mit Lymphdiaral – Prä­ paratewechsel alle 4 Wochen.

637 Ganzheitliche Zahnheilkunde

kErgebnis

Nach 3 Monaten ist die Patientin symptomfrei, ihr Zustand ist nun stabil genug, um schritt­ weise und unter anhaltender Ausleitung (mit Grünalgen und Lymphmittel) die Amalgam­ füllungen auszutauschen. Composites sind mittlerweile verträglich und können daher als Amalgamersatz Verwendung finden. 26.2.11  Studien/Evidenzlage zz Applied Kinesiology und Laborbefunde im Vergleich: Studie von Riedl-­ Hohenberger und Kraler (2012, 2015)

55 Inhalt: Metallunverträglichkeiten in kine­ siologischem Test und Labordiagnostik, 55 Patientengruppen: Gesunde Patienten vor Einbringung neuer Materialien und Pati­ enten mit Symptomen, die vermutlich durch Metalle verursacht werden, 55 kinesiologischer Test mit Mundproben in Originalverarbeitung sowie homöopa­ thisch potenzierten Materialien, 55 Labor: DMPS-Test, Lymphozytentransfor­ mationstest, Effektorzelltypisierung, Baso­ philendegranulationstest, Titanstimulie­ rung. kÜbereinstimmung Applied Kinesiology und Labor

55 Toxische Belastung: 77,6 %, 55 Materialien gesamt: 87,4 %, 55 Materialien ohne Titan; 91,8 %. kSchlussfolgerung

Bei der Diagnostik der Immunstimulierung durch Titanpartikel wird der Labortest emp­ fohlen, für alle anderen Metallprobleme er­ wies sich der kinesiologische Test als sehr ver­ lässlich. kAnmerkung

Für Studien wäre die Organisation eines Kli­ nikbetriebes hilfreich, Komplementärmedi­ zin wird aber hauptsächlich in Praxen betrie­ ben  – Studien sind daher relativ selten. Fallberichte ohne wissenschaftliche Aufarbei­

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tung werden regelmäßig in ZahnMedizin­ Technik veröffentlicht, ebenso bei der IMAK haben in ihrer Gesellschaftszeitschrift (MJAK). 26.2.12  Ausbildung

Das Ausbildungscurriculum der österreichi­ schen Zahnärztekammer wurde von Zahnärz­ ten entwickelt, die selbst Erfahrungen mit ver­ schiedenen Test- und Therapieverfahren gesammelt hatten. Der Zahnärztliche Interessenverband hat zuerst Ausbildungsserien für Ärzte und Zahn­ ärzte veranstaltet, später Kompaktkurse für Zahnärzte. Diese Seminare haben jeweils ein Diagnoseverfahren und mehrere Therapieme­ thoden vermittelt. Derzeit werden eigene Zahnarztausbildun­ gen angeboten von der IMAK (Ärztegesell­ schaft für Myofunktionelle Diagnostik. Ap­ plied Kinesiology). Kurse zu Therapieverfahren gibt es vom Zahnärztlichen Interessenverband oder den jeweiligen Fachgesellschaften (Ho­ möopathie, Bachblüten, Orthomolekularme­ dizin, Phytotherapie, Neuraltherapie, Aku­ punktur. Osteopathie etc.). Die Ausbildung umfasst 160 Stunden The­ orie, wobei spezielle Themen wie Amalgam­ problematik oder Herdsuche explizit erfasst sein müssen, und 40 Stunden Praxis (Hospita­ tion, Intensivkurse in Praxen). Den Abschluss bildet eine Prüfung (Multiple-Choice-Test und Praxisteil). Derzeit haben etwa 70 Kollegen in ganz Ös­ terreich das Zahnärztekammerdiplom für Komplementärverfahren in der Zahnheil­ kunde erworben  – Adressen können bei der Österreichischen Zahnärztekammer angefor­ dert werden. Von gut 10  % der Zahnärzte wurden mehrere Kurse zu diesem Thema besucht, so gut wie alle haben sich zumindest über Fach­ zeitschriften und bei Kongressen damit be­ fasst. Das Ziel ist es, bei Zahnärzten, Allge­ meinärzten und Patienten das Bewusstsein

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für die Problematik zu schärfen. Damit soll der Leidensweg von Betroffenen abgekürzt werden, und nach Möglichkeit sollen Pro­ bleme bereits vor dem Einsatz eines unver­ träglichen Materials erkannt sowie mög­ lichst problemarme Werkstoffkombinationen entwickelt werden. Für umfassende Therapien bedarf es der Zusammenarbeit mit anderen Ärzten, wobei es sich sehr bewährt, auf ein gemeinsames Dia­ gnostikverfahren zurückgreifen zu können.

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zz Adressen/Links

Österreichische Zahnärztekammer (ÖZÄK) Kohlmarkt 11/6 A-1010 Wien [email protected] 7 http://www.­zahnaerztekammer.­at/  

Zusammenfassung 55 Alle Entzündungen im Körper verändern das Zytokinbild. Aus dem Kieferbereich tragen chronische Entzündungen, Parodontalerkrankungen und Sensibilisierungen auf Werkstoffe ihren Teil bei. 55 Folgen sind generalisierte entzündliche Erkrankungen wie Rheuma, Arteriosklerose oder Diabetes – und Entzündungen machen alt (Inflammaging). 55 Zahnärzte können und müssen mithelfen, möglichst viele Entzündungsauslöser aufzuspüren und zu beseitigen. 55 Ganzheitliche Zahnheilkunde ist keine eigenständige Komplementärmethode. 55 Das Fachgebiet hat einen hohen handwerklich-technischen Anteil, daher ist die Bedeutung der Werkstoffe so groß. Ein Teil der Werkstoffe kommt tief im Knochen zum Einsatz, etwa Wurzelfüllmaterialien, Knochenersatzmaterialien und Implantate – teilweise reichen diese dann auch direkt in die Mundhöhle, also in einen keineswegs sterilen Bereich. 55 Für das Aufspüren der möglichen Störfaktoren wird unbedingt ein Biotestverfahren benötigt. Ideal ist die Zusammenarbeit mit anderen Ärzten und Heilberuflern, die mit demselben Testsystem arbeiten.

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639 Ganzheitliche Zahnheilkunde

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641

Grundinformation zur ­medizinischen Anwendung von Ozon Walter Pleyer und Renate Thiele 27.1

Was ist Ozon? – 643

27.2

Wie entsteht Ozon? – 643

27.3

Ozon als Heilmittel – 644

27.4

Entwicklung der Ozontherapie (Chronologie) – 644

27.5

Wie wirkt Ozon als Heilmittel? – 646

27.6

Anwendungsarten – 648

27.6.1 27.6.2 27.6.3 27.6.4 27.6.5 27.6.6 27.6.7 27.6.8 27.6.9

T ropfinfusion NaCl + Ozon – 649 Große Eigenblutbehandlung mit Ozon – 650 Kleine Eigenblutbehandlung mit Ozon – 651 Ozoninjektion – 652 Ozon-Darmbegasung – 652 Haut- und Wundbegasung mit Ozon – 653 Wasserozonisierung – 655 Olivenöl + Ozon – 655 Ozonnukleolyse bei Bandscheibenvorfall – 655

27.7

Indikationen für die Ozontherapie – 656

27.8

Kontraindikationen für die Ozontherapie – 656

27.9

Fallberichte – 657

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_27

27

27.10 Studien/Evidenzlage – 661 27.10.1 S tudien – 661 27.10.2 Wissenschaftliche Vorträge – 663

27.11 Ausbildung – 664 Literatur – 665

643 Grundinformation zur medizinischen Anwendung von Ozon

27.1  Was ist Ozon?

Ozon (O3) ist ein dreiatomiges Sauerstoffmolekül (. Abb. 27.1), das sehr reaktionsfreudig ist. Es löst sich ca. 15-mal schneller in Körperflüssigkeiten (z.  B.  Blut) als Sauerstoff. Die dreiwertige Sauerstoffverbindung ist ein instabiles Molekül, das temperaturempfindlicher ist als O2 und bei 20  °C eine Halbwertszeit von ca. 45 Minuten hat. Aus einem O3-Molekül entstehen unter Energiefreisetzung (142 kJ/Mol) ein O2-­Molekül und ein freies Sauerstoffatom (Radikal). Aus 2 Ozonmolekülen können durch Zerfall 3 Sauerstoffmoleküle entstehen, aus 3  Ozonmolekülen 4 Sauerstoffmoleküle und ein freies Radikal. Das freie Sauerstoffatom versucht sofort, einen Reaktionspartner zu finden. Ist kein zweites Sauerstoffatom vorhanden, reagiert es mit einem anderen Stoff (und oxidiert diesen). Dies ist der Grund, dass sich ein freies Sauerstoffradikal sogar positiv auswirken kann, weil es auch mit Stoffen reagieren kann, die entsorgt werden sollten (z.  B. in der Wasseraufbereitung). Die Lebensdauer eines Ozonmoleküls ist, abgesehen von der Temperatur, auch abhängig von der Anwesenheit chemischer Reaktionspartner. Nach Fluor ist es das stärkste bekannte Oxidationsmittel, das auch viele Metalle, nicht aber Edelmetalle oxidiert.  

27.2  Wie entsteht Ozon?

Ein Sauerstoffmolekül kann unter Energiezufuhr gespalten werden. Die freien Sauerstoffatome versuchen, sich sofort wieder mit einem ..      Abb. 27.1 Sauerstoffatom, Sauerstoffmolekül und Ozonmolekül. (© Erik Thiele)

Sauerstoffatom O

27

Partner zu verbinden. Also liegt es nahe, dass das freie Sauerstoffradikal an einem O2-­ Molekül andockt, wodurch ein Ozonmolekül (O3) entsteht. In der Atmosphäre wird bei elektrischer Entladung (Gewitter) sehr viel Energie frei, welche u.  a. bewirkt, dass Sauerstoffmoleküle gespalten werden. Ein Teil der entstandenen freien Sauerstoffradikale koppelt sich an O2, und dadurch entsteht O3. Sauerstoffradikale können auch Verbindungen mit anderen Stoffen (z.  B.  Stickstoffdioxid, NO2) eingehen. Auch durch die Sonnenergie (UV-C-Strahlung mit einer Wellenlänge von 242 nm) entsteht in der Stratosphäre Ozon. Es ist ein Wechselspiel zwischen Angebot und Nachfrage, mit welchen Stoffen freie Sauerstoffatome reagieren (. Abb. 27.2).  

Wirkung von Ozon

..      Abb. 27.2  Entstehung und Wirkung von Ozon. 1 Sauerstoffmolekül, 2 Sauerstoffmolekül wird elektrisch gespalten, 3 Sauerstoffatome bilden O3, 4 Ozon gibt ein Sauerstoffatom ab und wirkt durch Oxidation. (© Erik Thiele)

Sauerstoffmolekül O2

Ozonmolekül O3

644

W. Pleyer und R. Thiele

27.3  Ozon als Heilmittel

k1896

Nicola Tesla entwickelte den ersten OzongeneUm die beschriebenen Effekte auch therapeu- rator zur Herstellung von ozonversetztem Olitisch nutzen zu können, wird Medizinal-­ venöl und ebenfalls zur Atemtherapie. Sauerstoff durch stille elektrische Entladung in einem geschlossenen System mit 4000  V be- k1916/1917 einflusst. Der tatsächliche Ozonanteil in die- Albert Wolff (Berlin), aber auch Ärzte in Engsem Sauerstoff-Ozon-Gemisch liegt je nach land versuchten, entzündete und schwer heiEinstellung am Ozongerät zwischen 0,01  % lende Wunden (Kriegsverletzungen) mit Ozon zu begasen. Dabei wurden allerdings auch Verund maximal 5 %. Bei korrekter Anwendung durch geschulte ätzungen beobachtet (Stickstoff aus der Luft). und verantwortungsbewusste Therapeuten ist Von da an war klar, dass Ozon für die medizidiese Therapie nebenwirkungsfrei und ohne nische Verwendung nur mit reinem Medizinal-Sauerstoff hergestellt werden darf. Umweltbelastung.

27

27.4  Entwicklung der Ozonthera-

pie (Chronologie)

k1783

Martin v. Marum (Chemiker) nahm beim Durchschlagen von Funken einen eigenartigen Geruch war. k1839

Christian Friedrich Schönbein (Chemiker und Physiker) bemerkte bei der Elektrolyse von Wasser ein eigentümlich riechendes Gas  – er nannte es Ozon. Der Deutsche Justus v. Liebig war einer der ersten Chemiker, die erkannten, dass Ozon ein modifizierter Sauerstoff ist. k1857

Werner v. Siemens baute eine gläserne Induktionsröhre mit dem Ziel, durch stille elektrische Entladung die Luft zu reinigen und ihren Geruch zu neutralisieren. In den folgenden Jahren wurde erkannt, dass Ozon eine desinfizierende Eigenschaft besitzt. Krankenzimmer und Operationsräume wurden damit keimfrei gemacht. Der Zufall zeigte, dass Kinder mit Keuchhusten, die in mit Ozon desinfizierten Krankenzimmern lagen, schneller gesund wurden. Daraufhin wurden in Europa und den USA Kinder mit Keuchhusten durch Ozoninhalationen erfolgreich behandelt.

k1933

Der Züricher Zahnarzt Fisch führte Ozon in die Zahlheilkunde zur Behandlung infizierter Wundhöhlen und von Parodontose ein. Einer seiner Patienten war Prof. Erwin Payr aus Leipzig. k1935

Am 26. 4. 1935, bei der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie in Berlin, berichtete der Ordinarius für Chirurgie der Universitätsklinik Leipzig, Prof. Payr, von seiner Erfahrung mit dem Einsatz von Ozon. Durch Ozon sei es gelungen, postoperative Infektionen zu verhindern. Die Ozonanwendung erfolgte durch rektale Insufflation. In weiterer Folge seiner wissenschaftlichen Studien mit Ozon wurde der legendäre Ausspruch „was Sauerstoff nicht kann  – vermag Ozon“ geprägt. Erwin Payr erkannte auch die durchblutungsfördernde Wirkung und den Einfluss von Ozon auf das Hämoglobin. Für den täglichen Einsatz war die Ozonherstellung sehr mühsam und kostenintensiv. Dazu kamen Probleme mit flexiblen Leitungen und Dichtungen, welche zu dieser Zeit aus Gummi bestanden, der unter Ozoneinfluss ständig porös wurde. Demgegenüber war die Verabreichung und Vorratshaltung von neu auf den Markt kommenden Antibiotika, wie das Sulfona­ mid Prontosil (Sulfamidochrysoidin) und spä­ ter Penicillin, einfacher, sodass die Anwendung von Ozon verdrängt, aber nicht vergessen wurde.

645 Grundinformation zur medizinischen Anwendung von Ozon

k1934/1935

Eine französische Gruppe unter Aubourg (Chirurg/Paris) und Lacoste kam zu ähnlichen Ergebnissen wie Payr. k1956

Wenning zeigte in vitro die Wirkung von Ozon auf das Blut und dessen Fähigkeit, die Aggregation von Erythrozyten („Geldrollenbildung“) aufzulösen bzw. zu verhindern.

27

reichung durch Injektionen in die Vene oder in die Arterie wurde aufgrund von Komplikationen obsolet. Diese Zwischenfälle waren es, die der Ozontherapie vor Jahren ungerechtfertigt den Ruf „gut in der Wirkung, aber gefährlich in der Anwendung“ einbrachten. k1969

Ozonnukleolyse bei lumbalen Bandscheibenvorfällen in Italien.

k1957

k1974

Der deutsche Radiotechniker und Physiker Dipl.-Ing. Dr. Joachim Hänsler baute, dank des inzwischen erfundenen Kunststoffs, ein Ozongerät mit guter Beständigkeit und patentierte den ersten Ozongenerator mit Dosiermöglichkeit des O2/O3-Gemischs.

Ottokar Rokitansky (Chirurg, Wien; normobare Ozontherapie) und Josef Washüttl (Biochemiker, Wien) konnten den Wirkmechanismus von Ozon durch Peroxidbildung an der Zellmembran nachweisen.

k1958

Prof. S. Peretjagin entwickelt die NaCl-Ozon-­ Methode in Nishnij Nowgorod.

Hans H. Wolff (Chirurg, Frankfurt) gilt als Reformer der Ozontherapie. Ihm ist es zuzuschreiben, dass die Ozontherapie neuen Aufschwung bekam. Zu Beginn seiner Ozonanwendungen standen die Behandlungen von schwer heilenden Wunden nach Amputationen, Unterschenkelgeschwüren etc. im Vordergrund. Nach und nach, mit zunehmender Erfahrung und dem von Erwin Payr und anderen Autoren bekannten Ergebnissen, wurden die Ozonanwendungen auf unterschiedliche Krankheiten erweitert. Erfolgten anfangs die Behandlungen vorwiegend durch Wundbegasung, Darmbegasung und Ozoninjektionen, so hat sich dies im Lauf der Zeit erweitert. k1959

Dr. H. Albers erbrachte den Nachweis, dass das in das Blut injiziertes Ozon selektiv die Doppelbindungen in ungesättigten Fettsäuren angreift. k1968

Nach mehrmaligen Veränderungen der Methodik veröffentlichte Hans H. Wolff die Methode, Blut außerhalb des Körpers mit Ozon anzureichern, und nannte dies die große Eigenblutbehandlung (GEB) mit Ozon. Die Ozongasverab-

k1977

k1981

Ziad Fahmy (Bad Kreuznach): erste erfolgreiche Anwendung von intraartikulären Ozoninfiltrationen bei rheumatischen Erkrankungen. k1990

V. Bocci, S. Menendez und O. Leon entdeckten Ozon als Second-Messenger-Molekül, welches zum Anstieg von Antioxidanzien in der Zelle führt. k1996

S. Peretjagin (Russland): Vorstellung der NaCl-­ Ozon-­Methode in Österreich. k1998

V. Bocci (Siena/Italien) und M. Sagai (Japan) gelang der Nachweis bezüglich der Induktion von Zytokinen durch Low-dose-Ozon­ therapie. k1998

G. A. Bojaninow und Mitarbeiter: Analysenergebnisse der potenziellen Reaktionen von Ozon mit NaCl in Wasser.

646

W. Pleyer und R. Thiele

k2002

Abgabe des Sauerstoffs an das Gewebe Karl Palk ermöglichte durch Kontaktaufnahme durch vermehrte Bildung von 2,3-BPG (2,3-Bis­ mit Prof. Peretjagin in Österreich die NaCl-­ phosphoglycerat, syn. Biphosphoglycerat BPG) Sauerstoff-­Ozontherapie. (Washüttl 1985) und das Verhindern der „Geldrollenbildung“ sowie eine gute Grundregulation nach Pischinger im extrazellulären k2010 Europäisch-Asiatische Konferenz in Madrid, Raum (7 Kap. 8). Ein weiterer wichtiger Effekt des Ozons Schulterschluss der intravenösen Methoden ist der dosierte oxidative Stress, der u.  a. zu (große Eigenblut- und NaCl-Ozon-Methode). einer besseren antioxidativen Bestückung der Erythroblasten im Knochenmark mit Katalak2012 sen, Superoxiddismutasen, Glutathion etc. Entwicklung der europäischen Guidelines führt. für das Low-dose-ozone-Konzept durch R. Vie­ So ist die Zelle z. B. bei starker oxidativer bahn-Hänsler, O.  S.  León Fernández und Belastung wie einer Chemotherapie durch die Z. Fahmy (Viebahn-Hänsler et al. 2012) bessere antioxidative Kapazität mehr geschützt als ohne Vorbereitung mit Ozon. k2013 Der Effekt kann mit einer Impfung vergliEmpfohlene praktische Richtlinien (Guideli- chen werden. Ein schwacher Reiz zur rechten nes) des Ukrainischen Ministeriums für Ge- Zeit ist eine protektive Möglichkeit bei Bedarf sundheit für die Methoden der Ozontherapie, im Ernstfall. insbesondere die NaCl-Ozon-Methode wurde Die Liste der Ozonwirkungen ist lang: in Österreich übernommen.  

27

Ozonwirkungen 27.5  Wie wirkt Ozon als

Heilmittel?

Medizinisches Ozon ist ein biologischer Wirkstoff, er hat eine kurze Halbwertszeit (in der er wieder in die Ausgangsstoffe O2 und freie Sauerstoffatome zerfällt) und darf daher erst kurz vor der Anwendung hergestellt werden. zz Wirkmechanismen

Die Erythrozyten sind als die Sauerstoffträger im Blut primärer Reaktionspartner von Ozon. Sie enthalten den roten Blutfarbstoff Hämoglobin, der aus 4  Proteinuntereinheiten mit jeweils einer eisenhaltigen Häm-Gruppe (Tetrapyrrolring) besteht. Der Sauerstofftransport erfolgt durch Anlagerung an das zentrale Eisenion in der Häm-Gruppe. Ein Hämoglobinmolekül kann somit maximal 4 Moleküle Sauerstoff transportieren. Für die Sauerstoffversorgung ist aber nicht nur eine hohe Sauerstoffbindung an Hämolgobin ausschlaggebend, sondern auch die gute

55 Veränderung des anaeroben Milieus in Richtung aerob 55 Inaktivierung von Bakterien: ȤȤ Eine Oxidationsreaktion an der Bakterienmembran durch freie Radikale führt zur Störung der Zellpermeabilität und zum Zelluntergang bzw. zur Phagozytoseaktivierung ȤȤ Peroxide führen intrazellulär aufgrund der fehlenden antioxidativen Kapazität zum Zelltod ȤȤ Anaerobe Bakterien haben eine niedrige Sauerstofftoleranz 55 Inaktivierung von Viren: ȤȤ Extrazellulär: Oxidation und Blockierung der Virus-Spikes führen zur Abnahme der Infektiosität, indem das Virus nicht mehr am Zellrezeptor andocken kann ȤȤ Intrazellulär: Die Einschleusung von Peroxiden führt aufgrund der Peroxidintoleranz der Viren zur Zerstörung bzw. Phagozytoseaktivierung

647 Grundinformation zur medizinischen Anwendung von Ozon

55 Inaktivierung von Pilzen 55 Erhöhung der arteriovenösen O2-­Differenz: ȤȤ Vermehrte Bildung von 2,3-DPG im Erythrozyten („begabte“ Erythrozyten, . Abb. 27.3) ȤȤ Die Sauerstoffaffinität des Hämoglobins wird verringert ȤȤ Die Abgabe von Sauerstoff wird auch bei niedrigem Partialdruck möglich 55 Verbesserung der Mikrozirkulation bzw. der Fließeigenschaften des Blutes: ȤȤ Die Negativladung der Erythrozytenoberfläche durch ein überschüssiges Elektron bewirkt die Abstoßung der Erythrozyten untereinander und infolgedessen ein Anti-Sludge-Phänomen 55 Reperfusion nach vorübergehender Ischämie (I/R injury) 55 Verbesserung des Zellstoffwechsels, vermehrte Bildung von ATP 55 Oxidativer Stress in subtiler Dosierung auf Basis des Criegee-Mechanismus (Ozonolyse): ȤȤ Aufgrund seines Dipolcharakters hat Ozon ein selektives Reaktionsverhalten, in erster Linie wird es von SH-Gruppen reduziert (Glutathion) ȤȤ Es reagiert bevorzugt mit isolierten Doppelbindungen ungesättigter Fettsäuren ȤȤ Die Ozonolyse führt über instabile Ozonoide zu nichtradikalischen, peroxidischen Verbindungen wie Hydroxy-­Hydroperoxide, die als LOP (Ozon-Lipo-Peroxide) das weitere Reaktionsgeschehen bestimmen, wie die Aktivierung von Nrf2 oder die NO-­Bildung im Endothel oder die modulierte Produktion und Aktivierung von Zytokinen (. Abb. 27.3, 27.4) 55 Analgetische Wirkkomponente durch Aktivierung der Adenosin-Rezeptoren, bei lokaler Infiltration entsprechend  



27

dem Mechanismus der Akupunktur bzw. Neuraltherapie 55 Oxidation mit ungesättigten Fettsäuren z. B. von Cholesterin und Triglyzeriden 55 Onkologie: Ozon reduziert/verstärkt die Strahlendosis, da Sauerstoff einen radiosensibilisierenden Effekt (Sauerstoffverstärkungsfaktor) hat. Das heißt, unter hypoxischen Bedingungen wird eine um den Faktor 2–3 höhere Strahlendosis gebraucht als unter normoxischen Verhältnissen (Krenz 2007) 55 Rheumatische Erkrankungen: ȤȤ Nach Prof. Z. Fahmy gibt es nicht nur einen direkten Zusammenhang zwischen Hypoxie und Schmerz, sondern auch zwischen dem Schmerzausmaß im Bereich der Tenderpoints und dem Serotoninspiegel: je niedriger der Serotoninspiegel, desto höher das Schmerzempfinden ȤȤ Ozon in systemischer Verabreichung verbessert nicht nur allgemein das Redoxpotenzial z. B. Steigerung der Superoxiddismutasen (SOD) in Zellen und Gefäßen, das Immunsystem durch Erhöhung z. B. des körpereigenen Interferon-β, sondern auch den Schmerz u. a. durch Anstieg des Serotoningehalts im Gewebe (Fahmy 2014) (. Abb. 27.4) ȤȤ Zudem supprimiert Ozon intrazellulär NfκB (nuclear factor ‚kappa-lightchain-­enhancer‘ of activated B-cells) sowie im entzündeten Gewebe Interleukin-1 und TNF-α (Tumornekrosefaktor-α), welche eine entscheidende Rolle im rheumatisch-­ entzündlichen Prozess spielen, wie Aktivierung der Makrophagen, Bildung des synovialen Pannus durch die Fibroblasten und Zerstörung des Knorpels und Knochens bei rheumatoidem Gelenkbefall  

648

W. Pleyer und R. Thiele

. Abb.  27.3 und  27.4 zeigen die Reaktion der Zelle auf die Peroxide: Ozon-Lipo-­ Peroxide führen zu einem intrazellulären Anstieg der Antioxidanzien wie Glutathion, Katalasen und Superoxiddismutasen.  

27

55 Bandscheibenvorfall: Rückbildung bzw. Volumenminderung durch hohe Wasserbindungskapazität des Ozons 55 Diabetes (Filippi 2001; Fathi et al. 2012): ȤȤ Anstieg der antioxidativen Kapazität ȤȤ Abnahme der Proteinglykierungsprodukte (advanced glycation endproducts, AGE) ȤȤ Verbesserung der Inselzellstruktur (histologischer Nachweis León Fernández 2014) ȤȤ Weniger Hyperglykämien (León Fernández 2014) 55 Gicht: Ozon oxidiert Harnsäure zu Allantoin 55 Chronisch-obstruktive Lungenerkrankung (COPD): Reduktion der Infektexa­ zerbationen, Modulation des Immunsystems durch Peroxide, Erhöhung von 2,3-BPG und in Folge bessere Sauerstoffversorgung und Anstieg der antioxidativen Kapazität, Bronchodilatation

27.6  Anwendungsarten

Die Verabreichung von Ozon kann in unterschiedlichen Anwendungsformen erfolgen. Die Entscheidung für eine Monotherapie oder eine kombinierte Variante der Ozontherapie wird weitgehend durch die vorliegende Indikation bestimmt. Die Überlegung, wo die Hauptwirkung sein soll und wie der Wirkstoff Ozon im Organismus auch dorthin gebracht werden kann, ist entscheidend und obliegt dem erfahrenen Ozontherapeuten. Bei intravenöser Anwendung ist die Wirkung für den gesamten Organismus systemisch und damit besser. Bei topischer Anwendung (Balsam, Öl etc.) ist vorwiegend eine haut- und wundbezogene Reaktion zu erwarten.

O

OH

OH Ozonperoxid

CH R

Begabte Ery G-6P-DH GSH

Sauerstoffabgabe Sauerstoffverfügbarkeit

Nrf2

Leukozyten NFκB

Immunmodulation

..      Abb. 27.3  Ozonwirkung durch Peroxidbildung. Anstieg „begabter“ Erythrozyten, Immunmodulation durch Supprimierung des Transkriptionsfaktors NfκB (nuclear factor ‚kappa-light-chain-enhancer‘ of activated B-cells), Nrf2 (nuclear factor [erythroid-derived 2]-like 2)

GSH

Zelluläre Redoxregulation

gelangt in den Zellkern und aktiviert die Produktion von ARE (antioxidative response elements). G-6P-DH Glukose-6-phosphat-­Dehydrogenase, GSH Glutathion. (Dr. R. Viebahn-Hänsler und Prof. Z. Fahmy, mit freundlicher Genehmigung)

649 Grundinformation zur medizinischen Anwendung von Ozon

..      Abb. 27.4 Modulierte Produktion von Zytokinen und infolgedessen Verbesserung der Immunabwehr bzw. Regulation unkontrollierter Entzündungen wie multiple Sklerose, rheumatoide Arthritis, Alzheimer-Erkrankung, vaskuläre Ereignisse. (Dr. R. Viebahn-Hänsler und Prof. Z. Fahmy, mit freundlicher Genehmigung)

27

OZON

Physiologische Freisetzung des körpereigenen Interferon-β

Freisetzung von Transforming Growth Faktor β aus Makrophagen und Thrombozyten

Aktivierung der Superoxiddismutasen SOD

27.6.1  Tropfinfusion NaCl + Ozon

250  ml einer physiologischen Kochsalzlösung (0,9 %) werden in der Dauer von ± 8–11 Minuten mit Ozon in einer bestimmten Konzentration (die der Indikation entspricht) durchflutet. Dadurch wird die NaCl-Lösung mit einer bestimmten Menge Ozon beladen. Die angereicherte Kochsalzlösung ist unmittelbar nach Beendigung der Durchflutung zu infundieren. Diese Methode wurde 1977 in Russland entwickelt und 1996 erstmals in Österreich präsentiert (. Abb. 27.5).  

kVorteile dieser Ozonbehandlung

Ozon gelangt in der NaCl-Lösung als freies Molekül in das venöse Blut, wo es mit den Erythrozyten reagiert (Hämoglobin). Die Behandlung ist gut verträglich, schmerzfrei, und es bedarf nur einer dünnen Venennadel (0,8 mm). Bezüglich der Hygiene und der Therapiesicherheit gilt diese intravenöse Ozontherapie als unbedenklich. kHinweise

Die mit Ozon angereicherte Lösung ist wegen der kurzen Halbwertszeit von Ozon in der Kochsalzlösung (30  Minuten) unmittelbar nach dem Anreicherungsvorgang zu infundieren. Es soll kein sonstiger Wirkstoff in

die mit Ozon angereicherte NaCl-Lösung gegeben werden, denn dies könnte einen Wirkverlust bedeuten. Andere Wirkstoffe, die ergänzend gegeben werden können, sind besser nach der Ozon-Tropfinfusion zu verabreichen, z.  B. als Kurzinfusion in 100  ml einer 0,9 %igen NaCl-­Lösung. Ferner ist da­ rauf zu achten, dass die Ozon-Tropfinfusion mit geschlossenem Belüftungsfilter durchgeführt wird. Während die mit Ozon angereicherte Lösung infundiert wird, bleibt die Ent­ lüftungsleitung zum Destruktor ange­ schlossen. >> Es soll keinesfalls Luft und somit Stickstoff in die mit Ozon angereicherte Infusionslösung gelangen.

kTherapieerfolg

Dieser kann sich entweder rasch oder auch langsam einstellen – je nach den vorhandenen „Mängeln/Schwierigkeiten/Störungen“ beim Patienten und der vorliegenden Indikation. Eine unterschiedliche Anzahl von mehr oder weniger Behandlungen kann notwendig und sinnvoll sein. Zudem kann auch die Häufigkeit der Behandlungen  – ein-, zwei-, dreimal pro Woche oder täglich – wesentlich für das Erreichen des Therapieziels sein. Ganz sicher sind es auch die begleitenden Maßnahmen, die ra-

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W. Pleyer und R. Thiele

..      Abb. 27.5 Verabreichung der Infusion mit Kochsalz + Ozon (© Erik und Dr. Renate Thiele)

27

schere oder weniger gute Erfolge bedingen. Damit ist zum einen gemeint, welche zusätzlichen Stoffe (Vitamine, Spurenelemente, Mi­ neralstoffe) ergänzend gegeben werden, zum anderen ist es mindestens ebenso wichtig, dass die Störfaktoren, die für die entstandenen Beschwerden und Krankheiten verantwortlich oder mögliche Auslöser dafür waren, beseitigt werden. Beispiele folgen in 7 Abschn.  27.9. Vor Beginn einer intravenösen Ozontherapie sollten zusätzlich zu Blutdruck und Blutbild, Selen-, Magnesium- und Eisenwerte zur Kon­ trolle erhoben werden. Cholesterin, Triglyzeride, Blutzucker, Harnsäure- und Leberwerte verbessern sich in den meisten Fällen und sind ein guter Maßstab für den Therapieerfolg.

Vakuumflasche



mit O2/O3-Gemisch gefüllte Einwegspritze

kDosierungsempfehlung

Je nach Indikation, Alter und Gewicht ist die Dosis individuell anzupassen; zur Wahl der richtigen Dosierung ist eine Ausbildung erforderlich. 27.6.2  Große Eigenblutbehandlung

mit Ozon

Diese Methode kann mit jedem Ozongerät, das eine Entnahme mittels einer Spritze zulässt, oder mit Geräten, die eine direkte Verbindungsleitung zur Behandlungsflasche vorsehen, durchgeführt werden (. Abb. 27.6).  

..      Abb. 27.6  Große Eigenblutbehandlung mit Ozon (© Erik und Dr. Renate Thiele)

In eine sterile Ozon-Behandlungsflasche (Vakuumflasche) wird ein Gerinnungshemmer eingebracht, entweder 2500  I.E.  Heparin für 150 ml Blut oder 15 ml 3,13 % Natrium Citricum für 150 ml Blut. Der Blutmenge, die behandelt werden soll, muss jedenfalls eine entspre-

651 Grundinformation zur medizinischen Anwendung von Ozon

chende Menge an Gerinnungshemmer beigefügt werden. Die Behandlungsflasche, die sich auf einem Stativ befindet, wird mit einer Bluttransfusionsleitung mit Spezialfilter und einer Ozontransferleitung mit Filter ausgestattet. Ein Venenstau wird angelegt, die Vene punktiert (Nadel 1,2 mm), die Rollklemme der Venenleitung wird geöffnet, und Blut aus der Vene fließt in die Behandlungsflasche. Das Volumen der Standard-Vakuumflasche beträgt 300 ml. Befindet sich die gewünschte Blutmenge, ca. 150–200 ml in der Flasche, wird der Venenstau aufgehoben. Zuerst werden 30 ml Blut aus der Behandlungsflasche in die Vene zurückgeleitet, damit das Blut, das sich in der Transfusionsleitung befindet und nicht mit dem Gerinnungshemmer vermengt ist, in die Vene abfließen kann. Gleichzeitig gelangt das mit dem Gerinnungshemmer vermischte Blut aus der Behandlungsflasche in die Transfusionsleitung. Jetzt kann das Blut in Flasche und Leitung nicht gerinnen. Die Rollklemme der Transfusionsleitung zur Vene wird wieder geschlossen. Nun wird das Ozon-Sauerstoff-Gemisch (50–200 ml, abhängig vom Gerätetypus bzw. von der Ozonkonzentration) in die Behandlungsflasche transferiert. In der Behandlungsflasche besteht jetzt leichter Überdruck (hyperbar) oder Normaldruck (normobar). Die Flasche wird nun kreisend bewegt, um eine optimale Anreicherung des Blutes mit dem in der Flasche befindlichen Ozon-Sauerstoff-Gemisch zu erzielen. Nach 30–60 Sekunden ist ein Farbumschlag zu erkennen, das Blut wird hellrot. Nun darf die Rollklemme der Transfusionsleitung wieder vorsichtig geöffnet werden, und die Rücktransfusion kann beginnen. kHinweise

Das Blut soll langsam in die Vene zurückfließen. Der Patient ist stetig zu beobachten. Es kann bei Patienten, die bestimmte blutdrucksenkende Medikamente (ACE-Hemmer, Kalziumantagonisten) einnehmen, zu Reaktionen wie Wärmegefühl u.  a. kommen. Im Allgemeinen ist die große Eigenblutbehandlung mit Ozon jedoch gut verträglich. Die

27

Manipulation bei der Blutabnahme und der anschließenden Reinfusion funktioniert bei guten Venenverhältnissen problemlos. Es gilt die Richtlinie, dass in die Behandlungsflasche nur der Gerinnungshemmer eingebracht wird. Dann erfolgen die Blutabnahme, die Ozonierung und die Reinfusion. Weitere Medikamente sind nach der Ozoninfusion zu verabreichen. >> Auch bei der großen Eigenblutbehandlung mit Ozon gilt der Grundsatz, gleichzeitig keine anderen Medikamente zu verabreichen.

kTherapieerfolg

Wie bei der Tropfinfusion mit NaCl  +  Ozon (7 Abschn.  27.6.1) sind auch bei der großen Eigenblutbehandlung mit Ozon die Häufigkeit, Konzentration und Anzahl der Behandlungen von großer Bedeutung.  

kDosierungsempfehlung

Aufgrund der möglichen Gefahr der Hämolyse bei zu hoher Dosierung ist zur individuellen Dosierung eine Ausbildung erforderlich. 27.6.3  Kleine Eigenblutbehandlung

mit Ozon

Eine kleinere Menge venöses Blut wird mit Ozon angereichert und danach intramuskulär (in das Gesäß) verabreicht. Es handelt sich dabei durchaus um eine sinnvolle Reiztherapie mit positiven Reaktionen im Sinne einer Immunmodulation. Oft wird sie von erfahrenen Ozontherapeuten im Anschluss an die große Eigenblutbehandlung mit Ozon mit 2–5 ml des im Leitungssystem befindlichen mit Ozon angereicherten Restbluts durchgeführt, um die Immunreaktion zu verstärken. Dafür werden 2–5 ml des im Leitungssystem befindlichen, mit Ozon angereicherten Restblutes verwendet. Die kleine Eigenblutbehandlung im Anschluss an die NaCl-Ozon-Methode erfolgt mittels kleinem Aderlass nach der Infusion. Speziell für die Behandlung von Allergien liegen positive Erfahrungsberichte vor.

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W. Pleyer und R. Thiele

kDosierungsempfehlung

100–200 μg O3 auf 1–5 ml Blut, in Abhängigkeit von Alter, Gewicht und Indikation.

>> Die Ozoninjektion ist nicht völlig schmerzfrei, und die vorherige Verabreichung eines Lokalanästhetikums ist zu überlegen.

kDosierungsempfehlung 27.6.4  Ozoninjektion

27

Ozongas (O2-O3-Gemisch) wird entweder in die Haut, unter die Haut, in das Gewebe, in ein Gelenk oder in die Bandscheibe langsam (durch Lokalanästhesie schmerzfrei) injiziert. Niedrige Ozonkonzentrationen ( 100 ml ist die Empfindung des Patienten zu berücksichtigen. Die Darmbegasung unterliegt auch einem „Trainingseffekt“, das bedeutet, dass mit zunehmender Anzahl an Behandlungen auch mehr Volumen toleriert wird. 27.6.6  Haut- und Wundbegasung

mit Ozon

Zur Vorbereitung wird ein Kunststoffbeutel in geeigneter Größe (Unterschenkel, Hand etc.) bereitgelegt. Im Fachhandel sind dazu spezielle Beutel mit einer oder zwei Anschlussstellen für das Evakuieren und die Ozonzuleitung erhältlich. Diese Beutel dürfen aus hygienischen Gründen nur einmal verwendet werden. Der Beutel wird z. B. über den Fuß oder den Unterschenkel gestülpt und nach oben hin mittels einer Bandage geschlossen. In den Beutel wird ein gut befeuchteter Tupfer eingebracht, denn durch die entstehende Feuchtigkeit wird eine bessere Ozonwirkung erzielt. Anschließend wird die im Beutel befindliche Luft möglichst gut abgesaugt. Jetzt wird der Beutel mit dem Ozon-Sauerstoff-Gemisch in der gewünschten Konzentration solange befüllt, bis sich der Beutel anzuheben beginnt bzw. die erforderliche Ozonmenge erreicht ist (. Abb. 27.7). Die Rollklemme der Ozonleitung wird geschlossen und das Gerät abgeschaltet. Die Einwirkzeit von Ozon auf die Wunde, das Geschwür etc. wird i.  Allg. mit 15–20  Minuten angegeben. Danach wird durch die integrierte Schlauch­ leitung das Ozon wieder aus dem Beutel abgesaugt und der Beutel entsorgt.  

654

W. Pleyer und R. Thiele

..      Tab. 27.1  Dosierungsanleitung nach Eberhardt am Beispiel des ­Medozon-BM-­Geräts Alter

Ozonmenge

Einstellung Medozon BM

ml

mg/ml

Bis 12 Monate

5–10

0,05

500

Bis 3 Jahre

10–20

0,1

1000

Bis 6 Jahre

20–50

0,2

2000

Bis 12 Jahre

50–100

0,3

3000

Ab 12 Jahre

100–400

0,5

5000

Bei Infekt

100–400

Bis 0,8

Bis 8000

Kinder

Erwachsene

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Mikroorganismen mit Sensitivität gegenüber lokaler Ozonapplikation

..      Abb. 27.7  Beutelbegasung mit Ozon. Pfeile: Ventil zum Insufflieren bzw. Absaugen des O2/O3-­Gemischs. Das Bein sollte immer mit Wasser benetzt sein. (© Erik Thiele)

kHinweis

Mikrobiologische Untersuchungen (Gehring et al. 1990) an humanpathogenen Keimen haben gezeigt, dass lokal appliziertes Ozon eine gute Wirksamkeit (besonders bei anaeroben Keimen) aufweist.

55 Staphylococcus aureus, Staphylococcus epidermidis 55 Mikrokokken 55 Mykoplasmen 55 Gardnerella vaginalis (Vagina) 55 Streptokokken: ß-hämolysiende Streptokokken der Gruppe A 55 Enterokokken: Enterococcus faecalis 55 Pseusomonaden: Pseudomonas aeruginosa 55 Clostridien: Clostridium difficile 55 Enterobakterien: Escherichia coli, Proteus vulgaris, Proteus mirabilis 55 Sprosspilze: Candida albicans 55 Nonfermenter (nichtfermentierende Bakterien): Acinetobacter sp.

Auch viele andere Keime wurden in der Praxis bereits erfolgreich therapiert, dazu sind jedoch keine dokumentierten Studien, sondern nur Erfahrungsberichte bekannt. Außerdem wird bei Kombination mit Ozon die höhere Wirksamkeit einer Antibiose beschrieben. Insbesondere bei Multiinfektionen und bestehenden Resistenzen ist ein bes-

655 Grundinformation zur medizinischen Anwendung von Ozon

serer Therapieerfolg durch die Kombination mit Ozon zu beobachten. kDosierungsempfehlung zur Wundheilung für Ulcus cruris mit Beutelbegasung

Maximale Ozonkonzentration: bis 20 mg/l. 27.6.7  Wasserozonisierung

Zur Wundreinigung (Zimmermann et  al. 2012), Hämatombehandlung, als Mundspülung zur Behandlung bei Gingivitis, Stomatitis, Paradontose, Mundsoor, zur Prothesenreinigung und auch zur Hautbehandlung etc. ist Aqua bidest zu verwenden. Aqua bidest speichert Ozon besser als Trinkwasser. Die Wassertemperatur hat einen wesentlichen Einfluss auf die Halbwertszeit. Liegt sie während des Aufbereitungsvorgangs unter 10 °C und erfolgt die Verteilung über ein Feinverteilungssystem, so verbleibt das Ozon länger im Ansatz (d. h. es zerfällt erst später wieder in O2-Molelüle). Beim Ozonierungsvorgang in einem geschlossenen Gefäß muss die Entlüftungsleitung über einen Ozon-­Des­truktor führen, erst dann darf das überschüssige destrukturierte Gas (O2) aus dem System austreten.

27

Die Ozonmoleküle werden bei der Anwendung wieder freigesetzt und entfalten je nach Anwendungsort ihre eigentliche Wirkung. Auf die Haut aufgebracht, wird daher ein Teil der Ozonmoleküle in die Umgebung freigesetzt  – nur der Teil, der direkt mit der Haut oder dem Wundsekret reagiert, kann tatsächlich wirken. kBeispiel

Wenn ozoniertes Olivenöl auf der Brust verteilt wird, so wird ein Teil des freigesetzten Ozons über die Atemwege aufgenommen und ist durchaus bei Atemwegsinfekten sinnvoll anzuwenden. Die Ozonkonzentration liegt dabei wesentlich unter dem Limit der Schädlichkeit. In der Ozontherapie ist ozoniertes Olivenöl für die Anwendung über die Haut bzw. Wunden gängig. Die innerliche Anwendung hat sich erst in den letzten 10 Jahren durchgesetzt. Die unterschiedlichen Darreichungsformen von ozoniertem Olivenöl  – wie Salbe, Zäpfchen, Kapseln  – sind häufig wegen ihres typischen Ozongeruchs gewöhnungsbedürftig.

kHinweis

>> Grundsätzlich ist zu festzustellen: Olivenöl mit Ozon kann für äußerliche und innerliche Anwendungen verwendet werden, die Mischung mit Vaseline (Balsam) jedoch nur äußerlich.

Die Aufbewahrung im Kühlschrank ist bei 8 °C zu empfehlen; so kann von einer therapeutischen Verwendbarkeit bis 72 h ausgegangen werden.

27.6.9  Ozonnukleolyse bei

27.6.8  Olivenöl + Ozon

Wird Olivenöl (in Arzneibuchqualität) mit Ozon angereichert, geht das Ozon mit den freien Fettsäuren eine Bindung ein (Washüttl und Viebahn 1982, 1987), und es entstehen Ozonide. Je nach Dauer und Konzentration werden mehr oder weniger oder auch alle freien Fettsäuren im Öl mit Ozon beladen. Ozon bleibt je nach Lagertemperatur und in einem geschlossenem Gefäß über sehr lange Zeit gebunden (bis zu 10 Jahre).

Bandscheibenvorfall

Es handelt sich um einen minimalinvasiven Eingriff zur Behandlung von Bandscheibenvorwölbungen und -vorfällen ohne motorischen Ausfall (Alexandre et al. 2005; Andreula et al. 2003; Lehnert et al. 2006). Der Effekt wird durch die hohe Wasserbindungskapazität des Ozons und seine analgetische und antiinflammatorische Wirkung ausgelöst. Die Verminderung des Wassergehaltes der Bandscheibe führt zu deren Volumenverminderung, und die Nervenwurzel wird im besten Fall wieder völlig bedrängungsfrei.

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W. Pleyer und R. Thiele

Die verbesserte Durchblutung bzw. bessere Sauerstoffzufuhr führt zu einer zusätzlichen Schmerzverringerung, da eine chronisch reduzierte Mikrozirkulation bzw. Hypoxie schmerzauslösend wirkt. Der Eingriff erfolgt CT-gezielt in sog. Analgosedierung unter sterilen OP-Bedingungen. 27.7  Indikationen für die

Ozontherapie

Indikationen

27

55 Allergien und Unverträglichkeiten ȤȤ Neurodermitis ȤȤ Nahrungsmittelunverträglichkeiten ȤȤ Allergische Rhinitis, Konjunktivitis, Colitis u. ä. 55 Akute Bronchitis, chronisch obstruktive Lungenerkrankung (COPD) 55 Durchblutungsstörungen (Arteriosklerose, Gefäßverengungen) ȤȤ des Auges, (z. B. Makulopathie, beginnende Optikusatrophie) ȤȤ zerebral (zerebrale arterielle Verschlusskrankheit – CAVK) ȤȤ peripher (periphere arterielle Verschlusskrankheit – PAVK) ȤȤ koronar (koronare Herzkrankheit – KHK) ȤȤ Innenohr (z. B. Hörsturz, Tinnitus) ȤȤ Ulzera, venös und arteriell 55 Ekzeme 55 Entzündungen akut/chronisch, viral/ bakteriell/mykotisch/parasitär) ȤȤ Abszesse, ȤȤ Follikulitis, Akne ȤȤ Ulzera ȤȤ Gelenkentzündungen ȤȤ rheumatische Erkrankungsformen ȤȤ Kolitis, Proktitis ȤȤ Mykosen ȤȤ Psoriasis ȤȤ Antibiotikaresistenzen, u. a. gegenüber Krankenhauskeimen wie Pseudomonas aeruginosa

55 Geriatrische (altersbedingte) Erkrankungen, Demenz 55 Glaukom 55 Klimakterische Beschwerden, Hypothyreose 55 Knochenbrüche, Osteoporose 55 Anregung der Bildung von Kollateralen 55 Erkrankungen des Nervensystems, z. B. Zervikalsyndrom, Lumbago, Herpes 55 Lebererkrankungen (Leberparenchymschäden, Entgiftung) 55 Leistungsabfall, Erschöpfung 55 Migräne 55 Ozonnukleolyse 55 Schmerztherapie 55 Schwindel (Drehschwindel) 55 Stoffwechselerkrankungen wie Diabetes mellitus und Folgeerkrankungen, Gicht 55 Wundheilungsstörungen, postoperative Wunden 55 Zusatzbehandlung bei Tumorpatienten

27.8  Kontraindikationen für die

Ozontherapie

zz Kontraindikationen

55 Frische Organblutungen (z. B. bei akutem Herzinfarkt, alle Formen der Gehirnblutung, nach Schlaganfall, Schädel-Hirn-­ Trauma, Milzruptur etc.) 55 Menorrhagien 55 Hämophilie und andere Defekte des Gerinnungssystems 55 Thrombozytopenie in ausgeprägter Form 55 Hyperthyreose 55 Hypoglykämie 55 Schwere dekompensierte Herzinsuffizienz 55 Favismus (Glukose-6-Phosphat-­ Dehydrogenase-Mangel) führt bei Zufuhr von Peroxiden zu Anämie bzw. Hämolyse (rektale Insufflation möglich) 55 Patienten, die alkoholisiert sind, unter Tranquilizern oder Drogen stehen 55 Intravenöse Anwendung bei Kindern  47.000 rektale Ozoninsufflationen bei 716 Patienten, die in diversen klinischen Studien beschrieben wurden, werden einer kritischen klinischen Beurteilung unterzogen und entsprechend den Kriterien der evidenzbasierten Medizin eingeordnet. In allen Studien wurden statistisch signifikante klinische und/oder pharmakologische Verbesserungen ohne unerwünschte Wirkungen gefunden. kErgebnis

Evidenzlevels Ib und IIa (randomisierte kon­ trollierte Studien und kontrollierte Studien) für die große Eigenblutbehandlung: 12  Studien mit 657  Patienten, für die rektale Ozoninsufflation: 6 Studien mit 227 Patienten. Damit sind die beiden Methoden als Teil der evidenzbasierten Medizin anzusehen. Beide Anwendungen sind wirksam, sicher und ökonomisch. zz Diabetischer Fuß – Ozontherapie vs. antibiotische Therapie (Martínez-­ Sánchez et al. 2005)

Ziel der randomisierten klinischen Studie: Untersuchung der therapeutischen Wirksamkeit von Ozon in der Behandlung von 101 Patienten mit Diabetes Typ II und diabetischem Fuß und Vergleich von Ozontherapie (52  Patienten, rektale Ozoninsufflation) und antibiotischer Behandlung (49 Patienten, topische und systemische Anwendung). kErgebnis

Bei der Beurteilung der Wirksamkeit der Behandlungen nach 20 Tagen anhand von glykämischem Index, Ausdehnung der Läsionen

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W. Pleyer und R. Thiele

und biochemischen Markern für oxidativen Stress und endotheliale Schädigung in beiden Gruppen zeigte sich die Ozontherapie als überlegen. Medizinische Ozontherapie könnte somit eine Alternative darstellen in der Behandlung von Diabetes und zugehörigen Komplikationen. zz Plattenepithelkarzinom der Kopf-Hals-­ Region – prognostische Bedeutung von Tumoroxygenierung und Hämoglobinkonzentration (Krenz 2007)

27

Dissertation, Fakultät für Medizin der Technischen Universität München (Original­ arbeit unter 7 https://mediatum.ub.tum.de/doc/ 604417/604417.­pdf. Zugegriffen am 04.07.2018).  

kErgebnis

Sauerstoff wirkt radiosensibilisierend, d.  h., durch die Gabe von Sauerstoff bzw. Ozon kann mit niedrigeren Strahlendosen gearbeitet werden. Dadurch kommt es zu deutlich weniger Nebenwirkungen. zz Rheumatoide Arthritis – Entzündungsmediatoren, Entzündungszellen und Zytokine unter GEB (Fahmy 2017)

Bis 2017 wurden mehrere klinische Studien zur quantitativen Bestimmung dieser Parameter bei der klassischen rheumatoiden Arthritis durchgeführt, einerseits bei jungen Patienten, andererseits auch bei älteren Patienten unter der großen Eigenblutbehandlung, (Prof. Dr. Ziad Fahmy, Augusta Klinik Bad Kreuznach, nachzulesen in Ozone Therapy concepts for praxis and clinics – ozone mode action of the immune system). kErgebnis

Eine Kombinationstherapie Methotrexat mit Medical Ozon führt zu deutlich besseren Ergebnissen als die Monotherapie mit Methotrexat. zz Plötzlicher sensorineuraler Gehörsturz (Ragab et al. 2008)

Prospektive randomisierte Doppelblind- und plazebokontrollierte klinische Studie am Me-

nofia University Hospital, Ägypten mit dem Ziel der Verbesserung der Sicherheit und Wirksamkeit der Ozontherapie an 45 er­ wachsenen Patienten mit plötzlichem sensoneurinalem Hörverlust. 30 Patienten erhielten eine große Eigenblutbehandlung, 15 Plazebo. kErgebnis

Ozontherapie ist eine signifikante Modalität zur Behandlung des plötzlichen sensorineuralen Gehörsturzes, 77  % der Patienten wiesen eine signifikante Besserung auf. Es wurden keine Komplikationen beobachtet. zz Chronische Hepatitis C (Zaky et al. 2011)

Studie an der ägyptischen Assiut University (Department of Tropical Medicine and Gastroenterology) mit dem Ziel, die Rolle der Ozontherapie bei der Senkung der HCV-RNA und ihre Wirkung auf die Leberenzyme zu untersuchen. Behandelt wurden 52 Patienten mit chronischer Hepatitis C (PCR positiv und erhöhte Transaminasen), 40 davon mit Ozonanwendungen und 12 Patienten mit Vitaminen. kErgebnis

Ozontherapie verbessert signifikant die klinischen Symptome bei chronischer Hepatitis  C und normalisiert die Transaminasen. Sie ist bei 25–45 % der Patienten mit chronischer Hepatitis  C assoziiert mit dem Verschwinden von HCV-RNA aus dem Serum (negativer PCRTest). zz Ozonnukleolyse (Lehnert et al. 2006)

Untersucht wurden CT-kontrollierte kombinierte Ozon-Kortison-Injektionen bei Bandscheibenvorfällen (Ozonnukleolyse). kErgebnis

Nach 6 Monaten kam es bei 376 von 404 Patienten zu einer Besserung unterschiedlichen Ausmaßes, wobei bei 145 Patienten eine absolute Schmerzfreiheit sowie eine vollständige Wiedererlangung der Berufsfähigkeit und ursprünglichen sportlichen Aktivität zu verzeichnen war.

663 Grundinformation zur medizinischen Anwendung von Ozon

27

27.10.2  Wissenschaftliche

zz Superoxiddismutase-Aktivität (Clavo, Vortrag beim European Ozone Congress 2017, Berlin)

Nähere Informationen zu den genannten Vorträgen sind erhältlich über die Ärztliche Gesellschaft für Ozonanwendung in Prävention und Therapie e.V., Sekretariat: Frau Dr. Renate Viebahn ([email protected]).

Bestimmt wurde die Aktivität der Superoxiddismutase (SOD) im gesunden Gewebe ohne Therapie zum Vergleich mit dem Zustand nach Radiatio und gegenüber dem Zustand nach Therapie mit Ozon in Kombination mit einer Radiotherapie (spanische Untersuchung, Las Palmas). Weitere Informationen erhältlich bei Dr. B. Clavo: bernardinoclavo@ terra.es.

Vorträge

zz Maligne Tumoren bei Ratten – Chemotherapie kombiniert mit Kochsalz-Ozon-­ Infusionen (Kontorshchikova, Vortrag beim European Ozone Congress 2014, Zürich)

Im Tierversuch wurde die Effektivität der Kombination von Chemotherapie und Koch­ salz-­Ozon-Infusionen bei malignen Tumoren in dieser russischen Studie (Nizhny Novgorod Sate Medical Academy) untersucht. Weitere Informationen erhältlich bei Dr. A. Kontorshchikova: [email protected]. kErgebnis

Niedrig dosiertes Ozon in Kochsalzlösung verstärkt die Wirkung des Chemotherapeutikums Doxorubicin; sowohl die mitotische Aktivität des Tumors wie auch die Anzahl der Tumorzellen wurden reduziert. zz Ozontherapie in der komplexen Behandlung von Brustkrebs (Kontorshchikova et al., Publikation in Russisch; Vortrag beim European Ozone Congress 2017, Berlin)

kErgebnis

Höhere SOD-Aktivität unter der Kombinationstherapie Ozon/Radiatio im Vergleich zur alleinigen Radiatio (ohne Ozon). zz Ozontherapie als Teil der Lungenkarzinomtherapie (Clavo et al., Vortrag beim European Ozone Congress 2017, Berlin)

Pilotstudie zum Thema Ozontherapie zur Tumor-Oxygenierung am Dr. Negrin University Hospital, Las Palmas, (Kanarische Inseln) Spanien, Abteilung für Radioonkologie und -forschung mit dem Ziel, Die Tumorhypoxie durch Ozontherapie zu verbessern. Weitere Informationen erhältlich bei Dr. B.  Clavo: [email protected]. kErgebnis

Die Studie zeigt, dass Ozon den gewollten Effekt der Radiatio wie auch der Chemotherapie Vergleich von 52  Frauen, wobei eine Gruppe verbessert und deren bekannte Nebenwirkunmit 20  Frauen lediglich ein Zytostatikum er- gen vermindert. Sie deutet auf den möglichen hielt. Die andere Gruppe wurde mit der Kom- Einsatz dieser Therapie als Adjuvans bei Chebination Zytostatikum + Ozonwasser + NaCl-­ motherapieplänen hin und würde weitere UnOzon-Therapie i.v. oder mit der Kombination tersuchungen rechtfertigen. von Zytostatikum  +  Ozonwasser  +  rektaler Ozoninsufflation behandelt. Weitere Informa- zz Prostatakarzinom – Prävention von toxischen Nebenwirkungen (Dermatitis, tionen erhältlich bei Dr. A.  Kontorshchikova: Zystitis, Proktitis) (Borregol et al., [email protected]. kErgebnis

Verbesserung der immunologischen Parameter mit signifikanter Erhöhung der antioxidativen Kapazität und Verringerung der toxischen Nebenwirkungen der Chemotherapie.

Vortrag beim European Ozone Congress 2017, Berlin)

In dieser kubanischen Untersuchung wurde die Methode der rektalen Ozoninsufflation in Kom­ bination mit einer Radiatiotherapie bei bei 70  Patienten mit Prostatakarzinom eingesetzt

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W. Pleyer und R. Thiele

mit dem Ziel der Prävention von toxischen Nebenwirkungen, im Speziellen Dermatitis, Zystitis und Proktitis. kErgebnis

Deutlich geringere Nebenwirkungen im Vergleich zur Kontrollgruppe ohne Ozontherapie. zz Ischämische Kardiomyopathie (NYHA III–IV) (Eltobgy, Vortrag beim European Ozone Congress 2017, Berlin)

27

Die Behandlung mit großer Eigenbluttherapie oder rektaler Ozoninsufflation erfolgte im Rahmen von 10  Anwendungen über 5  Wochen; es handelt sich um eine wissenschaftliche Untersuchung aus Ägypten. kErgebnis

Signifikante Verlängerung der Gehstrecke und Verbesserung der diastolischen Herzfunktion, Verminderung der Belastungsdyspnoe; keine nennenswerten Unterschiede im Ergebnis beider Methoden. zz Chronischer oxidativer Stress und koronare Herzkrankheit bei älteren Patienten (Wilkins-Perez et al., Vortrag beim European Ozone Congress 2017, Berlin)

Die Wirkungen rektaler Ozoninsufflationen bei chronischem oxidativem Stress und koronarer Herzkrankheit bei älteren Patienten wurden in dieser kanadischen Arbeit wissenschaftlich untersucht. kErgebnis

kModul 1

55 55 55 55 55 55 55 55 55

Grundlagen der Ozonentstehung Ozon als Heilmittel Geschichte des Ozons Weltweite Entwicklung Literaturempfehlungen Wirkmechanismen des Ozons Indikationen, Kontraindikationen Kleine Eigenblutmethode Geräteeinführung

kModul  2

55 Ozon als Teil der komplementären ­Onkologie 55 COPD 55 Case-Reports 55 Anwendungsarten 55 NaCl-Ozon-Methode kModul 3

55 55 55 55

Infektionskrankheiten Rheumatische Erkrankungen Guidelines Orthomolekulare Kombinationsmöglichkeiten 55 Große Eigenblutmethode kModul 4

55 Durchblutungsstörungen, Wunden, Diabetes 55 Darminsufflation 55 Anwendung von Salben, Suppositorien, Kapseln, Ozonwasser 55 Wundbegasungstechniken 55 Infiltrationstechniken

Ozon verbessert das Redoxpotenzial der Zelle und kann auch zur Behandlung der kardiovaskulären Erkrankungen angewendet werden.

kPrüfung

27.11  Ausbildung

zz Sekretariat

Die Ausbildung erfolgt durch die Österreichische Gesellschaft für Ozontherapie (ÖGO): 55 4 Module (jeweils 8 Stunden) 55 Prüfung

Schriftlich und mündlich, ca. 2 Stunden.

Österreichische Gesellschaft für Ozontherapie (ÖGO) Kreuzberg 288 A-3920 Groß Gerungs [email protected]

665 Grundinformation zur medizinischen Anwendung von Ozon

Zusammenfassung 55 Ozon ist eine 3-atomige, gasförmige, farblose, aber nicht geruchfreie Sauerstoffverbindung, sehr reaktionsfreudig und ca. 15-mal schneller in Körperflüssigkeiten löslich als 2-wertiger Sauerstoff. 55 Die Herstellung von Ozon als Heilmittel erfolgt immer aus reinem 100 %igem Medizinal-­ Sauerstoff im Ozongenerator. 55 Die Ozonwirkung beruht v. a. auf dem Effekt des niedrig dosierten, kontrollierten oxidativen Stresses, ausgelöst durch Ozonperoxide, die über die Induktion von Schutzfaktoren zur Anregung des intrazellulären antioxidativen Systems führen. 55 Weitere Ozonwirkungen: 55 Immunmodulation durch Zytokinausschüttung, 55 Verbesserung der Mikrozirkulation durch NO-­Bildung und begabte Ery­ throzyten 55 Entgiftung des Pischinger-Raumes und Lösung von Reaktionsstarren, 55 Inaktivierung von Bakterien, Viren und Pilzen, 55 analgetische Wirkung durch Adenosin-­ Aktivierung, 55 Vitalisierung und Leistungssteigerung durch ATP-Erhöhung, 55 adjuvante Therapie bei Tumoren, 55 Apoptoseförderung, 55 Radiosensibilisierung, 55 Ozonnukleolyse – durch die hohe Wasserbindungskapazität des Ozons kommt es zur Verkleinerung des Sequesters. 55 Empfohlene Anwendungsarten: 55 i.v.-Formen: Große Eigenblutmethode (GEB), Tropfinfusion NaCl + O2/O3, 55 i.m.-Form: Kleine Eigenblutmethode, 55 rektale Insufflation, 55 lokale Methoden: Infiltration, ozonisiertes Olivenöl, Haut- und Wundbegasung, Ozonwasser, 55 Ozonnukleolyse.

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Kurmedizin Wolfgang Marktl, Petra Zizenbacher, Rainer Schroth, Florian Ploberger und Lothar Krenner 28.1

Balneologie – 668

28.1.1 28.1.2 28.1.3

E inführung – 668 Ortsgebundene natürliche Heilvorkommen – 669 Allgemeine Wirkungsgrundlagen der komplexen medizinischen Kur – 674 Studien/Evidenzlage – 675 Vorkommen und Charakteristika von Heilwässern – Beispiel Österreich – 676

28.1.4 28.1.5

28.2

Kuren nach Hildegard von Bingen – 680

28.2.1 28.2.2 28.2.3

F rühjahrskur/Maikur – 680 Birnhonigkur – 680 Hildegard-Fastenkur – 681

28.3

Schrothkur – 682

28.3.1 28.3.2 28.3.3 28.3.4 28.3.5 28.3.6 28.3.7 28.3.8

 istorischer Überblick – 682 H Entwicklung der Fastenkuren – 684 Schrothkur – eine Kur aus drei Elementen – 684 Aufnahme und Verlauf einer Schrothkur – 686 Indikationen für eine Schrothkur – 686 Fallbeispiele – 692 Die Zeit nach der Schrothkur – 693 Woran ist die Original-Schrothkur zu erkennen? – 693

28.4

 urbehandlungen aus dem K TAM-Bereich – Ayurveda – 694

28.4.1 28.4.2 28.4.3

E inführung – 694 Ablauf einer Panchakarma-Kur – 694 Fallbeispiel – 696

Literatur – 697 © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_28

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W. Marktl et al.

28.1  Balneologie Wolfgang Marktl 28.1.1  Einführung

Damit kommt auch zum Ausdruck, dass sich die zeitgemäße integrativmedizinische Kur dem Begriff der Salutogenese verpflichtet fühlt. Zur Erreichung der gesundheitlichen Ziele der Kur werden allgemeine und spezielle Maßnahmen eingesetzt.

Kur - In der Medizin nicht selten verwendeter Begriff, der unterschiedliche therapeutische Methoden und Bedeutungen umschreibt. Ein gemeinsamer Nenner des Kurbegriffs ist, dass es sich dabei nicht um einmalige, sondern um wiederholte therapeutische Anwendungen handelt. Dies trifft auch für eine Kur zu, deren Grundlage die wiederholte Applikation eines natürlichen ortsgebundenen Heilvorkommens ist und die daher auf den wissenschaftlichen Grundlagen der Balneologie beruht. Die balneologische Kur wird daher auch der Gruppe der naturheilkundlichen Verfahren zugeordnet.

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Wie aus historischen Dokumenten zu entnehmen ist, beschränkte sich die bäderheilkundliche Kur seit jeher nicht nur auf die Anwendungen des natürlichen ortsgebundenen Heilvorkommens, sondern war auch von anderen Maßnahmen begleitet, wobei letztlich auch gesellschaftliche Momente eine Rolle spielten.

»» „Man gehet ins Bad dreyerlei Ursachen

halben: entweder Gesundheit zu erlangen oder Gesundheit zu behalten oder sich zu belustigen.“ (Aachener Chronik 1643)

Es wird daher von einer komplexen medizinischen Kur gesprochen und in diesem Zusammenhang auch der Begriff integrative Kurmedizin verwendet. Wie aus dem Zitat hervorgeht und wie es auch den Intentionen des aktuellen Kurwesens entspricht, steht bei der medizinischen Kur nicht so sehr der Krankheits-, sondern der Gesundheitsbegriff im Vordergrund. Diese Intention lässt sich auch in einer zeitgemäßen Art darstellen: Angebote des Kurorts Umfasst Möglichkeiten und Maßnahmen für die 55 Gesundheitsvorsorge 55 Gesundheitspflege 55 und Gesundheitswiedererlangung

Allgemeine und spezielle Maßnahmen der Kur 55 Allgemeine Maßnahmen (Beispiele): –– Entlastung von Alltags- und Arbeitspflichten –– Harmonisierung des Tagesrhythmus –– Gesunde Ernährung –– Ergänzende Ruhe oder Bewegung als Kontrast zu den jeweiligen Alltagsanforderungen –– Ausschaltung schädlicher Klimafaktoren –– Meiden oder Einschränkung von Genussmitteln 55 Spezielle Methoden: –– Balneotherapie in den verschiedenen Formen (Bäder und Trinkkuren) –– Gezielte Klimatherapie mit Sonnenbehandlung und Freiluft(liege)kuren 55 Ergänzende Verfahren der physikalischen Therapie: –– Aktive und passive Bewegungs- und Übungstherapie –– Hydro- und -Thermotherapie –– Elektrotherapie –– Licht- und Strahlenbehandlungen –– Inhalationstherapie –– Massagen –– Diätbehandlung –– Ruhe- und aktive Entspannungsbehandlung –– Methodische Gesundheitserziehung

Werden die dargestellten gesundheitsdienlichen bzw. therapeutischen Maßnahmen etwas näher betrachtet, so fällt auf, dass fast alle auch bei anderen komplexen Therapieverfahren sowie im Rahmen der Gesundheitspflege an sich eingesetzt werden.

669 Kurmedizin

>> Das Identifikationsmerkmal der komplexen balneologischen Kur ist der iterative Einsatz eines oder mehrerer ortsgebundener natürlicher Heilvorkommen, d. h. eines Heilwassers, Peloids, Heilgases oder gesundheitsförderlicher Klimafaktoren.

28.1.2  Ortsgebundene natürliche

Heilvorkommen

Definition Ortsgebundene natürliche Heilvorkommen - Die heute noch gültige Definition wird auf die sog. Bad Nauheimer Beschlüsse aus dem Jahr 1912 zurückgeführt. Diese Beschlüsse stellen die Grundlage für die gesetzliche Regelung der Anerkennung von natürlichen ortsgebundenen Heilvorkommen dar, wie sie auch in Österreich Gültigkeit hat (s. unten). Zu den ortsgebundenen natürlichen Heilvorkommen gehören Heilwässer, Peloide, Heilgase und gesundheitsfördernde Klimafaktoren.

Die gesetzlichen Regelungen in Österreich gehen auf das Bundesgesetz über natürliche Heilvorkommen und Kurorte (BGBI. Nr. 272/1958) zurück. Das Bundesgesetz wurde vor ca. 10 Jahren durch einzelne Ländergesetze ersetzt. Seither entscheiden die Bezirkshauptmannschaften über die Anerkennung von natürlichen Heilvorkommen und Kurorte. Die wesentlichen gesetzlichen Anerkennungserfordernisse sind u. a. 55 eine für die beabsichtigte therapeutische Anwendung ausreichende Ergiebigkeit, 55 eine bestimmte spezifische Beschaffenheit oder pharmakologisch bereits in kleinsten Mengen wirksame Inhaltsstoffe in bestimmten Mindestmengen, 55 eine wissenschaftlich anerkannte Heilwirkung ohne Änderung der natürlichen Zusammensetzung.

Heilwässer Bezüglich der Inhaltsstoffe sind eine oder mehrere der folgenden Anforderungen zu erfüllen: 55 ein Mindestgehalt von 1 Gramm gelöster fester Stoffe pro Kilogramm des Wassers; 55 eine gleichbleibende Temperatur von mindestens 20 °C am Quellaustritt,

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55 ein Mindestgehalt an natürlichem freiem Kohlendioxid am Quellaustritt von 250 mg für Trinkkuren bzw. 1000 mg für Badekuren pro Kilogramm des Quellwassers, 55 unabhängig von der Gesamtmineralisation ein Mindestgehalt an einem der nachfolgend angeführten pharmakologisch wirksamen Inhaltsstoffe: 5510 mg/kg Eisen, 551 mg/kg Jod, 551 mg/kg titrierbarer 2-wertiger Schwefel, 55100 × 10−9 Curie/kg Radon für Trinkkuren, 55 10 × 10−9 Curie/kg Radon für Badekuren. Dazu erscheinen einige Kommentare zweckmäßig zu sein: 1. Die Forderung nach einer wissenschaftlich anerkannten Heilwirkung weist darauf hin, dass sich die Balneologie immer schon als eine wissenschaftliche Disziplin der Medizin verstanden hat. 2. Einige der in den Bad Nauheimer Beschlüssen erscheinenden Kriterien haben nicht primär medizinischen Charakter, und andere müssen aus dem Blickwinkel der Medizin der damaligen Zeit betrachtet werden. So geht weder von einer Wassertemperatur > 20 °C noch von einer Gesamtmineralisierung > 1 g/kg Wasser eine direkte Heilwirkung aus. Diese Anforderungen beziehen sich daher in erster Linie auf hydrogeologische Grundlagen, weil Wasser, welches zu Trink- und sonstigen Alltagszwecken dient, am Ort seines Ursprungs in der Regel weder eine Temperatur von 20 °C noch eine höhere Gesamtmineralisierung aufweist. Diese Kriterien treffen nur für Wässer aus größeren Tiefen zu, die auch schon in früheren Zeiten auf empirischer Basis als Heilwässer genutzt wurden. 3. Der Begriff „pharmakologisch bereits in kleinsten Mengen wirksame Inhaltsstoffe“ steht in Beziehung zur Tatsache, dass Heilwässer in der Zeit vor der modernen Pharmakotherapie häufig in Form von Trinkkuren genutzt wurden. Die Art der

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W. Marktl et al.

Zufuhr von Heilwässern entsprach daher jener für Medikamente. Mit der Entwicklung hochwirksamer Pharmaka haben die seinerzeitigen Heilanzeigen für Trinkkuren an Bedeutung verloren, weil damit wesentlich stärkere und rascher wirksame Medikamente zur Verfügung standen. Die perkutane Wirkung eines Heilwassers in Form von wiederholten Bädern weist jedoch keinen Zusammenhang mit dem pharmakologischen Wirkungsmechanismus peroral zugeführter Medikamente auf, weswegen G. Hildebrandt auch davon gesprochen hat, dass Balneotherapie keine verwässerte Pharmakotherapie sei (persönliche Mitteilung).

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Peloide Peloide - Gruppe ortsgebundener natürlicher Heilvorkommen, die wie Heilwässer einer gesetzlichen Regelung unterliegen. Es handelt sich um Sedimente organischer und anorganischer Herkunft, die durch geologische und geologisch-biologische Vorgänge entstanden sind. Diese Sedimente sind entweder bereits in ihrer natürlichen Form feinkörnig, oder sie werden durch bestimmte Verfahren in einen feinkörnigen Zustand gebracht. In dieser Form gelangen sie zur Anwendung beim Menschen.

In Abhängigkeit von der Herkunft und der Zusammensetzung werden grundsätzlich folgen­de Arten von Peloiden unterschieden: 55 Torfe (Hochmoortorf, Niedermoortorf, Moorerde), 55 Schlamme (Schlick, Mineralschlamm), 55 Heilerden. kTorfe

Es überwiegen die organischen Inhaltsstoffe. Das Lager, in dem sich der Torf befindet, ist das Moor, in dem sich der Torf aus abgestorbenen Pflanzen und Kleinlebewesen entwickelt hat. Die zugrunde liegenden Zersetzungsvorgänge laufen überwiegend ohne den Zutritt von Luftsauerstoff ab. Dabei entstehen auch die für die Torfe charakteristischen Humin­ stoffe, hochmolekulare kohlenhydratreiche Ver­ bindungen mit kolloidalen Eigenschaften, die zu einigen typischen Wirkungen der Peloide beitragen.

kSchlamme

Es überwiegen die anorganischen Bestandteile. Schlamme setzen sich aus Gewässern ab. Die üblicherweise in geringen Mengen enthaltenen organischen Verbindungen stammen aus den Lebewesen dieser Gewässer. kHeilerden

Es überwiegen die anorganischen Bestandteile. Heilerden entstehen bei der Verwitterung fester Gesteine. Hauptvertreter dieser Gruppe von Peloiden ist Ton. Die Anerkennung eines Peloids als Therapeutikum und die Art der Anwendung am Menschen unterliegen gesetzlichen Regelungen. Diese Regelungen besagen, dass vor der Anerkennung eine sog. Peloid-Vollanalyse durchgeführt werden muss. Untersucht werden 55 die thermophysikalischen Eigenschaften, 55 die chemische Zusammensetzung, 55 die bakteriologische Beschaffenheit. Auf Basis dieser Peloid-Vollanalyse wird ein balneomedizinisches Gutachten erstellt, in dem auch die Indikationen und Kontraindikationen festgelegt werden. Für die Anerkennung eines Peloids als natürliches Heilmittel muss u. a. nachgewiesen werden, dass es 55 in einem für die beabsichtigte Verwendung ausreichenden Lager vorhanden ist, 55 geeignete physikalische, physikalisch-chemische oder chemische Eigenschaften besitzt, 55 ohne Veränderung seiner natürlichen Zusammensetzung eine wissenschaftlich anerkannte Heilwirkung ausübt.

Wirkmechanismen Ortsgebundene natürliche Heilvorkommen entfalten ihre Wirkungen über die Haut, peroral oder über Schleimhäute. Perkutane Anwendungen erfolgen durch in Form von Bädern bzw. bei Peloiden durch Packungen, die perorale Zufuhr ist an eine Trinkkur gebunden. Bei Wirkungen über die Schleimhaut spielt Inhalation eine Rolle.

671 Kurmedizin

 rundlagen der Anwendung von G Bädern Für die Wirkungen von Bädern auf den mensch­ lichen Organismus sind einerseits physika­ lische Faktoren und andererseits die im Heilwasser vorhandenen chemischen Inhaltsstoffe bedeutend (Marktl und Deetjen 1985). Wissenschaftliche Grundlagen physikalischer Wirkungen des Wasserbades liefert einerseits die sog. Immersionsphysiologie und – wenn es um therapeutische Effekte geht  – die Hydrotherapie. Die Wirkfaktoren eines Vollbades sind in der folgenden Übersicht dargestellt: Vollbad – Wirkfaktoren 55 Mechanische Faktoren: –– Hydrostatischer Druck –– Auftrieb –– Viskosität 55 Thermische Faktoren: –– Wärme –– Kälte

. Tab.  28.1 fasst die wesentlichen Effekte zusammen, die durch Auftrieb, Viskosität und hydrostatischen Druck ausgelöst werden. In . Abb. 28.1 sind die Auswirkungen des hydrostatischen Drucks im Vollbad auf Parameter des Kreislaufs und des Wasserhaushalts zusammengefasst. Alle diese physikalischen Faktoren tragen, v.  a. bei iterativer, d.  h. bei im Rahmen einer Kur wiederholter Anwendung zu den gesund 



28

heitlich erwünschten Wirkungen einer Hydrotherapie bei. Heilwässer unterscheiden sich von „normalem“ Wasser durch physikalische Besonderheiten und chemische Inhaltsstoffe, wie es auch in den Definitionen und gesetzlichen Anerkennungserfordernissen zum Ausdruck kommt. Für die Wirkung von Wasserinhaltsstoffen auf die und in der Haut kommen grundsätzlich zwei Wirkungsmechanismen infrage: 55 Beeinflussung von Stoffwechselvorgängen im Hautorgan, 55 perkutane Resorption der chemischen Verbindung und Aufnahme in die Zirkulation. Die durch die Haut aufgenommenen Mengen einzelner Mineralstoffe liegen um mehrere Größenordnungen unterhalb des täglichen alimentären Bedarfs an Mineralstoffen und Spurenelementen. Dies betrifft Stoffe, die als Ionen oder ionisierte Badeinhaltsstoffe im Wasser vorliegen. Durch die perkutane Stoffaufnahme können daher keine relevanten Einflüsse auf die Stoffbilanzen des Organismus ausgeübt werden. Eine mögliche Pene­ tration durch die Haut kann nur für nichtionisierte hydrophile oder lipophile Substanzen angenommen werden. Beispiele sind CO2, Radon, H2S oder Jod. Die höchsten Resorptionszahlen haben Gase, gefolgt von Flüssigkeiten und gelösten Substanzen. Für diese chemischen Verbindungen sind daher direkte Wirkungen im Inneren des Organismus zu erwarten.

..      Tab. 28.1  Physikalische Wirkfaktoren eines Vollbades und sich daraus ergebende funktionelle Konsequenzen Auftrieb

Viskosität

Hydrostatischer Druck

Verminderung des Einflusses der Schwerkraft ↓ Entlastung des Stütz- und Bewegungsapparats, Entspannung der Muskulatur ↓ Unterwasser-Bewegungstherapie

Widerstandsübungen unter Wasser Unterwassermassagen

Umverteilung des zirkulierenden Blutvolumens → herznahe große Venen → Erhöhung der Auswurfleistung des Herzens Badediurese

672

W. Marktl et al.

..      Abb. 28.1 Grundlegende Vorgänge im Vollbad im Zusammenhang mit dem hydrostatischen Druck

Erhöhung des hydrostatischen Drucks im Vollbad

Umverteilung des zirkulierenden Blutvolumens in die herznahen großen Venen

Reizung der Niederdruckrezeptoren in den herznahen Venen und im rechten Vorhof des Herzens

Anstieg des Drucks in diesen Venen

Verminderung der Freisetzung von antidiuretischem Hormon und Aldosteron; Erhöhung der Freisetzung von natriuretischen Hormonen

Vermehrte Blutfüllung des Herzens Vermehrte Auswurfleistung des Herzens

Badediurese, Natriurese

»Stimulation des Kreislaufs«

28 Für das Verständnis der Wirkungen von Heilwasserinhaltsstoffen, die nicht in größeren Mengen durch die Haut penetrieren, erscheint eine Erörterung der Haut als Sinnesorgan hilfreich (s. unten: Die menschliche Haut). Ergänzend dazu kann festgehalten werden, dass diese Überlegungen sich auch auf jene komplementärmedizinischen Verfahren beziehen, bei welchen die Haut primärer Angriffspunkt ihrer therapeutischen Anwendungen ist. Die menschliche Haut Die menschliche Haut ist nicht nur als eine mehr oder weniger durchlässige Barriere zwischen dem Körperinneren und der Umwelt und als Umhüllung von Knochen, Muskeln und inneren Organen zu betrachten, sondern sie stellt auch das flächenmäßig größte Sinnesorgan des Menschen dar. In der Haut sind Sinnesrezeptoren lokalisiert, über die die 5  Sinnesmodalitäten (Berührung, Druck, Vibration, Temperatur und Schmerz) aufgenommen und über efferente somatische, aber auch vegetative Nervenfasern an verschiedene Stellen im Zentralnervensystem weitergeleitet werden. Somit können Empfindungen auf der Haut über das Zentralnervensystem Einfluss auf innere Organe erlangen. Anatomische Grundlage für die Beeinflussung der Funktionen innerer Organe durch die Haut sind die schon lange Zeit bekannten viszerokutanen Reflexe. Bei den in der Haut ausgelösten Sinneswahrnehmungen handelt es sich in der Regel um solche, die in das Bewusstsein gelangen oder in das Bewusstsein gerufen werden können. Reize, die

über die Haut aufgenommen werden, haben somit auch Auswirkungen auf die Psyche des Menschen. In der Haut laufen außerdem ständig zahlreiche Stoffwechselvorgänge ab.

>> Es ist grundsätzlich die Möglichkeit gegeben, über Einwirkungen auf die Haut Vorgänge im Inneren des Organismus auszulösen und zu beeinflussen. Dies betrifft nicht nur die Beeinflussung von physiologischen Funktionen, sondern auch von psychischen Faktoren.

Neben den Wirkungen von Heilvorkommen über die Haut spielen auch noch solche Effekte eine Rolle, die über die Schleimhäute vermittelt werden und bei peroraler Zufuhr auftreten. Dies ist bei der Zufuhr von Heilwässern in Form einer Trinkkur von Relevanz (s. unten).

Grundlagen der Heilwasser-Trinkkur Trinkkur - Wiederholte Zufuhr eines Heilwassers über einen längeren Zeitraum (Gutenbrunner und Hildebrandt 1994). Dabei werden die Dosierung und die Art der Zufuhr ärztlich verordnet und überwacht.

Aus dieser Definition geht hervor, dass bei der Trinkkur einerseits die Qualität des Heilwassers wichtig ist und andererseits die Art der

673 Kurmedizin

Durchführung eine Rolle spielt. Entscheidend für die therapeutisch erwünschte Wirkung einer Trinkkur ist, dass diese sich erst dann einstellt, wenn die Zufuhr des Heilwassers in geregelter Form über einen längeren Zeitraum erfolgt. Die Wirkungen, die von der wiederholten Zufuhr des Heilwassers ausgehen, können grundsätzlich durch folgende Wirkmechanismen zustande kommen (Gutenbrunner und Hildebrandt 1994): Wirkmechanismen der ­Heilwasser-Trinkkur 55 Direkter Kontakt des Heilwassers mit der Intestinalschleimhaut und dadurch ausgelöste Effekte auf die sekretorischen und motorischen Systeme des Verdauungstrakts 55 Direkter Kontakt des Heilwassers mit den Hohlorganen des Verdauungstrakts 55 Freisetzung von gastrointestinalen Hormonen 55 Aktivierung gastrointestinaler Reflexe 55 Stimulation psychomotorischer und psychosekretorischer Systeme 55 Kombinationen dieser Mechanismen

Bei der Wirkung von Trinkkuren spielen physiologische und pharmakologische Faktoren eine Rolle. Während früher die Ansicht vorherrschte, bei den Trinkkurwirkungen handle es sich eher um pharmakologische Wirkungen der Wasserinhaltsstoffe, werden heute eher physiologische Mechanismen postuliert. Es besteht die durch Untersuchungsergebnisse unterstützte Vorstellung, dass durch die wiederholte Zufuhr des Heilwassers bestimmte physiologische Regulationsmechanismen im Sinne eines adaptationsphysiologischen Geschehens beeinflusst werden. Unabhängig davon, ob bei der Trinkkurwirkung physiologische oder pharmakologische Wirkfaktoren im Vordergrund stehen, gibt es eine Reihe von Einflüssen, die die Heilwassereffekte modifizieren. Dazu zählen

28

55 die Höhe der Gesamtmineralisation, 55 die Konzentrationen der Hauptinhaltsstoffe und ihr quantitatives Verhältnis zueinander, 55 die Wassertemperatur, 55 der pH-Wert, 55 die Osmolarität, 55 der Gehalt an Spurenelementen, 55 ein eventueller Gehalt an gasförmigen Inhaltsstoffen, 55 die Menge, Häufigkeit und Tageszeit der Heilwasserzufuhr.

Grundlagen der Heilwasserinhalation Inhalationen werden vorwiegend bei Zuständen eingesetzt, bei denen die physiologischen Funktionen der Luftwege, insbesondere des anatomischen Totraums, beeinträchtigt sind. Die physiologischen Funktionen des Totraums sind: Anfeuchtung, Reinigung und Erwärmung der Inspirationsluft. Die Reinigungsfunktion der Luftwege wird auch als tracheomukoziliäre Clearance bezeichnet und beruht sowohl auf dem Vorhandensein des Bronchialsekrets als auch auf der Aktivität der Zilien des Flimmerepithels, das den Großteil der Atemwege auskleidet. Die Aktivität der Zilien kann durch verschiedene Einflüsse beeinträchtigt werden, z.  B. durch Zigarettenrauch, bestimmte Medikamente, Stress, Kälte oder Hitze, pH- und osmotische Veränderungen und Toxine. Neben der tracheomukoziliären Clearance ist Husten ein weiterer Schutzfaktor für die Atemwege. Die bei der Heilwasserinhalation mit dem Aerosol aufgenommenen Elektrolyte haben einen depolarisierenden Effekt auf Proteinkomplexe im Sputum. Dies bewirkt zusammen mit der Hyperosmolarität des Aerosols über osmotisch ausgelöste Effekte einen Wasserausstrom aus der Schleimhaut und dadurch eine Verbesserung der mukoziliären Clearance. Hyperosmolare Lösungen führen überdies zu einer Dissoziation von Nukleoproteidkomplexen, wodurch bei alkalischem Milieu die Aktivität von Proteasen durch Hemmung der DNA erhöht wird. In einem Sputum, in dem keine DNA vorhanden ist, können sich mono-

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W. Marktl et al.

valente Kationen gegen Kalzium austauschen und dadurch eine Dissoziation fibrillärer Struk­ turen herbeiführen. 28.1.3  Allgemeine

Wirkungsgrundlagen der komplexen medizinischen Kur

28

Wie bereits einleitend festgestellt, beruht die komplexe medizinische Kur auf dem gezielten Einsatz mehrerer unspezifischer und spezifi­ scher Therapieverfahren über einen definier­ten Zeitraum. Den multifaktoriellen chroni­schen Zivilisationskrankheiten wird ein  Thera­ pieverfahren gegenübergestellt, welches unterschiedliche Angriffspunkte aufweist. >> Komplexe medizinische Kuren sind ganzheitsmedizinische Verfahren im besten Sinn.

Die Einwirkung eines Systems von therapeutischen Faktoren auf das komplexe System des menschlichen Organismus weist darauf hin, dass balneologische Kuren und deren Wirkungen auf den Denkgrundlagen der Systemtheorie beruhen und über diese verstanden werden können. Die Einordnung der medizinischen Kur in die Reihe der ganzheitsmedizinischen Verfahren wird auch dadurch gerechtfertigt, dass Kuren als Reiz-Reaktions-Therapien oder Regulationstherapien angesprochen werden können. Es geht dabei um gezielte Reizsetzungen mit dem therapeutischen Zweck, erwünschte Reaktionen im Organismus hervorzurufen. Dabei spielen die physiologischen Reaktionen eine wesentliche Rolle, weswegen auch der Begriff Regulationstherapie berechtigt ist. Kuren beanspruchen eine Anerkennung als salutogenetische Verfahren, weil ihre Wirksamkeit an eine noch vorhandene physiologische Regulations- und Reaktionsfähigkeit gebunden ist. Wie bei allen medizinischen Verfahren dieser Art kommt einerseits den Reizparametern und andererseits der individuellen Reaktionslage erhebliche Bedeutung für den angestrebten therapeutischen Erfolg zu.

Reizparameter 55 Reizqualität 55 Reizstärke 55 Reizdauer 55 Reizintervall 55 Gesamtdauer der Reizserie

Individuelle Faktoren mit Bedeutung für die Planung und die Effizienz einer Kur (Auswahl) 55 Individuelle Disposition und ­Konstitution 55 Lebensalter 55 Geschlecht 55 Gesundheitszustand 55 Kurindikation 55 Parameter 55 Jahreszeit 55 Art des Heilmittels

Aus diesen beiden Übersichten ist unschwer zu erkennen, dass in Bezug auf die therapeutisch relevanten Reizfaktoren und die individuellen Voraussetzungen zwischen der komplexen balneologischen Kur und anderen ganzheitlichen Verfahren große Ähnlichkeiten bestehen. >> Bei Kuren, wie auch bei bestimmten komplementärmedizinischen Verfahren, geht die therapeutische Wirksamkeit von der wiederholten Applikation therapeutischer Reize aus. Für das Verständnis dieser Art von therapeutischen Verfahren ist zu betonen, dass die Reaktion auf den therapeutischen Einzelreiz nicht mit den Effekten der gesamten Reizserie gleichgesetzt werden kann und auch nicht eine einfache Summation der Soforteffekte der Einzelanwendungen darstellt.

Die wissenschaftliche Grundlage für Verfahren, deren Effizienz auf Basis wiederholter therapeutischer Interventionen beruht, stellt die physiologische Adaptation dar (Hildebrandt

675 Kurmedizin

1998). Eine Definition der physiologischen Adap­ tation lautet wie folgt: Physiologische Adaptation - Modifikation physiologischer Reaktionen bei Einwirkung von Reizen über längere Zeit (kontinuierlich oder intermittierend) mit Steigerung der Reaktionsökonomie und von Kompensationsleistungen.

Im Zusammenhang mit dem Begriff Kureffekt werden Phänomene beschrieben, die möglicherweise mit den Vorgängen der physiologischen Adaptation in Verbindung stehen oder Folgen derselben sind. Diese werden mit Begriffen wie „Normalisierung“, „Homogenisierung“ und „Rhythmisierung“ bezeichnet. zz Normalisierung und Homogenisierung

Als Normalisierung wird das Zustreben einzelner Zustands- und Funktionsgrößen auf Zielwerte definiert, die man einem durchschnittlichen Kollektiv gesunder Menschen zuordnen würde. Homogenisierung beschreibt den Sachverhalt, dass sich kurzfristig zeitliche Änderungen untersuchter Verlaufsgrößen innerhalb von Kollektiven nach Größe und Richtung angleichen. Die Phänomene Normalisierung und Homogenisierung werden als Zeichen der Stabilisierung funktioneller und koordinativer Leistungen gewertet (Hildebrandt 1998). zz Rhythmisierung

Rhythmisierung bezieht sich auf Vorgänge unterschiedlicher Art, wobei v. a. das zirkadiane System von Interesse ist. Aufgaben des Systems der zirkadianen Rhyth­ men: 55 Aufrechterhaltung bestimmter interner Phasenbeziehungen zwischen verschiedenen endogenen Rhythmen und 55 Anpassung an die sich ständig periodisch ändernden Umwelteinflüsse oder – mit anderen Worten – Einhaltung bestimmter externer Phasenbeziehungen. Ausgeprägte zirkadiane Rhythmen werden daher als Zeichen ordnungsgemäß ablaufender physiologischer Funktionen gewertet, während Rhythmusstörungen Ursache oder Folge von Funktionsstörungen sein können (Wever 1979).

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Eine Verbesserung der internen Synchronisation verschiedener rhythmischer Funktionen im Verlauf von Kuren wurde verschiedentlich nachgewiesen (Hildebrandt 1998; Marktl 1983, 1984; Marktl et al. 1987). Des Weiteren konnte gezeigt werden, dass bezüglich verschiedener Parameter und Funktionen eine Akzentuierung von zirkadianen Rhythmen vom Anfang zum Ende der Kur hin auftritt (Marktl 1983). Aufgrund der bisherigen Erkenntnisse ist aber nicht zu entscheiden, welcher Anteil daran der regelmäßig wiederholten Anwendung der natürlichen Heilmittel zukommt bzw. inwieweit andere im Rahmen einer Kur auftretenden Einflüsse eine Rolle spielen. Auf jeden Fall ist Rhythmisierung kein allgemeiner Vorgang, da während verschiedener Kuren bei verschiedenen Patientengruppen nicht jeder untersuchte Parameter, sondern nur bestimmte davon eine Akzentuierung von Rhythmen zeigen, was bedeuten könnte, dass dieser Kureffekt von der Art der Kur abhängt, möglicherweise aber auch bei verschiedenen Krankheiten qualitativ und quantitativ unterschiedlich ausgeprägt ist. 28.1.4  Studien/Evidenzlage

Es gibt sehr umfangreiches Studienmaterial zum Thema. Als Beispiel für den Nachweis der Effizienz der balneomedizinischen Kur kann der sog. Hafteffekt herangezogen werden. Es handelt sich dabei um die Nachhaltigkeit des Kureffekts über Monate nach dem Ende des Kuraufenthalts. Solche Hafteffekte sind für verschiedene physiologische und psychologische Parameter wie z. B. für Symptome wie Schmerz, Befindlichkeit, Morgensteifigkeit, StimmungsGenuss- und Entspannungsfähigkeit, Gesundheitszufriedenheit, Blutdruckwerte unter Ruhe und Belastung, Adipositas etc., bei verschiedenen Kurindikationen, v.  a. bei degenerativen Erkrankungen des Bewegungsapparats, und für verschieden lange Zeiträume nachgewiesen: Baier (1975), Van Tubergen et  al. (2001, 2002), Bender et  al. (2005), Strauss-Blasche et  al. (2000), Strauss-Blasche und Marktl

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W. Marktl et al.

(1997), Knüsel und Schneeberger (1982), Falkenbach et al. (2005), Marktl et al. (1988, 1990, 1999), Kolesar et  al. (1989), Böttcher et  al. (1994a, b), Piper (1995), Weigl et al. (2008). 28.1.5  Vorkommen und

Charakteristika von Heilwässern – Beispiel Österreich

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Die nachfolgenden Angaben wurden vom Autor nach bestem Wissen zusammengestellt. Da vonseiten der Politik die gesetzliche Anerkennung von natürlichen ortsgebundenen Heilvorkommen auf die Ebene der Bezirkshauptmannschaften verlagert wurde, sind detaillierte Angaben, wenn überhaupt, nur mit großen Schwierigkeiten zu erhalten. zz Akratopegen

Kalte Wässer mit einer Gesamtmineralisation   20  °C am Quell­austritt und einer Gesamtmineralisation  370 Bq/kg für Badekuren bzw. 3700 Bq/kg für Trinkkuren. 55 Badgastein (radonhaltige Akratothermen) 55 Bad Hofgastein (radonhaltige Akratothermen) 55 Bad Zell (kaltes radonhaltiges Heilwasser)

zz Kohlensäurehaltige Wässer (Säuerlinge)

Wässer mit einem Kohlendioxidgehalt > 1 g/kg (Badesäuerling) oder > 250 mg/kg (Trinksäuerling). Kohlendioxidhaltige Wässer sind in der Regel höher mineralisiert, sie werden daher auch als Mineralsäuerlinge bezeichnet und können balneochemisch charakterisiert werden. Häufig wird in Kuranstalten, in denen ein Säuerling zu Badezwecken genutzt wird, auch Kohlendioxid in der Gasform angewendet. kBadesäuerlinge

55 Bad Schönau 55Christophorus Milleniums-Quelle (Ca-Mg-HCO3-SO4-Fe-Mineral-­ Säuerling) 55Quelle I, alte Quelle (Ca-Mg-HCO3SO4-Fe-Mineral-Säuerling) 55Quelle II, neue Quelle (Ca-Mg-HCO3SO4-Fe-Mineral-Säuerling) 55Quelle III (Ca-HCO3-SO4-MineralSäuerling) 55 Bad Gleichenberg 55Emma Quelle (Na-HCO3-ClMineral-Säuerling) 55Johannisbrunnen II, Maria Theresien Quelle (Na-HCO3-Mineral-Säuerling) 55Konstantinbrunnen (Na-HCO3Mineral-Thermal-Trinksäuerling, Na-HCO3-Cl-Mineral-Säuerling) 55 Bad Radkersburg (Mg-Ca-HCO3-Mineral-Säuerling, Na-HCO3-MineralThermal-Säuerling) 55 Wildbad Einöd (Ca-SO4-HCO3Mineral-Thermal-Säuerlinge) 55 Bad Eisenkappel 55Konstantinquelle (Na-HCO3-ClMineral-Säuerling) 55Kellerquelle (Na-Ca-HCO3-Fe-MineralSäuerling) 55Neue Carinthia Bohrquellen I–IV (Na-HCO3-Cl-Mineral-Säuerlinge) 55Neue Hellenenquelle (Na-HCO3Mineral-Säuerling) 55 Trebesing (Ca-HCO3-SO4-Mineral-Säuerling) 55 Bad Tatzmannsdorf 55Marienquelle (Na-Ca-HCO3Mineral-Säuerling)

677 Kurmedizin

55Wetsch-Quelle (Na-Ca-Mg-HCO3Mineral-Säuerling) 55Therme 72 (Ca-HCO3-MineralThermal-Säuerling) 55 Bad Sauerbrunn 55Paulquelle (Mg-Ca-HCO3Mineral-Säuerling) 55Gemeindequelle (Mg-Ca-Na-HCO3SO4-Mineral-Säuerling) 55 Gabelhofen/Fohnsdorf (Na-Cl-HCO3Mineral-Thermal-Säuerling) 55 Bad Weißenbach 55Franz Kahler Quelle (Ca-Na-HCO3Mineral-Thermal-Säuerling) 55Heinz Sabine Quelle (S-haltiger Ca-Na-HCO3-Thermal-Säuerling, Na-Ca-HCO3-Mineral-ThermalSäuerling) 55Thomas Miriam Quelle (Na-Ca-HCO3-­ Mineral-Thermal-Säuerling) 55 Bad Vellach (Na-Ca-HCO3-Säuerling) 55 Piringsdorf, Piringsdorf III (Na-Ca-HCO3-Mineral-Säuerling) 55 Hochneukirchen 55Magnesiumquelle, Anna Quelle (Mg-Na-HCO3-Mineral-Säuerling) 55Na-Ca-Mg-HCO3-Trinksäuerling 55 Thalheim, Thalheim KB1 (Ca-Na-HCO3SO4-Cl-Mineral-Säuerling) 55 Zlatten, Aktivquelle, Hildequelle (Fe-haltiger Ca-Mg-HCO3-Cl-Mineral-Säuerling) kTrinksäuerlinge

55 Lutzmannsburg (MineralThermal-Trinksäuerling) 55 Pamhagen/Pannonia (NaHCO3Thermal-Trinksäuerling) 55 Illmitz, St. Bartholomäusquelle (NaHCO3-Mineral-Trinksäuerling) 55 Hochneukirchen, Maltern 2, Doris-Quelle, (Na-Ca-Mg-HCO3-ClMineral-Trinksäuerling) 55 Wildbad Einöd (CaHCO3-Thermal-Trinksäuerling) zz Schwefelwässer

Wässer mit einem Gehalt von mindestens 1 mg/ kg an 2-wertigem titrierbarem Schwefel. Die

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in Schwefelwässern am weitaus häufigsten vertretene 2-wertige Schwefelverbindung ist Schwefelwasserstoff (H2S). Schwefelwässer sind in der Regel hoch mineralisiert, weswegen auch von Schwefelmineralwässern gesprochen wird. Schwefelwässer sind nicht mit Sulfatwässern zu verwechseln, denn Schwefel tritt in der Sulfatverbindung in 4-wertiger Form auf. 55 Bad St. Leonhard/Lavanttal (akratisches Schwefelwasser) 55 Burgwies/Stuhlfelden (akratisches Schwefelwasser) 55 Bad Wörschach (akratisches Schwefelwasser) 55 Bad Schallerbach (akratisches Schwefel-Thermal-Wasser) 55 Längenfeld (akratisches SchwefelThermal-Wasser) 55 Bad Goisern (akratische JodSchwefel-Wässer) 55 Bad Ischl (Na-Mg-SO4-Cl-S-MineralWasser, Na-Cl-SO4-S-Mineral-Wasser) 55 Bad Häring (Na-Ca-Cl-HCO3-S-MineralWasser) 55 Geinberg (Na-HCO3-Cl-S-MineralThermal-Wasser) 55 Stegersbach (Na-HCO3-S-MineralThermal-Wasser) 55 Baden bei Wien (Ca-Na-Mg-SO4-Cl-SMineral-Thermal-Wässer) 55 Bad Erlach (Ca-Mg-SO4--S-MineralThermal-Wasser) 55 Payerbach (Ca-Mg-Na-SO4-S-MineralThermal-Wasser) 55 St. Martin/Lofer (Ca-Mg-SO4-S-MineralThermal-Wasser) 55 Allerheiligen/Mürztal (Ca-Na-SO4-HCO3S-Mineral-Thermal-Wasser) 55 Wien/Oberlaa (Na-Ca-SO4-Cl-S-MineralThermal-Wasser) 55 Bad Sauerbrunn (Na-SO4-HCO3-SMineral-Thermal-Wasser) 55 Bad Deutsch Altenburg 55Kurhausquelle, Kaiserbadquelle (Na-Ca-Cl-SO4-HCO3-J-S-MineralThermal-Wasser) 55Schloßquelle, Direktionsbrunnen (Na-Ca-Cl-HCO3-J-S-MineralThermal-Wasser)

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W. Marktl et al.

55 Engelhartstetten (Na-Cl-S-J-MineralThermal-Wasser) 55 St. Georgen/Attergau (Na-Cl-J-S-MineralWasser) 55 Dürrnberg/Hallein, Wiestalquelle (Na-CaCl-SO4-S-Mineral-Wasser) 55 Windischgarsten, Schwaiger Quelle, Trojer Quelle (Ca-SO4-S-Mineral-Wasser) zz Kochsalzwässer und Solen

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Wässer mit einer erhöhten Konzentration an Kochsalz (NaCl). Ab einer Kochsalzkonzentration > 14 g/kg wird von einer Sole gesprochen. Kochsalzwässer sind meist höher mineralisiert, die Wirkungen werden durch die Mineralstoffe modifiziert. 55 Bad Ischl, Maria Louisen Quelle (Bergwerksole) 55 Dürrnberg/Hallein (Bergwerksole) 55 Bad Aussee (Bergwerksole) 55 Altaussee (Bergwerksole) 55 Salzerbad (Quellsole) 55 Obermoos/Leopoldskron (Fehaltige-Quellsole) 55 Bad Hall (Jodsole) 55 Bad Pirawarth (Jod-Thermal-Sole) 55 St. Kanzian (Jodhaltige Na-Cl-HCO3Thermal-Sole) 55 Laa/Thaya, Thermal Nord I (Na-Cl-JMineral-Thermal-Wasser) 55 Speltenbach (Fe-haltige-Na-Cl-J-ThermalSole) 55 Loipersdorf (Na-Cl-HCO3-Thermal-Sole) 55 Neumarkt/Ybbs (Na-Cl-J-Mineral-Wasser, Na-Cl-HCO3-J-Mineral-Wasser) 55 Reichersberg (Na-Cl-J-Mineral-ThermalWasser) 55 St. Georgen/Attergau (Na-Cl-J-S-MineralWasser) zz Natriumhydrogenkarbonat-Wässer

Wässer mit einem erhöhten NaHCO3-Gehalt werden für Trinkkuren und für Badekuren eingesetzt. Bei den in den angeführten Orten vorhandenen Heilwässern handelt es sich um NaHCO3-Mineral-Thermalwässer. 55 Stegersbach, Thermal 2 (Na-HCO3Mineral-Thermal-Wasser)

55 Bad Radkersburg (Na-HCO3Mineral-Thermal-Wasser) 55 Ilz (Na-HCO3-Mineral-Thermal-Wasser) 55 Ottendorf an der Rittschein (Na-HCO3-Mineral-Thermal-Wasser) 55 Lutzmannsburg 55 Frauenkirchen, Thermal 1 (Na-HCO3-ClMineral-Thermal-Wasser) 55 Bad Tatzmannsdorf, Thermal 1 (NaHCO3-Cl-Mineral-Thermal-Wasser) 55 Bad Gleichenberg, Mariannen Quelle (Na-HCO3-Cl-Mineral-Thermal-Wasser) 55 Bad Waltersdorf (Na-HCO3Mineral-Thermal-Wasser) 55 Obernberg (Na-HCO3-Cl-MineralThermal-Wasser) 55 Gallspach (Na-HCO3-Cl-MineralThermal-Wasser) 55 Grieselstein/Jennersdorf, Barbara Quelle, TH1 (Na-HCO3-Mineral-ThermalWasser) 55 Thalheim, Thalheim KB2 (Na-Ca-MgHCO3-SO4-Cl-Mineral-Wasser) zz Sulfatwässer

Wässer mit einem erhöhten Sulfatgehalt bzw. mit Sulfat in der balneochemischen Charakteristik werden in erster Linie für Trinkkuren eingesetzt. Schwefelwässer (s.  oben) enthalten in der Regel auch höhere Sulfatkonzen­ trationen, sie werden in der folgenden Aufstellung aber nicht angeführt, weil sie bereits in der Liste der Schwefelwässer erscheinen. Handelt es sich bei den Sulfatwässern um Thermalwässer, werden sie auch für Badekuren eingesetzt. 55 Mehrn/Brixlegg (Ca-Mg-SO4-HCO3Mineralwasser) 55 Weinberg/Prambachkirchen (Ca-SO4-HCO3-Fe-Mineralwasser mit bituminösen Inhaltsstoffen, Ca-SO4-HCO3-Mineralwasser mit bituminösen Inhaltsstoffen) 55 Abtenau (Na-Ca-Cl-SO4-Mineralwasser) 55 Bad Aussee, Scheibenstollenquelle (Na-Cl-SO4-Mineralwasser) 55 Vigaun (Na-Ca-Cl-SO4-Mineral-ThermalWasser)

679 Kurmedizin

55 Bad Mitterndorf (Ca-Mg-SO4-ThermalMineral-Wasser) 55 Windischgarsten, Dilly Brunnen (Na-CaCl-SO4-Mineral-Wasser) 55 St. Lorenzen/Lesachtal (Ca-Mg-SO4Mineral-Wasser) 55 Öblarn (Mg-Fe-SO4-Mineral-Wasser) 55 Oggau (Mg-Na-SO4-Mineral-Wasser) 55 Dellach/Drautal (Ca-SO4-Mineral-Wasser) 55 Prottes, Mineralwasser Stracke (Ca-MgHCO3-Mineral-Wasser) 55 Bad Pirawarth, Neue Parkquelle (Ca-MgSO4-HCO3-Mineral-Wasser) 55 Bad Ischl (Na-Cl-SO4-Mineral-Wasser) 55 Bad Mitterndorf (Ca-Mg-SO4-MineralThermal-Wasser) 55 Kaprun (Ca-Na-Mg-SO4-Mineral-Wasser) 55 Mauterndorf, Quelle Burghardt (Ca-MgSO4-Mineral Wasser) zz Jodwässer

Es handelt sich dabei um Heilwässer mit unterschiedlicher balneochemischer Charakteristik. Die zusätzliche Bezeichnung Jodwässer bezieht sich darauf, dass diese Wässer mehr als 1 mg/kg Jodid enthalten. 55 Engelhartstetten 55 St. Georgen im Attergau 55 Laa an der Thaya 55 Speltenbach 55 St. Kanzian 55 Bad Deutsch Altenburg 55 Bad Hall 55 Bad Pirawarth 55 Reichersberg 55 Neumarkt/Ybbs zz Eisenwässer

Wässer mit einem Eisengehalt > 10 mg/kg werden in erster Linie für Trinkkuren bei verschiedenen Situationen von Eisenmangel eingesetzt. 55 Speltenbach (Na-Cl-Fe-J-Mineral-Thermal-Wasser) 55 Reuthe (Fe-haltiges Heilwasser akratischer Konzentration) 55 Weinberg/Prambachkirchen (Ca-SO4HCO3-Fe-Mineral-Wasser mit bituminösen Inhaltsstoffen)

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55 Bad Gams, Michelquelle, St. Hubertusquelle (Fe-haltige Akratopegen) 55 Obermoos/Salzburg (Fe-haltige Sole) 55 Bad Tatzmannsorf (Ca-HCO3-Fe-­ Säuerling) 55 Öblarn (Mg-Fe-SO4-Mineral-Wasser) 55 Bad Eisenkappel, Kellerquelle (Na-CaHCO3-Fe-Säuerling) 55 Zlatten (Fe-haltiger Na-Mg-HCO3-SO4Mineral-Säuerling) 55 Bad Schönau, alte Quelle, neue Quelle, Christophorus Milleniums Quelle (Fe-haltiger Ca-Mg-HCO3-SO4-MineralSäuerling) Details zu den Wirkungsmechanismen und Indikationen der einzelnen Heilwässer können der Literatur entnommen werden (Gutenbrunner und Hildebrandt 1994; Hildebrandt 1998; Schmidt 1989; Foisner 2011). Zusammenfassung 55 Die komplexe medizinische Kur stellt ein ganzheitsmedizinisches Verfahren dar. 55 Sie beruht auf der iterativen Anwendung eines oder mehrerer ortsgebundener natürlicher Heilvorkommen in Kombination mit anderen unspezifischen und spezifischen therapeutischen Maßnahmen. 55 Von anderen ganzheitlichen therapeutischen Verfahren, die ähnliche Methoden anwenden, unterscheidet sich die balneologische Kur durch den Einsatz des ortsgebundenen natürlichen Heilvorkommens, dem Identifikationsmerkmal der medizinischen Kur. 55 Der gesundheitlich erwünschte Effekt einer medizinischen Kur geht von der wiederholten Applikation der therapeutischen Maßnahmen aus, als Verständnisgrundlage der Wirkungsmechanismen dient die Adaptationsphysiologie. 55 In dieser Hinsicht und auch dadurch, dass die Kur als Reiz-Reaktions-Therapie bzw. als regulationstherapeutisches Verfahren angesprochen werden kann, weist sie gemeinsame Merkmale mit verschiedenen komplementärmedizinischen Methoden auf. Im Hinblick auf die Tradition in vielen europäischen Ländern kann die Kur in den Bereich der traditionellen

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W. Marktl et al.

europäischen Medizin (TEM) eingeordnet werden, durch den überwiegenden Einsatz natürlicher Therapiemaßnahmen ist auch eine Zuordnung zur Naturheilkunde möglich. 55 Balneologische Kuren weisen naturwissenschaftliche Grundlagen auf; Erkenntnisse über die Anwendungen von Heilbädern liefern die Immersionsphysiologie und die Hy­ drotherapie. 55 Wie durch eine große Zahl von wissenschaftlichen Studien nachgewiesen wurde und wird, ist die Domäne der Kur der Einsatz bei chronischen zivilisationsbedingten Erkrankungen, bei denen Kuren nachhaltige Effekte erzielen können.

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28.2  Kuren nach Hildegard

von Bingen

Petra Zizenbacher 28.2.1  Frühjahrskur/Maikur

Die Maikur verwendet Wermutelixier (7 Kap. 15, Hildegard-Medizin), ein wichtiges Lymphreinigungsmittel, und ist eine ideale Kur, die selbst zu Hause durchgeführt werden kann. Sie wird vorbeugend eingesetzt. Den Wermuttrank gibt es im gut sortierten Fachhandel, er lässt sich aber auch selbst herstellen:  

Maitrank: Rezept 55 150 g Honig 55 1 l Wein (Weiß- oder Rotwein aus biologischem Anbau) 55 40 ml Wermutsaft oder 50 g frische Wermutblätter Die Blätter bzw. der Saft in Wein kochen, zuletzt den Honig zugeben und abfüllen.

Von Mai bis Oktober wird jeden 3. Tag morgens ein doppeltes Schnapsglas getrunken (da  die

Größe der Gläser variiert, sind zumeist 4 l Maitrank nötig, um die Kur durchzuführen). 28.2.2  Birnhonigkur

Die Birnhonigkur ist eine klassische Hildegard-Anwendung und wird idealerweise im Herbst/Winter durchgeführt. Indikationen sind Verstopfung, Kopfschmerzen, Erschöpfung, menopausale Beschwerden, PMS, Zysten; sie kann auch zur Vorbeugung eingesetzt werden. Manche Menschen mögen den Geschmack von Birnen nicht. In diesem Fall können auch Quitten verwendet werden. Da die Größe der Früchte variiert, ebenso wie die Größe von Löffeln, sind die Mengenangaben vage. Manchen Anwendern ist der Geschmack der Gewürze zu intensiv. Diese können die doppelte Menge an Früchten verwenden, wodurch sich allerdings die Einnahmedauer verlängert. Konkrete Mengenangaben sind in den überlieferten Texten selten zu finden. Hier eine an heutige Maßstäbe adaptierte Version: Vorgehen bei der Birnhonigkur 55 Zutaten: –– 8 Birnen bzw. Quitten –– Birnhonigkur-Gewürzmischung (im Fachhandel erhältlich, enthält Bärwurzpulver, Galgant, Süßholz, Pfefferkraut) –– 8 EL Honig 55 Die Früchte werden vom Kerngehäuse befreit und mit wenig Wasser weichgedünstet und püriert, dann die Gewürzmischung und den Honig hinzufügen, alles nochmals aufkochen, in kleine Gläser abfüllen und diese nach dem Auskühlen im Kühlschrank aufbewahren. 55 Täglich wird das Latwerg (so nennen sich gekochte Gewürz-Obst-Mischungen) eingenommen:

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681 Kurmedizin

–– Morgens: 1 TL –– Mittags: 2 TL –– Abends: 3 TL 55 Zumeist reicht die angegebene Menge für ca. 2–3 Wochen. 55 Vor der Wiederholung der Kur wird eine einmonatige Pause eingelegt.

28.2.3  Hildegard-Fastenkur

Die Reinigung des Körpers spielt bei den Hildegard-Empfehlungen eine große Rolle. Hildegard war eine Klosterfrau, und das Kirchenjahr ist durch Fastenzeiten und Feiertage gegliedert. Vor jedem großen Feiertag, z. B. Ostern und Weihnachten, findet sich eine Fastenempfehlung: 40 Tage vor Ostern, 3 Wochen vor Weihnachten. Zusätzlich werden Freitage und Mittwoche als Fastentage empfohlen. Diese traditionellen Empfehlungen muten fast modern an. Jeder gesunde Mensch kann einmal pro Woche einen Hildegardschen Fastentag einlegen oder auch gelegentlich eine Woche lang den Körper nach dieser Empfehlung entgiften. Wird die Nahrungsaufnahme mehr als einen Tag lang eingestellt, ist es empfehlenswert, sich frei zu nehmen, um den Bedürfnissen des Körpers Folge leisten zu können. Fasten und Ausscheiden ist – speziell zu Beginn – Schwerarbeit für den Körper. Er braucht Ruhe, um Altes loslassen und sich reinigen zu können. Ausscheidungsmaßnahmen wie Körperbürsten, Leberwickel, Ganzkörperoder Fußbäder tun gut, entspannen und helfen dem Bindegewebe, Abgelagertes auszuscheiden. Plan für einen Fastentag 55 Vor dem Frühstück den Körper bürsten: Beim trockenen Bürsten wird morgens nach der Frühgymnastik und vor der Dusche oder abends vor dem Entspannungsbad der gesamte Körper bei den Zehen beginnend mit einer Borstenbürste kräftig gebürstet, bis die Haut eine rötliche Färbung aufweist. Körperstellen, die

schmerzen, sollten besonders aufmerksam behandelt werden. Bei Vorliegen einer Neurodermitis sollten die betroffenen Hautstellen vorerst ausgespart werden. Bei Krampfadern ist der Druck der Bürste an die individuelle Wohlfühldosis anzupassen. Idealerweise wird der Körper nach der Bürstenmassage kalt abgewaschen oder kalt abgeduscht. 55 Frühstück: –– Fencheltee oder anderen Kräutertee, –– 3–4 Gewürzkekse (Hildegard-Kekse, fertig zu kaufen). 55 Vormittags: –– 1/16 l Petersilienhonigwein (im Handel erhältlich), –– 2 Galgant-Kekse (fertig zu kaufen), 55 Mittags: –– Dinkelsuppe (Rezept: 7 Kap. 29, Ernährung nach Hildegard von Bingen), –– anschließend ein Bauchdunstwickel: Feuchtwarmes Tuch auf den rechten Oberbauch legen, darüber eine Wärmeflasche geben und sich mit einem Handtuch ein wickeln. Mindestens 20 Minuten rasten! 55 Nachmittags: –– Kräutertee, z. B. Fenchel- oder Brennnesseltee, –– 2 Hildegard-Kekse. 55 Abends: –– Suppe wie zu Mittag –– oder Kräutertee –– und eventuell 1/16 l Weißwein trocken. 55 Vor dem Schlafengehen noch ein Entgiftungsbad nehmen: Auf ein Vollbad ¼ kg Meersalz oder einen Liter Brennnesseltee nehmen. Anschließend möglichst eine halbe Stunde, besser noch eine Stunde, im Bad bleiben. Danach nicht abtrocknen, sondern im Bett eine halbe Stunde nachruhen. Während des Bades Kräutertee oder Wasser trinken. Vor dem Bad sollte der Körper mindestens 10 Minuten lang trocken gebürstet werden.  

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W. Marktl et al.

Zusammenfassung 55 Dargestellt werden drei Kuren nach Hildegard von Bingen: 55 die Maikur als spezielle Frühjahrsreinigungskur 55 die Birnhonigkur zur Anwendung im Herbst/Winter 55 das Hildegard-Heilfasten im Rahmen einer Fastenkur bzw. eines wöchentlichen Fastentags

28.3  Schrothkur Rainer Schroth

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28.3.1  Historischer Überblick

Johann Schroth (1798–1856) Johann Schroth, der Begründer der Schrothkur, war ein einfacher Bauer. Neben seiner Landwirtschaft betrieb er ein kleines Fuhrwerk in Nieder-Lindewiese in Österreich-Schlesien. Im Jahr 1817 wurde der gerade 19 Jahre alte Johann Schroth durch einen Pferdehufschlag am Kniegelenk so schwer verletzt, dass es steif blieb und ihm starke Schmerzen bereitete. Er suchte mehrere Ärzte auf, doch keiner konnte ihm helfen. Eines Tages traf er einen Wandermönch, dem er sein Leid schilderte. Dieser riet ihm zu kalten Umschlägen, welche er häufig wechseln sollte, und im Übrigen sollte er doch einfach die Natur betrachten und schauen, was Tiere in einer solchen Situation machten. Bei der Verabschiedung sagte der Mönch zu ihm:

»» „Du wirst sehen, die Kühle des Wassers wird dein Knie heilen.“

Johann Schroth behandelte zunächst sein Knie mit kalten Umschlägen, die sich allerdings rasch erwärmten. Weil das häufige Wechseln zeitraubend und auch nicht immer möglich war, wickelte er eine Decke über die nassen Leintücher und schnürte sie zu. Rasch erkannte er, dass es nicht die Kälte war, nicht das Wasser allein, sondern die sich rasch entwickelnde feuchte Wärme, die ihm Linderung verschaffte.

Er begann, wie es ihm der Mönch geraten hatte, die Natur zu beobachten. Er wusste, dass seine Pferde umso weniger leisteten, je mehr sie getrunken hatten. Er sah, dass sich kranke Tiere zurückzogen und so lange fasteten, bis sie wieder gesund waren. Er bemerkte, dass auch Kranke keinen Appetit hatten und am liebsten nichts essen wollten. Als aufmerksamer Bauer entging ihm nicht, dass zum Gedeihen seines Saatguts feuchte Wärme notwendig war. In der feuchten Wärme erkannte er einen wichtigen Lebens- und Heilfaktor, welcher sein Bein, welches zuvor 2 Jahre steif gewesen war, nach 3 Monaten vollkommen wiederherstellte. Angesichts dieser Erfahrung prägte er die berühmten Worte:

»» „In feuchter Wärme gedeiht Holz, Frucht, Wein, selbst Fleisch und Bein.“

Seine Heilung kam in dieser Zeit einem Wunder gleich, und Menschen aus der nahen und fernen Umgebung kamen mit Knochenbrüchen zu ihm, um Rat für eine funktionstüchtige Heilung zu suchen. Sein Ruf als „Wunderdoktor“ verbreitete sich über die Grenzen seiner Heimat hinaus. Das hatte zunächst erwartungsgemäß zur Folge, dass er von manchen Ärzten und Apothekern als Kurpfuscher vor Gericht gebracht, verurteilt und 3 Tage lang inhaftiert wurde. Trotz aller Anfeindungen schickten viele Ärzte Patienten zu Johann Schroth. Es erschienen zahlreiche Bücher und ganze Buchreihen, die zur Verbreiterung der Methode beitrugen.

 nerkennung der Schrothkur als A Heilmethode Erst als ihm sensationelle Heilungen von hochrangigen Personen gelangen, die von allen Ärzten bereits aufgegeben worden waren, erhielt er von der k. u. k Hofkanzlei in Wien die Erlaubnis zum Betrieb einer eigenen Kuranstalt.

»» „Ganz besonders verdankte er dieses

Dekret der Heilung des Prinzen Wilhelm von Würtenberg. Seine Krankengeschichte zeigt, welche großartigen Erfolge mit dieser Heilmethode erreicht werden konnten. Hier ein Auszug der Krankengeschichte, veröffentlicht im Jahr 1867:

683 Kurmedizin

Derselbe wurde im italienischen Krieg (1848–1849) am 23. März 1840 durch eine französische Flintenkugel am Knie dermaßen verwundet, daß er, im Getümmel übersehen, hilflos und von Schmerz gefoltert auf dem Schlachtfeld liegen blieb und erst spät beim Aufsammeln der Verwundeten entdeckt wurde. Die Behandlungen der Ärzte verschlimmerten das Übel auf das Unleidlichste. Am 1. Mai in Mailand applicirte ein Arzt mit einem tiefen langen Schnitt die Wunde, um der Eiter Versenkung Einhalt zu thun. Nach kurzer Besserung kam es wieder zu einer Verschlechterung. Ein folgender Aufenthalt in Baden bei Wien und Anwendung der Bäder führten zu heftigsten und anhaltenden Convulsionen. Völlig erschöpft und kränker als zuvor verließ er Baden und erreichte am 22. September seinen Heimatort Karlsruhe in Schlesien. Von Prof. Benedict erhielt er Camillenthee Einspritzungen in die Wunde und assa foetida Pillen, 48 Stück am Tag. Das Leiden wurde immer ärger. Ein Aderlass schwächte noch mehr und Abführmittel brachten keine Hilfe. Der eine schlug vor die Wunde auszuschneiden, ein anderer empfahl den kariösen Knochen auszustemmen und der nächste meinte man müsse das ganze Bein abnehmen. Das Leiden wurde immer ärger und auf Anraten seines Kammerdieners begab sich der Prinz mit folgendem Zustand zu Johann Schroth: Die Wunde war von wildem Fleisch bedeckt, aus welchem eine kleine Öffnung, die 3 Zoll tief in das Innere des zerstörten Knochens führte. Rund um die Öffnung im wilden Fleisch fand man abgestoßene Knochensplitter. Die ganze obere Hälfte des Schienbeins war in der Größe eines Handtellers aufgetrieben. Die Seiten bis zur Wade waren stark geschwollen, selbst das Kniegelenk und die Partie darüber waren stark geschwollen. Von den Leistendrüsen des linken Schenkels bis zum Kniegelenk ging eine höchst

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schmerzhafte Geschwulst. Es handelte sich um eine Verbindung des Übels mit dem Unterleibe. Dabei fieberte der Patient, war äußerst schwach, ohne Appetitt und abgestumpft gegen äußere Eindrücke. Der von der Wunde erzeugte Schmerz war so groß, daß das Bein überall auch nicht die leiseste Berührung ertragen konnte. Aus der Öffnung floss stinkende Jauche. Johann Schroth begann mit feuchten Umschlägen um das verwundete Bein und wechselte sie alle 12 Stunden. Schon nach dem dritten Verband waren die Schmerzen so gering, daß der Prinz 6 Stunden im Leibumschlag schlafen konnte. Jetzt brachen die Wunden auf und sonderten eine Menge schlechter Jauche ab. Die Geschwulst nahm ab und der Schmerz verlor sich. Der Prinz hielt sich an die strenge Schrothdiät und nach 14 Tagen trat an die Stelle der Jauche nun gesunder Eiter und das Allgemeinbefinden machte günstige Fortschritte. Der Patient war heiter und konnte ohne Krücken im Zimmer umhergehen. Von da an nahm die Heilung mit Riesenschritten zu. Nach einigen Monaten reiste der vollkommen genesene von Lindewiese ab.“ (Aus Gerke 1867)

Das brachte den endgültigen Durchbruch und die volle Anerkennung der Schrothkur als Heilmethode. Mittlerweile kamen Tausende von Kurgästen nach Nieder-Lindewiese, um sich von chronischen Krankheiten, besonders auch von Infektionskrankheiten und Krankheiten des Bewegungsapparats, heilen zu lassen. Johann Schroth hatte nicht nur die erste stationäre Fastenheilstätte gegründet, er bekam als Einziger und Erster von der k. u. k. Hofkanzlei den Titel Naturarzt verliehen, was ihm weitere Anfeindungen eintrug. Der Schilderung der Methode soll eine historische Stellungnahme zur Schrothkur von dem berühmten Arzt Dr. Körner, erschienen in Bilz: Das neue Naturheilverfahren vorangestellt werden:

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»» „Die Schroth’sche oder diätetische Kur, die

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Anwendung feuchter Wärme und Diät ist die wohltätigste und größte Erfindung in der Heilkunde, da durch dieselbe noch solche Krankheiten geheilt werden, gegen welche alle anderen Methoden ganz ohnmächtig sind, wie ich mich seit meiner 44 jährigen Praxis und bei mir selbst überzeugt habe; denn ich habe durch dieselbe viele aufgegebene Kranke gerettet, deren Wiederherstellung oft Erstaunen erregte, und ich selbst danke ihr Leben und Gesundheit, nachdem ich von hochgestellten Ärzten, an hartnäckigem Magen- und Darmkatarrh leidend, an den Rand des Grabes gebracht worden war. Auch andere Ärzte welche ihre Erfahrung über dieselbe veröffentlicht haben, sind alle einstimmig voll des Lobes und Ruhmes, wie einige Aussprüche in ihren Schriften bestätigen. Diese Heilmethode, welche ich schon seit 1851 anwendete, nachdem ich mich bei Schroth zu Lindewiese in Österreich-Schlesien von der Vorzüglichkeit derselben überzeugt hatte, leistet Außerordentliches und liefert glänzende Resultate, indem sie vielfach noch solche Krankheiten zu heilen vermag, welche über 20 Jahre bestanden haben, gegen welche alle möglichen Kuren vergeblich gebraucht waren. Es ist daher eine wahre Freude, an Hand dieser segensreichen Methode noch solche aufgegebenen Schwerkranke radikal herzustellen, um sie so dem Leben noch lange zu erhalten, deren Unterlassung sie sonst in kurzer Zeit auf den Friedhof geführt hätte.“

Dieses Zitat zeigt, mit welcher Überzeugung frühere Ärzte von Naturheilmethoden zur Behandlung ihrer Patienten Gebrauch machten. 28.3.2  Entwicklung der

Fastenkuren

Fast 100 Jahre lang war die Schrothkur die einzige stationäre Fastenkur. Neben ihr entwickelten sich nach der Jahrhundertwende weitere

Fastenkuren, wie das Heilfasten nach Buchinger oder die Kur nach Franz Xaver Mayr (7 Kap. 22). Von Buchinger stammt der wichtige, zu 100 % zutreffende Satz, mit dem er zum Ausdruck brachte, dass die Zeit nach dem Fasten wichtiger ist als das Fasten selbst:  

»» „Fasten kann jeder Depp, aber ausleiten kann nur ein Weiser.“

F. X. Mayr kannte den amerikanischen Arzt Horace Fletcher, der eine Essmethode beschrieb, mit der sich die Nahrung mithilfe des „Verdauungsenzyms“ Speichel besser für die Verdauung vorbereiten konnte. Er propagierte das Kauen und Einspeicheln bis zur „Verflüssigung“ der Nahrung. Das dafür verwendete Wort „fletschern“ leitet sich vom Namen dieses Arztes ab. F. X. Mayr schreibt in seinem Buch Darmträgheit:

»» „Um Schlinger dahin zu bringen, die Milch

gut einzuspeicheln verbinde ich die Milchkur mit einer Art Schroth’schen Kur, d. h. ich lasse zu jeder Mahlzeit bestehend aus ¼ bis ½ l Milch, nach Belieben 1 bis 3 Stück 3 oder 4 Tage alte, lufttrockene Semmeln essen, und zwar in der Weise … im Munde so zu zerkauen, bis daraus ein ganz dünner Brei geworden ist.“ (Mayr 1952)

Mit dem Begriff Fasten wird heute allerlei in Verbindung gebracht, was mit Fasten nichts zu tun hat. Unter dem Namen Schrothkur werden, besonders in Deutschland, zahlreiche Varianten angeboten, welche nichts mehr mit der Original-Schrothkur zu tun haben, die Johann Schroth der Urururgroßonkel des Autors, entwickelte. Der Dunstwickel muss täglich abends verabreicht werden  – dieses wesentliche Kriterium ist Kennzeichen dafür, dass es sich um eine Original-Schrothkur handelt. 28.3.3  Schrothkur – eine Kur aus

drei Elementen

Die Schrothkur unterscheidet sich von anderen Fastenkuren dadurch, dass sie aus drei gleichwertigen, sich gegenseitig unterstützenden Elementen besteht:

685 Kurmedizin

Ernährung Obwohl Johann Schroth ein einfacher Bauer war, nahm er in seiner Behandlungsweise viele Erkenntnisse der späteren Ganzheitsbehandlung und Diätetik vorweg. Er war der erste, der die Bedeutung einer kochsalzarmen Kost erkannte, was bis heute beibehalten wird. Während der Kur wird eine kohlehydratbetonte Kost verabreicht: Semmeln, Zwieback, Reis, Grieß- und Haferspeisen und Dörrpflaumen machen den Speiseplan aus. Die Anzahl an Semmeln oder Zwieback ist dabei unbegrenzt. Auch die Kurspeisen werden individuell, mehr oder weniger, verabreicht.

Trinkregime Das Kurgetränk Wein überrascht Viele. Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde die Schrothkur an Universitätskliniken angewendet, z.  B. an der Charité in Berlin, wo man versuchte, den Wein durch Kräutertees, Wasser und andere Getränke zu ersetzen. Über 30 verschiedene Getränke wurden getestet, doch man kam immer wieder auf den Wein zurück, weil dieser sich in vielerlei Hinsicht am besten bewährte. Die verabreichten Weinmengen sind relativ gering: an 3 Tagen pro Woche 1/8 l und an den übrigen Tagen ca. 2/4 l. Der Wein wird in speziellen Fällen, z. B. bei „trockenen“ Alkoholikern und anderen Patienten wie Muslimen, gegen Tee ausgetauscht oder auch gegen dünne Kohlehydratsuppen.

Schrothscher Dunstwickel Der Schrothsche Dunstwickel ist das Herzstück der Schrothkur. Mit ihm hatte Johann Schroth seine Kur begründet. Der Dunstwickel wird täglich (auch sonntags) verabreicht. Die Haut ist flächenmäßig das größte Organ des Körpers, und sie ist darüber hinaus über Reflexe mit den inneren Organen verbunden, d.  h., Einwirkungen auf die Haut haben auch unmittelbare Rückwirkungen auf den gesamten Organismus. >> Jede Heilfastenkur muss zwingend mit einer intensiven Hautanwendung verbunden sein, da sonst dieses wichtige Ausscheidungsorgan nicht in genügendem Ausmaß genutzt wird.

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Massagen, Trockenbürstungen oder Teilwickel können die Vorteile eines Dunstwickels, bei welchem der ganze Körper erfasst wird, allerdings nicht ersetzen. Grundsätze zur richtigen Anwendung des Schrothschen Dunstwickels 55 Einem kalten oder frierenden Körper darf keine kalte Anwendung verabreicht werden. Der Kältereiz kann nur an einem warmen Körper als Reiz zur vermehrten Wärmeproduktion wirksam werden. Legt man sich frierend oder unterkühlt auf ein nasses Leintuch, kann es höchstens zur Auswirkung der sicherlich unangenehmen, ungesunden feuchten Kälte kommen. 55 Der Körper muss, bevor die Packung verabreicht wird, aufgewärmt sein. Ein Glas heißer Wein kann die Erwärmung gut unterstützen. 55 Das oberste Gebot jeder primär kalten Anwendung ist die rasche Wiedererwärmung. Die Packung muss daher so angelegt sein, dass auf keinen Fall Wärme entweichen oder Zugluft entstehen kann. Manchmal behilft man sich auch mit einem oder mehreren Wärmekissen oder Wärmeflaschen. In der Regel dauert es kaum eine Minute, bis die Kälte schwindet und die Erwärmung einsetzt.

Die Anwendungsdauer wird vom Kurgast selbst bestimmt. Das natürliche Ende der Packung ist daran zu erkennen, dass die Leintücher trocken sind. Die beste Zeit für die Anwendung ist der Abend. Es kann dann 3–8 Stunden lang im Wickel geschlafen werden. >> Das Zusammenwirken der drei Elemente der Schrothkur führt zu einem Zustand, der als Heilfieber bezeichnet wird. Tatsächlich kommt es während der Anwendung des Wickels zu einer Steigerung der Körpertemperatur, was sicherlich der wesentliche Faktor für die zahlreichen Erfolge der Schrothkur ist.

686

W. Marktl et al.

28.3.4  Aufnahme und Verlauf

einer Schrothkur

Untersuchungen Jeder Kurgast wird am ersten Kurtag gründlich untersucht. Neben der Anamnese werden Methoden der konventionellen Medizin wie EKG, Lungenfunktionsprüfung, Stuhluntersuchung u.  a. angewandt. Aufgrund der gewonnenen Ergebnisse wird das Kurprogramm individuell zusammengestellt. >> Besonders wichtig ist der Umgang mit Dauermedikationen von Kurgästen.

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Neben regelmäßigen Visiten besteht eine ärztliche Betreuung rund um die Uhr. Der Großteil der Kurgäste nutzt den Aufenthalt, um nicht nur die üblichen klinischen Laborparameter, sondern auch Vitamine, Spurenelemente, Aminosäuren, Fettsäuren, Hormone, Parameter radikalischer Belastungen, Belastungen mit Umweltgiften wie Quecksilber, Blei, Cadmium, Arsen, Aluminium, Zinn, Thallium u. a. überprüfen zu lassen. Eine komplette Ultra­ schalluntersuchung, ausführliche Genanalysen, 24-­ Stunden-Blutdruckmessung, Langzeit- und Belastungs-EKG, Bodyplethysmographie, digitale Auflichtmikroskopie zur Beurteilung von Muttermalen und die Bestimmung der Herzratenvariabilität runden das medizinische Programm ab. Es handelt sich dabei um Zusatzangebote und nicht um Bestandteile der Schrothkur. Die gewonnenen Ergebnisse können bereits von Beginn an für den individuellen Kurverlauf verwertet werden.

Ergänzende Anwendungen Die Anwendung unterschiedlicher Massagen, Bindegewebsmassagen, Henri-Chenot-Massagen, Fußreflexzonentherapie, Reiki-Behandlungen, Lymphdrainagen u.  a. kann ebenso zum Kurerfolg beitragen. Da ein Großteil der Kurgäste Probleme mit ihrem Bewegungsapparat haben, wird auf diesen Aspekt großer Wert gelegt. Der Tag beginnt mit Morgengymnastik unter Anleitung ausgebildeter Physiotherapeuten, und ein speziali-

sierter Facharzt, Dr. Martin Schroth, leitet diese Abteilung mit großem Erfolg. >> Im Sinne einer umfassenden, ganzheitlichen Betreuung kann auf Bewegung nicht verzichtet werden.

Zusätzlich zur Morgengymnastik werden im Winter wie im Sommer geführte Wanderungen im Sinne einer therapeutischen Maßnahme durchgeführt.

Dauer einer Schrothkur Die Original-Schrothkur dauert 3  Wochen und erfordert 3 Ausleitungstage. In der heutigen schnelllebigen Zeit nimmt sich nicht jeder genügend Zeit für seine Gesundheit. Der Spruch, „man nimmt sich nur dafür Zeit was einem auch wichtig ist“, trifft leider sehr oft zu. Zum Kennenlernen wird eine Schroth-Gesundheitswoche angeboten, während der ein gründlicher Status der Gesundheit des Kurgastes erhoben wird. Das reicht sehr oft aus, um die Lebensweise zu verbessern, um auszuspannen und um wieder fit in das Alltagsleben zurückzukehren. Aufbauende Infusionen, Massagen und eventuell auch ein Besuch in der Kosmetikabteilung sowie viel Bewegung runden diese Woche ab. 28.3.5  Indikationen für eine

Schrothkur

Da sich die Schrothkur nicht auf einzelne Symp­ tome oder Körperteile konzentriert, ist das Anwendungsgebiet im Sinne einer Ganzheitsmethode umfassend. Hunderte Berichte von Kurgästen bestätigen, was die Schrothkur behandeln kann:

Erkrankungen der ­Verdauungsorgane 55 Chronische Obstipation 55 Neigung zu Durchfällen 55 Diagnose von Laktose-, Fruktose-, Histaminintoleranz, Glutenunverträglichkeit 55 Blähungen 55 Entzündliche Darmerkrankungen

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687 Kurmedizin

Die Häufigkeit der Stuhlentleerungen sowie die Konsistenz und Menge des entleerten Stuhls sind sehr unterschiedlich. Auch unterliegt es einer individuellen Interpretation, was normal ist. Normal aus konventionell-medizinischer Sicht sind Stuhlentleerungen zwischen einmal alle 3  Tage und dreimal täglich. Dem kann aus ganzheitlich-medizinischer Sicht nicht zugestimmt werden. >> Abführmittel zur Erreichung der täglichen Stuhlentleerung sind strikt abzulehnen. Nur für eine begrenzte Zeit und in bestimmten Fällen dürfen Abführmittel eingenommen werden.

In der täglichen Praxis ist immer wieder festzustellen, dass  – entgegen vieler Behauptungen  – die meisten Abführmittel (unabhängig davon, ob der Beiname pflanzlich, biologisch, natürlich oder anders lautet) zu Gewöhnung bzw. Abhängigkeit führen. Bei einem über Jahrzehnte trägem Darm kann z. B. die Einnahme von Kleie ohne ausreichende Flüssigkeitszufuhr zu einem Darmverschluss führen. Falsche Ernährung, falsche Essgewohnheiten – unregelmäßiges und hastiges Essen, Bewegungsmangel, häufiges Unterdrücken des Stuhldrangs im Berufsalltag oder auch in der Schule, zu geringe Trinkmengen, häufiges Einnehmen von Abführmitteln aus Angst vor dem Dickwerden, Arzneimittel, Krankenhausaufenthalte und Operationen markieren zumeist den Beginn des Abführmittelmissbrauchs. Eine 3- bis 4-wöchige Schrothkur entlastet den Darm. Die Darmschleimhaut, die sich alle 2 Tage erneuert, kann sich unbelastet erholen und regenerieren. Bauchmuskeltraining, eine zarte Darmmassage und gezielte Atemgymnastik sind zur Unterstützung hervorragend geeignet.

Diabetes mellitus Typ II, ­Übergewicht Übergewicht lässt sich auf Dauer durch keine Kur beseitigen, ohne dass der Wille des Betroffenen besteht, seine Lebensweise zu ändern. Kleine Schritte sind erfahrungsgemäß besser als radikale Änderungen, die nicht für lange Zeit eingehalten werden. Dass Übergewicht das Tor

zu zahlreichen Krankheiten aufstößt, ist unbestritten, ein metabolisches Syndrom bleibt ohne Gewichtsreduktion hartnäckig bestehen. Jährliche Schrothkuren können, neben anderen positiven Effekten z. B. auf Gelenkbeschwerden (s. unten), eine dauerhafte Erniedrigung pathologischer Werte beim Glukosetoleranztest in physiologische Bereiche bewirken.

 rthrose der Knie- und HüftgeA lenke, Kreuzschmerzen Krankheiten des Bewegungsapparats, Knorpelschäden und Arthrosen reduzieren die Lebensqualität beträchtlich. Der Aktionsradius der Betroffenen wird immer kleiner, der Verbrauch an schmerzstillenden Medikamenten höher. Überdies nehmen die Nebenwirkungen zu, da Medikamente gegen die Nebenwirkungen ggf. wiederum Nebenwirkungen verursachen. Nicht der Knorpel alleine, sondern auch die umgebende Muskulatur, die Bänder und die Gelenkkapsel verursachen gemeinsam ausstrahlende Schmerzen. Wetterwechsel, Kälte und Nässewerden zum Problem. Von Beginn an verzeichnet die Schrothkur große Erfolge bei Arthrose (7 Fallbeispiel 3). Der Heilfaktor feuchte Wärme sowie das Fehlen von tierischem Eiweiß während der Kur zeigen den Betroffenen, wo sie ansetzen können. Einen lokalen Schrothschen Dunstwickel kann man sich anschließend auch zu Hause machen.  

Arteriosklerose, Bluthochdruck, hohe Cholesterinwerte, Schwindelzustände, kalte Hände und Füße Das Thema Cholesterin beherrscht seit vielen Jahren die Medizin. Arterienverkalkung als Folge von erhöhtem „schlechtem“ LDL-Cholesterin steht dabei im Vordergrund; gelegentlich wird darauf verwiesen, dass das „gute“ HDL-Cholesterin nicht vergessen werden dürfe. Die Ergebnisse der Framingham Heart Study zeigten, dass 35 % der Patienten mit koronarer Herzerkrankung ein Gesamtcholesterinspiegel > Lange war es üblich, somatische Symptome als Ausdruck psychischer Konflikte zu interpretieren. Erst in den letzten Jahren werden die zugrunde liegenden pathophysiologischen Zusammenhänge erkannt.

29.1.2  Nehmen Nahrungsmittel-

unverträglichkeiten tatsächlich zu – und wenn ja, warum?

Nahrungsmittelunverträglichkeiten waren der klassischen Medizin unbekannt und wurden als morphologisch nicht nachweisbare Phäno-

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702

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L. Kramer et al.

gang deaktiviert, Effekte ihrer stabilen Spaltprodukte wurden aber wissenschaftlich kaum untersucht. 55 Immer mehr Menschen nehmen indus­ trielle Fertignahrung mit Zusatz von Konservierungsmitteln bzw. monatelanger Lagerung in Kühlschränken zu sich. Die dabei stattfindenden chemischen Veränderungen, Effekte von Stabilisatoren, Weichmachern und Tensiden, aber auch die Freisetzung hormonaktiver Substanzen (endokriner Disruptoren) aus Verpackungsmaterial und Pflanzenschutzmitteln wurden bislang nicht ausreichend geklärt. 55 Die konventionelle Medizin hat Veränderungen der Ernährungsgewohnheiten durch zunehmenden Konsum von Fertigprodukten zwar lange ignoriert, dabei aber „gesunde“ und „ballaststoffreiche“ Ernährung explizit empfohlen. Die (relativ harmlosen) natürlichen Fette wurden übermäßig verteufelt, das Problem der toxischen trans-Fette lange ignoriert. Insgesamt hat sich der Anteil von Kohlenhydraten, insbesondere in flüssiger Form, seit den 1970er-Jahren massiv erhöht. Soft- und Energy-Drinks sowie „gesunde“ Fruchtsäfte können allein durch ihren Zuckergehalt bei eingeschränkter Resorption Darmkrämpfe, Flatulenz und Durchfall durch osmotische Belastung auslösen. Fette hingegen verlangsamen die Motilität v. a. im oberen Gastrointestinaltrakt und können dadurch Folgen der Unverträglichkeiten verringern, indem die Kontaktzeiten mit den körpereigenen Resorptions- und Abbaumechanismen verlängert werden. Allein eine unreflektierte und vermeintlich „gesunde“ Ernährung kann somit bei manchen Menschen Beschwerden auslösen. 55 Die Rolle individuell unterschiedlicher Darmbakterien und der sog. intestinalen Dysbiose wird zunehmend erkannt – eine therapeutische Konsequenz ist mit der steigenden Verwendung nichtresorbierbarer Antibiotika bei Reizdarmbeschwerden gegeben. Auch nehmen mehr Menschen als früher Magensäureblocker und Psychophar-

maka ein, die das Wachstumsverhalten von Darmbakterien beeinflussen. Kältetolerante (psychrotrophe) Bakterien können sich während der Lagerung in Kühlhäusern vermehren und unspezifische Entzündungsreaktionen im Dünndarm begünstigen. 29.1.3  Diagnostik

Fäkales Calprotectin kann zum Ausschluss entzündlicher Darmerkrankungen verwendet werden, daneben werden zur Zöliakie-­ Dia­ gnostik Gewebstransaminase-Antikörper (tTG-AK) bestimmt. Eine Bestimmung der Pankreas-Elastase im Stuhl hilft, eine exokrine Pankreasinsuffizienz zu erkennen. >> Da entzündliche und neoplastische Erkrankungen gelegentlich als „Unverträglichkeiten“ imponieren können, ist eine endoskopische Untersuchung des Verdauungstrakts – v. a. bei Vorliegen von Alarmsymptomen – wichtig.

Alarmsymptome, die eine gastroenterologische Abklärung verlangen 55 Ungewollte Gewichtsabnahme (v. a. unter Normalgewicht!) 55 Fieber, Anämie, erhöhte systemische Entzündungszeichen 55 Schluckstörung, Dysphagie 55 Anhaltender abdomineller Schmerz 55 Blutige Stühle, auffallender Wechsel der Stuhlkonsistenz 55 Familiäre Anamnese gastrointestinaler Krebserkrankungen

29.1.4  Unverträglichkeiten –

Routinediagnostik und geeignete Maßnahmen

Laktoseintoleranz Primäre Laktoseintoleranz ist mit weltweit etwa 70 % die häufigste Unverträglichkeit, ihre Prävalenz in Mitteleuropa liegt zwischen 15 %

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703 Ernährung

und 20  %. Laktose wird in Milchprodukten und zahlreichen industriell gefertigten Lebensmitteln wie z. B. Soßen und Backwaren – auch in versteckter Form – konsumiert. Die meisten Betroffenen zeigen erst ab einer individuellen Schwellenmenge Symptome, etwa 50 % geben trotz nachgewiesenem Enzymmangel keine Beschwerden an. Asymptomatische Patienten sollten daher nicht getestet werden. Die Diagnose der Laktoseintoleranz beruht heute zunehmend auf genetischer Testung (LCT-Polymorphismen), die eine sehr gute Übereinstimmung mit der klassischen und noch dominierenden Methode des H2-­Lak­ tose-­ Atemtests aufweist. Auch ein Selbst­ versuch mit 1 l Milch kann Aufschluss geben. kMaßnahmen

Wird eine Laktoseintoleranz festgestellt, sollte Milchzucker probehalber diätetisch eingeschränkt werden, oder es sollten – wo das nicht möglich ist – Enzympräparate verwendet werden, die bereits vor Einnahme in die Nahrung eingerührt oder eingestreut werden. In weiterer Folge sollten die Betroffenen eine an ihren Symptomen orientierte Diät einhalten und bei Bedarf Enzympräparate verwenden.

Fruktosemalabsorption Darunter wird die klinische Manifestation eines intestinalen Transportermangels (GLUT-­2) verstanden, welcher mit einer reduzierten oder fehlenden Aufnahme des Einfachzuckers Fruktose (Fruchtzucker) einhergeht. Zwischen dem genetischen GLUT-2-Status und klinischen Symptomen bestehen allerdings wenige Zusammenhänge. Der übliche Atemtest mit 25 g Fruktose entspricht einer eher künstlichen Situation, größere Fruktosemengen führen auch bei Gesunden zu einem positiven Ergebnis, und der Test ist daher abzulehnen. Streng abzugrenzen ist die hereditäre Fruktoseintoleranz (HFI). Als unsere Vorfahren täglich etwa 10–20  g Früchte aufnahmen, war das Ausmaß der Fruktosemalabsorption irrelevant. Aufgrund der zunehmenden Fruktosebelastung durch Fruchtsäfte, Soft- und Energy-Drinks und ein breites Angebot von sog. convenience food, das mit Fruk-

tose-Glukose-Sirup gesüßt wird, sowie durch die ganzjährige Verfügbarkeit von Obst entwickeln heute viele Menschen Beschwerden. Der hohe Anteil an Fruktose und industriellen Ernährungskomponenten wie Füllstoffe (Carboxymethylzellulose) und Emul­gatoren (P-80) mit nachweislicher Beeinflussung des Mikrobioms hat sicherlich auch zur Häufung von gastrointestinalen Beschwerden wie Reizdarm beigetragen. Kampagnen wie Five a day (z. B. 5 am Tag, Deutsche Gesellschaft für Ernährung:

7 https://www.­d ge.­d e/ernaehrungspraxis/ vollwertige-­ernaehrung/5-am-tag/; Die Österreichische Ernährungspyramide: 7 https:// www.­bmgf.­gv.­at/home/Ernaehrungspyramide; für die Schweiz: 7 https://www.­5amtag.­ch/.  





Zugegriffen am 29.03.2018) und der Trend zu vegetarischer bzw. veganer Ernährung haben die Verbreitung der subjektiv schlecht tolerierten Nahrungsbestandteile weiter gefördert. Paradoxerweise führt somit sowohl „ungesunde“ wie auch „gesunde“ Ernährung zu einer Exposition gegenüber Fruktose und/oder anderen schlecht resorbierbaren Kohlenhydraten, mit den Folgen abdomineller Fett- und/ oder Luftansammlung. kMaßnahmen

Nach Ausschluss signifikanter organischer Erkrankungen des Gastrointestinaltrakts ist keine weitere Diagnostik, sondern ein symptomorientiertes pragmatisches Vorgehen zu empfehlen, auch um die belastenden, aber prognostisch harmlosen Unverträglichkeiten an ihrem medizinisch gerechtfertigten Platz zu belassen. Behandlungsformen wie Low-­ FODMAP-Diät (7 Abschn. 29.1.5) und Reduktion alimentärer Fruktosequellen sind weit vernünftiger als langwierige Abklärungen oder der (leider nicht immer wirksame) Versuch einer Zufuhr exogener Enzyme.  

„Histaminintoleranz“ Histamin ist ein wichtiger Mediator und Botenstoff im Körper und kann in manchen Nahrungsmitteln enthalten sein. „Histaminintoleranz“ (HIT) ist gekennzeichnet durch Bauchschmerzen mit allergieähnlichen Symp-

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L. Kramer et al.

tomen wie Juckreiz, Quaddeln und Durchfällen, aber auch gelegentlich durch Kopfschmerzen. Die genaue Prävalenz ist unbekannt, ihre wissenschaftliche Entität wird von vielen Forschern hinterfragt. HIT ist trotz ähnlicher Symptome keine Allergie, sondern eine Abbaustörung, deren Intensität mit der aufgenommenen Histaminmenge korreliert und durch Enzympräparate wie Diaminoxidase (DAO) und Antihistaminika verringert werden kann. Wichtig für die Differenzialdiagnose ist eine komplette Rückbildung der Symptomatik unter histaminfreier Diät. DAO-Werte im Blut können bestimmt werden, korrelieren aber nicht mit der Symptomatik. Mastzellen spielen eine wichtige Rolle in der Auslösung von Beschwerden. Die viel zu häufig ausgesprochene Verdachtsdiagnose HIT sollte korrekterweise mit einer plazebokontrollierten (verblindeten) oralen und/oder intrakutanen Histamininjektion (Provokationstest) bestätigt werden. Auslöser der HIT sind Nahrungs- und Genussmittel, die Histamin enthalten. Dies sind häufig konservierte, nichtfrische Lebensmittel wie Fertiggerichte, Hartkäse, geräuchertes Fleisch, Schinken, Salami, Fischprodukte, Meeresfrüchte, Schokolade, Kakao, Rotwein, Essig, Sauerkraut etc.

kDepressionen und Müdigkeit bei Nahrungsmittelunverträglichkeiten

Im Gegensatz zu gewagten Hypothesen einer veränderten Aufnahme von Aminosäuren im Darm dürften einerseits der permanent gesteigerte sensorische Input sowie andererseits inflammatorische Signale auf zellulärer Ebene und die Freisetzung von Entzündungsmediatoren sowie Endotoxinen zu Allgemeinsymptomen wie Kopfschmerzen, Depression und Müdigkeit beitragen. Angesichts der Dominanz des weiblichen Geschlechts bei Unverträglichkeiten ist interessant, dass Endotoxine bei Frauen stärkere systemische Wirkungen auslösen als bei Männern.

29.1.5  Rationale Diätetik

Bis vor kurzem wurde durch Auswertung individueller Ernährungstagebücher und Eliminationsdiäten versucht, einzelne problematische Nahrungsmittel zu identifizieren, um durch deren Elimination die gastrointestinale Symptomatik zu verbessern. Verständlicherweise nahm dies viel Zeit in Anspruch und war für alle Beteiligten oft frustrierend. Erst die genaue Auseinandersetzung mit der kMaßnahmen Pathophysiologie der häufigsten NahrungsmitDie Einnahme von Protonenpumpenhem- telunverträglichkeiten hat prag­ matische Lömern (PPI) verbessert angeblich die DAO-­ sungsansätze wie z. B. die aus Australien komFunktion. Vor Genuss histaminreicher Nah- mende Low-FODMAP-Diät hervorgebracht rungsmittel kann auch ein Antihistaminikum (Barrett und Gibson 2012). Bei fermentierbaversucht werden, des Weiteren stehen DAO-hal­ ren Oligo-, Di- und Monosacchariden und Potige Enzympräparate zur Verfügung. lyolen handelt es sich um eine Gruppe von Kohlehydraten und mehrwertigen Alkoholen, Weitere Parameter die in vielen natürlichen Nahrungsmitteln vorkIgG4-Tests kommen, vom Dünndarm schlecht aufgenomViele Patienten lassen diese häufig angebote- men und durch die Dickdarmflora vergoren nen Bluttests durchführen, obwohl dafür keine werden. Zusätzlich muss berücksichtigt wermedizinische Indikation besteht. Während die den, ob eine Laktoseintoleranz vorliegt. Durch Anbieter behaupten, IgG4-Antikörper bewie- diese und ähnliche Diäten gelingt es, bei vielen sen Unverträglichkeiten, sind IgG4-­Antikörper Betroffenen in kurzer Zeit eine systematische ein Hinweis auf die erfolgte Exposition des Or- Besserung zu erreichen. Glutenfreie Diäten ganismus gegenüber Fremdproteinen. Sie stel- sind im Übrigen auch kaum FODMAP-­haltig, len somit sogar einen physiologischen Indika- was ihre Wirkung bei Nicht-­Zöliakiepatienten erklärt. tor für immunologische Toleranz dar.

705 Ernährung

In der folgenden Übersicht sind Lebensmittel aufgeführt, die reich an FODMAPs sind. Repräsentative Übersicht der einzelnen FODMAP-Gruppen 55 Fruktose (Früchte, Honig, Maissirup etc.) 55 Laktose (Milchprodukte) 55 Fruktane (Weizen, Zwiebel, Knoblauch, Inulin) 55 Galaktane (Bohnen, Linsen, Soja, andere Gemüsesorten) 55 Polyole (Süßstoffe wie Sorbit, Mannit, Xylit, Maltitol, Isomaltose; Steinobst wie Avocado, Aprikosen, Kirschen, Nektarinen, Pfirsiche, Pflaumen)

kMikrobiom

Über die Zusammensetzung des erst in den letzten Jahren im Detail untersuchten intestinalen Mikrobioms bei Nahrungsmittelunverträglichkeiten liegen erste Daten vor (Aleksandrova et al. 2017). Diese zeigen, dass sowohl eine verminderte Artenvielfalt wie auch das Überwuchern einzelner Keime (intestinale Dysbiose) signifikant zur Symptomatik der „Nahrungsmittelunverträglichkeit“ beitragen dürften. Eine gezielte Modulation der intestinalen Flora durch Diät, Antibiotika und Probiotika verspricht symptomatische Verbesserung. >> Insgesamt ist mit der Identifikation wichtiger auslösender Faktoren und pathophysiologischer Zusammenhänge zum ersten Mal eine rationale Behandlungsmöglichkeit von Reizdarm und Nahrungsmittelunverträglichkeiten absehbar. Der zukünftige Trend lautet daher: behandeln statt abklären.

29.1.6  Fallbeispiel zz Patientin, 58 Jahre

Frau M. stellt sich mit den Symptomen Oberbauchschmerz, Meteorismus, Druckgefühl im Abdomen und Müdigkeit in einer gastroente-

29

rologischen Praxis vor. Alarmsymptome wie Anämie, Gewichtsabnahme oder massive Schmer­ zen liegen nicht vor. Der Stuhl sei meist unge­formt, die abdominellen Symptome besserten sich nach dem Stuhlgang. kDiagnostische Abklärung und therapeutische Maßnahmen

Die durchgeführte endoskopische Abklärung von Ösophagus, Magen, Duodenum und Kolon ist unauffällig, im Ultraschall zeigt sich eine Steatose der Leber bei ansonsten unauffälligem Ergebnis, bei deutlicher Darmgasüberlagerung. Auf den Einsatz von Protonenpumpeninhibitoren (PPI) berichtet die Patientin eine Verschlechterung der Symptome. Auch pflanzliche Medikamente wirken nicht. Schließ­ lich erfolgt eine Diätberatung. kErgebnis

Unter Reduktion der bislang reichlich gegessenen FODMAP-haltigen Obst- und Gemüsesorten und Verzicht auf Fruchtsäfte tritt eine prompte Besserung der Beschwerden ein. 29.1.7  Studienlage Einsatz der Low-FODMAP-Diät bei Reizdarmsyndrom kHarvie et al. (2017)

Untersucht wurde der Langzeiteffekt von Diätschulung zur Low-FODMAP-Diät auf Symptome und Lebensqualität bei 50 Patienten mit Reizdarmsyndrom. Eine Gruppe von Teilnehmern begann mit einer Low-FODMAP-­Diät und nahm nach 3 Monaten wieder FODMAP-haltige Lebensmittel zu sich. Eine zweite Gruppe diente zunächst als Vergleichsgruppe und wurde nach 3 Monaten auf eine LowFODMAP-Diät umgestellt. In Fragebögen wurden Angaben zum Schweregrad der Symptome (IBS SSS), zur Lebensqualität (IBS QoL) sowie zur FODMAP-spezifischen Nahrungsaufnahme gemacht. Mikrobiomanalysen von Stuhlproben wurden zu Beginn der Studie, nach 3 und nach 6 Monaten durchgeführt.

706

L. Kramer et al.

kFazit

In dieser Studie konnte gezeigt werden, dass eine Reduktion von FODMAPs Reizdarmsymp­ tome bessert und dass diese Besserung erhalten bleibt, wenn anschließend wieder FODMAPs zugeführt werden. kEswaran et al. (2017)

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Zunehmendes Interesse von Ärzten und Patienten führt zur Erforschung der Wechselwirkung zwischen Symptomen, die mit dem Reizdarmsyndrom zusammenhängen, und Diäten, insbesondere der Low-FODMAP-Diät. Eswaran et al. illustrieren die Mechanismen, durch die die Low-FODMAP-Diät zur Besserung von Reizdarmymptomen führt, fassen die verfügbare klinische Evidenz zusammen und geben praktische Hinweise zur Implementierung dieser Diätstrategie. Aktuelle Studien definieren ferner den Einfluss dieser kurzkettigen fermentierbaren Kohlenhydrate auf Reizdarmsymptome und ihre Effekte auf den Gastrointestinaltrakt. kFazit

Der Einsatz der Low-FODMAP-Diät im klinischen Setting wird durch zunehmende Evidenz gestützt. Nachteile dieses Diätansatzes bestehen zwar, können aber in Kauf genommen werden. So wurde gezeigt, dass unter Low-FODMAPDiät eine Reduktion der vorteilhaften Bifidobakterien auftritt, die bei Reizdarmpatienten primär reduziert sind (Staudacher et al. 2012). Des Weiteren wurde über eine Vermehrung Mukus-abbauender und somit bei Reizdarm potenziell ungünstiger Bakterien unter Low-­ FODMAP-­Diät berichtet (Halmos et al. 2015). Die überwiegende Zahl der Studien berichtet jedoch eine eindrucksvolle klinische Besserung. Interessanterweise wird die viszerale Schmerzempfindung durch Low-FODMAP-­Diäten über eine Reduktion Endotoxin-­mediierter Entzündungsvorgänge und assoziierter Barrierestörung reduziert (Zhou et al. 2018). Zusammenfassung 55 Industrielle „westliche“ Ernährung enthält chemische Inhaltsstoffe, oberflächenaktive

Substanzen und Emulgatoren, welche die Zusammensetzung des intestinalen Mikrobioms und die Barrierefunktion des Intestinaltrakts negativ beeinflussen können. 55 Viele zur Gesundheitserhaltung traditionell empfohlene Ernährungsmaßnahmen führen zu einer Überlastung des Intestinaltrakts mit schlecht resorbierbaren und bakteriell über Gärungsprozesse abgebauten fermentierbaren Kohlenhydraten und Polyolen (FODMAPs). 55 Die therapeutische Manipulation des ­intestinalen Mikrobioms und der intestinalen Barrierefunktion durch Diät (FODMAP-reduziert), Lebensstilmaßnahmen und in Einzelfällen auch Medikamente stel­len eine vielversprechende Option zur Ver­ besserung funktioneller Bauchbeschwer­ den dar.

29.2  Ernährung nach Hildegard

von Bingen

Petra Zizenbacher

29.2.1  Einführung

Hildegard von Bingen erkannte schon vor etlichen Jahrhunderten den Zusammenhang zwischen Ernährung und Krankheit. In zahlreichen Rezepturen gab sie Hinweise, wie man sich bei verschiedenen Erkrankungen ernähren kann. Allerdings darf eines nicht außer Acht gelassen werden: Die Aussagen Hildegards sind stark durch die damalige Zeit geprägt. In den letzten Jahrhunderten haben sich einige Sichtweisen verändert. Der Genuss von Fleisch tut vielen Menschen nicht gut. Außerdem ist es eine Frage der Ethik, ob Tierprodukte verwendet werden sollen. Viele Lebewesen (Geier, Bären u.  a.) stehen kurz vor dem Aussterben, weshalb eine Verwendung von Produkten, die aus ihnen hergestellt werden, obsolet ist.

707 Ernährung

Bei Hildegard ist Folgendes zu lesen:

»» „Der Gesunde enthalte sich des Früh-

stücks, er nehme die erste Nahrung kurz vor Mittag zu sich; der Kranke nehme als erste Mahlzeit etwas Wasser zu sich.“

Als Frühstück würden sich Dinkelsuppe oder Habermus (s. unten) sehr gut eignen.

»» „Iss mäßig und ohne Hast, auch solle das

Essen nicht zu heiß und zu dampfend sein, sondern lau. Andernfalls werden die Säfte unnötig in Aufruhr versetzt.“

»» „Im Winter trinke man mäßig, im Sommer mehr.“

Mäßige Mengen Bier und Wein würden das Fleisch fett und gesund machen und seien gute Getränke im Winter. Wasser, Tee und mäßige Mengen Wein gelten als gute Sommergetränke. Wasser sollte abgekocht getrunken werden. Um einen Kräuteraufguss herzustellen, nimmt man z. B. eine Prise Lindenblüten und gießt diese mit ½ l kochendem Wasser auf und lässt 5 Minuten ziehen. Dinkel sei die beste Nahrung für Gesunde und Kranke; je kränker der Mensch ist, desto feiner solle er den Dinkel mahlen.

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>> Folgende Gemüse- und Obstsorten sind laut Hildegard besonders zu empfehlen: Fenchel (Kraut, Samen, Knolle, als Aufguss und Gemüse), Brennnesseln, Bohnen (Fisolen oder Buschbohnen, Stangenbohnen), Rettich, Äpfel, Hagebutte, Quitte, Kornelkirsche, Maronen, Knoblauch, Salat (nur mariniert, d. h. gebeizt), Birnen (gekocht). 55 Fenchel: ideales Gemüse bei Magenproblemen; überhaupt mache Fenchel ein „sonniges Gemüt“, 55 Apfel: roh und gekocht sei sehr zu empfehlen, 55 Birne: sollte nur gekocht gegessen werden, 55 Quitte: zum Entsäuern.

kFleisch/Fisch

29.2.2  Empfohlene Lebensmittel

Die Lebensbedingungen haben sich gewandelt. Heute gibt es ein Bewusstsein dafür, dass für die Produktion von Fleisch Tiere leiden und kostbare Nahrungsmittel für Tierfutter verwendet werden. Will man trotzdem Fleisch konsumieren, sollte zumindest auf Bioqualität geachtet werden (die höchste Qualität liefern Bauern aus dem Demeter-Anbauverband). Hildegard gab Wildfleisch den Vorzug. Weitere Fleisch- und Fischarten sind neben Wild (Hirsch, Reh) Ziege, Lamm, Geflügel, Bachforelle, Hecht, Wels, Zander.

kGemüse und Nährmittel

kRohkost

Es gab damals verschiedene Blattgemüse wie Ampfer, Melde etc., Hirse, Buchweizen, Maroni, Fenchel, Honig, Karotten, Mandeln, Mohn, Meerrettich (Kren), Rettich, alle Arten von Rüben (weiße, gelbe, rote), diverse Salatarten (gebeizt mit Essig und Gewürzen), Sellerie (Zeller), Zwiebeln (gekocht). kObst

Apfel, Birne (gekocht!), Brombeere, Himbeere, Johannisbeere (Ribisel) (weiß, rot, schwarz), Kirsche, Kornelkirsche, Maulbeere, Mispel, Quitte, Schlehe, Weintrauben, Zitrusfrüchte.

Speziell Kranken rät Hildegard von „nicht zurecht gemachten Speisen“ in Form von „Rohkostgerichten“ ab. Sie empfiehlt, die Speisen zu kochen, zu braten oder auf andere Art zu garen. Durch die Hitzeeinwirkung gehen Vitamine zwar teilweise verloren, doch andere sehr wichtige Vitalstoffe werden dadurch für den Körper besser verfügbar und verwertbar gemacht. kGewürze

Beifuß, Bertramwurzel, Brennnessel, Brunnenkresse, Fenchel, Galgantwurzel, Kerbel,

708

L. Kramer et al.

Knoblauch (roh), Krause Minze, Kubeben-­ Pfeffer, Lavendel, Liebstöckel, Lorbeerfrüchte, Minze (Pfefferminze, Krauseminze, Polei-Min­ze u. a.), Muskatnuss, Mutterkümmel, Nelken, Petersilie, Quendel, Salbei, Weinraute, Ysop, Zimt. >> Folgende Gewürze sollten nach Hildegard in der Küche verwendet werden: Galgant, Quendel, Bertram, Ysop, Beifuß, Weinessig, Zimt, Muskat, Dill, Salbei, Gewürznelken, Mutterkümmel (zu allen Käsesorten).

k„Küchengifte“ meiden

29

Speziell kranke und schwache Menschen sollten folgende Speisen meiden: Erdbeeren, Lauch, Heidelbeeren, Nachtschattengewächse, z. B. Kartoffeln, Tomaten (Paradeiser), bodennah wachsende Pilze, Aprikosen (Marillen), Pfirsiche, rohe Zwiebeln, Zwetschgen (Paprika war zu Zeiten Hildegards noch unbekannt). Hildegard schreibt, die genannten Feldrüchte würden Dämpfe von der Erde aufnehmen und seien daher für den Menschen nicht zuträglich. Der eigenen Erfahrung nach können sie in Maßen ohne Weiteres genossen werden. >> Folgende Nahrungsmittel werden von Hildegard als Küchengifte bezeichnet und sollten von Kranken daher gemieden und von Gesunden nur selten verzehrt werden oder besser weggelassen werden: Porree, Kohl, Erdbeeren, Heidelbeeren, Pfirsiche, Marillen, Zwetschgen, bodennah wachsende Pilze, Leinsamen, rohe Zwiebeln.

29.2.3  Mahlzeiten

Nach Hildegard von Bingen sollten völlig gesunde Menschen erst mittags essen. Sie könnten bedenkenlos auf das Frühstück verzichten und erst zu Mittag die erste warme Mahlzeit zu sich nehmen.

»» „Einem körperlich gesunden Menschen ist

es gut und heilsam für eine ordentliche Verdauung, dass er sich des Frühstücks enthält bis kurz vor Mittag oder um Mittag herum.“ (Hildegard von Bingen)

Nur Kranke und Schwache sollten gleich am Morgen frühstücken, damit sie wieder zu Kräften kommen. Sie sollten den Tag mit Habermus (einer Breimahlzeit aus Dinkel) beginnen. Als „Mus“ wurden/werden Breispeisen bezeichnet, die zumeist zum Frühstück mit Getreide-/Eichelkaffe gegessen w ­ urden/werden, also Hirsemus, Hafermus, Buchweizenmus, Gerstenmus etc. >> Speisen, die „den Magen wärmen“, schätzte Hildegard sehr.

Aus diesen Empfehlungen ergibt sich, dass ungekochte, trockene Müslis mit kaltem Joghurt oder Fruchtsaft zum Frühstück dem Magen eher schaden. Warme Mahlzeiten in Form von Getreidesuppen oder Brei waren für den größten Teil der Bevölkerung lange das traditionelle Frühstück. Gesunde Personen können den „Magenschmeichler“ Habermus auch zu Mittag oder als Abendessen genießen. Das Abendessen kann nach Hildegard auch eine Suppe oder Wein und ein Stück Dinkelbrot sein. >> Daraus ergibt sich eine maßvolle Ernährung mit einer warmen Hauptmahlzeit um die Mittagszeit.

kGetränke

Hildegard empfiehlt, zu den Mahlzeiten mäßig zu trinken, ansonsten würden die Körpersäfte zu sehr verdünnt. Empfohlene Ge­ tränke sind: Bier, Dinkelkaffee, Kräuteraufgüsse (Fen­ chel, Hagebutte, Salbei), Wein, Ziegenmilch. Wasser sollte nur abgekocht getrunken werden.

29.2.4  Grundnahrungsmittel zu

Hildegards Zeiten

kNährmittel

Damals aßen die Menschen, was verfügbar war: Getreide (Dinkel, Hirse, Buchweizen,

709 Ernährung

Gerste, Roggen). Maronen wurden oft gegessen und dienten v. a. bei Missernten als Lieferant von Kohlenhydraten. Die Edelkastanien wurden süß und pikant zubereitet. kSüßungsmittel

Als Süßungsmittel dienten Früchte und Dicksäfte. Zum Süßen wurden Trockenfrüchte oder „Apfel-/Birnenkraut“ (eingekochter Apfel-/Birnensaft) verwendet. Man bedenke: Honig war kostbar, Zuckerrohr noch unbekannt und Zuckerrüben selten verfügbar. Honig galt bei Hildegard als Heilmittel und ist Bestandteil verschiedener Heilmittelrezepturen und Elixiere. kBrot

Brot wurde mit Eicheln, Maroni und oft auch mit Heublumen gestreckt. Bockshornkleeblätter und andere Gewürze wie Fenchel, Kümmel etc. wurden reichlich verwendet. Salz war eine Kostbarkeit und wurde sparsam eingesetzt. Laut Hildegard wurden die Speisen mit Essig, zumeist Weinessig, gewürzt. kFett

Es wurden Schmalz, Butterschmalz, Butter (Rohmilchbutter), Talg von allen Tieren und Öle (Sonnenblumen, Nussöl, Mohnöl etc.) verwendet. Butter aus Kuhmilch schätzte Hildegard besonders. In verschiedenen Rezepten wird diese auch erhitzt. kMilchprodukte

Idealerweise wird rohe Frischmilch verwendet. Hildegard empfahl v. a. Produkte aus Ziegenmilch. Auch Schafmilch/Schafmilchprodukte können verwendet werden. Von der Kuh sollten v. a. Rahm oder Butter verwendet werden. kFleisch

Regelmäßig war Fleisch nur in begüterten Schichten (Adel und Kirche) verfügbar. Der Durchschnittsbürger aß Mus, Eintöpfe oder Suppen. kEier

Sie sollten laut Hildegard sollten nur von Gesunden verzehrt werden.

29

29.2.5  Ausgewählte Rezepte zz Allgemeiner Hinweis

Zu Hildegards Zeiten wurde in erster Linie mit Handmaßen gemessen, d.  h., konkrete Mengenangaben sind in den überlieferten Texten selten zu finden. Geeichte Gewichte und Maßeinheiten standen der allgemeinen Bevölkerung noch nicht zur Verfügung. Je nach Verfügbarkeit der teilweise teuren und schwer erhältlichen Ingredienzien adaptierte man die Rezepte. In den nachstehenden Rezeptangaben finden sich bestmögliche Informationen, um dem heutigen Bedürfnis nach genauen Mengenangaben entgegenzukommen. Oft wurden bei Rezepten tierische Produkte wie z. B. Bären- oder Geierfett angegeben, was mit den heutigen Naturschutzbestimmungen unvereinbar ist. Außerdem wurden manche Giftpflanzen wie z.  B.  Osterluzei verwendet. Auch diese Rezepturen werden nach heutigen Anwendungsstandards umgeschrieben. kGetreideabkochung/Dinkelsuppe

55 3 EL Dinkel (oder Getreide nach Wahl) plus 1,5 Liter Wasser werden ca. eine halbe Stunde auf kleiner Flamme geköchelt. 55 Je nach Geschmack können auch verschiedene Hildegard-Gewürze oder Wurzelgemüse beigefügt werden: Ysop, Beifuß, Bertram, Galgant, Quendel, Schabzigerklee, Polei-Minze, Rosmarin, Petersilie, Majoran, Zeller-Grün, Liebstöckel, Muskatnuss, Zimt, Nelkenpulver, Kerbel, Estragon, Bachminze, Lavendel. 55 Das durch Dampf verlorene Flüssigkeitsvolumen wird ergänzt. 55 Die festen Inhaltsstoffe werden verworfen, die Flüssigkeit wird über den Tag verteilt getrunken. kDinkelschrotsuppe

55 3 EL Dinkelschrot werden in 1 EL Butter angeschwitzt. 55 Mit Gewürzen und Gemüse, z. B. Fenchel, Bohnen, Kürbis, 15 Minuten kochen, dann pürieren.

710

L. Kramer et al.

kDinkelflocken

55 Sie werden in Wasser mit Zimt und Nelkenpulver gekocht. 55 Dazu gibt es Apfelkompott.

55 Das durch Dampf verlorene Volumen an Flüssigkeit ergänzen 55 Die festen Inhaltsstoffe verwerfen und die Flüssigkeit über den Tag verteilt trinken

kHabermus – das ideale Frühstück!

55 ½ Tasse Dinkelschrot wird in 1½ Tassen Wasser eingekocht. 55 Ausquellen lassen. 55 Zimt und einen geriebenen Apfel, evtl. 1 EL geriebene Mandeln dazugeben. zz Getreide

29

Nach Hildegard ist Dinkel das ideale Getreide. Die Autorin empfiehlt, zusätzlich Hirse, Buchweizen, Hafer, Einkorn, Emmer, Waldstaude oder Gerste auf den Speiseplan zu setzen, sei es als Teigwaren, Flocken oder Getreideschrot. Zahlreiche Menschen leiden unter Glutenunverträglichkeiten. Diese Menschen können Hildegard-Rezepte mit den glutenfreien Kohlenhydratlieferanten Hirse, Buchweizen oder Polenta/Mais zubereiten. Aus der eigenen Beobachtung sind auch wenig verbreitete Getreidearten wie Emmer, Einkorn, Waldstaude, Hafer und Gerste gut verträglich, wenn sie abwechselnd in den Ernährungsplan einbezogen werden. Anthroposophen empfehlen, täglich ein anderes Getreide/Gemüse/Obst zu essen. Diese Empfehlung erscheint plausibel, da der Mensch dadurch mit abwechslungsreicher Kost versorgt ist. Außerdem zieht jede Pflanze andere Nährstoffe aus dem Boden. Während der Vorbereitung auf eine Fastenkur, bei Erkrankungen oder bei entzündetem Verdauungstrakt kann das Trinken einer Getreideabkochung helfen. Getreideabkochung: Rezept 55 3 EL Dinkel plus 1 l Wasser ca. eine halbe Stunde auf kleiner Flamme köcheln lassen 55 Nach Geschmack können verschiedene Gewürze oder Wurzelgemüse beigefügt werden

Diese Abkochung kann auch mit anderen Getreiden wie Buchweizen, Hafer, Roggen, Gerste, Hirse etc. zubereitet werden.

>> Durch Rotationskost wird eine größere Vielfalt an Mineralstoffen mit der täglichen Nahrung aufgenommen.

Zusammenfassung 55 Hildegard von Bingen erkannte schon vor etlichen Jahrhunderten den Zusammenhang zwischen Ernährung und Krankheit 55 In zahlreichen Rezepturen gab sie Hinweise, wie man sich bei verschiedenen Erkrankungen ernähren kann 55 Die Aussagen Hildegards sind durch die damalige Zeit geprägt, doch da sich die Lebensbedingungen gewandelt haben, sollten die Rezepturen an heutige Anwendungsstandards angepasst werden

29.3  TCM-Diätetik Gertrude Kubiena

29.3.1  Einführung

Diätetik ist eine der TCM-Methoden und wird vorwiegend, aber nicht ausschließlich, zur Prophylaxe eingesetzt. Wie die gesamte TCM basiert auch deren Diätetik auf den drei Grundtheorien: 55 Qi, 55 Yin-Yang, 55 Fünf Elemente.

29

711 Ernährung

Lebensmittel, ebenso wie Arzneidrogen, werden charakterisiert nach ihrem Qi (Wirkung), ihrem Temperaturverhalten, ihrem Geschmack und ihrem Tropismus. kQi

Qi 氣 ist die alles bewegende, alles bewirkende Kraft im Universum und im Körper. Der Mensch muss jede Sekunde seines Daseins Qi produzieren. Das geschieht durch Transformation des „Inputs“ der aufgenommenen festen und flüssigen Nahrung. Die Hauptarbeit verrichten Magen und Milz – in der TCM die Organe der Mitte und Synonym für das gesamte metabolische System. Daraus ergibt sich, dass die Qualität der Nahrung für den energetischen Zustand des Organismus wesentlich ist, jedoch nicht allein, denn individuell geprägt wird jede im Lauf des Lebens vom Körper gebildete Substanz und Energie durch die ererbte Konstitution. Dennoch kommt es sehr wohl darauf an, ob das, was wir essen, Qi enthält oder nicht. Der Chinese kauft deshalb auf dem Markt am liebsten lebende Tiere und ganz frisches Gemüse, denn darin ist noch Qi!

tionskreise der Fünf Elemente (. Tab. 29.1) und leiten zum Organ im gleichen Funktionskreis. Die meisten Nahrungsmittel haben mehr als einen Geschmack, z. B. ist Zimt sowohl scharf als auch warm. 55 Das spezifische Aroma – Qi 氣. Es bedingt die spezielle Wirkung einer Arznei bzw. eines Nahrungsmittels. So hat z. B. Lakritze ein spezielles Aroma, welches mit ihrer antitoxischen Wirkung verknüpft ist. Wird dieses Aroma durch Braten entfernt, geht der antitoxische Effekt verloren, der Organtropismus hingegen verstärkt sich.  

>> Jedes Organ braucht den Geschmack des gleichen Funktionskreises, aber wohl dosiert! Übermaß schadet dem Organ. Gesteigertes Verlangen nach einem bestimmten Geschmack kann auf eine Störung im Funktionskreis hinweisen. Das kann aber auch täuschen, denn das Bedürfnis nach scharf ist signifikant für Leber-Qi-Stagnation.

kTemperaturverhalten

kTropismus

kGeschmack

29.3.2  Ernährung nach Jahreszeit

Das Temperaturverhalten gibt an, welche Tempe- Nicht der Geschmack allein bestimmt den Troratur die Substanz im Körper entwickelt. Heiß pismus; deshalb wird er für Arzneien und und warm sind Yang-, kühl und kalt Yin-­ Nahrungsmitteln separat ausgewiesen. Qualitäten. Als kalt bzw. kühlend gelten beispielsweise Früchte wie Bananen, Birnen, Melonen, Der Wert der Nahrungsmittel (nach Erdbeeren, das Fruchtfleisch von Orangen und Huang Di Nei Jing) Mandarinen. Kühlendes Fleisch und Eier stam55 Getreide ernährt den Körper (Reis ist men von der Ente; als Getränk zählt hier Weizen„das tägliche Brot“ in Südchina) bier. Warm sind dagegen Kirschen und Himbee55 Obst unterstützt den Körper (es war ren, Hühnerfleisch, Rindfleisch; Lammfleisch gilt für manche Chinesen ein Luxus) sogar als sehr warm bis heiß, ebenso Forelle. 55 Fleisch baut den Körper auf (es gibt Ebenfalls entwickeln diverse Gewürze wie Cadie meiste nachhaltige Energie her) yennepfeffer, Chili, Zimt und getrockneter Ing55 Gemüse stillt Hunger (es ist das wer Hitze. Zwischen warm und kühl liegen die Hauptnahrungsmittel im Alltag) vielen temperaturneutralen Substanzen.

Der Geschmack zerfällt in zwei Komponenten: 55 Die Fünf Geschmäcker –五 味wu wei: sauer, bitter, süß, scharf, salzig. Diese Fünf Geschmäcker sind eingebunden in die Funk-

Zu jeder Jahreszeit dominiert ein bestimmter Geschmack. Dieser sollte nicht verstärkt werden, sondern es sollte mittels Stärkung des

Sauer

Leber

Sehnen

Frühling

Adstringierend, Schutz der Körperflüssigkeit

Einwärts

Schisandra-Beere, Essig

Geschmacka

Organ/Tropismus

Gewebe

Jahreszeit

Wirkung des Geschmacks

Geschmack – Wirk­ richtung

Beispiel

Ginseng, Süßholz

Mitte, harmonisierend

Harmonisiert, stärkt, nährt, tröstet

Spätsommer/ Übergang

Muskelfleisch

Milz

Süß

Erde

Frischer Ingwer, Mentha (Minze), scharfe Gewürze

Aufwärts und auswärts

Zerstreut, diaphoretisch, entfernt äußere Pathogene von der Oberfläche

Herbst

Haut

Lunge

Scharf

Metall

Meersalz, Tang gegen Schleim, Skrofulose

Abwärts und einwärts

Erweicht, befeuchtet, purgiert

Winter

Knochen

Niere

Salzig

Wasser

Eine Unterkategorie des süßen Geschmacks ist „bland“, d. h., weder süß, noch sauer, salzig etc. Wirkung: Fördert die Diurese, entwässert. Bland schmecken beispielsweise Pilze

Bittersalz; Bittermelone, Rhabarberwurzel

Abwärts

Trocknet Feuchtigkeit, purgiert

Frühsommer

Gefäße

Herz

Bitter

Feuer

29

aAnmerkung:

Holz

Element

..      Tab. 29.1  Funktionskreise der Fünf Elemente

712 L. Kramer et al.

713 Ernährung

kontrollierten Elements dem Überwiegen entgegengesteuert werden: 55 Frühling (Holz kontrolliert Erde): weniger Saures – mehr Süßes, Warmes, 55 Frühsommer (Feuer kontrolliert Metall): weniger Bitteres – mehr Scharfes, Kühles, 55 Spätsommer/Übergang (Erde kontrolliert Wasser): weniger Süßes und Feuchtes, mehr Salziges und Trockenes, 55 Herbst (Metall kontrolliert Holz): weniger Scharfes – mehr Saures, Befeuchtendes, Fettes,

29

55 Winter (Wasser kontrolliert Feuer): weniger Salziges – mehr Bitteres, Wärmendes. 29.3.3  Ernährung nach Konstitu-

tion/Kondition – 7 Typen (. Tab. 29.2)  

Im Übrigen verwendet man in China auch Nahrungsmittel, die in westlichen Ländern, besonders bei jungen Leuten, Entsetzen hervorrufen. So sind zum Beispiel die gelben Un-

..      Tab. 29.2  Die 7 Ernährungstypen (Kubiena 2013, mod. nach Wu Yanping 2005) Konstitutionstyp/ Kondition

Gut

Schlecht

Normal

Alles

Nichts – außer zu viel, zu wenig, zu einseitig

Qi-Mangel

Süß, sauer und neutral/warm: Dattel, Maroni, Lotossamen, Klebereis, Rind, Erdnuss, Karpfen, Kartoffel, Apfel, Yam

Bitter, kalt, roh: Obst, Rohkost wie Birne, Melone, Orange

Yang-Mangel

Süß und warm: Walnuss, Lamm, Shrimps, Fisch, Huhn, Schweinsniere, Knoblauch, Zwiebel, Lauch

Bitter, kalt, roh: Obst, Rohkost wie Birne, Melone, Orange, Chinakohl

Blut-Mangel

Süß, sauer, salzig und wohltemperiert: Fleisch (speziell Rindfleisch), Markknochen, Leber, Lycii Fructus (Goji-Beeren, Bocksdornfrüchte, gou qi zi), Longanfrucht (long yan rou), Kirsche, Traube

Scharf, kalt und rein vegetarische Kost

Yin-Mangel

Süß, kühl, roh, nahrhaft: Obst, Kartoffel, Jamswurzel, Banane, Birne, Bohnen, Pilze, grüner Tee, Milch, Ei, Honig

Scharf, bitter, Gewürze: Knoblauch, Schnittlauch, Lauch, Pfeffer, Chili

Schleim-­ Feuchtigkeit

Bland und neutral/kühl: Hiobsträne (Lacrima Jobi, Getreideart), Wachskürbis, rote/grüne Bohnen, grünes Gemüse, Fisch, Lotossamen, Sushi (Algen, Tang)

Süß, warm, heiß oder kalt: Yang-Tonika (innerlich wärmende Substanzen), Fleisch, Pfeffer, schwarze Bohnen, in Öl Gebratenes, Milchprodukte

Feuchte Hitze

Bland, kühl Grüne/rote Bohnen, Gurke, Hiobsträne, Seerosenblatt, Spargel, Chicoree, Fenchel, Chinakohl, Rettich, Melone, grüner Tee

Sauer, süß und scharf, Yin-Tonika, Gebratenes, Erwärmendes: Fleisch, Pfeffer, Knoblauch, Lauch

Blut-Stase

Nicht adstringierend, zusammenziehend, rau, sauer-bitter-salzig Weißdorn, Zucchini, Aubergine, Krebsfleisch, Fisch, Judasohr (Mu-Err, Holunderpilz)

Hantig – „rau“ = sauer, adstringierend: Pflaume, Olive, Granatapfel, Litschi, Kirsche, Kaki

714

L. Kramer et al.

terfüßlein der Hühner eine begehrte Delikatesse. Gesund sind sie übrigens auch, für Yin-­Mangel-­Typen. Das gilt auch für Schweinsfüße und Schweineschwarte. Die ererbte Essenz des Menschen – das angeborene Jing  – ist nicht wirklich ersetzbar. Man kann nur darauf achten, nicht damit zu prassen, und schonen kann man es, indem man tierisches Jing zu sich nimmt in Form von Knochen- und Rückenmark. Innereien waren in früheren Jahren in Europa eine Selbstverständlichkeit auf dem Speisezettel. Heutzutage lehnen es v.  a. junge Leute ab, Hirn (reines Jing!) oder Nieren zu verzehren. >> Die TCM rät, innere Organe von Tieren zu essen, um die eigenen zu stärken.

Zusammenfassung

29

55 Chinesische Diätetik ist in westlichen Ländern nicht jedermanns Sache. 55 Es lohnt sich allerdings, gewisse Richtlinien zu befolgen. 55 Das gilt insbesondere für die Ernährung nach dem individuellen Typ.

Ebenso führt die Einnahme von zu vielen heißen und scharfen Speisen und Getränken, wie beispielsweise Hammelfleisch und Alkohol, sowie ein Übermaß an körperlicher Aktivität zur Verschlimmerung von mkhris pa-Störungen. Werden zu viele schwere und ölige Speisen und Getränke, wie Rohkost und Süßigkeiten, aufgenommen bzw. hält man sich an nassen oder feuchten Plätzen auf, werden bad kan-Störungen begünstigt. Im Folgenden werden die 3 Kapitel des Tantra der Erklärungen kurz dargestellt: 55 zas tsul (Ernährungslehre), 55 zas bsdam (diätetische Restriktionen), 55 zas tshod ranpa (Korrekte Einnahme von Nahrungsmitteln und Getränken). 29.4.1  Zas tsul (Ernährungslehre)

29.4  Diätetische Maßnahmen

Die richtige Einnahme von Speisen und Getränken erhält den Menschen am Leben, während die Einnahme von zu wenig, zu viel oder ungeeigneten Lebensmitteln Störungen verursachen oder sogar den Tod herbeiführen kann. Eine besondere Sorgfalt bei der Auswahl von Nahrungsmitteln und Getränken ist daher sehr wichtig (. Tab. 29.3).

Florian Ploberger

29.4.2  Zas bsdam (diätetische

Die Bedeutung einer an den Patienten angepassten Ernährung wird im rgyud bzhi immer wieder besonders betont und zusätzlich in 3 eigenen Kapiteln des zweiten Tantras (Tantra der Erklärungen) ausführlich behandelt. In diesen Kapiteln werden die Art und Vielfalt von Nahrungsmitteln und Getränken erläutert und deren Anwendungsgebiete, etwaige Vorsichtsmaßnahmen und das Prinzip der richtigen Menge an aufgenommenen Nahrungsmitteln beschrieben. So können z. B. der übermäßige Verzehr von leichten und rauen Speisen oder Getränken, wie etwa Schweinefleisch oder Tee, eine Fastenkur oder auch eine mentale Überbeanspruchung, rlung-Störungen verursachen.

Um die Gesundheit zu erhalten, sind einige Einschränkungen hinsichtlich der Ernährung zu beachten. So sollten inkompatible Lebensmittel nicht gemischt, die Mahlzeiten regelmäßig eingenommen und unbekömmliche oder ungewohnte Speisen vermieden werden. Nahrungsmittel und Getränke bauen von Natur aus die Körperelemente (Luft, Wasser, Feuer etc.) auf oder ab. Werden miteinander unverträgliche Nahrungsmittel gemeinsam eingenommen, z. B. unvergorenes Joghurt und frisches Chang (tibetisches Bier), kann es zu Verdauungsstörungen kommen. Durch unregelmäßige Mahlzeiten oder den Verzehr unter-



in der tibetischen Medizin Einschränkungen)

29

715 Ernährung

..      Tab. 29.3  Beziehung zwischen den 5 grundlegenden Elementen (Erde, Wasser, Feuer, Luft und Raum), den 6 Geschmacksrichtungen und den 3 Geschmacksrichtungen nach erfolgter Verdauung Grundlegende Elemente

Geschmacksrichtung

Geschmacksrichtung nach erfolgter Verdauung

Erde + Wasser

Süß (mngar)

Süß

Erde + Feuer

Sauer (skyur)

Sauer

Wasser + Feuer

Salzig (lan tsha)

Süß

Wasser + Luft

Bitter (kha ba)

Bitter

Feuer + Luft

Scharf (tsha ba)

Bitter

Erde + Luft

Herb (bska ba)

Bitter

schiedlicher Mengen kann die Hitze des Verdauungstrakts gestört werden. Jeder sollte daher seine Konstitution sowie die Stärke der Hitze seines Verdauungstrakts kennen und jahreszeitliche Einflüsse berücksichtigen. In der Ernährung sind manche Einschränkungen zu beachten. Naturgemäß werden junge und kräftige Personen, die einen aktiven Lebenswandel verfolgen und über eine starke Hitze des Verdauungstrakts verfügen, durch unbekömmliche Essgewohnheiten weniger beeinträchtigt. Wenn die Ernährung umgestellt werden soll, sollte dabei schrittweise vorgegangen werden. Durchschnittlich ist eine Übergangsperiode von 20–40 Tagen einzuhalten, bis ein Nahrungsmittel auf dem Speiseplan durch ein anderes vollständig ersetzt werden kann. >> Plötzliche Umstellungen in der Ernährung können die drei Körperenergien in Ungleichgewicht bringen und der Gesundheit schaden.

29.4.3  Zas tshod ranpa (richtige

Nahrungsaufnahme)

Die Nahrung soll zum richtigen Zeitpunkt und in mäßigen Mengen aufgenommen werden. Sie ist individuell an Körperstatur und Verdauungskraft anzupassen. Auch ist zu berücksichtigen, ob schwere oder leichte Nahrungsmittel aufgenommen werden. Leicht verdauliche

Speisen können bis zur vollständigen Sättigung gegessen werden, wogegen der Magen mit schwer verdaulicher Kost nur bis zur Hälfte gefüllt werden sollte. >> Unabhängig von Alter, Statur und Geschlecht gibt es eine allgemeine Regel, die bei sorgsamer Beachtung zur Erhaltung der Hitze des Verdauungstrakts und der Gesundheit beiträgt: Teilen Sie Ihren Magen in Ihrer Vorstellung in vier Teile ein. Füllen Sie zwei Viertel mit festen Nahrungsmitteln, ein Viertel mit Flüssigkeit und lassen Sie das restliche Viertel für Verdauungsaktivitäten frei.

29.4.4  Wirkung der 6 Geschmacks-

richtungen auf das ­Körpersystem (. Tab. 29.4)  

Alle 6 Geschmacksrichtungen der vom Menschen aufgenommenen Speisen und Getränke kommen grundsätzlich aus der Erde, sie werden vom Wasser benetzt, reifen durch Feuer, werden durch Luft bewegt und benötigen Raum, um zu wachsen. Alle 5 Elemente sind in essbaren Sub­stanzen vorhanden. Jeweils 2 vorherrschende Elemente bestimmen den Geschmack: 55 Erde und Wasser erzeugen einen süßen Geschmack.

716

L. Kramer et al.

..      Tab. 29.4  Wirkung der 6 Geschmacksrichtungen auf die 3 Energien

29.5  Ayurvedische

Ernährungslehre (Ahara)

Geschmacksrichtung

Verstärkt

Beruhigt

Lothar Krenner

Süß

bad kan

rlung & mkhris pa

29.5.1  Einführung

Sauer

mkhris pa

rlung & bad kan

Salzig

mkhris pa

rlung & bad kan

Bitter

rlung & bad kan

mkhris pa

Scharf

mkhris pa

bad kan

Adstringierend

rlung & bad kan

mkhris pa

Ernährung ist ein „weites Land“ mit vielen unterschiedlichen Konzepten und Meinungen. Die ayurvedische Ernährungslehre entspringt dem Weltbild der Ayurveda-Medizin (7 Kap.  34), nach dem alles mit allem verbunden ist und sich gegenseitig beeinflusst. Das heißt, im Ayurveda spielen die Qualität der Nahrungsmittel, die Art der Zubereitung, die Situation und Atmosphäre während der Mahlzeit, die Verdauungskraft, der Zustand des Organismus, die Tages- und Jahreszeit, die psychische Verfassung etc. eine Rolle. Eine Verdauungsstörung (Störung der Trans­ formation) kann auf allen Lebensebenen auftreten: 55 körperlich (materiell), 55 geistig, 55 seelisch.  

29

55 Feuer und Erde erzeugen einen sauren Geschmack. 55 Wasser und Feuer erzeugen einen salzigen Geschmack. 55 Wasser und Luft erzeugen einen bitteren Geschmack. 55 Feuer und Luft erzeugen einen scharfen Geschmack. 55 Erde und Luft erzeugen einen adstringierenden Geschmack. Zusammenfassung 55 Die Bedeutung einer an den Patienten angepassten Ernährung wird in den wichtigsten Texten der tibetischen Medizin immer wieder betont. 55 Jeder sollte seine Konstitution sowie die Stärke der Hitze seines Verdauungstrakts kennen und jahreszeitliche Einflüsse berücksichtigen, wobei gelehrt wird, dass junge und kräftige Personen, die einen aktiven Lebenswandel verfolgen und über eine starke Hitze des Verdauungstrakts verfügen, durch unbekömmliche Essgewohnheiten weniger beeinträchtigt werden. 55 Möchte man seine Ernährung umstellen, sollte dabei grundsätzlich schrittweise vorgegangen werden.

Ernährung ist daher nicht ein rein materieller Vorgang; er schließt alle Lebensebenen mit ein (unverdaute Sinneseindrücke, unverdaute geis­ tig-seelische Prozesse). Die ayurvedische Ernährungslehre wird individuell auf die Situation jedes Menschen abgestimmt. Die Grundlage bildet die ayurvedische Konstitutionslehre. Sie basiert auf fol­ genden Prinzipien: 3 Doshas 55 Bewegungs- bzw. Wind-Prinzip – Vata mit den Qualitäten kalt, trocken, rau, hart und wechselhaft, 55 Stoffwechsel- bzw. Transformations-­ Prinzip – Pitta mit den Qualitäten warm, scharf und flüssig, 55 Prinzip der Stabilität und des Zusammenhalts – Kapha mit den Qualitäten kühl, feucht, ölig und weich.

717 Ernährung

Diese 3 Doshas leiten sich von den 5 Elementen ab (Panchamahabutas): 55 Vata setzt sich zusammen aus dem Raum(Akasha)- und Luft-Element (Vayu), 55 Pitta aus dem Feuer(Tejas/Agni)- und Wasser-Element (Jal), 55 Kapha aus dem Wasser(Jal)- und Erd-­ Element (Prithvi). Sie strukturieren alle Teile des Organismus und steuern alle Lebensprozesse, aber in unterschiedlicher Ausprägung; dies bildet die Grundlage für die individuelle Konstitution des ­Menschen. Man unterscheidet die Geburtskonstitution (Prakriti – die Natur des Menschen) und die gegenwärtige Dosha-Situation (Vikriti). Es werden 7 Hauptkonstitutionstypen definiert: eine dominante Vata-, Pitta-, Kapha-, Vata-Pitta-, Vata-Kapha-, Pitta-Kapha- und Vata-Pitta-Kapha-Konstitution; die meisten Menschen haben jedoch eine individuelle Mischform der 3 Doshas. Die 3 Doshas stellen ein universelles Konzept dar; nicht nur der menschliche Organismus, sondern jede materielle und geistige Erscheinungsform im Universum wird von den 3 Doshas strukturiert. Daher können auch die Nahrungsmittel, die Getränke sowie die natürlichen tages- und jahreszeitlichen Rhythmen entsprechend ihrer Vata-, Pitta- und Kapha-Dominanz definiert werden (7 Abb.  34.19 und 7 Abb. 34.12, Kon­stitutions-­Fragebogen). Nahrung wird im Ayurveda als Medizin angesehen, als ein wesentlicher Aspekt, das Gleichgewicht im Organismus aufrechtzuerhalten bzw. wiederherzustellen (entsprechend der individuellen Konstitution). In der Ayurveda Medizin werden 6 Geschmacksrichtungen unterschieden: 55 süß, 55 sauer, 55 salzig, 55 scharf, 55 bitter und 55 herb (adstringierend).  



29

Diese beeinflussen die Doshas in unterschiedlicher Form: 55 Nahrungsmittel (Speisen) mit süßem, saurem und salzigem Geschmack erhöhen Kapha und reduzieren Vata, 55 Nahrungsmittel mit scharfem, bitterem und herbem Geschmack reduzieren Kapha und erhöhen Vata, 55 Nahrungsmittel mit saurem, salzigem und scharfem Geschmack erhöhen Pitta, 55 Nahrungsmittel mit süßem, bitterem und herbem Geschmack reduzieren Pitta. Für die Auswahl der entsprechend an die Situation angepassten Nahrungsmittel spielen neben dem Geschmack auch andere Faktoren eine Rolle, u. a. die Gunas, d. h. Qualitäten, wie z.  B. leicht-schwer, warm-kalt, trocken-ölig, oder auch sattwische Nahrungsmittel (lebensunterstützend), wie z.  B.  Bio-Basmatireis, weiße, süße Mandeln, Kuhmilch (speziell zubereitete Bio-A2-Rohmilch, sofern keine ­ Milchzucker- und Milcheiweißunverträglichkeit vorliegt; das zunehmende Problem von Milchunverträglichkeiten hat laut Ayurveda die Ursache u. a. auch in der mangelnden Qualität der Milch und der Milchprodukte), geklärtes Butterfett (Ghee), Bio-Honig, etc. Zusätzlich zu der ausgleichenden Wirkung der Dosha-Zusammensetzung der Ernährung muss jedoch auf folgende Faktoren geachtet werden: kDas Verdauungsfeuer – Agni

Es ist die Verdauungskraft des Organismus (ein Aspekt des Pitta Dosha), die die Nahrung in körpereigenes Gewebe umwandelt (transformiert). kAnsammlung von Exo- und Endotoxinen im Organismus – Ama (Schlackenstoffe)

Je mehr Toxine vorhanden sind, umso mehr muss dem Organismus die Möglichkeit gegeben werden, zu entschlacken, d.  h., leicht verdauliche Nahrung zu sich zu nehmen ­ (7 Kap.  28, Ayurvedische Kurbehandlungen, einschließlich Entschlackungsdiäten).  

718

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kDer Zustand der Gewebe – Dhatus

Es werden 7 Gewebearten unterschieden: Rasa – Lymphe, interstitielle Flüssigkeit, Rakta – feste Blutbestandteile, Mamsa – Muskelgewebe, Medo – Fettgewebe, Asthi – Knochengewebe, Majja  – Knochenmark und Nervengewebe, Shukra – Fortpflanzungsgewebe. kDie Stärke bzw. Selbstheilungskraft des Organismus – Ojas

Ojas ist das feinste Stoffwechselprodukt, das Endprodukt jedes Verdauungsprozesses (7 Abschn. 34.4.3, Verdauung und Ernährung).  

29.5.2  Ayurveda-­

Ernährungsempfehlungen

29

Aus dem bisher Dargestellten lässt sich ableiten, dass es in der Ayurveda-Medizin nicht nur eine Form von richtiger und gesunder Ernährung gibt. Ernährung muss auf die individuelle Situation des Menschen abgestimmt sein. Gesunde Ernährung muss als ein (Bewusstseins-) Entwicklungsprozess gesehen werden, nicht als Zwang. Ob Fleischkost, ob vegetarische oder vegane Ernährung gut ist, ist individuell unterschiedlich. Ausgewogene Ernährung ist in jedem Fall sinnvoll. Das Ziel der Ayurveda-­ Ernährungsemp­ fehlung ist laktovegetabile Ernährung (Getreide, Hülsenfrüchte – Mung Dal (Mungbohnen), Gemüse, Milchprodukte). Frische, biologisch angebaute Nahrungsmittel sind vorzuziehen. Hinweise auf ein nicht gut funktionierendes Verdauungssystem und die Entstehung von Schlackenstoffen (Ama) 55 Schwaches bzw. wechselndes Hungergefühl 55 Schweregefühl und Müdigkeit, speziell nach den Mahlzeiten 55 Blähungen 55 Verstopfung bzw. Wechsel zwischen Verstopfung und Durchfall

55 Übergewicht 55 Chronische Entzündungen, speziell mit Schleimbildung (Rhinitis, Sinusitis, Bronchitis etc.)

Allgemeine Empfehlungen (7 Kap. 34)  

55 Essen in ruhiger, harmonischer Atmosphäre (ohne Zeitung, TV oder hitzige Diskussionen) 55 Aufmerksamkeit auf das Essen richten 55 Langsam Essen und gut kauen (ein Drittel des Magens sollte frei bleiben) 55 Menge der Mahlzeiten entsprechend dem Hungergefühl 55 Mittags die Hauptmahlzeit, abends z. B. Gemüsesuppen 55 Einmal pro Woche Reis-/Gemüsesuppentag (morgens, mittags und abends) 55 Fertignahrung, Dosenessen, Tiefkühlkost und aufgewärmtes Essen vermeiden; ebenfalls die Zubereitung in der Mikrowelle 55 Warme Getränke (heißes Wasser, Kräutertees, ayurvedische Gewürztees) 55 Gewürze zur Unterstützung der Verdauungskraft: Ingwer, Kreuzkümmel, Koriander (frisch/gemahlen), Kurkuma/Gelbwurz, Fenchel, Asa foetida, schwarzer Pfeffer, langer Pfeffer u. a. 55 Nahrungsergänzungsmittel auf pflanzlicher Basis (werden entsprechend den Ergebnissen der ayurvedischen Pulsdiagnose und Anamnese vom Ayurveda-Arzt empfohlen) 55 Entschlackungsbehandlungen (7 Kap. 28, Ayurvedische Kurbehandlungen)  

719 Ernährung

Zusätzliche Hauptpunkte zu einer Vata-, Pitta- und Kapha-ausgleichenden Ernährung kVata-Diät (wechselhafte Verdauungskraft – Vishama Agni)

Kleinere Mengen, warm, mit Ghee (geklärtem Butterfett) zubereitet (entsprechend dem Zustand von Agni); Zwischenmahlzeiten: warmes Apfelkompott mit Rosinen oder getoastetes Brot mit Honig; Getränke: Vata-­beruhigender Gewürztee, warme Gewürzmilch (biologische Roh-Kuhmilch, je 1 Msp. Ingwer, Kardamom und Gelbwurz dazugeben und ca. 3–5 Minuten köcheln lassen; unter 40  °C abkühlen lassen und dann 1–2 TL Honig dazugeben und schluckweise warm trinken). kPitta-Diät (scharfe Verdauungskraft – Tikshna Agni)

Größere Mengen sind möglich bzw. notwendig (entsprechend dem Hungergefühl; auf kon­ stantes Körpergewicht achten); stark erhitzende Nahrungsmittel (z. B. fermentierte Nahrungsmittel, wie Essig) und zu scharfe Gewürze vermeiden; Getränke: Pitta-­ beruhigender Gewürztee, Lassi (Kaffee, Schwarztee, Cola-haltige Getränke und Alkohol reduzieren bzw. vermeiden).

29

Gefühls und der Seele sowie die Transformation zu Intelligenz (Ojas). Als Hinweis auf gesunde und optimal auf den Zustand des Organismus angepasste Nahrung gilt, dass man sich generell und speziell nach dem Essen frisch, energievoll, wohl und glücklich fühlt. Eine nicht an den jeweiligen Menschen  – an sein Vikriti, Prakriti, Agni, Ama, den Zustand der Dhatus und Ojas – individuell angepasste Ernährung ist der erste Schritt zur Entstehung von Krankheiten. Ein häufig zitiertes Sprichwort des Ayurveda lautet:

»» “Without proper diet medicines are of no

use, with proper diet medicines are of no need.” (Ohne angemessene Ernährung sind Heilmittel nutzlos, bei angemessener Ernährung sind sie nicht erforderlich.)

Zusammenfassung

55 Der Schwerpunkt ayurvedischer Ernährungslehre liegt nicht auf Ernährungstabellen, sondern auf der individuellen Gesundheits- und Lebenssituation des Menschen. 55 Die Ernährung wird abgestimmt auf die Verdauungskraft (Agni), die Konstitution (Prakriti/Vikriti), die Toxinbelastung (Ama) und auf die Selbstheilungskraft des OrgakKapha-Diät (träge Verdauungskraft – nismus (Ojas). Manda Agni) 55 Die Ursache für Verdauungsstörungen Warme, leicht verdauliche Mahlzeiten, wenig kann im körperlichen/materiellen, geistiFett und Milchprodukte (mit Ausnahme von gen und seelischen Bereich liegen ayurvedischer Buttermilch  – Takra), die Ver- 55 Der Zweck der Nahrung ist in erster Linie das dauung unterstützende Gewürze: Ingwer, Wiederherstellen oder Aufrechterhalten des Kreuzkümmel, Gelbwurz/Kurkuma, schwarzer individuellen Gleichgewichts, die Zufuhr Pfeffer, langer Pfeffer etc. Zwischenmahlzeiten der Bausteine zum Aufbau körpereigenen reduzieren, wenig Zucker, keine Schokolade Gewebes (Dhatus) und die Stärkung der in(Kakao); Getränke: heißer Ingwertee, Kapha-­ neren Intelligenz des Organismus (Ojas). beruhigender Gewürztee. 55 Ernährung und Verdauung sind im AyurIn der Ayurveda-Medizin ist Essen nicht veda daher grundlegende, ganzheitliche, ein notwendiges „Übel“, um den Hunger zu beindividuelle Lebensprozesse, die die Nahseitigen; Essen ist ein grundlegender, zentraler rungsmittel selbst, die Zubereitung, die Vorgang des Lebens, der mit einer angenehAufnahme und die Verarbeitung der Nahmen, entspannten Atmosphäre und einem porung, d. h. die Transformation in körpereisitiven Gefühl verbunden sein soll: Aufnahme genes Gewebe und die Verfeinerung bis der „Nahrung“ (Energie, Information) auf der hin zur abstrakten Intelligenz des OrganisEbene des Körpers, der Sinne, des Geistes, des mus umfassen.

720

L. Kramer et al.

Literatur

29

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721

Komplementärmedizinische Methoden bei Krebserkrankungen Leo Auerbach 30.1

Einführung – 723

30.2

Komplementäre Therapien – Grundlagen – 723

30.2.1 30.2.2 30.2.3

E insatzbereich von komplementären onkologischen Therapien – 723 Methodenvielfalt – 724 Ganzheitliches onkologisches Konzept – 725

30.3

Immunmodulatorische ­Therapien – 725

30.3.1 30.3.2 30.3.3

 isteltherapie – 725 M Enzymtherapie – 727 Vitalpilze – 728

30.4

Antioxidanzien – Vitamine und Spurenelemente – 728

30.5

Phytotherapien – 729

30.5.1 30.5.2 30.5.3

 hytoöstrogene – 729 P Cannabis – 729 Andere Phytotherapien – 729

30.6

Supportive Homöopathie – 730

30.7

Ernährung – 731

30.8

 raditionelle chinesische Medizin, Ayurveda, tibetische T Medizin (zusammen mit Qigong, Tai Chi und Yoga), Aromatherapie, Homöopathie – 732

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_30

30

30.9

Bewegung – 732

30.10 Evidenzlage, Studien – 732 30.11 Ausbildung – 732 Literatur – 733

723 Komplementärmedizinische Methoden bei Krebserkrankungen

30.1  Einführung

Die Bedeutung von begleitenden supportiven Therapien bei Krebserkrankungen hat sich in den letzten 30  Jahren deutlich verändert. Naturgemäß stehen die besonderen Erfolge der modernen klinischen Behandlungsmethoden bei der Verlängerung des rezidivfreien Intervalls und der Überlebenszeit oder der Heilung im Vordergrund. Damit spielen der Erhalt der Lebensqualität unter und nach der Krebstherapie (chirurgische Interventionen, Chemound/oder Strahlentherapie, Behandlung mit monoklonalen Antikörpern, antihormonelle Therapien etc.), die Beherrschung der Nebenwirkungen und die schnelle Rehabilitation in den persönlichen Alltag oder in die Arbeitsroutine eine zunehmend wichtige Rolle. Der ganzheitliche Behandlungsansatz – als gleichberechtigter zusätzlicher Partner neben der klinisch-onkologisch wirksamen Behandlungsstrategie  – wird heute von der überwiegenden Mehrzahl der Patienten als für sie wichtigen Teil der gesamten Krebsbehandlung empfunden. Nationale und internationale Studien (Kalder et al. 2016) zeigen, dass zwischen 60 % und 70 % aller Krebspatienten „komplementäre“ Therapien erhalten. Diese werden oft aktiv beim behandelnden Onkologen/Strahlentherapeuten oder Gynäkologen/Chirurgen angesprochen und eingefordert.

30.2  Komplementäre Therapien –

Grundlagen

Der Begriff der komplementären Medizin ist in der medizinischen Nomenklatur noch relativ jung. Mit komplementären – also die eta­ blierten Therapien (konventionelle Medizin) ergänzenden  –  Verfahren sollen der Krankheitsverlauf verbessert, die Nebenwirkungen der klinischen Therapie verringert, die Rehabilitation nach Operation, Chemotherapie oder Strahlentherapie unterstützt und auch die Tumorentwicklung günstig beeinflusst werden.

30

>> Im Gegensatz dazu stehen „alternative“ Therapien, die eine konventionell-­ medizinische Therapiemaßnahme bei Krebs entweder als sinnlos ablehnen oder sie gar als gefährlich bezeichnen. Diese sind in keinem Fall als komplementäre Krebsbehandlungen anzusehen.

Viele Krebspatienten haben den Wunsch, selbst etwas zur Heilung beizutragen. So haben in den letzten Jahrzehnten immer mehr Patienten Heilmethoden gewählt, die ihre Gesundheit und ihre Lebensqualität sichern oder verbessern sollten. Komplementäre Behandlungen und deren Heilmittel sind nicht mehr exklusiver Wissensgehalt einzelner Personen oder Institutionen, sondern wurden durch den weltweiten Internetzugang und durch Berichte in den Medien leichter zugänglich und auch erhältlich. Beinahe täglich werden „neue“ und „erfolgversprechende“ Maßnahmen öffentlich diskutiert und beworben. Und es ist heute üblich, dass Patienten oder ihre Angehörigen mit Internetausdrucken, Beipackzetteln und Wunsch­ listen ihre Therapeuten aufsuchen, um kompetente Informationen einzuholen. 30.2.1  Einsatzbereich von

komplementären onkologischen Therapien

Nach wie vor müssen jedoch die meisten Methoden komplementärer Krebsbehandlungen als „wissenschaftlich nicht begründete (nicht tumorwirksame)“ und in der Regel daher als in der konventionellen Medizin nicht anerkannte Krebstherapeutika angesehen werden. Die Verlängerung des rezidivfreien lntervalls oder der Überlebenszeit konnte in den von konventionell ausgerichteten Medizinern geforderten prospektiv randomisierten Doppelblindstudien noch nicht ausreichend bewiesen werden bzw. wurden solche Studien bisher nicht durchgeführt. Deshalb steht heute als Hauptindikation zur komplementären onkologischen Therapie der Erhalt oder die Wiederherstellung der Le-

724

L. Auerbach

bensqualität innerhalb von oder nach klinischen Therapien im therapeutischen Vordergrund. Einzelergebnisse, retrospektive und prospektive klinische Studien belegen, dass viele dieser unterstützenden Therapieformen die Immunfunktion beeinflussen und onkologische Patienten eine deutliche Verbesserung ihrer Befindlichkeit und Lebensqualität während und außerhalb einer klinischen Therapie erfahren (7 Abschn. 30.10). Der Einsatz der komplementären Therapie ist nicht mehr nur in metastasierten, palliativen und „austherapierten“ Stadien, sondern spätestens nach der Erstdiagnose einer Krebserkrankung sinnvoll und nützlich. Die Patienten sollen und müssen über den medizinischen Wissensstand, die Wirksamkeit, eventuelle Nebenwirkungen und Kontraindikationen der empfohlenen Begleitmethoden informiert werden. Des Weiteren ist die Kommunikation und Zusammenarbeit mit dem betreuenden onkologischen interdisziplinären Team aus Gynäkologen, Chirurgen, Internisten, Onkologen, Radiologen, Pathologen, Strahlentherapeuten und anderer Berufsgruppen wie Psychoonkologen, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten unbedingt zu empfehlen und gerade bei chronischen Krankheitsverläufen unerlässlich.  

30

30.2.2  Methodenvielfalt

Es gibt weltweit mehrere tausend verschiedene komplementäre Behandlungsmethoden, die oft regional – entsprechend der medizinischen Tradition und der umgebenden Flora – beeinflusst sind. In Westeuropa und den USA wurden besonders die immunmodulatorischen und antioxidativen Therapien untersucht und publiziert, die heute die Basis jeder Begleittherapie sind. Aus der Vielfalt dieses beinahe nicht mehr zu überblickenden komplementär-alternativen Angebots (s.  unten stehende Therapieverfahren) müssen die Behandlungsansätze hervorgehoben werden, zu denen bestmögliche wissenschaftliche Informationen vorliegen. Die

Kriterien zum Einsatz und zur Beurteilung dieser „komplementären Krebsbehandlungen“ sind mit den Kriterien der EBM (evidenzbasierte Medizin) identisch. Die Sicherheit der Verabreichung, die Kenntnis von Nebenwirkungen, Gegenanzeigen, Dosierung, Standardisierung und eventuellen Interaktionen mit anderen klinischen Therapien wie Chemooder Strahlentherapie oder moderner Antikörpertherapie sind mindestens ebenso essenziell wie der Wirksamkeitsnachweis. Häufigste komplementäre Therapien in Mitteleuropa Behandlungsverfahren: 55 Homöopathie 55 Homotoxikologie 55 Aromatherapie 55 Kneippkuren 55 Komplementäre Zahnmedizin 55 Hyperthermie-Verfahren 55 Immuntherapien 55 Phytotherapie ȤȤ Weihrauch ȤȤ Krallendorn ȤȤ Cannabis ȤȤ Mistel ȤȤ Phytoöstrogene 55 Enzymtherapie 55 Ayurveda 55 TCM Ergänzende Maßnahmen: 55 Modifikation der Ernährung 55 Diäten 55 Bewegungsprogramme 55 Qigong 55 Tai Chi 55 Autogenes Training 55 Biofeedback 55 Meditation 55 Supplementierung mit ȤȤ Vitaminen ȤȤ Selen ȤȤ Spurenelementen

30

725 Komplementärmedizinische Methoden bei Krebserkrankungen

Eine vollständige Beschreibung der o. g. und anderer Methoden ist im Rahmen dieses Kapitels nicht möglich. Eine Auswahl der am besten geeigneten Therapieoptionen kann nur individuell erfolgen. Das Beratungsgespräch durch einen komplementärmedizinisch und onkologisch ausgebildeten Arzt ist unverzichtbarer Bestandteil des komple­ mentärmedizinisch-­ärztlichen Handelns bei Tumorerkrankungen. 30.2.3  Ganzheitliches

onkologisches Konzept

Schwerpunktmäßig wurden hier einzelne Verfahren bzw. Präparate – mit besonderem Blickwinkel auf wissenschaftliche Ergebnisse im humanen Bereich  – vom Autor in einem 10-Punkte-Programm zusammengefasst:

Drei-Säulen-Modell aus 10 Elementen Säule 1: Beeinflussung des Immunsystems 1. Misteltherapie 2. Enzymtherapie 3. Vitalpilze    Säule 2: Antioxidative Unterstützung: 4. Vitamin D, Vitamin C; Spurenelemente: Se, auch Cu, Zn (Spiegelkon­ trollen!), Mg    Säule 3: Überdenken des täglichen ­Lebensablaufs 5. Ernährungsberatung 6. Fernöstliche Therapien 7. Pflanzliche Therapien 8. Zahnärztliche Begutachtung 9. Bewegungstherapie 10. Psychologische Begleitung

Auf wesentliche Therapieverfahren wird im Folgenden eingegangen.

30.3  Immunmodulatorische

­Therapien

30.3.1  Misteltherapie

Die Verwendung der Mistel in der Heilkunde hat eine lange Tradition, die bis in das 4. vorchristliche Jahrhundert zurückgeht. Die Einführung der europäischen, weißbeerigen Mistel (Viscum album L.) in der Krebstherapie beruht auf geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen Rudolf Steiners (1861–1925), dem Begründer der Anthroposophie (7 Kap.  21). Seine Mitarbeiterin, die Ärztin Ita Wegman, arbeitete bereits ab 1916 mit einem von ihm angeregten Mistel-Injektionspräparat und begann später mit ersten wissenschaftlichen Studien an Krebskranken. Mittlerweile gehören Mistelpräparate zu den bekanntesten, meistverwendeten und wissenschaftlich am besten untersuchten komplementären Arzneimitteln in der Onkologie (Empfehlungen der AGO-Kommission Mamma:  

7 http://www.­a go-online.­d e/de/infothek-fuer-aerzte/leitlinienempfehlungen/mamma/ .  

Zugegriffen am 03.06.2018). In Deutschland, Österreich und der Schweiz werden am häufigsten Extrakte aus Viscum album L. (VAE), der europäischen Mistel, eingesetzt (s.  auch 7 Abschn. 15.1.8, Mistelpräparate).  

kMistellektine und Viscotoxine

Die wesentlichen onkologisch relevanten Inhaltsstoffe in Mistelextrakten sind Mistellektine und Viscotoxine. Diese wirken auf Krebszellen bereits in niedriger Dosierung hoch zytotoxisch, sie hemmen das Zellwachstum und induzieren den programmierten Zelltod (Apoptose). Mistelextrakte sind außerdem in der Lage, bestimmte Komponenten des Immunsystems zu aktivieren, sodass es zu einer verbesserten körpereigenen Immunüberwachung und/ oder zu einer verbesserten Antitumor-­Antwort kommen kann. Sie stimulieren viele wesentliche Immunzellen und die Freisetzung von Zytokinen (TNF-α, IL-1, IL-6, γ-Interferon),

726

L. Auerbach

β-Endorphin und ­ Entzündungsmediatoren (CRP), die für die Bekämpfung einer Krebserkrankung wichtig sind. Wirkungen der Misteltherapie (Kienle und Kiene 2013) 55 Tumorhemmung: Wirkungsweise ȤȤ Direkt: dosisabhängige Zytotoxizität (Proteinsynthese, Apoptose-Induktion) ȤȤ Indirekt: Hemmung der Tumorangiogenese 55 Immunmodulation: ȤȤ Anzahl immunologischer Effektorzellen ȤȤ Zytokinfreisetzung 55 DNA- und Immunprotektion: ȤȤ Lymphozyten: DNA-Stabilität, DNA-­Reparatur 55 Verbesserung der Lebensqualität: ȤȤ β-Endorphin

30 Zur klinischen Anwendung von Mistelextrakten bei Krebspatienten liegen zahlreiche Einzelfallberichte und klinische Studien vor, die positive Ergebnisse für die Misteltherapie beschreiben (Horneber et  al. 2008; Kienle und Kiene 2010, 2013; Büssing et al. 2012). In der Mehrzahl der Fälle zeigen die Studien ein positives Ergebnis für die Misteltherapie (Kienle und Kiene 2013): 55 Verbesserung der Lebensqualität, 55 Verminderung der Nebenwirkungen der Chemotherapien, 55 Reduktion der Begleittherapeutika, 55 Verlängerung der Überlebenszeit oder des krankheitsfreien Intervalls, 55 Tumorremissionen. Den Einfluss der Misteltherapie auf die Überlebenszeit und der direkte Einfluss auf den Tumor wurde in 22 Studien untersucht. Aktuelle onkologische Studien zeigen auch positive Effekte auf das Gesamtüberleben, z.  B. bei weit fortgeschrittenen Pankreaskarzinomen (­Tröger et al. 2013).

Bei den meisten dieser Analysen waren die Lebensqualität und die Verträglichkeit von Chemo- oder Strahlentherapie unter Misteltherapie signifikant höher als in der Kontrollgruppe (Tröger et al. 2013). Es zeigten sich insbesondere eine deutliche Verringerung der Erschöpfung (Fatigue) und eine Verbesserung des Schlafes, positive Wirkungen auf Übelkeit/Erbrechen, Appetit, Durchfall, Arbeitsfähigkeit, Depression, Angst, Schmerzen sowie auf das generelle physische, emotionale und funktionelle Wohlbefinden: Positive Effekte der Misteltherapie 55 Verbesserung der Lebensqualität 55 Nachlassen tumorbedingter Schmerzen bei Verminderung des Schmerzmittelverbrauchs 55 Appetitsteigerung und Gewichtszunahme 55 Steigerung der Leistungsfähigkeit 55 Verbesserung der Stimmungslage 55 Verminderung der Infektanfälligkeit 55 Linderung der Nebenwirkungen konventioneller Therapien (Übelkeit, Erbrechen, Knochenmarktoxizität, Immundepression)

Das wesentliche Ziel der Therapie ist die bestmögliche Unterstützung des Tumorpatienten zur Verbesserung seiner Lebensqualität. Zur Verminderung der Nebenwirkungen einer Chemotherapie oder Strahlentherapie kann die Misteltherapie idealerweise bereits vor der adjuvanten Therapie begonnen werden. >> Wenn bei schon laufender Chemotherapie eine zusätzliche Misteltherapie überlegt wird, sollte der Onkologe informiert werden.

Die Misteltherapie kann bei allen soliden Tumoren eingesetzt werden – sowohl vor, neben oder nach klinischen Therapien (Chemo-/ Strahlentherapie, antihormonelle Therapie, monoklonale Antikörpertherapie).

727 Komplementärmedizinische Methoden bei Krebserkrankungen

Einsatzbereiche der Misteltherapie 55 Bei allen soliden Krebserkrankungen (adjuvant und palliativ) 55 Als Begleittherapie neben einer Hormon-, Strahlen- und Chemotherapie (ausgenommen sind Hochdosis-­ Chemotherapien zur Unterdrückung des Knochenmarks vor ­Stammzelltransplantationen)

Bei der subkutanen Gabe von Mistelextrakten kann es zu einer umschriebenen Hautrötung an der Einstichstelle und/oder zu einer leichten Temperaturerhöhung (0,5–1 °C) kommen. Diese Reaktionen auf die Misteltherapie sind im Grunde nichts anderes als ein Ausdruck des erwünschten immunstimulierenden Effekts, wobei Rötungen an der Einstichstelle (mit einem Durchmesser von 1–5 cm) eine optimale Dosierung anzeigen. Kein Einsatz der Misteltherapie 55 Bei allen akut entzündlichen und hochfieberhaften Erkrankungen, deren Symptomatik durch die entzündungsstimulierende Wirkung der Mistel verschlechtert werden könnte. 55 Aufgrund der noch fehlenden Erfahrungen wird derzeit der gleichzeitige Einsatz einer Misteltherapie und einer Therapie mit Interferonen sowie Interleukinen und den modernen Immunotherapien nicht empfohlen. 55 Bei hämatoonkologischen Erkrankungen (Leukämien und Lymphome) ist eine Misteltherapie nur in definierten Einzelfällen und immer in Absprache mit dem betreuenden Hämatoonkologen einzusetzen.

kMistelpräparate

Die in Österreich sowie auch in Deutschland und der Schweiz im Handel befindlichen Mistelextrakte unterscheiden sich hinsichtlich ih-

30

rer Zusammensetzung, Herstellungsweise und Wirtsbäume. Die wichtigsten Wirtsbäume sind Apfel (Malus), Tanne (Abies) und Kiefer (­Pinus). Ferner gibt es noch Mistelpräparate von den Wirtsbäumen Eiche (Quercus) und Pappel (Populus). Daraus ergeben sich wichtige Differenzierungen für die klinische subkutane Anwendung. Die Entscheidung, welches Mistelpräparat von welchem Wirtsbaum empfohlen wird, ist individuell zu entscheiden. kFazit

Die Misteltherapie stellt aus komplementärmedizinischer Sicht eine sinnvolle und sichere Ergänzung der konventionellen Tumortherapie dar und zeichnet sich durch eine hohe Arzneimittelsicherheit aus. Als wesentlicher Bestandteil eines umfassenden Therapiekonzepts, das den individuellen Patienten in den Mittelpunkt stellt, kann die Misteltherapie entscheidend die Lebensqualität der Patienten in allen Phasen der Tumorerkrankung verbessern.

30.3.2  Enzymtherapie

Enzympräparate enthalten Kombinationen von proteolytischen Enzymen. Das am weitesten verbreitete Präparat (WobeMugos bzw. Wobe-Mucos) enthält Papain aus der Papaya-Frucht sowie die tierischen Enzyme Trypsin und Chymotrypsin. Aufgrund ihrer eiweißspaltenden (proteolytischen) Eigenschaft vermögen Trypsin, Chymotrypsin und Papain die Eiweißhülle von Krebszellen anzugreifen und zu zerlegen. Danach können sie von der körpereigenen Abwehr leichter erkannt und bekämpft werden. Enzympräparate können das Immunsystem stimulieren und unterstützen die Entgiftungsfunktion der Leber. Beschrieben ist eine Reduktion der Nebenwirkungen von Strahlenund Chemotherapie und damit eine Verbesserung der Lebensqualität (Chabot et  al. 2010). Enzympräparate können auch bei Leukämien und Lymphomen eingesetzt werden. Die Dauer der Therapie beträgt etwa 6 Monate.

728

L. Auerbach

>> Die Enzymtherapie ist bei Störungen der Blutgerinnung oder angeborenen Gerinnungsstörungen nicht indiziert.

30.3.3  Vitalpilze

In der traditionellen chinesischen, indischen, japanischen und koreanischen Medizin (TAM) werden seit Jahrtausenden Vitalpilze, auch Heilpilze genannt, erfolgreich zur Linderung zahlreicher Beschwerden und zur Vorbeugung gegen viele schwere Krankheiten verwendet. Vitalpilze (Auswahl)

30

55 Agaricus (Mandelpilz, Sonnenpilz) 55 Kawartake (Coriolus versicolor) 55 Maitake (Grifola frondosa, Klapperschwamm) 55 Reishi (Ganoderma lucidum, Glänzender Lackporling, Ling Zhi) 55 Shiitake (Lentinula edodes) 55 Raupenpilz (Cordyceps sinensis)

Die aktiven Inhaltsstoffe wurden in Studien erforscht und wissenschaftlich belegt (z.  B. ß-Glucan) (Deng et  al. 2009). Sie wirken immunstimulierend auf das körpereigene Immunsystem und allgemein stärkend. Besondere Wirksamkeit zeigen die standardisierten Präparate als Begleittherapien zu einer Chemooder Strahlentherapie, wobei eine effektive Reduktion der Nebenwirkungen beobachtet werden kann (lebensqualitätssteigernd) (Sun et al. 2015; Ina et  al. 2013; Bisen et  al. 2010; Oba et  al. 2009; Hazama et  al. 2009; Onuko und Uno 2011; Shah et al. 2011). 30.4  Antioxidanzien – Vitamine

und Spurenelemente

Vitamine und Spurenelemente (Antioxidanzien) sind wichtige, teils essenzielle Substanzen, die für den normalen Stoffwechsel und die Entwicklung und Regulation der Zellfunktion

wichtig sind und freie Radikale binden können. Freie Radikale sind bei der Bekämpfung von Bakterien und Viren wirksam. Andererseits sind sie aber bei hoher Konzentration auch für die Krebsentstehung mitverantwortlich. Sie treten z.  B. bei Stress, Infektionen, psychischen Belastungen, Strahlung, Umweltgiften, aber auch bei Chemotherapien vermehrt auf. Seit vielen Jahren galt die Einnahme von Vitaminen und Spurenelementen als wesentliche präventive, aber auch therapeutische Maßnahme, um eine Krebserkrankung zu verhindern bzw. zu bekämpfen. Eine Metaanalyse von Bjelakovic et al. (2007) zur Frage der Gabe von Vitaminen und Spurenelementen im Rahmen einer primären und sekundären Tumorprävention ergab jedoch ein widersprüchliches wissenschaftliches Ergebnis: 55 Signifikant positiv wirkt sich nur die Einnahme von Selen aus, es wird eine Reduktion des Auftretens von Krebs um bis zu 10 % angegeben (Bjelakovic et al. 2012). In der Nachfolgestudie von Belakovic et al. (2014) konnte auch bei Selen nur noch ein Trend, jedoch keine Signifikanz gezeigt werden. 55 Neuere Studien zeigen, dass eine deutliche Erhöhung des Selenspiegels durch Supplementation sowohl zu einer Verschlechterung der Prävention als auch der Erkrankung führen kann, weshalb eine zumindest jährliche Blutanalyse eventuell sinnvoll erscheint (Kristal et al. 2014). 55 Alle anderen untersuchten Vitamine zeigen sowohl bei der Prävention als auch bei der Therapie einer Krebserkrankung keine gesicherten tumorwirksamen Effekte. Neuere Studien zeigen, dass Hochdosis-­ Vi­ tamin-­ C-Therapien i.v. möglicherweise tumorreduzierend sind; signifikant wird das tumorassoziierte Fatigue-Syndrom gemildert (Gillberg et al. 2017; Wu et al. 2017). Eine zusätzliche präventive Verabreichung von Vitaminen wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nicht empfohlen. Aus­nahmen sind Selen und Vitamin  D.  Bei Mangelernährung oder krankheitsbedingter

729 Komplementärmedizinische Methoden bei Krebserkrankungen

Minderversorgung oder Kachexie gilt dies nicht. In jedem Fall ist es empfohlen, vor der Einnahme von Vitaminen und Spurenelementen bei einer Tumorerkrankung den behandelnden Arzt zu befragen. 30.5  Phytotherapien 30.5.1  Phytoöstrogene

Patientinnen mit Brustkrebs berichten häufig während und nach einer Chemotherapie oder antihormonellen Therapie über starke menopausale Beschwerden wie Hitzewallungen, Depressionen, Libidoverlust etc. Diese manchmal jahrelang anhaltenden starken Beschwerden sind immer wieder Anlass, die onkologische Therapie zu unterbrechen oder völlig abzubrechen. >> Der Einsatz einer Hormonsubstitution zur Reduktion der Beschwerden ist nicht indiziert.

Phytoöstrogene, z. B. in Soja oder Rotklee, sind pflanzliche östrogenähnliche Substanzen, die im Gegensatz zu den körpereigenen Östrogenen an den β-Östrogenrezeptoren (Haut, Knochen u. a.) binden und keinen relevanten Einfluss auf die α-Östrogenrezeptoren (v. a. Brust) haben (Kuiper et al. 1997). Phytoöstrogene haben offensichtlich einen präventiven Effekt auf die Entstehung von Brust- und wahrscheinlich auch Prostatakrebs, wenn sie frühzeitig, v.  a. vor der und um die Pubertät, kontinuierlich eingenommen werden (Wu 2001; Shu et  al. 2010). Spätere Einnahmen zeigen zumindest keine wissenschaftlich nachweisbaren signifikanten Effekte auf die Inzidenz (Tempfer et al. 2007). Studien zeigen heute, dass menopausenähnliche Beschwerden wie Hitzewallungen, die Knochendichte und der Fettstoffwechsel komplementärmedizinisch positiv beeinflusst werden können (z.  B. mit Phytoöstrogenen, Leinsamen, Hopfen, Traubensilberkerze, Dong Quai, Granatapfel) (Moore et al. 2017).

30

Frauen nach Brustkrebs können vom Einsatz der Phytoöstrogene profitieren, wissenschaftliche Studien beschreiben auch einen positiven Effekt auf das Gesamtüberleben (Tempfer et al. 2007, 2009; Shu et al. 2009). 30.5.2  Cannabis

Bei fortschreitenden Krebserkrankungen und unter laufender Chemotherapie sind Appetitlosigkeit, Kachexie, Übelkeit häufige Beschwerden. Hier bietet sich Cannabis sativa mit dem Inhaltstoff Tetrahydrocannabinol an, dessen Wirksamkeit wissenschaftlich nachgewiesen ist (Bogdanović et al. 2017). Cannabis wirkt auf CB1- (v. a. im zentralen Nervensystem und im Magen-Darm-Trakt) und auf CB2-Rezeptoren (primär blutbildendes System, Immunzellen, Thymus). In Österreich wird Cannabis bei entsprechender Indikation mittels Suchtgiftrezept entweder in Tropfen- oder in Tablettenform verschrieben. In der Schweiz gilt dies ebenso, mit der Zusatzindikation Schmerzen, Muskelkrämpfe bei multipler Sklerose. Seit März 2017 ist es in Deutschland möglich, Cannabis ohne Ausnahmegenehmigung in der Apotheke zu erhalten. Wenn eine positive Wirkung auf den Krankheitsverlauf oder Symptome erwartet wird, darf jeder zugelassene Arzt Cannabis verschreiben. Bei schwerkranken Patienten übernehmen die Krankenkassen die Behandlungskosten. 30.5.3  Andere Phytotherapien

Nachdem in der letzten Dekade besonders exotische Pflanzen gefragt waren, ist in den letzten Jahren die traditionelle europäische Medizin (TEM) wieder deutlich in den Vordergrund getreten. Die medizinische Anwendung einheimischer europäischer Pflanzen/ Kräuter ist ein vielversprechendes Forschungsgebiet für die Zukunft. Weltweit sind mehr als 800 verschiedene pflanzliche Behandlungsstrategien beschrie-

730

L. Auerbach

ben, die, je nach Vorkommen der Pflanzen, oft an bestimmten Orten lokalisiert sind. Pflanzen bzw. Pflanzeninhaltsstoffe, die bei Krebserkrankungen einen besonderen Stellenwert haben (alphabetisch) 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55

30

Artemisinin Cannabis Curcumin Granatapfelkernextrakt Johanniskraut Lycopin Mariendistel Mistel Reiskleie und Shiitake-Pilze Resveratrol Traubensilberkerze Weihrauch (Boswellia serrata)

30.6  Supportive Homöopathie

Krebspatienten leiden oft unter den Nebenwirkungen der konventionell-medizinischen Behandlungen: Chemo-, Immun-, Strahlen- und/ oder chirurgische Therapie sind sehr belastend. Vor allem sind Magen und Darm, aber auch das Blutbild, die Niere und andere Organe betroffen. Hinzu kommt bei vielen Krebspatienten häufig schwere Müdigkeit (Fatigue). Mögliche Einsatzgebiete für eine homöopathische Begleittherapie 55 Linderung von Nebenwirkungen der Chemo-, Immun-, Strahlen- und/oder chirurgischen Therapie 55 Lösen von Blockaden 55 Heilung von Zweiterkrankungen 55 Wiederherstellung physiologischer Verhältnisse 55 Verbesserung der Lebensqualität

In einer offenen pragmatischen (also die realen Verhältnisse wiederspiegelnden) Studie wurde der Einfluss der supportiven klassischen Ho-

möopathie auf den globalen Gesundheitszustand und das subjektive Wohlbefinden bei Krebspatienten sowie auf Nebenwirkungen der konventionellen Krebsbehandlung mittels Fragebögen untersucht. 410 Patienten erhielten in dieser randomisierten kontrollierten Studie zusätzlich zur Standard-Krebstherapie entweder eine oder keine zusätzliche homöopathische Therapie (Frass et al. 2015). Vor der ersten Befragung und bei jeder Visite wurden zwei Fragebögen von den Patienten ausgefüllt. Die Verbesserung des globalen Gesundheitsstatus zwischen 1. und 3.  Visite war in der Homöopathie-Gruppe signifikant stärker (p = 0,005) als in der Kontrollgruppe. Ein signifikante Verbesserung konnte auch beim subjektiven Wohlbefinden zugunsten der Homöopathie-Gruppe gefunden werden (p  Ernährung ist ein vielschichtiges Thema mit sehr unterschiedlichen Theorien und Empfehlungen. Die Erfahrungen in der Praxis zeigen, dass es „die Krebsdiät“, wie immer wieder propagiert wird, nicht gibt.

Generell sinnvoll – und bei Krebspatienten im Speziellen – ist eine ausgewogene Ernährung, die leicht verdaulich und auf den individuellen Zustand des Verdauungssystems abgestimmt ist (von spezifischen Stoffwechselerkrankungen/Unverträglichkeiten abgesehen). Besonders zu berücksichtigen sind die Perioden während laufender Chemo- und ggf. Strahlentherapie (z.  B.  Reis-/Gemüsesuppen evtl. mit etwas Ingwer würzen). Natürliche biologische Nahrungsmittel sind so weit wie möglich vorzuziehen. Es gibt Hinweise, dass u.  a. Fleisch (speziell Schweine- und Rindfleisch), Wurst und isolierter Zucker insbesondere bei Krebs-

30

patienten nicht zu empfehlen sind, ebenso wie die Zubereitung von Speisen in der Mikrowelle. Der Verzehr von Milch wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Im Vordergrund sollte während einer Krebsbehandlung aber auch die Lebensqualität stehen, die Lust am Essen sowie die Beachtung des aktuellen Hungergefühls. zz Hinweise zu einzelnen Nahrungsmittelgruppen

55 Obst (möglichst sonnengereift) und Gemüse (gekocht, möglichst einheimisch) sollten täglich verzehrt werden. Enthalten sind zahlreiche Vitamine, Folsäure und Mineralstoffe und, je nach Sorte, große Mengen an Vitamin C und Vitamin K sowie Magnesium und Phosphor. Obst und Gemüse sind reich an Ballaststoffen, was den Stoffwechsel positiv beeinflusst. Sie tragen zur Stärkung des Immunsystems bei; gerade Obst ist wegen des hohen Gehalts an Vitamin C wichtig für ein starkes Abwehrsystem. Die enthaltenen sekundären Pflanzenstoffe haben beispielsweise eine entzündungshemmende Wirkung und tragen zur Senkung des Risikos für bestimmte Krankheiten bei. 55 Nüsse, z. B. Mandeln (ungesalzen), Walnüsse, haben einen hohen Gehalt an ungesättigten Fettsäuren, die den Cholesterinspiegel günstig beeinflussen. Außerdem liefern Nüsse wertvolle B-Vitamine und Magnesium. 55 Gut gekochtes Getreide, wie z. B. Reis (in dieser Situation ist weißer Reis zu bevorzugen, da er leichter verdaulich ist), Quinoa, Hirse, Buchweizen ist empfehlenswert. 55 Gut gekochte Hülsenfrüchte wie verschiedene Arten von Linsen, Kichererbsen etc. sind gute Zinklieferanten. Dank seiner immunstimulierenden Wirkung unterstützt Zink das Abwehrsystem besonders effektiv. Zudem enthalten Hülsenfrüchte viel wertvolles Eiweiß.

732

L. Auerbach

30.8  Traditionelle chinesische

Medizin, Ayurveda, tibetische Medizin (zusammen mit Qigong, Tai Chi und Yoga), Aromatherapie, Homöopathie

Der ganzheitliche Einsatz von Therapien aus TCM (7 Kap.  31), Ayurveda (7 Kap.  34), Homöopathie (7 Kap.  17), Aromatherapie (7 Kap. 15) oder tibetischer Medizin (7 Kap. 33) bei der Krebsbehandlung ist gut dokumentiert. Begleitend zu Chemo- und Strahlentherapien oder anderen belastenden klinischen Therapien können diese – richtig eingesetzt – deren Nebenwirkungen reduzieren und auch Müdigkeit und Erschöpfung verringern.  







30.11  Ausbildung







30

Vitamin-­C-Therapie. Zum supportiven Einsatz der Homöopathie 7 Abschn. 30.6. Literaturverzeichnis und Ausführungen im Text; s.  auch 7 Kap.  21 (Anthroposophische Medizin) sowie 7 Kap.  17 (Homöopathische Medizin).



>> In jedem Fall ist eine genaue Abklärung durch einen zertifizierten Spezialisten in Kenntnis der klinischen Therapie anzuraten.

Im Rahmen der Österreichischen Ärztekammer gibt es für Ärztinnen und Ärzte seit mehreren Jahren die Möglichkeit, den Diplomkurs Begleitende Krebsbehandlungen zu besuchen, in dem in 4  Blöcken eine intensive Zusammenfassung sowohl der onkologischen als auch der komplementärmedizinischen wissenschaftlich orientierten Behandlungsoptionen vorgetragen wird (7 https://www.­arztakademie.­at/dip­  

lome -­z er tifik ate - cpds/oeaek- diplome/be ­ gleitende-krebsbehandlungen/. Zugegriffen am

02.06.2018). Es gibt ein Projekt in Deutschland, aber noch kein Diplom; Näheres unter: 7 http://  

30.9  Bewegung

Körperliche Aktivität bis zu einer Stunde etwa 3- bis 4-mal pro Woche reduziert die Inzidenz von Karzinomen signifikant und verringert deutlich die potenziellen Nebenwirkungen der klinischen Therapien wie Chemo- oder Strahlentherapie (Stout et al. 2017). Eine ausführliche Darstellung geeigneter physikalischer Therapien (aktive und passive Maßnahmen) im Rahmen der onkologischen Rehabilitation findet sich in 7 Abschn.  16.1; s. auch entsprechende Aspekte der Trainingstherapie (7 Abschn. 16.4).  



30.10  Evidenzlage, Studien

Die Studienlage im Bereich der integrativen Onkologie konzentriert sich im Wesentlichen auf die Phytotherapie, und hier speziell auf die Mistelpräparate, sowie auf Spurenelemente und Vitamine, speziell auf Selen und die

www.­t umorzentrum-muenchen.­d e/fileadmin/ Downloads/AerzteSeite/Komplementaer_Medizin/1_Arbeitstreffen_der_AG_KomplementA_ rmedizin_in_der_Onkologie.­pdf. Zugegriffen am

02.06.2018.

Adressen/Links

kLehrstühle für Naturheilkunde mit onkologischen Ambulanzen in Deutschland:

Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin, Universität Duisburg-Essen, Onkologische Tagesklinik Naturheilkunde 7 https://www.  

uni-due.­de/naturheilkunde/36-0-Klinik.­html

Klinik für Naturheilkunde, Immanuel Kran­ kenhaus Berlin, Tagesklinik naturheilkundliche Onkologie 7 http://naturheilkunde.­immanuel.de/  

einrichtung/versorgungsbereiche/tageskliniknaturheilkundliche-­onkologie/

kGesellschaften für Psychoonkologie

Österreichische Gesellschaft für Psychoonkologie – ÖGPO 7 www.­oegpo.­at  

733 Komplementärmedizinische Methoden bei Krebserkrankungen

Arbeitsgemeinschaft für Psychoonkologie in der Deutschen Krebsgesellschaft e.V. – PSO

30

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734

30

L. Auerbach

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735

Methoden der integrativen Medizin – integrative Medizin im asiatischen Kulturkreis (traditionelle asiatische Medizin – TAM) Inhaltsverzeichnis Kapitel 31 Traditionelle chinesische Medizin – 737 Alexander Meng, Michaela Bijak, Daniela Stockenhuber und Karin Stockert Kapitel 32 Traditionelle japanische Medizin – 775 Bernd Kostner, Thomas Wernicke und Daniela Stockenhuber Kapitel 33 Tibetische Medizin – 807 Florian Ploberger Kapitel 34 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin – 827 Lothar Krenner

V

737

Traditionelle chinesische Medizin Alexander Meng, Michaela Bijak, Daniela Stockenhuber und Karin Stockert 31.1

Akupunktur – Übersicht – 739

31.2

Akupunktur und Tuina – 739

31.2.1 31.2.2 31.2.3 31.2.4 31.2.5 31.2.6 31.2.7 31.2.8 31.2.9

E inführung – 739 Grundlagen der TCM als Arbeitsmodell – 741 Behandlungsmöglichkeiten – 745 Diagnostik – 746 Formen der Akupunktur – 747 Fallbeispiel: Ablauf einer Konsultation – 747 Tuina – 748 Studien/Evidenzlage – 748 Ausbildung – 750

31.3

Chinesische Phytotherapie – 751

31.3.1 31.3.2 31.3.3 31.3.4 31.3.5 31.3.6 31.3.7 31.3.8

E inführung – 739 Arzneien – 753 Rezepturen – 758 Behandlungsstrategien – 761 Indikationen für die chinesische Phytotherapie – 762 Fallbeispiel – 763 Forschung und wissenschaftliche Studien – 765 Ausbildung – 750

Für die kritische Durchsicht des Manuskripts zur chinesischen Phytotherapie (7 Abschn. 31.3) sei Herrn Mag. Erich Stöger herzlich gedankt.  

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_31

31

31.4

 edizinisches Qigong – Übungen zur M Gesundheitspflege – 768

31.4.1 31.4.2 31.4.3 31.4.4

E inführung – 739 Durchführung – 769 Studien – 770 Ausbildung – 771

Literatur – 772

739 Traditionelle chinesische Medizin

31.1  Akupunktur – Übersicht

Akupunktur ist eine Form von Diagnose und Therapie, die in China vor mehreren tausend Jahren entwickelt und erst 1972  in Europa bekannt wurde. In diesem Jahr wurde unter der Leitung von Prof. Bischko in der Wiener Allgemeinen Poliklinik erstmals eine Mandeloperation mithilfe von Akupunktanalgesie durchgeführt. Prof. Bischko, der von Vielen als der Vater der westlichen Akupunktur bezeichnet wird, versuchte von Anfang an, eine Form der Akupunktur zu finden, die in keinem Widerspruch zur sog. „Schulmedizin“ steht. Dieser Weg ist heute international als Wiener Schule der Akupunktur bekannt. Die Österreichische Gesellschaft für Akupunktur (ÖGA) und das Johannes-Bischko-Institut für Akupunktur setzen diesen Weg seit Jahrzehnten konsequent fort. Akupunktur ist eine Regulationstherapie: Das bedeutet, mit dieser Therapieform werden dem Organismus Informationen und Hilfen gegeben, welche die Anpassung an geänderte Umweltbedingungen, Störungen und Belastungen verbessern und beschleunigen. Das Ziel einer Regulationstätigkeit ist also die Erhaltung bzw. das Wiedererlangen aller normalen Körperfunktionen. Die Chinesen sprechen vom Gleichgewicht zwischen Yin und Yang. Bei näherer Betrachtung dieser Erklärung bemerkt man, dass Akupunktur nicht nur zur Behandlung verschiedener Krankheiten angewendet wird, sondern imstande ist, Krankheiten Schwachpunkte, Dispositionen oder minimale Störungen zu erkennen und zu behandeln, bevor es zum Ausbruch einer echten Krankheit gekommen ist. Dieser Bereich, in der konventionellen Medizin Prävention genannt, bedeutet Vorbeugung, Verhinderung von Erkrankungen. Gerade dieser wichtige Aspekt wird heute noch viel zu wenig beachtet. Es gibt ein breites Spektrum von Einsatzmöglichkeiten: 55 Schmerz – vom Kopf bis zur Zehe, 55 Befindlichkeitsstörungen (unbestimmtes Krankheitsgefühl, ohne dass pathologische Befunde oder Veränderungen festgestellt werden können),

31

55 Zusatztherapie bei Erkrankungen aus allen Bereichen der Medizin (von Allergie und Asthma über Verdauungsstörungen, zur Geburtsvorbereitung, bei Durchblutungsstörungen bis zu Schlafstörungen und Potenzproblemen). Akupunktur ist in der Hand eines erfahrenen Arztes ungefährlich. Verwendet werden Einmalnadeln, die so zart sind, dass beim Gefühl des Einstechens nicht von Schmerz gesprochen werden kann. Dass man vor einer Nadeltherapie keine Angst zu haben braucht, beweisen viele Kinder, die sich ohne die geringste Angst mit Nadeln behandeln lassen. Daneben gibt es jedoch auch die Möglichkeit der völlig schmerzlosen Therapie mit einem Lasergerät. Die Akupunktur-Ambulanz im Krankenhaus Hietzing/Rosenhügel, die gemeinsam mit dem Johannes-Bischko-Institut für Akupunktur betrieben wird, bemüht sich v. a. um Akupunkturforschung und -lehre, d. h., insbesondere auch um eine profunde Ausbildung von Ärzten. Sie steht außerdem allen Patienten und interessierten Laien für etwaige Fragen und zur persönlichen Beratung gerne zur Verfügung. 31.2  Akupunktur und Tuina Alexander Meng, Michaela Bijak und Daniela Stockenhuber

31.2.1  Einführung

Dieses Kapitel geht auf einen Artikel der Österreichischen Gesellschaft für Akupunktur für das Kompendium der Komplementärmedizin (Stossier 2003) zurück.

»» „Die Akupunktur verwendet Einstiche mit

Nadeln an genau festgelegten Körperregionen, die spontan oder druckempfindlich sein ­können, bei funktionellen, reversiblen Erkrankungen oder bei Störungen zu diagnostischen und/oder therapeutischen Zwecken.“ (Bischko 1994)

740

A. Meng et al.

Akupunktur, eine über 2000  Jahre alte und wohl die bekannteste Heilmethode der TCM, fand vor etwa 60 Jahren ihren Weg nach Österreich. Ursprünglich im Westen hauptsächlich als Schmerzbehandlung bei Beschwerden im Bewegungsapparat bekanntgeworden, wirkt Akupunktur auch bei vielen chronischen Erkrankungen sowie bei psychosomatischen Störungen erstaunlich gut. Gegenwärtig vollzieht sich eine Erweiterung der Indikationen über das Gebiet der Psychosomatik hinaus. Studien zum Einsatz von Akupunktur bei kardio- und zerebrovaskulären Erkrankungen, bei Problemfällen in der Gastroenterologie, bei Störungen des Immunsystems und auch zur begleitenden Therapie bei Tumorerkrankungen belegen mittlerweile hinreichend die Wirksamkeit der Methode (7 Abschn. 31.2.8). Seit der Gründung der Österreichischen Gesellschaft für Akupunktur (ÖGA) 1954 und des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Akupunktur 1972 durch Johannes Bischko ist die Integration der traditionellen Therapien in die westliche Medizin deren Hauptanliegen. Zur TCM zählen neben der klassischen chinesischen Akupunktur u. a. noch andere Heilmethoden wie 55 japanische Akupunkturtechniken (YNSA, Shōnishin, 7 Kap. 32), 55 Massage (Tuina, 7 Abschn. 31.2.7), 55 chinesische und japanische Kräutertherapie (Arzneitherapie und Kampō, 7 Abschn. 31.3 und 7 Kap. 32), 55 Bewegungsübungen (Qigong, 7 Abschn. 31.4; Taijiquan), 55 Ernährung (spezielle Diäten nach den Fünf Elementen, 7 Kap. 29).  

31













Die meisten dieser Methoden werden in der ÖGA gelehrt und erforscht. Dabei bietet das Vermitteln der kulturellen Unterschiede zwischen TCM und konventioneller Medizin allen Lehrenden spannende Momente. Das älteste Lehrbuch (Huandi Neijing 黄帝内经) wurde bereits vor über 2000 Jahren publiziert, die darin diskutierten Fragen zur

Erhaltung der Gesundheit und zur Lebensführung sind noch immer aktuell und interessant zu lesen. >> Die Medizintheorie der TCM basiert in erster Linie auf empirischen Erfahrungen. Die TCM legt höchsten Wert auf den funktionellen Zusammenhang und die Sinnerfassung.

Im vorliegenden Kapitel wird versucht, die chinesische Vorstellung zu Physiologie, Pathophysiologie und Therapie in einer für den westlichen Mediziner verständlichen Weise zu beschreiben. Schwerpunkte sind 55 die Meridianlehre, 55 die Grundstoffe des Organismus, 55 die Organbild-Lehre, 55 die Yin-Yang-Lehre, 55 die Lehre von den Fünf Elementen. Theorie, Indikationen und Arbeitshypothese für Tuina (Massage) und Akupunktur sind in der TCM identisch. Sie werden meist als adjuvante Heilverfahren angewendet. Alle funktionellen, reversiblen Erkrankungen und Störungen können mit Tuina oder Akupunktur behandelt werden. Die Ausübung der Akupunktur ist in Österreich Ärzten vorbehalten; Therapeuten, die Tuina anwenden, müssen Anatomie, Physiologie, Pathophysiologie sowie die Theorie der TCM (Meridianlehre, Organlehre, Modalitäten, Grundgriffe, Reizdosierung, Behandlungsplanung etc.) beherrschen. >> Diagnose und Basistherapie sollten immer zuerst nach den Prinzipien der evidenzbasierten Medizin erfolgen. Erst dann kann die Entscheidung für den Einsatz von Tuina oder Akupunktur getroffen werden.

Zum besseren Verständnis und zur Frage, wann Akupunktur eingesetzt werden sollte, dienen neueste Erkenntnisse aus aktueller Forschung und Zitate aus originaler chinesischer Literatur am Ende dieses Textes.

741 Traditionelle chinesische Medizin

31.2.2  Grundlagen der TCM als

Arbeitsmodell

Grundlagen der TCM 55 55 55 55 55

Yin-Yang-Lehre Qi, Blut, Körpersäfte, Shen, Jing Organlehre Lehre von den Fünf Elementen Meridianlehre

Yin-Yang-Lehre Die Lehre von Yin und Yang entsprang zunächst einer Naturphilosophie und umfasst eine Wissenschaftsmethodik, um Phänomene der Natur und des Universums zu beschreiben und zu erklären. Das philosophische Prinzip der YinYang-Lehre beruht auf polaren Gegensätzen:

»» „Ein jedes Ding hat zwei Seiten“.

Ein weiterer Grundgedanke, der sowohl die Yin-Yang-Lehre als auch die Lehre von den Fünf Elementen durchzieht, ist die Idee der Wandlung, der Veränderung. In einem gewissen naturgesetzlichen Rahmen bleiben in der Welt die Dinge nie, wie sie sind, alles unterliegt dem Gesetz des Werdens und des Vergehens. Die 4 Grundzüge der Yin-Yang-Lehre 55 55 55 55

Gegensätzlichkeit Abhängigkeit Ergänzung Umwandlung

Die Gegensätzlichkeit mit gleichzeitiger Abhängigkeit voneinander und auch die Ergänzung im Sinne von Ganzheit zeigen sich im Körper z. B. am Zusammenspiel der Muskeln in Form von Agonisten und Antagonisten sowie im vegetativen Nervensystem an der Balance zwischen Sympathikus und Parasympathikus. Als Beispiele für die gegenseitige Abhängigkeit könnten Substrat und Funktion eines Organs herangezogen werden: Das anatomische Substrat allein ist wirkungslos ohne

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seinen Stoffwechsel; ohne anatomisches Sub­ strat, ohne Materie, kann auch keine Metabolisierung stattfinden. Als Pathologie von Yin/Yang, als Ungleichgewicht, quasi als Pen­ del, das in die eine oder andere Richtung zu stark ausschlägt, können aus Sicht der TCM die meisten Krankheiten aufgefasst werden. Hypo-/Hyperfunktionen von Organen, z. B. Brady-/Tachykardie, sind Zeichen dafür, dass die natürliche Harmonie von Yin und Yang gestört ist.

Qi, Blut, Körpersäfte, Shen, Jing Vitalenergie (Qi), Blut (Xue) und Körperflüssigkeiten (Jinye) bilden das Grundmaterial des menschlichen Organismus. Sie sind die Basis für die Physiologie der Organe (Zangfu) sowie der Meridiane (Jingluo). Die Physiologie des Systems von Vitalenergie/Blut könnte mit der Physiologie der Atmung, des Blutes und des Immunsystems der modernen westlichen Medizin (MWM) eng in Verbindung stehen. Das Wachstum, die Entwicklung, die Alterung, die Erkrankung und der Tod sind lediglich Folgen von Bewegung und Umwandlung im Organismus. kQi

Das Qi steht in der TCM für die Ursubstanz des Universums. Durch einen Umwandlungsvorgang (Qihua) entstand alles in dieser Welt, auch der Mensch. Das Yin-Yang-­ Entsprechungssystem und die Lehre von den Fünf Elementen (Wuxing) sind Bewegungsformen des Qi. Der Funktionskreis bzw. die Physiologie eines Organs ist Ausdrucksform einer Umwandlung innerhalb des menschlichen Organismus in Harmonie mit den Erscheinungsformen der Natur. Die Ätiologie einer Erkrankung liegt nach Anschauung der TCM in einer Störung dieser Qihua-Funktion. Wie alle Erscheinungsformen im Universum besitzt auch Qi Yin- und Yang-Aspekte. Der Yin-­Bestandteil steht für das Materielle und der Yang-Bestandteil für das Energetische. Materie und Energie bilden eine lebendige Einheit. Qi kennt viele Ausdrucksformen, kommt in vielen Aspekten in der Natur und im Körper zur Wirkung. Als die

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A. Meng et al.

drei wichtigsten Quellen werden Ursprungs-Qi (ererbte Energie, Genetik, Konstitution), Nahrungs-Qi ­(nachgeburtliches Qi aus der Nahrung, abhängig auch von der Umwandlungsfähigkeit der Verdauungsorgane) und Atmungs-Qi (Umwandlungsfunktion der Lunge, Sauerstoffaustausch) bezeichnet. kXue

Der chinesische Begriff entspricht in seiner Übersetzung relativ genau der westlichen Erscheinungsform des Blutes. Das Blut muss gemeinsam mit Qi in den Gefäßen fließen, nur so kann es seine ernährende Funktion ausüben. kJinye

Der Begriff beinhaltet alle Formen von physiologischen Körperflüssigkeiten. kShen

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Das Organ Herz bewahrt den Geist, die Seele Shen. Demnach sind psychische Aspekte des Menschen von der Funktion des Herzens abhängig. Der Begriff Shen beschreibt in der TCM auch den gesamten Ausdruck des vitalen Körpers (wie Haltung, Gesichtsfarbe, Bewegungsabläufe, Ausdruck der Augen, Sprache, rasche Antworten auf die gestellten Fragen etc.), im engeren Sinne auch das Seelenleben, den Duktus und das Bewusstsein. kJing

Jing (Essenz) stellt die materielle Basis des lebenden Organismus dar, mit dem Tod erlischt es. Es bildet den Grundstoff für Wachstum und Fortpflanzung und wird in der Niere gespeichert. Jing wird als „Lebenskerze“ betrachtet, die ab dem Zeitpunkt des Entstehens zwar eine gewisse Länge aufweist, durch das Brennen der Flamme aber stetig schrumpft, und wenn das Wachs der Kerze verbraucht ist, stirbt der Mensch. Durch die Lebensweise lässt sich die Länge der Kerze nicht beeinflussen, sie ist durch die Konstitution und Genetik vorgegeben; sehr wohl aber kann der Mensch die Intensität der Flamme steuern. Es liegt in seiner Hand, wie schnell er „ausbrennt“.

Organlehre Die inneren Organe, die Eingeweide, werden in der chinesischen Medizin als Zang-Fu bezeichnet. Zang bedeutet Erscheinung und steht in der Medizin für die Voll- oder Speicherorgane Leber, Herz, Milz, Lunge, Niere und Herzbeutel. Fu bedeutet Palast und wird als Name für die Hohlorgane Gallenblase, Dünndarm, Magen, Dickdarm, Harnblase und den „Dreifachen Erwärmer“ verwendet. Vollorgane speichern, transformieren, erzeugen vitale Substanzen, stehen in der Hierarchie vor den Hohlorganen, die hauptsächlich Transportfunktion besitzen. >> Stärken der modernen Medizin sind die Strukturanalyse (Anatomie, Histologie, Molekularbiologie etc.) und die Quantifizierung von Gesundheit und Krankheit. Bei der TCM hingegen liegt die Stärke in der detaillierten und präzisen Wahrnehmung der Disharmonie aufgrund von Beobachtung und Erkenntnis.

Eine exakte, feste körperliche Strukturzuordnung sucht die TCM nicht. Trotzdem ist es erstaunlich, wie präzise spezielle Akupunkturpunkte, die als Zustimmungspunkte bzw. Alarmpunkte bezeichnet werden, mit den modernen Erkenntnissen der Physiologie und der Anatomie übereinstimmen. Zum Verständnis der Organlehre der TCM ist die Kenntnis der Disharmonie der einzelnen Organe von größerer Bedeutung als die Harmonie. Denn eine eventuelle Harmonie ist für Menschen selbstverständlich und ohne Belastung. Die TCM kennt keine scharfe Trennung zwischen Geist und Körper. Wenn ein „Organgefühl“ ständig verspürt wird, so ist das ein Hinweis auf eine eventuelle psychosomatische Störung. Eine exakte, feste Strukturzuordnung und Quantifizierung ist weder in der TCM noch in der MWM (moderne westliche Medizin) immer möglich. Es wird auch von einem Blackbox-Konzept der TCM-­ Physiologie gesprochen: beschrieben wird das Erscheinungsbild, das Phänomen, ohne in die Box hineinzusehen.

743 Traditionelle chinesische Medizin

Aspekte der Organlehre der TCM 55 55 55 55

Stoffwechsel des Körpers Morphologie, Anatomie, Topographie Physiologie Pathophysiologische Prozesse

Diese o.  g. Aspekte sind in der TCM durch Jahrtausende lange klinische Erfahrung belegt und haben sich gut bewährt. kHerz

Das Herz reguliert das Blut, das Gefäß- bzw. Meridiansystem. Die ununterbrochene Pulsation des Herzens treibt das Blut im Gefäßsystem an. Diese Sichtweise deckt sich mit der Kreislauffunktion der MWM. Das Organ Herz hat aber auch die Aufgabe, auf die Außenwelt zu reagieren. Es wird mit dem Herrscher eines Landes verglichen, das alle Minister des Staates (alle Organfunktionen) reguliert und koordiniert. Die ganzheitliche Denkweise der TCM vertritt die Ansicht, dass alle geistigen und psychischen Leistungen des Körpers Ausdruck aller Eingeweide sind, wobei dem Organ Herz die Gesamtleitung obliegt. kLunge

Die Lunge ist der Herrscher über die Atmung und das Qi und hat in der Lehre von den Fünf Elementen die Zuordnung zum Metall. In weiterer Folge steht die Lunge zum Dickdarm, zur Haut, den Haaren und der Nase in Beziehung. kMilz und Magen

Sie sind zusammen die beiden wichtigsten Verdauungsorgane. Die Milz hat in der TCM eine gänzlich andere Bedeutung als in der westlichen Medizin. Um die Physiologie der Milz besser zu umschreiben, spricht die Wiener Schule deshalb von Milz/Pankreas. kLeber

Die Leber kontrolliert die Organfunktion, die Zirkulation im Meridiansystem, die Aktivität von Energie/Blut, Körpersäfte und Yin/Yang. Die Leber unterstützt das Herz im Hinblick auf

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Emotionen. Sie sorgt für freies ungehindertes Fließen und Ausbreiten, auch der Emotionen. Bei Fehlfunktionen von Herz oder Leber kann es deshalb vorkommen, dass die Betroffenen sich etwas zu sehr zu Herzen nehmen, ihnen buchstäblich „eine Laus über die Leber läuft“ oder sogar „die Galle hochkommt“. kNiere

Die Niere ist die Basis des Lebens und die Grundlage der Organphysiologie. Nieren-Yin sowie Nieren-Yang gelten als Basis von Yin und Yang aller anderen Organe. Die Niere ist dem Element Wasser zugeordnet. Sie bildet mit der Harnblase, dem Knochenmark, dem Gehirn, dem Kopfhaar, den Ohren und den Öffnungen für Urin und Stuhl ein System.

Lehre von den Fünf Elementen Beschrieben wird ein holistisches System der Abhängigkeiten und des stetigen Wandels. Die Lehre stellt ein Entsprechungssystem dar, welches das ganzheitliche Denken der TCM widerspiegelt. Durch Hemmung und Aktivierung, Destruktion und Produktion wird die Wechselwirkung der inneren Organe beschrieben. Die Störung in einem Organ bewirkt im Laufe der Zeit automatisch eine Funktionsstörung aller anderen Organe. Solche Wechselwirkungen der Organe sind auch in der MWM bekannt, beispielsweise die Entstehung einer Hypertonie aufgrund einer Nierenerkrankung. Die TCM wählt allerdings eine bildhafte Sprache, um diesen Zusammenhang auszudrücken, und spricht z.  B. davon, dass das Wasser der Niere das Feuer des Herzens nicht mehr kontrollieren kann, was zu einer Störung im Gefäßsystem führt. >> Wird die Sprache der TCM als das akzeptiert, was sie ist – nämlich nicht an der Wirklichkeit orientiert, sondern reich an Symbolen und Metaphern die Wirklichkeit zu umschreiben suchend – so hält die Lehre von den Fünf Elementen jeder Kritik stand.

Im Gegenteil: Modelle des Biofeedback und der Chaostheorie weisen so manche Ä ­ hnlichkeit

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A. Meng et al.

mit dem Gedankensystem dieser Lehre auf. Beim Wechselspiel mit der Umwelt entnimmt der Mensch Nahrung und Sauerstoff aus der Natur. Klima, Jahreszeiten, Sternenkonstellation, Geographie etc. haben intensiven Einfluss auf das Gedeihen und Wohlbefinden des Menschen. Aus der Lehre von den Fünf Elementen ist die Ganzheitlichkeit des Menschen mit dem Universum sehr klar zu erkennen.

Meridianlehre

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Nach der Theorie der TCM werden die verschiedenen Abschnitte des Organismus durch ein Netzwerk von Kanälen, Kapillaren, Leitlinien etc. verbunden. Die Aufgaben der sog. Meridiane oder auch Leitbahnen (Jing Luo 经络) sind Kommunikation, Regulation und Steuerung des Organismus. Das anatomische Substrat des Meridiansystems wurde bis heute nicht gefunden, aber dieses Modell kann als die Summe der Funktionen und Strukturen folgender Systeme gesehen werden: 55 Blutgefäßsystem, 55 Lymphgefäßsystem, 55 peripheres somatisches Nervensystem, 55 periphere Strukturen des vegetativen Nervensystems, 55 interstitielles Bindegewebe als Ort unspezifischer Regulationssysteme (nach Pischinger), 55 kinetische Muskelkette als funktionelle Einheit des interstitiellen Bindegewebes. Das Meridiansystem wird in der Subkutis bzw. zwischen den Muskeln in verschiedener Tiefe lokalisiert. Die Meridianlehre der TCM kennt keine Trennung zwischen Blutgefäßen und Nervensystem. Ähnlich dem Phantomschmerz könnte das Meridiansystem auch ohne morphologisches Substrat existieren und spinal-zentral gesteuert sein. Die allerletzten Beweise für die Wirksamkeit der Meridiane stehen zurzeit noch aus. Fest steht lediglich, dass Meridianverläufe für die Therapie (Akupunktur, Tuina, medizinisches Qigong) unentbehrlich sind.

Schmerzen breiten sich oft entlang eines Meridianverlaufs aus. Aus eigener Erfahrung ist der Verlauf des Meridians für die Praxis viel wichtiger und interessanter zu werten als der Akupunkturpunkt selbst. Beschrieben werden 361  Meridianpunkte, davon sind 52  Meridianpunkte unilateral (die Punkte des Lenkergefäßes und des Konzeptionsgefäßes), die übrigen 309 Meridianpunkte sind spiegelbildlich bilateral vertreten. Die Anzahl und die Lokalisation der Meridianpunkte wurden seit Hunderten von Jahren wenig verändert. Neben den Punkten auf den oben erwähnten 14 Meridianen (Herz-, Dünndarm-, Blase-, Niere-, Kreislauf-Sexualität-, Dreifacher Erwärmer-, Gallenblase-, Leber-, Lunge-, Dickdarm- Magen-, Milz-Pankreas-Meridian, Konzeptionsgefäß, Lenkergefäß) kamen allerdings im Laufe der Jahrhunderte noch viele Extrapunkte hinzu. In den vergangenen Jahrzehnten gewannen zunehmend auch die Mikroakupunktursysteme (Ohr-, Schädel-, Handakupunktur etc.) an Bedeutung. Im Falle einer Erkrankung und auch nach Stimulation eines zugehörigen Meridianpunktes beschreiben viele Patienten immer wieder Sensationen entlang des Körpers, deren Ausbreitung den Meridianverläufen entspricht. Dieses Phänomen beschreibt die klassische chinesische Literatur als Deqi, das „Ankommen von Qi“. Dieses Gefühl kann vom Patienten unterschiedlich empfunden werden als 55 ziehender leichter Schmerz, 55 Kribbeln, 55 Wärmegefühl, 55 Druck, 55 Spannung, 55 Schweregefühl. Diese Nadelsensation kann auch große Affinität zu den erkrankten Organen aufweisen. Wenn durch Nadelung, z. B. von asthmawirksamen Punkten, das Deqi-Gefühl bis zu den Bronchien wahrgenommen wird, ist mit einem guten Resultat zu rechnen. Es gibt drei Arbeitshypothesen zum Entstehungsmechanismus des Meridianphänomens:

745 Traditionelle chinesische Medizin

Hypothesen zur Meridianentstehung 55 Hypothese der peripheren Stimulation: Das Phänomen des Meridians entsteht an der Körperoberfläche. Die Reizung von Sensoren der Körperoberfläche löst eine Kette von Impulsen entlang des Meridianverlaufs aus, welche hintereinander zum ZNS gelangen; dort wird subjektiv das Meridiangefühl empfunden. „Die Verbreitung erfolgt an der Körperoberfläche und die Wahrnehmung im ZNS.“ 55 Hypothese einer Ausbreitung im ZNS: Das Phänomen der Ausbreitung entsteht entlang des Meridianverlaufs im ZNS. Der Impuls durch die Akupunktur gelangt in das ZNS, insbesondere zum Kortex, hier breitet sich der Impuls aus. 55 Hypothese der Einheit von peripherem Nervensystem und ZNS: Weder die Peripherie noch das ZNS für sich alleine eignen sich befriedigend zur Beschreibung des Meridianphänomens. Ein Zusammenwirken beider Systeme wird derzeit postuliert und erforscht.

Einige Meridiane entsprechen distal von Knie und Ellbogen dem Verlauf eines peripheren Nerven. Der Meridian, der dem funktionellen Organ „Pericardium“ (Kreislauf-Sexualität nach Bischko) zugeordnet wird, folgt teilweise dem N.  medianus, der Blasenmeridian als längster Meridian des Körpers verläuft vom inneren Augenwinkel über den Kopf und den gesamten Rücken bis zur 5. Zehe. In seinem distalen Abschnitt von der Lendenwirbelsäule bis zum Fuß entspricht er dem Verlauf des N.  ischiadicus, vom Kopf bis zur Brustwirbelsäule überspannt er viele Hirn- und Interkostalnerven. >> Wie für alle Regulationstherapien gilt auch für Akupunktur und Tuina prinzipiell, dass nur funktionelle und reversible Störungen behandelt werden können. „Was zerstört ist, kann damit nicht behandelt werden.“

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31.2.3  Behandlungsmöglichkeiten

Einflussmöglichkeiten durch Akupunktur 55 Die Funktion eines Organs beeinflussen (regulieren): Dies entspricht etwa dem kutiviszeralen Reflex. Mit der Reizung eines Meridianpunktes wird „reflektorisch“ im zugehörigen Organ ein regulierender Impuls gesetzt. Ein Punkt am Unteram (Pe 6) hat z. B. eine sehr deutlich regulierende Eigenschaft auf Blutdruck und Herzrhythmus. 55 Das vom Meridian versorgte Gebiet (radikular, pseudoradikular, segmental etc.) beeinflussen: Dies wird durch die Stimulation des jeweiligen Meridianpunktes erreicht, z. B. bei Ischialgie mit Punkten auf dem Blasenmeridian. 55 Anwendung der Oppositionsregel: Besteht ein Problem in der oberen Körperhälfte, wird gerne auf den entsprechenden zusammengehörigen Meridianen unten therapiert (oben – unten), das Problem wird „in die Zange genommen“; besteht hinten ein Problem, wird vorne zusätzlich genadelt, auch über links/rechts gibt es eine gegenseitige Beeinflussung. Dies wird auch als „Durchflutung“ bezeichnet. 5 5 Anwendung des gekoppelten Meridianpaares: Meridiane gehen gewisse Beziehungen zueinander ein. So weisen Meridiane, die im Sinne von Yin (innen) und Yang (außen) eng miteinander verbunden sind, durch ihre Zuordnung zu einem holistischen System von Entsprechungen (Funktionskreis) auch ähnliche Indikationen auf und werden u. a. zum energetischen Ausgleich herangezogen.

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A. Meng et al.

31.2.4  Diagnostik

Die Vier Untersuchungsmethoden 55 55 55 55

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Anamnese Inspektion (inklusive Zunge) „Hören, Riechen und Schmecken“ Palpieren (Haut, Muskulatur etc. und Puls)

Die Anamnese, das Befragen des Patienten, stellt in der TCM einen Teil der sog. Vier Untersuchungsmethoden (Sizhen 四诊) dar. Viele Informationen, die Rückschlüsse auf Punkteauswahl und Reiztechnik zulassen, können bereits vor der Befragung des Patienten gewonnen werden. Noch bevor der Patient zu sehen ist, macht er sich vielleicht akustisch bemerkbar. Lautes Husten, Sprechen, Lachen, Stöhnen, Schreien könnte schon an ein passendes „Muster“ erinnern. Wenn der Behandler den Patienten dann zu Gesicht bekommt, wird er durch eine Vielzahl von Eindrücken an mögliche TCM-Syndrome herangeführt. Auffällig kann auch ein Geruch sein, Kraft und Qualität des Händedrucks bei der Begrüßung lassen ebenfalls Rückschlüsse auf mögliche Probleme zu. Das Befragen umfasst neben einer kon­ ventionell-­medizinischen Anamnese noch einige zusätzliche wichtige Punkte (z.  B.  Kältesymp­ tomatik  – Hanzheng 寒症: KG  4, Di  4), um möglichst umfassend über alle Dysbalancen informiert zu werden. Ergänzend erfolgen dann noch Zungen- (. Abb. 31.1) und Pulsdiagnose. Die Pulsdiagnose stellt ein diffizil entwickeltes System dar und ist in der Diagnosestellung der TCM sehr wichtig. Der Mittelfinger wird auf das Radialisköpfchen über die A.  radialis gelegt und danach der Zeigefinger distal und der Ringfinger proximal an die A.  radialis. Daraus ergeben sich Pulsinformationen von distal nach proximal (. Tab. 31.1): Der TCM-Arzt achtet auf Rhythmus, Frequenz, Tiefe, Kraft (Amplitude), Länge und Breite der Pulswelle an den bestimmten Positionen und bekommt so Information über Fülle/

..      Abb. 31.1 Zungenbefund

..      Tab. 31.1  Informationen zu Organen bei Pulsdiagnose Linke Hand des Patienten

Orientierung

Rechte Hand des Patienten

Herz

Distal

Lunge

Leber

Mitte

Milz

Niere

Proximal

Niere





Leere, Kälte/Hitze, Feuchtigkeit/Trockenheit sowie Innen/Außen in den verschiedenen Organen und Substanzen. zz Differenzialdiagnose in der TCM 辩证 und Dreier-Regel >> Der unterschiedliche Zugang von TCM und MWM zu Diagnostik und Therapie ermöglicht eine Erweiterung des ärztlichen Handelns.

Die nichtapparative und nichtinvasive Untersuchung der TCM erlaubt die Erhebung eines

747 Traditionelle chinesische Medizin

Funktionsstatus ohne exakte Zuordnung zu einem morphologischen Substrat. Um dem Therapeuten die Frage nach den am besten geeigneten Akupunkturpunkten zu erleichtern, wurde die Dreier-Regel der Wiener Schule entwickelt. Die ersten beiden Fragen beziehen sich auf den Ort der Erkrankung: Welcher Meridian bzw. welches Organ ist betroffen? Die dritte Frage berücksichtigt die sog. Modalitäten (psychische Faktoren, Klimaeinflüsse und Vieles mehr), die einerseits Zuordnungen zu „Funktionskreisen“ erlauben, andererseits den Akupunkteur bis zur chinesischen Syndromenlehre führen können. Für den optimalen Therapieerfolg ist neben dem richtigen Punkteprogramm (Wahl aus über 300 klassischen Akupunkturpunkten, un­ zähligen Punkten auf Mikroakupunktursystemen, Extrapunkten etc.) auch die optimale Nadelstich- und Manipulationstechnik relevant (starker/schwacher Reiz, Nadeln oder Wärmeanwendung  – Moxibustion, Laser, Schröpfen u. a.). 31.2.5  Formen der Akupunktur

Für die klassische Körperakupunktur werden maximal 16 sehr dünne Nadeln in ausgewählte Akupunkturpunkte eingestochen und für einige Zeit (meist 20  Minuten) belassen. An Körperakupunkturpunkten können aber auch Lokalanästhetika eingebracht werden. Hier findet sich ein fließender Übergang zur Neuraltherapie (7 Kap. 23). Die Kombination aus Akupunktur und Homöopathie bezeichnete Roger de la Fuye, der Begründer dieser Therapierichtung, als Homöosiniatrie.  

kElektrische Stimulation

Nadeln werden über spezielle Klammern mit einem Elektrostimulationsgerät verbunden: Niedrige Frequenzen finden bei Lähmungen Verwendung, hohe Frequenzen bei Schmerzen.

31

kTranskutane elektrische Nervenstimulation (TENS)

Das Verfahren ist für die Selbstbehandlung durch den Patienten gedacht. kLaser

Vor allem für Kinder hat sich die Verwendung eines Softlasers bewährt. kYamamotos Schädelakupunktur und Shōnishin-Kinderakupunktur

Es handelt sich um Spezialformen der Akupunktur, die in Japan entwickelt wurden und daher in 7 Kap.  32 (Traditionelle japanische Medizin) abgehandelt werden.  

31.2.6  Fallbeispiel: Ablauf einer

Konsultation

Beim Anfänger sind „Kochrezepte“ sehr beliebt: Welche Punkte kommen bei dieser oder jener westlichen Diagnose zur Anwendung? Der fortgeschrittene und tiefer in der TCM verwurzelte Therapeut fragt dann nach dem chinesischen Syndrom und kann mit einem Therapieprogramm aufwarten. Doch der eigentliche große Vorteil der Methode liegt in der Individualität, in der Einzigartigkeit sowohl des Erscheinungsbildes einer Störung als auch in der Punkteauswahl. Patient, 54 Jahre: Der Patient klagt über Kreuzschmerzen ohne radikuläre Ausbreitung. Beruflich bedingt verbringt er sehr viel Zeit im Auto. In den Morgenstunden verspürt er den Schmerz am intensivsten, dann bessert sich der Schmerz langsam. In der Kälte verschlimmert er sich. Alle auswärts erhobenen Befunde sind ohne Besonderheit. Lediglich im LWS-Röntgen sind leichte degenerative Veränderungen beschrieben. Nebenbei gibt der Patient noch an, wegen einer erektilen Dysfunktion in urologischer Behandlung zu stehen. Obwohl er schon seit 6  Monaten an dem Beschwerden leidet, möchte er keine Analgetika einnehmen. Auch physikalische Therapien lehnt er

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ab. Nach den typischen TCM-Untersuchungen wird ein Leere-Zustand des Nieren-Yangs festgestellt. Das Behandlungsprogramm besteht aus einigen lokalen Punkten wie Blase(Bl)  22, Bl  23, Bl  32, Niere  3 (gekoppelt zum Blasenmeridian), Lenkergefäß(LG)  20, LG  14 (diese Punkte grenzen die Wirbelsäule nach oben ein). Alle Nadeln werden mit mittelstarker Nadelstimulation eingestochen. Für 20  Minuten bleibt der Patient mit den Nadeln liegen. Die Therapie erfolgt bei chronischen Erkrankungen üblicherweise einmal pro Woche. Bereits nach der 2. Behandlung empfindet der Patient eine deutliche Besserung der Kreuzschmerzen, und sogar die erektile Dysfunktion hat sich gebessert (sie unterliegt gemäß TCM auch der Nierenaktivität). Nach insgesamt 6 Behandlungen sind die Schmerzen deutlich gebessert, und die Behandlungen werden beendet. Üblicherweise erfolgt neben der Behandlung auch eine Beratung bzgl. Prophylaxe und Lebensstil.

31 31.2.7  Tuina

Mit speziellen manuellen Techniken wie Schieben/Tui, Greifen/Na, Streichen etc. findet eine mechanische Aktivierung des Akupunkturpunktes ohne Nadeln statt (. Abb. 31.2).  

Tuina wird v. a. gegen Beschwerden im Bewegungsapparat und zur Entspannung eingesetzt. Der Therapeut (Arzt, Physiotherapeut, Masseur) muss bei der Anwendung der Tuina-­ Massage immer in seinem gesetzlichen Rahmen bleiben und kann die Tuina-Massage erst nach erfolgter ärztlicher Untersuchung und Diagnosestellung anwenden. Folgende Indikationen finden sich in der Praxis häufig: Indikationen für Tuina (Auswahl) 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55

Psychosomatische Störungen Neurasthenie Vegetative Dystonie Funktionelle Störungen Burnout-Syndrom Nervöser Magen Spannungskopfschmerzen Verspannungen der Nacken- oder Lendenmuskulatur Migräne Schlafstörungen Fibromyalgie Larvierte Depression Konzentrationsstörungen

31.2.8  Studien/Evidenzlage zz Gerac-Studien (German Acupuncture Trials 2002–2007)

Jeweils 387 Kreuzschmerz- bzw. ca. 350 Knieschmerzpatienten je Therapie. Schmerzlinderung und Funktionsverbesserung um einen definierten Mindestbetrag auf einer international gültigen Skala. kErgebnisse im Überblick

..      Abb. 31.2  Vorbereitender Griff: die Mobilisierung des Handgelenks

55 Chronischer Kreuzschmerz: Besserung bei „echter“ (Verum) Akupunktur 47,6 %, Scheinakupunktur 44,2 %, Standardtherapie 27,4 %. 55 Chronischer Knieschmerz: Besserung bei Verum-Akupunktur 51,0 %, Scheinakupunktur 48,0 %, Standardtherapie 28,0 %.

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749 Traditionelle chinesische Medizin

Die Gerac Akupunktur-Studien (unter Mitwirkung von diversen Akupunkturgesellschaften und Universitäten in Deutschland) zu Gonarthrose, Kreuzschmerzen und Migräne stellten die Weichen für die Einführung der Akupunktur als deutsche Kassenleistung (7 http://www.­ gerac.de/. Zugegriffen am 16.05.2018).

doppelblinde Multicenterstudie mit nahezu 1000 Migränepatienten, die mindestens 6  Migräneanfälle pro Monat zeigten, ergab in allen 3 Armen eine signifikante Reduktion der Anfallshäufigkeit. Akupunktur wirkt mindestens gleich gut wie eine medikamentöse Prophylaxe.

zz Studie zum Wirkmechanismus von ­Akupunktur

zz Langzeiteffekt bei Lumbalgie: ­Thomas et al. (2006)

Eine 2010 publizierte Studie aus den USA (University of Rochester) ergab, dass die Schmerzlinderung durch Akupunktur teilweise auf der lokalen Beteiligung von Adenosin  A1 beruht. Die Studie impliziert, dass nur die Nadelstiche selbst und nicht die Punkte entscheidend bzw. spezifisch sind! (Goldman et al. 2010, 7 http://

In einer englischen randomisierten kon­ trollierten Studie konnten 241  Patienten mit chronischem Rückenschmerz eingeschlossen werden. Ein schwacher Effekt konnte bei den akupunktierten Patienten nach 12  Monaten nachgewiesen werden, der sich nach 24 Monaten noch erhöhte. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass diese Therapie in den Händen eines erfahrenen Akupunkteurs von den Patienten gut akzeptiert wird und als sicher eingestuft werden kann.





www.­nature.­com/neuro/journal/vaop/ncurrent/ full/nn.­2562.­html#/discussion Online; veröffent-

licht am 30.05.2010. Zugegriffen am 16.05.2018). zz Studie zur Einstufung der Wirksamkeit in der Praxis

Prinzip der retrospektiven Studie (Modern Disease Menu of Acupuncture and Moxibustion Therapy, Du Yuanhao, Poeple’s Medical Publishing House China, 2009, Chinesisch) (Du et al. 2007): Wenn eine medizinische Diagnose nach westlichen Kriterien (wie ICD-10) möglich ist, dann werden keine TCM-Syndrome erstellt! Die Reihung der Wirksamkeit erfolgt nach der Anwendungshäufigkeit in der Praxis. 55 Krankheiten des Muskel-Skelett-Systems und des Bindegewebes (beste Indikation), 55 Krankheiten des Nervensystems (zweitbeste Indikation), 55 Krankheiten des Verdauungssystems, 55 Krankheiten des Urogenitalsystems, 55 Krankheiten des Auges und der Augenanhangsgebilde, 55 psychische und Verhaltensstörungen. zz Migräne: Diener et al. (2006)

Vergleich Verum-Akupunktur, Sham-Aku­punk­ tur und medikamentöse Migräneprophylaxe: Diese prospektive, randomisierte, kon­trollierte

zz Einfluss auf die Beweglichkeit bei ­Patienten mit Zervikalsyndrom: ­Irnich et al. (2002)

In einer 3-armigen Studie verglichen die Autoren Akupunktur an Fernpunkten mit lokaler „Dry-needling-Technik“ und verwendeten einen inaktiven Laser als Sham-­Kontrolle. Die Autoren kamen zu dem Schluss, dass die einmalige Akupunktur an Fernpunkten in Bezug auf die Beweglichkeit und auf den Schmerz der Kontrollgruppe signifikant überlegen ist. zz Endometriose: Rubi-Klein et al. (2010)

In dieser Studie des Johannes Bischko Instituts für Akupunktur konnte gezeigt werden, dass die Schmerzintensität bei 83  Patientinnen mit Endometriose im Vergleich zu einer Kontrollgruppe signifikant reduziert werden konnte.

zz Zahnheilkunde: Simma et al. (2018)

Eine kürzlich erschienene retrospektive Kohorten-Studie beschreibt die Wirkung der Akupunktur bei kraniomandibulärer Dysfunktion (CMD). Beachtenswert ist die hohe Fallzahl von 887 Patienten! (7 Kap. 26).  

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zz Tuina

31.2.9  Ausbildung Akupunktur kAkupunktur-Ambulanz

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Zunächst in der Wiener Poliklinik angesiedelt, musste aufgrund der Schließung zweier Krankenhäuser die Ambulanz ebenso oft ihren Standort wechseln. Seit 2012 werden im Krankenhaus Hietzing mit Neurologischem Zentrum Rosenhügel täglich außer am Wochenende Patienten mit unterschiedlichen Indikationen, die der Akupunktur zugänglich sind, behandelt. Gleichzeitig findet dort ein Teil der Akupunkturausbildung für Ärzte statt. Die gesamte Ausbildungsreihe ist für das Diplomfortbildungsprogramm der Österreichischen Ärztekammer DFP-akkreditiert und wird derzeit mit 15 Punkten je Kurs anerkannt. Insgesamt können hier für die gesamte Akupunkturausbildung 200 Punkte gesammelt werden. Seit dem Jahr 1991 gibt es das Österreichische Ärztekammerdiplom für Akupunktur. In Übereinstimmung mit der Österreichischen Ärztekammer sind zur Erlangung dieses Diploms das Absolvieren von 200 Unterrichtseinheiten (120  Unterrichtseinheiten Theorie und 80 Unterrichtseinheiten Praxis) und eine Prüfung notwendig. Für eine fundierte Ausbildung ist das Einhalten der Kursreihenfolge notwendig (A1–3, B1–3), der Ohrkurs kann zwischendurch absolviert werden. Die praktische Ausbildung ist im Rahmen einer Hospitation am Johannes Bischko Institut für Akupunktur bzw. an der neuen Akupunktur-Ambulanz im ­Neurologischen Zentrum Rosenhügel (die Übersiedlung aus dem Kaiserin Elisabeth Spital erfolgte im August 2012) möglich. Für diese Hospitationsmöglichkeiten ist der Besuch der Kurse A1 bis einschließlich B2 erforderlich. Die Ausbildungsveranstaltungen finden an Wochenenden in Wien, Klagenfurt und Innsbruck statt. Alle Kurse sind unter Einhaltung der Reihenfolge auch an den verschiedenen Orten untereinander kombinierbar. Weitere Informationen unter: 7 http://www.­  

akupunktur.­at/

Der Österreichische Arbeitskreis für traditionelle chinesische Massage – TUINA, wurde 1976 gegründet. Seither werden Ärzte, Physiotherapeuten und diplomierte Masseure in dieser Behandlungsform unter der Leitung von Prof. Dr. Alexander Meng ausgebildet. Weitere Informationen unter: 7 http://www.­tuina.­eu Das Besondere an Tuina ist der ganzheitliche Ansatz. In 50  Unterrichtseinheiten wird neben einer Einführung in TCM/Tuina auch eine Vielzahl an Programmen zur Behandlung des Bewegungsapparats gelehrt und praktisch geübt. Auch Sondermethoden, wie z.  B.  Schröpfen, Moxibustion, Qigong und Akupressur an den Ohrreflexzonen, kommen nicht zu kurz. Am Ende der Seminarreihe gibt es ein Abschlusszertifikat über diese Ausbildung  – Teilbereich Bewegungsapparat. Dieses Zertifikat ist im Kurspreis inbegriffen. Die Ausbildung alleine beinhaltet noch keine Gewerbeberechtigung. Die selbstständige Ausübung der Tuina-Therapie unterliegt in Österreich gesetzlichen Bestimmungen, d.  h., bei Befähigung, eine Ordination/Praxis zu führen, oder wenn nach Abschluss einer Lehre und Verwendungszeit ein Gewerbeschein erworben wurde. Andernfalls kann man unselbstständig in einer Ordination oder bei einem Berechtigungsinhaber tätig sein.  

zz Kontakt

Österreichische Gesellschaft für Akupunktur (ÖGA) Neurologisches Zentrum Rosenhügel, Direktionsgebäude Riedelgasse 5, A-1130 Wien [email protected] 7 www.­akupunktur.­at  

Zusammenfassung 55 Akupunktur, eine Form von Diagnose und Therapie, wurde in China vor mehreren tausend Jahren entwickelt. 55 Akupunktur ist eine Regulationstherapie mit dem Ziel der Erhaltung bzw. des Wiedererlangens aller normalen Körperfunktionen (Gleichgewicht zwischen Yin und Yang).

751 Traditionelle chinesische Medizin

55 Es gibt ein breites Spektrum von Einsatzmöglichkeiten: 55 Schmerz, 55 Befindlichkeitsstörungen, 55 Zusatztherapie bei Erkrankungen aus allen Bereichen der Medizin. 55 Akupunktur ist in der Hand eines erfahrenen Arztes ungefährlich. 55 Einflussmöglichkeiten durch Akupunktur: 55 Beeinflussung der Funktion eines Organs (regulieren), 55 Beeinflussung des vom Meridian versorgten Gebiets (radikular, pseudoradikular, segmental etc.), 55 Anwendung der Oppositionsregel, 55 Anwendung des gekoppelten Meridianpaares. 55 Tuina: Mit speziellen manuellen Techniken findet eine mechanische Aktivierung des Akupunkturpunktes ohne Nadeln statt. 55 Tuina wird v. a. gegen Beschwerden im Bewegungsapparat und zur Entspannung ­eingesetzt.

31.3  Chinesische Phytotherapie Karin Stockert 31.3.1  Einführung

Der Physiker Niels Bohr führte in der Diskussion, ob subatomare Elemente wie Elektronen, Neutronen oder Protonen Teilchen (Materie) oder Welle seien, den Begriff der Komplementarität ein. Für ihn waren das Teilchenbild und das Wellenbild zwei sich ergänzende Beschreibungen derselben Wirklichkeit, von denen jede nur teilweise richtig war und eine beschränkte Anwendungsmöglichkeit hatte. Laut Bohr werden beide Bilder benötigt, um die atomare Wirklichkeit darzustellen, und beide müssen innerhalb der von der Heisenbergschen Unschärferelation gesetzten Grenzen angewendet werden. >> Die Idee der Komplementarität in der neuen Physik findet sich auch im alten

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chinesischen Denken und der TCM in der Monade mit der einander komplementären Darstellung von Yin und Yang.

Diese Parallelität des Denkens hat auch Niels Bohr tief beeindruckt. Während Akupunktur, Tuina und Akupressur mit dem Wellenbild bzw. dem immateriellen Aspekt des Körpers arbeiten und über Energieausgleich den Körper regulieren, leistet die chinesische Phytotherapie „materielle“ Arbeit. Materie wird dem Körper in Form von Kräutern zugeführt. Beide Therapien (materiell und immateriell) können in einem gemeinsamen Zusammenspiel zur Gesundung beitragen. In Europa verbreitete sich in den 1950erbis 1970er-Jahren die Akupunktur als Hauptform der TCM.  Bald wurde jedoch erkannt, dass Akupunktur wunderbar funktioniert, wenn der Patient genug Kraft oder Qi hat. Bei Schwäche oder Leere-Zuständen des Körpers jedoch, kann mit Akupunktur schlecht reguliert werden. Man beobachtete, dass, wie bei einer Wasserleitung, das Drehen des Wasserhahns im Sinne einer Regulation nicht viel nützt, wenn im Rohr zu wenig Wasser fließt. Ein Therapieerfolg bei Leere-Zuständen kann nur erfolgen, wenn davor auch die Materie gestärkt und über richtige Ernährung oder Kräuter tonisiert wird. In den 1980er-Jahren gelangten langsam Übersetzungen der klassischen Bücher der chinesischen Medizin in den Westen und damit auch das enorme Wissen über chinesische Kräutermedizin. Die älteste Rezeptursammlung 52 Rezepturen (Wushier biangfang) aus dem Jahr 168 v. Chr. wurde erst 1970  in der Mawangdui-­Grabstätte in Hunan entdeckt und beinhaltet rudimentäre, einfach gehaltene Rezepte ohne Namen. Im 1. oder 2.  Jh. n.  Chr. entstand das berühmte Buch Yellow Emperor’s Inner Classic (Huangdi neijing), das sich therapeutisch jedoch hauptsächlich mit Akupunktur beschäftigt und lediglich einige therapeutische Hinweise bezüglich des Geschmacks von Arzneien gibt.

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A. Meng et al.

Die erste richtige Rezepturensammlung ist die Abhandlung über Kälte induzierte Erkrankungen (Zhang Zhongjing 1997) (Shanghan zabinglun) und wurde ca. 200 n. Chr. geschrieben. Dieses Buch bietet das älteste systematisierte Wissen bezüglich des Ursprungs und der Entwicklung von kälteinduzierten Erkrankungen und Behandlungsmöglichkeiten  – nicht mit Akupunktur, sondern mit höchst raffinierter Verwendung von Kräutern in Form von Rezepturen, perfekt moduliert, für eine große Bandbreite von Krankheitsmanifestationen. Zhang Zhongjing beschreibt ein detailliertes Diagnosesystem, das sich mit den 6  Schichten einer Erkrankung beschäftigt. Dieses Buch gilt auch heute noch als einer der wichtigsten Klassiker, und die dort verwendeten Rezepte einschließlich der darin genau beschriebenen Dosierung und Zubereitung werden auch heute noch sehr oft verwendet. So wirkt beispielsweise eines der Rezepte, das im Shanghanlun gegen Askaridenbefall verwendet wird, Wu mei wan, sehr gut bei der Behandlung einer klassischen Erkrankung des 21.  Jahrhunderts, der Nahrungsmittelallergie. Eine Forschergruppe aus New York (Srivastava et al. 2005) konnte nachweisen, dass Wu mei wan bei Erdnussallergie zu derart eindrucksvollen Verbesserungen führt, dass die führende wissenschaftliche Zeitschrift für Allergie, das Journal of Allergy and Clinical Immunology, diese Studie publizierte (7 Abschn. 31.3.7). In der Tang-Dynastie schrieb der berühmte Arzt Sun Simao seine beiden Bücher: Rezepte, die tausend Goldstücke wert sind (Qianjin yaofang) und Ergänzende Rezepturen, die tausend Goldstücke wert sind (Qianyi fang). Die darin enthaltenen umfangreichen Rezepturen werden durch Akupunktur und Übungen zur Lebenspflege (Yang shen) ergänzt. Schon im 8.  Jh. folgte die Kategorisierung der Arzneien und Rezepte, und Chen Cangqii schrieb die erste Materia Medica (Bencao shiyi). Im Verlauf der nächsten Jahrhunderte wurden, auch unter kaiserlicher Schirmherrschaft, viele weitere Rezeptsammlungen publiziert. So enthält z. B. das Buch Imperial Grace formulary of Tai Ping Era (Taiping huimin hejiju fang) 16.834 Rezepturen.  

Im 12.  Jh. wurden die theoretischen Grundlagen der Entstehung von Krankheiten, Diagnoseverfahren und deren Behandlungsstrategien weiter verfeinert. Zur Differenzierung von Krankheitsmustern wurden die Natur (Kälte, Hitze, Fülle, Leere) und der Ort der Erkrankung (Organ, Qi, Blut) als Behandlungsgrundlagen etabliert. Immer wieder erschienen Bücher, die zuvor publizierte Werke zitierten und kommentierten. Dadurch konnte die chinesische Phytotherapie stetig weiterentwickelt und verbessert werden. 1590 publizierte Li Shizhen die berühmte große Materia Medica (Systematische Drogenkunde: Ben cao gangmu), in der er 1800 Einzelmittel mit 1000 Abbildungen und 10.000 Rezepturen kategorisiert anführte. Während der Qing-Dynastie, Anfang des 18. Jh., wurde China von vielen Epidemien heimgesucht. Bis dahin hatte man sich bei äußerlich zugezogenen Erkrankungen fast ausschließlich an Zhang Zhongjings Klassiker der Kältekrankheiten orientiert. Viele Ärzte erkannten damals, dass diese Epidemien nicht nur durch Kälte, sondern durch eine spezielle Form von Hitze, die sie „Wärme“ nannten, ausgelöst werden, und die „Schule der warm-­ fiebrigen Krankheiten“ entstand. Der berühmteste Arzt unter ihnen, der Südchinese Ye Tianshi (1666–1745), entwickelte in seinem Buch Diskussion über durch Wärme-Hitze Pathogene verursachte Erkrankungen (Wenrelun) ein System, das den Körper und die Entstehung der Krankheiten in 4 Ebenen unterteilt, und differenzierte Wärme-Erkrankungen in solche mit und solche ohne Feuchtigkeit. Ye war der erste, der verschiedene Stadien der Wärme-Erkrankungen mit scharfen, aromatischen, kühlen und leichten Arzneien behandelte, um Hitze zu zerstreuen und zu lüften. Zu einer Weiterentwicklung kam es durch Wu Tang (1758–1836), der in seinem Buch Systematische Differenzierung von Wärmeer­ krankungen (Wenbing tiaobian) betonte, dass der Fokus der Behandlung von Wärme-­ Erkrankungen auf das Schützen von Yin und Essenz gelegt werden müsse. Er entwickelte das Dreifache-Erwärmer-Diagnosesystem, das auch noch heute angewendet wird.

753 Traditionelle chinesische Medizin

31.3.2  Arzneien

In Österreich werden derzeit ca. 400 verschiedene Arzneimittel der chinesischen Medizin überwiegend in speziell geschulten Apotheken angeboten. Die meisten Arzneien (90  %) sind pflanzlicher Herkunft, es gibt jedoch auch einige wenige mineralische Substanzen und Arzneien aus dem Tierreich. So werden z. B. Austernschalen verwendet, um Unruhezustände zu entspannen und das Herz-Yang abzusenken. Viele Tierprodukte sind aus Artenschutzgründen streng verboten, wie z.  B.  Tigerknochen oder Rhinozeroshörner. Alle Arzneimittel sind apothekenpflichtig und werden zumeist von auf diesem Gebiet spezialisierten Apotheken verkauft.

Klassifikation Jede Arznei wird klassifiziert nach:

Temperaturverhalten kHeiß und warm

Diese Arzneien sind aktivierend, beschleunigen, dynamisieren, lösen und zerstreuen. So bewirken Zimtzweigchen (Ramulus [Rm.] Cinnamomi, Gui zhi) durch ihre warme Schärfe eine Erwärmung der Körperoberfläche und können dadurch Wind und Kälte, die sich in Form einer Verkühlung an der Körperoberfläche festgesetzt haben, zerstreuen und durch Öffnung der Poren diaphoretisch nach außen leiten. kNeutral

Weder wärmend noch kühlend. Oft bei Diuretika, wie Poria (Fuling). kKühlend und kalt

Der kalte Aspekt bewirkt eine Anreicherung mit Stofflichem, Befeuchtung mit Säften, Verlangsamung von Stoffwechselprozessen und Beruhigung. Kühles und Kaltes kann Hitze kühlen und Yin anreichern. So wird z. B. Radix (Rd.) Rehmanniae viride (Sheng di huang) verwendet, um das Nieren-Yin bei menopausalen Hitzewallungen zu stärken oder um Hitze nach hochfieberhaften Infektionserkrankungen zu kühlen, wenn etwa nach einer Pneumonie trotz antibiotischer Behandlung lang anhaltender

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trockener Husten, große Unruhe, Palpitationen mit subfebrilen Temperaturen entstanden sind.

Geschmacksrichtung Der Geschmack einer Arznei gibt Aufschluss über die Wirkebene und die Eindringtiefe. Jedes Arzneimittel kann verschiedene Geschmacksrichtungen haben. kScharf

An der Oberfläche wirksam, zerstreuend bei Ansammlungen von Feuchtigkeit oder Schleim, öffnend, entfaltend. kSüß

Befeuchtend, Säfte spendend, aktive Energie tonisierend, regulierend, harmonisierend. kNeutral

Oft diuretisch wirksam, regulierend. kSauer

Adstringierend, Säfte erhaltend, Schweiß hemmend. kBitter

Nach unten ausleitend, trocknend, klärend. kSalzig

Befeuchtend, Säfte erzeugend, laxierend, Knoten erweichend, in der Tiefe wirkend.

Organ- und Leitbahnenbezug Jede Arznei hat einen oder mehrere spezielle Wirkorte, in denen sie ihr Potenzial besonders gut entfaltet. So wirken scharfe Arzneien besonders gut in der Lunge, saure in der Leber, süße und neutrale in der Milz, bittere im Herzen und salzige in der Niere.

Wirkrichtung kOberflächlich wirkende Arzneien

Während warme, oberflächlich wirksame Arzneien pathogene Faktoren wie Kälte im Anfangsstadium von Verkühlungen befreien können (z. B. Rm. Cinnamomi), werden mit kühlen, oberflächlich wirksamen Arzneien fieberhafte Erkrankungen im Sommer behandelt, z. B. mit

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A. Meng et al.

der Klettenfrucht, Fructus (Fr.) Arctii (Niu bang zi), bei Angina tonsillaris oder mit Chrysanthemenblüten, Fl. Chrysanthemi (Jú huā), bei allergischer Konjunktivitis (. Abb.  31.3a, . Tab. 31.2).  

kann Rhizoma (Rh.) Cimicifugae (Sheng ma), das Traubensilberkerzenrhizom, entzündetes Zahnfleisch kühlen und auch andere kühlende Arzneien kopfwärts ziehen.



kIm Inneren wirkende Arzneien

Regulieren und stärken innere Organe, Blut und Qi: z.  B. stärkt Rd. Ginseng (Ren shen) das Qi von Milz, Herz und Lunge, oder die Wurzel der Weißen Pfingstrose, Rd. Paeoniae albae (Bái sháo), kräftigt bei Blutmangel (. Abb. 31.3b, . Tab. 31.2).  



kEmporhebende Arzneien

Heben das körpereigene Qi nach oben und entfalten an der Oberfläche ihre Wirkung: z. B.

kAbsenkende Arzneien

Ziehen Energien nach unten und innen, besonders auch bei gegenläufigen Qi-Bewegungen wie aufsteigendes Leber-Yang mit den Symptomen: Kopfschmerzen, Schwindel und Migräne. Hier wirkt z. B. Rh. Gastrodiae (Tian ma) und senkt das hochschlagende Leber-Yang ab. Auch die Austernschale, Co. Ostreae (Mu li) kann bei Unruhezuständen das aufsteigende Yang nach unten führen und durch seine salzige Schwere in der Niere verankern.

a

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b

..      Abb. 31.3  a Jú huā (Fl. Chrysanthemi, Chrysanthemenblüten), b Bái sháo (Rd. Paeoniae albae, Pfingstrosenwurzel) (Fotos: Andrea Pribyl, mit freundlicher Genehmigung)

755 Traditionelle chinesische Medizin

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..      Tab. 31.2  Beispiele für Arzneieigenschaften Lateinischer Name

Fl. Chrysanthemi

Rd. Paeoniae albae

Pinyin-Name

Jú huā

Bái sháo

Deutscher Name

Chrysanthemenblüten

Pfingstrosenwurzel

Gruppe

Die Oberfläche öffnende Arzneien

Das Blut tonisierende Arzneien

Temperaturverhalten und Geschmack

Kühl-kalt, süß, bitter

Kühl, bitter, sauer

Meridian-­Affinität

Leber, Lunge

Leber, Milz

Funktionen und Indikationen

Vertreibt Wind und klärt Hitze (z. B. bei Wind-Hitze-Mustern)

Nährt das Blut und reguliert die Menstruation

Beruhigt die Leber (bei Wind-Hitze-­ Mustern, z. B. Allergien) und beruhigt aufsteigendes Leber-Yang (z. B. bei temporalem Kopfschmerz, Vertigo, Tinnitus)

Entspannt und besänftigt die Leber

Macht die Augen klar

Lindert Schmerz, besonders bei Leber-Qi-Stagnation und Leber-Milz Disharmonien Krampflösend Bewahrt das Yin Harmonisiert Ying und Wei Qi

Dosierung

4,5–9 g

6–15 g

Anmerkungen

Nur 5 Minuten kochen oder 10–15 Minuten ziehen lassen

Vorsicht bei Milz-Qi-Mangel mit weichem Stuhl

Wichtige Kombinationen

Mit Rd. Ligustici wallichii (Chuān xiōng) bei Kopfschmerz durch Wind-Hitze oder aufsteigendes Leber-Yang Mit Fr. Lycii (Gŏu qĭ zĭ) bei unklarem Sehen durch Leber- und Niere-­ Mangelmuster

Mit Shú dì, dāng guī und Chuān xiōng: SÌ WÙ TĀNG Mit Chái hú z. B. in SÌ NÌ SĂN Mit Guì zhī z. B. in GUÌ ZHĪ TĀNG Mit Gān căo in BÁI SHÁO GĀN CĂO TĀNG bei krampfartigen Magenschmerzen durch Leber-Magen-Disharmonie, auch bei Muskelkrämpfen, besonders im Wadenbereich

Präparationsvorgänge Jede Arznei wird nach einem genau festgelegten Muster vorbehandelt. Manche Arzneien werden nur von Erdresten befreit und anschließend getrocknet, andere wiederum nach einem genau beschriebenen Verfahren bearbeitet. So wird z. B. Radix Aconiti (Eisen-

hutwurzel) so lange in Wasser eingelegt, bis die Arznei bis in das Zentrum durchfeuchtet ist. Dann wird sie herausgenommen und erneut mit Wasser versetzt und 4–6 Stunden so lange gekocht, bis große kompakte Stücke nach dem Aufschneiden kein weißes Zentrum mehr erkennen lassen und beim Kosten nur noch

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A. Meng et al.

schwach anästhesierend auf der Zunge wirken. Dann werden die Wurzeln entnommen, bis zum Entweichen von 60  % des Wassergehalts vorgetrocknet, in Scheiben geschnitten und anschließend getrocknet. So erhält man Rd. Aconiti präp., das in den Handel kommt. Die genauen Schritte des Herstellungsverfahrens lassen sich dem Arzneibuch der chinesischen Medizin (Stöger 1996) entnehmen, das im Deutschen Apotheker Verlag erschienen ist und eine Übersetzung der Monographie des Arzneibuchs der Volksrepublik China von Erich Stöger darstellt. Dort ist genau beschrieben, in welcher Form Arzneien behandelt werden müssen, um ihre Wirkungen am besten zu entfalten und die möglichen toxischen Wirkungen einzudämmen.

 earbeitung von präparierten B Arzneien (Pao zhi)

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Pao zhi sind traditionelle Zubereitungsverfahren, mit denen durch Rösten, Dämpfen, Backen oder Kochen die therapeutische Wirkung der Arzneien verändert oder spezifiziert werden kann. Pao zhi-Verfahren 55 CHAO: goldbraun geröstet (z. B. Chao mu xiang: Rd. Aucklandiae wirkt durch zusätzliche Röstung noch mehr trocknend bei feuchter Kälte mit Durchfällen und Meteorismus) 55 JIAO: stark geröstet, leicht verbrannt 55 TAN: verkohlt (z. B. Pu huang tan: verkohlter Schilfrohrkolbenpollen wirkt dadurch besser adstringierend und blutungsstillend) 55 JIU CHAO: in Wein eingelegt, danach geröstet 55 CU CHAO: in Essig eingelegt, danach geröstet (Cu chao chai hu: Rd. Bupleuri in Essig gebraten reguliert das Leber-Qi besser, besonders bei abdominalen Krämpfen und Dysmenorrhö) 55 YAN CHI: mit Salz versetzt 55 JIU ZHI: mit Wein versetzt

Das Arzneibuch der chinesischen Medizin (Stöger 1996) gibt dem Apotheker auch Hinweise bezüglich Morphologie und Prüfung auf Identität und Toxikologie.

Rechtliche Aspekte Zuletzt hat die EU-Richtlinie 2004/24/EG Traditional Herbal Medicinal Products Directive für große Aufregung gesorgt. Sie bestimmt, welche Anforderungen Fertigarzneimittel erfüllen müssen, um zugelassen zu werden, nämlich: medizinische Verwendung seit mehr als 30  Jahren, davon 15  Jahre in der EU.  Ihre Anwendung muss ohne ärztliche Aufsicht möglich und sicher sein, des Weiteren sind viele Indikationen von dieser Richtlinie ausgeschlossen. Die EU-Richtlinie 2004/24/EG verpflichtet die Produzenten von pflanzlichen Fertigpräparaten und Mischpräparaten aus mehreren Kräutern zu Zulassungsverfahren. Sie müssen Dossiers über Qualität, Wirkung und mögliche Nebenwirkungen der einzelnen Erzeugnisse vorlegen. Nicht betroffen von der Traditional Herbal Medicinal Products Directive sind pflanzliche Arzneimittel, die in Apotheken nach ärztlichem Rezept oder nach Arzneibuchvorschriften hergestellt werden. Daher fällt die chinesische Arzneimitteltherapie nicht in die Kriterien der EU-­Richtlinie 2004/24/EG Traditional Herbal Medicinal Products Directive. Chinesische Arzneimitteltherapie ist in Österreich apothekenpflichtig, somit dürfen chinesische Arzneimittelrezepturen ausschließlich in Apotheken hergestellt und verkauft werden.

 oxikologie und Sicherheitsaspekte T von chinesischen Arzneien Die meisten österreichischen Apotheken werden von Großhändlern mit chinesischen Arzneien beliefert, die von zuverlässigen, staatlich kon­ trollierten Betrieben der VR China einkaufen und problemanfällige, aus China kommende

Chargen auf Pestizide (inkl. Herbizide), Aflatoxine, mikrobielle Verunreinigungen und Schwermetallgehalt überprüfen. Drogen, die

757 Traditionelle chinesische Medizin

erfahrungsgemäß nie Kontaminationen bei verschiedenen Parametern gezeigt haben, werden stichprobenartig geprüft. Dadurch kann in Österreich und Deutschland eine hohe Qualität an Arzneien und damit ein Optimum an Sicherheit gewährleistet werden. Diese genaueste Überprüfung rechtfertigt auch den hohen Preis der Arzneien. >> Dringend abgeraten werden sollte vom Kauf von Billigarzneien aus dem Internet, da diese oft weder auf Identität, noch auf Reinheit überprüft sind.

Erst 2013 wurde von Greenpeace ein Test von chinesischen Kräutern in Deutschland veröffentlicht und gefunden, dass fast alle überprüften Chargen über den Grenzwerten mit Pestiziden kontaminiert waren. Bei genauer Analyse stellte sich jedoch heraus, dass alle getesteten Arzneien nicht aus Apotheken, sondern über eine Firma namens Three Coconut Tree stammten, die hauptsächlich Lebensmittel über chinesische Supermärkte vertreibt, jedoch keine Zulassung für pharmazeutische Produkte hat. Ferner wurden in den 1980er-Jahren in Belgien Fälle von Intoxikationen mit Niereninsuffizienz und sogar Todesfällen nach Verwendung von aristolochiasäurehaltigen Schlankheitskuren bekannt, bei denen anstelle von Radix Stephaniae tetandrae (Han fangji) Radix Aristolochiae fangchi (Guang fangji) verwendet wurde. In England kam es nach Verwendung der Droge Caulis Aristolochiae mandshurensis (Guan mutong) anstelle von Caulis Akebiae (Mutong) zu mehreren Todesfällen. Diese toxischen Arzneien sind ungefähr seit 2000 selbst in China streng verboten und stellen deshalb kein Risiko mehr dar, weil sie mittlerweile auf den Märkten nicht mehr erhältlich sind. Um die Arzneimittelsicherheit besser zu überwachen, wurde in Deutschland das Centrum für Therapiesicherheit in der Chinesichen Arzneimitteltherapie (CTCA) gegrün­det.

Sämtliche Nebenwirkungen unter chine­sischer Arzneimitteltherapie können der CTCA gemeldet werden. Durch Evaluierung und Überprüfung der gemeldeten Daten und durch Aufklärung und Einflussnahme auf die Ausbildung

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der Ärzte kann große Therapiesicherheit gewährleistet werden. Laut Dr. Axel Wiebrecht, Vorsitzender des CTCA, sind

»» „… ernste Nebenwirkungen unter Chinesischer Arzneimitteltherapie sehr selten und in keinem Verhältnis zu entsprechenden Nebenwirkungen chemischer Mittel.“

>> Vorsicht ist geboten bei Arzneien, die „Blut bewegen“, wie Salbei oder chinesischer Liebstöckel. Einige der „Blutbeweger“ können mit Antikoagulanzien interagieren und deren Wirkung verstärken. Außerdem sollten diese chinesischen Arzneien 3–4 Tage vor geplanten Operationen abgesetzt werden, um verstärkte intraoperative Blutungen zu vermeiden (Ausnahme: blutstillende Rezepturen zur Minimierung intraoperativer Blutungen).

Darreichungsformen kDekokte (Tangji)

Sie stellen die häufigste, klassische Zubereitungsart für chinesische Kräuter dar. Die Arzneien werden in einem Topf aus Keramik, Email oder Edelstahl mit Wasser bis 1 cm oberhalb der Kräuter bedeckt. Nach 20–30 Minuten lässt man die Arzneien bei großer Hitze aufkochen und reduziert dann die Hitze für weitere 20–30 Minuten. Dann werden die Kräuter abgeseiht, neuerlich mit Wasser bedeckt, nochmals aufgekocht und 20–30 Minuten köcheln gelassen. Danach wird das Wasser wieder abgeseiht und mit der ersten Abkochung vermischt. Das fertige Dekokt ist im Kühlschrank mehrere Tage haltbar; es sollte jedoch nicht kalt eingenommen werden. kPulver (San)

Die Bestandteile werden zerrieben und eingenommen. kPillen (Wan)

Die zerriebenen Bestandteile werden mit Flüssigkeit oder Bindemittel zu Pillen geformt und sind dadurch leichter einzunehmen als Dekokte.

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kGranulate (Chongfuji)

kZäpfchen

Die Arzneien werden dekoktiert, und der Absud wird unter Vakuum bei relativ tiefer Temperatur eingedickt. In Taiwan wird das eingedickte Granulat wiederholt auf einen Füllstoff gesprüht (meist die pulverisierte Ausgangsdroge, aber auch Maisstärke oder mikrokristalline Zellulose) und danach zum fertigen Granulat verarbeitet. Diese Granulate sind nicht vollständig wasserlöslich, die gepulverten Drogenanteile bilden nach dem Versetzen mit Wasser eine Suspension. In der VR China werden die Granulate in einem 2-­stufigen Verfahren hergestellt. Die eingedickte Flüssigkeit wird sprühgetrocknet, der Primärextrakt wird dann mit Hilfsstoffen (u. a. Maltodextrin) auf den gewünschten Verdünnungsfaktor eingestellt und anschließend zu einem Extraktgranulat verarbeitet. Die fertigen Granulate werden vom Patienten in heißem Wasser angemischt bzw. aufgelöst und am besten eine Stunde vor oder nach einer Mahlzeit eingenommen. Granulate können von manchen Apotheken auch zu Tabletten gepresst werden.

Hochkonzentrierte Dekokte können auch zur Zäpfchenherstellung verwendet werden, außerdem können Extraktgranulate auch direkt in die Zäpfchengrundlage eingeschmolzen werden.

kHydrophile Konzentrate

Hydrophile Konzentrate sind Kräuterextrakte aus einem Alkohol-Wasser-Gemisch mit Glyzerin als Stabilisator und besonders für die Behandlung von Kindern und geschmacklich empfindlichen Patienten geeignet. Sie müssen kühl gelagert werden. kSirupe

Durch Vermischung von Dekokten mit Rohrzucker lassen sich für Kinder bekömmliche Sirupe herstellen. kSalben

Chinesische Arzneidekokte können konzentriert in Salbengrundlagen gemischt und lokal auf der Haut appliziert werden (z. B. bei Neurodermitis, Akne oder auch bei Sportverletzungen). Salben können auch durch direkte Einarbeitung löslicher Granulate in handelsübliche Salbengrundlagen hergestellt werden.

31.3.3  Rezepturen

Rezepte der chinesischen Arzneimitteltherapie bestehen fast nie aus Einzelarzneien, sondern sind nach dem Multi-target-Prinzip eine komplexe, oft geniale Mischung aus verschiedenen Arzneien. kEigenschaften der Arzneimischungen

55 Gegenseitige Verstärkung, ohne Nebenwirkungen zu erzeugen, weil die Einzelarznei in ihrer Dosis gering gehalten werden kann. 55 Gegenseitige Antagonisierung: Verschrieben werden z. B. bei einem akuten Infekt mit Husten in der Rezeptur Xiao qing long tang viele scharfe, warme Arzneien (Hb. Ephedrae, Rm. Cinnamomi, Rh. Zingiberis), die Kälte zerstreuen können, sowie eine adstringierende, saure Arznei (Fr. Schisandrae), die dann als Ausgleich zu den stark zerstreuenden Arzneien deren Wirkung modifiziert und nebenwirkungsfrei hält. Daher wirkt auch Hb. Ephedrae in dieser Modifikation nicht blutdrucksteigernd. 55 Oft werden Arzneien mit unterschiedlicher Wirkung bewusst kombiniert, um komplexe Beschwerdebilder besser beeinflussen zu können. So wird bei einer Form des Burnout-Syndroms die Rezeptur Gui pi tang verwendet, die einerseits Qi-­tonisierende Arzneien wie Rd. Ginseng und Rd. Astragali verwendet, und ­andererseits entspannende Arzneien wie Sm. Ziziphi spinosae (Suan zao ren). Dadurch wird die für das Burnout-Syndrom typische Müdigkeit behandelt, aber auch die zeitgleich vorhandene geistige Unruhe, die in einem solchen Fall zu Panikattacken führen kann.

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759 Traditionelle chinesische Medizin

Der Aufbau einer Rezeptur setzt sich aus einem hierarchischen Prinzip zusammen, das sich von der im alten China verwendeten Rangordnung ableitet: Rangordnung innerhalb einer Rezeptur 55 Kaiserarznei: dieser Bestandteil bestimmt die Hauptwirkrichtung der Rezeptur 55 Ministerarznei: wirkt ähnlich wie die Kaiserarznei und unterstützt und verstärkt diese in ihrer Wirkung 55 Assistentenarznei: behandelt Nebenbefunde, die von den Hauptarzneien nicht abgedeckt werden können, bzw. antagonisiert die Hauptarzneien, um Nebenwirkungen zu vermeiden 55 Botenarznei: kann die Wirkung der anderen Arzneien auf gewisse Organe, Meridiane oder Wirkrichtungen lenken und hat auch harmonisierende Wirkung auf die gesamte Rezeptur, indem sie toxische Nebenwirkungen abpuffert

Während das Gesundheitssystem des 21. Jahrhunderts Krankheiten und Patienten in ICDCodes einordnet und sich z. B. unter Gastritis ein gewisses Beschwerdebild vorstellt, werden in der chinesischen Phytotherapie Krankheiten und Patienten in Rezepturmustergruppen eingeordnet. Rezepturen beschreiben also genau komplexe Krankheitsmuster. So können sich TCM-Ärzte einen Patienten mit einem Li zhong wan-Muster genau vorstellen und wissen, dass es sich hier um einen kälteempfindlichen, verdauungsschwachen, appetitlosen, zu Durchfall neigenden Patienten handelt, der bei Kälte zu krampfartigen Bauchschmerzen neigt.

Woche treten wieder subfebrile Temperaturen und Nachtschweiß auf, außerdem Schweißausbrüche bei geringster Belastung. Überdies sind rote Wangen und Hitze auf Handflächen und Fußsohlen sowie im sternalen Bereich auffällig. kUntersuchungsbefunde

55 Puls: beschleunigt, dünn. 55 Zunge: rot, ohne Belag, Risse, trocken. 55 Blutbild: geringe Entzündungszeichen. 55 Sputumkultur auf Bakterien: negativ. 55 Lungenröntgen: Z. n. Pneumonie. kChinesische Diagnose

Mangel an Lungen-Yin mit beginnendem Blutmangel. Das Yin ist durch die langdauernde Verschleimung verbraucht, das Yang ist relativ im Überschuss, und dadurch entstehen die Hitzesymptome. Wird nun der bereits seit langer Zeit vorhandene, zähe Schleim durch die Hitze eindickt, und die gereizte Bronchialschleimhaut subjektiv beginnt zu „brennen“ und wird immer dünner und wunder, kann auch blutig tingiertes Sputum oder Nasensekret auftreten. Der Reizhusten ist trocken und bellend. Die Körpertemperatur wird durch die schwelende Hitze beeinträchtigt, und es entstehen subfebrile Temperaturen. Auch Handflächen und Fußsohlen werden unangenehm warm. Die Wangen röten sich. zz Rezeptur

Bai he gu jin tang (Dekokt mit Lilienzwiebeln, um das Metall zu wahren) (. Abb.  31.4, . Tab. 31.3).  



Rezepturbeispiel kIndikation

Ein Patient kommt 6 Wochen nach einer Pneumonie, die mit einem Antibiotikum behandelt wurde, weil er weiterhin unter quälendem Husten mit trockenem, minimal blutig tingiertem Sekret sowie unter Heiserkeit leidet. Seit einer

..      Abb. 31.4  Bai he gu jin tang (Foto: Stockert)

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A. Meng et al.

..      Tab. 31.3  Eigenschaften der Rezeptur Bai he gu jin tang Zusammensetzung

Geschmack

Organzugehörigkeit

Bl. Lilii (Bai he)

Kühl, süß, leicht bitter

Lunge, Herz

Rd. Rehmanniae viride (Sheng di huang)

Kalt, süß, bitter

Herz, Leber, Niere

Rd. Rehmanniae präp. (Shu di huang)

Leicht warm, süß

Herz, Niere, Leber

Rd. Ophiopogonis (Mai men dong)

Leicht kalt, süß, leicht bitter

Lunge, Herz, Magen

Rd. Scrophulariae (Xuan shen)

Leicht kalt, süß, bitter, salzig

Lunge, Magen, Niere

Bl. Fritillariae cirrhosae (Chuan bei mu)

Leicht kalt, süß, bitter

Lunge, Herz

Rd. Platycodi (Jie geng)

Neutral, scharf, bitter

Lunge

Rd. Angelicae sin. (Dang gui)

Warm, süß, bitter, scharf

Herz, Leber, Milz

Rd. Paeoniae alba (Bai shao)

Kühl, bitter, sauer

Leber, Milz

Neutral, süß

Lunge, Milz, Herz

Kaiserarzneien

Ministerarzneien

Assistentenarzneien

Botenarznei Rd. Glycyrrhizae (Gan cao)

31

Bei dieser TCM-Anamnese dürfen weder allzu scharfe, schleimhautirritierende Arzneien noch allzu bitter-kalte, feuchte-­hitzeausleitende Arzneien verwendet werden, sondern die Trockenheit muss mit süßlichen, kühlenden Kräutern befeuchtet werden. Die ersten 5  Kräuter der o. g. Rezeptur erfüllen diese Voraussetzung, sie stärken das Yin und kühlen die Leere-Hitze. Trotzdem befinden sich noch zwei Schleim­ löser in der Rezeptur: das süßliche Bb. Fritillariae cirrhosae, um einerseits den zähen Schleim zu lösen und die Schleimhaut wie ein Dampfreiniger zu befeuchten, und Rd. Platycodi, das ein bisschen bittere Schärfe hat, um den restlichen Schleim zu lösen und berühmt ist für die positive Wirkung auf den trockenen Rachen, besonders wenn es, wie auch in dieser Rezeptur, mit dem süßen, befeuchtenden Süßholz kombiniert wird. Die beiden blutstärkenden Arzneien Rd. Angelicae sin. (Dang gui) und die weiße Pfingstrosenwurzel, Rd. Paeoniae alba (Bai shao) sind hier beigefügt, um die Leber zu be-

ruhigen, den gleichmäßigen Qi-Fluss ermöglichen und so die Lunge vor weiteren Verletzungen zu schützen und einer in diesem Zustand möglichen Entstehung einer bronchialen Hyperreagibilität vorzubeugen. Außerdem ist die Erkrankung schon bis in die Blutschichte, jene tiefste-innerste Körperebene nach Wenrelun, vorgedrungen, was sich im blutig tingierten Sputum zeigt, weshalb wird mit diesen beiden Arzneien auch die Blutschichte gestärkt wird. kMögliche zusätzliche Akupunkturtherapie

55 Lungen-Yin stärken: Lu 9, KG 17 55 Nieren-Yin stärken: Ni 6, (evtl. mit Lu 7), Ni 3, KG 4 55 Lungen-Qi stärken: Bl 13, Bl 38, LG 12 55 Säfte stärken: MP 6 55 Hitze entfernen: Lu 10 kDiät

55 Milch, Milchprodukte, Joghurt: hier sind Milchprodukte Therapie! Es wird der befeuchtende Aspekt der Milch auf die

761 Traditionelle chinesische Medizin

55 55 55 55 55

Schleimhäute genutzt (Vorsicht bei Lactoseintoleranz). Sojaprodukte, Tofu Apfel- und Birnenmus Ei, Algen, Wassermelonen, Mandarinen Walnüsse, Erdnüsse, Pinienkerne, Gerstenmalz Tomaten, Spargel, Zucchini, Spinat

Modifikation von Rezepturen kModifikation der Bestandteile

Durch Austausch, Weglassen oder Hinzufügen einer oder mehrerer Arzneikomponenten können die klassischen Rezepturen sehr individuell an die Patienten und die veränderten Schwerpunkte der Erkrankung, den Krankheitsverlauf und Klimaveränderungen angepasst werden. Ein gutes Beispiel hierfür stellt die Transformation von Ma huang tang (einer Rezeptur bei akutem Infekt mit viel Kälte) in Ma xing shi gan tang dar, das bei Hitze in der Lunge indiziert ist. Beide Rezepturen bestehen aus nur vier Arzneien, drei davon sind gleich (Hb. Ephedrae, Rd. Glycyrrhizae präp., Sm. Armeniacae amarum), und nur die vierte Arznei Rm. ­Cinnamomi (Gui zhi) von Ma huang tang wird in Ma xing shi gan tang durch das sehr kalte, süße Gypsum fibrosum (Shi gao) ersetzt und verändert dadurch die Indikation in eine kühlende, fiebersenkende Rezeptur gegen Husten mit klebrig-zäh abhustbarem Sputum. Anpassung an den Behandlungsverlauf: Fallbeispiel: Kind mit Otitis media (7 Abschn. 31.3.5).  

kModifikation der Dosis

Durch Veränderung der Dosis einzelner Bestandteile kann eine Rezeptur, anders akzentuiert, spezielle Wirkungen erfüllen: So können bei der Rezeptur Gui zhi tang durch Verdopplung der Menge an weißer Pfingstrosenwurzel, Rd. Paeoniae albae (Bai shao), die abdominellen Schmerzen während eines akuten grippalen Infekts sehr gut gelindert werden. kModifikationen der Darreichungsform

Die stärkste und schnellste Wirkung wird durch Dekokte erzielt, etwas schwächer wir-

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ken Granulate und am zartesten erscheint die Wirkung bei hydrophilen Konzentraten, sodass diese gerne bei Kindern einsetzt werden. kModifikationen der Gesamtdosis bei Kindern

55 7.–11. Lebensjahr: die Hälfte der ­Erwachsenendosis, 55 4.–6. Lebensjahr: ein Drittel der ­Erwachsenendosis, 55 1.–4. Lebensjahr: ein Sechstel der ­Erwachsenendosis. 31.3.4  Behandlungsstrategien

In der TCM ist es wichtig, die Wurzel (ben) und Manifestation (biao) einer Erkrankung zu differenzieren: 55 die Stärke (Schwäche) des normalen Qi ist die Wurzel, die Stärke des pathogenen Faktors ist die Manifestation, 55 der primäre Krankheitsmechanismus ist die Wurzel, die sekundären Symptome entsprechen der Manifestation, 55 der innere Aspekt der Krankheit ist die Wurzel, der äußere Aspekt ist die Manifestation.

Regeln zur Behandlung 55 Bei akuten Erkrankungen wird zuerst die Manifestation behandelt. 55 Bei chronischen Erkrankungen wird zuerst die Wurzel behandelt. 55 Die gleichzeitige Behandlung von Wurzel und Manifestation erfolgt bei schwacher Konstitution des Patienten mit starkem pathogenem Faktor.

Die Vielzahl der seit 2000  Jahren beschriebenen Behandlungsstrategien wurden während der Qing-Dynastie vom Arzt Cheng Zhongling in Form von 8 Behandlungsstrategien vereinfacht:

762

A. Meng et al.

Traditionelle Behandlungsstrategien oder die 8 therapeutischen Verfahren (Ba fa)

31

1. Schwitzen auslösen (Han fa): Einsatz meist im Anfangsstadium einer akuten Erkrankung, sowohl bei Hitze als auch bei Kälte, um das Äußere zu entlasten. Vorsicht bei schwachen Patienten, bei denen durch zu starkes Schwitzen das Qi weiter geschwächt werden könnte. 2. Erbrechen oder Auswurf induzieren (Tu fa): Toxine und Schleim, der im Rachen festsitzt, sollen durch den Mund ausgeworfen werden. Auch hier Vorsicht: nur bei robusten Patienten! 3. Nach unten abführen (Xie fa): Induziert Stuhlgang bei Anhäufung von Hitze, Kälte, Schlacken, Wasser und bei Obstipation. Wiederum Vorsicht bei geschwächten Personen! 4. Harmonisieren (He fa): Reguliert zwischen Innen und Außen, zwischen den Organen und den Substanzen. 5. Wärmen (Wen fa): Erwärmen von Kälte im Inneren und in den Meridianen und dadurch Auflösen von Kälte-Stagnation. 6. Klären oder Beseitigen von Hitze (Qing fa): Innere Hitze wird durch kühle oder kalte Rezepturen beseitigt. Feuer und damit verbundene Toxine werden gemildert oder abgeleitet. 7. Zerstreuen und reduzieren (Xiao fa): Zerstreuen von Verklumpungen und Anhäufungen, die durch Stagnation von Nahrung, Feuchtigkeit oder Schleim entstanden sind. Verdichtungen und Verhärtungen werden durch Transformation und nicht durch reines Ausstoßen – wie bei Punkt 3 – eliminiert. 8. Tonisieren (Bu fa): Stärken, Ernähren und Kräftigen von Qi, Blut, Yin und Yang bei Leere- bzw. Schwäche-Zuständen, aber auch Stärken von Organen.

31.3.5  Indikationen für die

chinesische Phytotherapie

Während im alten China alle Erkrankungen mit chinesischer Phytotherapie behandelt wurden, entscheidet im Europa von heute der behandelnde Arzt, ob konventionelle Therapien, chinesische Kräuter alleine oder – was zunehmend häufiger vorkommt – ergänzend zu konventionellen Behandlungen eingesetzt werden. Sehr oft wenden sich auch Patienten, die als konventionell „austherapiert“ gelten, aber trotzdem noch Beschwerden haben, an TCM-Ärzte.

»» „Wahrscheinlich darf man ganz allgemein

sagen, daß sich in der Geschichte des menschlichen Denkens oft die fruchtbarsten Entwicklungen dort ergeben haben, wo zwei verschiedene Arten des Denkens sich getroffen haben. Diese verschiedenen Arten des Denkens mögen ihre Wurzeln in verschiedenen Gebieten der menschlichen Kultur haben oder in verschiedenen Zeiten, in verschiedenen kulturellen Umgebungen oder verschiedenen religiösen Traditionen haben. Wenn sie sich nur wirklich treffen, d. h. wenn sie wenigstens so weit zueinander in Beziehung treten, daß eine echte Wechselwirkung stattfindet, dann kann man darauf hoffen, dass neue und interessante Entwicklungen folgen.“ (Heisenberg 1971)

Für chinesische Phytotherapie sehr gut geeignete Indikationen 55 Krankheitsprophylaxe (sub-health): durch die speziellen diagnostischen Maßnahmen wie Puls- und Zungendiagnose können Regulationsstörungen schon vor dem Ausbruch der Erkrankung erkannt und behandelt werden 55 Allgemeinsymptome: Müdigkeit, Erschöpfung, innere Unruhe, vegetative Dystonie 55 HNO-Erkrankungen: Akute und chronisch rezidivierende Infektions-

31

763 Traditionelle chinesische Medizin

55

55

55

55

55

55

55

krankheiten (grippaler Infekt, Otitis, Sinusitis), Polyposis nasi Pulmologische Erkrankungen: Allergien, Asthma bronchiale, rezidivierende Bronchitis Hauterkrankungen: Neurodermitis, akute und chronische Urtikaria, Haarausfall Verdauungsstörungen: Appetitlosigkeit, funktionelle Dyspepsie, Gastritis, Reizdarm, Colitis ulcerosa, Morbus Crohn, chronische Obstipation Urologische Erkrankungen: rezidivierende Harnwegsinfekte, chronische Prostatitis Neurologische Erkrankungen: Schlafstörungen, St. p. Insult, Neuralgien, Migräne, Cephalea Gynäkologische Erkrankungen: Menstruationsprobleme (Amenorrhö, Dysmenorrhö, Menorrhagie, Metrorrhagie), Kinderwunsch, Infertilität, Endometriose, rezidivierende Kolpitis Onkologische Erkrankungen: additive Behandlung zur Kräftigung und Regeneration nach Chemotherapie und Bestrahlung

kUntersuchungsbefunde

55 Zunge: geschwollen, dicker weißer Belag. 55 Puls: oberflächlich, gespannt, 2. Position rechts: schwach, tief. kKonventionelle medizinische Diagnose

Otitis media (Trommelfell gerötet, Erguss). kChinesische Diagnose

Milz-Yang- und Lungen-Yang-Mangel als Wurzel der Erkrankung mit akutem pathogenem Faktor Wind-Kälte als Manifestation. In diesem Fall ist eine gleichzeitige Behandlung von Wurzel und Manifestation angebracht, um eine weitere Progredienz der Erkrankung zu vermeiden. kTherapie

55 Befreien der Oberfläche, indem die Poren mit scharfen, heißen, schweißtreibenden Substanzen geöffnet werden und die Kälte über Schweißinduktion nach außen abfließen kann, Aktivieren der Abschwellung der Nasenschleimhaut und Stärkung des Yang von Milz und Lunge. kGrundrezeptur: Gui zhi tang (. Abb. 31.5)  

31.3.6  Fallbeispiel

55 Rm Cinnamomi (Gui zhi), 55 Rd. Paeoniae albae (Bai shao), 55 Rh. Zingiberis rec. (Sheng jiang), 55 Fr. Ziziphi jujubae (Da zao), 55 Rd. Glycyrrhizae präp. (Zhi gan cao).

Patient: Kind, 4 Jahre

kRezeptanalyse

kErstkonsultation

Dritte akute Otitis media innerhalb von 3 Monaten (jeweils mit Antibiotika behandelt) mit Seromukotympanon: das Kind ist schon den ganzen Winter über kälteempfindlich und weist chronisch zu große Mengen an weißlichem, schleimigem Sekret aus der Nase auf, es schnarcht, hat wenig Appetit und isst nur kleine Mengen von geringer Vielfalt, es klagt über weiche, nicht übel riechende Stühle mit Blähungen und Bauchschmerzen sowie über Müdigkeit. Akut sind eine neuerliche Zunahme der Ohrenschmerzen und Fieber bis 38,4 °C sowie leichtes Schwitzen festzustellen.

Die warmen, scharfen Zimtzweige entlasten die von außen zugezogene Wind-Kälte. Über eine Öffnung der Poren und Stimulierung der Schweißsekretion kann der pathogene Faktor Kälte wieder nach außen geleitet werden. Außerdem regulieren die Zimtzweige gemeinsam mit der Wurzel der Weißen Pfingstrose die Disharmonie zwischen Abwehr- und Nähr-Qi. Der frische Ingwer, ebenfalls warm und scharf, hilft den Zimtzweigen, das Äußere zu entlasten. Süßholz und Datteln tonisieren die Milz und harmonisieren so das Innere, sie stärken den Körper und verhindern ein tieferes Eindringen des pathogenen Faktors in den Körper, während die Oberfläche entlastet wird.

764

A. Meng et al.

kWiedervorstellung nach 3 Tagen

Das Fieber ist abgeklungen. Es besteht kein Ohrenschmerz mehr. Das Trommelfell ist noch gerötet. Es besteht noch immer ein Seromukotympanon, ferner eine Rhinitis und ein leichter, lockerer Husten. Der Stuhl ist weich, nicht übel riechend. kUntersuchungsbefunde

Puls: links 1. und 2.  Position tief (Yang kann nicht aufsteigen) und saitenförmig (stagnierende Feuchtigkeit äußerst sich oft in einem saitenförmigen Puls). Zunge: blass, geschwollen; Belag weiß, schlüpfrig. kTherapie ..      Abb. 31.5  Gui zhi tang (Foto: Stockert)

kZusatzrezeptur

31

Weil der Infekt besonders im Ohren-Nasen-­ Bereich vorliegt: Zugabe von Flos Magnoliae (Xin yi) und Rd. Angelicae dahuricae (Bai zhi) sowie Poria (Fu ling), Polyporus (Zhu ling) und Rh. Alismatis (Ze xie) zur Abschwellung der Nasenschleimhaut, indem das Sekret transformiert und über die Nase abgeleitet wird, sowie um die Feuchtigkeit über die Niere zu eliminieren. Zur Stärkung des Milz-Yang wird noch Rh. Zingiberis officinalis (Gan jiang) hinzugefügt. kAkupunktur

55 Oberfläche befreien: Bl 12, 55 Wind-Kälte vertreiben: Lu 7, Gb 20, LG 16, 55 Milz-Yang stärken: Moxa Ma 36, KG 12. kDiät

55 Wärmende Speisen: Suppe, Brei, Fleischbrühe, 55 schweißtreibende Tees mit frischem Ingwer und braunem Zucker (innerhalb der ersten 24 Stunden), 55 Zimt (auch die westliche traditionelle Medizin verwendet Wickel, Sauna, schweißtreibende Tees!).

Um den Wassermetabolismus zu verbessern, wird mit folgender Rezeptur für 30 Tage fortgefahren: kRezeptur: Ling gui zhu gan tang

55 Poria (Fu ling), 55 Rm.Cinnamomi (Gui zhi), 55 Rh. Atractylodis macrocephalae (Bai zhu), 55 Rd. Glycyrrhizae präp. (Gan cao). kRezeptanalyse

Die o.  g. Arzneien bewirken eine verbesserte Transformation der „lästigen“ Feuchtigkeit und initiieren auch eine Zirkulation der in den diversen Körperhöhlen eingeschlossenen Feuchtigkeit. Die im Mittelohr festgesetzte Feuchtigkeit kann mit Zusatz von Rd. Angelicae dahuricae (Bai zhi) oder Fl. Magnoliae (Xin yi) durch Öffnen der Nase gezielt eliminiert werden. Wenn die Feuchtigkeit eher in der Lunge rasselt, werden schleimlösende Substanzen wie Rh. Pinelliae (Ban xia), Sm. Armeniacae (Xing ren), Fr. Trichosanthis (Gua lou), Bl. Allii macrostemi (Xie bai) oder Pc. Citri ret. (Chen pi) dazugegeben. kDiät

55 Wärmende Speisen: gedämpftes Gemüse, gekochtes Getreide (Reis, Hirse), 55 aromatische, wärmende und trocknende Gewürze wie getrockneter Ingwer,

765 Traditionelle chinesische Medizin

­ ardamom, Safran, Nelken, getrocknete K ­biologische Zitronen- und Orangenschalen, Safran, Piment, Korianderkörner, 55 wenig Milch und Milchprodukte, 55 kurzfristig wenig Salat und frisches Obst. kWiedervorstellung nach einem Monat

Es ist kein weiterer Infekt aufgetreten, der Stuhl ist fester, das Kind beim Essen weniger „heikel“, es hat mehr Appetit, es tritt kein Schnarchen mehr auf. kTherapie

Die letzte Rezeptur soll nur sporadisch bei Müdigkeit eingesetzt werden; bei evtl. neuerlichem akutem Infekt: Gui zhi tang bei Bedarf für 2 Tage. kWiedervorstellung nach weiteren 2 Monaten

Obwohl im Kindergarten alle anderen Kinder krank waren, hatte das Kind nur eine leichte Rhinitis für 5  Tage (und von Mutter 2  Tage lang Gui zhi tang bekommen). Seither ist es wieder gesund. Trommelfell: bland, kein Erguss, Gehörtest: o. B. 31.3.7  Forschung und

wissenschaftliche Studien

Die chinesische Phytotherapie wird derzeit intensiv beforscht. Dies liegt daran, dass die pharmazeutische Industrie das Potenzial der Arzneien erkannt hat und nun gemeinsam mit der VR China, als Produzent und Verteiler, zunehmend wirtschaftliches Interesse an neuen Substanzen zeigt. Arzneien, die jahrhundertelang als Bestandteile von Rezepturen angewandt wurden, werden nun auf ihre Inhaltsstoffe hin extrahiert, isoliert und quantifiziert und mittels pharmazeutischer, biochemischer und molekularbiologischer Methoden analysiert. Dadurch ist in den nächsten Jahren mit einer großen Menge von neuen Substanzen für die Medizin zu rechnen. Schon im vorigen Jahrhundert hat man Ephedrin aus Hb. Ephe-

31

drae zur Bronchiendilatation und Artemisinin aus Hb. Artemisiae annuae zur Malariabehandlung großflächig eingesetzt, für dessen Erforschung die chinesische Pharmakologin Youyou Tu 2015 den Nobelpreis für Medizin erhielt. Alleine im letzten Jahr erschienen über 400 Publikationen in Impact-Factor-gereihten Journals; sie sind unter 7 https://www.­ncbi.­ nlm.­nih.­gov/pubmed/ abrufbar. Aus traditioneller chinesischer Sicht werden nicht, wie in 7 Abschn.  31.3.3 eingehend erläutert, pharmazeutische Einzelsubstanzen verwendet, sondern viele Arzneien gemeinsam mit unzähligen chemischen Einzelinhaltsstoffen, in einem empirisch ermittelten, perfekten Zusammenspiel. Wissenschaftliche Studien lassen sich in 3 Bereiche unterteilen: 55 Nachweis der Wirkung und Nebenwirkungen ganzer Rezepturen bei gewissen Indikationen, 55 Nachweis der Wirkung und Nebenwirkungen von Inhaltsstoffen von Einzelarzneien bei bestimmten Indikationen, 55 pharmazeutische Grundlagenforschung über Inhaltsstoffe, pharmakologische und molekularbiologische Wirkmechanismen und Wechselwirkungen.  



kNachweis der Wirkung und Nebenwirkungen ganzer Rezepturen

Der Wirkungsnachweis ganzer Rezepturen mit bis zu 10  Einzelarzneien, deren Verwendung zwar seit 2000 Jahren in China üblich ist und dem komplexen, integrativen und individuellen Ansatz der TCM entspricht, deren pharmazeutische Einzelbestandteile jedoch nur teilweise bekannt sind, ist im Rahmen randomisierter Doppelblindstudien schwierig und umstritten. Efficacy-Studien gehen davon aus, dass die getestete Substanz oder Methode besser sein muss als Plazebo. Trotzdem werden immer wieder Arbeiten in guten Peer-Review-­ Journals publiziert. Um den komplexen, integrativen und individuellen Ansatz der TCM zu überprüfen, stellen wahrscheinlich in Zukunft eher Compa-

766

A. Meng et al.

rative-Effectiveness-Research(CER)-Studien

ein besseres Instrument dar. CER bietet den Forschern die Möglichkeit, das Krankheitsmanagement zu verbessern, indem sie nicht Verum mit Plazebo, sondern zwei oder mehrere Gesundheitsinterventionen vergleichen (meist auch mit einer etablierten konventionellen Methode) und dabei ermitteln, welche dieser Optionen am besten bei welchen Patienten wirkt, und zwar in einem Rahmen, der dem ähnlich ist, in dem die Intervention in der Praxis danach auch wirklich stattfinden wird. Dadurch müssen die Einschlusskriterien nicht so selektiv sein. Diese Studien sind zwar weniger objektiv, aber patientenzentrierter; sie können und werden somit für gesundheitspolitische und gesundheitsökonomische Entscheidungsprozesse von großer Bedeutung sein (Witt et al. 2012). zz Studienbeispiele

Srivastava et al. (2005) zeigten, dass eine modifizierte Rezeptur aus Wu mei wan (FAHF-2; . Tab. 31.4), das 200 n. Chr. erstmals beschrie 

31 ..      Tab. 31.4 Modifiziertes Wu mei wan: FAHF-2 (Daten aus Srivastava et al. 2005) Bestandteil

% der Gesamtmenge

Fr. Mume (Wumei)

28,17

Ganoderma Lucidum (Ling zhi)

28,17

Pc. Zanthoxyli (Chuan jiao)

1,41

Rh. Coptidis (Huang lian)

8,46

Co. Phellodendri (Huang bai)

5,63

Rh. Zingiberis off. (Gan jiang)

8,45

Rm. Cinnamomi (Gui zhi)

2,81

Rd. Ginseng (Ren shen)

8,45

Rd. Angelicae sin. (Dang gui)

8,45

ben (Zhang Zhongjing 1997) und damals gegen Askaridenbefall eingesetzt wurde, anaphylaktische Reaktionen bei Mäusen mit Erdnussallergie komplett eliminieren konnte, während alle mit Plazebo behandelten Mäuse schwere anaphylaktische Reaktionen entwickelten. Nach 7-wöchiger Therapie ließ sich eine Reduktion der Th2-Immunantworten mit, im Vergleich zu Plazebo und einer nichtbehandelten Gruppe, reduzierten Werten von IL-4, IL-5 und IL-13 und erhöhten IFN-γWerten nachweisen. Diese Verbesserung hielt noch 5  Wochen nach Therapieende an. (. Abb. 31.6). Auch das Potenzial von chinesischen Rezepturen bei malignen Tumoren wird mit großem Interesse untersucht. So konnten Cao et al. (2013) zeigen, dass die TCM-Rezeptur Jie du xiao zheng yin in Form eines Ethylacetat-­ Extrakts über eine Hemmung des Zellzyklus in der G0/G1-Phase die Proliferation von hepatozellulären Karzinomen unterdrücken kann. In einem systematischen Review (Wang et al. 2013) von 10 randomisierten Studien an 1024  Patienten mit essenzieller Hypertonie wurde die bessere Wirksamkeit der Rezeptur Qi ju di huang wan in Kombination mit antihypertensiver Medikation im Vergleich zu ausschließlicher antihypertensiver Therapie nachgewiesen. Es wurden keine Nebenwirkungen beobachtet. Bereits mehrmals überprüft wurde die TCM-Rezeptur Suan zao ren tang (SZRT) gegen Schlafstörungen: Yuan et  al. (2009) fanden beim Vergleich von SZRT mit Benzodiazepinen (Estazolam) nach 7 Behandlungstagen in beiden Gruppen gute therapeutische Effekte, nach 14  Tagen war der Effekt in der SZRT-­Gruppe besser als in der Estazolam-Gruppe. Nach Absetzen der Medikation in beiden Gruppen war die Rückfallquote in der SZRT-­ Gruppe deutlich geringer als in der Estazolam-­Gruppe. She (2009) zeigte eine signifikant stärkere Verbesserung des Pittsburgh Sleep Quality Index einer SZRTGruppe im Vergleich zu 5  mg Diazepam.  

31

767 Traditionelle chinesische Medizin

1400

120 IL-5, pg/ml

IL-4, pg/ml

1200

PN Med

100 80 60 40

**

20

1800 1600 1400 1200 1000 800 600 400 200 0

800 600 ***

400 200

Sham

FAHF-2

0

Naive

Sham

2000 PN Med IFN-γ, pg/ml

IL-13, pg/ml

0

PN Med

1000

** Sham

FAHF-2

Naive

FAHF-2 **

1500

Naive PN Med

1000 500 0

Sham

FAHF-2

Naive

..      Abb. 31.6  Zytokinspiegel in Splenozytenkulturen nach Erdnuss-Challenge (5 Wochen nach Therapieende). Ergebnisse ausgedrückt als Mittelwert (± Stan-

dardabweichung), **p < 0,01, ***p > In der Praxis werden Befunde und notwendige Therapien aus der westlichen konventionellen Medizin berücksichtigt, sodass von einem ganzheitlichen und integrativen Ansatz gesprochen werden kann.

Die Grundzüge der Diagnostik sind: zz Befragung

Bei der Befragung, die auch mittels elektronischer Fragesysteme erfolgen kann (s.  oben), werden neben aktuellen Haupt- und Nebenbeschwerden auch die komplette Krankheitsgeschichte inkl. Unfälle, Operationen und Geburten sowie bisherige Erkrankungen und Therapien erfasst.

>> Das einfühlsame, persönliche Gespräch fördert zudem das gegenseitige Vertrauen und kann somit die Therapietreue verbessern.

zz Betrachtung

Der diagnostische Blick kann in wenigen Sekunden zahlreiche Einzelheiten erfassen wie Körperform, Bewegung, Haltung, Gestik, Mimik und Hautfarbe. Diese Faktoren ermöglichen Rückschlüsse auf Konstitution, Vitalität und Prognose. Besondere Beachtung findet die Zunge, die z. B. den Zustand von Ki, Ketsu und Sui wiederspiegelt. zz Berührung

Das Betasten der Radialis-Pulse beider Handgelenke dient der Bestimmung der Befundkonstellation. In der Kampō-Medizin nimmt jedoch als besondere Eigenheit die Bauchpalpation (Fukushin) eine zentrale Rolle ein. Sie unterscheidet sich von der Bauchpalpation in der japanischen Akupunktur. Fukushin ist leichter zu erlernen als Pulsdiagnostik; sie kann diese nicht gänzlich ersetzen. Prinzipiell lässt sich jedem Krankheitsmuster ein entsprechendes Bauchbild zuordnen, das sich aus mehreren Aspekten wie Muskelspannung, Aortenpuls, Peristaltik oder Druckempfindlichkeit in bestimmten Regionen zusammensetzt. Die Topographie der inneren Organe spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Japaner haben eine besondere Beziehung zum Bauch als zentralem Sitz von Lebenskraft und Emotionen, was sich in vielen Redewendungen der japanischen Sprache wiederspiegelt. Die Auffassung, chronische Krankheiten würden von den Eingeweiden ausgehen, mag zur Bedeutung der Bauchdiagnostik geführt haben.

782

B. Kostner et al.

In . Tab.  32.3 sind einige grundlegende Palpationsbefunde aufgeführt. Es erfordert ein gutes Gespür und Erfahrung, um dieses Wissen erfolgreich in die Praxis umzusetzen.  

32.1.4  Therapie

Kampō bedeutet im engeren Sinn die Arzneitherapie mit Naturstoffen vorwiegend pflanzlicher Herkunft und unterscheidet sich von westlicher Phytotherapie in grundlegenden Punkten: 55 Es gibt eine durchgehende Tradition, welche auf jahrtausendealte schriftliche Quellen Bezug nimmt.

..      Tab. 32.3  Häufige Bauchbefunde und deren Bezeichnung

55 Es gilt die Auffassung, dass erst die spezielle Kombination einzelner Stoffe die mehrdimensionale Arzneiwirkung erzeugt. 55 Es besteht ein anderes grundlegendes Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Etwa 250  Einzelarzneimittel werden zu 200 bewährten Rezepturen kombiniert, welche sich in der Mehrzahl von der klassischen TCM ableiten. Einige wurden von herausragenden japanischen Ärzten entwickelt, etwa die Rezeptur Shichimotsu-Kōka-Tō (chinesisch: Qi Wu Jiang Sha Tang) von Dr. Keisetsu Otsuka, die gegen innere Blutungen eingesetzt wird. Eine Rezeptur enthält zwischen 5 und 15  Einzelarzneien. In der KampōLehre werden die Formeln gerne nach Leitsubstanzen geordnet. Die wichtigsten sind . Tab.  32.4 aufgeführt. Dadurch lässt sich die Arznei sowohl rasch einem klinischen Bild zuordnen als auch mit verwandten Formeln effektiver kombinieren. Vor Beginn der Globalisierung wurden die meisten Arzneipflanzen in Japan angebaut, und teilweise wurden in den Rezeptu 

32

Fukubu nanjyaku muryoku

Schlaffe Bauchdecke

Fuku man

Aufgetriebener Bauch

Shin ka hi

Epigastrischer Schmerz

Shin ka hi kō

Oberbauch-Resistenz

Kyōkyoku man

Subkostaler Schmerz

Kyōka hikō

Subkostale Resistenz

Shinka bushin suion

Fluktuationsgeräusche

Rikkyū

Muskelspasmen

Shōfuku kōman

Unterbauch-­ Sensitivität

Shōfuku fujin

Schlaffer Unterbauch

Shōfuku kōkyū

Unterbauch-­ Muskelhärte

..      Tab. 32.4  Kampō-Arzneimittel, von denen Formelfamilien abgeleitet werden können Japanischer Name

Lateinischer Name

Keishi

Cinnamomum cassia

Saiko

Bupleurum falcatum

Ōren

Coptis japonica

Mao

Ephedra sinica

Bushi

Aconitum carmichaeli

Jiō

Rehmannia glutinosa

Shōfuku kyūketsu

Unterbauch-Blutstase

Ninjin

Panax ginseng

Fukubu dōki

Aortenpulsationen

Sekkō

Gypsum fibrosum

Seichūshin

Verdickte Linea alba

Daiō

Rheum palmatum

Zendō fuon

Fühlbare Peristaltik

Tōki

Angelica acutiloba

783 Traditionelle japanische Medizin

ren die chinesischen Originalpflanzen durch heimische, artverwandte Pflanzen ersetzt. Beispielsweise wird heute noch Cnidium officinale anstelle von Ligusticum chuanxiong verwendet. In Österreich sind bis dato nur Importwaren aus China oder Taiwan, die für die KampōPraxis verwendet werden können, über Apotheken erhältlich. In Deutschland wurden bislang Tinkturen aus japanischen Rohdrogen verwendet, doch wegen zu geringer Nachfrage und zu hohen Kosten war die Verfügbarkeit zuletzt nicht gesichert. Es wurde, unter Berufung auf spezielle Präparationen der japanischen Heilmittelhersteller, von Experten darüber diskutiert, ob authentisches Kampō ausschließlich mit Arzneidrogen aus Japan praktizierbar sei. Tatsächlich sind in Japan die Qualitätsanforderungen für Arzneimittel besonders hoch, und durch Feinschnittpräparationen gelingt es, die Dosis beträchtlich einzusparen. Es ist eine bedauerliche Tatsache, dass Japan heute in hohem Maße von China abhängig geworden ist, was Importe an Kampō-­Rohstoffen betrifft, obwohl es noch vor 100 Jahren fast au­ tark war. Neuerdings gibt es aber wieder Anstrengungen, den Anbau im eigenen Land zu fördern. Auch in der EU gibt es Projekte zur Förderung des Anbaus ostasiatischer Heilpflanzen.

32

55 55 55 55 55 55 55 55

Chronische Schmerzsyndrome Immunologische Abwehrschwäche Allergien Infertilität Schwangerschaftsprobleme Klimakterische Beschwerden Neurodermitis Neurodegenerative und geriatrische Erkrankungen 55 Postoperative Komplikationen 55 Funktionelle Störungen und Infektneigung in der Pädiatrie

Kampō-Medizin ist bei folgenden Krankheitsbildern primär nicht anzuraten: Kontraindikationen für die Kampō-­ Medizin 55 Krebs im Frühstadium 55 Schwere Verlaufsformen von Autoimmunerkrankungen (wie etwa rheumatoide Arthritis) 55 Akute psychiatrische Krankheitsbilder 55 Prinzipiell alle akuten Krankheitsbilder, die einer Abklärung oder Therapie im Krankenhaus bedürfen

32.1.5  Indikationen

32.1.6  Ablauf einer Konsultation

Die Anwendungsbreite für Kampō-Medizin ist sehr groß, da nicht nur Erkrankungen, sondern auch konstitutionelle Schwächezustände behandelt werden können. Seit langem kennt die Kampō-Medizin den Begriff Mibyō, der dem von der WHO geprägten Begriff sub-­ health nahekommt. Krankheit soll bereits vor dem Ausbruch verhindert werden.

In der Kampō-Ambulanz eines japanischen Universitätsklinikums in Tokio werden bereits im Warteraum Tablets zur Patientenbefragung angeboten. Die ärztliche Konsultation dauert dann oft nur wenige Minuten. Dort wird im Wartebereich ein elektronisches Fragesystem verwendet, das Patienten auf einem iPad bearbeiten. In Österreich können bis dato (Stand 2017) nur Privatpatienten in den Genuss einer Kampō-Behandlung kommen, und dabei erwarten sie mehr Zeit und Zuwendung als in konventionell arbeitenden Praxen. Eine Erstbehandlung dauert 40–

Häufige Anwendungsgebiete der Kampō-Medizin 55 Funktionelle Störungen

784

B. Kostner et al.

60  Minuten, weitere Behandlungen jeweils 20–30 Minuten. Dem ausführlichen Anamnesegespräch folgt die körperliche Untersuchung. Daran schließen sich die gemeinsame Planung der weiteren Vorgehensweise sowie Empfehlungen zur Lebensführung an. Abschließend wird ein Rezept für eine oder mehrere geeignete Arzneiformeln ausgestellt. Nach 2–6 Wochen stellt sich der Patient erneut vor, bei akuten Ereignissen früher. Bei rezidivierenden Beschwerden kann sowohl eine Arznei für den akuten Bedarf als auch eine weitere zur Prävention verordnet werden, damit der Patient zwischendurch nicht in die Praxis kommen muss. Außerdem können neue Befunde und Verordnungen zwischen den Arztbesuchen mithilfe von modernen Kommunikationsmitteln übermittelt werden, und der Patient spart Zeit und Geld. >> Der regelmäßige persönliche Kontakt ist dennoch unerlässlich.

32

32.1.7  Fallbeispiel Patientin, 52 Jahre kKonventionell-medizinische Diagnose: Restless-Legs-Syndrom (RLS; ICD-10: G25)

RLS ist eine neurologische Krankheit, charakterisiert durch den unwiderstehlichen Drang der Betroffenen zur Bewegung. Die Symptome verschlechtern sich in Ruhe und bessern sich bei Aktivität. Obwohl eine genetische Prädisposition diskutiert wurde, sind die genauen Pathomechanismen nicht bekannt. kKonventionelle Therapie

Synthetische Arzneimittel können das Krankheitsbild lindern, haben jedoch erhebliche Nebenwirkungen. Im vorliegenden Fall hatte ein neurologischer Facharzt die Diagnose gestellt und Levodopa verordnet, das jedoch von der Patientin wegen Nebenwirkungen bald abgelehnt wurde.

kKampō-Diagnose

Die Patientin wird in der Praxis des Autors vorstellig, in der Hoffnung auf Linderung der Beschwerden und um einer Verschlechterung vorzubeugen. Die Bauchdiagnose zeigt das Bild einer Nierenschwäche und Oketsu. kKampō-Therapie

Nach einigen erfolglosen Therapieversuchen wird die Kampō-Formel Kanbakutaisōtō (TCM: Ganmaidazaotang) verordnet, wodurch es innerhalb von 2  Wochen gelingt, die Symptome erheblich zu lindern. Die Patientin erlebt jedoch nach wie vor Phasen einer Verschlechterung, die insbesondere durch Wärme hervorgerufen werden. Erst die Rezeptur Shakanzotō (TCM: Zhigancaotang) bringt eine lang andauernde Beschwerdefreiheit. Die Behandlung wird mit regelmäßigen therapiefreien Intervallen seit 7 Jahren durchgeführt. Regelmäßige Blutdruckund Laborkontrollen ergeben normale Befunde. 32.1.8  Studien/Evidenzlage zz Veilleux et al. (2018)

Diese Übersichtsarbeit gibt einen umfassenden Überblick über die Anwendung von KampōArzneimitteln zur Behandlung von Erkrankungen der Mundhöhle und des Parodontes. Die pharmakologischen Wirkungen der einzelnen Arzneimittel werden tabellarisch aufgelistet. Diese aktuelle Publikation zeigt auch, wie vielfältig die Bereiche sind, in welchen die traditionelle japanische Medizin sinnvoll Verwendung findet. zz Motoo et al. (2014)

Die Publikation analysiert über 378 randomisierte klinische Studien zur Kampō-Medizin hinsichtlich der Anwendung traditioneller Diagnostikmethoden vor und nach der Randomisierung und kommt zu dem Ergebnis, dass bei rund 85 % der Studien die traditionelle Diagnostik vernachlässigt worden war. Die Autoren erörtern auch die Fragestellung, inwieweit die traditionelle Diagnostik die Wirksamkeit und Sicherheit der Kampō-­Arzneimittel verbessern kann.

785 Traditionelle japanische Medizin

zz Tominaga und Arakawa (2013)

Diese Literaturübersicht gibt einen aktuellen Überblick über die derzeit gebräuchlichen Kampō-Arzneimittel zur Behandlung von Magen-Darm-Erkrankungen, welche weltweit eine hohe Prävalenz aufweisen. Die Wirksamkeit zeigt sich u. a. bei Refluxkrankheit, funktioneller Dyspepsie, Reizdarmsyndrom und chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen. Unter der nachstehenden Internetadresse veröffentlicht die Japan Society for Oriental Medicine die Zusammenfassungen von mehreren hundert klinischen Studien: 7 http:// www.­j som.­o r.­j p/medical/ebm/ere/index.­h tml . Auch die Datenbank PubMed enthält weit über 1000 Einträge zum Thema: 7 https:// www.­ncbi.­nlm.­nih.­gov/pubmed/.  

32

der. Die Homepage der Gesellschaft beinhaltet eine öffentliche Datenbank mit Zusammenfassungen von randomisierten, klinischen Studien in englischer Sprache (7 http://www.­jsom.­ or.­jp/english/index.­html). Die JSOM publiziert das Japanese Journal of Oriental Medicine.  

kPharmaceutical Society for Wakan-Yaku (Traditional Japanese Medicine)

Die Pharmazeutische Gesellschaft für Traditionelle Japanische Medizin wurde 1984 gegründet und hat ihren Sitz in Toyama/Japan. Sie veranstaltet regelmäßig Kongresse in Japan und publiziert auch ein Online-Journal für ihre Mitglieder (7 http://www.­wakan-iyaku.­gr.­jp/­eng/).  



32.1.9  Ausbildungsprogramm

Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches gibt es in der EU kein einheitliches Ausbildungsprogramm in Kampō, es wurden bisher nur in Deutschland Kurse von der DÄGFA (Deutsche Ärztegesellschaft für Akupunktur) und in Österreich von der ÖGA (Österreichische Gesellschaft für Akupunktur) veranstaltet. Hauptvortragende in Deutschland waren bisher Dr. Heidrun Reissenweber und Dr. Ullrich Eberhard, in Österreich der Autor dieses Beitrags. Adressen, Links

kAnlaufstelle

Dr. med. Bernd Kostner Hochstrasse 4 A-1230 Wien [email protected]

Fachgesellschaften und Publikationen kJSOM

In Japan gibt es mehrere ärztliche Gesellschaften, die sich der Lehre, Forschung und Verbreitung der Kampō-Medizin widmen. Die bekannteste ist die Japanese Society for Oriental Medicine, abgekürzt JSOM. Sie wurde 1950 gegründet, hat ihren Hauptsitz in Tokio und zählte laut Homepage 2016 etwa 9000 Mitglie-

kISJKM

Die Internationale Gesellschaft für Traditionelle Japanische Kampō-Medizin mit Sitz in London wurde 2009 gegründet. Sie hat eine enge Anbindung an die JSOM und veranstaltet gemeinsam mit dieser etwa alle 2 Jahre ein internationales Symposium (7 http://www.­isjkm.­com).  

kÖGA

Die Österreichische Gesellschaft für Akupunktur wurde 1954 gegründet und widmet sich seither der ärztlichen Aus- und Weiterbildung in Akupunktur und anderen fernöstlichen Heilmethoden sowie der Veranstaltung von wissenschaftlichen Kongressen. Sie hat ihren Sitz in Wien und hat 2017 etwa 1400 Mitglieder. Die ÖGA steht in enger Zusammenarbeit mit einer Akupunkturambulanz der Stadt Wien (7 http://www.­akupunktur.­at).  

kDÄGFA

Die Deutsche Ärztegesellschaft für Akupunktur besteht seit 1951, hat ihren Sitz in München und zählt 2017 laut Homepage an die 9000 Mitglieder. Sie widmet sich der Verbreitung der Akupunktur und verwandter Methoden (7 http://www.­daegfa.­de).  

kDeutsche Zeitschrift für Akupunktur (DZA)

Die DZA (Verlag Elsevier/Urban & Fischer, ab 2018 Springer) ist die auflagenstärkste

786

B. Kostner et al.

deutschsprachige Fachzeitschrift, die sich der Erforschung und Anwendung fernöstlicher Medizin widmet. Sie erscheint vierteljährlich. Sie fungiert auch als Organ mehrerer Fachgesellschaften wie der ÖGA und der DÄGFA. Zusammenfassung 55 Die japanische Kampō-Medizin ist ein herausragendes Beispiel für eine in ein modernes Gesundheitssystem bestens integrierte traditionelle Heilkunde. 55 Gerade in einer Gesellschaft mit einem hohen Anteil an alten Menschen ermöglicht das Modell auch große Einsparungen im Gesundheitswesen. 55 Basierend auf der TCM ist Kampō leichter zu erlernen als diese und im klinischen Alltag auch sicherer anzuwenden. 55 Industriell hergestellte Kampō-Arzneimittel entsprechen dem globalen pharmazeutischen Standard. 55 Eine große Zahl an Publikationen auch in englischer Sprache ist über das Internet frei ­zugänglich.

32

32.2  Shōnishin Thomas Wernicke 32.2.1  Historischer Überblick

Shōnishin in Japan Shōnishin - Wörtlich übersetzt bedeutet der Begriff Shōnishin „Kleinkindnadelung“ (shōni: Kleinkind, shin: Nadel/Nadelung).

Die Kinderheilkunde wurde erstmals in China im Nei Jing (vermutlich um 300 v.  Chr.) erwähnt. Kinder wurden jedoch bis zur Han-­ Dynastie (etwa 200 n.  Chr.) wie Erwachsene behandelt, obwohl im alten China Kinder nicht einfach als kleine Erwachsene angesehen wurden, sondern sowohl körperlich wie auch funktionell als unreif.

Im 8.–9. Jh. gelangten durch die ersten japanischen Gesandten Schriften aus dem 6. Jh. von China nach Japan. In diesen wurde auch die Behandlung von Tandoku (Erysipel beim Kleinkind) mit Akupunktur erwähnt. In späteren, aus dem 10.–14. Jh. stammenden japanischen Schriften finden sich Sätze wie „mit Nadeln das Blut ausstechen“ (Ozaki et al. 2012). Shōnishin taucht als Begriff erstmalig in einer chinesischen Schrift aus der Ming-Zeit um 1537 auf (chin. Xiao Er Zhen), doch bereits 4  Jahrhunderte vorher, während der Song-­Dynastie, wurde das erste Lehrbuch der Kinderheilkunde durch den Kinderspezialist Qian Yi geschrieben. Dieser stellte Kinder als eigene Wesen dar, die sich von den Erwachsenen unterscheiden. Kinder wurden in Japan wie folgt behandelt: An sog. Azeketsu-Punkten (Ach-das-ist-­es!) und Tsubos (Akupunkturpunkte) wurde mit Akupunkturnadeln leicht und kurz gestochen. Im 19.  Jh. hatte sich der Beruf des Shōni­ shin-Akupunkteurs im Großraum Osaka soweit etabliert, dass viele Kinder fast regelmäßig mit Shōnishin behandelt wurden. So waren 1845 im Arztregister von Osaka 4  Namen im Fachbereich Shōnishin gelistet  – das genügte jedoch nicht, um der hohen Nachfrage nach Shōnishin nachzukommen. Somit gab es neben dem Monopol der wenigen Etablierten auch viele niedergelassene Praktiker, die täglich bis zu 200 kleine Patienten behandelten. Dieser Boom führte auch zu kritischen Stimmen. So äußerte sich in seinem Erziehungsbuch aus dem Jahr 1903 ein japanischer Kinderarzt über die Verbreitung der Shōnishin-Praxis:

»» „… insbesondere in der Region Osaka

scheint es beinahe ein Volksglaube zu sein, so dass es nicht übertrieben ist zu sagen, es gäbe dort kein Kind, das nicht akupunktiert worden wäre. Ich rate jedoch zu mehr Zurückhaltung, da durchaus die Gefahr besteht, dass durch heftige Reize auf die kindlich empfindlichen Nervensysteme die Entwicklung des Hirns beeinträchtigt werden kann.“ (Ozaki et al. 2012)

787 Traditionelle japanische Medizin

Diese Aussage lässt den Schluss zu, dass bis in das 20. Jh. hinein Shōnishin als invasive Nadelakupunktur für Kinder zu verstehen ist. Erst Anfang des 20. Jh. etablierte sich Shōnishin als nichtstechende Therapiemethode. Die Aussage eines japanischen Arztes, dass Behandlungsmethoden, bei denen die Haut von Kindern kaum berührt werde, eher wirkungsvoll sein können als die gewöhnliche Stechmethode, führte wohl dazu, dass die nichtinvasive Methode der Kinderbehandlung zunehmend anerkannt wurde (Bun’ichi 2004). So hatten sich im Großraum Osaka mehrere Schulen etabliert, die das nichtinvasive Shōnishin bis heute lehren und ausüben. Die wichtigsten Schulen sind die Yoneyama-­Schule, die Morinomiya-Schule, die Shimizu-­Schule und die Daishi Hari-Schule. Letztgenannte ist die in Japan bekannteste. Sie wurde 1888 von Sutezo Tanioka gegründet und wird nun in der 3.  Generation von Masanori Tanioka fortgeführt. Seinem unermüdlichen Einsatz ist es zu verdanken, dass Shōnishin über die Grenzen Japans hinaus bekannt wurde.

 erbreitung von Shōnishin im V Westen Seit Anfang 2000 lässt sich ein stetig wachsendes Interesse an Shōnishin auch außerhalb Japans, besonders im europäischen, speziell im deutschsprachigen (Deutschland, Österreich, Schweiz) und englischsprachigen Raum (USA, Kanada, Großbritannien und Australien), beobachten. Gründe für die zunehmende Verbreitung von Shōnishin in westlichen Ländern 55 Ärztliche sowie nichtärztliche Akupunkteure erkennen im Shōnishin eine wesentliche Bereicherung ihres Behandlungsspektrums; das zunehmende Interesse ist darin begründet, dass mit Shōnishin dem ganzheitlichen Anspruch Rechnung getragen wird und die Behandlungserfolge für sich sprechen.

32

55 Die einfache und äußerst effektive Behandlungsweise macht Shōnishin bei Therapeuten äußerst beliebt – und nicht nur bei ihnen, auch Kinder mögen die Behandlung, denn sie fühlt sich ausgesprochen angenehm an. 55 Diese Behandlungsform lässt sich fachgruppenspezifisch anwenden; abhängig vom beruflichen Hintergrund des Shōnishin-Akupunkteurs – Arzt, Heilpraktiker, Shiatsu-Practitioner, Physiotherapeut oder Hebamme – sind das Patientenkollektiv und damit auch die Indikationen unterschiedlich.

kHebammen

Etwa 40  % aller Hebammen in Deutschland haben eine Akupunkturausbildung – und erfüllen damit die Voraussetzung, sich in Shōnishin weiterbilden zu lassen. Für sie bietet Shōnishin hervorragende Möglichkeiten, Neugeborene mit Trinkschwäche, Bauchschmerzen oder Entwicklungsverzögerung oder auch „Schreibabys“ zu unterstützen. Bei Vorliegen einer Nadelphobie stellt Shōnishin bei Schwangeren eine Alternative in der Geburtsvorbereitung dar oder dient als unterstützende Maßnahme bei Wöchnerinnen mit Rückbildungsschwäche oder Milchstau. kOrthopäden

Das Anwendungsgebiet von Shōnishin unterscheidet sich von dem bei Hebammen. Es stehen hauptsächlich Kinder mit Problemen des Haltungs- und Bewegungsapparats im Vordergrund. kKinderärzte

Sie wenden Shōnishin bevorzugt bei Säuglingen mit Problemen des Verdauungsapparats, der Atemorgane und bei Entwicklungsstörungen an; bei größeren Kindern dominieren Allergien und Neurodermitis. kAllgemeinmediziner

Es geht eher um Kinder oder Jugendliche, deren Themenspektrum Konzentrationsstörun­gen in der Schule, ADHS oder Bettnässen umfasst.

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B. Kostner et al.

kShiatsu-Practitioner

Shōnishin wird gerne in Kombination mit Baby- oder Kinder-Shiatsu angewendet, um die Kinder in ihrer Entwicklung zu unter­ stützen. kPhysiotherapeuten

Es werden bessere Erfolge in der Behandlung von hemiparetischen Kindern vorgewiesen, weil der in der Regel gesteigerte Muskeltonus durch zusätzliche Behandlung mit Shōnishin herabgesetzt werden kann und dadurch die Kinder besser behandelbar sind. 32.2.2  Diagnostik

Energetisches Entwicklungsmodell

32

Um in Europa im medizinischen Umfeld eine „neue“ Behandlungsmethode etablieren zu können, bedarf es einer Erklärungsgrundlage. Hierzu eignet sich in besonderem Maße das von Kalbantner-Wernicke und Wernicke entwickelte energetische Entwicklungsmo­ dell, das als Grundlage für das therapeutische Vorgehen im Shōnishin dient (Wernicke und Kalbantner-­Wernicke 2017). Dieses Entwicklungsmodell geht von den zum Zeitpunkt der Geburt zunächst unvollständig entfalteten Meridianen aus, deren Entwicklung unter den Aspekten der Neurowissenschaften, der Entwicklungspsychologie und der Entwicklungsphysiologie betrachtet wird. Es besagt, dass entsprechend den motorischen und sensorischen Entwicklungsschritten auch jeder energetische Entwicklungsschritt auf einem jeweils vorher erworbenen Entwicklungsschritt aufbaut. Dabei spielen insbesondere die Meridiane eine übergeordnete Rolle. Sie stellen ein Kommunikationsnetzwerk dar, welches das Kind mit seiner Außenwelt verbindet. Über diese Verbindung ermöglichen die Meridiane die Integration von Reflexen und Reizen. Damit sind sie auch für die Entwicklung von Haltung, Bewegung, Persönlichkeits- und Verhaltensmuster eines Kindes zuständig. Dieses Wissen über

die Verflechtungen von Motorik, Sensorik und Energetik eröffnet neue Blickwinkel auf die kindliche Entwicklung, woraus spezifische Behandlungsansätze resultieren. Spannend wird es, wenn die Vernetzung zwischen Meridianen und westlicher Entwicklungsphysiologie und -psychologie sichtbar wird. Insbesondere dann, wenn erkennbar wird, welcher Meridian bzw. welche Meridiangruppe welchen Entwicklungsschritt steuern und was passiert, wenn auf dieser Vernetzungsebene eine Störung auftritt. Dieses Wissen bildet die Grundlage für die Behandlung von Kindern jeglicher Altersstufe mit Shōnishin.

Meridianentwicklung Ebenso wie das motorische und sensorische System hat sich das energetische System zum Zeitpunkt der Geburt eines Kindes noch nicht vollständig ausdifferenziert. Nach traditioneller sinojapanischer Vorstellung ist mit dem energetischen System die Existenz von Meridianen verbunden, die demnach ebenfalls noch nicht vollständig entwickelt sein können. Die Meridiane stellen ein Leitbahnensystem dar, in denen die Energie Qi (chin.) bzw. Ki (jap.) fließt. Entsprechend der motorischen und sensorischen Entwicklung findet auch eine schrittweise „Meridianreifung“ statt. Hierzu sind Stimuli nötig, auf die die noch nicht spezifizierten Meridiane auf unterschiedliche Weise reagieren – oder auch nicht. Erst mit dem Erreichen des Erwachsenenalters kann davon ausgegangen werden, dass sich das Meridiansystem vollständig entfaltet hat.

Drei Familien Bei genauerer Betrachtung ist die Entfaltung des Meridiansystems folgendermaßen vorstellbar: Zunächst arbeiten während des 1. Lebensjahres jeweils vier der späteren zwölf Hauptmeridiane eng als Gemeinschaft zusammen, sodass insgesamt von drei Gruppen mit jeweils vier noch nicht ausdifferenzierten Meridianen ausgegangen werden kann. Um die enge Vernetzung der jeweils sich entwickelnden vier Meridiane innerhalb jeder dieser drei Gruppen

789 Traditionelle japanische Medizin

noch deutlicher zu beschreiben, wurde die Bezeichnung „Familien“ gewählt. Zur besseren Unterscheidung, welche der drei Familien im entsprechenden Fall gemeint ist, werden sie zusätzlich nach ihrer Lokalisation am Körper benannt: vordere, hintere und seitliche Familie. Die drei Meridianfamilien unterscheiden sich in ihrer Gruppenwirksamkeit. So hat z. B. jede Familie ihr spezielles Lebensthema. Die Grundlagen zur Entfaltung dieser drei Familien mit ihren speziellen Lebensthemen werden bis zum Zeitpunkt des freien Laufens gelegt. Auf dieser Entwicklungsebene reift heran, wie sich das Kind später durch das Leben bewegen und durch welche Brille es die Welt betrachten wird. Hier wird das Fundament gebildet, auf dem die weitere energetische Entwicklung stattfindet.

32

..      Abb. 32.4  Vordere Familie

Die drei Meridianfamilien 55 Vordere Familie: Diese gibt den Anstoß, die eigene Mitte zu finden, was sowohl die Motorik als auch den emotionalen Bereich betrifft. Auch das Spüren der eigenen Grenzen und der der anderen Menschen sind Aspekte dieser Familie (. Abb. 32.4). 55 Seitliche Familie: Die meisten Alltagsbewegungen sind auf der Rotation des Körpers aufgebaut. Das Drehen vom Rücken auf den Bauch im Babyalter und etwas später auch wieder zurück auf den Rücken sind die ersten Rotationsübungen; sie entstammen der seitlichen Familie. Ebenso zählen die körperliche, geistige und soziale Flexibilität zu dieser Familie (. Abb. 32.5). 55 Hintere Familie: Der Entwicklungsschritt beim Baby vom Unterarmstütz in Bauchlage in den Vierfüßlerstand oder auch die morgendliche Aufrichtung aus dem Bett als Erwachsener sind Qualitäten der hinteren Familie. Aus dieser Familie stammt der Impuls für die innere und äußere Aufrichtung (. Abb. 32.6).

..      Abb. 32.5  Seitliche Familie







..      Abb. 32.6  Hintere Familie

Sechs Achsen (Keiraku) Mit fortschreitender Entwicklung kommt es zu einer Umstellung auf motorischer wie auch auf energetischer Ebene  – aus dem Vierfüßler wird ein Zweifüßler, d.  h., es entsteht ein „Oben“ und ein „Unten“. Damit einhergehend findet eine Umstellung der innerhalb der entsprechenden Familien miteinander kommunizierenden Meridiane statt  – es kommt zu einer Oben-Unten-Verbindung der entsprechenden Yin- bzw. Yang-Meridiane, den sog.

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B. Kostner et al.

a

b

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..      Abb. 32.7  a Yin-Keiraku der vorderen Familie (Milz-Lunge), b Yang-Keiraku der vorderen Familie (Dickdarm-Magen)

sechs Achsen  – im Shōnishin als Keiraku bezeichnet (. Abb.  32.7). Diese haben sich voll entfaltet, wenn die Vertikalisierung des Kindes (vollständige Beckenaufrichtung) im Alter von 2–3 Jahren abgeschlossen ist.  

Fünf Wandlungsphasen Mit der Zunahme eines differenzierten und kontrollierten emotionalen Ausdrucks sowie

der Verfeinerung der motorischen Fähigkeiten wird eine weitere „Paarung“ von Meridianen ermöglicht, die mit dem Erreichen der Schulreife einhergeht. Das Kind ist nun in der Lage, zunehmend Reize aufzunehmen, mit seiner Umwelt in Kontakt zu treten, auf seine Umwelt zu reagieren und mit ihr mittels eines individuellen Aktions- und Reaktionsmusters zu kommunizieren. So bildet sich innerhalb der drei

791 Traditionelle japanische Medizin

Familien neben der Oben-Unten-­Verbindung eine Innen-Außen-Verbindung der Meridiane heraus, die fünf Wandlungsphasen. Mit Erreichen des Erwachsenenalters kann davon ausgegangen werden, dass sich das Meridiansystem vollständig entfaltet hat. So haben sich von der Geburt bis zum Erwachsenenalter Motorik, Sensorik, Emotion, Sozialisation und Energetik nach und nach entwickelt, wobei der jeweils nächste Entwicklungsschritt auf dem vorhergehenden aufgebaut hat. >> Der Shōnishin-Akupunkteur sollte diese Facetten und Zusammenhänge der Entwicklung kennen und berücksichtigen.

Somit sind spezielle Diagnoseverfahren erforderlich, um in jedem einzelnen Fall herausfinden zu können, auf welcher energetischen Entwicklungsebene eine Störung oder eine Erkrankung bei einem Kind erstmals aufgetreten ist. Auf dieser Entwicklungsebene wird dann das Kind therapeutisch „abgeholt“.

liche Behandlungsmethode, bei der die Haut als Aktions- wie auch als Reaktionsorgan herangezogen wird. Ermöglicht wird dies durch spezielle Behandlungstechniken wie Streichungen (. Abb.  32.9), Druck- und Klopftechniken an bestimmten Reflexzonen und Meridianabschnitten und mithilfe von Vibrationstechniken an Akupunkturpunkten. Mit diesen un­ terschiedlichen Shōnishin-­ Techniken können sowohl oberflächliche als auch tiefere Schichten in und unter der Haut erreicht werden. Eine an einer umschriebenen Körperstelle zur Anwendung kommende Shōnishin-­ Behandlung führt, abhängig davon, auf welcher Gewebetiefe bzw. mit welcher Qualität diese durchgeführt wird, zu unterschiedlichen Ergebnissen: zum einen, weil bestimmte Reizqualitäten nur in bestimmten Hautschichten  

32.2.3  Therapie

Anders als bei der klassischen Nadelakupunktur wird im Shōnishin nicht mit Nadeln, sondern mit verschiedenartigen Spezialinstrumenten (. Abb.  32.8) auf der Körperoberfläche gearbeitet, ohne zu stechen. Damit ist Shōnishin im wahrsten Sinne des Wortes eine oberfläch 

..      Abb. 32.8 ShōnishinInstrumente (Auswahl)

32

..      Abb. 32.9 Streichtechnik

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32

B. Kostner et al.

wahrgenommen werden, und zum anderen, weil ein Reiz auf unterschiedlichen Hautebenen zu unterschiedlichen Rückenmarksegmenten weitergeleitet wird, was zu unterschiedlichen Reizantworten führt. Damit wird ein Arbeiten sowohl auf neuroanatomischer als auch auf energetischer Ebene ermöglicht. Ob und wann der gesetzte Behandlungsreiz therapeutisch wirksam ist, kann vom Shōnishin-Akupunkteur während der Behand­ lung ertastet werden. Während beispielsweise mit dem Daishi-Instrument sanfte Streichungen auf der Hautoberfläche durchgeführt werden, werden gleichzeitig palpatorisch mit Ring- und Kleinfinger der Behandlungshand die meist augenblicklich eintretenden vegetativen Reaktionen registriert. Das betrifft Hautspannung, Hautrötung, Hauttemperatur sowie Hautfeuchtigkeit. Das Auftreten entsprechender Veränderungen weist darauf hin, dass der Behandlungsreiz therapeutisch wirksam ist. Die reine Behandlungszeit beträgt bei Säuglingen weniger als 5 Minuten und steigert sich mit zunehmendem Alter auf 8–10 Minuten bei großen Kindern und Erwachsenen. Bei funktionellen und akuten Beschwerden wird Shōnishin in der Regel ein- bis zweimal pro Woche, in seltenen Fällen auch täglich durchgeführt, bei chronischen Beschwerden alle 1–2 Wochen. >> Unabhängig davon, auf welcher Gewebetiefe bzw. mit welcher Behandlungsqualität gearbeitet wird, gilt immer: Der ausgeübte Reiz ist derart minimal, dass es für einen Laien kaum vorstellbar ist, dass solche geringen Reize überhaupt einen therapeutischen Effekt haben können.

turkenntnissen eine interessante Ergänzung, vielleicht sogar eine Alternative dar. In Frauenhäusern, Mutter-und-Kind-­Ein­ richtungen und Kinder- und Säuglingsheimen werden mit Shōnishin Erfahrungen einer ganz anderen Art gesammelt: Hier werden Frauen und Kinder unterstützt, die in schwierigen gesellschaftlichen oder finanziellen Situationen sind, die allein gelassen, ohne Perspektive und scheinbar ohne Ausweg sind. Dazu zählen z. B. traumatisierte Frauen und Kinder (beispielsweise nach Vergewaltigung), die Berührung nur dadurch wieder zulassen können, weil aufgrund eines „zwischengeschalteten“ Shōnishin-Instruments kein direkter Hautkontakt stattfindet. In diesen Fällen wird Shōnishin in Kombination mit einer Variante des NADA-Protokolls (National Acupuncture Detoxification Association) durchgeführt.

Shōnishin bei Senioren Ein weiteres Betätigungsfeld für Shōnishin liegt in der Behandlung alter und sehr alter Menschen. Die Annäherung alter Menschen an Kleinkinder oder Babys lässt sich an bestimmten Parametern wie Hautbeschaffenheit und geistige Verfassung aufzeigen.

Haut Wie bei Kleinkindern oder Babys ist die Haut bei Senioren leicht verletzbar, insbesondere bedingt durch die pergamentartige Hautstruktur (. Abb.  32.10). Zudem sind beide Altersgruppen „dünnhäutig“, d. h., die Hautdicke ist  

32.2.4  Anwendungsbereiche

Für den Akupunkteur, insbesondere wenn sein Behandlungsschwerpunkt auf der Arbeit mit Kindern liegt, eröffnet sich mit Shōnishin ein neues Arbeitsfeld bzw. erweitert sich sein bisheriges. Ebenso stellt Shōnishin für den manuell arbeitenden Therapeuten mit Akupunk-

..      Abb. 32.10  Straffung der Haut alter Menschen zum Durchführen der Shōnishin-Behandlung

793 Traditionelle japanische Medizin

geringer als bei Erwachsenen. Für die Streichtechnik hat das die Konsequenz, dass alte Menschen nicht mit der Streichtechnik für Erwachsene behandelt werden, sondern mit jener, wie sie bei Kleinkindern oder Babys zur Anwendung kommt.

Geistige Verfassung Je älter Menschen werden, desto weniger scheinen sie in der Gegenwart zu leben. Erinnerungen oder Situationen aus der Kindheit rücken mehr und mehr in das Bewusstsein und bestimmen zunehmend deren Gemütslage. Oft zeigen sich „kindische“ Verhaltensformen wie gefüttert werden, auf die Toilette gebracht und gesäubert werden, mangelnde Blasen- und Darmkontrolle oder unangepasstes Verhalten.

Alte Menschen und Kleinkinder im Vergleich In der folgenden Übersicht sind wichtige Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen alten Menschen und Babys bzw. Kleinkindern aufgelistet. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen alten Menschen mit zunehmender Einschränkung und Babys/ Kleinkindern 55 Gemeinsamkeiten: ȤȤ Zugang zu vielfältigen Bewegungsmustern: noch nicht (Babys) bzw. nicht mehr (Senioren) Ȥ Ȥ Eingeschränktes Gangmuster bzw. Unsicherheit beim Gehen bei Kleinkindern und alten Menschen ȤȤ Tendenz, zu „schlabbern“ und Essen zu verschütten ȤȤ Gegebenenfalls gefüttert werden ȤȤ Unzureichende Darm- und Blasenkontrolle ȤȤ Unreifer bzw. instabiler emotionaler Ausdruck ȤȤ Empfindlich/empfindsam ȤȤ Dünne Haut

32

55 Unterschiede: ȤȤ Nachlassende Sehkraft ȤȤ Nachlassendes Hörvermögen ȤȤ Unangenehme Erfahrung mit Berührung (liebloses Gewaschenwerden, schmerzhafte Injektionen, Katheterisieren etc.) ȤȤ Zunehmende Sturzgefahr ȤȤ Vereinsamung

Neben der Sanftheit der Behandlung, wie sie bei alten Menschen durchgeführt wird, zeigt das Behandeln mit einem Shōnishin-­ Instrument weitere Vorteile: 55 Die Berührung, derer es bei Senioren chronisch mangelt, findet nicht direkt statt, sondern indirekt, nämlich über ein Instrument. So haben Senioren keine Berührungsangst, und es fällt ihnen leichter, die Behandlung zuzulassen. 55 Viele alte Menschen müssen blutverdünnende Medikamente einnehmen. Aufgrund der nichtinvasiven und sanften Behandlungstechnik stellt dieses für Shōnishin keine Kontraindikation dar.

Behandlung Zunächst ist in der Behandlung alter Menschen die Zielsetzung zu definieren. Diese unterscheidet sich in Abhängigkeit davon, ob der zu Behandelnde mobil oder immobil ist: kBehandlungsziele bei mobilen Menschen

55 Erhaltung der Lebensqualität, 55 allgemeine Aktivierung, 55 Sturzprophylaxe, 55 Gewährleistung der Aktivitäten des täglichen Lebens (ATL). kBehandlungsziele bei immobilen Menschen

55 Zuwendungs- und Berührungsangebote, 55 Vermittlung eines besseren Körpergefühls, 55 Pneumonieprophylaxe, 55 Besserung von Schluckstörungen, 55 Regulation von Gefühlsausbrüchen (z. B. Schreiattacken bei Demenz).

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B. Kostner et al.

Grundlage der Behandlung alter Menschen bildet das Wissen, dass diese sich nicht nur der physischen, emotionalen und sensorischen, sondern auch der energetischen Entwicklungsebene eines Kleinkindes oder Babys nähern. Doch während sich beim Baby und Kleinkind die energetische Entwicklung noch im Entfaltungsprozess befindet, kann beim alten Menschen davon ausgegangen werden, dass eine Rückentwicklung seiner energetischen Potenziale stattfindet. >> Für Babys und Kleinkinder wie für alte Menschen gilt: Beim Baby sind die Meridiane noch nicht vollständig entwickelt, beim alten Menschen sind die Meridiane nicht mehr vollständig entwickelt.

32

Das hat für die Shōnishin-Behandlung alter Menschen folgende Konsequenzen: Die Behandlung findet nicht auf dem einzelnen Meridian statt, sondern es wird mittels Streichtechnik auf dem gesamten Areal der Yin- bzw. Yang-Meridiane gearbeitet. Dabei wird die Streichtechnik so durchgeführt, dass beim Kontakt des Instruments mit der Haut der Auflagedruck dem einer Baby- bzw. Kleinkindbehandlung entspricht, doch im Unterschied zur Baby- bzw. Kleinkindbehandlung berücksichtigt die Streichrichtung den Meridianfluss (. Abb.  32.11). Die Streichfrequenz ist dem hohen Alter angepasst, was etwa 60 Streichungen pro Minute entspricht (beim Baby: 180–200 Streichungen pro Minute).  

Wie in der Baby- bzw. Kleinkindbehandlung werden abhängig von der Symptomatik zusätzlich bestimmte Akupunkturpunkte in die Behandlung alter Menschen mit eingeschlossen. Damit soll ermöglicht werden, die Meridianfamilie zu stimulieren, welche besonderer Unterstützung bedarf. Ist eine Unterstützung der vorderen Familie erforderlich, so zeigen sich bei alten Menschen folgende Symptome: 55 Ungeduld, 55 mangelhaftes Körpergefühl, 55 Immobilität, 55 Vereinsamung, 55 Dyspnoe, 55 unselbstständige Nahrungszufuhr. Auf ein Vorliegen einer geschwächten hinteren Familie weisen folgende Symptome hin: 55 nachlassende Aufrichtung, 55 zunehmend gebeugte Haltung, 55 nachlassende Feinmotorik und Tiefenwahrnehmung, 55 Schlafstörungen, 55 Misstrauen, 55 Ängstlichkeit. Eine geschwächte seitliche Familie ist erkennbar an folgenden Auffälligkeiten: 55 eingeschränkte Mobilität, 55 reduzierte Rotationsfähigkeit, 55 nachlassendes Gleichgewichtssystem (Schwindel, Gangunsicherheit), 55 Verringerung der körperlichen, geistigen (z. B. „Altersstarrsinn“) und sozialen Flexibilität. Zusätzlich zu dieser Behandlung werden mit dem Behandlungsinstrument ShōnishinKlopftechniken im Schulter- und Nackenbereich durchgeführt – um eine bessere Körperwahrnehmung herbeizuführen.

Altersspezifische Symptome ..      Abb. 32.11  Streichrichtung der 3 Yang-Meridiane am Unterarm

Unterschiedliche Altersstufen sind dadurch gekennzeichnet, dass jeweils bestimmte Symptome gehäuft auftreten. In der Anwendung mit

795 Traditionelle japanische Medizin

Shōnishin ist zu beachten, dass Heilung nicht berechenbar ist. In Behandlungen gibt es anzunehmende Wahrscheinlichkeiten, aber keine vorhersehbare Sicherheit. Indikationen für eine (begleitende) Shōnishin-Behandlung nach ­Altersstufen 55 Babys: ȤȤ Entwicklungsverzögerung ȤȤ KiSS-Syndrom (kopfgelenkinduzierte Symmetriestörung) ȤȤ Saugprobleme ȤȤ Schlafstörungen ȤȤ „Schreibabys“ ȤȤ Unterstützung der Mutter-Kind-Bindung ȤȤ Verdauungsstörungen (3-Monats-Koliken, Diarrhö, Obstipation) 55 Kleinkinder: ȤȤ Bronchitis ȤȤ Entwicklungsverzögerung ȤȤ Epilepsie ȤȤ Essstörungen ȤȤ Neurodermitis ȤȤ Schlafstörungen ȤȤ Verdauungsstörungen (Koliken, Diarrhö, Obstipation) 55 Kindergartenkinder: ȤȤ (Obstruktive) Bronchitis ȤȤ Entwicklungsverzögerung ȤȤ Epilepsie ȤȤ Hemiplegie ȤȤ Infektanfälligkeit ȤȤ Motorische Auffälligkeit ȤȤ Neurodermitis ȤȤ Rezidivierende Otitiden ȤȤ Wahrnehmungs-/Verhaltensauffälligkeit 55 Schulkinder: ȤȤ ADS/ADHS (Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom ohne/mit Hyperaktivität) ȤȤ Allergien ȤȤ Asthma bronchiale ȤȤ Entwicklungsverzögerung ȤȤ Enuresis ȤȤ Epilepsie

ȤȤ ȤȤ ȤȤ ȤȤ ȤȤ

32

Haltungsstörungen Hemiplegie Infektanfälligkeit Kopfschmerzen Wahrnehmungs-/Verhaltensauffälligkeit

32.2.5  Shōnishin-Studie mit

asymmetrischen Babys (KiSS-Syndrom)

Hintergrund Zuvor gab es außerhalb Japans keine Studie, die die Wirksamkeit von Shōnishin belegt. Die vorliegende Studie über die Behandlungsmöglichkeit asymmetrischer Babys mit Shōnishin soll unter Beachtung wissenschaftlicher Kriterien einen Beitrag zur Anerkennung der Wirksamkeit dieser Behandlungsmethode leisten (Wernicke 2010a). Bis zum Jahr 2002 wurden vom Autor frühkindliche Asymmetrien mit manualtherapeutischen Methoden (Säuglings-Chirotherapie, kraniosakrale Behandlung, osteopathische Techniken) behandelt. Als Ursache für die Asymmetrie kann in der Regel eine geburtstraumatisch verursachte Dysfunktion im oberen Halswirbelsäulenbereich (C0/C1 und/ oder C1/C2), meist im Sinne einer Blockierung, ausgemacht werden. Typischerweise fallen diese Babys durch ihre Kopfschiefhaltung, durch eine skoliotische Rumpfhaltung sowie durch Störungen vegetativer Funktionen aufgrund der Nähe des vegetativen Nervensystems (Ganglion cervicale superius) zur oberen Halswirbelsäule auf. Unbehandelt können diese Kinder später vermehrt unter Entwicklungsverzögerung, Haltungsschäden oder Konzentrationsstörungen leiden. Der Autor machte die Erfahrung, dass bei einer erfolgreichen rein manuellen Behandlung nach 2–4  Wochen ein Wiederauftreten der Blockierung bei etwa 20–25 % aller behandelten Babys zu verzeichnen war, und integrierte Shōnishin ab 2003 zusätzlich zur manuellen Behandlung in das Behand-

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B. Kostner et al.

lungskonzept. In der Folgezeit konnte eine dramatische Abnahme der Rezidivrate von 20–25  % auf unter 3  % registriert werden. Seitdem konnte immer wieder beobachtet werden, dass sich die zervikalen Blockierungen auch durch alleinige Anwendung von Shōnishin, also ohne manuelle Intervention, auflösten. Somit stellte sich die Frage, ob es sich bei diesen ausschließlich durch Shōnishin hervorgerufenen Auflösungen von Blockierungen um Einzelfälle handelte oder ob sie reproduzierbar waren. Bei Reproduzierbarkeit wäre es dann von Interesse, mit welcher Wahrscheinlichkeit zu rechnen ist, eine erfolgreiche Auflösung der Blockierung im Kopfgelenkbereich und damit eine Reduktion der damit verbundenen meist vegetativ bedingten Begleitsymp­ tome alleine mit der Shōnishin-Methode zu bewirken. Neben dem Wirksamkeitsnachweis der Therapiemethode Shōnishin bestand ein weiteres Ziel der Studie darin, Shōnishin als eine effektive, für das Baby angenehme und für die Eltern kostengünstige Behandlungsmethode zu etablieren.

32

Methodik In einer prospektiven klinischen Untersuchung wurde Shōnishin in einem standardisierten Verfahren als alleinige Behandlungsmethode bei Babys im Alter von 6–12 Wochen mit Blockierung C0/C1 und C1/C2 eingesetzt. kDiagnostische Grundlagen

55 Untersuchungsbogen vor/nach Behandlung, 55 Eingangsfragebogen für die Eltern (anamnestische Erhebung über Schwangerschaft und Geburt, Beschreibung der Symptome ihres Babys vor der Behandlung), 55 Abschlussfragebogen für Eltern (Beschreibung der Symptome ihres Babys nach der Behandlung, Einschätzung des Behandlungserfolgs und der Akzeptanz der Behandlung), 55 Foto-/Filmdokumentation.

kZielparameter

55 Primäre Zielparameter: Veränderungen der Bewegungsfunktionen im Bereich der Kopfgelenke (in Winkel-Grad). 55 Sekundäre Zielparameter: 55 Sensomotorische und vegetative Veränderungen, 55 Akzeptanz der Behandlungsmethode seitens der Eltern.

Behandlung Behandelt wurde nach einem standardisierten Schema. Jedes Baby erhielt 3 Behandlungen im 1-Wochen-Rhythmus. Die reine Behandlungsdauer betrug ca. 3–5 Minuten. Zu Beginn einer Behandlungsserie und eine Woche nach der letzten Behandlung wurde ein manualdiagnostischer Ganzkörperstatus unter besonderer Berücksichtigung der Halswirbelsäule erhoben. In . Tab.  32.5 sind die Shōnishin-­Behand­ lungstechniken und deren Auswirkungen zusammengefasst:  

Ergebnisse Der Wirksamkeitsnachweis von Shōnishin konnte durch folgende Behandlungsergebnisse erbracht werden: 55 Bei 57,5 % aller behandelten Babys kam es zu einer Auflösung der Blockierungen im oberen Zervikalbereich durch alleinige Behandlung mit Shōnishin. 55 Eine Aufhebung der Asymmetrie konnte bei etwa 43 % aller behandelten asymme­ trischen Babys nachgewiesen werden. 55 Viele Begleitsymptome zeigten eine deutliche Besserungstendenz an; dies betraf insbesondere das Akzeptieren der Bauchlage, das Schreiverhalten und das Schlafverhalten. >> Die Studie zeigt, dass Shōnishin eine sanfte, nebenwirkungsfreie und für das Baby angenehme Behandlungsmethode ist. Die Wirksamkeit von Shōnishin lässt sich anhand der Behandlung von Babys mit Blockierungen im oberen Zervikalbereich nachweisen.

797 Traditionelle japanische Medizin

32

..      Tab. 32.5 Behandlungsschema Behandlungsart

Behandlungsziel

Grundbehandlung (Streichtechniken im Bereich der Extremitäten und des Rumpfes; . Abb. 32.12)

Zur Regulierung des Ki



Vibrationsbehandlung Lu 9, Di 4

Zur Betonung der „Mitte“

Ma 36, Mi 3 Dü 3

Wegen enger Beziehung zur Halswirbelsäule

Le 3 (. Abb. 32.13)

Zur Senkung des allgemein erhöhten Muskeltonus

Du Mai 14

Zur Entspannung des Schultergürtels

Dü 9

Wegen enger Beziehung zum Schulterblatt

Bl 28

Wegen enger Beziehung zum ISG

Bl 60

Wegen aufrichtungsbegünstigender Wirkung (führt zu einer besseren Kopfkontrolle in Bauchlage)



Klopfbehandlung Periumbilikal

Zur Betonung der „Mitte“ (Stimulation der Mi-Zone)

Des Blasenmeridians in Höhe der Scapulae (. Abb. 32.14) oder im lumbalen Bereich

Zur Provokation einer Seitwärtsneigung des Rumpfes (Galant-Reaktion) und damit zur Aktivierung des Gb-Meridians



ISG Iliosakralgelenk

Vorteile von Shōnishin 55 Vorteile gegenüber herkömmlichen Behandlungsmethoden: ȤȤ Es ist keine Manipulation oder Mobilisation der Halswirbelsäule notwendig ȤȤ Die Durchführbarkeit der Behandlung ist einfach ȤȤ Die Behandlung kann auch beim schreienden oder unruhigen Baby durchführt werden 55 Weitere Vorteile: ȤȤ Kurze Behandlungsdauer (1–3 Sitzungen) ȤȤ Kurze Behandlungszeit (3–5 Minuten) ȤȤ Geringer Aufwand (kurze Behandlungszeit, einfache Handhabung) ȤȤ Sehr gute Adhärenz der Eltern

kFazit

Die Studie lässt den Schluss zu, dass Shōnishin eine wirksame Behandlungsmethode ist. Die standardisierte Vorgehensweise in der Behandlung asymmetrischer Babys hat sich bewährt und ist anderen Therapiemethoden zumindest ebenbürtig. 32.2.6  Ablauf einer Konsultation zz Erstkontakt

Der Erstkontakt zu Kind und Eltern dient der Informationsgewinnung mithilfe von anamnestischen und diagnostischen Vorgehensweisen, aber auch der Vertrauensbildung aller Beteiligten. Deswegen sollte beim ersten Kontakt noch keine Behandlung durchgeführt werden, denn für das Kind ist diese Situation fremd

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B. Kostner et al.

..      Abb. 32.12  Streichtechnik am Arm

32

..      Abb. 32.13  Vibrationstechnik im Bereich Le 3

..      Abb. 32.14  Klopfbehandlung am Blasenmeridian

und dadurch manchmal auch bedrohlich. Es weiß meist nicht, warum es „vorgeführt“ wird und auch nicht, was auf es zukommt. Und nicht zuletzt brauchen die Eltern das Gefühl, dass sie ihr Kind in die „richtigen“ Hände geben. Das wichtigste ist jedoch, dass das Kind Vertrauen zum Shōnishin-Akupunkteur gewinnen muss. Dies gelingt nur, wenn respektvoll miteinander umgegangen wird – das gilt insbesondere im Umgang mit dem Kind, gleichgültig, ob es sich um einen Säugling, um ein Kindergartenkind oder um ein Schulkind handelt.

schen Entwicklungsebene eine Störung oder Erkrankung bei einem Kind erstmals aufgetreten ist. Dazu gehören Kenntnisse darüber, welcher Meridian oder welche Meridiane einen entsprechenden sensomotorischen Entwicklungsschritt steuern und was passiert, wenn auf der entsprechenden energetisch-­ motorischsensorischen Vernetzungsebene eine Störung auftritt. Auf dieser Entwicklungsebene, auf die die vorliegende Störung bei einem Kind zurückgeführt werden kann, wird das Kind dann therapeutisch „abgeholt“. Bevor mit der Behandlung begonnen wird sind, demzufolge 2 Schlüsselfragen zu klären: 1. Auf welcher Entwicklungsebene trat erstmals die Störung oder Erkrankung auf? (drei Familien – sechs Keiraku – fünf Wandlungsphasen) 2. Welche Familie oder welche Keiraku oder Wandlungsphase kommt ursächlich für die Störung oder Erkrankung infrage?

>> Die erste Begegnung legt den Grundstein für die spätere Behandlung!

zz Behandlungsstrategie

Ausschlaggebend für eine Shōnishin-Behandlung ist das energetische Entwicklungsalter. Demnach muss eruiert werden, auf welcher energeti-

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(vordere – hintere – seitliche Familie oder Keiraku bzw. entsprechende Wandlungsphase) Die Beantwortung dieser beiden Fragen gibt die Behandlungsstrategie vor. Das heißt, das Kind wird behandelt 1. auf der Ebene der Familie, der Keiraku oder auf Wandlungsphasenebene, 2. im Bereich der vorderen oder hinteren oder seitlichen Familie oder Keiraku bzw. der entsprechenden Wandlungsphase. Dieses Wissen bildet die Grundlage für die Behandlung von Kindern jeglicher Altersstufe mit Shōnishin. 32.2.7  Fallbeispiel

Dass sich hinter einer ADHS-Symptomatik auch andere Ursachen verbergen können, zeigt das folgende Beispiel aus der eigenen Praxis. Erst durch die Klärung der beiden Schlüsselfragen (Auf welcher Entwicklungsebene trat erstmals die Störung oder Erkrankung auf? Welche Familie oder welche Keiraku oder Wandlungsphase kommt ursächlich für die Störung oder Erkrankung infrage?) konnte die eigentliche der ADHS-Symptomatik zugrunde liegende Ursache ermittelt und somit adäquat behandelt werden. zz Patientin: Luisa, 8 Jahre

Als Luisa vorgestellt wird, geht sie in die 3.  Klasse. Aufgrund ihrer Unruhe und Konzentrationsschwäche wurde bei ihr die Dia­ gnose ADHS gestellt, und eine medikamentöse Therapie (Ritalin) wird auf Drängen der Klassenlehrerin in Erwägung gezogen. kVorgeschichte

Die Mutter, seit 2  Jahren alleinerziehend, erzählt, dass Luisas Unruhe und Sprunghaftigkeit ihr bereits aufgefallen sei, als sie noch in den Kindergarten ging. Jetzt, in der Schule, sei sie z. B. letzte Woche während einer Klassenarbeit einfach aufgestanden und im Klassen-

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zimmer umhergelaufen. Als sie sich wieder hinsetzen musste, habe sie einen Bleistift genommen und versucht, ihn durchzubrechen. Weil ihr das nicht gelang, habe sie ihn wütend in die Tischplatte gebohrt, bis die Spitze abgebrochen sei. Überhaupt falle ihr das Stillsitzen sehr schwer, ständig müsse sie hin und her rutschen oder mit dem Stuhl schaukeln. Nun sei auch noch ihre Versetzung in die nächste Klasse gefährdet. Die Mutter erzählt, dass Luisa bereits dreimal mit unterschiedlichen Therapien behandelt worden sei: mit einer Verhaltenstherapie, einer Spiel- und einer Lerntherapie. Abschließend äußert sie, das alles habe nichts gebracht. kDiagnostik

Bei der körperlichen Untersuchung fällt als erstes Luisas asymmetrische Körperhaltung auf: 55 Kopf in leichter Linksneigung, 55 eingeschränkte Linksrotation des Kopfes (Rotation nach rechts: 85 Grad, nach links 70 Grad), 55 linke Schulter tiefer als die rechte, 55 eine zwar nicht ausgeprägte, aber auch nicht zu übersehende Skoliose (die bei der Schuleingangsuntersuchung nicht aufgefallen war!), 55 Beckenschiefstellung. 55 Die motorischen Bewegungstests sind unauffällig. Für den Untersucher sind das viele Zeichen eines KiSS-Syndroms. Die Verdachtsdiagnose scheint sich durch die mitgebrachten Fotos aus Luisas ersten 3 Lebensmonaten zu bestätigen: Auf allen Fotos zeigt sich der Kopf in Rechtsrotationsposition. Die weiteren, gezielt gestellten Fragen untermauern die Diagnose KiSS-Syndrom. Luisa habe in den ersten 3 Monaten sehr viel geschrien, und das Schlafen sei nach Aussage ihrer Mutter „eine Katastrophe“ gewesen. Das Stillen habe sich als sehr schwierig gestaltet, v.  a. an der rechten Brust; dort habe sie zwar „angedockt“, sie sei aber dann immer sofort

800

B. Kostner et al.

sehr hektisch geworden und habe dann angefangen, die Brust „anzuschreien“. Auf dem Bauch habe sie überhaupt nicht liegen wollen, und die Mutter habe mit ihr ein Vierteljahr lang Krankengymnastik machen müssen. Sie sei gerobbt, nie gekrabbelt; freies Laufen habe sie erst mit 18 Monaten beherrscht. Bei der nachfolgenden gezielten Untersuchung der Halswirbelsäule zeigt sich eine Blockierung zwischen Atlas und Axis (Segment C1/C2), die offensichtlich seit Geburt besteht. kTherapie

Mit manuellen Techniken wird die Blockierung behandelt. Zusätzlich werden einmal wöchentlich insgesamt 6  Shōnishin-Behandlungen durchgeführt. Bei den ersten 3  Sitzungen wird die vordere Familie behandelt, um die äußere und innere Mitte zu unterstützen, die sich im Säuglingsalter aufgrund der Asymmetrie nicht ausbilden konnte. In der 4.–6. Sitzung wird die hintere Familie behandelt, weil nach Ansicht des Therapeuten für Luisas Unruhe keine ADHS, sondern ein schwacher Rücken verantwortlich gemacht werden muss.

32

kErklärung

Bei längerem Sitzen fängt ein schwacher Rücken an zu schmerzen und lenkt vom eigentlichen Geschehen (z.  B.  Klassenarbeit) ab. Diese Rückenschmerzen lassen sich nur durch In-Bewegung-Sein (also Zappeln) aushalten; dass dann nicht mehr ausreichend Energie vorhanden ist, um sich zu konzentrieren, lässt sich leicht nachvollziehen. Da Luisas Beschwerden bzw. die Ursachen ihrer Beschwerden von Geburt an bestanden, konnten sich die drei Meridianfamilien nicht frei entwickeln. Das ist auch der Grund, warum auf der Ebene der Meridianfamilien und nicht auf der Ebene der Keiraku oder der Fünf Wandlungsphasen (was ihrem chronologischen Alter entsprechen würde) behandelt wird. kErgebnis

Man kann nicht sagen, dass Luisa sich zu einem ruhigen Mädchen hin entwickelt. Trotz-

dem – eine medikamentöse Therapie hat sich erübrigt. Luisa, inzwischen 11 Jahre alt, ist ein sehr lebendiges Mädchen mit vielen Ideen und Liebe zur Unordnung. Sie gilt in der Schule zwar nicht als „Überfliegerin“, aber ihre schulischen Leistungen bewegen sich immerhin im besseren Mittelfeld. 32.2.8  Ausbildung

Es gibt bisher keine geregelten Ausbildungskriterien. Das Angebot reicht von ein- bis zu mehrtägigen Fortbildungskursen. Auch die Voraussetzungen für eine Shōnishin-­Ausbildung werden unterschiedlich gehandhabt. Um in Japan für eine Shōnishin-Ausbildung zugelassen zu werden, muss man eine abgeschlossene Akupunkturausbildung vorweisen oder Arzt sein. Diese Kriterien gelten auch für viele Ausbildungsstätten außerhalb Japans. >> Im Interesse der kleinen und großen Kinder sind, unabhängig von den Zulassungskriterien, für die Shōnishin-­ Ausbildung hohe Qualitätsstandards erforderlich.

Die vom Autor angebotene Shōnishin-­ Aus­ bildung (. Abb.  32.15) basiert auf aktuellen Forschungen der traditionellen japanischen Medizin sowie der westlichen Gesundheitswissenschaften. Ausbildungsvoraussetzung ist eine Grundlagenausbildung in einer Meridiantherapie (z. B. Akupunktur, Shiatsu, Tuina, Akupunktmassage). Ein wichtiger Bestandteil der Ausbildung ist das Vermitteln der Kenntnisse über die kindliche Entwicklung aus westlicher und östlicher Sicht. Zur Bearbeitung dieser Inhalte bedarf es einer Ausbildungsdauer von 6 Tagen und zusätzlich regelmäßiger Weiterbildungen.  

kZertifikatslehrgang Zertifizierte/r Shōnishin-Akupunkteur/in (SHB)

Hochschulzertifikatslehrgänge sind ein In­ strument der Aneignung von akademischem Wissen auf höchstem Niveau, ohne sich den Anforderungen eines länger andauernden Studiums stellen zu müssen. Die Zertifikats-

801 Traditionelle japanische Medizin

..      Abb. 32.15 Shōnishin-Ausbildungsgruppe

programme der Steinbeis-Hochschule Berlin garantieren wissenschaftliche Standards bei gleichzeitiger Praxisnähe und sind damit ideal für eine fokussierte Aneignung von erweiterten Kompetenzen. Mit der Zertifizierung Shōnishin-Akupunkteur/in (SHB) wird erstmals auf dem Gebiet von Shōnishin ein deutliches Signal bezüglich des hohen Qualitätsstandards in der Ausbildung gesetzt. Die Teilnehmer profitieren von fundiertem Fachwissen und nachgewiesener Kompetenz, die Zugänge zu neuen Arbeitsfeldern öffnen können. zz Links

Allgemeine Informationen über Shōnishin: 7 http://www.­shonishin.­de/  

academie zur entwicklung des kindes (aceki e.V.), Träger einer Fachakademie zur beruflichen Weiterbildung: 7 https://aceki.­de/  

Zusammenfassung 55 Shōnishin bei alten Menschen verbessert deren Lebensqualität.

32

55 Shōnishin ist auf dem Weg, eine wichtige Rolle in der Behandlung von Kindern einzunehmen. Immer mehr Ärzte und Nichtmediziner (Heilpraktiker, Physiotherapeuten, Hebammen, Shiatsu-Praktiker) entdecken diese besonders sanfte und effektive Behandlungsform. 55 Shōnishin findet Platz in Arzt- oder Akupunkturpraxen, in der Hebammenarbeit und zunehmend auch in Kliniken. 55 Im Rahmen von Kongressen (TCM, Pädiatrie) ist eine steigende Nachfrage nach ShōnishinVorträgen bzw. Shōnishin-Veranstaltungen zu verzeichnen. 55 In der Behandlung traumatisierter Kinder und Mütter bietet Shōnishin eine wertvolle Unterstützung an. 55 Es ist u. a. Shōnishin zu verdanken, dass im europäischen Raum ein zunehmendes Interesse an traditioneller japanischer Medizin, insbesondere japanischer Akupunktur, zu verzeichnen ist.

32.3  Yamamotos neue

Schädelakupunktur – YNSA

Daniela Stockenhuber 32.3.1  Überblick

Der japanische Arzt Dr. Toshikatsu Yamamoto entdeckte etwa um 1970 ein Somatotop im Bereich des Kopfes und nannte es YNSA (Yamamoto New Scalp Acupuncture). Basierend auf den Grundlagen der TCM entwickelte er ein funktionelles, ganzheitliches Diagnoseund Therapieverfahren, das einfach anzuwenden ist und rasch zu einer Besserung von Beschwerden führt (Yamamoto und Maric-­ Oehler 1991). Schon während der Nadelung sollte der Patient zumindest eine Erleichterung seiner Beschwerden verspüren. Oft tritt ein „Sekundenphänomen“ ein, der Schmerz lässt schlagartig nach, sobald die Nadel an korrekter Stelle eingestochen wurde. Die Wirkung hält, je nach

802

32

B. Kostner et al.

Art der Erkrankung, unterschiedlich lange an. Im Bedarfsfall kann bei akuten Indikationen täglich genadelt werden. Die weiteren Behandlungsintervalle richten sich nach den individuellen Gegebenheiten und reduzieren sich bei chronischen Erkrankungen auf einmal pro Woche. Die Anzahl der Therapien ist abhängig von der Indikation und vom Ansprechen des Patienten auf die Akupunktur. Um den Erfolg der Methode zu gewährleisten, ist es notwendig, die Nadeln exakt an den richtigen Punkten zu platzieren; diese werden durch Palpation eruiert. Jede Störung im Organismus führt an der entsprechenden Stelle im Somatotop zu einer für den Patienten schmerzhaften und für den Therapeuten tastbaren Veränderung. Daher findet sich bei der Palpation mit Daumen oder Zeigefinger in der betroffenen Zone eine verhärtete, verquollene, meist erhabene Stelle. Die Nadel wird von kaudal nach kranial in einem schrägen Winkel in das Maximum dieser Gelose eingestochen und dort etwa 20  Minuten belassen. YNSA kann alleine oder additiv zur Körperakupunktur eingesetzt werden. Unter Berücksichtigung der Indikationen und Kontraindikationen, die denen der klassischen Akupunktur sehr ähnlich sind (7 Kap.  31), werden keine Nebenwirkungen beobachtet. Prinzipiell kann ein anatomisches von einem funktionellen Somatotop unterschieden werden. Yamamoto bezeichnet die Zonen bzw. Punkte, die den Körperregionen zugeordnet sind, als Basispunkte (. Abb. 32.16). Diese lassen sich noch weiter in Punkte für den Bewegungsapparat und Punkte für die Sinnesorgane unterteilen. Für zerebrale Erkrankungen stehen noch die brainpoints zur Verfügung. Wenn komplexe Störungen oder Erkrankungen von Organen entsprechend der TCM therapiert werden sollen, werden die sog. Ypsilon-Punkte angewendet (. Abb. 32.17). Eine weitere Unterteilung erfolgt durch die Repräsentanz der Zonen sowohl an der frontalen, also der Yin-Seite, als auch der okzipitalen und somit der Yang-Seite des Kopfes. In

..      Abb. 32.16  Lage der frontalen Basispunkte. A Kopf, Halswirbelsäule (HWS), B HWS, Schultergürtel, C Schulter, obere Extremität, D untere Körperhälfte, E Brustwirbelsäule BWS; F und G liegen hinter dem Ohr







..      Abb. 32.17  Lage der frontalen Ypsilon-Punkte. Von links nach rechts: 1. Reihe: Herz, Perikard, Lunge; 2. Reihe: Leber, Magen, Dünndarm, 3. Reihe: Galle, Milz, Drei Erwärmer; 4. Reihe: Niere; 5. Reihe: Blase, Dickdarm

der Therapie kommen wesentlich häufiger die frontalen Punkte zum Einsatz. kBasispunkte (. Abb. 32.16)  

Wie zuvor beschrieben, stellen sie ein anatomisches Somatotop dar, bei dem die Auswahl der zu behandelnden Punkte nach der Lokalisation der Beschwerden erfolgt.

803 Traditionelle japanische Medizin

kYpsilon-Punkte (. Abb. 32.17)  

Sie repräsentieren das funktionelle Somatotop im Sinne der TCM.  Ihre Auswahl erfolgt je nach betroffenem Meridian oder Organ entsprechend der Palpation der diagnostischen Bereiche im Halsdreieck bzw. an der Bauchdecke. Sie kommen bei inneren Erkrankungen bzw. Erkrankungen von Organen entsprechend der TCM und psychischen Indikationen sowie Befindlichkeitsstörungen zum Einsatz, da sie ein konstitutionelles Therapieverfahren darstellen. Häufig werden sie bei Störungen des Bewegungsapparats und der Sinnesorgane mit Basispunkten kombiniert. 32.3.2  Die neue

Bauchdeckendiagnostik nach Yamamoto

An der Bauchdecke befinden sich Testzonen für die 12 Organe. Diese münz- bis handtellergroßen Areale können Störungen in den entsprechenden Funktionskreisen bzw. Organen anzeigen und stellen somit ein diagnostisches Somatotop dar. Die Palpation erfolgt zunächst sanft, wobei Verquellungen der Subkutis palpabel sind und sich das Areal gespannt anfühlt, bei Intensivierung des Drucks werden Myogelosen spürbar. Der Patient liegt dabei flach und entspannt auf dem Rücken, teilweise werden die untersuchten Zonen als unangenehm oder druckschmerzhaft beschrieben. Gleichzeitig befinden sich im Bereich der Bauchdecke weitere Testzonen für die brain­ points und die Wirbelsäule. 32.3.3  YNSA-Halsdiagnostik

Das ebenfalls ausschließlich zur Diagnostik verwendete Halsdreieck befindet sich im seitlichen Halsbereich oberhalb der Klavikula, zwischen dem Vorderrand des M.  trapezius und dem M. sternocleidomastoideus. Durch die im Vergleich zur Bauchdecke kleineren anatomischen Verhältnisse handelt es sich hier eher um Punkte. Ein Vorteil gegen-

32

über der Bauchdeckendiagnostik besteht darin, dass diese Testpunkte schneller und sensibler reagieren. Gestörte Organe bzw. Funktionskreise werden über die ausgeprägte Druckschmerzhaftigkeit der jeweiligen Punkte erkannt. Die Palpation kann rasch an bekleideten und sitzenden Patienten durchgeführt werden. Die Therapie erfolgt über die entsprechenden Ypsilon-Punkte. Bei korrekter Nadelung reduziert sich die Empfindlichkeit des Testpunkts im Halsdreieck sofort. zz Praktische Anwendung

Da die zu palpierenden Punkte am Hals spiegelbildlich vorhanden sind, wird an beiden Seiten gleichzeitig getastet und nach druckschmerzhaften Punkten gesucht. Meist stellen sich die einzelnen Organtestpunkte auf einer Seite jedoch als besonders schmerzhaft heraus, auf dieser Seite wird dann der entsprechende Ypsilon-Punkt gestochen. Liegt die Nadel richtig, wird sich der Punkt im Halsdreieck bei der Nachpalpation als weniger empfindlich erweisen. Ebenso wird sich das Testareal an der Bauchdecke nach dem korrekten Stechen des Ypsilon-Punktes weicher anfühlen. In der Praxis zeigen sich oft mehrere Organtestzonen als therapiewürdig. Es werden immer zuerst die Ypsilon-Punkte der Yin-­ Organe akupunktiert, im Speziellen wird mit der Niere begonnen und dann nachpalpiert; erweisen sich andere Organtestzonen nach wie vor als auffällig, werden auch diese gestochen. Eine Alternative zu den Ypsilon-Punkten stellen die 12 Hirnnervenpunkte dar. Diese könnten eine Erklärung für die 12 Meridiane und die dazu gehörenden Organsysteme der TCM sein. Weitere Somatotope am Kopf sind das Sagittal-Mittellinien-Somatotop, das J- und das K-Somatotop. Das J-Somatotop therapiert die Vorderseite, das K-Somatotop die Rückseite des Körpers. Sie werden für Schmerzen im Bewegungsapparat, Durchblutungsstörungen und für neurologische Indikationen verwendet. Die sog. Masterkey-Punkte für die obere und die untere Körperhälfte, für Tinnitus bzw.

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Heiserkeit werden bei langwierigen Erkrankungen additiv zu Basispunkten eingesetzt. Als weiteren Somatotopien, die sich jedoch nicht mehr am Kopf befinden, beschreibt Dr.  Yamamoto das Thoraxsomatotop, das HWS-BWS- und das BWS-LWS-Somatotop, das Schambein-Somatotop sowie das C6-TH2-­ Somatotop, die je nach Ansprechen des Patienten alternativ angewendet werden können. Zusammenfassung

32

55 YNSA ist ein auf den Grundlagen der TCM entwickeltes funktionelles und ganzheitliches Diagnose- und Therapieverfahren, das einfach anzuwenden ist und rasch zu einer Besserung von Beschwerden führt. 55 YNSA kann alleine oder additiv zur Körperakupunktur eingesetzt werden. 55 Behandelt werden Basispunkte (anatomisches Somatotop) und/oder Ypsilon-Punkte bzw. Hirnnervenpunkte (funktionelle Somatotope) entsprechend der Palpation an der Bauchdecke oder am Halsdreieck. 55 Für den Therapieerfolg wird entscheidend sein, das für den jeweiligen Patienten am besten wirksamste Somatotop zu eruieren.

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805 Traditionelle japanische Medizin

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807

Tibetische Medizin Florian Ploberger 33.1

Historischer Überblick – 808

33.1.1 33.1.2 33.1.3 33.1.4 33.1.5 33.1.6 33.1.7 33.1.8 33.1.9 33.1.10

F rühzeit – 808 Bön-Kultur – 808 Erste externe Einflüsse – 808 gyu thog yon tan mgon po – I (708–833 n. Chr.) – 809 gyu thog yon tan mgon po – II (1126–1202 n. Chr.) – 810 13.–16. Jahrhundert – 810 Regentschaft des 5. Dalai Lama (1617–1682 n. Chr.) – 810 Ende 17.–19. Jahrhundert – 811 Regentschaft des 13. Dalai Lama (1876–1933) – 812 Zeit der chinesischen Invasion bis heute – 813

33.2

Grundbegriffe – 814

33.3

Diagnostik – 815

33.4

Therapie – 816

33.4.1 33.4.2 33.4.3 33.4.4

 iätetische Maßnahmen – 816 D Verhaltensmaßnahmen – 817 Äußere (zusätzliche) therapeutische Methoden – 818 Pharmakologie – 819

33.5

(Haupt-)Indikationen – 820

33.6

Studien/Case Reports – 820

33.7

Ausbildung – 821

33.8

 blauf einer Konsultation mit Beschreibung eines A praktischen Falls – 823 Literatur – 825

Unter Mitarbeit von Jens Tönnemann © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_33

33

808

33

F. Ploberger

33.1  Historischer Überblick

33.1.2  Bön-Kultur

33.1.1  Frühzeit

Bevor der Buddhismus nach Tibet einzog und sich die heutige tibetische Schrift entwickelte, florierte in der Region zhang zhung im Südwesten Tibets die Tradition der Bön-Religion und der Bön-Kultur. Zur Zeit des großen Buddha wurde der legendäre Bön-Meister und Kulturgründer ston pa gshen rab mi bo che in spu hreng in Tibet geboren. Der Bön-Meister war der Ursprung von gso dpyad kyi mdo dgu, gso rig dpyad rgyud zla zer, er schuf die Basis für die traditionelle Bön-Medizin. Sein ältester Sohn dpyad bu khri shes erlernte die Heilkunst von seinem Vater und wurde später eine bedeutende Persönlichkeit in der Bön-­Medizin. Die rgyud bzhi, der grundlegende Text der tibetischen Medizin (s. unten), enthält Man­ tras sowie Namen einiger Heilsubstanzen, Verbindungen und Krankheiten in der originalen Bön-­Sprache. Das ist ein deutlicher Hinweis auf den Einfluss des Bön auf die tibetische Medizin. Aufgrund dieser historischen Tatsachen kann angenommen werden, dass es bereits vor der Regentschaft des Königs lha tho tho ri gnyan btsan und vor der Einführung der heutigen tibetischen Schrift im 7. Jahrhundert ein hochentwickeltes Medizinsystem gab.

Die tibetische Medizin, allgemein bekannt unter dem Namen bod kyi gso ba rig pa (tibetisches Wissen vom Heilen) geht zweifellos auf die Ursprünge der tibetischen Kultur zurück. Die ersten Einwohner Tibets führten ein beschwerliches Leben und sahen sich tagaus tagein mit einer Unzahl von Schwierigkeiten konfrontiert. Um ihren Unterhalt zu bestreiten und zu überleben, mussten sie auf die natürlichen Ressourcen aus ihrer Umgebung zurückgreifen. Mit der Zeit lernten sie auf diese Weise die Anwendungsmöglichkeiten und Wirkungen natürlicher Substanzen kennen. Durch die ihnen von Natur aus gegebene Einsicht konnten sie schon früh natürliche Heilmittel für verschiedene Krankheiten entdecken. Sie hatten einen instinktiven Drang, körperliches Unbehagen auszumerzen, und beobachteten ihre Umwelt mit Neugier. So gelang es ihnen, wirksame Naturheilmittel für häufige Krankheiten zu entwickeln. Bei Fieber kaltes Wasser trinken oder sich damit benetzen, einen kalten Stein auf eine entzündete Schwellung auflegen, mit heißem Öl eine Blutung stillen, bei Erkältungskrankheiten in der Sonne brüten oder sich nahe an ein Feuer setzen, bei Verdauungsstörungen heißes Wasser trinken, statt roher Nahrung gekochte Speisen essen  – dies sind nur einige Beispiele für wirksames Heilwissen, dass noch heute Gültigkeit hat. Die Entwicklung der tibetischen Heilwissenschaft ist auf vielen uralten Heilpraktiken und Weisheitslehren begründet. Die Verwendung eines Heilmittels gegen Vergiftung, das rtsibs lha skar ma yol sde dem ersten König von Tibet gnya' khri btsan po (etwa 300 v. Chr.) empfahl, zeigt deutlich, dass die frühen Einwohner Tibets bereits den therapeutischen Wert von Kräutern und Mineralien kannten. Das Heilwissen wurde traditionell mündlich überliefert, und so blieben die Kenntnisse über zahlreiche Heilmittel viele Jahrhunderte lang erhalten.

33.1.3  Erste externe Einflüsse

Die Geschichte der tibetischen Medizin nahm während der Regentschaft des 28. Königs von Tibet lha tho tho ri gnyan btsan (254–374 n. Chr.) eine entscheidende Wende. Zwei indische Ärzte, Vijay Gaje und Bila Gaje, besuchten Tibet, und als der König von den erfolgreichen Behandlungen durch diese beiden Ärzte gehört hatte, rief er sie zu sich in seinen Palast, der yum bu gla sgang genannt wurde. Er lobte sie für ihre wertvolle Tätigkeit und bat sie, ihren Aufenthalt in Tibet zu verlängern, um Wissen und Praxis ihrer Medizin zu lehren und zu verbreiten. Wissen und Praxis der traditionellen ­tibetischen Medizin wurden erstmals nach der Einführung der modernen tibetischen Schrift

809 Tibetische Medizin

während der Regentschaft des 33. Königs von Tibet srong btsan sgam po (617–698 n. Chr.) schriftlich niedergelegt. Zu dieser Zeit gelangte durch den kulturellen Austausch mit den Nachbarländern neues Heilwissen nach Tibet, das die Entwicklung der tibetischen Medizin beeinflusste. Im Jahr 641 n. Chr. kam die chinesische Prinzessin Wungshing Kongjo aus der Tang-Dynastie als Braut des Königs srong btsan sgam po nach Tibet. Sie brachte viele chinesische medizinische Texte mit. Im 8. Jahrhundert wurden während der Regentschaft des 38. Königs von Tibet, khri srong lde btsan (755–797 n. Chr.), die Beziehungen mit benachbarten Ländern weiter gefestigt. Der König lud viele Gelehrte und berühmte Ärzte aus Indien, China und Nepal ein und rief einen Dialog und den regen Austausch medizinischer Kenntnisse und Praktiken ins Leben. Diese Gelehrten schrieben gemeinsam das Werk rin chen spungs pa, in dem sie die wichtigsten Aussagen verschiedener asiatischer medizinischer Systeme zusammenfassten, u. a. auch das tibetische Medizinsystem. Der Buddhismus hatte starken Einfluss auf die tibetische Kultur und damit auch auf die Medizin. Wie sehr sich buddhistische Einsichten in der tibetischen Medizin wiederfinden, zeigt sich anhand von Vorstellungen über das Unterbewusstsein während des Wachstums des Körpers, in der Rolle der drei Geistesgifte in der Entwicklung körperlicher Krankheiten und in der Bedeutung, die tibetische Ärzte der Pflege von Liebe, Mitgefühl, Freude und Gelassenheit beimessen. >> Das Verständnis der buddhistischen Philosophie ist eine Voraussetzung dafür, das psychologische Element von Krankheiten zu begreifen und sinnvolle Heilmittel zu finden.

33.1.4  gyu thog yon tan mgon

po – I (708–833 n. Chr.)

gyu thog yon tan mgon po – I ist die bedeutendste Persönlichkeit in der Geschichte der tibetischen Medizin. Schon in jungen Jahren überraschte

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er seine Umgebung durch seine Intelligenz und seine außerordentlichen medizinischen Kenntnisse. König khri srong lde btsan rief in zu sich und bat ihn um Gespräche mit bedeutenden tibetischen Ärzten, u. a. mit brang ti rgyal mnyes mkhar phug. Der junge Arzt kannte sich in allen theoretischen und praktischen Aspekten der tibetischen Medizin hervorragend aus und ging immer als Sieger aus diesen Gesprächen hervor. Aufgrund seiner ausgezeichneten medizinischen Kenntnisse wurde sein Ruf als hochberühmter Arzt weit verbreitet. Der König ernannte ihn mit Freuden zu seinem Hofarzt. Um sein Wissen weiter zu vertiefen und für die tibetische Medizin weitere Erkenntnisse zu gewinnen, bereiste gyu thog yon tan mgon po – I Nepal, Persien, China und Indien, wo er viele hervorragende Gelehrte und Ärzte kennenlernte und wertvolle medizinische Ratschläge und Instruktionen aus anderen medizinischen Systemen erhielt. gyu thog vertrat Tibet bei der Ersten Internationalen Konferenz über tibetische Medizin, die während der Regentschaft des Königs khri srong lde btsan in bsam yas stattfand. Viele bekannte Wissenschaftler und Ärzte verschiedener medizinischer Schulen dieser Zeit nahmen an dieser wegweisenden Konferenz teil. Die aktive Beteiligung aller Konferenzteilnehmer an ernsthaften Diskussionen und Überlegungen über verschiedene wichtige Themen führte zu einem großen Erfolg der Konferenz. Danach schrieb gyu thog yon tan mgon po ein Buch mit dem Titel rgyud bzhi, das sich hauptsächlich auf ursprüngliches tibetisches medizinisches Wissen bezog, in das aber auch Erkenntnisse anderer asiatischer medizinischer Lehren Eingang fanden. Diese Schrift wurde in einer Säule des Klosters bsam yas versteckt, damit sie in späteren Jahren, wenn die Zeit dafür reif sein würde, verstanden und benutzt werden könne. Durch eine Vision, die ihm die medizinische Gottheit offenbarte, entdeckte der Schatzfinder zla ba mngon she (1012–1090 n. Chr.) die rgyud bzhi (Vier Tantras) in der Säule des Klosters bsam yas und übergab die Schrift an dge bshes dbus pa dar grags. Nachdem sie also im 11. Jahrhundert in der Säule des Klosters bsam yas entdeckt worden war, schrieb gyu

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thog yon tan mgon – II, ein berühmter Nachfolger der alten Yuthok, die Schrift in die heutige Form der rgyud bzhi um (s. unten). 33.1.5  gyu thog yon tan mgon

po – II (1126–1202 n. Chr.)

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gyu thog yon tan mgon po – II war der 13. Nachfolger des gyu thog yon tan mgon po – I. Bereits als Kind entwickelte er ein Interesse daran, den Puls seiner Spielgefährten zu messen und verschiedene Heilmittel in seiner Umgebung zu erkennen. Sein hoher Intellekt ermöglichte es ihm, sich in allen Gebieten der Medizin zu bilden, und bereits in jungen Jahren begann er, Patienten zu behandeln. Im Alter von 14 Jahren begegnete er rog ston dkon mchog skyabs, der nach Zentral-Tibet unterwegs war und an rkang 'bam (Schwellung der Beine) litt. Der junge Arzt behandelte ihn erfolgreich, sodass er seine Reise fortsetzen konnte. Nach 2-jährigem Aufenthalt in Zentral-­ Tibet litt rog ston dkon mchog skyabs erneut an einer ernsten Erkrankung. Dieses Mal wandte er sich an den bekannten Arzt dbus pa dar grags. Er wurde nicht nur geheilt, sondern erhielt auch die vollständige Unterweisung in die rgyud bzhi (Vier Tantras). Nach seiner Rückkehr traf rog ston dkon mchog skyabs erneut den jungen gyu thog yon tan mgon po  – II und erteilte nun diesem die vollständigen Unterweisungen in die rgyud bzhi. Im Alter von 18 Jahren bereiste gyu thog yon tan mgon po  – II Indien, China, Persien, Nepal und Sri Lanka und lernte viele bekannte Meister und Ärzte kennen. Sie vermittelten ihm wichtige Unterweisungen und umfangreiches Wissen. Auf der Basis der Grundsätze der rgyud bzhi und den in Tibet bekannten medizinischen Kenntnissen und Praktiken, die über 13 Generationen an ihn weitergegeben wurden, konnte er sein zusätzliches Wissen durch die von indischen Meistern und Ärzten erhaltenen Unterweisungen einbringen und die rgyud bzhi neu organisieren und in einer neuen Niederschrift vervollständigen. Das Werk wurde noch konsistenter und umfangreicher und erhielt

den Titel bdud rtsi snying po yan lag brgyad pa gsang ba man ngag gi rgyud oder kurz dpal ldan rgyud bzhi (The Great Four Treatises – die vier großen Abhandlungen). Von nun an wurde die rgyud bzhi zum Hauptwerk der tibetischen Medizin, das für Ausbildung und Forschung sowie für die Pharmakologie und klinische Praktiken herangezogen wurde. 33.1.6  13.–16. Jahrhundert

Im 13. Jahrhundert übersetzte au rgyan pa rin chen dpal (1230–1309 n. Chr.) das Werk mit dem Titel dngul chu grub pa'i bstan bcos ins Tibetische. Später schrieb er drei Kommentare zu dieser Abhandlung. Sein bekanntester Schüler, karma rang byung rdo rje (1284–1339 n. Chr.) schrieb das eindrucksvolle Werk sman ming rgya mcho mit Beschreibungen der therapeutischen Wirkungen von über 300 medizinischen Substanzen. Im 15. Jahrhundert florierte die tibetische Medizin in erster Linie dank der Beiträge zweier wichtiger regionaler medizinischer Traditionen: der byang pa-Tradition und der zur mkhar-Tradition. Begründer der byang pa-­Tradition war rnam rgyal grags bzang (1395–1475 n. Chr.). Diese Lehre wurde hauptsächlich im Norden Tibets praktiziert. Die zur mkhar-­Tradition wurde von mnyam nyid rdo rje (1439–1475 n. Chr.) gegründet und im Süden Tibets praktiziert. Beide Schulen halten sich an die theoretischen Grundlagen der rgyud bzhi, jedoch entwickelte jede ihre eigene Richtung hinsichtlich der Bestimmung medizinischer Substanzen, der Methoden zur ­Zusammenstellung von Arzneien und der Behandlungsarten. Ihre individuelle Richtung entwickelte sich durch die Unterschiede in Umfeld, Klima und Lebensweise im Norden und im Süden Tibets. 33.1.7  Regentschaft des 5. Dalai

Lama (1617–1682 n. Chr.)

Der große 5. Dalai Lama rje btsun nga dbang blo bzang rgya mthso hatte ein persönliches Interesse an der weiteren Entwicklung der ti-

811 Tibetische Medizin

betischen Medizin. Er beauftragte die Meister don grub dpal ba, dar mo sman rams pa blo bzang chos grags und rnam gling pan chen mit der Herstellung eines Holzdrucks für das Werk grva thang rgyud bzhi. Zuvor sollte dieses Werk, soweit notwendig, überarbeitet werden. Dann gründete der große 5. Dalai Lama die erste medizinische Schule 'gro phan gling im nördlichen Teil von 'bras spungs pho brang, später weitere in gzhis ga bsams grub rtse und in shar chen lcog, gyu rgyal lcog und in gsung phu nyi ma thang am Potala-Palast. In späteren Jahren sammelte der große Dalai Lama eine Vielzahl überaus wertvoller Substanzen für die Zusammenstellung von besonderen wertvollen Pillen, die rin chen grang sbyor, rin chen tsha sbyor, dbang ril rta ri ma, dbang ril shel dkar mchod rten und dug 'joms dbang ril genannt werden. sde srid sangs rgyas rgya mtsho (1653–1706 n. Chr.) war ein bekannter Schüler des großen 5. Dalai Lama. Er wurde von ihm bereits im Alter von 8 Jahren in allen wichtigen Gebieten der tibetischen Studien unterwiesen. Bald schon war der kluge Knabe außergewöhnlich sachkundig. Durch seine karmische Prägung konnte er schon als Kind seinen Spielgefährten den Puls messen und alle möglichen Pflanzen bestimmen, die ihm begegneten. Der große 5. Dalai Lama war besonders erfreut über dessen große Begabung und machte ihn zum Regenten. Beim Auswendiglernen der medizinischen Werke bekam sde srid sangs rgyas rgya mtsho große Zweifel an der Verlässlichkeit der grva thang rgyud bzhi-Ausgabe des zur mkhar blo gros rgyal po. Er überarbeitete das Werk sorgfältig, fügte Anmerkungen hinzu und stellte einen Holzdruck zur Veröffentlichung des Werkes her. Zum Nutzen der Menschheit und zum Schutz der Identität der tibetischen Medizin verfasste er einen detaillierten rgyud bzhi-Kommentar mit dem Titel gso ba rig pa'i bstan bcos sman bla'i dgon rgyan rgyud bzhi gsal byed bai dur sngonpo malli ka, einen der berühmtesten Kommentare in der Geschichte der tibetischen Medizin. Die von ihm angefertigten neunundsiebzig (79) medizinischen Thangka-Illustrationen vermitteln anschauliche Erläuterungen der ursprünglichen Be-

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deutung der beschriebenen Texte der rgyud bzhi. Nach den Wünschen des großen 5. Dalai Lama gründete sde srid sangs rgyas rgya mtsho das Medizinische Kollegium und Kloster lcags po ri an der Spitze des Eisenberges neben dem Potala-Palast in Lhasa. 33.1.8  Ende 17.–19. Jahrhundert

Eine der herausragenden Persönlichkeiten in der Geschichte der tibetischen Medizin ist de'u dmar dge bshes bstan 'dzin phun thsog (1672–?), der unter der Leitung von khams sprul kun dga' bstan 'dzin und ka thog rin 'dzin tshe dbang nor bu nicht nur in der Medizin, sondern auch in anderen Gebieten ausgebildet wurde. Sein angeborenes Interesse an Naturheilmitteln und sein stetiger Drang, sich in der Materia Medica fortzubilden, führte ihn zu vielen wichtigen Plätzen in Tibet, China und Indien, wo er die Arzneimittel der tibetischen Medizin persönlich bestimmen, analysieren und deren Art, Funktionen und Wirkungen studieren konnte. Im Jahr 1727 schrieb er ein Werk mit dem Titel dri med shel gong, das die Heilkraft jedes einzelnen Arzneimittels im Detail beschreibt, sowie die Abhandlung dri med shel phreng mit Erklärungen zu Typus, Art und Funktion dieser Heilmittel. Beide Bücher wurden die bekanntesten Standardwerke zum Studium und zur Erforschung der tibetischen Materia Medica. Im 18. Jahrhundert erhielt si tu chos kyi 'byung gnas (1700–1774 n. Chr.) seine medizinischen und kulturellen Unterweisungen von 'bri gung dpon tshang ye shes and karma bstan dpal. Er war ein ausgesprochen begabter Schüler und später auf allen Gebieten der tibetischen Studien sehr bewandert. Er unternahm lange und weite Reisen nach China, Indien, Nepal und in die umliegenden Länder. Im 19. Jahrhundert wurde kong sprul karma nga dbang yon dan rgya mtsho (1813–1899) in der Medizin und in anderen Gebieten der Tibetologie unterrichtet. Seine Lehrer waren unter anderem 'jam dbang mkhyen brtse dbang po, 'gyur med mthu stobs rnam rgyal und si tu

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padma nyin 'byed. Bereits in jungen Jahren war er sehr gebildet und wurde in ganz Tibet berühmt. Er schrieb eine Vielzahl an bedeutenden Texten über die tibetische Medizin. 33.1.9  Regentschaft des 13. Dalai

Lama (1876–1933)

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Die tibetische Medizin erfuhr einen besonderen Aufschwung während der Regentschaft des 13. Dalai Lama thub bstan rgya mtsho. Er ernannte blo bzang bzang po und bstan 'dzin rgya mtsho zu seinen Leibärzten und betraute sie mit der gesamten Weiterentwicklung der tibetischen Medizin, insbesondere im Zusammenhang mit der Wiederbelebung der Schule der tibetischen Medizin lcags po ri in Lhasa, die zuvor eine Periode des Niedergangs erlebt hatte. Er beauftragte bstan 'dzin rgya mtsho, die bereits dem Verfall anheimgefallenen Holzdrucke der wichtigen medizinischen Texte und Abhandlungen durch neue zu ersetzen. Im Jahr 1892 wurden die rgyud bzhi durch viele anerkannte Gelehrte komplett überarbeitet, da der 13. Dalai Lama in der früheren Ausgabe einige Mängel festgestellt hatte. Der 13. Dalai Lama ernannte 1897 bkras khang byams pa thub dbang (ein Gefolgsmann der zur mkhar-­Schule) zu seinem obersten Leibarzt und bya spug dam chos dpal ldan (ein Gefolgsmann der byang pa-Schule) zum diesem untergeordneten Leibarzt. Danach beauftragte er beide, Medizinstudenten nach den Instruktionen ihrer jeweiligen Tradition zu unterrichten. Unter ihrer Unterweisung wurden lhun grub grags pa aus dar rgyas gling sowie mkhyen rab nor bu aus dem rtse thang lnga mchod-Kloster im Gebiet lho kha und tshul khrims snyan grags aus dem Kloster Dakwar zu hochgebildeten und weithin bekannten tibetischen Ärzten. Mit Billigung Seiner Heiligkeit des 13. Dalai Lama gründete bkras khang byams pa thub dbang 1916 das Men-Tsee-Khang (Institut für tibetische Medizin und Astrologie) in Lhasa. Das Men-TseeKhang stand Mönchen und Laien gleichermaßen offen und wurde sehr populär.

Als Schüler stand mhyen rab nor bu (1883– 1962) seinem Lehrer bkras khang byams pa thub dbang am nächsten. In sehr jungen Jahren trat mkhyen rab nor bu ins Kloster rtsed thang lnga mchod in der Region lho kha ein und zeichnete sich durch angeborene Intelligenz, Lernfähigkeit und Mitgefühl aus. Unter vielen jungen Mönchen wurde er ausgewählt, Studien der tibetischen Medizin an der medizinischen Schule lcags po ri zu betreiben. Er begann seine medizinischen Studien beim großen Arzt aus Sera ngag dbang chos ldan und widmete sich später dem Studium der Medizin, Astrologie und anderer Gebiete der Tibetologie unter hervorragenden Gelehrten und Ärzten wie bkras khang byams pa thub dbang, rdo rje rgyal mtshan, 'jam ppal rol pa'i blo gros, bla ma ao rgyan bstan aus Sikkim, bla ma bstan rgyal mtshan aus Kinnaur, cig car gdung 'dzin rin po che of tsa ri und anderen. Seine außergewöhnliche Ausdauer bei der Verfolgung seiner Studien, seine beständige Entschlossenheit und Ernsthaftigkeit machten ihn innerhalb kurzer Zeit sehr versiert in tibetischer Medizin, Astrologie und Astronomie. 1912 wurde er zum obersten Arzt des Drepung-Klosters bestellt, wodurch er zunehmende Bekanntheit erlangte. Er erforschte die medizinische Literatur und verfasste viele Texte, um den Studenten das Verständnis der tibetischen Medizin nahezubringen. 1913 behandelte mhyen rab nor bu, als er den Minister bshad sgra nach Shimla in Indien begleitete, viele indische Patienten, die an verschiedenen chronischen Krankheiten ­litten. Es entstand ein Dialog mit berühmten indischen Ärzten, und er kam in den Ruf eines fähigen tibetischen Arztes. Nach seiner Rückkehr nach Tibet ernannte ihn Seine Heiligkeit der 13. Dalai Lama zu seinem Junior-Leibarzt. mkhyen rab nor bu erhielt die Verantwortung für die Leitung beider medizinischer Schulen, des Men-Tsee-Khang und des lcags po ri. In beiden Instituten hielt er am traditionellen Lehrsystem fest, das an der medizinischen Schule lcags po ri von sde srid sangs rgyas rgya mtsho eingeführt worden war. Nach Anweisung Seiner Heiligkeit des 13. Dalai Lama übernahm mkhyen rab nor bu die

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alleinige Verantwortung für die Ergänzung und Erneuerung von ungefähr der Hälfte der neunundsiebzig (79) bunten medizinischen Zeichnungen der medizinischen Schule lcags po ri, da diese mit der Zeit verloren gegangen oder zerstört worden waren. Er stellte auch viele Ausgaben von Holzdrucken für zahlreiche wichtige medizinische Texte her, um sie Gelehrten, Ärzten und Studenten zur Verfügung zu stellen. Zur Pflege der Tradition der jährlichen Expeditionen zur Bestimmung von Heilpflanzen des sde srid sangs rgyas rgya mtsho begleitete mkhyen rab nor bu seine Studenten nach dog sde, gzims mal la, lung nag tshal ka und yer pa lha ri und unterwies sie in der richtigen Bestimmung sowie im Erkennen des Geschmacks und der Heilwirkung von über 300 Heilpflanzen. 33.1.10  Zeit der chinesischen

Invasion bis heute

Im Großen und Ganzen florierte die tibetische Medizin in jeder Hinsicht bis zur verheerenden Invasion von Tibet durch China im Jahr 1959. Nach der Annexion wurden die tibetische Medizin und alle anderen Aspekte der tibetischen Kultur und Religion in hohem Maße beeinflusst. Während des Tibet-­ Aufstands gegen die chinesische Herrschaft 1959 wurde die Medizinschule lcags po ri in Lhasa von den Chinesen komplett zerstört. Tausende Tibeter, auch einige Ärzte, folgten Seiner Heiligkeit dem 14. Dalai Lama 1959 ins Exil. Vom Exil aus verbreitete sich die tibetische Medizin in Indien und Nepal und schließlich auch bis in den Westen. Obwohl nur wenige Ärzte ins Exil flüchten konnten, erwies sich die medizinische Literatur, die sie mitbrachten, als von unermesslichem Wert. Durch die Bemühungen dieser Ärzte und die Hilfe Seiner Heiligkeit des 14. Dalai Lama konnte die tibetische Medizin mit der am 23. März 1961 in Dharamsala (Himachal Pradesh, Indien) gegründeten medizinischen Schule sman sbyin slob khang im Exil wiederbelebt und weiterentwickelt werden. Mit der Zusammenlegung von tibetischer

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Astrologie und tibetischer Medizin am 7. August 1967 erhielt das Institut den Namen 'gro phan-Men-Tsee-­Khang. Mit der Zeit wurde es mit der Bezeichnung Men-Tsee-Khang als renommierteste medizinisch-astrologische Einrichtung außerhalb Tibets allgemein bekannt. Die von diesem Institut unternommenen Aktivitäten sind die Ausbildung der Studenten, die Organisation von klinischen Programmen und Kräuterforschungen, die Herstellung von Arzneien und das Angebot der medizinischen Versorgung für die Allgemeinheit. Zweck aller dieser Maßnahmen ist es, die Tradition der tibetischen Medizin zum Nutzen der gesamten Menschheit zu erhalten, zu fördern und weiterzuentwickeln. Vor dem missglückten Aufstand der Tibeter gegen die chinesische Invasion im März 1959 war die tibetische medizinische Praxis für die Bevölkerung in weit entfernten Gebieten unzugänglich. Die tibetische Medizin wurde hauptsächlich in Tibet, in der Himalaya-­Region, in der Mongolei und in einigen Teilen Russlands praktiziert. Heute stehen die tibetische Medizin sowie andere traditionelle medizinische Systeme dem Dienst an der Menschheit zur Verfügung. Die tibetische Medizin hat in medizinischen Systemen, die auf Körper und Geist ausgerichtet sind, große Bekanntheit erlangt und gewinnt immer mehr Beachtung auf der ganzen Welt. >> Die tibetische Medizin ist eine der wenigen medizinischen Traditionen der heutigen Zeit, die ein vollkommen ganzheitlich ausgerichtetes Gesundheitsmodell anbietet.

In Österreich hat, sicherlich auch bedingt durch die regelmäßigen Besuche des Dalai Lama, die tibetische Medizin seit den 1980er-­Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen. Die Internationale Akademie für Traditionelle Tibetische Medizin (IATTM) wurde 2006 mit der Absicht gegründet, die Integrität und Authentizität der Lehren der traditionellen tibetischen Medizin zu fördern und die Kontinuität der Praxis zu erhalten. Innerhalb der IATTM nimmt die Akademie für Traditionelle Tibetische Medizin

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Österreich eine interdisziplinäre und internationale Brückenfunktion ein, indem sie den internationalen wissenschaftlichen Diskurs im Bereich der tibetischen Medizin fördert. Das Tibetzentrum  – Internationales Institut für Höhere Tibetische Studien in Hüttenberg, Kärnten, wurde 2008 von Seiner Heiligkeit dem 14. Dalai Lama und dem Ehrwürdigen Lama Gesche Tenzin Dhargye gegründet. Das Bildungsprogramm des Instituts ist für alle Interessierten offen und vermittelt authentische tibetische Kultur und authentisches tibetisches Wissen auf Basis der fünf Wissensgebiete der tibetisch-buddhistischen Kultur (Fünf Rigne). Der Fokus liegt insbesondere auf der Bereitstellung von Bildungsangeboten in den Bereichen buddhistische Wissenschaften und tibetische Medizin, um sowohl die geistige als auch die körperliche Gesundheit zu fördern. Mit seinen Aktivitäten ist das Tibetzentrum bestrebt, Freundlichkeit, Glück, Harmonie, Toleranz, Mitgefühl und liebende Güte in der Gesellschaft zu kultivieren und das kulturelle Erbe Tibets zu erhalten. Der Wiener Arzt und Tibetologe Dr. Florian Ploberger wurde 2007 vom Men-Tsee-­ Khang eingeladen, dort Vorträge zu halten und hält seit dem gleichen Jahr wöchentlich am Institut für Südasien-, Tibet- und Buddhismuskunde der Universität Wien eine Vorlesung über diverse Themen der tibetischen Medizin. 2009 wurde er offiziell von Dr. Dawa, dem damaligen Direktor des Men-Tsee-Khang, in Absprache mit dem Health Department der Exilregierung der Tibeter, mit der Übersetzung der ersten beiden Teile des bedeutendsten Werks der tibetischen Medizin rgyud bzhi beauftragt (s. oben). Dieser nun unter dem deutschen Titel Wurzeltantra und Tantra der Erklärungen erschienene Text dient seit dem 12. Jahrhundert als Grundlagentext in der Ausbildung der tibetischen Mediziner und wird noch heutzutage auswendiggelernt. 2011 wurde er offiziell von Dr. Tamdin, dem damaligen Direktor des Men-Tsee-Khang, mit der Übersetzung des letzten Teils der rgyud bzhi beauftragt, der 2015 unter dem Titel Das letzte Tantra erschienen ist.

33.2  Grundbegriffe

Bei der folgenden Zusammenstellung handelt es sich um einen beispielhaften Auszug verschiedener Grundbegriffe, die alphabetisch angeordnet sind. In den Definitionen sind jeweils phonetische bzw. transliterierte Umschreibungen der tibetischen Termini zu finden. zz Grundbegriffe der tibetischen Medizin Baekan (bad kan) - bad bedeutet Wasser und kan Erde. Dies ist die Bezeichnung für die kombinierten Elementarenergien von Erde und Wasser. bad kan ist eine der 3 Grundenergien, die sich im Körper befinden. Diese Energie ist verantwortlich für die Festigkeit des Körpers, die Standhaftigkeit des Geistes, die Beweglichkeit der Knochen, sie liefert dem Körper Flüssigkeit. Es gibt 5 spezifische Arten von bad kan, jede mit den für sie typischen Orten und Funktionen.

Baekan lhen (bad kan lhen) - Eine bad kan-­Krankheit; charakteristisch sind Schleimbildung im Magen und in der Folge Ansammlung von Schleim unter dem Schwertfortsatz; der Patient hat ein „rollendes“ Gefühl (im Bauch), leidet unter Appetitverlust und schlechter Verdauung. Baekan menyam (bad kan me nyams) - Eine bad kan-Krankheit; charakteristisch sind eine Schwächung der Hitze des Verdauungstrakts und des feuerbegleitenden rlung, es kommt zu Verdauungsstörungen und flüssigem Stuhlgang mit Resten unverdauter Nahrungsmittel. Baekan mukpo (bad kan smug po) - Eine kombinierte rlung-, mkhris pa-, bad kan-, chu ser- und Blutkrankheit; smug po bedeutet braun und ist ein Hinweis für die Farbmischung aus rlung (bläulich), mkhris pa und chu ser (gelblich), bad kan (blass oder weißlich) und Blut (rötlich). Baekan serpo (bad kan ser po) - Eine bad kan-­ Krankheit in Zusammenhang mit mkhris pa (Erläuterung s. unten, Tripa).

Chhuser (chu ser) - Ein kombiniertes Ausscheidungsprodukt aus Blut und dem gereinigten Teil der Galle. Diese Körperflüssigkeit findet sich im gesamten Körper, besonders konzentriert in den Zwischenräumen der Haut und der Knochen. Aufgrund ihrer Verbindung mit Blut und Galle ist sie rot und gelb eingefärbt. Der Name entspricht also ihrer Wesensart und ihrer Farbe. Chhu tren (chu skran) - Wörtlich: „gutartiger chu ser-Tumor“. Die Bildung von übermäßiger Flüssigkeit an den Wänden der inneren Organe aufgrund einer Verdauungsstörung verursacht schließlich die Bildung eines gutartigen Tumors, der mit Flüssigkeit gefüllt ist.

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Cin (srin) - Ein angeborener winziger Organismus, der in vierundachtzigtausend (84.000) verschiedenen Arten im Körper vorhanden ist. Er unterstützt die Verdauung, erzeugt Körperkraft und fördert ein strahlendes Aussehen der Haut. srin wird nach seiner Lokation klassifiziert.

Dhuepa (’dus pa) - Ein Zustand des Ungleichgewichts von rlung, mkhris pa und bad kan.

Dri (’bri) - Ein schwarzfelliges weibliches Tier, typisch in Tibet, das für seine Milch und sein Fleisch gehalten wird; Synonym für weibliches Jak. Jakhyung (bya khyung) - Garunda, ein Vogel aus der Mythologie.

Kangbam (rkang bam) - Eine Krankheit, bei der es wegen bad kan- und Blutstörungen zu einer Schwellung der Beine kommt.

Khenda (khaN+Da) - Eine konzentrierte Medizin, die durch langes Kochen der Zutaten hergestellt wird, bis sie fest wird. Khyor (khyor) - Eine Maßeinheit, die einer hohlen Handvoll entspricht.

Kuwa (ku ba) - Ein Synonym von ka pad (Lagenaria

Surya (sur ya) - Eine Krankheit mit sonnenförmigen runden und rötlichen Abszessen in Lunge, Leber, Niere, Magen und Dickdarm. Thang (thang) - Ein Augenblick, der sechzig (60) skad cig ma lang ist.

Thog gi saepai ruepa (thog gis bsad pa’i rus pa) Knochen eines Menschen, der vom Blitz getroffen wurde und daran starb.

Torma (gtor ma) - Eine kegelförmige rituelle Opfergabe, die aus Teig zubereitet wird und symbolhaft verschiedene Gegenstände darstellt. Trie (spri) - Rahm, der entsteht, wenn die erste Milch nach dem Wurf eines jungen Yaks gekocht wird.

Tripa (mkhris pa) - mkhris pa bedeutet Brennen. Es ist die Bezeichnung für die Hitzeenergie und eine der drei (3) nyes pa. mkhris pa ist mit dem Feuerelement verbunden und übt Funktionen wie die Erzeugung von Hitze und die richtige Verdauung von Nahrung und Getränken aus. Es gibt fünf (5) spezifische mkhris pa-Arten, jede mit eigenen Lokationen und Funktionen.

Tsa (rtsa) - Kurz für rtsa ba, das wörtlich Wurzel bedeutet.

siceraria, Flaschenkürbis).

Tsampa (rtsam pa) - Ein tibetisches Grundnahrungs-

Laa (bla) - Die feinstoffliche Energie der Lebenskraft,

mittel aus gerösteter Gerste.

die sich bewegt und eine Zeitlang an einer bestimmten Stelle des Körpers verweilt.

Tsub khyil (rtsub ’khyil) - Die Bildung eines Haarwir-

Loong (rlung) - Eine der drei (3) nyes pa, die mit der

Yenpa (gyan pa) - Eine Hautkrankheit, die mit star-

Natur des Elements Luft verbunden ist. Obwohl sie in jedem einzelnen Körperteil vorrangig präsent ist, befindet sie sich v. a. in Herz, Gehirn, Nerven und Blutgefäßen. rlung steuert die Funktion des zentralen Nervensystems, das die feinsinnige Wahrnehmung verschiedener Objekte des Bewusstseins zum Inhalt hat. Auch für die Funktionen von Körper und Geist, die mit Bewegung zu tun haben, ist sie verantwortlich. Es gibt fünf (5) spezifische rlung-Arten, jede mit eigenen Lokationen und Funktionen.

Loong tren (rlung skran) - Vor allem durch eine rlung-Störung verursachte gutartige Tumore in Magen, Dickdarm und Uterus.

bels am Scheitel des Kopfes. kem Jucken und der Absonderung von chu ser einhergeht.

Zakong (za kong) - Eine Hautkrankheit, die durch ein Übermaß an chu ser entsteht. Es bilden sich Grübchen in der Haut, die stark jucken. Zen chhang (zan chang) - Ein Wein, der aus rtsam paTeig hergestellt wird.

Zho (mdzo) - Eine männliche Kreuzung aus einem Jak und einer Kuh oder einem Stier und einem 'bri.

33.3  Diagnostik

Lue zung (lus zungs) - Die körperlichen Bestandteile, die für den Erhalt und die Versorgung des Körpers zuständig sind.

Mirue tsama (mi rus btsa’ ma) - Ein verwester Menschenknochen, der lange unter der Erde gelegen hat.

Miyi chirue (mi’i dpyi rus) - Hüftknochen des Menschen. Nad (nad) - Wörtlich: Krankheit oder Störung. Wird auch manchmal als Ausdruck für rlung, mkhris pa und bad kan in ausgewogenem Zustand benutzt, da diese drei (3) nyes pa schwere gesundheitliche Schäden und sogar den frühzeitigen Tod hervorrufen können.

Nyepa (nyes pa) - Ein unausgewogener Zustand von rlung, mkhris pa und bad kan.

Zu den wichtigsten Texten der tibetischen Medizin, den rgyud bchi, wurden zusätzlich 82 Thangkas erstellt, die die Inhalte bildlich darstellen; in Thangka 3 finden sich die entsprechenden über die Diagnose (. Abb. 33.1). Die Diagnosemethoden der tibetischen Medizin, bestehend aus Betrachtung (einschließlich Zungen- und Urindiagnostik), Berührung (einschließlich Pulsdiagnose) und Befragung, werden in einem separaten Beitrag zur speziellen TAM-Diagnostik in 7 Kap. 14 dargestellt.  



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..      Abb. 33.1  Thangka 3 aus dem Wurzeltantra Über die Diagnose

33

33.4  Therapie

Da sich die verschiedenen Elemente in einem dynamischen Gleichgewichtszustand befinden, können bereits kleinere Störungen wie ungesunde Ernährungsweise, falsche Lebensgewohnheiten, ungünstige Klimabedingungen oder negative Einflüsse von Geistern das gesamte physiologische Wohlbefinden beeinträchtigen (. Abb. 33.2 und 33.3).  

>> Die tibetische Heilkunst legt großen Wert auf die Erhaltung eines gesunden und ausgeglichenen Lebens. Daher wird in der tibetischen Medizin der Vorbeugung, besonders der richtigen Ernährung und einer gesundheitsfördernden Lebensweise, größte Aufmerksamkeit gewidmet.

Wenn die beiden Faktoren Ernährung und Lebensweise die gewünschten positiven Ergebnisse nicht erfüllen können, werden Medikamente verschrieben. Es gibt unterschiedliche Verabreichungsarten wie Dekokte, Pulver, Pillen, Säfte und medizinische Butter. Im Allgemeinen beginnt der tibetische Arzt mit der Verschreibung milder Mittel und greift bei Bedarf auf zunehmend stärkere Methoden zurück. Andere therapeutische Maßnahmen außer der Arzneimittelgabe sind z.  B. behutsame bis drastische ausleitende Therapien, wobei erst als letzte Möglichkeit chirur­ gische Methoden angewendet werden. 33.4.1  Diätetische Maßnahmen

Die Bedeutung einer an den Patienten angepassten Ernährung wird im rgyud bzhi immer wieder

817 Tibetische Medizin

33

..      Abb. 33.2  Thangka 2 aus dem Wurzeltantra Über Physiologie und Pathologie

besonders betont und zusätzlich in 3 eigenen Kapiteln des zweiten Tantras (Tantra der Erklärungen) ausführlich behandelt. Diese 3 Kapitel des Tantra der Erklärungen, zas tsul (Ernährungslehre), zas bsdam (diätetische Restriktionen) und zas tshod ranpa (Korrekte Einnahme von Nahrungsmitteln und Getränken), werden in einem gesonderten Beitrag dargestellt (7 Kap.  29, Diätetische Maßnahmen in der tibetischen Medizin)  

33.4.2  Verhaltensmaßnahmen

Derartige Maßnahmen betreffen das ständige Verhalten, das Verhalten in Bezug auf die Jahreszeiten und das Verhalten bei bestimmten Gelegenheiten. kDas ständige Verhalten

Hier geht es um die richtige Benutzung von Körper, Rede und Geist. Dazu gehören auch

das Tragen von wertvollen Edelsteinen, die Analyse des normalen Aufenthaltsortes und von Reiserouten sowie schließlich auch eine angemessene sexuelle Betätigung, die an gesundheitliche und jahreszeitliche Faktoren angepasst ist. Emotional aufwühlende oder gefährliche Aktivitäten und Aufenthaltsorte sind möglichst zu vermeiden. Die Einhaltung dieser Verhaltensmaßregeln verhilft nicht nur zu anhaltender Gesundheit und einem angenehmen Leben, sondern wirkt auch lebensverlängernd und fördert wahre Zufriedenheit. >> Besonders wichtig ist es, ein spirituell erfülltes Leben zu führen. Man muss die 10 Laster aufgeben, um sein Leiden in diesem Leben auf ein Minimum zu reduzieren und schließlich Buddhaschaft zu erlangen.

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F. Ploberger

..      Abb. 33.3  Thangka 4 aus dem Wurzeltantra Über die Behandlung

33

kDas Verhalten in Bezug auf die Jahreszeiten

Jeder Mensch sollte sich darüber im Klaren sein, dass sein Körper in Abhängigkeit zu der unmittelbaren Umgebung steht. Er sollte sein Verhalten an die laufenden Veränderungen anpassen. Das tibetische Jahr beginnt mit dem frühen Winter von November bis Dezember, es folgen der späte Winter von Januar bis Februar, der Frühling von März bis April, sos ka von Mai bis Juni, der Sommer von Juli bis August und schließlich der Herbst von September bis Oktober. 33.4.3  Äußere (zusätzliche)

therapeutische Methoden

Neben der Verschreibung von (überwiegend pflanzlichen) Medikamenten kann der Arzt auch auf andere Methoden zurückgreifen. Hier

gibt es zwei Arten: behutsame und drastische Maßnahmen. kBehutsame Maßnahmen

Dazu zählen Massagen, heiße oder kalte Umschläge, Anwendungen mit heißem Thermalwasser und medizinische Dampfbäder. kDrastische Maßnahmen

Aderlass, Schröpfen, Moxibustion und Akupunktur (golden-needle) sind drastische Therapien. Chirurgische Methoden werden nur als letzte Alternative angewandt. Ehe solche Hilfsmaßnahmen eingesetzt werden, muss ein tibetischer Almanach zu Rate gezogen werden, um den exakten Ort des bla (der Lebenskraft) im Körper zu bestimmen. Mit aufgehendem und abnehmendem Mond bewegt sich bla von einem Körperteil zum anderen, bei Frauen im Uhrzeigersinn, bei Männern

33

819 Tibetische Medizin

in entgegengesetzter Richtung. Ärzte dürfen zur Zeit des Vollmondes und des Neumondes sowie an Körperstellen, wo das bla laut Almanach verweilt, keine Behandlungen durchführen, sonst würde die Behandlung eher schaden als nützen. 33.4.4  Pharmakologie

Laut rgyud bzhi gibt es auf Erden keinerlei Pflanzen ohne medizinischen Wert. Hierzu eine kurze Geschichte: Einer alten, seit zahlreichen Generationen überlieferten Anekdote aus der Geschichte der tibetischen Medizin ist zu entnehmen, dass eines Tages der mit umfangreichem Wissen versehene Lehrer – es war Jivaka, der Arzt des Buddha, sein tibetischer Name war 'tsho byed gzhon nu – die um ihn versammelten Schüler aufforderte, den Unterrichtsraum zu verlassen, um in der Umgebung nach Pflanzen Ausschau zu halten, die keinerlei Heilwirkung aufwiesen. Mit diesem Auftrag versehen, machten sich die Schüler auf den Weg. Einige der Ausgesandten kamen bereits nach kurzer Zeit zurück. Sie trugen diverse Wurzeln, Früchte eines Baumes, Blüten etc. in der Hand. Andere benötigten etwas mehr Zeit. Doch einer der Schüler, er war mit besonderen Talenten versehen, konnte, so sehr er sich auch bemühte, keinerlei Pflanze ohne Heilwirkung finden; er kam aus diesem Grund am 3. Tag mit leeren Händen zu seinem Lehrer zurück. Natürlich pries ihn sein Lehrer, da nach seinen Ausführungen in der Natur nichts ohne Heilqualitäten zu finden sei. Da überall auf der Welt Pflanzen wachsen, die medizinisch genutzt werden können, werden die nachfolgend näher beschriebenen 7 Vorgehensweisen zur Identifizierung, Kultivierung und Verarbeitung von Pflanzen zu Medikamenten im tibetischen Medizinsystem hoch geschätzt. Die Lehre der Pharmakologie basiert in der tibetischen Medizin auf der `byung ba lnga-Theorie bzw. den 5 grundlegenden Elementen. Wie bereits angeführt, handelt es sich bei den 5 grundlegenden Elementen nicht um physikalisch-chemische Elemente, sondern um Vorstellungen, die sich mit den ihnen

innewohnenden feinstofflichen, subtilen Qualitäten auseinandersetzen. (. Tab. 33.1) Diese feinstofflichen, subtilen Qualitäten sind nicht nur für die materiellen Erscheinungsformen von rlung, mkhris pa und bad kan verantwortlich, sondern auch für die 6 Geschmacksrichtungen und die 3 Geschmacks 

..      Tab. 33.1  Die Qualitäten der grundlegenden Elemente Element

Qualität

Wirkung

Erde

Schwer (lci)

Verstärkt bad kan

Stabil (bstan) Stumpf (rtul)

Beruhigt rlung

Glatt ('jam) Ölig (snum) Trocken (skam) Wasser

Flüssig (sla) Kühl (bsil) Schwer (lci) Stumpf (rtul)

Verstärkt bad kan Beruhigt mkhirs pa

Ölig (snum) Biegsam (mnyen) Feuer

Heiß (tsa) Scharf (rno) Trocken (skam) Rau (rtsub)

Verstärkt mkhris pa Beruhigt bad kan

Leicht (yang) Ölig (snum) Beweglich (gyo) Luft

Leicht (yang)

Verstärkt rlung

Beweglich (gyo) Kalt (grang) Rau (rtsub) Nicht ölig (skya) Trocken (skam)

Beruhigt bad kan

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richtungen nach erfolgter Verdauung, aus welchen die Zusammensetzung, die Eigenschaften und verschiedenen Wirkungen eines bestimmten Medikamentes abgeleitet werden. An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass bei verschiedenen Pflanzen in Abhängigkeit davon, wo sie gewachsen sind, welchen Witterungsbedingungen sie ausgesetzt waren, zu welchen astrologischen Konstellationen sie geerntet wurden etc. eine unterschiedliche Wirkung zu beobachten ist. Tibetische Arzneimischungen, die in den meisten Fällen in Form von Pillen oder Pulvern verabreicht werden, enthalten oft 50 oder mehr Einzelbestandteile. Diese verschiedenen Bestandteile – früher wurden neben Pflanzen und Mineralien auch tierische Wirkstoffe verwendet, die in der heutigen Zeit aber aus ethischen Überlegungen und aus Gründen des Artenschutzes nicht mehr eingesetzt werden – haben oft stark differierende Geschmäcke, thermische Wirkungen und Funktionen. Durch diese Vorgehensweise sind tibetische Mischungen in ihrer Wirkung sehr ausgewogen und damit nebenwirkungsarm.

33

>> Interessanterweise gibt es in der tibetischen Medizin nicht die in der TCM übliche Vorgehensweise, klassische Rezepturen individuell an den jeweiligen Patienten anzupassen bzw. durch Hinzufügen oder Weglassen einzelner oder mehrerer Bestandteile zu variieren.

Als Begründung wird der große Respekt vor den Verfassern der alten Texte bzw. Ehrfurcht vor dem Medizin-Buddha, auf den die tibetischen Medizin zurückzuführen ist, angegeben. Ein Großteil der heutzutage in Tibet bzw. im Exil praktizierenden tibetischen Ärzte verwendet in der täglichen Praxis 100–150 verschiedene Mischungen, die nicht individuell an den Patienten angepasst werden, sondern einer fixen Rezeptur folgen. Jedoch werden verschiedene Rezepturen dem Patienten entsprechend zusammengestellt. Diese Kombination wird über den Behandlungszeitraum hinweg dem Krankheitsverlauf angepasst und verändert. Die verwendeten Mischungen stammen aus diversen klassischen Texten.

Es gibt jedoch in der tibetischen Medizin ein Argument, das es dem Arzt ermöglicht, auch die Rezepturen aus überlieferten Texten der tibetischen Medizin abzuwandeln: Sollten gewisse Bestandteile einer Rezeptur nicht erhältlich sein bzw. aus Gründen des Artenschutzes nicht verwendet werden dürfen, können sie substituiert werden. Diese Ersatzbestandteile werden nach den Kriterien Geschmack und thermische Wirkung ausgewählt und sollten dem zu ersetzenden Bestandteil möglichst ähnlich sein. 33.5  (Haupt-)Indikationen

Da sich die tibetische Medizin als ein umfassendes Medizinsystem versteht, gibt es keinerlei (Haupt-)Indikationen. Im 21. Jahrhundert in Europa sind funktionelle sowie chronische Beschwerdebilder vorrangige Indikationen für die tibetische Medizin. Bei Notfällen sowie bei Krankheitsbildern, die mithilfe einer Operation verbessert werden können, steht selbstverständlich die konventionelle westliche Medizin im Vordergrund. 33.6  Studien/Case Reports

In den letzten Jahren hat das Interesse an tibetischer Medizin in Asien, aber auch in Europa und Amerika stark zugenommen. In PubMed, der international anerkannten Datenbank für publizierte Studien, waren im November des Jahres 2017 1114 Studien zum Thema „tibetische Medizin“ abrufbar. Studien werden von Medizinern, Pharmakologen, Tibetologen und Anthropologen in englischer, tibetischer sowie chinesischer in Sprache publiziert (Quellenangaben zu ausgewählten Studien Literaturverzeichnis). War zu Beginn die tibetische Phytotherapie im Fokus des Interesses, so sind in den letzten Jahren weitere Forschungsschwerpunkte dazugekommen: Lebensweise, Ernährung und Meditation. zz Zum Thema Meditationsforschung

Im deutschsprachigen Gebiet beschäftigen sich v. a. die Psychologen Ulrich Ott und Tania

821 Tibetische Medizin

33

Singer mit der neurobiologischen Meditationsforschung. Im November 2010 fand in Berlin zum ersten Mal der interdisziplinäre Kongress Meditation und Wissenschaft statt, der von der Identity-Foundation und der Oberberg-­ Stiftung veranstaltet wurde. Seit 2001 richtet die Society for Meditation and Meditation Research e.V. (SMMR) jährlich interdisziplinäre Tagungen und Symposien aus. Das Mind and Life Institute ist unter Mitwirkung anerkannter Wissenschaftler mit dem Versuch befasst, die Wirkung von Meditation auf das Gehirn zu untersuchen  – und umgekehrt.

schuf mit ihrer Arbeit die Grundlage, Malaria weltweit mit einer wirksamen Arznei bekämpfen zu können. Ihre Forschung ist von einer Heilpflanze der traditionellen chinesischen Medizin inspiriert: Aus Artemisia annua, dem Einjährigen Beifuß, gewann sie die Substanz Artemisinin, die gegen Malaria wirksam ist. Die Wissenschaftlerin hatte in den 1970er-­ Jahren gezielt nach pflanzlichen Wirkstoffen gegen die schwere, fieberhaft verlaufende Tropenkrankheit gesucht. In Europa ist die in der Schweiz ansässige Firma PADMA federführend an der Erforschung von Multisubstanzgemischen beteiligt.

zz Wirkungen der Meditation

33.7  Ausbildung

Regelmäßige Meditation kann beruhigend wirken und wird des Öfteren in bestimmten Formen auch in der westlichen Medizin als Entspannungstechnik empfohlen (7 Kap.  37). Die Wirkung, der meditative Zustand, ist neurologisch als Veränderung der Hirnströme messbar. Der Herzschlag wird verlangsamt, die Atmung vertieft, Muskelspannungen werden reduziert. Richard Davidson belegte 2004 bei tibetischen Mönchen größere Aktivitäten im linken Stirnhirnlappen und die Gamma-Wellen waren mehr als 30-mal stärker ausgeprägt als bei der Kontrollgruppe. Auch morphologische Veränderungen konn­ ten durch Ulrich Ott und Sara Lazar belegt werden; die Dichte der Nervenzellen im orbitofrontalen Kortex war höher, und jene Bereiche der Großhirnrinde, die „für kognitive und emotionale Prozesse und Wohlbefinden wichtig sind“, waren – verglichen mit der Vergleichsgruppe – um bis zu 5 % dicker.  

zz Einsatz von Kräuterpräparaten

Was die Wirkung von tibetischen Kräuterpräparaten betrifft, wird in China derzeit v. a. Forschung betrieben, die darauf abzielt, die Wirksamkeit von in tibetischen Pflanzen enthaltenen Monosubstanzen zu erfassen. Diese Arbeiten werden motiviert durch die Verleihung des Medizinnobelpreis 2015 an die chinesische Pharmakologin Youyou Tu. Sie

zz Traditionelle Tibetische Medizin am Tibetzentrum – IIHTS, Hüttenberg, Kärnten

Der Diplomlehrgang Grundlagen der Traditionellen Tibetischen Medizin des Tibetzentrums bietet authentische Informationen über die in diesem System gebräuchlichen Auffassungen von Gesundheit und Krankheit sowie seine Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Da das Tibetzentrum als einziges westliches Institut in Kooperation mit tibetischen Partnerinstituten, wie der Universität für Tibetische Studien von Varanasi und dem Men-Tsee-Khang, dem Tibetischen Medizininstitut Seiner Heiligkeit des Dalai Lama in Dharamsala (Indien), Lehrgänge anbietet, erhalten die Teilnehmer die einzigartige Gelegenheit, das Wissen direkt von tibetischen Lehrbeauftragten übermittelt zu bekommen. Der gesamte Lehrgang umfasst derzeit 5 Semester und 15 Module, die jeweils 2–3 Tage dauern, und teilweise im Fernstudium absolviert werden können. Bei positivem Abschluss des TTM-Grundlehrgangs wird ein vom Tibetzentrum und dem Men-Tsee-Khang gemeinsam ausgestelltes Diplom überreicht. Der Abschluss des Grundlehrgangs ist die Voraussetzung für die Teilnahme an den weiterführenden Praxislehrgängen zu den sanften Therapien (inkl. Massage) und Diagnosemethoden der TTM.

822

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Themenübersicht des Lehrgangs: Einführung in die Geschichte der TTM und der Medizintantras, Ursachen von Krankheiten: die drei subtilen Energien (Wind, Galle und Schleim) und die Grundkonstitution einer Person, Theorie der fünf Elemente, Embryologie, Anatomie, Physiologie, Einteilung der Krankheiten in der TTM, Untersuchungsmethoden der TTM, Behandlungsgrundsätze, Ernährung und Lebensstil, Geschmacksrichtungen und Wirkungen von tibetischen Heilkräutern, Geist-Körper-Beziehung, ärztliche Ethik und Verhalten, sanfte und drastische Therapien (Einführung), Materia Medica, allegorischer Baum, rlung-, mkhris pa- und bad kan-Erkrankungen, tibetische Medizin und Astrologie, Verdauungsstörungen aus Sicht der TTM. zz Internationale Akademie für Traditionelle Tibetische Medizin (IATTM) in Österreich

33

Dr. med. Jens Tönnemann, Facharzt für Psychiatrie, Akademie für Traditionelle Tibetische Medizin Österreich, Michael-Gaismair-Str. 13 A-6020 Innsbruck Akademie für Traditionelle Tibetische Medizin Österreich (ATTM Austria): 7 http://  

www.­attm-austria.­at

Internationaler Newsletter der IATTM:

7 http://www.­attm-austria.­at/newsletter.html  

Zur internationalen Web-Präsenz der IATTM: 7 http://www.­iattm.net  

Ausbildungen der IATTM in Österreich und im deutschsprachigen Raum: 7 http://www.­  

attm-austria.­at/programm-kurse.html

kBacopa Handels- & Kulturges.m.b.H.

Bildungszentrum, Verlag und Versand Waidern 42 A-4521 Schiedlberg [email protected] 7 www.bacopa.at­

Die Akademie für Traditionelle Tibetische Medizin Österreich (ATTM Austria) ist der österreichische Zweig der IATTM, einer stetig wachsenden internationalen Organisation mit derzeit (2017) 40 Mitgliedsländern. Innerhalb der IATTM nimmt die Akademie für Traditionelle Tibetische Medizin Österreich eine interdisziplinäre und internationale Brückenfunktion ein, indem sie den internationalen wissenschaftlichen Diskurs im Bereich der tibetischen Medizin fördert. Dr. Jens Tönnemann (Facharzt für Psychiatrie, Traditionelle Tibetische Medizin in Innsbruck), der Koordinator der ATTM Österreich, ist auf internationaler Ebene für die Organisation des jährlichen International Congress on Traditional Tibetan Medicine – Sowa Rigpa, ein Zusammentreffen von Experten und Interessierten aus unterschiedlichen Ländern und Lehrtraditionen im Bereich Sowa Rigpa, zuständig.

men-tsee-khang.org

zz Sekretariat/Anlaufstelle/Adressen/Links

kPadma AG

kTibetzentrum – IIHTS

Internationales Institut für Höhere Tibetische Studien, Knappenberg 69 A-9376 Hüttenberg [email protected] 7 www.­tibetcenter.at  

Weitere Informationen, Kontaktdaten, Informationen zu den Kongressen und Ausbildungen sowie Dokumentationsmaterial: 7 http://  

www.­attm-austria.at

Allgemeine Informationsseite des österreichischen Informationszentrums für TTM mit wertvollen Links, Hinweisen zu Filmen, Forschungsprojekten, Ausbildungszentren und Publikationen: 7 www.­tibetischemedizin.org  

Official Website of Tibetan Medical & Astrology Institute of H.H. The Dalai Lama: 7 www.­  

Dr. med. Florian Ploberger B. Ac., MA, Zieg- 7 www.­p adma.­c h/padma-ag/unternehmen.­ lergasse 66/6 A-1070 Wien 7 http://www.­ html 7 www.­tibmedinfo.­ch  



florianploberger.com



823 Tibetische Medizin

33.8  Ablauf einer Konsultation

mit Beschreibung eines praktischen Falls

Jens Tönnemann zz Fallbeispiel aus der fachärztlich-­ psychiatrischen Praxis: akute Belastungssituation bei früherer traumatischer Erfahrung

Eine 37-jährige Frau kommt 7 Tage nach einem dramatischen und für sie sehr bedrohlichen Ereignis in die fachärztlich-psychiatrische Sprechstunde. Sie könne seither „kaum noch zur Ruhe kommen“, sie sei „völlig aufgewühlt“, „wache nachts mit Atemnot und Herzrasen schweißgebadet auf “ und „habe Angst, dass nun alles wieder losginge“. Vor 4 Jahren sei sie im Rahmen einer psychiatrisch diagnostizierten posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD/PTBS; ICD 10: F43.1) und einer depressiven Episode (F32.0) in fachärztlich-psychiatrischer Behandlung gewesen und habe für eineinhalb Jahre ein Antidepressivum (Sertralin) eingenommen. Parallel habe sie sehr von einer traumasensiblen Einzelpsychotherapie-Erfahrung profitiert (Dauer: eineinhalb Jahre mit anfangs wöchentlichen, nach 6 Monaten 2- bis 3-­wöchigen Terminen). Sie beschreibt eine in Folge sehr erfreuliche Entwicklung privat und beruflich sowie den zufriedenen Abschluss der Psychotherapie nach eineinhalb Jahren. Bereits einige Wochen zuvor hatte sie das Antidepressivum in Zusammenarbeit mit der Fachärztin für Psychiatrie nach „kompletter Remission“ schrittweise abgesetzt, wobei sie eine „kurze, aber heftige Absetzreaktion“ mit Übelkeit, gastrointestinalen Beschwerden, Schweißausbrüchen, erhöhter Reizbarkeit und Durchschlafschwierigkeiten für 5–7 Tage nach Absetzen beschreibt. Nun, 4 Jahre später, nach dem dramatischen Ereignis vor wenigen Tagen, habe ihr Hausarzt den Wiederbeginn der früheren Medikation in Kombination mit einem Benzodiazepinpräparat zu Therapiebeginn vorgeschlagen.

33

Sie habe dies jedoch vorerst abgelehnt, da sie keine Medikamente einnehmen möchte: einerseits wegen der früher erlebten ausgeprägten Absetzreaktion, andererseits wegen weiterer Nebenwirkungen, die sie damals während der Behandlung nicht angesprochen habe, v. a. eine belastende „sexuelle Dysfunktion“, die aus ihrer Sicht im Zusammenhang mit der Einnahme des Antidepressivums gestanden habe. Sie möchte eine kompetente traumasensible fachärztliche Unterstützung, bei der ihr und der aktuellen Belastungssituation sowie ihrer Sorge vor einer Re-Traumatisierung mit Offenheit auch für ihr Bedürfnis nach einer ganzheitlichen komplementärmedizinischen Perspektive begegnet werde, insbesondere habe sie Interesse an Methoden der traditionellen tibetischen Medizin. kZuweisung

55 Akute Belastungsreaktion bei vorbeschriebener posttraumatischer Belastungsstörung und früherer depressiver Episode, 55 Offenheit der Patientin für CAM (complementary and alternative medicine), insbesondere Interesse an traditioneller tibetischer Medizin, Vorerfahrung und gezielte Anmeldung, 55 vorbeschriebene sexuelle Dysfunktion unter früherer medikamentöser Behandlung sowie 55 protrahierte Absetzreaktion nach Beenden der medikamentösen Therapie. kWissenschaftlicher Hintergrund/ Literaturrecherche

Die sexuelle Dysfunktion ist eine häufige Nebenwirkung in der medikamentösen Behandlung mit den meisten Antidepressiva und einer der Hauptfaktoren für einen frühzeitigen Abbruch der medikamentösen Therapie (Kennedy und Rizvi 2009). Es gibt einige Möglichkeiten zur Behandlung der antidepressivainduzierten sexuellen Dysfunktionen wie beispielsweise „Warten auf eine Spontanremission“, Dosisreduktion, Substitution des verwendeten Medikaments durch eine Alternativsubstanz, „Drug Holidays“ … (Kinzl 2009).

824

33

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2/3 der ambulanten Patienten/Patientinnen 4. Alltagstransfer: Aufbau eines „kooperatimit manifester Depression verwenden CAM-­ ven Settings“ (kooperative Vernetzung der Therapien parallel zur Einnahme einer ärztlich Behandler auf Wunsch der Patientin) und verordneten medikamentösen Therapie (Kessler behutsamer Neubeginn einer Einzelpsyet al. 2001). chotherapie mit Körperfokus (traumasenEinige Patienten/Patientinnen erwähnen sible systemische Therapie inkl. somatic diese nicht in der hausärztlichen oder psychiaexperiencing). trischen Behandlung, was zu Behandlungsfehlern, Therapieverzögerungen und Sicherheits- kFollow-up nach 2 Wochen risiken führen kann (Kessler et al. 2001). 55 Deutliche Besserung: Das größte Risiko bei der Verwendung 55 Einschlafstörung sowie nächtliches einer CAM-Therapie ist die mögliche VerzöErwachen gebessert, gerung des Therapiebeginns gut etablierter Be55 allgemeine Übererregung deutlich handlungsmöglichkeiten (Freeman et al. 2010). reduziert, seither frei von panikattackenartigen Zuspitzungen, kAssessment und Diagnostik (psychiat55 Reduktion der belastungsassoziierten risch/TTM) körperlichen Begleitsymptome, insbePsychiatrische Re-Evaluation der früheren Besondere Kopfschmerzen und Verspanfunde sowie Berücksichtigung der aktuellen nungen im Schulter-Nacken-­Bereich, allgemeinmedizinischen Befunde nach Ver55 subjektiv: mehr „innere Wärme“ und netzung mit dem Hausarzt. entlastendes Bedürfnis nach Ruhe, die die Patientin jetzt auch wieder als kPsychiatrische Diagnose erholsam erlebt. Akute Belastungsreaktion bei vorbeschriebe- 55 Besonders gutes Feedback der Patientin ner posttraumatischer Belastungsstörung sobzgl. der eigenen Handlungsmöglichwie Z. n. depressiver Episode 2009. keiten nach den Therapieempfehlungen für zu Hause (Ernährung, hor me, MoxikUrin- und Pulsdiagnostik der TTM bustion). Diagnose: snying rlung („Wind im Herzen“), an der Grenze zu Stadium 2: Srog rLung („Störung kBefund nach 4 Wochen (inkl. Puls-/ Urindiagnostik) des lebenserhaltenden Winds“). Therapie unter Berücksichtigung von 55 Weitere Stabilisierung; die Patientin geht Prinzipien der TTM wieder arbeiten, ist zuversichtlich, 55 neu: sporadisch „Ärger“, „leichte Wut“ kStufenweise und komplex: und „Handlungsdrang“, 1. Diät- und Lebensstilberatung 55 medikamentöse Therapieerweiterung: 2. Äußere Therapien zur akuten Entlastung: ´bras bu 3 thang 0–1–0–0, hor me (3-age-Schema), anschließend 55 bereits 2 Psychotherapietermine absolviert Moxibustion + Selbstanleitung für die und Wunsch nach Vernetzung der BeAnwendung zu Hause handler. 3. Medikation: kBefund nach 3 Monaten 55 rlung „befrieden“: srog ´zin 10 (0–0–0–2, nach 7 Tagen 0–0–0–1 für 4 55 Stabilisierte Patientin in fortlaufendem Psychotherapieprozess, regelmäßig Ku Wochen, dann bei Bedarf) Nye-­Termine bei einer ku nye-Praktizie55 „nähren & wärmen“: se ´bru 5 renden, die als Gasttherapeutin in die psy(2–0–0–0, nach 7 Tagen 1–0–0–0 für 8 chiatrische Praxis kommt, Wochen, dann bei Bedarf)

825 Tibetische Medizin

55 die Patientin hat ihre Ernährung „komplett umgestellt“ (v. a. Frühstück und abends) und gibt sehr positives Feedback, 55 Medikation: Se ´bru 5 weiter 1–0–0–0 (da sehr positiver Effekt), srog ´zin 10 1-mal/2 Wochen, ´bras bu 3 thang auslaufend. Zusammenfassung 55 Die tibetische Medizin, bod kyi gso ba rig pa (tibetisches Wissen vom Heilen), ist eng mit der tibetischen Kultur verbunden. 55 Die Ursache jeglichen Leidens (es soll 84.000 verschiedene Krankheitsbilder geben) liegt laut tibetischer Medizin in ma rig pa, was oft mit „Unwissenheit“ übersetzt wird. Diese Unwissenheit besteht auf diversen Ebenen: Wir wissen nicht, 55 wer wir sind, 55 wie wir uns zu verhalten haben, 55 welche Umgebung uns gut tut, 55 welche Nahrungsmittel und Medikamente wir einnehmen können etc. 55 Ausgehend von einer präzisen Diagnostik, welche die Analyse des Pulses, die Betrachtung des Urins sowie die Befragung des Patienten beinhaltet, gibt der Arzt individuell an den Patienten angepasste Ernährungsund Verhaltensempfehlungen. 55 Sollten diese nicht effizient genug sein, kommen darüber hinaus sog. äußere Therapien wie beispielsweise Moxibustion, Massage und Goldene-Nadel-Akupunktur zur Anwendung. 55 Am effizientesten werden individuell an das Zustandsbild des Patienten angepasste tibetische Pillen angesehen; diese werden 2- bis 3-mal täglich mit heißem Wasser eingenommen.

Literatur Freeman MP, Fava M, Lake J et  al (2010) Complementary and alternative medicine in major depressive disorder: the American Psychiatric Association Task Force report. J Clin Psychiatry 71(6):669–681

33

Kennedy SH, Rizvi S (2009) Sexual dysfunction, depression, and the impact of antidepressants. J Clin Psychopharmacol 29(2):157–164 Kessler R, Soukup J, Davis R et  al (2001) The use of complementary and alternative therapies to treat anxiety and depression in the United States. Am J Psychiatry 158:289–294 Kinzl JF (2009) Major depressive disorder, antidepressants and sexual dysfunction. Neuropsychiatry 23(2):134–138 Literaturangaben zu Studien Boesi A, Cardi F (2006) Tibetan medicinal medicine: classification and utilization of natural products used as materia medica in Tibetan traditional medicine. HerbalGram 71:38–48 Garrett F, Adams V (2008) The three channels in Tibetan medicine. Trad South Asian Med 8:86–114 Gerke B (2011) Long lives and untimely deaths: life-­ span concepts and longevity practices among Tibetans in the Darjeeling Hills, India. Brill Academic Publishers, Leiden Kilty G (2009) Mirror of Beryl – a historical intodruction of Tibetan medicine. Wisdom Publications, Boston Kletter C, Kriechbaum M (Hrsg) (2001) Tibetan medicinal plants. Medpharm Scientific Publishers, Stuttgart. CRC Press, Boca Raton Meyer F (1995) Theory and practice of Tibetan medicine. In: Alphen v J, Aris A (Hrsg) Oriental medicine – an illustrated guide to the Asian arts of healing. Serindia, London, S 109–141 Millard C (2002) Learning processes in a Tibetan medical school. PhD thesis, University of Edinburgh, Department of Social Anthropology Molvray M (1988) Tibetan Medicine, Bd 11. Library of Tibetan Works and Archives, Dharamsala Pelto PJ, Pelto GH (1990) Research designs in medical anthropology. In: Johnson TM, Sargent CF (Hrsg) Medical anthropology: contemporary theory and method. Praeger, New York Ploberger F (2006) Die Grundlagen der Tibetischen Medizin. Eine Übersetzung des Buches „Fundamentals of Tibetan medicine“ der Men-Tsee-Khang Publication. Bacopa, Schiedlberg Ploberger F (2012) Wurzeltantra und Tantra der Erklärungen aus „Die vier Tantra der Tibetischen Medizin“. Bacopa, Schiedlberg Ploberger F (2015) Das letzte Tantra aus „Die vier Tantra der Tibetischen Medizin“. Bacopa, Schiedlberg Pordié L (2001) Research and international aid: a possible meeting. The case of Nomad RSI in Ladakh. Ladakh Studies 15:33–42 Zhao ZI (2010) Identification of medicinal plants used as Tibetan Traditional Medicine Jie-Ji. J Ethnopharmacol 132:122–126

827

Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin Lothar Krenner 34.1

Einführung – 829

34.2

Historischer Überblick – 830

34.3

Die Theorie der Maharishi AyurVeda-Medizin – 834

34.3.1 34.3.2 34.3.3 34.3.4

 ewusstsein – die Grundbedingung für Gesundheit – 834 B Naturwissenschaft und vedische Wissenschaft – 835 Maharishi Vedische Wissenschaft – 838 Der menschliche Körper als Ausdruck des Veda und der vedischen Literatur – 841

34.4

Grundbegriffe/Definitionen – 843

34.4.1 34.4.2 34.4.3

 efinition von Gesundheit – 843 D Konstitutionslehre der Maharishi AyurVeda-Medizin – 843 Verdauung und Ernährung – 844

34.5

Ayurvedische Pathogenese – 850

34.5.1 34.5.2

 ie 6 Entwicklungsstadien einer Krankheit – 850 D Ein neues ganzheitliches Menschen- und Weltbild der Medizin – 851 Hauptursache für die Entstehung von Krankheiten – der „Fehler des Intellekts“ – 852

34.5.3

34.6

Diagnostik – 853

34.7

Therapie – 853

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_34

34

34.8

Praktische Gesundheitstipps – 854

34.8.1 34.8.2 34.8.3 34.8.4

 egelmäßiger Tagesrhythmus – 856 R Ernährung – Ahara – 856 Lebensstil entsprechend den natürlichen Rhythmen (Vihara) – 858 Allgemeine Hinweise – 858

34.9

Hauptindikationen – 860

34.10 Yoga und transzendentale Meditation – 861 34.10.1 T ranszendentale Meditation – die höchste Form des Yoga – 861 34.10.2 Wissenschaftliche Studien - TM – 867 34.10.3 Wissenschaftliche Studien - Ayurveda-Medizin – 873

34.11 V  edische Astrologie (Maharishi Jyotish), vedische Architektur (Maharishi Sthapatya-Veda) – 873 34.11.1 V  edische Astrologie (Maharishi Jyotish) – 873 34.11.2 Vedische Architektur (Maharishi Sthapatya-Veda) – 876

34.12 A  blauf einer ayurvedischen Konsultation mit Case Reports – 876 34.13 Fallbeispiele – 877 34.14 Ausbildungsprogramm – 880 Literatur – 883

34

829 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

34.1  Einführung

Die notwendige Effizienzsteigerung in modernen westlichen Gesundheitssystemen, sowohl im medizinisch-therapeutischen als auch im ökonomischen Bereich, erfordert ganzheitliche medizinische Konzepte, speziell auf dem Gebiet der Prävention und der Behandlung chronischer Erkrankungen. Die vedische Medizin in ihrer ursprünglichen Form als Teil der vedischen Wissenschaft beinhaltet das ganzheitliche theoretische und praktische Wissen über die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten und Prozesse zur Aufrechterhaltung und Wiederherstellung von Gesundheit. So wie das Erbgut auf materieller Ebene den Speicher der Informationen über die Funktionsabläufe in den Zellen des Organismus darstellt, ist der Veda die Informationszentrale des gesamten Universums auf der transzendenten Ebene des Bewusstseins. Vedische Medizin zählt zu den ältesten Gesundheitssystemen der Welt und hat ihren Ursprung in Indien – dem Land des Veda. „Veda“ bedeutet „Wissen“; es ist die Weisheit der Natur, die dem Leben innewohnt und das gesamte Universum leitet. Man versteht darunter die Gesamtheit aller Naturgesetze, die das manifeste Universum von einem unmanifesten einheitlichen Feld aus verwalten (Hagelin 1987). Wesentliche Teile dieses auch als „Mutter der Heilkunde“ bezeichneten Gesundheitssystems gingen im Laufe der Jahrtausende verloren. Der vedische Gelehrte Maharishi Mahesh Yogi hat in Zusammenarbeit mit führenden indischen Ayurveda-Ärzten und westlichen Medizinern und Naturwissenschaftlern dieses Gesundheitssystem in der klassischen, ganzheitlichen und gleichzeitig modernen, Form der Maharishi Vedischen Medizin wiederbelebt. Der im Westen bekannteste Aspekt nennt sich Ayurveda. Veda sind die grundlegenden Intelligenzstrukturen der unmanifesten, absoluten Basisebene des Lebens. Veda ist die Schaltzentrale der Natur, die alle Vorgänge des Organismus und des gesamten Universums steuert. Diese Urklänge des Lebens sind von vedischen Se-

hern (Rishis und Maharishis) im eigenen stillen Bewusstsein geschaut und als Veda und vedische Literatur in hörbare Klänge (Mantren) und Sprache ausgedrückt worden. Das Ziel der Maharishi Vedischen Medizin ist daher die Belebung der inneren Intelligenz der Physiologie – des Veda – und damit verbunden die Optimierung der „Kommunikation“ zwischen dem Veda, dem „Bauplan“, und deren materiellem Ausdruck, der Physiologie, dem „Bauwerk“. In anderen Begriffen wird Veda auch als Selbstheilungskraft des Organismus beschrieben, die als Ojas messbar ist (7 Abschn. 34.6).  

Ansätze, Richtungen und Schulen der Ayurveda-Medizin 55 Wellness-Ayurveda: beschränkt sich i. Allg. auf „Ölmassagen“ und „Ölanwendungen“ (z. B. „Stirnguss“), Duftöle, Blütenbäder etc. Üblicherweise wird Wellness-Ayurveda in Wellness-­Abteilungen verschiedener Hotels und in Massage-Instituten angeboten. 55 Ayurveda innerhalb von Familientraditionen in Indien: Seit Jahrtausenden wird das Erfahrungswissen dieser Heilkunde innerhalb von Familientraditionen praktiziert und weitergegeben. Dadurch entsteht eine große Vielfalt an Experten bestimmter Therapieformen und spezieller Heilkräuterrezepturen. 55 Universitärer Ayurveda: Ayurvedische Medizin wird parallel zu westlicher Medizin an universitären Lehr- und Forschungseinrichtungen gelehrt (Akademischer Abschluss mit Master- oder Doktor-Diplom). ȤȤ Ayurveda-Universitäten in Indien: ȤȤ Gujarat Ayurved University, Jamnagar ȤȤ Rajasthan Ayurved University, Jodhpur ȤȤ Uttarakhand Ayurved University, Dehradun ȤȤ Punjab Ayurved University, Hoshiarpur

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ȤȤ 260 Ayurveda Colleges in Indien, davon ca. 50 mit Angeboten für postgraduelle Ausbildungen (7 http://ayush.­gov.­in/ education/national-institutes, http:// www.nia.nic.in) 55 Maharishi AyurVeda: Ganzheitliche Form des Ayurveda – Rückführung auf die jahrtausendealten Wurzeln der Ayurveda-­ Medizin (bewusstseinsbasierte Medizin), Wirkungsnachweis durch umfangreiches Studienmaterial und Integration moderner, westlicher, medizinischer Standards (auch im Bereich der pflanzlichen Nahrungsmittelzusätze). Im Rahmen der inzwischen unübersichtlich gewordenen ayurvedischen Therapieangebote haben sich Maharishi AyurVeda und Maharishi Vedische Medizin als Markennamen etabliert.  

Das Ziel der Maharishi AyurVeda-Medizin ist die Schaffung vollständiger Gesundheit für den einzelnen Menschen und die Entwicklung einer krankheitsfreien Gesellschaft. Der Weg ist Bewusstseinsentwicklung; die Werkzeuge sind. 55 Yoga und 55 transzendentale Meditation, 55 Ernährungsempfehlungen, 55 Nahrungsmittelzusätze auf Kräuter- und Gewürzbasis,

34

..      Abb. 34.1 Erste schriftliche Aufzeichnung des vedischen Wissens durch Rishis und Maharishis (und ihre Schüler) entstanden entsprechend den heutigen Erkenntnissen vor etwa 3000–5000 Jahren; die ursprünglichen mündlichen Überlieferungen reichen jedoch wesentlich weiter zurück (Caraka Samhita). (© Chaukhambha Orientalia, Varanasi/India)

55 55 55 55 55 55 55

Tees, Kräuteröle, Aromatherapie, ayurvedische Musiktherapie, Lichttherapie mit Edelsteinen, vedische Urklangtherapie und Reinigungsbehandlungen (Panchakarma).

34.2  Historischer Überblick

Die vedischen Wissensdisziplinen sind so alt wie die Menschheit (. Abb. 34.1). Der Beginn der Ayurveda-Medizin lässt sich geschichtlich daher nicht exakt bestimmen. Ein Bericht aus der vedischen Literatur beschreibt die Entstehung des Ayurveda folgendermaßen:  

»» „Besorgt durch die zunehmende Ver-

schlechterung des Gesundheitszustandes der Menschen versammelten sich vor langer Zeit eine große Zahl Maharishis (großen Vedischen Sehern) an den Abhängen des Himalaya, um darüber zu beraten, wie die Menschen wieder auf ihren evolutionären Entwicklungsweg zurückgebracht werden konnten und wie eine krankheitsfreie Gesellschaft entstehen könne. Der höchste Rishi, Parama-Rishi Bharadvaja, wurde ausgewählt und erhielt von Indra, dem König der Götter, das

831 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

34

Wer sich in den 1970er-Jahren mit Ayurveda befassen wollte, musste feststellen, dass es für einen westlich ausgebildeten Arzt kaum Möglichkeiten dazu gab. Zu groß waren die Unterschiede zwischen westlichem und ayurvedischem Denken. Dazu kam, dass die Ayurveda-Medizin in Indien selbst nur bruchstückhaft verstanden und angewendet wurde. In den Jahrtausenden ihres Bestehens sind viele Aspekte verlorengegangen. Ausländische Einflüsse haben auch in Indien zu einem Rückgang und teilweisen Verlust des ayurvedischen Wissens geführt. Zuletzt waren es die Engländer, die den Ayurveda durch die westliche Medizin ersetzen wollten. Dadurch wurde die Gesamtheit des ayurvedischen medizinischen Wissens zersplittert – Vieles ging verloren. Teile des Wissens haben sich vorwiegend in Familientraditionen erhalten können. Erst mit der Unabhängigkeit Indiens gab es die Möglichkeit, das ganzheitliche Wissen über Ayurveda wieder aufzuarbeiten.

Es gab einen Phasensprung in der Geschichte des Ayurveda, als in den 1960er-­Jahren der große vedische Gelehrte Maharishi Mahesh Yogi begann, die Grundprinzipien der vedischen Wissenschaft, wie Er sie bei Seinem Lehrer Guru Dev, Bhagwan Swami ­Brahmananda Saraswati (Shankaracharya von Jyotir Math), gelernt hatte, neu zu beleben. Als eine zentrale vedische Disziplin war die Ayurveda-­Medizin von Anfang an ein wichtiger Aspekt von Maharishis Lehrtätigkeit. In Zusammenarbeit mit führenden ayurvedischen Experten (Dr. Brihaspati Dev Triguna, der damalige Vorsitzende des All India Ayurvedic Congress, Dr.  Dwivedi, ehemaliger Dekan der Gujarat Ayurveda-Universität, und Dr. Balraj Maharishi mit seinem einzigartigen Wissen über die Heilkraft der indischen Pflanzenwelt) sowie westlichen Medizinern und Naturwissenschaftlern wurde dieses Gesundheitssystem in der traditionellen klassischen, ganzheitlichen und gleichzeitig modernen Form der Maharishi Vedischen ­Medizin und des Maharishi AyurVeda wiederbelebt (. Abb. 34.2). Im Januar 1984 entstand im amerikanischen Bundesstaat Iowa in Zusammenarbeit mit der Maharishi International University (heute Maharishi University of Management – MUM, eine seit 1972 staatlich anerkannte Pri-

..      Abb. 34.2  Maharishi Mahesh Yogi (hintere Reihe, Mitte) mit ayurvedischen Ärzten (Vaidyas) auf einer Konferenz der Maharishi Vedic University, India: Dr. Brihaspati Dev Triguna, ehem. Präsident des All India Ayurveda Congress, der größten Organisation für ayurvedische Ärzte und Therapeuten mit ca. 400.000

Mitgliedern, (vordere Reihe, Mitte). Dr. Vasudev M. Dwivedi war führender Experte für Rasayana-Therapien (vordere Reihe, rechts). Dr. Balraj Maharshi führender Experte für ayurvedische Heilkräuterkunde (vordere Reihe, links). (© Maharishi Vedic University, mit freundlicher Genehmigung)

vollständige Wissen über das lange und gesunde Leben (AyurVeda). Er gab dieses Wissen über die grundlegenden Prinzipien des AyurVeda den anderen Rishis weiter; sie erhielten es durch innere Schau (jnana-cakshusha).“ (Caraka Samhita Su.1.6 ff.)



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vatuniversität) das erste ayurvedische Gesundheitszentrum in einem westlichen Land. Im Mittelpunkt stand Pancha-Karma (die 5-fache Be-Handlung), die klassische ayurvedische Reinigungs- und Regenerationstherapie. Das Wissen wurde auch im Bereich dieses Konzepts umfassender Reinigungsbehandlungen nur noch unvollständig angewandt. Der Gesamtzusammenhang dieser besonderen Therapieformen war nicht mehr verfügbar. Unter anderem ist es Dr. Kasturi aus Ahmedabad zu verdanken, in mühevoller Kleinarbeit die Fragmente des Panchakarma wieder zu einem ganzheitlichen Therapiekonzept zusammengefügt zu haben. Es war ein glücklicher Zufall, dass Dr. Kasturi genau zu dieser Zeit zur Expertengruppe der Maharishi University of Management gestoßen war. Damit war es möglich, Panchakarma im traditionellen, ganzheitlichen Sinne umzusetzen und anzuwenden. Von Anfang an hatte man bei der Integration des Maharishi AyurVeda darauf geachtet, einen hohen medizinischen Standard in die Therapien einzubringen und die ayurvedischen Behandlungen (einschließlich des Yoga und der Technik der transzendentalen Meditation) mit wissenschaftlicher Forschung zu begleiten. Die Grundlage der Erneuerung des Ayurveda lag jedoch in der Möglichkeit, auf das authentische Wissen eines großen vedischen Gelehrten und Sehers – Maharishi Mahesh Yogi – zurückgreifen zu können. Maharishi Vedische Medizin einschließlich Maharishi AyurVeda sind nicht nur eine Heilkunde für kranke Menschen. Ihr eigentliches Ziel besteht darin, die innere „Intelligenz“ des Organismus (Veda) zu beleben, damit Gleichgewicht in Körper, Geist und Umgebung zu bringen und so ein langes und gesundes Leben für den einzelnen Menschen und die Welt als Ganzes zu ermöglichen. Gerade der wesentliche Aspekt der Bewusstseinsentwicklung als Grund­ lage der Ayurveda-Medizin wurde in den letzten Jahrhunderten weitgehend vergessen. Der Status des Ayurveda wurde dadurch auf den einer traditionellen „Volksmedizin“ reduziert. Maharishi Vedische Medizin, Maharishi AyurVeda und Maharishi Vedischer Gesundheitsansatz sind inzwischen zu medizinischen Mar-

kennamen geworden, die von einer großen Zahl der Ärztegesellschaften, die weltweit Ayurveda anwenden, verwendet werden. Im Sommer 1984 begann der erste internationale Kurs in Maharishi AyurVeda für Ärzte an der Maharishi International University. Die Ausbildung bekam dadurch von Beginn an akademischen Status. Sie wurde im darauffolgenden Jahr an der ayurvedischen Universität in Jamnagar/Indien fortgesetzt. Seit dieser Zeit werden regelmäßig Ausbildungskurse in Indien, Europa, USA und anderen Teilen der Welt angeboten (. Abb. 34.3). Auch in Indien begann mit diesen Kursaktivitäten ein Umdenken. Für indische Ayurveda-Experten war es ungewöhnlich, dass westliche Ärzte nach Indien kamen, dort den Ayurveda studierten und ihn dann zu Hause anwenden wollten. Bisher war Ayurveda auf Indien beschränkt gewesen. Nun begann man v. a. im Süden (Kerala), sich auf ausländische Patienten einzustellen. Einige Jahre später wurde der Ayurveda in Sri Lanka und Indien zu einem wichtigen Tourismuszweig. Leider hat dies – mit wenigen Ausnahmen – nicht dazu beigetragen, die medizinische Qualität der Angebote auf hohem Niveau zu halten.  

zz Maharishi AyurVeda, ein Markenname

Ein Maharishi AyurVeda-Gesundheitszentrum arbeitet wirtschaftlich selbstständig. Der Betreiber darf diesen Namen jedoch nur führen, wenn er sich verpflichtet, Ärzte und Therapeuten nach einem internationalen Standard auszubilden. Dadurch ist eine gleichbleibende Qualität bei den Behandlungen und der ärztlichen Betreuung gesichert. Der Patient kann sich auf den hohen Standard, auf dem der Ayurveda in jedem Zentrum zur Anwendung kommt, verlassen. Der gleiche Qualitätsstandard gilt für die zur Anwendung kommenden ayurvedischen Präparate, Öle und Nahrungsergänzungsmittel auf Kräuterbasis. Die Importe unterliegen einer strengen Kontrolle. Jede Lieferung wird auf Rückstände wie Umwelttoxine und Schwermetalle untersucht. Die indischen Firmen, die Maharishi AyurVeda-Präparate herstellen, haben verschiedene Qualitätszertifikate erhalten, u. a. ISO 22000:2005, ISO 9001:2008, HACCP,

833 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

34

..      Abb. 34.3 Internationales Maharishi AyurVeda Ärzteausbildungsseminar, 1987, Maharishi Nagar, Neu Delhi, Indien; neben Maharishi Mahesh Yogi und führenden

Ayurveda-Ärzten aus Indien nahmen auch Ärzte aus Deutschland, der Schweiz und Österreich teil. (© Maharishi Vedic University, mit freundlicher Genehmigung)

WHO-GMP, IMO, GLP, verschiedene Bio-Zertifikate und den AYUSH Premium Mark Award des indischen Ministeriums für Ayurveda. Da in Indien erst langsam begonnen wird, staatliche Qualitätskontrollen ein- und durchzuführen, ist dieser Punkt von besonderer Wichtigkeit. Der All India Ayurvedic Congress, die Standesorganisation von mehr als 400.000 ayurvedischen Ärzten in Indien, bestätigte nach jahrelanger Prüfung in offiziellen Stellungnahmen dem Maharishi AyurVeda höchste Qualität und authentische Anwendung. Der frühere Präsident, Vaidya Shiv Karan Sharma Chhangani (der derzeitige Präsident ist Padma Bhushan Vaidya Devendra Triguna, Sohn des legendären Brihaspati Dev Triguna), hat u. a. festgestellt:

tematische und authentische Weise verfügbar, wie dies in letzter Zeit in Indien selten erreicht wurde. Maharishi AyurVeda schließt zum Beispiel das System des Yoga (Transzendentale Meditation und Yoga Asanas), Jyotish (Vedische Astrologie), Gandharva-Veda und andere Vedische Disziplinen ein, die alle in der alten ayurvedischen Literatur für unentbehrlich gelten, um Gesundheit zu erhalten und Krankheiten zu heilen. Maharishi AyurVeda beinhaltet die volle Reichweite der Therapien, wie sie in den alten klassischen Texten empfohlen, aber in Indien, im heute praktizierten Ayurveda, nicht mehr allgemein genutzt werden. Darüber hinaus schließt Maharishi AyurVeda mit Hilfe moderner Technologien einen hohen Standard der Qualitätskon­ trolle ein. Seine Wirksamkeit wurde durch umfangreiche wissenschaftliche Studien in den USA, Europa und Indien bewiesen. Ich möchte jedem, der an einem Studium des Ayurveda interessiert ist, sehr empfehlen, sich mit Maharishi AyurVeda zu befassen, der die volle Reichweite dieser uralten Wissenschaft beinhaltet, wie sie von den Vedischen Gelehrten und Sehern Indiens ans Licht gebracht wurde.“ (Stellungnahme aus dem Jahr 1997)

»» „Es ist uns eine große Freude zu bestäti-

gen, dass der Maharishi AyurVeda die traditionelle ayurvedische Medizin in ihrer höchsten Vollendung und Wirksamkeit – gemäß der klassischen Texte dieser Wissenschaft – repräsentiert. Ich hatte die Gelegenheit, aus erster Hand den enormen Beitrag, den Maharishi Mahesh Yogi durch seine Verbreitung des ayurvedischen Heilsystems in der ganzen Welt geleistet hat, zu begutachten. Maharishi AyurVeda macht die Prinzipien und Praktiken des Ayurveda auf eine solch vollständige, sys-

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L. Krenner

34.3  Die Theorie der Maharishi

AyurVeda-Medizin

»» „Chinne mule naiva shakha na patram.“ (Es existieren keine Blätter und keine Zweige in der Abwesenheit der Wurzeln.) (Zitat aus der vedischen Literatur)

Ayurveda-Medizin gründet auf „Veda“ von „Ayu“  – auf dem „Wissen“ vom „Leben“. Ein grundlegendes Missverständnis wäre es daher, Ayurveda-Medizin anzuwenden und dabei ihre Grundlage – den Veda, den Wissens- und Bewusstseinsaspekt – nicht in den Mittelpunkt zu stellen. 34.3.1  Bewusstsein – die

Grundbedingung für Gesundheit

34

Die moderne Forschung – ausgelöst durch die Integration der jahrtausendealten vedischen Wissenschaft und der modernen Naturwissenschaft (allen voran der Quantenphysik)  – hat gezeigt, dass es einen alles entscheidenden Faktor für die Qualität des Lebens einschließlich der Gesundheit gibt, der im Mainstream-­ Denken unserer Gesellschaft bisher zu wenig berücksichtigt wurde: die Rolle des individuellen und des kollektiven Bewusstseins. In diesem umfassenderen Verständnis besitzt Bewusstsein nicht nur jene uns vertraute Oberflächendimension, in der die veränderliche Welt des Denkens und Fühlens angesiedelt ist (Wach-, Traum- und Schlaf-Bewusstsein), sondern es umfasst auch einen abstrakten, ganzheitlichen und unveränderlichen Basisbereich, der als transzendentes Feld reiner kreativer Intelligenz beschrieben wird (transzendentales Bewusstsein). Dieser Bereich ist definitionsgemäß noch jenseits des von der Freudschen Tiefenpsychologie erfassten „Unbewussten“ und bildet die vollkommen harmonische „transpersonale“ Quelle aller Gedanken und Gefühle sowie aller Kreativität und allen Verhaltens.

des Naturgesetzes ist somit die Bedingungsebene für unsere individuelle und kollektive Gesundheit.

Bewusstsein in seinem transzendenten Grundzustand bildet als unbegrenztes, abstraktes Intelligenzfeld die Basis für jeden ordnenden, harmonisierenden, selbstheilenden und damit evolutionären Prozess in der Natur. Transzendentales Bewusstsein ist die wichtigste treibende Kraft, der Urheber jedes Lebensprozesses – für das Denken und Handeln der einzelnen Menschen genauso wie für gruppendynamische Prozesse in einem Kollektiv, z. B. in der Familie, in der Schule, am Arbeitsplatz, in einer Stadt, einem Land, oder in der Welt als Ganzem. Das Klima in einer Gruppe von Menschen und in der menschlichen Gesellschaft ist primär abhängig vom Maß an Kohärenz des kollektiven Bewusstseins. Wenn also die Kohärenz, d. h. die Ordnungsparameter hoch sind, ist das Stressniveau im Kollektiv niedrig, und evolutionäre Prozesse erfahren mehr Unterstützung – und umgekehrt.

»» „In der Umgebung von Yoga lösen sich feindliche Tendenzen auf.“ (Yoga Sutra, 2.35, Maharishi Patanjali)

Mit diesem ganzheitlichen Ansatz besteht eine neue, direkte und effiziente Möglichkeit, Stress, Fehlverhalten und Gewalt auf individueller und auf kollektiver Ebene abzubauen und kollektive Gesundheit zu stärken. Damit ergibt sich ein völlig neuer, kausaler Problemlösungsansatz für die Entwicklung einer gesunden und damit gewaltfreien und friedlichen Gesellschaft. Der Weg, die Ebene transzendentalen Bewusstseins zu erfahren und zu beleben, ist die von dem vedischen Gelehrten Maharishi Mahesh Yogi wiederentdeckte jahrtausendealte geistige Yogatechnik mit dem Namen „transzendentale Meditation“ (TM). Umfangreiches wissenschaftliches Studienmaterial belegt die Wirksamkeit dieses ganzheitlichen Bewusstseinsansatzes für den einzelnen ­Men­schen und für die Gesellschaft als Ganzes (7 www.­ayurveda.­at/research.­htm, 7 www.­  

>> Bewusstsein und das in seiner Tiefendimension enthaltene kreative Potenzial



ayurveda.at/kollektives-bewusstsein/research/ frm_start.htm. Zugegriffen am 16.05.2018).

34

835 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

Um die innerste, transzendente Bewusstseinsebene zu erfahren und zu beleben, beinhaltet die vedische Wissenschaft  – entsprechend den 40 Qualitäten des transzendentalen Bewusstseins  – 40  Disziplinen mit den ihnen zugeordneten entsprechenden Bewusstseinstechnologien. Unter dem Überbegriff „vedische Medizin“ werden die Disziplinen des Yoga (transzendentale Meditation und Hatha-­Yoga), der vedischen Astrologie (Maharishi Jyotish und Yagya) (. Abb.  34.4), der vedischen Architektur (Maharishi Sthapatya-Veda) und v. a. des Ayurveda zusammengefasst.  

..      Abb. 34.4  Vedische Astrologie – Maharishi Jyotish. Es wird die Verbindung der Strukturen der menschlichen Physiologie mit den Strukturen des Kosmos aufgezeigt. Veda – die Intelligenz der Natur – ist das zugrundeliegende „einheitliche Feld aller Naturgesetze“ das sich als materielles Universum manifestiert. Das gesamte Leben ist eine fortlaufende Transformation von Atma (dem Selbst), Veda (den unmanifesten Strukturen transzendentalen Bewusstseins), der Physiologie (Sharir) und den Strukturen des Kosmos (Vishwa). (Aus Nader 2000, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors, Prof. T. Nader; M.D, Ph.D., MARR; Maharishi Vedic University)

34.3.2  Naturwissenschaft und

vedische Wissenschaft

zz Parallelen zwischen den einheitlichen Feldtheorien der modernen Quantenphysik und dem Grundzustand des Bewusstseins der jahrtausendealten vedischen Wissenschaft (. Abb. 34.5)

Objektiv, materiell ElektroMagnetismus

Schwache Wechselwirkung

Starke Wechselwirkung



Subjektiv, geistig Schwerkraft

Transzendentale Meditation

Elektroschwache Vereinheitlichung

Große Vereinheitlichung

Superstring

VEDA Einheitliches Feld

ATMA – SELBST TRANSZENDENTALES BEWUSSTSEIN ..      Abb. 34.5  Objektiver und subjektiver Wissensansatz. (© Maharishi Vedic University, mit freundlicher Genehmigung)

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Die Naturwissenschaft ist seit langer Zeit bemüht, eine „Urformel“, wie Einstein es ausdrückte, zu entwickeln, mit deren Hilfe alle Phänomene der Natur beschrieben werden können. Gerade in den letzten Jahren kam die moderne Physik diesem Ziel durch die Ausarbeitung der „einheitlichen Feldtheorien“ (Superstring-Theorie) näher, die als Grundlage aller gesetzmäßig ablaufenden Prozesse und Manifestationen in der Natur ein abstraktes Feld postulieren, das in sich die dafür notwendige unendliche Energie und Intelligenz beinhaltet. In der jahrtausendealten vedischen Wissenschaft wird dieses Feld reiner Intelligenz zugleich als der Grundzustand des menschlichen Bewusstseins beschrieben (transzendentales Bewusstsein).

>> Einheitliches Feld aller Naturgesetze = VEDA 55 Grundintelligenz des Lebens 55 Basis des gesamten Universums

In der . Abb.  34.6 über die menschliche Physiologie werden auf der linken Seite die verschiedenen materiellen Funktionsebenen des Organismus dargestellt: die Ebene der Organsysteme, der Organe, der Gewebe, der Zellen, der Zellkomponenten u.  a. mit dem Zellkern, der Informationszentrale der Zelle; die Information ist in Makromolekülen (der DNA) gespeichert. Die DNA ist ihrerseits aus kleineren Bausteinen, Atomen und subatomaren Teilchen, aufgebaut. Auf diesem Weg zunehmen­ der Vereinheitlichung und Abstraktion wird  

34

..      Abb. 34.6  Das einheitliche Feld als Grundlage der menschlichen Physiologie; Erläuterungen s. Text. (© Maharishi Vedic University, mit freundlicher Genehmigung)

837 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

schließlich die Ebene des einheitlichen Feldes erreicht, ein Feld reiner Intelligenz und Energie – die Grundlage an der Basis unserer Physiologie. In dem Schaubild ist auch noch dargestellt, dass die einzelnen Menschen die „Zellen“ darstellen für einen größeren Organismus  – die Physiologie der Gesellschaft. Auf der rechten Seite von . Abb.  34.6 ist der Weg des Geistes während der Ausübung der Technik der transzendentalen Meditation dargestellt – der Vorgang des Transzendierens beginnend von der Ebene des bewussten Denkens bis zur Erfahrung des Grundzustands des Bewusstseins  – der Ebene des einheitlichen Feldes aller Naturgesetze. Diese mensch­liche „Ur-Erfahrung“ ist verbunden mit vollkommener Stille bei gleichzeitiger Wachheit. Sie wird im Yoga als Zustand reinen Seins, reinen Bewusstseins, als das Selbst  – Atma  – beschrieben. Ein grundlegender Unterschied zwischen Naturwissenschaft und vedischer Wissenschaft besteht u. a. in der Art der Wissensgewinnung: 55 Ein Naturwissenschaftler untersucht den Organismus durch Beobachtung, Experimente, Testverfahren und Analysen. 55 Ein vedischer Wissenschaftler gewinnt Erkenntnis durch „innere Schau“.  

Vedische Gelehrte werden daher als „Seher“  – als Rishis und Maharishis  – bezeichnet. Das Wissen über vedische Medizin ist nicht einer ständigen Veränderung durch neue Erkenntnisse unterworfen. Es wurde vor langer Zeit von Maharishis geschaut und über die Jahrtausende hin in Familientraditionen lebendig erhalten. Ein Problem entstand dadurch, dass auch in der vedischen Medizin über die lange Zeitspanne ihres Bestehens eine Spezialisierung auftrat (z.  B. im Bereich Heilkräuterkunde, Panchakarma-Reinigungsverfahren oder Yoga/Meditation) und die Ganzheitlichkeit des Gesundheitssystems in den Hintergrund trat. Daher ist es wichtig und notwendig, dass von Zeit zu Zeit Maharishis die vedische Medizin auf ihre Wurzeln zurückführen, die Grund-

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prinzipien der vedischen Wissenschaft darlegen und eben diese Ganzheitlichkeit wieder neu herstellen. Gerade in unserer Zeit, in der so viele unterschiedliche Meinungen und Schulen über Ayurveda existieren, erscheint es dringend notwendig zu sein, diese Erneuerung durchzuführen und Ayurveda von dem Vorurteil einer „indischen Volksmedizin“ zu befreien. Dies war das Verdienst von Maharishi Mahesh Yogi, und in diesem Sinne ist auch Maharishi Vedische Medizin und Maharishi AyurVeda zu sehen – die traditionelle ganzheitliche Form der vedischen Medizin. In diesem Zusammenhang soll auch noch ein Missverständnis geklärt werden: Der Begriff Maharishi AyurVeda bedeutet nicht, dass es sich um ein „privates“ Gesundheitssystem von Maharishi Mahesh Yogi handeln würde. Maharishi AyurVeda bzw. Maharishi Vedische Medizin beinhalten die traditionellen, klassischen, zeitlos gültigen Konzepte des Ayurveda und drücken sie in unserer modernen, naturwissenschaftlichen Sprache aus  – Maharishi AyurVeda inte­ griert wissenschaftliche Forschung und westliche medizinische Qualität mit dem jahrtausendealten Wissen der vedischen Rishis. „Ayurveda“ ist „Veda“ von „Ayu“  – das „Wissen vom Leben“. Veda sind die Grundstrukturen der inneren Intelligenz des Organismus (Urklänge), der grundlegenden, transzendenten Bewusstseinsebene. Ein ayurvedisches Lehrsystem, das kein vollständiges theoretisches Wissen über den Veda vermittelt und das keine Möglichkeit bietet, diese transzendente Ebene zu erfahren und zu beleben, bleibt oberflächlich und fragmentiert. Die manchmal aufgetauchte Sorge um „unser christliches Abendland“ erscheint in diesem Fall ebenfalls unbegründet, da Maharishi AyurVeda nicht „indische Medizin“ bedeutet, sondern allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten des Lebens beinhaltet. Gerade bei der momentanen Flut an ayurvedischen Wellness-Angeboten und auch dem zunehmenden Druck, den westlichen Markt mit Ayurveda-Angeboten zu überfluten, erscheint medizinische Qualität dringend notwendig zu sein.

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34.3.3  Maharishi Vedische

Wissenschaft

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Seit es Bewusstsein gibt, gibt es den Veda, seit es den Veda gibt, gibt es Leben. Das, was die DNA auf materieller Ebene für den Körper ist, ist der Veda auf der unmanifesten Ebene für das gesamte Universum, einschließlich der menschlichen Physiologie. Veda ist keine Philosophie und keine Religion, Veda ist die Wissenschaft von den Grundgesetzmäßigkeiten des Lebens. Das Wissen der vedischen Wissenschaft ist daher auch nicht primär in den Büchern der vedischen Literatur enthalten; es sind die abstrakten unmanifesten Urklänge (Naturgesetze), aus denen sich das gesamte Leben bis hin zum unendlich ausgedehnten Universum manifestiert. Veda sind die abstrakten Grundstrukturen des stillen, transzendenten Bewusstseins. Das Studium der vedischen Wissenschaft ist ein Studium des eigenen, stillen, transzendenten Bewusstseins  – des eigenen Selbst (Atma). Der Veda wurde über lange Zeit als eine Sammlung von Erzählungen und Sagen definiert. Erst durch die Schau des vedischen Gelehrten Maharishi Mahesh Yogi wurde in unserer Zeit klar gemacht, dass der Veda, die vedische Literatur und schließlich das gesamte ständig expandierende Universum den eigenen nichtgeschaffenen (apaurusheya) und ewigen (nitya) Kommentar des absoluten, stillen, grundlegenden Intelligenz- und Bewusstseinsfeldes darstellt. Daraus wird ersichtlich, dass das manifeste Universum die Struktur des Veda widerspiegelt. Diese durch Maharishis Kommentar enthüllte Erkenntnis hat im Veda und in der vedischen Literatur die komplette Strukturdynamik der gesamten Schöpfung erschlossen (Nader 2000). Die Natur befindet sich in einem Grundzustand von Einheit (einem absoluten, unmanifesten Intelligenzfeld), der sich in der Vielfalt des Lebens ausdrückt. Das stille, absolute lntelligenz- bzw. Bewusstseinsfeld ist primär, das gesamte materielle Universum einschließlich des menschlichen Körpers ist sekundär und besitzt durchgehend dieselben Gesetzmäßigkeiten.

»» „Yatha pinde tatha Brahmande.“ (Wie das

Atom, so ist das Universum; wie der menschliche Körper, so ist der kosmische Körper.) (Zitat aus der vedischen Literatur)

zz Wie entstehen aus einem abstrakten, stillen, nichtangeregten Bewusstseinsfeld geistige und materielle Strukturen?

Das stille Bewusstseinsfeld ist sich selbst bewusst (die Grundeigenschaft von Bewusstsein) und lässt damit unterschiedliche Qualitäten entstehen: einen abstrakten Beobachter, einen abstrakten Prozess der Beobachtung und ein abstraktes Beobachtungsobjekt. In der vedischen Wissenschaft werden diese primären „Grundfärbungen“ oder Grundstrukturen des Absoluten als Rishi (Subjekt), Devata (Prozess), Chhandas (Objekt) und die Gesamtheit des „Feldes“ als Samhita bezeichnet. Dieses Wechselspiel von selbstrückbezüglichen Bewusstwerdungsprozessen bildet den Ausgangspunkt des Veda und der vedischen Literatur  – es sind die Interferenzstrukturen des Absoluten, die Urklänge der gesamten Schöpfung. Veda als die vollständige Sammlung aller Naturgesetze wird daher auch als „Verfassung des Universums“ bezeichnet. zz Veda und die vedische Literatur als der ewige (nitya) und nichtgeschaffene (apaurusheya) Kommentar des Absoluten – Maharishi Mahesh Yogis Entdeckung des Apaurusheya Bhashya (. Abb. 34.7 und 34.8)  

Der erste Buchstabe des Veda ist das A, das die ungeteilte gleich bleibende Ganzheit ausdrückt. Diese ungeteilte ewige Ganzheit A ist sich seiner unendlich vielen Punktwerte K bewusst. Die erste Silbe des Rik-Veda, Ak, beschreibt das Konvergieren der Qualität der Fülle des Bewusstseins A in sich selbst, in seinen eigenen Punktwert K, hinein. Dieser Kollaps, der die ewige Dynamik des sich selbst erkennenden Bewusstseins darstellt, erfolgt in 8 aufeinanderfolgenden Stadien. Im nächsten Entfaltungsschritt des Veda werden diese 8 Kollaps-Stadien getrennt herausgearbeitet in den 8  Silben des 1.  Pada (Vers), die ihrerseits aus der ersten Silbe Ak des Rik-­Veda hervortreten und zu dieser einen weiter-

839 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

34

..      Abb. 34.7  Kommentar von Maharishi Mahesh Yogi zur Rik-Veda Samhita, Apaurusheya Bhashya (Ausschnitt). (Aus Nader 2000, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors, Prof. T. Nader; M.D, Ph.D., MARR; Maharishi Vedic University)

führenden Kommentar liefern. Diese 8 Silben entsprechen der 8-fachen „Prakriti“ (Natur) oder den 8 fundamentalen Eigenschaften der Intelligenz, die die unterteilbare Natur reinen Bewusstseins darstellen: Die 8 fundamentalen Eigenschaften der Intelligenz 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Ahamkar (Ego) Budhi (Intellekt) Manas (Geist) Akash (Raum) Vayu (Luft) Agni/Tejas (Feuer) Apas/Jal (Wasser) Prithivi (Erde)

Die Entfaltungsordnung des Veda ist streng sequenziell, und so liefert die erste Strophe oder Richa des 1. Sukta (Hymne), die 24 Silben enthält, einen weiteren Kommentar zum 1.  Pada (Vers von 8  Silben): Die 8-silbige Struktur des 1.  Pada erscheint nunmehr 3-mal. Der 1.  Pada drückt die 8  Prakritis (Grundeigenschaften der Intelligenz) in Be-

zug auf die Qualität des Wissenden oder Rishi (Beobachter) im reinen Bewusstsein aus. Der 2. Pada drückt die 8 Prakritis in Bezug auf die Qualität des Wissens- oder Beobachtungsprozesses (Devata) im reinen Bewusstsein aus. Der 3.  Pada drückt die 8  Prakritis in Bezug auf die Qualität des Gewussten oder Chhandas (Objekt der Beobachtung) im reinen Bewusstsein aus. Zusammen umfassen diese drei Padas die 1.  Richa (Strophe) des RikVeda. Mit dieser ersten Strophe ist die erste Kommentarebene der sequenziellen Entfaltungsordnung des Wissens abgeschlossen. Die folgenden 8 Strophen (Richas) vervollständigen die 1.  Hymne (Sukta), die nächste Ebene der sequenziellen Wissensentfaltung im Veda. Diese 8 Strophen bestehen aus 3 × 8 =  24  Padas (Verse), die insgesamt 8 × 24 = 192 Silben enthalten. Nach Maharishis Kommentar des Rik-Veda erläutern diese die unmanifeste 8-fache Struktur der 24 Übergänge zwischen den Silben der 1. Richa (Strophe). Jede Strophe besteht aus 3 Padas, die jeweils, wie in der 1.  Richa, die Struktur der Selbst-­ Wechselwirkung in Bezug auf Rishi (Beobachter), Devata (Beobachtungsprozess)

L. Krenner

..      Abb. 34.8  Die 40 Aspekte des Veda und der vedischen Literatur entsprechen den 40 Qualitäten des transzendenten Grundzustands des Bewusstseins (transzendentales Bewusstsein); sie bilden die Grundlage der 40 Disziplinen der vedischen Wissenschaft. (Aus Nader 2000, Nachruck mit freundlicher Genehmigung des Autors, Prof. T. Nader; M.D, Ph.D., MARR; Maharishi Vedic University)

Ātmā Rk Veda

The Self of Every Individual Verbal expression of Atma Sounds of the self-interacting dynamics of consciousness Total Natural Law

Samhitā of Rishi, Devata, Chhandas

Veda

840

Rishi

Devatā

Sāma Veda

Yajur-Veda

Chhandas Atharva Veda

Vedānga Shikshā

Kalp

Vyākaran

Jyotish

Chhand

Nirukt

Upānga Nyāya

Vaisheshik

Sāmkhya

Vedānt

Karma Mīmāmsā

Yoga

Brāhmana Upanishad

Āranyak

Brāhmana

Smriti

Purān

Itihās

Upa-Veda

34

Gandharva Veda

Dhanur-Veda

Sthāpatya Veda

Bhel Samhitā

Hārīta Samhitā

Kāshyap Samhitā

Āyur-Veda Vāgbhatt Sāmhitā

Sushrut Samhitā

Charak Samhitā

Bhāva-Prakāsh Samhitā

Shārngadhar Samhitā

Mādhav Nidān Samhitā

Prātishākhyas Rk Veda Sāma Veda (Pushpa Sūtram)

Ātmai Vedam Sarvam Sarvam Khalu Idam Brahm

Shukl-Yajur Veda Krishn-Yajur Veda (Taittirīya)

Brahm Aham Brahmāsmi I am Totality

Atharva Veda Atharva Veda (Chaturadhyāyī)

841 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

und Chhandas (Objekt der Beobachtung) als Qualitäten des reinen Bewusstseins darstellen. Diese 192 Silben des 1. Sukta (Hymne) werden in den 192  Suktas, aus denen sich das 1.  Mandala („Liederkreis“; kreisförmig zyklische, ewige Struktur) des Rik-Veda zusammensetzt, näher ausgeführt. Aus den Lücken zwischen diesen 192 Suktas des 1. Mandala treten wiederum die 192 Suktas des 10. Mandala hervor; die übrigen 8 Mandalas 2–9 (entsprechend den 8 Prakritis) entstehen sequenziell aus den Lücken zwischen den Richas des 1. Sukta. Nach den 10 Mandalas des Rik-Veda erfolgt die weitere Kommentierung über die 3 weiteren Haupt-Veden (Sama, Yajur und Atharva) und über die 36 Aspekte der vedischen Literatur, die in 5 Kommentarebenen zusammengefasst sind (Vedangas, Upangas, Upavedas, Brahmanas und Pratishakhyas). Ayurveda bildet einen Teil der Upavedas, der „untergeordneten Veden“. Diese ewige, vollkommen geordnete Wissensstruktur  – der Veda  – ist über Tausende von Jahren hinweg in der vedischen Tradition Indiens bewahrt worden. Das vollständige Wissen des Veda und seine tiefe Bedeutung für das Leben ist von Maharishi Mahesh Yogi in einer vollständigen inneren Schau nach sachlich-wissenschaftlichen Gesichtspunkten als Maharishis Vedische Wissenschaft und Technologie neu geordnet und systematisiert worden. 34.3.4  Der menschliche Körper als

Ausdruck des Veda und der vedischen Literatur

Die nachstehenden Ausführungen entstammen dem Buch von T. Nader (2000). Die grundlegenden Einsichten in die uralte vedische Literatur, die von dem vedischen Gelehrten Maharishi Mahesh Yogi während der letzten 50 Jahre enthüllt wurden, haben zu der Entdeckung geführt, dass die Gesetzmäßigkeiten, die den menschlichen Geist und Körper strukturieren, dieselben sind, die den Silben, Versen, Strophen, Hymnen, Mandalas der 4  Haupt-Veden und den Büchern der vedischen Literatur Struktur verleihen.

34

>> Alle Komponenten, Organe und Organsysteme des menschlichen Körpers (einschließlich die verschiedenen Teile des Nervensystems) stimmen, entsprechend ihrer Spezialisierung, sowohl in Struktur als auch in Funktion 1:1 mit den 40 Bereichen des Veda und der vedischen Literatur überein (. Abb. 34.9).  

Damit ergeben sich auch für die Therapie neue und sehr effiziente Anwendungsgebiete: Wenn Störungen in bestimmten Teilen des Nervensystems und anderer Organsysteme auftreten, kann gezielt durch die Anwendung spezifischer Urklangtherapien derjenige Intelligenzaspekt des Organismus angeregt werden, der die Basis für diesen spezifischen Bereich darstellt bzw. aus dem er sich manifestiert. Die Entdeckung des Veda in der Physiologie hat die Geheimnisse der geordneten Funktionsweise aller Körperorgane enthüllt und aufgezeigt, wie sich diese Ordnung in ihrem höchsten Wert als absolute Ordnung des unendlichen Universums in all seiner Vielfalt ausdrückt. Dies hat den Menschen die Möglichkeit eröffnet, mit dieser kosmischen Ordnungsebene in Einklang zu leben, in dem man die transzendente Bewusstseinsebene erfährt und in das Wach-Bewusstsein des Alltags integriert. Hier liegt der Schlüssel, um einen Zustand perfekter Gesundheit zu entwickeln – einen Zustand von Erleuchtung, der das volle Potenzial des menschlichen Lebens entwickelt und die kosmische Dimension des Menschen verwirklicht

»» „Aham Brahmasmi.“(Ich bin Gesamtheit, Totalität.)

Durch diese Entdeckung eröffnet sich die Möglichkeit, im Studium von Anatomie und Physiologie das höchste Lebensziel zu verwirklichen  – individuelles Bewusstsein und kollektives Bewusstsein auf der Ebene kosmischen Lebens fest zu verankern. Maharishi Vedische Medizin hat das Know-how und zeichnet dafür verantwortlich, Gesundheit dem einzelnen Menschen und der Gesellschaft als Ganzes zur Verfügung zu stellen. Damit wird ein neues Kapitel für ein modernes Gesundheitssystem eröffnet  – die Schaffung einer

842

L. Krenner

34

..      Abb. 34.9  Ganzheitliche Funktionsweise des menschlichen Körpers: exakte Zuordnung der entsprechenden Suktas des ersten Mandala des Rik-Veda zu den

Hirn- und Rückenmarknerven. (Aus Nader 2000, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors, Prof. T. Nader; M.D, Ph.D., MARR; Maharishi Vedic University)

843 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

krankheitsfreien Gesellschaft auf der Basis einer bewusstseinsbasierten Medizin.

»» „Rite gyananna mukti. – There is no freedom

from diseases or suffering of any kind, without Enlightenment, without Total Knowledge.“ (Es gibt keine Freiheit von Krankheiten oder irgendeiner Art von Leiden, ohne den Zustand von Erleuchtung erlangt zu haben [vollständiges Wissen, die volle Entwicklung des Bewusstseins]) (Zitat aus der vedischen Literatur)

34.4  Grundbegriffe/Definitionen 34.4.1  Definition von Gesundheit

»» „Ein Mensch ist gesund, dessen Physiolo-

gie (Doshas), Stoffwechsel (Agni), Gewebe (Dhatus) und Ausscheidungen (Malas) im Gleichgewicht sind und dessen Seele (Atma), Sinne (Indrias) und Geist (Manas) sich dauerhaft im Zustand inneren Glücks befinden.“ (Sushrut Samhita, Sutrasthan 15.41)

Laut Maharishi Vedischer Medizin entsteht ganzheitliche Gesundheit in unserer Physiologie, wenn eine 55 dynamische Ausgewogenheit zwischen den Teilen unseres Organismus besteht: 55den 3 Doshas (grundlegende Funktionsprinzipien) ȤȤ Vata (Bewegung), ȤȤ Pitta (Transformation), ȤȤ Kapha (Stabilität), 55den 7 Dhatus (Gewebe), 55den Malas (Ausscheidungsprodukte). 55 lebendige Kommunikation zwischen diesen Teilen und der ihnen zugrunde liegenden abstrakten Intelligenzebene unserer Physiologie, dem Veda – die auch als die innere Natur des Menschen bezeichnet wird (Prakriti) – stattfindet; dies drückt sich im Ojas-Niveau des Organismus aus (Ojas ist das feinste Stoffwechselprodukt des Organismus, das die Verbindung zwischen Bewusstsein und Körper herstellt und aufrecht erhält). Damit erklärt sich die vedische Definition von Gesundheit als Swastha, d. h., mit seiner eigenen Natur (Prakriti) in Harmonie – im Selbst (Swa) – gegründet zu sein (Stha). Jede Art von Gesundungsvorgang im Organismus ist daher primär ein Bewusstwerdungs- und Selbsterkennungsprozess.

34

34.4.2  Konstitutionslehre der

Maharishi AyurVeda-Medizin

Einen wesentlichen Teil die Diagnose und Therapie der Ayurveda-Medizin betreffend bildet ihre Konstitutionslehre, die es ermöglicht, die Diagnostik und Therapie individuell auf den einzelnen Menschen abzustimmen. Alle Lebensvorgänge werden als ein Zusammenspiel dreier geistiger und körperlicher Grundprozesse (3 Doshas) definiert (abgeleitet von den Qualitäten des Grundzustands des Bewusstseins – transzendentales Bewusstsein: Rishi, Devata und Chhandas, 7 Abschn. 34.3.3) (. Abb. 34.10).  



Die 3 Doshas 55 Bewegung – Vata (Muskelbewegung, Stofftransport, Informationsweiterleitung und Informationsverarbeitung im Nervensystem, das Fließen von Gedanken) 55 Transformation – Pitta (Umwandlung, Verdauung mit der dabei entstehenden Wärme und Energie, Emotionen) 55 Stabilität – Kapha (Formgebung, Zusammenhalt, Schleimbildung)

Diese 3 Doshas leiten sich von den 5 Elementen (Panchamahabutas) ab: 55 Vata setzt sich zusammen aus dem Raum- (Akasha) und Luft-Element (Vayu), 55 Pitta aus dem Feuer- (Tejas/Agni) und Wasser-Element (Jal), 55 Kapha aus dem Wasser- (Jal) und Erd-­ Element (Prithvi).

844

L. Krenner

Vata Beobachter (Subjekt der Beobachtung, Rishi) Ganzheit (Samhita)

Ganzheit (Ojas)

Prozess der Beobachtung (Devata) Objekt der Beobachtung (Chhandas)

Pitta

Kapha

Bewusstsein

Physiologie

..      Abb. 34.10  Wie Bewusstsein sich in Physiologie transformiert – der Ursprung der 3 Doshas im Bewusstsein. (© International Maharishi AyurVeda Foundation, mit freundlicher Genehmigung)

Dass dieses jahrtausendealte ayurvedische Kon­zept der 5 Elemente und der 3 Funktions­ prinzipien (Doshas) ein allgemeingültiges Modell des Aufbaus der Materie darstellt, zeigt sich u.  a. in einem Artikel des Quantenphysikers John Hagelin aus dem Jahr 2004, in dem er auf eine Übereinstimmung dieses Konzepts der 5  Elemente und der daraus abgeleiteten 3  Doshas und quan­ tenphysikalischer Erkenntnisse hinweist (. Abb. 34.11): Aus der individuellen Kombination der 3  Doshas leitet die Ayurveda-Medizin ihre Konstitutionslehre ab:  

34

Ayurvedische Konstitutionstypen 5 5 Prakriti – Geburtskonstitution (die bei der Geburt vorhandene individuelle Mischung von Vata, Pitta und Kapha in der Physiologie) 55 Vikriti – derzeitiges Ungleichgewicht in Bezug auf Prakriti 55 Dehaprakriti – dauerhaftes Ungleichgewicht, das als Konstitution erscheint 55 Prakritisthapan – das Ziel der Ayurveda Therapie: die Wiederherstellung der Geburtskonstitution

zz Selbsttest: Ihr Typ ist gefragt! (. Abb. 34.12)  

Maharishi AyurVeda ist eine individuell auf den einzelnen Menschentyp zugeschnittene Heilkunde. Jeder Mensch hat andere Stärken und Schwächen. Charakteristische Vorlieben und Abneigungen gegenüber Nahrungsmitteln, Situationen, Menschen, klimatischen Bedingungen etc. bestimmen das Leben. Diese persönlichen Merkmale spiegeln sich in den ayurvedischen Konstitutionstypen wieder. Die Kenntnis Ihres Konstitutionstyps hilft Ihnen, sich selbst besser zu verstehen und Ihr körperlich-seelisches Gleichgewicht zu bewahren. Die klassischen Maßnahmen zur Bestimmung Ihrer Konstitution sind die Maharishi AyurVeda-Pulsdiagnose und die vedische Astrologie (Maharishi Jyotish). Folgender Test soll Ihnen eine Idee über den gegenwärtigen Zustand Ihrer persönlichen Konstitution geben (Vikriti). Überlegen Sie, wie genau die folgenden Aussagen für Sie zutreffen. Die Ziffer 0 bedeutet „nein, stimmt nicht“, die Ziffer 6 „ja, stimmt genau“, die übrigen Punkte liegen dazwischen. 34.4.3  Verdauung und Ernährung

Die Transformation, die Umwandlung im Sinne einer Aufspaltung bzw. Verfeinerung und eines anschließenden Aufbaus bzw. Zusam-

845 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

Spin-2

Spin-3/2

Spin-1

Spin-1/2

Spin-0

GRAVITON

GRAVITINO

FORCES

MATTER

HIGGS

Tejas

Apas

Prithivi

Akasha

Vayu

GRAVITY SUPERFIELD Vata

GAUGE SUPERFIELDS Pitta

34

MATTER SUPERFIELDS Kapha

Planck Scale

Superstring

UNIFIED FIELD ..      Abb. 34.11  In einer Superstring-Theorie gibt es natürliche Paarbindungen der 5 quantenmechanischen Spins in 3 Typen von N = 1 Superfields. Diese selben Paarbindungen werden auch im Maharishi-­AyurVeda als grundlegende Qualitäten angesehen (Hagelin 2004). Das bedeutet, dass das Konzept der 3 Doshas und der 5 Elemente nicht das Ergebnis einer einfachen „Naturphi-

menfügens, ist der Grundprozess eines geistigen oder körperlichen Verdauungsvorgangs. Die Nahrung wird laut Ayurveda von dem Verdauungsfeuer (Agni  – Aspekt des Pitta Dosha  – Transformationsprinzip) aufgespalten und in körpereigenes Gewebe (die 7 Dhatus) umgewandelt. Dabei entstehen neben den 7 Gewebearten die 3 Ausscheidungsprodukte (die 3 Malas: Stuhl, Harn und Schweiß) (. Abb. 34.13).

losophie“ ist, sondern eine exakte Beschreibung der Grundgesetze der Natur darstellt, die Übereinstimmungen und Parallelen zu den Erkenntnissen der modernen Quantenphysik aufweisen. (Aus Hagelin 2004, mit freundlicher Genehmigung von Prof. J. Hagelin, Ph.D., Maharishi University of Management, USA)

55 Medo (Fettgewebe) 55 Asthi (Knochengewebe) 55 Majja (alles vom Knochen eingeschlossene, Knochenmark und zentrales Nervensystem) 55 Shukra (Fortpflanzungsgewebe, Eiund Samenzellen)



7 Dhatus (Gewebe) – die 7 Funktionsebenen unserer Physiologie 55 Rasa (Lymphe, Plasma, interstitielle Gewebsflüssigkeit) 55 Rakta (Blut, die festen Blutbestandteile, Blutkörperchen) 55 Mamsa (Muskelgewebe)

Jeder Transformationsprozess läuft aus der Sicht der vedischen Wissenschaft in 4 Schritten ab; im Folgenden wird der Grundtransformationsprozess auf der Ebene des Veda dargestellt, ausgedrückt durch die Abfolge von Mantras (manifeste Form) und Brahmanas (unmanifeste Lücken): 55 Pradhwamsa-Abhava: die Qualität der Intelligenz, die den Ausdruck eines Urklangs zu völliger Abstraktion führt,

846

L. Krenner

Testabschnitt VATA nein

ja

Ich bin lebhaft und begeisterungsfähig

0123456

Ich bin gesprächig

0123456

Ich bin leicht erregbar

0123456

Ich bin ängstlich und mache mir schnell Sorgen

0123456

Es fällt mir schwer, Entscheidungen zu treffen

0123456

Ich führe Handlungen schnell durch

0123456

Ich bewege mich schnell

0123456

Ich kann neue Informationen schnell aufnehmen

0123456

Ich kann zwar schnell neue Informationen aufnehmen, mir diese aber schlecht über längere Zeit merken

0123456

Ich habe einen oberflächlichen Schlaf und wache in der Nacht immer wieder auf

0123456

Ich habe oft trockene Haut, besonders im Winter

0123456

Ich bekomme leicht kalte Hände und/oder Füße

0123456

Kaltes, windiges Wetter ist mir unangenehm

0123456

Ich neige zu Blähungen und Verstopfung

0123456

Ich habe einen leichten Körperbau und nehme schwer an Gewicht zu

0123456

Summe der Bewertungspunkte für Vata: Testabschnitt PITTA nein

34

ja

Ich habe einen scharfen Verstand

0123456

Ich neige zu Perfektionismus

0123456

Ich neige zu genauem und methodischem Arbeiten

0123456

Ich weiß was ich will und setze es auch durch

0123456

Ich neige zu Ungeduld

0123456

Ich bin schnell gereizt und ärgerlich

0123456

Ich bin aufbrausend, beruhige mich aber schnell wieder

0123456

Mein Haar hat mindestens eines der folgenden Merkmale: seidig, rötlich, frühzeitig grau

0123456

Ich habe eine gute Verdauung und kann essen, was ich will

0123456

Ich habe einen guten Appetit und esse größere Portionen

0123456

Wenn es zu Verzögerungen der Mahlzeiten kommt, fühle ich mich unwohl und gereizt

0123456

Ich habe regelmäßigen Stuhlgang, selten Verstopfung

0123456

Ich schwitze leicht

0123456

Ich mag lieber kühles als zu warmes Klima

0123456

Ich liebe kühlende Speisen und gekühlte Getränke

0123456

Summe der Bewertungspunkte für Pitta:

..      Abb. 34.12  Selbsttest. (© L. Krenner)

34

847 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

Testabschitt KAPHA nein

ja

Andere Menschen empfinden meine Natur als angenehm und gemütlich

0123456

Es dauert lange, bis ich gereizt und ärgerlich werde

0123456

Ich neige nicht zu hektischem Verhalten und Arbeiten

0123456

Mein Gang ist langsam und stabil

0123456

Ich habe ein gutes Langzeitgedächtnis

0123456

Kühles, feuchtes Wetter sagt mir am wenigsten zu

0123456

Meine Haut ist weich und sanft

0123456

Ich bin im Grunde ein friedlicher Mensch

0123456

Mein Schlaf ist tief und fest

0123456

Bei weniger als acht Stunden Schlaf fühle ich mich tagsüber unwohl

0123456

Ich neige zu Völlegefühl

0123456

Ich neige zu verstärkter Schleimbildung im Hals-Nasen-Ohren-Bereich und in der Lunge

0123456

Ich neige zum Molligsein und nehme sehr schnell an Gewicht zu

0 123456

Ich kann ohne Probleme auf eine Mahlzeit verzichten

0123456

Summe der Bewertungspunkte für Kapha:

Wie Sie Ihren Konstitutions-Typ finden: Die Testabschnitte stehen für die drei grundlegenden Funktionsprinzipien:

• • •

Vata - das Bewegungsprinzip Pitta - das Stoffwechselprinzip Kapha - das Prinzip für Stabilität und Formgebung

Vergleichen Sie die Summen der Bewertungspunkte für Vata, Pitta und Kapha und stellen Sie fest, welcher Testabschnitt die höchste Punkteanzahl ergeben hat. Häufig dominieren zwei Prinzipien, bei manchen Menschen sogar alle drei. Welche Summen welchen Typ ergeben, zeigen folgende Beispiele:

• • •

Pitta 60, Vata 44, Kapha 26 = Pitta-Vata-Typ Vata 66, Pitta 22, Kapha 28 = Vata-Typ Vata 45, Pitta 49, Kapha 44 = Vata-Pitta-Kapha-Typ

Beachten Sie bitte, dass Ihnen dieser Test nur einen ungefähren Hinweis auf Ihre gegenwärtige konstitutionelle Situation gibt. Bei gesundheitlichen Fragen oder Problemen konsultieren Sie bitte einen Maharishi AyurVeda-Arzt.

..      Abb. 34.12 (Fortsetzung)

848

L. Krenner

1) Höchste Punktezahl bei Vata: Haben Sie bei Vata die höchste Punktezahl, spielt das Bewegungsprinzip die vorherrschende Rolle in Ihrer Konstitution.



Ausgewogenes Vata bedeutet mehr Energie, Wachheit, Lebendigkeit und Kreativität.



Zu viel Vata kann zu Angst, Unruhe, trockener und rauer Haut, Verstopfung, Schlaflosigkeit und Gelenkschmerzen führen. Stress, Überanstrengung und zu viel Bewegung erhöhen Vata.



Um Vata auszugleichen, empfiehlt die Maharishi AyurVeda Medizin einen regelmäßigen Tagesablauf, regelmäßige warme Mahlzeiten mit nahrhaften Speisen, regelmäßige Ruhephasen, warme Ölmassagen, frühes Schlafengehen und nur mäßigen Sport.



Beruhigend und stabilisierend auf das Vata-Prinzip wirken auch Vata-Tee, VataGewürzmischungen (Churnas) und Vata-Aromaöl.

2) Höchste Punktezahl bei Pitta: Haben Sie bei Pitta die höchste Punktezahl, spielt das Stoffwechselprinzip die vorherrschende Rolle in Ihrer Konstitution. Pitta ist für Wärme und Stoffwechsel verantwortlich.

34



Ausgewogenes Pitta sorgt für gute Verdauung und einen klaren Intellekt.



Zu viel Pitta kann überschüssige Hitze, intensive Emotionen, Ungeduld, Hautprobleme (entzündliche Veränderungen), Magenprobleme und Übersäuerung verursachen.



Um erhöhtes Pitta auszugleichen, empfiehlt die Maharishi AyurVeda Medizin süße, bittere und herbe Speisen. Zum Kochen bewährt sich geklärte Butter (Ghee). Zu scharfe und saure Speisen sollten besser vermieden werden. Hitze, Sauna und extreme Sportarten vermehren Pitta. Reduzieren Sie Kaffee, Schwarztee und Alkohol.



Hilfreich sind Pitta-Tee, Pitta-Gewürzmischungen (Churnas) und Pitta-Aromaöl. Sie wirken kühlend und besänftigend.

3) Höchste Punktezahl bei Kapha Haben Sie bei Kapha die höchste Punktezahl, spielt das Prinzip für Struktur, Stabilität und Festigkeit die vorherrschende Rolle in Ihrer Konstitution.



Ausgewogenes Kapha verleiht Stärke, Ausdauer, hohe Widerstandskraft, Stabilität und ein ausgeglichenes Temperament.



Zu viel Kapha kann u. a. geistige und körperliche Trägheit, Übergewicht und Depressionen verursachen.



Um ein erhöhtes Kapha auszugleichen, empfiehlt die Maharishi AyurVeda Medizin scharfe, kräftig gewürzte und leichte, fettarme Speisen. Honig in kleinen Mengen ist hilfreich. Das Frühstück sollte bis auf warme Getränke öfter ausfallen und das Abendessen bescheiden bleiben (z. B. Gemüsesuppen). Sport, Wärme und Bewegung tun gut.



Kapha-Tee, Kapha-Gewürzmischungen (Churnas) und Kapha-Aromaöl wirken erwärmend und vitalisierend und reduzieren dadurch Kapha.

..      Abb. 34.12 (Fortsetzung)

34

849 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

..      Abb. 34.13 Verdauungsprozess. (© L. Krenner)

Verdauung – Transformation Nahrung unter Einwirkung von

Agni

Malas

Ama

Dhatus

Ojas

55 Atyanta-Abhava: das gesamte Gedächtnis reiner, potenzieller Intelligenz des Punktwerts (Smriti), 55 Anyonya-Abhava: die Lebendigkeit, die in Atyanta-Abhava innewohnt; sie inspiriert die 40 Qualitäten der Intelligenz, sich auszudrücken, 55 Prag-Abhava: diese Qualitäten drücken sich in einem neuen Urklang aus = Mantra, Shruti. Damit eine Transformation vollständig durchgeführt werden kann, erfordert sie die volle Wachheit der transzendenten Bewusstseinsebene im Nullpunkt (Transformationspunkt non A/non B) (. Abb.  34.14). Wenn die Wachheit des Veda in der Physiologie nicht vollständig vorhanden ist, wenn nicht das gesamte Potenzial der Intelligenz der Natur zur Verfügung steht, wenn das Ojas-Niveau vermindert ist, wird jede Art von Verdauungsaktivität, Umwandlung, oder Transformation unvollständig sein. Es entsteht Ama – „Schlackenstoffe“, Toxine, –„Unverdautes“; Ama lagert sich an Schwachstellen des Organismus ab und führt zu Krankheitssymptomen.  

Ama kann auf körperlicher, geistiger und seelischer Ebene entstehen durch 55 unverdaute Nahrung, 55 unverdaute Sinneseindrücke, 55 unverarbeitete Gefühle und/oder 55 unverarbeitete seelische Prozesse. Bestehendes Ama wird in der Ayurveda-­ Medizin durch folgende Maßnahmen reduziert bzw. abgebaut: 55 Diät (leicht verdauliche Nahrungsmittel, spezielle Gewürze, warme, frisch gekochte Speisen), 55 Heilkräutermischungen zur Stärkung von Agni (dipana) und Ausleitung von Ama (pachana), 55 Reinigungsbehandlungen (Panchakarma-­ Kuren), 55 Technik der transzendentalen Meditation zum Aufbau von Ojas und zum Abbau von Ama auf körperlicher, geistiger und seelischer Ebene. Bei vollständiger Transformation produziert das Verdauungssystem als feinstes, subtilstes Stoffwechselprodukt Ojas – auch als die Stärke

850

L. Krenner

..      Abb. 34.14 Verdauung – Transformation. (© L. Krenner)

Ausgangszustand

Non A Non B

Endzustand

Atyanta-Abhava Anyonya-Abhava Pradhwamsa-Abhava

des Organismus definiert (Bala). Ojas wird am Übergangsbereich zwischen Bewusstsein und Physiologie lokalisiert, d. h., eine „Seite der Medaille“ ist unmanifest, die andere manifest. Ojas ist ein Maß für die Aktivierung der inneren Intelligenz des Organismus – Veda. Ojas ist daher ein zentraler Parameter für den Gesundheitszustand und wird auch als ein Maß für die Selbstheilungskraft des Organismus bezeichnet. Das Ojas-Niveau kann im Puls gemessen werden.

34

Shrotas – die Kommunikations- und Transportkanäle des Organismus Im Ayurveda werden 13 Hauptkategorien unterschieden: 55 Prana – die Atemluft transportierende Kanäle 55 Udaka – Wasser transportierende Kanäle 55 Anna – Nahrung transportierende Kanäle 55 7 Shrota-Gruppen entsprechend den 7 Dhatus 55 Mutra – Urin transportierende Kanäle 55 Purisa – Stuhl transportierende Kanäle und 55 Sveda – Schweiß transportierende Kanäle

Prag-Abhava

>> Wesentlich ist die Erhaltung der Durchgängigkeit der Shrotas. Kommt es durch Ama zu einer Blockade, entstehen Störungen in den Shrotas selbst und in den Geweben (Dhatus). Die ayurvedische Reinigungsbehandlung (Panchakarma) hat u. a. die Aufgabe, die Shrotas wieder zu öffnen und den Kommunikations- und Stofftransport zu verbessern.

34.5  Ayurvedische Pathogenese 34.5.1  Die 6 Entwicklungsstadien

einer Krankheit

Stadien der Pathogenese in der Ayurveda-Medizin 1. Sanchaya – Ansammlung der Doshas 2. Prakopa – Weitere Zunahme der Ansammlung mit dem Auftreten von ­Präsymptomen 3. Prasara – Streuung im Körper mit zunehmendem Auftreten von Präsymptomen 4. Sthana Samsraya – Lokalisation; die Doshas heften sich in einem bestimmten Gebiet/Organ an Ama

34

851 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

an, dort, wo die Shrotas (Transportwege) gestört bzw. blockiert sind (häufig verbunden mit dem Beginn von Silent-inflammation-­Prozessen) 5. Vyakti – Volle Manifestation der Symptome; sichtbarer Ausbruch der Erkrankung 6. Bheda – Die Krankheit wird chronisch

Maharishi AyurVeda bietet durch das medizinische Eingreifen (diagnostisch und therapeutisch) bereits in frühen Stadien (Stadien 1–4) eine einfache, effiziente und kostengünstige Art, Ungleichgewichte im Organismus zu behandeln, bevor sich diese als Krankheiten manifestiert haben (Stadium 1–4). 34.5.2  Ein neues ganzheitliches

Menschen- und Weltbild der Medizin

Gesundheit bedeutet Ganzheit. Die Grundlage einer modernen Medizin muss ein umfassendes ganzheitliches Wissen über Gesundheit und Heilung sein. In der integrativen Medizin ist dieses Wissen vorhanden, im Speziellen in der jahrtausendealten und wieder neu entdeckten Maharishi Vedischen Medizin (7 Abschn. 34.1). In der Ayurveda-Medizin werden 4  Ebenen der Gesundheit beschrieben:  

Lebensebenen 55 Umwelt ȤȤ Nähere Umwelt: private, soziale und Arbeitsumgebung, Wohnund Arbeitssituation, gesellschaftliches Umfeld ȤȤ Entferntes Umfeld bis hin zu globalen und kosmischen Einflüssen 55 Körper 55 Geist 55 Transzendente Lebensebene (Atma/ Selbst)

Die ayurvedischen Therapien setzen daher auf den drei relativen Lebensebenen der Umwelt (exogen), des Körpers (endogen), des Geistes (psychisch) sowie auf der transzendenten Ebene des Selbst an (Atma) (. Abb. 34.15). Das Ziel jeder Therapieform der vedischen Medizin ist das „Öffnen“, „Durchgängigmachen“ der einzelnen Ebenen der Persönlichkeit und die Rückverbindung mit der innersten transzendenten Lebensebene, dem Selbst (Atma). Der Schlüsselprozess ist Transzendieren, das Überschreiten aller relativen Prozesse und die Erfahrung ruhevoller Wachheit  – ein auch neurophy­siologisch klar definierter 4.  Haupt-­ Bewusstseinszustand (neben Wachen, Träumen und Schlafen). Dieser wird im Yoga als transzendentales Bewusstsein bezeichnet (Turiya Chetana) und geht einher mit der Erfahrung eines maximal erweiterten Bewusstseins bei gleichzeitiger Stille, Gedanken-­ Freiheit und innerer Wachheit. Der einfachste und direkteste Weg, diesen Grundzustand des Bewusstseins zu erfahren, ist die jahrtausendealte vedische Bewusstseinstechnik der transzendentalen Meditation (TM, 7 Abschn. 34.10, 7 Kap.  37). Während der Ausübung der TM-Technik kommt es neben dem Vorgang des Transzendierens auch zum Abbau von „Altlasten“ im System (unverdaute Lebenserfahrungen, Stress und Überbelastungen). Dadurch werden unbewusste bzw. unterbewusste Persönlichkeitsstrukturen gereinigt und mehr und mehr bewusst.  





>> Ein Mensch ist gesund im Sinne der Maharishi AyurVeda Medizin, wenn er voll bewusst ist, wenn alle inneren Blockaden und unverarbeiteten Erfahrungen abgebaut wurden und die transzendente Ebene (Atma) in die Relativität des Lebens dauerhaft integriert ist.

Dies wird in der vedischen Wissenschaft als Zustand der Erleuchtung definiert (kosmisches Bewusstsein  – Turiyatita Chetana, Gottes-­ Bewusstsein – Bhagavat Chetana und Einheits-­ Bewusstsein – Brahmi Chetana).

»» „Wenn die gesamte Intelligenz des Naturgesetzes – der Veda – in der

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L. Krenner

Universum (Vishwa)

Materiell Körper

5 Elemente (Raum, Luft, Feuer, Wasser, Erde)

Geistig

Manas (Geist) Budhi (Intellekt)

RELATIV

Prakriti

Die Grundbausteine der materiellen Welt

(Sharir)

Individuelles Ich

Ahamkar (Ego) Para-Prakriti ABSOLUT

Atma Kosmisches Selbst

..      Abb. 34.15  Die kosmische Persönlichkeitsstruktur der vedischen Wissenschaft: Grundlegende Trennung zwischen relativer und absoluter Lebensebene. Wach-Bewusstsein: „Leben im Dreieck“ der Relativität. Kosmisches Bewusstsein: die Trennlinie zwischen relativem und absolutem Lebensbereich öffnet sich, und ihre Verbindung wird lebendig; das individuelle

34

Physiologie lebendig ist, existiert perfekte Synchronie zwischen dem Funktionieren jeder einzelnen Zelle, dem Funktionieren des Körpers und dem Funktionieren des Kosmos als Ganzes – zwischen individueller Intelligenz und kosmischer Intelligenz. In diesem Zustand vollständiger Integration sind alle Gedanken und Handlungen spontan in Einklang mit dem Naturgesetz und die Menschen erfreuen sich perfekter Gesundheit.“ (Maharishi Mahesh Yogi)

34.5.3  Hauptursache für die

Entstehung von Krankheiten – der „Fehler des Intellekts“

Die eigentliche Ursache für die Entstehung von Krankheiten wird als Pragya paradha definiert, als „Fehler des Intellekts“; die Verbindung mit der transzendenten, absoluten Bewusstseinsebene des Lebens ist unterbrochen bzw. nicht ausreichend lebendig. Alle vedischen Therapieansätze haben das Ziel, diese Verbindung

Purusha

Ich transformiert sich zum kosmischen Selbst. Geist und Körper stehen in direkter Verbindung mit der umfassenden Intelligenz der Natur auf der absoluten Lebensebene. Die scheinbare Isolation einer „Welle“ (Wach-Bewusstsein) schwindet, wenn sich der Mensch seiner Basis bewusst wird – dem unendlichen transzendenten „Bewusstseinsozean“. (© L. Krenner)

wieder bewusst zu machen und dem Menschen seine kosmische Dimension zurückzugeben (. Abb. 34.16). Dies ermöglicht ein Leben frei  

Universum Vishwa

Körper Sharir Geist Manas

VEDA Sein, Transzendentales Bewusstsein, Selbst, Atma ..      Abb. 34.16 Laut Maharishi AyurVeda Medizin erfordert jeder Heilungsprozess die Rückverbindung mit der innersten transzendenten Ebene der Persönlichkeit (Atma, das Selbst) und damit die Löschung des „Fehlers des Intellekts“ (Pragya paradha). Ojas, die Selbstheilungskraft, zeigt das Ausmaß dieser Rückverbindung an und kann im Puls gemessen werden. (© L. Krenner)

853 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

von Krankheiten und Leiden und bildet damit die Voraussetzung dafür, das Ziel der vedischen Medizin zu erreichen  – die Schaffung einer krankheitsfreien Gesellschaft. 34.6  Diagnostik

34

lichen diagnostischen Möglichkeiten der konventionellen Medizin. Zusammen mit diesen Ergebnissen wird daraus die entsprechende, individuell auf die Gesundheitssituation des Patienten abgestimmte Therapie abgeleitet. Zusätzliche Informationen über ayurvedische Diagnostik 7 Kap.  14 (Spezielle TAM-­ Diagnostik).  

Die ayurvedische Diagnostik richtet sich auf den Patienten und seine Erkrankung. Sie beinhaltet 55 die visuelle Beobachtung (Darshanam), 55 die Berührung (Sparshanam) und 55 die Befragung (Prashnam). So wie bei jeder Art von medizinischer Behandlung bildet auch im Maharishi AyurVeda das Erheben einer ausführlichen ayurvedischen (Prashnam) und konventionell-­medizinischen Anamnese einen Hauptaspekt der Diagnostik. Die Wahrnehmung des Patienten (Darshanam), sein Gesamteindruck, seine Erscheinung, Haltung, Bewegung, Sprache etc. sowie die Beobachtung/Beurteilung speziell der Zunge, der Augen, der Haut und in manchen Fällen auch des Stuhls und Urins geben dem Ayurveda-Arzt wichtige diagnostische Hinweise. Der zentrale Aspekt ist die Maharishi AyurVeda-Pulsdiagnose als Teil von Sparshanam. Daraus lassen sich die Situation der 3  Doshas (Anregungszustand und Lokalisation von Vata, Pitta, Kapha, und ihren Sub-Doshas) sowie die Verdauungskraft (Agni), die Toxinbelastung (Ama), der Zustand der Gewebe (Dhatus) und das Ojas-Niveau (das Ausmaß der Verbindung des Organismus mit seiner transzendenten Basis, dem Veda; auch als Selbstheilungskraft oder Stärke des Organismus, Bala, bezeichnet) ablesen. Dies ergibt auf einfache, schnelle und kostengünstige Art einen umfassenden Überblick über den ­individuellen Gesundheitszustand des Patienten. Maharishi AyurVeda-Pulsdiagnose ist einfach zu erlernen (7 Abschn. 34.12, Ausbildungsprogramm); sie kann leicht in den Praxisalltag integriert werden und ist primär eine Frage der Übung bzw. Erfahrung. Selbstverständlich bedient sich der Maharishi AyurVeda-Arzt aller notwendigen zusätz 

34.7  Therapie

Der Ayurveda kennt eine Vielzahl therapeutischer Strategien, um die Gesundheit im Körper-­ Geist-Seele-Umwelt-System zu erhalten oder wiederherzustellen. Viele Behandlungsformen sind in den letzten Jahrhunderten verloren gegangen. Es ist das Anliegen der Maharishi AyurVeda Medizin, das vollständige Spektrum ayurvedischer Heilkunst wieder zur Verfügung zu stellen. Die Maharishi AyurVeda-Therapien beinhalten, neben Yoga, transzendentaler Meditation, vedischer Astrologie (Jyotish) und vedischer Architektur (Sthapatya-Veda), v.  a. Ernährungsempfehlungen  – abgestimmt auf Vikriti (gegenwärtiges Ungleichgewicht) bzw. Prakriti (Geburtskonstitution)  – sowie Nahrungsergänzungsmittel auf Gewürz- und Kräuterbasis, Tees, Kräuteröle, Aromatherapie, ­Musiktherapie, vedische Urklangtherapie, Marmatherapie (zarte Massage spezieller Energiepunkte mit spezifischen Kräuterölen), vedische Vibrationstechniken und das große Gebiet der Reinigungsbehandlungen (Panchakarma). Im klassischen Ayurveda werden 3 Therapiegruppen unterschieden: 55 Spirituelle Therapien (Daiva Vyapashraya; Therapien, die mit speziellen personifizierten Naturgesetzen in Beziehung stehen – Devatas): z. B. Rezitieren vedischer Literatur (Mantren), spezielle Medizinzubereitungen (Aushada), Edelsteintherapie (Mani) etc.). 55 Rationale Therapien (Yukti Vyapashraya); Therapien, bei denen Nahrungsergänzungsmittel auf Kräuterbasis sowie Lebensstil und Ernährung nach einer gründlichen Diagnostik entsprechend den Krankheitsursachen geplant und angewendet werden).

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L. Krenner

55 Psychologische Therapien (Sattvavajaya; Therapien, die das Sattva Guna stärken (lebensunterstützende Kraft), in erster Linie durch den Prozess des Transzendierens, in dem der Geist sich von der Ebene der Sinne und der Gedanken zurückzieht – die geistige Aktivität verfeinert wird – und er einen Zustand „ruhevoller Wachheit“ erfährt, Transzendentales Bewusstsein). Das Ziel der ayurvedischen Therapie ist die Belebung des Veda in der Physiologie – der inneren Intelligenz des Organismus. Dies wird wie folgt erreicht: Maßnahmen zur Belebung des Veda

34

55 Direkte Erfahrung der transzendenten „Veda-Ebene“ des Bewusstseins (Technik der transzendentalen Meditation) 55 Belebung der „Veda-Ebene“ des Bewusstseins (Resonanzphänomene), z. B. mithilfe der vedischen Urklangtherapie, der vedischen Vibrationstechnik und der speziellen ayurvedischen Heilkräuterpräparate (spezielle Zu- und Aufbereitungsprozesse, um die „innere Intelligenz“ der Heilpflanze zu aktivieren) 55 Ausgleichende und harmonisierende ayurvedische Therapieansätze, wie z. B. Marmatherapie, Musiktherapie (Gandharva-Veda), Aromatherapie und Ernährungsempfehlungen (7 Kap. 29, Ayurvedische Ernährungslehre) 55 Reinigende und entschlackende Maßnahmen, in erster Linie Panchakarma-­Kurbehandlungen, kombiniert mit Ernährungs- und Kräuter-Entschlackung (. Abb. 34.17; 7 Kap. 28, Ayurveda-­ Kurbehandlungen)  





..      Abb. 34.17  Abhyanga, sanfte Synchronmassage mit Kräuterölen (Maharishi AyurVeda Klinik, Bad Ems, mit freundlicher Genehmigung)

entsprechend seiner Lebenssituation und dem Schweregrad seiner Erkrankung empfohlen.

zz Der multimodale Therapieansatz der Maharishi Vedischen Medizin

Der ganzheitliche Gesundheitsansatz des Maharishi AyurVeda umfasst alle Bereiche des Naturgesetzes und harmonisiert alle Ebenen der Gesundheit. Vollkommene Gesundheit ist nur auf der Ebene des einheitlichen Feldes möglich. Dies ist die Grundlage für umweltbezogene, soziale, körperliche, zelluläre, genetische und geistige Gesundheit (. Abb. 34.18).  

>> Maharishi AyurVeda ist bewusstseinsbezogene Medizin, basierend auf dem einheitlichen Feld aller Naturgesetze. Das Ziel ist die vollständige Wiederherstellung der Verbindung zwischen dem Körper und seinem Ursprung im Bewusstsein.

34.8  Praktische Gesundheitstipps >> Diese vedischen Therapieansätze werden individuell auf die Grundkonstitution und den gegenwärtigen Zustand des Organismus abgestimmt (Prakriti, Vikriti, Agni, Ama, Ojas) und dem Patienten

Generell gilt: Je größer die Stärke (Bala) bzw. die Selbstheilungskraft (Ojas) eines Organismus ist, umso großzügiger kann der Betreffende mit diesen Empfehlungen umgehen.

Geist

Umwelt Gesellschaft Verhalten Körper

Veda

Meditationstherapie (Transzendentale Meditation und TM-Sidhi Programm)

Vishwa Vedische Astrologie (Jyotish und Yagya) Universum Public Health und Weltfrieden (Yogisches Fliegen in Gruppen) Vedische Architektur (Sthapatya-Veda) Vedisch-biologische Landwirtschaft Tages- und jahreszeitliche Gesundheitsroutine (Dina- und Ritucharya) Ayurvedische Diät-u. Heilpflanzentherapie (Dravyaguna) Ayurvedische Verjüngungstherapie (Rasayana) Sharir Körper Ayurvedische Massagetherapie (Abhyanga und Marma) Ayurvedische Reinigungstherapie (Panchakarma) Yoga Therapie (Yoga Asanas und Pranayama) Therapeutische Verwendung aller 5 Sinne: Vedische Aromatherapie Lichttherapie mit Edelsteinen, Farbtherapie Klang-u. Musiktherapie (Ved. Urklangth. Ved. Vibrationsth. Gandharva Veda) Modell der Vedischen Physiologie

Therapieansätze

Gesamte Reichweite der Therapien

über die mikroskopisch-­quantenmechanische bis zur transzendenten Ebene – dem einheitlichen Feld aller Naturgesetze, dem Veda. Maharishi AyurVeda ist bewusstseinsbasierte Medizin. (© Maharishi Vedic University, mit freundlicher Genehmigung)

Selbst

Atma

Einheitliches Feld aller Naturgesetze–Transzendentales Bewusstsein

Supersymmetrie/Superstring

Quantenmechanisch

Molekular

Genetisch

Zellulär

Biochemisch

Physiologisch

Verhalten

Soziologisch/kollektiv

Kosmisch und Umwelt

Ebenen der Gesundheit

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..      Abb. 34.18  Der Schlüssel zur Gesundheit liegt in uns selbst. Der multimodale Therapieansatz des Maharishi AyurVeda deckt die volle Reichweite des Naturgesetzes ab und gleicht alle Ebenen der Gesundheit aus – von der makroskopisch-­kosmischen

Gesamte Reichweite des Naturgesetzes

Ganzheitliches Wissen über Gesundheit Der multimodale Therapieansatz des Maharishi AyurVeda Abdecken der gesamten Reichweite des Naturgesetzes–Ausgleichen aller Ebenen der Gesundheit

Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

34

856

L. Krenner

34.8.1  Regelmäßiger

Tagesrhythmus

>> Geben Sie Ihrem Leben Struktur und achten Sie auf regelmäßige Ruhephasen (Meditation, Entspannungsphasen, Nachtschlaf), regelmäßige Arbeitszeiten, regelmäßige Mahlzeiten und regelmäßige körperliche Aktivität.

Regelmäßige Ruhephasen Gönnen Sie sich zweimal täglich die tiefe Stille der Meditation (Technik der transzendentalen Meditation). Stille ist die Basis für gute Gesundheit, erfolgreiche Aktivität, Glück und spirituelle Entwicklung. Achten Sie auf ausreichend Schlaf: Ayurveda empfiehlt, früh schlafen zu gehen (ca. 22:00 Uhr) und früh aufzustehen (ca. 06:00  Uhr, bezogen auf die Winterzeit). Legen Sie während des Tages bewusst einige Arbeitspausen ein.

Regelmäßige Arbeitszeiten

34

Nicht die Arbeit sollte das Primäre sein, sondern die Erfüllung, die Sie aus der Arbeit ziehen können. Vermeiden Sie Über- und Unterbelastung und, wenn notwendig, finden Sie auch den Mut, neue Wege zu suchen und zu gehen. Unerfülltheit, chronische Frustration, Unterdrückung der Emotionen, Disharmonie, von einer Stresserfahrung und von einem Erschöpfungszustand in den nächsten zu fallen, ist ein sicherer Weg zu dauerhafter Krankheit. Je nach Ihrer Konstitution, Ihren gesundheitlichen Voraussetzungen, der Situation am Arbeitsplatz, der Art Ihrer Arbeit und Ihrer privaten Situation ist vonseiten der Maharishi AyurVeda Medizin eine durchschnittliche tägliche Arbeitszeit von nicht mehr als 6 Stunden empfehlenswert.

Regelmäßige Mahlzeiten Die Empfehlungen sind abhängig vom Zustand Ihres Verdauungssystems, speziell Ihrer Verdauungskraft (Agni und dem Ausmaß an Endo- und Exotoxinen im Organismus (Ama).

Achten Sie auf regelmäßige Mahlzeiten; nehmen Sie, wenn möglich, mittags die Hauptmahlzeit ein; richten Sie die Größe der Mahlzeit nach Ihrem Hungergefühl – Sie sollten sich nach dem Essen leicht, energievoll und glücklich fühlen; achten Sie darauf, zumindest einmal täglich (nach Möglichkeit zu Mittag) eine warme Mahlzeit einzunehmen; Abendessen: nicht zu spät, klein, leicht verdaulich und nach Möglichkeit ebenfalls warm.

 egelmäßige, aber leichte körperR liche Aktivität in freier Natur Auch bei diesem Punkt sind das Ausmaß, die Intensität und die Dauer abhängig von Ihrer Konstitution und der Stärke Ihres Organismus. Versuchen Sie sich täglich, aber zumindest dreimal in der Woche, mindestens 30 Minuten in der Natur zu bewegen (leicht forciert spazieren gehen, laufen, schwimmen, Tennis spielen, Rad fahren, golfen etc.). Wählen Sie die Sportarten aus, mit denen Sie sich am wohlsten fühlen (während und nach der Ausübung). „Zarte Konstitutionstypen“ (Vata dominant) sollten extreme körperliche Belastung vermeiden (ausgenommen von kurzen Spitzenleistungen, sollten Sie mit der Atmung durch die Nase zurechtkommen). Auch Bewegung am Arbeitsplatz ist wichtig: nach jeweils maximal einer Stunde sitzen (PC-Arbeit) sollten Sie sich mindestens 10  Minuten lang bewegen (aufstehen, Arme kreisen, Knie beugen, Yoga-­ Übungen, Atemübungen etc.). 34.8.2  Ernährung – Ahara

Die Ernährung muss laut Ayurveda-Medizin angepasst sein an die individuelle Konstitution (Prakriti), das gegenwärtige Ungleichgewicht (Vikriti – gegenwärtige Ungleichgewichte und bestehende Erkrankungen), die Stärke von Agni (Verdauungskraft), das Ausmaß der Ama-Belastung und das Ojas-­Niveau sowie an Faktoren wie Tageszeit, Jahreszeit, Arbeitssituation, Alter, Stressbelastung etc 7 Abschn. 29.5.  

857 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

Die 10 wichtigsten ayurvedischen Ernährungsregeln

















1. Essen Sie nur, wenn Sie richtigen Hunger verspüren. Essen Sie erst, wenn die vorhergehende Mahlzeit vollständig verdaut ist (ca. 3–6 Stunden nach einer Hauptmahlzeit). 2. Überessen Sie sich nicht. Der Magen sollte nach dem Essen nur zu etwa drei Vierteln voll sein. 3. Essen Sie in einer ruhigen und entspannten Atmosphäre. Während des Essens sollten Sie nicht lesen, arbeiten oder fernsehen; vermeiden Sie während des Essens emotional belastende Gespräche. Essen Sie immer im Sitzen. 4. Gönnen Sie sich nach dem Essen 5–10 Minuten Ruhe (bequem am Tisch sitzen bleiben oder hinlegen, aber nach Möglichkeit nicht schlafen). 5. Das Mittagessen sollte die Hauptmahlzeit sein, Frühstück und Abendessen sollten kleiner und leichter sein; z. B. morgens warme Getränke, Toast mit Honig, gekochter Getreidebrei oder Obst (auch als Kompott) und abends Gemüsesuppen. 6. Das Essen sollte frisch zubereitet, wohlschmeckend, bekömmlich und warm sein. Vermeiden Sie i. Allg. aufgewärmte oder abgestandene Speisen, Gerichte aus der Mikrowelle, Dosenessen und Tiefkühlkost. 7. Nehmen Sie während bzw. eine Stunde vor und nach dem Essen nur wenig Flüssigkeit zu sich. Vorzuziehen sind heiße Getränke wie z. B. 1/8 l heißes Wasser. 8. Vermeiden Sie abends schwere Nahrungsmittel wie Fleisch, Wurst, Fisch, Eier, Joghurt, Käse, Buttermilch, Quark/Topfen und frittierte oder fette sowie kalte und rohe Speisen. 9. Benutzen Sie Gewürze, denn Gewürze machen das Essen nicht

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nur schmackhaft, sondern können auch den Verdauungsvorgang unterstützen. Gewürze zur Stärkung der Verdauungskraft: 55 Ingwer (Shunthi) 55 Kreuzkümmel (Ayaji, Jeeraka) 55 Fenchel (Madhurika) 55 Koriander (Dhanyaka) 55 Basilikum (Tulsi) 55 Schwarzer Pfeffer (Maricha) 55 Langer Pfeffer (Pippali) 55 Kardamom (Ela) 55 Bockshornkleesamen (Methi) 55 Wilder Sellerie (Ajuwan) 55 Asafoetida (Hingu) 10. Essen ist kein notwendiges „Übel“, um den Hunger zu beseitigen; Essen ist ein grundlegender, zentraler Vorgang des Lebens (Aufnahme von Intelligenz und Energie) und betrifft alle Ebenen des Körpers, der Sinne, des Geistes, des Gefühls und der Seele. Sie sollten sich nach dem Essen frisch, energievoll und wohl fühlen.

kReduzieren Sie

55 Kaffee, schwarzen Tee, Cola-Getränke, Energy-Drinks, Alkohol, 55 Schokolade/Kakao, (Rüben-)Zucker, 55 Fleisch, Wurst, Eier, Fisch – generell reduzieren, abends ganz vermeiden, 55 Käse, saure Milchprodukte (Joghurt, Quark/Topfen, saure Milch) – abends ganz vermeiden, 55 Schwer verdauliche, fette, frittierte Speisen, 55 Nikotin und andere Suchtmittel. >> Bitte beachten Sie: alte (schlechte) Gewohnheiten sind nicht plötzlich, sondern langsam schrittweise zu ändern; reduzieren Sie einen Teil der schlechten und ersetzen Sie sie mit einem Teil guter, gesunder Alternativen.

858

L. Krenner

kBevorzugen Sie

55 Warme, frisch gekochte Speisen, nach Möglichkeit Bio-Qualität, 55 Reis (weißer Basmatireis), 55 Nudeln, 55 gut gekochtes Getreide (CousCous, Bulgur, Quinoa, Gerste, Hirse, Buchweizen, Dinkel), 55 Mung Dhal (gelbe Linsen, geschälte und gespaltene Mungbohnen), 55 Gemüse (je nach Jahreszeit – Zucchini, Fenchel, Blumenkohl, Broccoli, Karotten, weißer und Hokaido-Kürbis, Mangold, gekochte Gurken, grüne Bohnen, Artischocken u. a.). 34.8.3  Lebensstil entsprechend

den natürlichen Rhythmen (Vihara)

Jeder natürliche Rhythmus (. Abb.  34.19) ist Vata-, Pitta- oder Kapha-dominant.  

Tagesrhythmen – Dinacharya (. Abb. 34.19a)  

34

Aus den Dosha-Qualitäten der verschiedenen Tageszeiten leitet die Ayurveda-Medizin u.  a. folgende einfachen Verhaltensempfehlungen ab (die Zeitangaben betreffen die „natürliche Zeit“, d. h. die Winterzeit): Empfehlungen für die Tagesroutine 55 Aufstehen vor 06:00 Uhr früh, da Sie damit die „Bewegung“, d. h. Lebendigkeit und Wachheit der Vata-Qualität, mit in den Tag nehmen 55 Schlafengehen bis 22:00 Uhr, da Ihr Nervensystem während der Kapha-Zeit (18:00–22:00 Uhr) leichter in den Ruhemodus umschalten kann; außerdem wird nach 22:00 Uhr das Stoffwechsel- und Energieprinzip (Pitta) angeregt; dadurch wird der Organismus

(einschließlich dem Verdauungssystem) aktiviert und in seiner Aufgabe, entsprechend dieser Nachtzeit, gestört („geistige Verdauung“, Stressabbau, Regeneration) 55 Hauptmahlzeit zu Mittag, da in dieser Zeit (12:00–13:00 Uhr) Ihr Verdauungssystem von der Natur am besten unterstützt wird (Pitta Zeit von 10:00–14:00 Uhr) 55 Frühstück und Abendessen klein/ warm, da in der Kapha-Tageszeit die Verdauung langsam und träge arbeitet (06:00–10:00 Uhr und 18:00–22:00 Uhr)

Jahresrhythmen – Ritucharya (. Abb. 34.19b)  

55 Im Sommer und Frühherbst dominiert die Wärme, das Pitta Dosha. 55 Im Spätherbst und Winter dominiert die trockene Kälte, das Vata Dosha. 55 Im Frühjahr dominiert die feuchte Kühle, das Kapha Dosha. Je nach Jahreszeit werden daher spezielle Verhaltensmuster empfohlen, abgestimmt auf das in der Natur und im eigenen Organismus dominante Dosha. Damit erklärt die Ayurveda-Medizin auch das in bestimmten Jahreszeiten gehäufte Auftreten bestimmter Krankheitsbilder (Erkältung mit Schleimbildung und Allergie im Frühjahr, ausgelöst durch Anregung des Kapha-Dosha; Gastritis und Magengeschwüre in Sommer und Frühherbst, ausgelöst durch Anregung des Pitta-Dosha; Nervosität, Schlafstörungen und Gelenksschmerzen im Winter, ausgelöst durch Anregung des Vata-Dosha). 34.8.4  Allgemeine Hinweise

55 Beginnen Sie schrittweise, eine harmonische Beziehung zu Ihrem Organismus aufzubauen.

859 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

..      Abb. 34.19 Natürliche Rhythmen. a Tagesrhythmus, b Jahresrhythmus. (© L. Krenner)

34

Mittag Mitternacht

a

12.00 Uhr 24.00 Uhr 10.00 Uhr Pitta 22.00 Uhr

14.00 Uhr 2.00 Uhr

Kapha

Vata

Morgen – Vormittag Abend

18.00 Uhr 6.00 Uhr

b

Nacht – Morgen Nachmittag

Sommer/Frühherbst warm

Pitta Stoffwechsel Transformation Kapha Stabilität Frühjahr kühl, feucht

55 Versuchen Sie herauszufinden, was Ihrem Körper „gut tut“ bzw. vermeiden Sie Dinge, von denen Sie spüren, dass sie Ihnen nicht gut tun. Machen Sie sich nicht abhängig von strengen Ernährungstabellen und Gesundheits-Modeerscheinungen. 55 Das soll allerdings nicht heißen, dass wir uns nicht um eine ausreichende Zufuhr von Vitaminen und Spurenelementen kümmern sollten, einerseits weil unserer

Vata Bewegung Spätherbst/Winter kalt, windig, trocken

Nahrungsmittel durch die industrialisierte Landwirtschaft immer „gehaltloser“ werden, und andererseits, weil sich immer mehr Menschen vegan ernähren (Substitution von Vitamin D, Vitamin B12 und Folsäure, Eisen, Magnesium, Kalzium etc.). Biologische, einheimische und sonnengereifte Nahrungsmittel sind im Großen und Ganzen zu bevorzugen.

860

34

L. Krenner

55 Ändern Sie negatives Gesundheitsverhalten nicht abrupt, sondern schrittweise (reduzieren Sie „Gesundheitssünden“ nach und nach und bauen Sie gleichzeitig positive Verhaltensmuster auf). 55 Vermeiden Sie Überbelastungen und Energiemankos. Bauen Sie nach besonderen Belastungen spezielle Erholungsphasen ein. 55 Gehen Sie mit der freien Zeit, die Ihnen zur Verfügung steht, sorgsam um; genießen Sie sie und schaffen Sie sich nicht zusätzlichen Stress. Ihr Organismus ist keine grobe Maschine, er ist manifestierte reine Intelligenz, reines Bewusstsein (Veda). 55 Die Phasen in Ihrem Leben, in denen Sie sich glücklich fühlen, sollten dominieren. Machen Sie Ihr Glück jedoch nicht abhängig von äußeren Dingen: „Ruhen Sie in sich selbst“, bleiben Sie in Einklang und verankert mit Ihrer eigenen Natur (Prakriti-sthapan) durch die regelmäßige Erfahrung des transzendentalen Bewusstseins – Ihres eigenen Selbst. Geben Sie der Stille in Ihrem Leben Raum und ermöglichen Sie Ihrem Geist, die absolute Stille Ihres innersten Selbst (Atma) zu erfahren. Erlernen Sie dazu den Vorgang des Transzendierens mithilfe der Technik der transzendentalen Meditation. Diese Erfahrung ist die Erfahrung von Stille, Unendlichkeit und Glückseligkeit und der wichtigste Prozess zur Förderung und Aufrechterhaltung Ihrer Gesundheit. 34.9  Hauptindikationen

Maharishi Vedische Medizin hat ihren Arbeitsschwerpunkt in folgenden Bereichen: Wichtigste Indikationen für ayurvedische Medizin 55 Prävention, Vorsorgemedizin, Verhütung von Krankheiten 55 Steigerung des Wohlbefindens, körperliche und geistige Verjüngung

55 Befindlichkeitsstörungen 55 Psychosomatik 55 Stressfolgekrankheiten 55 Chronische Erkrankungen: ȤȤ der Knochen- und Gelenke (rheumatische Beschwerden, Arthrose, Osteoporose, Rückenschmerzen, Ischialgie) ȤȤ des Verdauungssystems (Schleimhautentzündungen [Gastritis, Duodenitis, Kolitis, Refluxerkrankung, Morbus Crohn, Colitis ulcerosa], Geschwüre [Ulcus ventriculi, Ulcus duodeni] Reizdarmsyndrom, Obstipation, Übergewicht) ȤȤ Stoffwechselstörungen (Diabetes mellitus, metabolisches Syndrom, Fettstoffwechselstörungen, Atherosklerose) ȤȤ Störungen des Endokriniums (Schilddrüsenüber- und -unterfunktion, Sexualdrüsen [Fertilitätsstörungen]) ȤȤ des HNO-Bereichs (chronische Sinusitis, Tinnitus) ȤȤ der Lunge (Asthma bronchiale, COPD) ȤȤ des Herz-Kreislauf-Systems (Hyper-/Hypotonie, nervöse Herzbeschwerden [Herzrasen], Atherosklerose, Begleittherapie bei KHK, Angina pectoris und nach Bypass-Operationen) ȤȤ des gynäkologischen Bereichs (Menstruationsbeschwerden, klimakterische Beschwerden, Zysten des Eierstocks, Myome, Endometriose) ȤȤ chronische Schmerzzustände (Neuralgien, Fibromyalgie) ȤȤ des Nervensystems (Kopfschmerzen, Migräne, Schlafstörungen, Angstzustände, chronische Müdigkeit [Chronisches Fatigue-Syndrom, CFS], Depressionen, posttraumatisches Belas-

861 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

tungssyndrom [PTSD], Parkinson-­Erkrankung, multiple Sklerose) ȤȤ der Leber (unterstützende Therapie bei Lebererkrankungen unterschiedlicher Genese) ȤȤ der Haut (Akne, chronische Ekzeme, allergische Hauterkrankungen, Psoriasis, Neurodermitis) ȤȤ des Immunsystems (Allergien, Autoimmunerkrankungen, rezidivierende Infektionen) ȤȤ Begleitbehandlung bei Tumorerkrankungen etc.

Bevor die Therapie chronischer Krankheiten im Rahmen der Maharishi Vedischen Medizin durch Ärzte mit Spezialausbildung in Maharishi AyurVeda begonnen wird, wird eine konventionell-medizinische Abklärung durchgeführt. Im Allgemeinen gingen der ayurvedischen Behandlung bereits mehrere frustrane konventionell-medizinische Therapieversuche voraus.

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nen naturwissenschaftlichen Konzepten gebracht hat). Yoga ist eine der 40 Qualitäten der vedischen Wissenschaft; Yoga bedeutet Einheit, d. h., in der Yoga-Disziplin der vedischen Wissenschaft werden alle theoretischen und praktischen Verfahren zusammengefasst, die von einem Zustand der Vielfalt zu einem Zustand der Einheit – dem Grundzustand des Lebens – führen. Dieser Zustand wird als transzendentales Bewusstsein bezeichnet (Turiya Chetana). Unterschieden werden unterschiedliche Yoga-Wege: 55 Sankhya-Yoga – der Weg des Wissens, 55 Karma-Yoga– der Weg der Handlung, 55 Bakti-Yoga – der Weg der Hingabe, 55 Hatha-Yoga – der körperlichen Weg des Yoga (Körperstellungen = Yoga-Asanas), 55 Dhyana-Yoga – der Weg der Meditation. 34.10.1  Transzendentale

Meditation – die höchste Form des Yoga

Die Technik der transzendentalen Meditation (TM-Technik; Originalmethode nach Maharishi Mahesh Yogi) ist eine Yogatechnik mit einer jahrtausendealten Tradition. Seit über 34.10  Yoga und transzendentale 50  Jahren wird sie nach Anweisung des vediMeditation schen Gelehrten Maharishi Mahesh Yogi von Ayurveda ist mehr als Ernährungsempfehlun- speziell ausgebildeten und autorisierten Lehgen, die Anwendung von Kräutermischungen rern für transzendentale Meditation weltweit und Reinigungsbehandlungen. Ganz zentral unterrichtet. Auch in den deutschsprachigen im traditionellen ayurvedischen Therapieplan Ländern (Deutschland, Schweiz und Östersind Meditationstechniken aus dem Bereich reich) gibt es eine Gruppe von Ärzten (Ärztedes Yoga, im speziellen die Technik der trans- vereinigung–TM), die selbst ausgebildete zendentalen Meditation. In den Maharishi TM-Lehrer sind und die die TM-­Technik komAyurVeda-Gesundheitszentren ist die TM-­ plementär zur etablierten Therapie bei beTechnik daher ein essenzieller Teil des ayur- stimmten Krankheitsbildern anwenden. Die vedischen Therapieplans. TM steht streng in Ärztevereinigung–TM steht auch nichtärztlider vedischen Wissenstradition der Rishis, chen TM-Lehrern beratend zur Verfügung. Maharishis und alten Yoga-Meister (z. B. Maharishi Patanjali, der Verfasser der Yoga Sut- >> Die TM-Technik ist nicht an ein Religionsras; im 20. Jahrhundert war es Maharishi Masystem (Hinduismus, Buddhismus u. a.) hesh Yogi, der die Missverständnisse über gekoppelt. Als vedische BewusstseinsYoga und Meditation ausgeräumt hat und die technologie ist sie nicht an bestimmte vedische Wissenschaft neu und vollständig Glaubensinhalte, eine bestimmte wieder entdeckt und in Einklang mit moderWeltanschauung, bestimmte intellek-

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tuelle Fähigkeiten, ein besonderes Konzentrationsvermögen oder eine bestimmte körperliche oder psychische Verfassung gebunden.

zz Kommentare zur TM-Technik

»» „Die TM kann nur deshalb eine allge-

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meine, natürliche Versenkungsweise sein, weil der Übende alle Denkinhalte transzendiert (d. h. überschreitet). Andernfalls bliebe sein Bewusstsein mit vorgefertigten, selbst-­erzeugten oder einheitlich gebotenen Sinngebungen besetzt – so edel diese auch immer sein mögen – und er würde nicht zum Reinen Gewahrsein (Grundzustand des Bewusstseins, Transzendentales Bewusstsein, Quelle der Gedanken) gelangen. … Die Sorge, dass ein zeitweiliges Freisein von Gedanken dem Christengott gefährlich werden kann, ist deshalb unbegründet, weil bekanntlich auch im Tiefschlaf für viele Stunden weder religiöse noch antireligiöse Gedanken auftreten. Und doch wachen wir am nächsten Morgen mit all unseren Überzeugungen auf, zu denen wir in der jeweiligen Kultur-, Alters- und Reifestufe gekommen sind. Warum sollte die Erfahrung des Reinen Gewahrseins bedenklich sein, ist es doch die natürliche Grundlage aller Gedanken und Gefühlsinhalte? Wen sonst sollten wir in der Stille antreffen können als unser eigenes Selbst in seinem ursprünglichen reinen Wert?“ Bernhard MüllerElmau (1977)

Pater Gabriel Mejia, katholischer Ordenspriester in Kolumbien (Kongregation der Claretiner), gründete und leitet ein spezielles Rehabilitationsprogramm für drogenabhängige Straßenkinder und Kindersoldaten in Südamerika, in dem die Technik der transzendentalen Meditation und Maharishi AyurVeda als zentrale Bestandteile integriert sind. Pater Mejia sprach auf einer Pressekonferenz im Frühjahr 2009 in New York anlässlich eines Benefizkonzerts Change Begins Within.

»» „TM wurde zu einer Inspiration, sowohl für mein persönliches Leben, als auch für meine Arbeit, die ich seit längerem mache.“

Das Konzert wurde von der David-Lynch-­ Stiftung organisiert (7 https://www.­davidlynch foundation.­org/. Zugegriffen am 18.09.2018). Das Ziel des Konzerts war es, einer Million sozial benachteiligter Kinder die finanziellen Mittel zur Verfügung zu stellen, die Technik der transzendentalen Meditation erlernen zu können. Das Programm wurde inzwischen ausgeweitet auf Soldaten mit posttraumatischer Belastungsstörung nach Kriegseinsätzen, auf von Gewalt betroffene Frauen, auf Gefängnisinsassen und generell auf Schulkinder mit Lernpro­ blemen. Die David-Lynch-­Stiftung unterstützt auch das Sozialprojekt von Pater Gabriel Mejia. Die Ergebnisse sind äußerst ermutigend; die betroffenen Menschen bekommen für ihr ganzes Leben ein wirksames Hilfsmittel in die Hand, Stress und traumatische Erfahrungen abzubauen und Stabilität, Gesundheit und Frieden in ihrem Leben zu fördern. Die Technik der transzendentalen Meditation zählt mit zu den am besten untersuchten Meditations- und Entspannungsmethoden (7 Abschn.  34.10.2). Allein die regelmäßige Ausübung der TM-Technik kann laut Studien Krankheitskosten um über 50  % reduzieren (Tahiragi 2012).  



Mechanismus der TM-Technik Während der Ausübung der TM-Technik erfährt der Geist anstrengungslos und systematisch feinere Stadien eines Gedankens und überschreitet (transzendiert) schließlich den feinsten gedanklichen Impuls, um einen Zustand ruhevoller Wachheit, den Grundzustand des Bewusstseins (transzendentales Bewusstsein), zu erfahren (. Abb. 34.20). Die Fähigkeit, diese Meditation auszuüben, ist in der menschlichen Physiologie angelegt. Die Technik der transzendentalen Meditation ist ein eigenes, klar definiertes Meditationsprogramm, das sich grundsätzlich von allen anderen Konzentrations- und Kontemplationsme 

863 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

Ebene des bewussten Denkens (W1): »Horizontales Denken«

Gedankenblase

34

W1

Nichtbewusste Denkebene (W2) W2

Transzendentale Meditation führt den Geist von der Ebene des bewussten Denkens (W1) zur Quelle des Denkens (Z), einem Zustand ruhevoller Wachheit: Transzendieren, » Vertikales Denken«

Quelle des Denkens Z Transzendenz Absolute Stille und vollkommene Wachheit ..      Abb. 34.20  Der Mechanismus der TM-Technik. Transzendieren – der Grundprozess des Lebens; horizontales Denken – vertikales Denken. (© L. Krenner)

thoden unterscheidet. Nach wissenschaftlichen Studien werden drei grundlegende Mechanismen der Meditation unterschieden: 55 Konzentrative Aufmerksamkeitstechniken, 55 Achtsamkeitstechniken, 55 automatisch selbst-transzendierende Techniken (7 Kap. 37, Meditation).  

Die Technik der transzendentalen Meditation ist der Hauptvertreter dieser letzten Gruppe. Sie wird zweimal täglich für 15–20  Minuten praktiziert. Man sitzt dabei bequem auf einem Stuhl und hat die Augen geschlossen. Während des Vorgangs der TM-­ Meditation wird der Geist still, bleibt dabei jedoch vollkommen wach. Es kommt zu einer tiefen Entspannung von Geist und Körper. In dieser tiefen Ruhe der Meditation kann der Organismus Stress,

Verspannungen und Blockaden abbauen; er kann sich regenerieren und „ordnen“, d. h. gesund werden.

Erlernen der TM-Technik Nach einem oder zwei Informationsvorträgen kann die TM-Technik innerhalb von 3–4 aufeinanderfolgenden Tagen (jeweils 1–1,5 Stunden) erlernt werden. Sie wird selbstständig zu Hause praktiziert. Die Methode ist einfach zu erlernen und mühelos auszuüben (Kinder ab 6 Jahre können die Methode erlernen). Die Inanspruchnahme eines weiteren Betreuungsprogramms wird empfohlen, ist jedoch nicht verpflichtend (Vertiefung des Verständnisses der Meditationspraxis, Erfahrungsbesprechungen, Gruppenmeditationen, Erlernen von Hatha-Yoga-Übungen [Asanas] und Atemübungen [Pranayama] etc.).

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L. Krenner

Die Technik der transzendentalen Meditation wird auch heute noch auf dieselbe Art und Weise unterrichtet, wie dies seit Jahrtausenden Tradition ist. Das bedeutet, dass der TM-­ Lehrer, bevor er den Lernenden in die Technik unterweist, eine kurze vedische Zeremonie durchführt (in Sanskrit, der alten vedischen Sprache), in der er sich bei den vedischen Lehrern bedankt, die dieses grundlegende ­ Wissen über das Leben über die Jahrtausende hin bis in die heutige Zeit überliefert haben. In dieser 1.  Sitzung wird die Methode praktisch erlernt, in den folgenden 3 Treffen werden zusätzliche Anweisungen über das korrekte Ausüben der TM-Technik erteilt; jede dieser 4 Sitzungen dauert ca. 1–1,5 Stunden und findet an 3–4 aufeinanderfolgenden Tagen statt. Für das korrekte Erlernen der Methode ist es absolut erforderlich, die 4  Treffen hintereinander zu absolvieren. Die Seminargebühren sind sozial gestaffelt, je nach der eigenen Einkommens- und Lebenssituation ordnet man sich selbst in die möglichen Kategorien ein (Details sind auf den TM-Homepages (Zugegriffen am 18.09.2018) angeführt: für Österreich: 7 www.­TranszendentaleMeditation.­at, 7 www.­meditation.­at, für Deutschland: 7 www. meditation.de, für die Schweiz: 7 http://schweiz. tm.org).  







34

 ie Yoga-Sutren des Maharishi D Patanjali Zum Thema Yoga gibt es große Missverständnisse (im Westen genauso wie in Indien). Was Yoga in seiner Essenz darstellt, wurde in den Yoga-Sutren des Maharishi Patanjali vor Jahrtausenden eindeutig definiert: 55 Sutra 1: „Jetzt beginnt die Yogaunterweisung.“ 55 Sutra 2: „Yoga ist das vollständige Zur-­ Ruhe-­Kommen der Fluktuationen des Geistes (der Geist ruht in sich).“ 55 Sutra 3: „Dann ist der Beobachter in sich selbst gegründet.“ 55 Sutra 4: „Die Tendenzen des Beobachters entstehen von hier (dem selbstbezogenen

Bewusstsein) und bleiben hier (innerhalb des selbstbezogenen Bewusstsein).“ Yoga  – ein Zustand innerer Einheit  – entsteht also, wenn die Fluktuationen des Geistes (Gedanken, Wahrnehmungen) zur Ruhe kommen. Dieser ruhigste Zustand des Bewusstseins (trans­ zendentales Bewusstsein  – Turiya Chetana) ist Ausgangspunkt aller Gedanken, Gefühle und Wünsche. In dieser Stille und Ganzheit innerlich gefestigt zu sein, auch während dynamischer Aktivität, das ist die Kunst des Yoga – sein Ziel. Der Vorgang der Technik der transzendentalen Meditation lässt sich mit der Kunst des Bogenschießens vergleichen: man zieht den Pfeil am Bogen vom Ziel zurück, bringt ihn in einen dynamischen Ruhezustand, damit er mit großer Kraft und Energie das vor ihm liegende Ziel erreichen kann. >> Yoga ist nicht Selbstzweck. Die traditionellen Yogatechniken haben zum Ziel, den Geist in seinen stillen Grundzustand zu bringen und ihn damit optimal auf dynamische, effiziente, erfolgreiche Aktivität vorzubereiten.

Ein wichtiger Aspekt von Meditation liegt darin, den Vorgang des Trans­zendierens durchzuführen, einen Zustand tiefster innerer Stille und Wachheit zu erfahren – den Zustand von Yoga oder transzendentalem Bewusstsein. Davon zu unterscheiden sind Entspannungszustände, die zwar wohltuend für den Organismus sind, aber eine ganz andere Funktion und Wirkung haben (7 Kap.  37, Meditation; Travis und Shear 2010). Yoga bedeutet die Entwicklung des vollen geistigen und neurophysiologischen Potenzials (ganzheitliches kohärentes Funktionieren des Gehirns). Dieser Zustand wird im Yoga als „Erleuchtung“ bezeichnet – die Voraussetzung für vollkommene Gesundheit. Wenn die innere Stille und Wachheit des transzendentalen Bewusstseins mehr und mehr in den Alltag integriert wird, spricht man im Yoga von höheren Bewusstseinszuständen:  

865 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

Höhere Bewusstseinszustände 55 Kosmisches Bewusstsein (Turiyatita Chetana): Transzendentales Bewusstsein bleibt dauerhaft erhalten gleichzeitig mit der Realität von Wachen, Träumen und Schlafen. 55 Gottes-Bewusstsein (Baghavad Chetana): Durch die Aufrechterhaltung transzendentalen Bewusstseins kommt es zu einer systematischen Verfeinerung der Wahrnehmung in erster Linie durch die Entwicklung der Gefühls- und Herzensebene; Wahrnehmung der feinsten relativen Lebensebene. 55 Einheits-Bewusstsein (Brahmi Chetana): Die Trennung zwischen der relativen und der absoluten Lebensebene verschmilzt; die Relativität wird als ein Ausdruck des Absoluten wahrgenommen; die Einheit des Absoluten auf der subjektiven und objektiven Ebene steht im Vordergrund. Damit ist das höchste Ziel der menschlichen Entwicklung erreicht. Das Wissen über höhere Bewusstseinszustände kann man sich intellektuell aneignen, ihre Realität kann man ausschließlich praktisch erfahren, d. h. im Alltag leben.

 insatz der TM-Technik in der E Medizin 55 Durch ihre Einfachheit und Effizienz eignet sich die Technik der transzendentalen Meditation im Besonderen für die Anwendung im Bereich der Vorsorgemedizin und Gesundheitserziehung. 55 Zur Stärkung der Selbstheilungskraft des Organismus ist sie eine sinnvolle und wirksame komplementärmedizinische Maßnahme bei jedem Heilungsprozess akuter und chronischer Erkrankungen.

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55 Durch eine Verbesserung der Geist-­ Körper-­Koordination und dem Abbau chronischer Stressbelastungen spielt die TM-Technik eine wichtige Rolle in der Behandlung psychosomatischer Erkrankungen. 55 Die TM-Technik ist eine notwendige Voraussetzung für die Arbeit von Ärzten und Therapeuten: In der Ausbildung zum Maharishi AyurVeda-Arzt ist ab einer bestimmten Stufe die persönliche Erfahrung mit Meditation integriert. Eine ganzheitliche Medizin braucht ein verfeinertes Bewusstsein des Arztes. Die subtilen Störmuster zwischen Geist und Körper, die bei einer Krankheit ablaufen, können vom Arzt nur erfasst werden, wenn er sein eigenes Bewusstsein entsprechend entwickelt und erweitert hat. >> Ruhigere Bewusstseinsschichten beinhalten ein höheres Maß an Ordnung. Die ruhige und gesammelte Aufmerksamkeit eines Arztes, der mit seiner innersten transzendenten Bewusstseinsebene verbunden ist (in sich ruht), überträgt diese Ordnung spontan auf den Patienten. Die Person des Arztes wird dadurch zu einem wichtigen Faktor in der ganzheitlichen Krankheitsbehandlung.

Die Technik der transzendentalen Meditation ist ein neuer, revolutionärer Ansatz eines modernen, ganzheitlichen Gesundheitssystems, das auf Prävention ausgerichtet ist. Diese vedische Bewusstseinstechnologie stand den Menschen und den öffentlichen Gesundheitseinrichtungen bisher nicht zur Verfügung. Ihr intellektuelles Konzept und ihre praktischen Erfahrungen gehen über die gegenwärtigen Lebens- und Medizinkonzepte weit hinaus. Die TM-Technik im Speziellen und die Maharishi Vedische Medizin im Allgemeinen eröffnen einen Zugang zum „inneren Reservoir“ von Ordnung, Energie, Glück und Gesundheit in jedem Menschen, dem stillen, transzendenten Bereich des Bewusstseins. Damit gewinnt jeder

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L. Krenner

Heilungsprozess, der bisher großteils nur durch isolierte und symptomatische Behandlungskonzepte unterstützt werden konnte, einen kausalen Zugang  – die systematische und direkte Auslösung des Selbstheilungsprozesses.

»» „Man kann das Gesundheitsproblem nur

lösen, wenn man es von allen Aspekten des individuellen Lebens her betrachtet: Vom Geist, vom Körper, von der Umgebung und vom Sein her [Anm. des Autors: absolute, transzendente Lebensebene]. Wenn man das Sein außer Betracht lässt, wird man dem Zweck geistiger und körperlicher Gesundheit nicht dienen, wie man ohne Berücksichtigung des Lebenssaftes auch die Gesundheit eines Baumes, seiner Zweige, Blüten und Früchte nicht erhalten kann. Wenn ein erfahrener Gärtner ein welkes Blatt sieht, hält er sich nicht lange bei diesem einen Blatt auf. Er sieht es als Gefahrenzeichen für den gesamten Baum und richtet seine Aufmerksamkeit auf die Wurzel, er versorgt sie mit Wasser und ermöglicht so dem Lebenssaft, wieder alle Teile des Baumes zu erreichen.“

»» „So wird auch ein Mensch, wenn die

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Atmosphäre um ihn gespannt ist, sein Geist beunruhigt ist und sein Körper an irgendeiner Krankheit leidet, dies als Symptome der Gefahr für sein ganzes Leben erkennen. Ein weiser Mensch wird dieses Problem bei der Wurzel angreifen.“

»» „Wenn man die Gesundheit des Individu-

ums richtig betrachtet, kann das nicht in einzelnen Teilen geschehen. Die Gesundheit einer Hand kann nur in ihrer Beziehung zur Gesundheit des gesamten Körpers verstanden werden, die Gesundheit des Körpers nur in Beziehung zum gesamten Nervensystem und dessen Gesundheit wiederum nur in Beziehung zum Geist. Der Geist schließlich kann nur im Hinblick auf das Sein verstanden werden, da er letztlich Sein ist, das die Essenz und den Kern des individuellen Lebens darstellt und seine eigentliche Grundlage ist. Nur wenn Koordination zwischen Geist und Sein,

zwischen Körper und Geist und zwischen der umgebenden Atmosphäre und dem Körper besteht, kann das Problem der Gesundheit gelöst werden.“

»» „Wenn wir von der Ebene des Seins

sprechen, wollen wir zunächst klar festhalten, was wir damit meinen. Sein ist das innerste und eigentliche Wesen des Individuums. Es ist einfach da, in seinem unmanifestierten Zustand, und bildet die Grundlage alles Existierenden und aller Phänomene. Es ist die Grundlage allen Geistes und aller Materie, die Grundlage der gesamten manifestierten Schöpfung. Dieser Zustand des Seins ist jenseits aller relativen Existenz; eben deshalb wird er transzendent und absolut genannt. Transzendent, da er sich außerhalb aller relativen Schöpfung befindet; absolut, da er nicht zur relativen Existenz gehört. Er ist unveränderliche, ewige Existenz.“

»» „Wie der Saft in einem Baum, so ist das

Sein allgegenwärtig in der Schöpfung. Es ist die letzte Ursache aller Energie, Intelligenz, Schöpfungskraft und Aktivität. Es ist in sich selbst weder aktiv, noch passiv. Es ist der Ursprung und die Quelle aller Aktivität und Passivität.“

»» „Es ist also nur dann möglich, auf allen

Ebenen des individuellen Lebens einen Zustand vollkommener Gesundheit zu erlangen, wenn das Sein alle Ebenen des individuellen Lebens durchdrungen hat. Wenn alle verschiedenen Aspekte eines Baumes vom Lebenssaft durchdrungen sind, dann nur atmet der Baum vollkommene Gesundheit; verliert ein Teil des Baumes seine unmittelbare Verbindung mit dem Lebenssaft, so vertrocknet er. Auf dieselbe Weise beginnt jeder Teil des individuellen Lebens, der die Koordination mit dem Sein verliert, am Mangel des Seins zu leiden.“

»» „Die Ursache alles geistigen und körper-

lichen Leidens in der Welt ist die Unkenntnis des Seins und der Tatsache, dass die Durchdringung von Geist, Körper und

867 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

Umgebung mit dem Sein die grundlegende Ursache aller Krankheit und allen Leidens beseitigen kann.“

»» „Es ist an der Zeit, dass die Medizin in den

verschiedenen Ländern den Wert des Seins in Betracht zieht und die physiologischen und psychologischen Wirkungen der Technik der Transzendentalen Meditation wissenschaftlich überprüft, so dass die körperliche und geistige Gesundheit aller Menschen durch das Sein angehoben wird.“

»» „Es genügt nicht, die Gesundheit des

Menschen nur physiologisch oder psychologisch zu betrachten; das Gesundheitsproblem wird nur dann gelöst sein, wenn das Problem des Lebens in seiner Gesamtheit gelöst ist.“ (Maharishi Mahesh Yogi 1998)

34.10.2  Wissenschaftliche Studien

- TM

 echnik der transzendentalen T Meditation

34

2013 erschien im Journal Hypertension der American Heart Association (AHA) ein Bericht mit dem Titel Beyond Medications and Diet: Alternative Approaches to Lowering Blood Pressure, der von einem Fachgremium der AHA erstellt wurde. Neben körperlicher Bewegung werden Entspannungsmethoden (Biofeedback) und transzendentale Meditation als sinnvolle ergänzende bzw. vorbeugende Therapien erwähnt  – Yoga und andere Meditations­ formen (wie z. B. Zen-Meditation) haben keine nachgewiesene Wirkung in Bezug auf die Senkung von erhöhtem Blutdruck; Ernährung und Kräutersubstanzen wurden in dieser Arbeit nicht untersucht (Brook et al. 2013). Eine Zusammenfassung des Berichts in deutscher Sprache ist unter dem folgenden Link abrufbar: 7 http://www.­ayurveda.­at/aha.­pdf. (Zugegriffen am 18.09.2018).  

zz Orme-Johnson und Walton (1998): Vergleichbarkeit von Meditations- und Entspannungsmethoden

Unterschiedliche Stressmanagement- und Entspannungsmethoden lassen sich sowohl bzgl. In den letzten 40 Jahren wurden mehr als 600 der Methode selbst als auch der Auswirkungen wissenschaftliche Studien über die Technik der nur sehr begrenzt vergleichen. Untersucht wurden 10  Metaanalysen mit transzendentalen Meditation und TM-Fortgeschrittenentechniken an über 250  Universitä­ insgesamt 475 Studien. Es zeigte sich ein 9-faten und Forschungsinstituten in 27  Ländern cher Unterschied, was den Effekt der einzelnen durchgeführt. Diese Arbeiten wurden in Techniken betrifft. Die TM-Technik ist mühemehr als 100 Wissenschaftsjournalen weltweit los zu praktizieren (ohne Anwendung von Konpubliziert (340 dieser Studien in Peer-­review-­ zentration) und zeigt in mehreren Bereichen Journalen) und sind in den Bänden 1–7 der überzeugende Auswirkungen (Angstreduktion, Scientific Research on Maharishi’s Transcenden- Verbesserung psychischer Gesundheit, Abtal Meditation and TM-Sidhi Programme: Col- nahme von Nikotin- und Alkoholkonsum, Relected Papers zusammengefasst (Wallace et  al. duktion von erhöhtem Blutdruck etc.). Diese Arbeit widerspricht eindeutig der 1990). Die Ergebnisse dieser Arbeiten belegen sehr deutlich die überaus positiven Auswir- Hypothese, alle Meditations- und Entspankungen in den Bereichen individueller und nungsmethoden hätten vergleichbare Wirkungen. Es wäre daher ein Irrtum anzunehmen, kollektiver Gesundheit. In den letzten 20  Jahren wurden mehr als dass eine Wirkung, die für eine Methode nach24  Mio. US  $ an Forschungsförderungsmitteln gewiesen wurde, auch auf alle anderen zutrifft. von den National Institutes of Health (NIH) für Genauso wäre es ein Irrtum, das Umgekehrte Studien über die Wirkungen der Technik der zu vertreten, d.  h., wenn eine Methode in eitranszendentalen Meditation im Bereich Herz-­ nem Bereich keine nachweisbare Wirkung Kreislauf-­Erkrankungen zur Verfügung gestellt zeigt, muss dies keinesfalls für alle anderen (u. a. Anderson et al. 2008; Schneider et al. 2012). Methoden ebenfalls gelten.

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L. Krenner

Kosteneinsparung im Gesundheitssystem durch TM

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5 Jahren die Inanspruchnahme von Leistungen einer Krankenversicherungsgesellschaft in den Im Dezember 2012 wurde im Rahmen einer Di- USA.  Ausgewertet wurden Daten von 2000 plomarbeit zur Erlangung eines Doktorgrades Praktizierenden der TM-Technik, und diese an der Medizinischen Universität Wien eine wurden mit denen von ca. 600.000 VersicheMetaanalyse durchgeführt mit dem Titel: Kos- rungsnehmern derselben Gesellschaft verglitenvergleich zwischen konventioneller und Ayur- chen. Die statistischen Auswertungen der Kranveda Medizin (Tahiragi 2012). Diese Metaana- kenhaustage pro 1000 Versicherte ergaben u. a. lyse zeigt, dass ein Kostenvorteil durch die 50,2 % weniger in der Altersgruppe 0–18 Jahre, Anwendung der Technik der TM im Vergleich 50,1 % weniger in der Gruppe 19–39 Jahre und zu konventionellen medizinischen Methoden 69,4 % weniger in der Gruppe der über 40-Jährivorhanden ist. In allen Studien ergaben sich für gen. Für dieselben drei Alterskategorien wurden die Gruppe der Praktizierenden der Technik der um 46,8 %, 54,7 % und 73,7 % weniger HausviTM eine geringere Inanspruchnahme von Leis- siten durchgeführt. Für alle 17 medizinischen tungen des Gesundheitssystems und geringere Hauptbehandlungskategorien waren die KranGesundheitsausgaben. Dies galt für alle Alters- kenhauseinweisungen pro 1000 Versicherte bei gruppen und für alle Erkrankungskategorien. der TM-Gruppe durchwegs niedriger als der Die größten Einsparungen waren bei „TM-­ Norm entsprechend; u.  a. Herzerkrankungen Patienten“ zu erzielen, die älter als 45 Jahre wa- –87,3 %, Infektionskrankheiten –30,4 %, psychiren. Hauptproblem in dieser Metaanalyse ist die sche Störungen –30,6 %, Krankheiten des Nerkleine Zahl an Studien und die Tatsache, dass vensystems –87,3 % (Orme-Johnson 1987). alle verwertbaren Studien von einer einzigen Forschergruppe und aus einer Region (Kanada) Auswahl von Studien über die stammen. Es sind daher weitere Studien not- Auswirkungen der TM-Technik wendig, um den Effekt zu erhärten. im Bereich Herz-Kreislauf-­ Die Grundlage dieser Metaanalyse war eine Erkrankungen in Kanada durchgeführte Studienserie, die sich mit den Kosteneinsparungen im Gesundheits- Zur Einschätzung alternativer Ansätze zur Resystem durch die Anwendung der Technik der duktion von Bluthochdruck wurde von einem transzendentalen Meditation und anderer The- Fachgremium der der American Heart Assorapieformen des Maharishi Vedischen Gesund- ciation (AHA) ein wissenschaftliches Statement erarbeitet. Dieses kam zu dem Schluss, heitsansatzes beschäftigte: dass alternative Therapien dazu beitragen kön55 Reduzierte Kosten für medizinische nen, den Blutdruck zu senken (Brook et  al. Leistungen nach Beginn mit der Anwen2013). Zusammenfassung in deutscher Spradung von TM: Herron und Hillis (2000) che: 7 http://www.­ayurveda.­at/aha.­pdf. (Zuge55 Abnahme der Gesundheitskosten für griffen am 18.09.2018). Ältere: Herron (2005) 55 Kosteneffiziente Behandlung von Blutzz Anderson et al. (2008): Blutdruck hochdruck: Herron (1996) 55 Krankenhauskosten für Patienten > 45 Jahre: In einer Metaanalyse wurden die Effekte von transzendentaler Meditation auf den BlutOrme-Johnson aud Herron (1997) druck überprüft (9  Studien mit 711  Teilneh55 Reduzierten nationale Gesundheitsausgamern). Gefunden wurde ein signifikanter Einben: Herron und Hillis (2000) fluss von TM auf den Blutdruck. Durch 55 Reduzierte Krankenhauskosten: Orme-­ regelmäßige Ausübung von TM kann der sysJohnson (1987) tolische Wert potenziell um 4,7 mmHg und der Eine Untersuchung von Dr. Orme-Johnson aus diastolische Wert um 3,2  mmHg erniedrigt dem Jahr 1987 verglich in einem Zeitraum von werden.  

869 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

zz Paul-Labrador et al. (2006): Blutdruck, Insulinresistenz und autonomes Nervensystem

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sonen hatten erhöhten Blutdruck und nahmen an kontrollierten Studien (RCT) teil, in denen das TM-Programm und andere verhaltensorientierte Die RCT (randomisierte kontrollierte Studie) stressreduzierende Maßnahmen angewandt wurverglich Patienten, die 16  Wochen die TM-­ den. Im Vergleich zur Kontrollgruppe war die GeTechnik praktizierten mit Patienten, die an ei- samtmortalität nach 7,6 Jahren (± 3,5 Jahre) in der nem Gesundheitserziehungsprogramm teilnah- TM-­Gruppe 23 % geringer. Differenziert nach den men. Die Studie umfasste 103 Versuchspersonen Todesursachen ergab sich im Bereich Herz-­ mit stabiler koronarer Herzkrankheit (KHK). In Kreislauf-­Erkrankungen eine Reduktion von 30 %, der TM-Gruppe zeigten sich positive Wirkun- im Bereich Krebserkrankungen eine 49  %ige gen auf die untersuchten Studienparameter Reduktion der TM-Gruppe im Vergleich zur KonBlutdruck, Insulinresistenz und Stabilisierung trollgruppe (Schneider et al. 2005b). des autonomen Nervensystems (HRV). Diese Ergebnisse unterstützen die An- zz Castillo-Richmond et al. (2000): Arteriosklerose nahme, dass die TM-Technik die physiologische Stressantwort und die KHK-Risikofakto- Die RCT ergab eine Verringerung der Intima-­ ren positiv beeinflusst. Damit erweist sich TM Media-­Dicke der A. carotis communis durch die als sinnvoller neuer therapeutischer Ansatz in Technik der TM. Im Gegensatz dazu vergrößerte sich die Dicke der Halsschlagader in der Kontrollder Behandlung der KHK. gruppe, die an einem Gesundheitstraining (einschließlich Diät und Körperübungen) teilnahm. zz Schneider et al. (1995, 2005a, b): Verminderte Arteriosklerose der HalsBluthochdruck bei Afroamerikanern 150  Afroamerikaner beiderlei Geschlechts schlagader korreliert erfahrungsgemäß mit (Durchschnittsalter 49  ±  10  Jahre; durch- weniger Erkrankungen der Koronar- und Geschnittlicher Blutdruckwert 142/95  mmHg) hirnarterien und führt somit zur Abnahme des wurden über 1 Jahr lang medizinisch betreut. Herzinfarkt- und Schlaganfallrisiko. Verglichen wurden 3  Gruppen: progressive Muskelentspannung (PMR), konventionelle zz Schneider et al. (2012): Sterberate, Herzinfarkt und Schlaganfall Gesundheitserziehung (HE) und TranszendenIn der RCT wurden herzkranke Patienten untale Meditation (TM). Alle Versuchspersonen tersucht, die zusätzlich zu ihrer Standardmedierhielten weiterhin ihre medikamentöse antikation entweder an einer gesundheitlichen Weihypertensive Therapie. Reduktion des Blutterbildung teilnahmen oder die Technik der TM drucks in der TM-Gruppe von systolisch/diaserlernten. Nach durchschnittlich 5 Jahren wies tolisch –3,1/–5,7 mmHg, in der PMR-­Gruppe die TM-Gruppe gegenüber der Kontrollgruppe –0,5/–2,9 mmHg, in der HE-Gruppe Erhöhung um +0,12/+0,1  mmHg. Zusätzlich zeigte sich eine um 47  % niedrigere Sterbe-, Herzinfarktin der TM-Gruppe eine verminderte Ein- und Schlaganfallrate auf – ein Hinweis darauf, nahme antihypertensiver Medikamente vergli- dass die TM-Technik eine wirksame Methode chen mit einer Zunahme in der PMR- und HE- zur Verringerung des Risikos kardiovaskulärer Erkrankungen ist. Gruppe (Schneider et al. 2005a). Nachdem in früheren Arbeiten ein Zusammenhang zwischen Stressreduktion, Praktizieren zz Schneider et al. (2006): Prävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen der Technik der TM und Reduktion von erhöhtem Blutdruck nachgewiesen wurde (Schneider et  al. Die Arbeit umfasst Parameter wie die Reduk1995), bestand eine weitere Zielsetzung darin, die tion von erhöhtem Blutdruck, psychosozialen allgemeinen und spezifischen Ursachen bzgl. der Stress, Ersatzmarker für arteriosklerotische Mortalität von Menschen ≧ 55 Jahre zu erforschen. Herz-Kreislauf-Erkrankungen und die SterbeDie in diese Arbeit aufgenommenen Versuchsper- rate. Bisher veröffentlichte RCT über die Aus-

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wirkungen der TM-Technik beinhalten sowohl Anwendungen in der primären und sekundären Prävention (speziell der präventiven Kardiologie) als auch generell im Bereich der Gesundheitsförderung.

Selbstachtung, emotionaler Reife, der Fähigkeit zu herzlichen zwischenmenschlichen Beziehungen sowie angemessenen Reaktionen auf Herausforderungen.

TM-Technik und Stressbelastung

Einige Arbeiten dokumentieren den tiefen Entspannungszustand, der während der Ausübung der TM-Technik entsteht, und den daDie Studie zeigt, dass eine spezielle Geist-­ mit im Zusammenhang stehenden effizienteKörper-­Intervention  – das TM-Programm  – ren Umgang mit Stressbelastungen: den Blutdruck senkt sowie psychischen Stress reduziert und die Stressbewältigung bei jungen zz Dillbeck und Orme-Johnson (1987) Erwachsenen mit einem Risiko für Hypertonie Eine Metaanalyse ergab, dass während der Ausübung der Technik der TM im Vergleich verbessert. zu einem Ruhezustand mit geschlossenen AuStudien über die Auswirkungen der gen der basale Hautwiderstand signifikant ansteigt. Weitere Indizien für tiefe Ruhe und TM-Technik auf andere Bereiche Entspannung durch TM waren eine Abnahme Neben Arbeiten, die den tiefen Entspannungs- der Atemfrequenz und des Plasma-Laktatzustand während der Ausübung der TM-­ spiegels. Technik dokumentieren (verminderte Stoffwechselrate, reduzierter Laktatspiegel im Blut, zz Farrow und Hebert (1982) erhöhter Hautwiderstand etc.), zeigen spezielle Erhöhte Stabilität des vegetativen NervensysEEG-Untersuchungen spezifische Wellenmus- tems. ter und Kohärenzphänomene, die ausschließlich während der Ausübung der TM-Technik zz Gaylord et al. (1989) auftreten und als klar definierter Bewusstseins- Schnellere Erholung von Stressbelastungen. zustand beschrieben werden (in der Yoga-Literatur als 4.  Haupt-­Bewusstseinszustand oder zz Subrahmanyam und Porkodi (1980), transzendentales Bewusstsein bezeichnet, in Jevning et al. (1978), Schneider (1994) der westlichen Fachliteratur als Zustand „ru- Reduzierte Ausschüttung von Stresshormonen. hevoller Wachheit“). Die erste Arbeit darüber erschien 1972 im Scientific American (Wallace zz Orme-Johnson et al. (2006) und Benson 1972). Geringere emotionale Empfindlichkeit gegen-

zz Barnes et al. (2001), Nidich et al. (2009a): Blutdruck und Stressbewältigung bei jungen Erwachsenen

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zz Alexander et al. (1986, 1990, 1991, 2005), Chandler et al. (2005): Gesteigerte Selbstverwirklichung

Eine Metaanalyse (Alexander et al. 1991) weist darauf hin, dass die Zunahme der Selbstaktualisierung durch die Technik der TM viel größer ist als bei Konzentrations-, Kontemplationsoder anderen Techniken zur Persönlichkeitsentfaltung. Selbstaktualisierung bedeutet, dass das innere Potenzial in allen Lebensbereichen stärker zum Ausdruck kommt in Form von Integration und Stabilität der Persönlichkeit,

über Stress.

TM-Technik und verbesserte Integration der Gehirnfunktionen zz Alexander et al. (1986, 1990), Travis (2016)

Einige Studien dokumentieren, dass während der Ausübung der TM-Technik spezifische Veränderungen in der Funktionsweise des Zentralnervensystems auftreten, die die subjektive Erfahrung eines vierten Haupt-­ ­ Bewusstseinszustands bestätigen (transzendentales Bewusstsen).

871 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

zz Travis et al. (2002, 2006), Jevning et al. (1992)

Höhere EEG-Kohärenz als Effekt der TM. zz Travis und Parim (2017), Travis et al. (2009, 2010, 2011), Travis und Shear (2010), Wahbeh et al. (2018), Faber et al. (2017), Yamamoto et al. (2006), Travis und Arenander (2006)

Studierende, die die Technik der TM erlernt hatten, wurden mit Studierenden verglichen, die per Zufallsverfahren dazu ausgewählt worden waren, zeitverzögert mit der TM-Praxis zu beginnen. Mit einem EEG-Gerät wurde die Integration der beteiligten Gehirnareale bei der Durchführung verschiedener Aufgaben gemessen. Dabei wurde eine spezielle sog. Gehirn-Integrations-Skala verwendet, mit der das Maß für die Zusammenarbeit der verschiedenen Areale bestimmt werden kann. Die erste Gruppe zeigte über 10  Wochen signifikante Verbesserungen: Die Werte der Gehirn-­Integrations-­Skala zeigten deutlich, dass die frontale Breitband-EEG-Kohärenz zunahm, und die Gehirnreaktionen auf festgelegte Reize wurden effizienter. Außerdem zeigten die Studierenden, die die TM-Technik erlernt hatten, im Vergleich zur Kontrollgruppe eine Abnahme von Müdigkeit sowie eine schnellere Gewöhnung an Stressreize.

TM-Technik und Verbesserung der geistigen Leistungsfähigkeit zz So und Orme-Johnson (2001)

3 RCT mit Gymnasiasten und Berufsschülern kamen zu dem Ergebnis, dass die Schüler, die die Technik der TM erlernt hatten, im Gegensatz zu den Kontrollgruppen in 5  Variablen geistiger Leistungsfähigkeit (Kreativität, praktische Intelligenz, Feldunabhängigkeit, geistige Leistungsfähigkeit, Intelligenzfluss) eine signifikante Verbesserung erzielten; außerdem zeigten sie weniger Angst. zz Warner (2005)

Beschleunigte kognitive Entwicklung bei Kindern.

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zz Barnes et al. (2003)

Ingenieurstudenten mit Master-Abschluss, welche die Technik der TM erlernt hatten, zeigten nach 6 Monaten bei ihren Pflichtprüfungen bessere Leistungen im Vergleich zu Teilnehmern einer Kontrollgruppe, die aus Studierenden desselben akademischen Studienprogramms per Zufallsverfahren ausgewählt worden waren. Durch Stressreduktion zeigten Heranwachsende neben besseren Leistungen auch verringerte Verhaltensprobleme in der Schule. zz Elder et al. (2014), Broome et al. (2005)

Untersucht wurden Auswirkungen der TM-­ Technik auf Stress am Arbeitsplatz, Depression und Burnout. Die TM-Technik zeigte positive Ergebnisse in der Reduktion von psychischem Stress des Lehrpersonals und bei der Unterstützung der Personalarbeit in einer therapeutischen Schule für Schüler mit Verhaltensproblemen.

zz Grosswald et al. (2008)

Schüler mit der aktuellen Diagnose Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), die die TM-Technik erlernten, zeigten nach 3  Monaten bessere Leistungen bei Aufgaben, die die exekutiven Funktionen des Gehirns nutzen. Dies wurde anhand von erhöhter expressiver Aufmerksamkeit, erhöhter Genauigkeit, flüssigerer Kategorisierung und erhöhter Flexibilität im Wechsel zwischen Kategorien gemessen.

TM-Technik und psychiatrische Störungen/Suchtverhalten zz Orme-Johnson und Barnes (2014): Angststörungen

Angstreduzierende Wirkung der TM-Technik: Diese Metaanalyse zur TM-Technik aktualisiert frühere Metaanalysen und berechnet die Effekte des Ausgangs-Angstniveaus der Probanden, ihres Alters sowie der Dauer und Regelmäßigkeit der TM-Praxis, die Qualität der eingeschlossenen Studien, Unabhängigkeit der Autoren und Art der Kontrollgruppen bezogen auf die Effektgröße.

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Insgesamt ist die Ausübung der TM-Praxis bei der Angstreduktion wirksamer als Standardtherapien und die meisten alternativen Behandlungen, wobei der größte Effekt bei Patienten mit hohem Angstniveau beobachtet wurde. zz Rutledge et al. (2014): Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS/PTSD)

Diese vergleichende Wirksamkeitsstudie beurteilt TM gegenüber etablierten Therapien für PTBS. zz Alexander et al. (1993, 1994): Tabak- und Alkoholkonsum

34

Eine Metaanalyse aller Forschungsstudien zur TM in Bezug auf Zigarettenrauchen im Vergleich zu Metaanalysen von Standard-Entwöhnungsbehandlungen und Raucher-Präventionsprogrammen zeigt eine signifikant größere Abnahme des Zigarettenkonsums bei den Probanden, die TM ausübten  – und das, obwohl diese Technik keinerlei Anleitung beinhaltet, den Lebensstil oder die Lebensgewohnheiten zu ändern. Gleiches gilt für die Metaanalyse von Hauptstudien zu Standardbehandlungen für Alkoholabhängige und Präventionsprogrammen (Alexander et al. 1994). Eine Studie bei Managern und Angestellten in der Automobilindustrie in den USA kam zu dem Ergebnis, dass Angestellte nach 3 Monaten regelmäßiger Ausübung der TM weniger Zigaretten und Alkohol konsumierten im Vergleich zur Kontrollgruppe am gleichen Arbeitsplatz. Eine Verringerung des Zigarettenund Alkoholkonsums war kein Ziel der Studie, sondern wurde als Nebeneffekt festgestellt (Alexander et al. 1993). zz Haratani und Hemmi (1990): Rauchen

In einer Studie (durchgeführt bei Sumitomo Heavy Industries durch das japanische National Institute of Industrial Health) wurde festgestellt, dass die Anzahl der Angestellten, die mit dem Rauchen aufhörten, in der Gruppe von 427 Angestellten, die die TM-Technik erlernt hatten, im Vergleich zu einer Kontrollgruppe von 308 Angestellten vom gleichen Arbeitsplatz zunahm. Es war kein Ziel der Studie, die Teilneh-

mer zum Rauchstopp zu bewegen, sondern dies wurde als spontaner Nebeneffekt festgestellt. zz Brooks und Scarano (1985): Alkohol und traumatischer Stress

Patienten, die wegen traumatischern Stressbelastung in Behandlung waren und deshalb die TM erlernten, zeigten einen signifikanten Rückgang des Alkoholkonsums im Vergleich zu denen, die Psychotherapie erhielten. zz Clements et al. (1988)

In einem Fachjournal der Vereinten Nationen erschien eine Zusammenfassung von Arbeiten über TM im Zusammenhang mit der Drogenrehabilitation von Jugendlichen.

Weitere Aspekte der TM zz Nidich et al. (2009): Brustkrebs

Eine RCT zeigte den positiven Effekt der TM-­ Technik auf die Lebensqualität von Brustkrebspatientinnen. zz Haratani und Hemmi (1990): Gesundheit von Arbeitern und Angestellten

Eine Studie des National Institute of Occupational Safety and Health (NIOSH), eines staatlichen Instituts in Japan, dokumentierte die positiven Wirkungen der TM-Technik auf die Gesundheit von Arbeitern und Angestellten sowie die Reduktion der Krankheitstage. Sumitomo Heavy Industries und mehrere andere japanische Firmen empfahlen ihren Mitarbeitern, die Technik der transzendentalen Meditation zu erlernen.

TM und kollektives Bewusstsein Neben den Auswirkungen der TM-Technik auf den Gesundheitszustand des einzelnen Menschen zeigten die Ergebnisse soziologischer Untersuchungen die direkten positiven Wirkungen auf das Kollektivbewusstsein größerer Gruppen. Zum Beispiel war ein Ergebnis dieser Arbeiten die Verbesserung der Lebensqualität von Städten, sobald die Anzahl der Personen, die die TM-Technik ausübten, in der jeweiligen Stadt etwa 1 % der Bevölkerung erreichte. Dieses als 1 %-Effekt bzw. Maharishi-­Effekt in die

873 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

Literatur eingegangene soziologische Phänomen konnte inzwischen mehrfach reproduziert und bestätigt werden. Für das TM-Sidhi Programm, ein ­TM-­Fortgeschrittenenprogramm, werden die Ergebnisse des Maharishi-Effekts bereits mit der Quadratwurzel aus 1 % erreicht (Aron and Arthur 1991). Im Journal of Conflict Resolution wurde 1988 eine Arbeit veröffentlicht, die an der Maharishi International University (MIU) als „Internationales Friedensprojekt im Nahen Osten“ ausgewertet wurde und die zu dem Ergebnis kommt, dass, während in Jerusalem eine dem 1  %-Effekt entsprechende Anzahl von TM- und TM-Sidhi Praktizierenden regelmäßig ihr Programm machten, die Abnahme der Kriegsopfer im Libanon 75 % betrug. Die Lebensqualität in Israel stieg zu dieser Zeit deutlich an (Orme-Johnson et al. 1988). Noch deutlichere Verbesserungen konnten gemessen werden, während an der Maharishi University of Management (MUM) in den USA eine Gruppe von über 7000 Personen (das entsprach in etwa der Quadratwurzel aus 1 % der gesamten Weltbevölkerung im Jahr 1984) ihr Programm gemeinsam ausübten (7 http://www.­  

ayurveda.­at/kollektives-bewusstsein/research/ frm_start.­htm. Zugegriffen am 18.09.2018).

Weitere Informationen zu wissenschaftlichen Studien über die Technik der transzendentalen Meditation erhalten Sie im Sekretariat der ÖGAM, Ordination Dr. Krenner, 1080 Wien, Piaristengasse 1 bzw. im Internet unter 7 www.­ayurveda.­at/research.­htm.  

34.10.3  Wissenschaftliche Studien

- Ayurveda-Medizin

Auf dem Gebiet der Ayurveda-Medizin gibt es umfangreiches Studienmaterial. Aufgrund der Vielzahl können einzelne Studien zu diesem Thema hier nicht dargestellt werden, sondern es wird auf spezielle wissenschaftliche Suchportale verwiesen, auf denen sie gelistet sind. (Zugegriffen am 18.09.2018): 55 DHARA – Digital Helpline for Ayurveda Research Articles:

34

7 http://www.­dharaonline.­org/Forms/ Home.­aspx  

55 AYUSH Research Portal, Evidence Based Research Data of AYUSH Systems at Global Level, Ministry of AYUSH, Government of India: 7 http://ayushportal.­nic.­in  

55 AYU – An International Quarterly Journal of Research in Ayurveda: 7 http://www.­ayujournal.­org  

34.11  Vedische Astrologie

(Maharishi Jyotish), vedische Architektur (Maharishi Sthapatya-Veda)

34.11.1  Vedische Astrologie

(Maharishi Jyotish)

Sie ist neben Ayurveda, Yoga/transzendentaler Meditation und vedischer Architektur eine der 4 Hauptsäulen der vedischen Medizin. Als eine der 40 Disziplinen der vedischen Wissenschaft ist es auch ihr Ziel, das volle menschliche Bewusstseinspotenzial zu entfalten. Sie repräsentiert und entwickelt eine spezifische Bewusstseinsqualität, die als Jyotish Mati Pragya bezeichnet wird („Allwissenheit“). Mithilfe der vedischen Astrologie erhält der Ayurveda-Arzt Informationen über gesundheitliche Problemzonen (Schwachstellen) beim Patienten, bezogen auf Körper und Geist, sowie ihr zeitliches In-Erscheinung-Treten. Vedische Astrologie enthält das Wissen von den Kreisläufen der Zeit, durch die alle Transformationsprozesse hervorgebracht werden. Maharishi Jyotish erklärt, wie die Naturgesetze für alle Veränderungen und Entwicklungen im Leben verantwortlich sind und wie sich das Leben vom Zeitpunkt der Geburt an durch die Stufen der Evolution schrittweise entfaltet. Dieser weite Bereich der systematischen Entfaltung des Lebens kann durch Jyotish berechnet und interpretiert werden. Jyotish ist in der Lage, die komplexe Funktionsweise des Naturgesetzes, die unendlichen Interaktionen des Lebens, durch die Beziehung zwischen

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L. Krenner

55 den 9 Grahas (Planeten), 55 den 12 Rashis (Tierkreiszeichen) und 55 den 27 Nakshatras (Mondhäusern) einfach, klar und systematisch zu beschreiben. >> Auch in der vedischen Astrologie gilt das Prinzip, dass „alles mit allem“ in Verbindung steht (. Abb. 34.21).  

34

Als Werkzeug zur graphischen Darstellung verwendet die Astrologie ein sog. Horoskop, das einerseits die planetare Situation zu einem bestimmten Zeitpunkt abbildet (i.  Allg. zum Zeitpunkt der Geburt bzw. zum Zeitpunkt der Fragestellung; dargestellt werden 9 Planeten in den 12 Tierkreiszeichen; dies sind Cluster von Fixsternen, die in Sanskrit als Rashis bezeichnet werden) und andererseits die unterschiedlichen Lebens- und Erfahrungsbereiche in Form der 12  Häuser  – Bhavas (z.  B. „Erziehung“, „Familiensituation“, „Beruf “ etc.). Jyotish als Wissenschaft berechnet das Horoskop nach mathematischen Formeln. Als Technologie der Vorhersage entfaltet Maharishi Jyotish im Bewusstsein des Jyotish-­ Pandit (vedischer Gelehrter) die Fähigkeit, das gesamte Wissen über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu erfassen. Jyotish kann somit mögliche Lebenssituationen in der Zukunft voraussehen und Gefahren abwenden, bevor sie entstehen.

»» „Heyam Duhkham Anagatam.“ (Banne die

Gefahr, bevor sie entsteht) (Yoga Sutra, 2.16)

Wie ein Fachmann, der die Produktion an einem Fließband beaufsichtigt und der in jedem Entwicklungsstadium bestimmen kann, welche Arbeitsvorgänge beendet sind und welche noch kommen, so ist der Jyotish-­Experte befähigt, die Zukunft und Vergangenheit zu beleuchten. Maharishi Jyotish ist eine vedische Bewusstseinstechnologie, die zur Hilfe und Unterstützung bei Entscheidungen des praktischen Lebens wichtig ist, und sie ist gleichzeitig  – wie jede vedische Disziplin  – eine Methode zur Bewusstseinsentwicklung für den Praktizierenden.

Maharishi Jyotish besteht aus 3 Hauptbereichen 55 Samhita 55 Ganit 55 Hora

kSamhita

beschäftigt sich mit globalen Tatsachen und Ereignissen wie Weltwirtschaft, Ernte, Wetter oder Kriege. kGanit

erklärt die mathematischen Berechnungen, die im Jyotish benutzt werden. kHora

ist die Wissenschaft von der Vorhersage der Zukunft eines einzelnen Menschen, einer Organisation oder eines Gemeinwesens. Es enthält 4 untergeordnete Bereiche: 55 Jatak: Interpretationen des Lebens eines Einzelnen oder eines Gemeinwesens; sie beruhen auf Geburtszeit und Geburtsort. 55 Prashna: Antworten auf spezifische Fragen, wobei Zeit und Ort der Fragestellung für die Berechnung zugrunde gelegt werden. 55 Nimitt: Vorhersagen, die auf Vorzeichen, Gesten und Merkmalen der Umgebung basieren. 55 Muhurt: Auswahl des günstigsten Zeitpunkts für den Beginn einer Unternehmung, damit größtmöglicher Erfolg gewährleistet ist. Alle Anliegen des Maharishi AyurVeda sind auch Anliegen von Maharishi Jyotish. Die ayurvedischen Maßnahmen zur Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit fördern gleichzeitig die Erfahrung von „Jyotish Mati Pragya“. Auf der anderen Seite berechnet Maharishi Jyotish zukünftige potenzielle Ungleichgewichte von Vata, Pitta und Kapha anhand der Grahas, Rashis und Nakshatras. Ein Arzt, der ebenfalls Jyotishi ist, kann aus dem Ge-

875 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

34

.Abb. .       34.21  Beziehung zwischen den Planeten und dem menschlichen Nervensystem. Frontalschnitt des Gehirns mit internen Strukturen, einschließlich Basalganglien, Thalamus, Hypothalamus, Subthalamus und deren

1:1-Beziehung mit den 9 Planeten (Grahas) des Sonnensystems (7 Abschn. 34.3.3 und 34.3.4). (Aus Nader 2000, Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors, Prof. T. Nader; M.D, Ph.D., MARR; Maharishi Vedic University)

burtshoroskop zukünftige Unausgewogenheiten vorhersagen und vorbeugende Gesundheitsmaßnahmen empfehlen – manchmal Jahre bevor sich eine Krankheit manifestiert. Das

Analysieren eines Geburtshoroskops ähnelt der ayurvedischen Pulsdiagnose. In beiden Situationen spürt der Arzt denselben sub­tilen Naturgesetzen nach, die Gesundheit und



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L. Krenner

Lebenszustände des Patienten als Ganzes strukturieren. Während Maharishi AyurVeda sich primär um die Beseitigung gegenwärtiger Gesundheitsprobleme kümmert und damit zukünftigen vorbeugt, ermöglicht Jyotish, zukünftige Gesundheitsprobleme zu diagnostizieren und damit ihnen ebenfalls vorzubeugen. Beide beschreiben, wie das menschliche Leben funktioniert, sind untrennbar miteinander verbunden und entwickeln so vollkommene Gesundheit (Erleuchtung) (https://www.maharishijyotishprogram.eu/; Zugegriffen am 18.09.2018). 34.11.2  Vedische Architektur

(Maharishi Sthapatya-Veda)

34

Sie ist wie die vedische Astrologie ein weiterer wichtiger Aspekt der vedischen Medizin, um ganzheitliche Gesundheit zu erhalten bzw. wiederherzustellen. Wie der Körper die nahe „Hülle“ des Menschen darstellt, ist das Gebäude bzw. die Wohnung in der man lebt, die größere „Hülle“ und hat dadurch einen direkten Einfluss auf unsere Gesundheit. Maharishi Sthapatya-Veda wird auch als die Wissenschaft über die Orientierung im Raum beschrieben. Sie beinhaltet das Wissen über die Ausrichtung des Arbeitsplatzes, der Räume in der Wohnung, über das Haus, die Umgebung des Hauses, die Stadt, die Umgebung der Stadt und die Länder. Die Orientierung richtet sich primär auf die Sonne, den zentralen Energiespender des Lebens auf dem Planeten Erde. Im Begriff „Orientierung“ ist bereits das Wort „Osten“ enthalten („Orient“). Die primäre Orientierung der Bauwerke erfolgt nach Osten, hin zur aufgehenden Sonne. Auf ihrem Weg von Osten nach Westen erzeugt die Sonne unterschiedliche Energiequalitäten. Das Haus sollte daher so entworfen werden, dass die verschiedenen Energien der Sonne den unterschiedlichen Funktionen und Aktivitäten der einzelnen Räume entsprechen – dann werden die verschiedenen Aspekte

der täglichen Aktivität maximal durch das Naturgesetz unterstützt. Die meisten Menschen wissen nicht, dass Probleme und Krankheiten aus der falschen Orientierung des Hauses, in dem sie leben und arbeiten, resultieren können. Vastu wird als das Design und die Struktur eines Gebäudes und seiner Umgebung in Harmonie mit dem Naturgesetz bezeichnet. Dabei werden die Orientierung nach Osten und der Eingang nach Osten berücksichtigt. Jeder Mensch sollte daher in einem Gebäude mit einem idealen Vastu leben. Es gibt viele unterschiedliche Überlegungen, um positive, lebensfördernde Eigenschaften eines Vastu beurteilen zu können, u. a.: 55 Die Ausrichtung der Gebäude, 55 die Anordnung der Räume, 55 Proportionen und vedische Maßeinheiten, 55 die Neigung des Baulands, 55 die Form des Grundstücks, 55 der ungehinderte Einfall der ersten Sonnenstrahlen auf das Gebäude am Morgen bei Sonnenaufgang, 55 der Einfluss, das Klima und die Atmosphäre der Umgebung, 55 die Lage der Gewässer in der Umgebung. Maharishi Sthapatya-Veda fördert ideale Lebensumstände in Gebäuden und Städten mit einem idealen Vastu und trägt so zu Gesundheit für jeden Menschen und Gewaltfreiheit und sozialem Frieden für die Gesellschaft als Ganzes bei (http://de.maharishivastu.net; Zugegriffen am 18.09.2018). 34.12  Ablauf einer ayurvedischen

Konsultation mit Case Reports

Nach Vereinbarung eines Termins zur Erstuntersuchung (telefonisch bzw. per E-Mail) wird dem Patienten ein Anamnesebogen per E-Mail (oder per Post) zugesandt. In der Mail werden außerdem einige grundlegende Informationen über Ayurveda-Medizin angefügt. Der Patient wird gebeten, vorhandenes Befundmaterial

877 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

und Arztbriefe zur Erstkonsultation mitzubringen. Je nach Situation wird empfohlen, aktuelle Befunde einzuholen bzw. vor dem Termin eine Vorsorgeuntersuchung durchführen zu lassen. Die Konsultation selbst beginnt mit einem kurzen Gespräch, der physikalischen Untersuchung (ayurvedische Pulsdiagnose, Zungendiagnose etc.), der Durchsicht der Befunde und einer ausführlichen Anamnese. Anschließend werden mit dem Patienten die spezifischen Möglichkeiten der ayurvedischen Therapie besprochen (Ernährung, Lebensstil, Nahrungsergänzungen auf pflanzlicher Basis, Tees, Gewürze, Entschlackungsbehandlungen, transzendentale Meditation einschließ­ lich Yoga etc.). Die Weiterführung einer ggf. vorhandenen konventionell-medizinischen Therapie wird empfohlen. Sollte eine Anpassung in der vorhandenen Therapie sinnvoll erscheinen, so sollte diese mit dem behandelnden konventionell-­ medizinischen Arzt besprochen und durchgeführt werden (z. B. medikamentöse Einstellung des Blutdrucks oder der Diabetestherapie). Ein Kontrolltermin in etwa 3 Wochen wird vereinbart. In dringenden Fällen sind kurzfristige Terminvereinbarungen möglich. Generell wird angestrebt, die ayurvedischen Empfehlungen schrittweise (nicht abrupt) in den Alltag zu integrieren (entsprechend der beruflichen und privaten Lebenssituation). Das Ziel einer ayurvedischen medizinischen Betreuung ist ein Zurückführen des Menschen hin zur Selbstständigkeit und Selbstverantwortung für ein gesundheitsorientiertes Leben. Maharishi AyurVeda Medizin führt zur Meisterschaft über das eigene Leben. 34.13  Fallbeispiele zz Fallbericht 1

Patientin, 48 Jahre, Erstvorstellung: Dezember 2009 kAnamnese

55 Neurodermitis in der Kindheit, es treten immer wieder akute Schübe auf

34

55 Heuschnupfen (ohne Therapie), 55 Endometriose (nach OP Beschwerden gebessert, mit Hormontherapie beschwerdefrei), 55 wiederkehrende Migräneanfälle, 55 Tendenz zu kalten Händen und Füßen. kPulsdiagnose

55 Vata-Kapha-Symptomatik, 55 Samana-Pachaka Syndrom, 55 Ama-Belastung mit Spannung im tiefen Puls. kEmpfehlungen

55 Regelmäßiger Tagesrhythmus, 55 leicht verdauliche Mahlzeiten, 55 Nahrungsmittelzusätze auf Kräuterbasis: MA 154 (Unterstützung der Verdauung), MA 1815 (hormonelle Hitze reduzieren), MA 505 (Verdauungs-Rasayana), 55 regelmäßige Praxis der transzendentalen Meditation, 55 2-wöchige ayurvedische Kurbehandlung (Panchakarma), Dezember 2009 und September 2010. kErgebnis

55 Das subjektive Wohlbefinden hat sich gebessert. 55 Die Patientin kommt nicht zu weiteren Kontrollen. kErneute Vorstellung nach 3 Jahren (Oktober 2012)

55 Nach Routine-Mammographie: V. a. neoplastischen Prozess (N. mammae links), 55 Stanzbiopsie: duktales Carcinoma in situ (DCIS G-3), BIRADS VI, B5A (maligne, nichtinvasiv), 55 Behandlung: Operation plus Chemotherapie und Bestrahlung. Die Patientin wünscht eine zusätzliche ayurvedische Begleittherapie. kPulsdiagnostik

55 Desintegration des Gesamtorganismus, 55 Dhatu-Ebene blockiert, 55 Ojas-Niveau deutlich reduziert.

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L. Krenner

kKomplementärmedizinische ayurvedische Therapie

55 Diätempfehlungen: Vata-beruhigende und Ama-reduzierende Diät, 55 Nahrungsmittelzusätze auf Kräuterbasis: MAK 4 + 5 (Amrit Kalash, das Immunsystem unterstützend), MA 505 (Verdauungs-­ Rasayana), MA 631 (Dhatu-Agni stärkend), MA 320 (bei Sodbrennen und Übelkeit), MA 105 + MA 256 (das Immunsystem unterstützend), 55 Gewürztees (Kapha-beruhigender Tee, Vata-beruhigender Tee), 55 vedische Urklangtherapie (7 www.­vedicsound.­org), 55 vedische Musiktherapie (CDs), 55 vedische Aromatherapie, 55 regelmäßige Ausübung der Technik der transzendentalen Meditation.

Die Patientin ist ein Beispiel für die wichtige Teilnahme an den Früherkennungsmaßnahmen der konventionellen Medizin und die sinnvolle komplementärmedizinische Behandlung von Krebspatienten, Hand in Hand gehend mit der konventionellen medizinischen Therapie. Gerade bei schweren und teilweise lebensbedrohlichen Erkrankungen ist die ganzheitliche Entwicklung der Persönlichkeit für den Gesundungsprozess von wesentlicher Bedeutung. Die Anhebung des Ojas-Niveaus des Organismus ist ein ganzheitlicher Prozess, der sich über viele Jahre erstrecken kann und mit einer grundlegenden Bewusstseinsänderung, d. h. einer Änderung der Sichtweise über das Leben, verbunden ist. Die komplementärmedizinische Unterstützung dieses „Heilungsvorgangs“ ist für den Patienten sinnvoll und nützlich.

kVerlauf

zz Fallbericht 2



55 Während Chemotherapie und Bestrahlungsbehandlung (2013–2014) wechselhafte Beschwerden mit depressiven Stimmungsschwankungen. 55 Die Nebenwirkungen der Behandlungen wurden von der Patientin gut toleriert. 55 Schrittweise subjektive und objektive Besserung, Ojas-Niveau deutlich ­angehoben.

34

kFazit

kErgebnis

55 Die Patientin berichtet, sie fühle sich insgesamt stabiler (die Energieschwankungen sind geringer geworden). Sie habe eine für sie wichtige persönliche Entwicklung durchgemacht und zu sich selbst und auch zu ihrer Umgebung eine andere, harmonischere Beziehung bekommen. 55 Die Patientin durchläuft das Nachsorgeprogramm; es treten keine weiteren medizinischen Probleme bzw. pathologischen Befunde auf. 55 Weitere jährliche Kontrollen werden regelmäßig durchgeführt.

Patientin, 52 Jahre, Erstvorstellung: April 2013 kGesamtsituation

55 Intensive berufliche Belastung (Beratungstätigkeit für Personen in internationalen Organisationen, die in Krisenregionen tätig sind); intensive Reisetätigkeit; zeitweise selbstständige Arbeit, zeitweise angestellt. 55 Joggen regelmäßig 4-mal pro Woche, jeweils ca. 1 Stunde; Yoga unregelmäßig. kAnamnese

55 55 55 55 55 55 55 55 55

Neurodermitis, Gastritis, benigner Tumor mammae links, Amenorrhö seit dem 34. Lebensjahr, Schlafprobleme, Tendenz zu Blähungen, Tendenz zu kalten Füßen, rezidivierende grippale Infekte, „Burnout“ mit Sinnkrise.

kLabor

55 Außer leicht erhöhtem Cholesterin unauffällig.

879 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

34

kPulsdiagnose

kPulsdiagnose

55 Oberflächlich: generell Vata-Pitta-­ Überbelastung, 55 in der Tiefe: blockiert (ohne Information), 55 Diskussion: Ojas stark reduziert, Vata gespannt.

55 Oberflächlicher Puls mit Vata-Belastung, 55 tiefer Puls: sehr geringe Ojas-Aktivierung.

kTherapieempfehlung

55 Möglichst stark die Arbeitszeiten reduzieren, die Jobsituation überdenken, 55 die Ernährungssituation verbessern (regelmäßige Mahlzeiten, Tendenz zu vegetarischer Ernährung), 55 Getränke: Vata-Tee, Lassi, warmes Wasser (kein Kaffee, Alkohol reduzieren), 55 Nahrungsmittelzusätze auf Kräuterbasis: MA 505 (Verdauungs-Rasayana), MA 1683 (Schlaf), MA 4 + MA 5 (Amrit Kalash, Rasayana), 55 ayurvedische Kurbehandlung (Panchakarma), 55 Erlernen der Technik der transzendentalen Meditation. kKontrolle nach einem Monat (nach der Kurbehandlung)

55 Subjektiv besteht eine leichte Besserung (Schlaf, Verdauung). 55 die psychische Verfassung hat sich gebessert. kPulsdiagnose

55 Oberflächlich: Vata ausgeglichen, 55 in der Tiefe: nur geringe Änderung (Hintergrundblockade ist nach wie vor vorhanden). kTherapieempfehlung

55 Regelmäßige Einnahme der Nahrungsmittelzusätze auf Kräuterbasis, 55 regelmäßige TM-Praxis. kKontrolle nach 3 Monaten

55 Die berufliche Belastungssituation hat sich etwas verbessert. 55 Die Einnahme der Kräuterpräparate erfolgt unregelmäßig. 55 Praxis der TM-Technik, einmal täglich, abends.

kKontrolle nach 2 Jahren

55 Auftreten der alten Muster, es besteht wieder eine massive berufliche Belastungssituation (Auslandseinsätze). 55 Schlafstörungen, Erschöpfungszustände. 55 Die Praxis der TM-Technik pausiert. kPulsdiagnose

55 Oberflächlicher Puls mit massiver Vata-­ Belastung und Hintergrundblockade, 55 tiefer Puls blockiert, nur sehr geringe Information. kEmpfehlungen

55 Regelmäßige TM-Praxis, 55 2-wöchige ayurvedische Kurbehandlung (Panchakarma). kKontrolle nach 3 Wochen (nach der Kurbehandlung)

55 Änderung der beruflichen Situation mit reduzierter Belastung. 55 Subjektive Symptome haben sich gebessert (Schlaf, Belastbarkeit). kPulsdiagnose

55 Oberflächlich: Vata ausgeglichen, 55 in der Tiefe: Besserung (mehr Harmonie und Ordnung, Ojas-Qualität leicht aktiviert). kEmpfehlungen

55 Regelmäßige TM-Praxis (2-mal täglich 20 Minuten), 55 Nahrungsmittelzusätze auf Kräuterbasis: MA 505, MA 4 + MA 5 (Amrit Kalash), 55 Bis 22:30 Uhr zu Bett gehen, 55 Kontrolle in 2 Monaten. kAbschließende Bemerkungen

Maharishi AyurVeda sieht die Gesundheitssituation langfristig zum großen Teil als Spiegel der Lebenssituation. Die Behandlung einzelner Symptome kann daher immer nur unter Berücksichtigung der privaten und beruflichen Le-

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benssituation gesehen werden. Die Lebens-Intelligenz und -Energie (Ojas) ist ein zentraler Aspekt jeder ganzheitlichen Diagnostik und Therapie  – Ojas zeigt an, in welchem Ausmaß der Organismus in der Lage ist, den Ordnungszustand von „Innen“ her wiederaufzubauen. Der zentrale Therapieansatz bei chronischen Erkrankungen und bei der Verhütung von Krankheiten ist daher die regelmäßige Praxis der Technik der transzendentalen Meditation; als unterstützende Maßnahmen werden Ernährungsempfehlungen, Gewürze, Tees, Nahrungsergänzungsmittel auf Kräuterbasis, vedische Urklangtherapie, Musiktherapie, vedische Aromatherapie, Lichttherapie mit Edelsteinen und entschlackende Maßnahmen angewendet. 34.14  Ausbildungsprogramm

34

Das Ausbildungsprogramm der Maharishi Vedic University, das die Grundlage auch für die Ausbildungen innerhalb der österreichischen Ärzte-Gesellschaft für ayurvedische Medizin bildet, wurde unter Leitung des führenden vedischen Gelehrten Maharishi Mahesh Yogi und in Zusammenarbeit mit erfahrenen Ayurveda-Ärzten in Indien, Europa und den USA erarbeitet. Es basiert einerseits auf dem traditionellen ganzheitlichen Wissen der vedischen Wissenschaft und den klassischen Schriften des Ayurveda und integriert andererseits die modernen Standards westlicher Medizin. Das Ausbildungsprogramm ist in einzelnen, in sich abgeschlossenen Einheiten strukturiert (Modulsystem). Abgesehen von den Einführungswochenenden bauen die verschiedenen Varianten des Ausbildungsprogramms (Basismodul, Standardmodul, Fortgeschrittenenmodul) auf dem jeweils vorhergehenden Modul auf und beinhalten eine Vertiefung und Erweiterung des theoretischen und praktischen Wissens. Das Basismodul (80 Stunden) beinhaltet 3  Einführungswochenenden sowie Hausaufgaben und praktische Übungen; das Standardmodul (300  Stunden) beinhaltet das Basismodul, und das Fortgeschrittenenmodul (1200 Stunden) beinhaltet das Standardmodul.

Das Fortgeschrittenenmodul (1200  Unterrichtsstunden) ist eine umfassende, professionelle Ausbildung in Ayurveda-Medizin und einem Master-Studium gleichzusetzen. Das Modul umfasst ein umfangreiches Studium aller Teilbereiche der Ayurveda-Medizin einschließlich der ayurvedischen Physiologie, Pathologie, Diagnostik (im besonderen Pulsdiagnose  – Nadi Vigyan), Heilkräuterkunde (Dravya Guna), Aus­ leitungsbehandlungen (Panchakarma), Yoga, einschließlich der Technik der transzendentalen Meditation (inkl. TM-Fortgeschrittenentechniken). Betreffs Erlangung eines Master-Diploms in Ayurveda laufen derzeit noch Gespräche mit Universitäten in Indien und den USA. Das Basismodul umfasst 80  Stunden und beginnt mit einem Einführungsteil mit 3  Wochenenden (3-mal 12  Stunden, also 36  Stunden), Hausaufgaben und praktische Übungen (44  Stunden). Es bietet einen Überblick über den Bereich der Ayurveda-Medizin und beinhaltet Grundlagenwissen über vedische Wissenschaft, vedische Physiologie sowie Erklärungen der grundlegenden Begriffe der Ayurveda-Me­ dizin. Parallel dazu wird praktisches Wissen über die ayurvedische Pulsdiagnose, die ayurve­ dische Ernährungslehre und die ayurvedische Heilkräuterkunde bezogen auf ausgewählte Krankheitssymptome unterrichtet. Als Einstieg in die Theorie und Praxis der Maharishi AyurVeda Medizin beinhalten diese ersten 3  Wochenenden (ein Wochenende beginnt am Samstagvormittag und endet am Sonntagnachmittag; 12 Unterrichtsstunden pro Wochenende) jeweils einige Vorträge, Übungs­ einheiten (z.  B. Maharishi AyurVeda-Pulsdia­ gnose), Hinweise auf die Anwendungs­ möglichkeiten in der Praxis, Vorstellung von Patienten und die Möglichkeit, Fragen zu diskutieren. Die Teilnehmer erhalten umfangreiches schriftliches Kursmaterial. Auf ausreichend Praxiserfahrung wird vom ersten Wochenende an Wert gelegt. Es besteht die Möglichkeit – abgestimmt auf die jeweiligen Schwerpunkte des Kurses – eigene Patienten vorzustellen bzw. zu besprechen. Des Weiteren sind Übungstreffen mit der Gruppe vorgesehen.

881 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

Die ersten 3 Wochenenden geben eine theoretische und praktische Einführung in die Grundlagen der ayurvedischen Medizin: 55 Grundlagenwissen über Maharishi Vedische Wissenschaft und vedische Physiologie: Erklärungen der grundlegenden Begriffe der Ayurveda-Medizin (Dosha-Lehre: Vata, Pitta, Kapha, Agni, Malas, Ama, Dhatus, Ojas). 55 Praktisches Wissen über: Ayurveda-­ Diagnostik (Anamnese, Maharishi AyurVeda-Pulsdiagnose). 55 Praktisches Wissen über: Maharishi AyurVeda-Ernährungslehre und Heilkräuterkunde bezogen auf ausgewählte Krankheitssymptome (Disease-Protokolle: Verdauungsprobleme, Angstzustände, Depressionen, Schlafstörungen, Hypertonie, Kopfschmerzen, Arthrose, rheumatische Gelenkbeschwerden, Fibromyalgie, Rückenschmerzen, Ischias, Erkältungskrankheiten, allergische Rhinitis, Bronchitis, Asthma bronchiale, Übergewicht, Hypercholesterinämie, Diabetes mellitus Typ II, Schilddrüsenfunktionsstörungen). Die 3  Wochenenden geben einen Überblick und Einblick in den gesamten Bereich der Ayurveda-Medizin in konzentrierter Form. Die Idee ist, dass die teilnehmenden Ärzte ein Gefühl für das medizinische Weltbild des Ayurveda erhalten und das Wissen auch in entsprechendem Umfang bereits in ihrer Praxis anwenden können. Eine weitere Gesellschaft, die Ayurveda-­ Ausbildungen in Österreich und Deutschland anbietet, ist die Europäische Akademie für Ayurveda Deutschland, Rosenberg GmbH: [email protected]. zz Kontakt/Anlaufstelle/Links

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Piaristengasse 1 A-1080 Wien [email protected] kLinks Österreich:

Ärzte-Gesellschaft

7 www.­ayurveda.­at/aerzte 7 www.­ayurveda.­at  



Transzendentale Meditation

7 www.­meditation.­at 7 www.­transzendentalemeditation.­at  



Ordination

7 www.­ayurveda.­at/krenner  

Wissenschaftliche Studien, Vorträge, Kongresse 7 www.­ayurveda.­at/research.­htm  

Zusammenfassung wissenschaftlicher Studien; das Wichtigste aus über 600 Arbeiten

7 www.­ayurveda.­at/Aerzte/pdf/tm-broschuere-studien-allg.pdf  

Deutschland:

Deutsche Gesellschaft für Ayurveda (DGA), 10969 Berlin, Friedrichstr. 232 7 www.­ayurveda-gesellschaft.­de  

Deutsche Ärztegesellschaft für Ayurveda-­ Medizin e.V. (DAEGAM), c/o Abteilung Naturheilkunde, Immanuel Krankenhaus Berlin, Forschungskoordination Ayurveda, Königstr. 63, 14109 Berlin 7 www.­daegam.­de  

Immanuel Krankenhaus Berlin, Abteilung Naturheilkunde, Ayurveda-Ambulanz, Am Klei­ nen Wannsee 5, Haus D, 14109 Berlin Stiftungsprofessur für klinische Naturheilkunde am Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie der Charité-Universitätsmedizin Berlin

7 http://naturheilkunde.­i mmanuel.­d e/einrichtung/team/team-ayurveda-medizin-yoga-therapie/ 7 http://naturheilkunde.­i mmanuel.­d e/einrichtung/versorgungsbereiche/ayurveda-ambulanz/  

Dr. Lothar Krenner, Arzt für Allgemeinmedizin Vorstandsmitglied der Österreichischen Ärzte-­ Gesellschaft für Ayurveda Medizin  – Maharishi Vedische Medizin Universität Duisburg  – Essen, Lehrstuhl Sekretär des Österreichischen Dachverban- für Naturheilkunde und Integrative Medizin, des für ärztliche Ganzheitsmedizin (7 www.­ Institut für Naturheilkunde, Traditionelle Indiganzheitsmed.at) sche Medizin (Ayurveda)  



882

L. Krenner

7 http://www.­k liniken-essen-mitte.­de/leistung/zentren-institute/traditionelle-indische-­ medizin-tim/home.­html  

Schweiz:

Schweizerische Ärztegesellschaft für Ayurveda, CH-6377 Seelisberg 7 www.­ayurveda-aerztegesellschaft.­ch  

kAusführliche Informationen: 7 Abschn. 39.8.1 und 7 Abschn. 40.3.1.  



Zusammenfassung

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55 Maharishi AyurVeda bietet einen umfassenden, multimodalen Therapieansatz an, von der kosmischen Ebene (vedische Astrologie), über die gesellschaftliche Ebene (Public Health, TM-­ Sidhi-­Programm), die Umgebungssituation (vedische Architektur), die körperliche Ebene (individuell abgestimmte Ernährungsempfehlungen, Gewürze, Tees, Nahrungsmittelzusätze auf Kräuterbasis, entschlackende Maßnahmen etc.), bis hin zur geistigen Ebene (transzendentale Meditation, vedische Urklangtherapie etc.). Das Ziel all dieser Therapieansätze ist die Verbindung der einzelnen Ausdrucksformen des Lebens mit der grundlegenden transzendenten Lebensebene, auf der die gesamte Intelligenz der Natur – der Veda, das einheitliche Feld aller Naturgesetze – gespeichert ist. Diese transzendente Lebensebene ist unser eigenes innerstes Selbst (Atma). Das erklärt eine der ayurvedischen Definitionen von Gesundheit: Swasthya – im Selbst gegründet sein. 55 Maharishi Vedische Medizin und Maharishi AyurVeda sind die „Wissenschaft vom langen und gesunden Leben“. Sie bieten ein vollständiges Wissen über das Leben an – die Wissenschaft des Bewusstseins in seinem transzendenten Grundzustand (Selbst/Atma) und seinen unterschiedlichen ausgedrückten Zuständen (Geist/ Manas, Körper/Sharir, Umgebung/Vishwa). 55 Maharishi Vedische Medizin spricht die Ursache aller gesundheitlichen Probleme an und nicht nur ihre Symptome. Maharishi Vedische Medizin bietet eine komplementärmedizinische Erweiterung des medizinischen Therapiespek­ trums an und damit eine Verbesserung der

medizinischen Versorgung der Bevölkerung. Sie steht nicht im Gegensatz zur konventionellen Medizin, sondern bildet eine wertvolle Ergänzung. 55 Maharishi AyurVeda ist ein natürliches, vorsorgeorientiertes Medizinsystem, frei von negativen Nebenwirkungen. Es ist bewusstseinsbasierte Medizin, gegründet auf der jahrtausendealten Erkenntnis, dass der Grundzustand des Bewusstseins – der Veda, die unmanifeste Ganzheit aller Naturgesetze – die Basis der Physiologie bildet. Dieses vollständige Medizinsystem bietet Technologien an, um diesen Grundzustand des Bewusstseins in der Physiologie zu beleben und dadurch Gleichgewicht im Organismus herzustellen. 55 Maharishi AyurVeda bietet auch unterschiedliche Behandlungsformen und Verhaltensempfehlungen an, um Geist, Körper und Verhalten in Einklang mit der Intelligenz der Natur – dem Veda – zu bringen. Damit werden eine natürliche und effektive Prävention von Krankheiten und die Förderung ganzheitlicher Gesundheit erreicht. 55 Ein effizientes, modernes und kostensparendes Gesundheitssystem muss seinen Schwerpunkt auf der Prävention – nicht nur Früherkennung, sondern Verhütung von Krankheiten – haben. Ein vollständiges, ganzheitliches Wissen um alle Naturgesetze, die unsere Physiologie steuern, ist daher unbedingt erforderlich. Solange nicht alle Faktoren, die für die Gesundheit entscheidend sind, berücksichtigt werden, kann ein Gesundheitssystem nicht erfolgreich sein. Maharishi Vedische Medizin bietet auf der Basis des vollständigen Wissens um die innere Intelligenz des Körpers – den Veda – ein effektives, ganzheitliches und vorsorgeorientiertes Gesundheitssystem an, das die Stärken der konventionellen Medizin nützt und unterstützt – jedoch deren Nebenwirkungen und Begrenzungen minimiert. 55 Die große Herausforderung in der modernen Gesellschaft besteht darin, mit allem technischen Fortschritt in der Lage zu sein, gesunde Menschen und eine gesunde, friedliche Welt zu schaffen. Dies erfordert neue, ganzheitliche

883 Ayurveda, Yoga und transzendentale Meditation – Maharishi Vedische Medizin

und innovative Lösungsansätze – auch und besonders im Gesundheitswesen. Die Zusammenarbeit der konventionellen und der komplementären Medizin scheint der einzig sinnvolle Weg zu sein, die hohe Qualität des Gesundheitssystems auf Dauer zu sichern und dem Ziel der vedischen Medizin näher zu kommen: Die Schaffung einer krankheitsfreien, friedlichen Gesellschaft.

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887

Psychotherapeutische und psychosomatische Medizin Inhaltsverzeichnis Kapitel 35 Psychotherapeutische Medizin – 889 Marianne Springer-Kremser Kapitel 36 Psychosomatische Medizin – 903 Marianne Springer-Kremser Kapitel 37 Methoden zur Entspannung, Schmerzlinderung und Bewusstseinserweiterung – 919 Heinrich Wallnöfer, Henriette Walter, Richard Crevenna, Lothar Krenner, Magdalena Singer, Julian Hannemann, Michaela Ott und Christian Schubert

VI

889

Psychotherapeutische Medizin Marianne Springer-Kremser 35.1

Einführung – 890

35.2

Psychotherapie – Definition und Grundlagen – 891

35.3

Psychoanalyse/psychoanalytische Psychotherapien – 893

35.3.1 35.3.2

Elemente– 893 Wirkung von psychoanalytischer Psychotherapie am  Beispiel Depression – 896

35.4

Verhaltenstherapie – kognitive Verhaltenstherapie – 896

35.5

 sychotherapien auf Basis der humanistischen P Psychologie – 896

35.6

Systemische Therapien/Modelle – 897

35.7

 bgrenzung der Psychotherapie von Psychoedukation A und Beratung – 897

35.7.1 35.7.2

 sychoedukation – 897 P Beratung – 898

35.8

Psychotherapieforschung – 898

35.9

Fallbeispiel – 899

35.10 Studien/Evidenzlage – 900 35.11 Ausbildungsmöglichkeiten und Programme – 900 Literatur – 902

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_35

35

890

M. Springer-Kremser

35.1  Einführung

Die ärztlichen Bemühungen, seelische Einflüsse auf körperliches Leid und auf primär psychisch bedingte Erkrankungen zu ergründen und auf Linderung oder Heilung ausgerichtet zu beeinflussen, sind nicht neu, wie die nachstehende Auflistung früher Entwicklungen von Psychotherapie und Medizin, die keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, zeigt: 55 Johann Christian Reil (1759–1813) verfasste die Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen (1803). 55 James Braid (1795–1860), Chirurg, führte die Hypnose ein (1843). 55 Ambroise-Auguste Liébault (1832–1904), praktischer Arzt, und Hippolyte Bernheim (1840–1919), Facharzt für Innere Medizin, Schule von Nancy, transformierten den Hypnotismus zur Suggestionslehre und Suggestionstherapie. 55 Sigmund Freud (1865–1939), Neurologe und Neurophysiologe, begründete die Psychoanalyse, psychoanalytische Psychotherapien. Seither wurden von dieser Lehre der Psychoanalyse zahlreiche psychotherapeutische Methoden abgeleitet. Das folgende Zitat aus einem Vortrag über Psychotherapie aus dem Jahr 1904 ist nach wie vor von bestechender Aktualität:

35 »» „Vielen Ärzten scheint noch heute die Psychotherapie als ein Produkt des modernen Mystizismus und im Vergleiche mit unseren physikalisch-chemischen Heilmitteln, deren Anwendung auf physiologische Einsichten gegründet ist, als geradezu unwissenschaftlich, des Interesses eines Naturforschers unwürdig. Gestatten Sie mir nun, vor Ihnen die Sache der Psychotherapie zu führen und hervorzuheben was an dieser Verurteilung als Unrecht oder Irrtum bezeichnet werden kann. Lassen Sie mich also fürs Erste daran mahnen, dass die Psychotherapie kein

modernes Heilverfahren ist. Im Gegenteil, sie ist die älteste Therapie deren sich die Medizin bedient hat … Auch nachdem die Ärzte andere Heilmittel aufgefunden haben, sind psychotherapeutische Bestrebungen der einen oder der anderen Art niemals untergegangen. Fürs zweite mache ich Sie darauf aufmerksam, dass wir Ärzte auf die Psychotherapie schon darum nicht verzichten können, weil eine andere, beim Heilungsvorgang sehr in Betracht kommende Partei – nämlich die Kranken – nicht die Absicht hat, auf sie zu verzichten … Ein von der psychischen Disposition des Kranken abhängiger Faktor tritt, ohne dass wir es beabsichtigen, zur Wirkung eines jeden, vom Arzt eingeleiteten Heilverfahrens hinzu, meist im begünstigenden, oft auch im hemmenden Sinn. … Ist es dann nicht ein berechtigtes Streben des Arztes, sich dieses Faktors zu bemächtigen, sich seiner mit Absicht zu bedienen, ihn zu lenken und zu verstärken? Nichts andres ist es, was die wissenschaftliche Psychotherapie Ihnen zumutet. Zu dritt, meine Herren Kollegen, will ich Sie auf die altbekannte Erfahrung verweisen, dass gewisse Leiden, und ganz besonders die Psychoneurosen, seelischen Einflüssen weit zugänglicher sind als jeder anderen Medikation …“. (Freud 1904)

Seit den Zeiten Freuds haben sich Ärzte unterschiedlicher Fachrichtungen, Psychiater, aber auch Psychologen verschiedener theoretischer und methodischer Orientierungen mit dem Thema Psychotherapie beschäftigt. So hielt z. B. im Sommersemester 1950 der Neurologe und Psychiater Viktor Frankl an der medizinischen Fakultät der Universität Wien ein Psychotherapeutisches Praktikum ab. An der Wiener Psychiatrisch-Neurologischen Klinik wurde auf Initiative des Psychiaters Hans Hoff zwischen 1961 und 1965 unter der Leitung von Hans Strotzka, Mediziner und Psychotherapeut, ein psychotherapeutisches Lehrinstitut etabliert (Hoff 1961). Diese Ein-

891 Psychotherapeutische Medizin

richtung war bahnbrechend für die Gründung des Instituts für Tiefenpsychologie und Psychotherapie 1971 durch Hans Strotzka, das 2005 in Ordinariat für Psychoanalyse und Psychotherapie an der Medizinischen Universität Wien umbenannt wurde. 35.2  Psychotherapie – Definition

und Grundlagen

Die folgende Definition von Hans Strotzka, der 1982 den Dachverband psychotherapeutischer Einrichtungen in Österreich gegründet hatte, wurde im gesamten deutschen Sprachraum weitgehend übernommen und liegt auch dem österreichischen Psychotherapiegesetz von 1990 zugrunde (BGBl. Nr.  361/1990 ST0151; 7 https://www.­ris.­bka.­gv.­at/GeltendeFassung.­wx e?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer= 10010620&ShowPrintPreview=True. Zugegriffen  

am 20.06.2018) (Strotzka 1994, S. 1).

Psychotherapie - Eine Interaktion zwischen einem oder mehreren Patienten und einem oder mehreren Therapeuten (aufgrund einer standardisierten Ausbildung) zum Zweck der Behandlung von Verhaltensstörungen oder Leidenszuständen (vorwiegend psychosozialer Verursachung) mit psychologischen Mitteln (durch Kommunikation vorwiegend verbal oder auch averbal) mit einer lehr- und lernbaren Technik und auf der Basis einer Theorie des normalen und abnormen Verhaltens.

Diese Definition enthält Klarstellungen und Forderungen: Die erste Klarstellung bezieht sich auf das Setting der Psychotherapie, auf die mögliche Anzahl der am therapeutischen Prozess beteiligten Personen: unterschieden werden EinzelPaar- Familien- und Gruppentherapie: es können also nicht nur 2, sondern mehrere Person an diesem Prozess mitwirken. Die erste Forderung bezieht sich auf die standardisierte Ausbildung: Die Grundzüge dieser für alle in Österreich vom Psychotherapiegesetz anerkannten psychotherapeutischen Schulen und Methoden vorgegebenen Ausbildung orientieren sich an der Ausbil-

35

dungsordnung der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Die für das Lehren und Lernen von Psychotherapie zwingend erforderlichen Inhalte sind (wie der Beruf Psychotherapeut/ Psychotherapeutin) im Psychotherapiegesetz von 1990 festgeschrieben. Es sind dies 55 die Absolvierung einer Selbsterfahrung (z. B. eine Lehranalyse, Einzel- oder Gruppenselbsterfahrung und die Anzahl der mindestens zu absolvierenden Stunden), 55 der Besuch von Theorie- und Technikseminaren, 55 die Supervision selbstbehandelter Fälle. Die Formulierung mit psychologischen Mit-

teln (durch Kommunikation vorwiegend verbal oder auch averbal) verweist darauf, dass

bei manchen psychotherapeutischen Methoden, wie z. B. bei Psychodrama und Gestalttherapie, nicht nur die Sprache als Austausch von Mitteilungen für die Therapie eine entscheidende Rolle spielt. Die lehr- und lernbaren psychotherapeutischen Techniken sollen wohlüberlegt eingesetzt werden und Bestimmtes im Patienten bewirken. Unterschieden werden sechs therapeutische Techniken oder Wirkfaktoren, die bestimmte heilende Kräfte im Patienten induzieren und die an einem bestimmten psychischen Ort  – dem Bewusstsein (BW), dem Vorbewussten (VBW) oder dem Unbewussten (UBW) – wirken. Psychotherapeutische Techniken 55 55 55 55 55 55

Suggestion Persuasion Abreaktion Manipulation Klärung Interpretation

Alle psychotherapeutischen Schulen und Methoden verwenden die Techniken der Suggestion, Persuasion, Abreaktion, Manipulation und  – in gewissen Grenzen  – der Klärung. Die Technik der Interpretation hingegen als spezielle Technik bleibt alleine den psychoana-

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M. Springer-Kremser

lytischen Schulen vorbehalten, da nur bei der psychoanalytischen Methode der Macht des Unbewussten und dessen Einfluss auf Gesundheit und Krankheit in der therapeutischen In­ teraktion eine zentrale Bedeutung zukommt. Die letzte in der Definition erhobene Forderung bezieht sich auf eine Theorie des normalen und abnormen Verhaltens. Diese Theorien haben ihre Wurzeln in jeweils bestimmten, die menschliche Existenz betreffenden psychologischen Vorstellungen. So sollten fast alle vom Psychotherapiebeirat des österreichischen Bundesministeriums für Gesundheit anerkannten psychotherapeutischen Schulen/Methoden einem theoretischen Konzept zugeordnet werden können. Eine Besonderheit der Psychotherapie ist das breite Spektrum ihrer Entwürfe, also der theoretischen Grundlagen. Es gibt nicht die Psychotherapie, d.  h., Psychotherapie fußt nicht auf einheitlichen theoretischen und methodischen Grundzügen, sondern besteht aus vielen Paradigmen. Als Bezugssystem sind vier wesentliche Theorien zu verstehen: Bezugssystem für die Cluster psychotherapeutischer Methoden 55 55 55 55

35

Psychoanalytische Psychologie Humanistische Psychologie Lerntheorie Systemtheorie

kRahmenbedingungen

Darunter werden die räumlichen, zeitlichen und durch das jeweilige Verfahren selbst gegebenen Bedingungen verstanden. Diese Bedingungen sollen einen psychischen Raum sowohl eröffnen als auch begrenzen helfen. Innerhalb dieses psychischen Raums soll sich die Psychotherapie abspielen, auftretende Schwierigkeiten und Probleme, die sich durch die Interaktion von Patient und Therapeut ergeben, sollen aufgefangen und bewältigt werden. Die konkreten Rahmenbedingungen, das Setting im eigentlichen Sinn (Zeiten, Bezahlungsmodus, eventuelle Dauer etc.), werden vor Beginn einer Psychotherapie vereinbart.

kOrientierung

Dem Patienten werden – ebenfalls vor Beginn der Therapie – die Zielsetzungen und die ­technischen Elemente der jeweils in Anwendung kommenden psychotherapeutischen Methode erklärend hervorgehoben. Dies ist ein Recht des Patienten. Es gibt aber Prinzipien, über die in allen psychotherapeutischen Schulen/Methoden Einigkeit besteht: Psychotherapeutische Prinzipien 55 Die Bedeutung der psychotherapeutischen Diagnostik 55 Die zentrale Bedeutung der Qualität der Beziehung zwischen Patient und Therapeut – inklusive einer empathischen Haltung für die Heilungs- und Besserungschancen mittels Psychotherapie 55 Die Einhaltung der ethischen Prinzipien (s. oben, Psychotherapiegesetz)

zz Anforderungen an eine Diagnostik, aus der klar die Indikationsstellung für Psychotherapie als Behandlung der Wahl hervorgeht

Neben der an den Kategorien der diagnostischen Manuale orientierten klinischen Zuordnung wer­den in der psychotherapeutischen Literatur folgende Faktoren als für die Indikation berücksichtigenswert angegeben und sind daher im p ­ sychotherapeutischen Erstinterview zu erheben: Inhalte des psychotherapeutischen Erstinterviews 55 Aktuelle Beschwerden 55 Krankheitsanamnese inkl. körperliche Erkrankungen/Beschwerden 55 Persönlichkeitsentwicklung, biographische Anamnese 55 Affektive Kompetenz 55 Kognitive Kompetenz 55 Motivationale Faktoren 55 Psychosoziale Umweltvariablen 55 Schweregrad der Störung

893 Psychotherapeutische Medizin

Die Übernahme von Elementen des medizinisch-diagnostischen Modells legt auch die Annahme einer differenziellen Diagnostik im Bereich der Psychotherapie nahe, d.  h. den Schluss, eine bestimmte Therapiemethode sei für eine bestimmte Störung besser geeignet als eine andere. Dies trifft auf das Thema der schweren Persönlichkeitsstörungen, Per­ versionen und psychotischen Strukturen zu, da die gewählte Schule/Methode über ein theoretisches Konzept zur Ätiologie dieser Störungsbilder verfügen muss. Neue Studien zeigen klar die überlegene Wirksamkeit psychodynamischer Langzeittherapie bei komplexen psychischen Störungen (Leichsenring und Rabung 2009). Die Behandlung von Menschen in bestimmten Lebenszyklen  – Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen, Psychotherapie im Alter – erfordern zusätzliche Qualifikationen. Für die Indikationsstellung zur Psychotherapie muss das Erstinterview eine Antwort auf die Frage geben, welches psychotherapeutische Setting (welche Rahmenbedingungen, welche Methode) für eine bestimmte Person in einer bestimmten Situation optimal/angemessen ist. Im Folgenden werden die die wichtigsten Paradigmen vorgestellt. 35.3  Psychoanalyse/

psychoanalytische Psychotherapien

Dieses Paradigma wird ausführlich dargestellt, da viele Elemente der psychoanalytischen Theorien in andere psychotherapeutische Schulen und Methoden eingeflossen sind  – meist ohne dass dieser Bezug klar dargestellt wird. Seit dem Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Budapest 1918 wird von Psychoanalytikern nicht nur die Liegungsanalyse, auch Standardmethode bezeichnet, 3- bis 4-mal wöchentlich auf der Couch praktiziert, ­sondern auch 2-mal (seltener einmal) wöchentlich ­ psychoanalytische Psychotherapie. Dazu kamen mit der Zeit weitere Modifikationen wie Fokaltherapie, stützende psychoanalytische

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Therapie etc. (Schuster und Springer-Kremser 1998). In den ausführlichen Falldarstellungen  – einschließlich Epikrisen  – von Patientinnen, welche unter Konversionssymptomen litten, beschreibt Freud akribisch seine Annäherung an eine Behandlungstechnik, die den Patientinnen viel Raum für deren verbale Darstellung ihrer Leiden und Gefühle überlässt. Die Aktivitäten Freuds beschränkten sich auf die Heilung fördernde Kommentare, vor dem Hintergrund seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse. Die in den Studien über Hysterie so erstmals dargestellte Methode gilt als Beginn der talking cure – des heilenden Gesprächs (Freud und Breuer 1991). Psychoanalytische Therapien - Spezielle Verfahren zur Untersuchung seelischer Vorgänge, die sonst kaum zugänglich sind und deren Erforschung therapeutischen Zielen dient. Die theoretischen Säulen sind die topographische oder Triebtheorie, die Theorie der Struktur der Persönlichkeit (Strukturtheorie) und die Theorie der Objektbeziehungen, d. h. der Beziehungen zu wichtigen Anderen.

Die topographische Theorie (nach griech. topos: Ort) nimmt drei Orte des seelischen Geschehens an: 55 das Bewusstsein, 55 das Vorbewusste, 55 das Unbewusste. Die Bedeutung des Unbewussten und dessen Zeitlosigkeit für unser Denken und Handeln ist auch bei den anderen therapeutischen Schulen und Methoden außer Diskussion, wird jedoch nicht direkt für die Heilbehandlung genutzt. 35.3.1  Elemente

Elemente der psychoanalytischen Psychotherapie und Psychoanalyse (im Unterschied zu Techniken) 55 Übertragung und Gegenübertragung 55 Abstinenz oder technische Neutralität 55 Widerstand

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M. Springer-Kremser

In jede psychotherapeutische Diagnostik und in jede Psychotherapie fließen spezielle Erfahrungen ein. Die Erwartungen, die einerseits die Patienten und andererseits die Psychotherapeuten in ihre erste Begegnung mitbringen, sind von Beziehungsmustern der Vergangenheit, also von Beziehungsmustern, die zu den wichtigen Personen der Kindheit bestanden, geprägt, die aber auf die gegenwärtige Situation übertragen werden. Das heißt, sie werden in dieser Situation wirksam. Diese Übertragung von Gefühlen hat wesentlichen Einfluss auf jede neue Beziehung, und zwar darauf, 55 wie neue Situationen wahrgenommen werden (a), 55 wie sie gedeutet werden (b) und 55 wie sie durch das Verhalten der Beteiligten beeinflusst werden (c).

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Häufig ruft das eigene Verhalten als Ausdruck von Vermutungen nämlich beim Gegenüber eine Reaktion hervor, die den eigenen Erwartungen entspricht. Ein Beispiel für (a) wäre eine Frau, die sich für die Probleme ihres Kindes in einem Maße verantwortlich fühlt, dass sie meint, Psychotherapeuten könnten sie nur kritisieren oder gar beschuldigen. Ein Beispiel für (b) wäre ein Patient, der glaubt, sein Arzt habe sich wegen seiner übertriebenen Forderungen zurückgezogen. Ein Beispiel für (c) könnte ein schwer depressiver Patient sein, der für seine phantasierten Missetaten Strafe erwartet und daher den untersuchenden Arzt bzw. Psychotherapeuten so lange provoziert, bis dieser am Ende tatsächlich verbal in irgendeiner Form aggressiv wird und der Patient sich so bestraft fühlen kann. >> Von größter Wichtigkeit ist es, sich über das Wesen übertragener Gefühle im Klaren zu sein. Das Bewusstsein, dass diese Gefühle aus der Vergangenheit übertragen werden, hilft, bestimmte Situationen objektiver zu betrachten.

Der Bedeutung von Übertragung und Gegenübertragung für ein diagnostisches Erstgespräch und später für den laufenden psycho-

therapeutischen Prozess haben sich auch andere psychotherapeutische Schulen, wie z. B. die kognitive Verhaltenstherapie, angeschlossen und dieses Konzept von den Psychoanalytikern übernommen.

Übertragung Übertragung - Bezeichnet in psychoanalytischen Therapien den Vorgang, durch den unbewusste Wünsche an bestimmte Personen im Rahmen eines bestimmten Beziehungstyps, in diesem Fall einer Psychotherapie, der sich mit diesen Personen ergeben hat, aktualisiert werden. Es handelt sich dabei um die Wiederholung kindlicher Muster, die mit einem besonderen Gefühl von Aktualität erlebt werden.

Die Entdeckung dieses Phänomens der Übertragung ist Sigmund Freud (Freud und Breuer 1991) zu verdanken. Er beobachtete, dass Patienten mit bestimmten Formen von psychischen Problemen (Neurose), sich häufig in ihren Arzt verliebten, und sah darin zunächst eine Belastung und ein Hindernis für die analytische und therapeutische Arbeit. Später aber kam er zu der Schlussfolgerung, dass hier Patientinnen Gefühle wiedererlebten, die sie früher gegenüber jemand anderem gehabt hatten, z. B. als Kind gegenüber einem Elternteil. Diese Gefühle hatten zum Konflikt geführt, waren daher verdrängt worden und fanden Ausdruck in der derzeitigen Erkrankung, den Symptomen. In der psychoanalytischen und psychotherapeutischen Situation traten sie wieder auf. Wir wissen, dass alle früheren Konflikte, wie Hass, Eifersucht und Rivalität, in die Beziehung zum Psychotherapeuten einfließen. Dies geschieht auch in anderen Beziehungen: zwischen Lehrern und Schülern, Ärzten und Patienten, Vorgesetzen und Untergebenen, im Berufsalltag. In der Regel spielen sie zwar keine dominante Rolle, sie können jedoch sehr wohl Adhärenz, Therapieerfolge oder die Arbeitsleistung beeinflussen.

Gegenübertragung Gegenübertragung - Unbewusstes Phänomen aufseiten des Behandlers. Nicht anders als der Patient bringt auch der Arzt/Psychotherapeut unbewusst Erwartungen, Befürchtungen und Probleme aus der

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eigenen Vergangenheit mit. Diese werden durch die analytische Arbeit aktiviert und auf den Patienten übertragen. Dadurch kann es zu einer Beeinträchtigung der therapeutischen Handlungsfähigkeit kommen. Sieht der Arzt z. B. in einer Patientin bestimmte Anteile der eigenen Mutter, erlebt er sich vielleicht in der Rolle eines kleinen Kindes, das dem Erwachsenen einfach nicht helfen kann. Selbstreflexion und Kontrolle der Gegenübertragungsreaktion sind daher wesentliche Aufgaben.

Supervision und Selbstprüfung sind erforderlich, um herauszufinden, inwieweit es sich um spezielle Probleme einzelner Patienten handelt, oder ob es die Begegnung mit dem Patienten ist, die beim Arzt eigene ungelöste Probleme aktiviert. >> Im Fall von Gegenübertragung wird die ärztliche und/oder psychotherapeutische Wahrnehmung gestört, die Interaktion mit dem Patienten beeinträchtigt und damit der Behandlungserfolg infrage gestellt.

Abstinenz/technische Neutralität Technische Neutralität - Aus der Beobachtung der Problematik der Gegenübertragungsphänomene ergab sich die Forderung nach technischer Neutralität (Cremerius 1984). Diese verlangt vom Therapeuten, Impulse und Gefühle, gleich welcher Art, zunächst zu zügeln und dahingehend zu prüfen, inwieweit sie aus der eigenen Konflikthaftigkeit erwachsen oder ob sie Anzeichen von unbewussten Prozessen im Patienten sind, und alles, was der Therapeut sagt, daraufhin zu erforschen, ob es im Interesse des Patienten oder im eigenen Interesse geschieht, d. h. aus eigener Konflikthaftigkeit erwächst und der Befriedigung eigener Bedürfnisse dient.

Der deutsche Psychiater/Psychoanalytiker Johannes Cremerius definiert die technische Neutralität als Forderungen, die an psychoanalytische Therapeuten gestellt werden (Cremerius 1984). Die Abstinenz verlangt vom Therapeuten, 55 Impulse und Gefühle, gleich welcher Art, zunächst zu zügeln und dahin zu prüfen, inwieweit sie aus der eigenen Konflikthaftigkeit erwachsen oder ob sie Anzeichen von unbewussten Prozessen im Patienten sind,

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55 alles, was er sagt, daraufhin zu erforschen, ob es im Interesse des Patienten oder im eigenen Interesse geschieht, d. h. aus eigener Konflikthaftigkeit erwächst oder der Befriedigung eigener Bedürfnisse dient.

Widerstand Widerstand - Aus psychoanalytischer Sicht ein Abwehrmechanismus des Patienten, ausgedrückt in der Übertragung, der gegen Einflussnahme des Therapeuten gerichtet ist und den Therapieerfolg unbewusst sabotieren will. Widerstandsphänomene können therapeutisch genutzt werden und letztlich für den Fortschritt der Behandlung von Bedeutung sein.

Es ist also wichtig, den Widerstand als solchen anzunehmen, und die Formulierung „sich am Widerstand entlangtasten“ sagt am besten aus, wie damit umgegangen werden soll. Der Widerstand kann sich auf Gedanken („Alles, was Sie sagen da ist Unsinn, Sie verstehen mich nicht!“) und auf Gefühle (der Patient reagiert in der Sitzung wütend, zornig, ohne dass es dazu wirklich einen Anlass gäbe) beziehen. Schließlich kann sich der Widerstand auch im Verhalten manifestieren: Ohne nachvollziehbaren Grund kommen Patienten immer wieder zu spät oder sagen Sitzungen ab. Es mag befremdlich klingen, aber so sehr z.  B. depressive Patienten ihren Zustand mit Sicherheit schlecht ertragen, sich mit Sicherheit eine Besserung wünschen, so sehr hängen sie auch an dieser Situation, und immer wieder, ohne dass sie das bewusst möchten, arbeitet irgendetwas in ihnen gegen eine Heilung, gegen eine Besserung. Es scheint so zu sein, als ob das vertraute Leid leichter zu ertragen sei als die Unsicherheit, was einen dann erwarten möge. Auch scheint es offensichtlich so zu sein, dass viele Depressive die Tatsache, dass es auch gute Tage im Leben gab, völlig vergessen haben. Die Macht der Schuldgefühle und die daraus resultierende Selbstbestrafungsneigung depressiver Patienten sollen nicht unterschätzt werden. Die Summe aller dieser, teils bewussten, teils auch unbewussten Einstellungen und Aktivitäten werden als Widerstand bezeichnet (Springer-Kremser und Springer 2013).

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M. Springer-Kremser

35.3.2  Wirkung von

psychoanalytischer Psychotherapie am Beispiel Depression

55 Minderung von Angst und dadurch Abschwächung von Schuldgefühlen, von Selbstbestrafungsneigungen und auch von Aggression 55 Ermutigung zu „normaler“ Trauer, denn: Major Depression ist eine Form von pathologischer Trauer 55 Abgrenzung alter, schmerzlicher Erfahrungen von gegenwärtigen Schicksalsschlägen 55 Erinnern an beim Patienten vorhandene, früher schon genutzte Fähigkeiten/Bewältigungsstrategien 55 Aufspüren von „Nestern“ von Gefühlswärme in der persönlichen Biographie 55 Zur Verfügung stellen eines äußeren und inneren (seelischen) Raums und von Zeit, damit die Patienten alle Wut, Zerstörungsimpulse, Ängste und auch ihren Triumph (mit Worten) zeigen können, ohne befürchten zu müssen, den Therapeuten dadurch zu verletzen oder zu vertreiben 35.4  Verhaltenstherapie –

kognitive Verhaltenstherapie

Verhaltenstherapie - Die Verhaltenstherapie gründet

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auf der Lerntheorie und damit auf der Annahme, dass Verhalten – auch „krankes“ oder „gestörtes“ – erlernt ist und somit auch wieder verlernt werden kann. Von ihrer anfänglich rein lerntheoretischen Fundierung hat sich die Verhaltenstherapie eher entfernt und integriert viele andere psychologische Ansätze wie Entwicklungspsychologie, Kommunikations- und Sozialpsychologie und auch solche der psychoanalytischen Psychologie. In der Verhaltenstherapie wird zusätzlich mit speziellen Techniken wie Selbstsicherheitstrainings und assoziativem Lernen (klassisches Konditionieren, operantes Konditionieren, aversives Lernen) gearbeitet. Von besonders aversiven Techniken hat sich diese Therapieform distanziert.

Kognitive Verhaltenstherapie - In der derzeit überwiegend angewandten kognitiven Verhaltenstherapie (Aigner und Lenz 2010) wird auch kognitiven und emotionalen inneren Prozessen Beachtung geschenkt.

In einem Trainingsprogramm, das depressive Patienten dahingehend schult, „achtsam“ zu werden für Signale, die der Körper aussendet und die erhöhte Stressbereitschaft anzeigen (z.  B.  Blutdruckanstieg), werden die Patienten angehalten, so weit wie möglich, die als belastend erlebte Situation zu beeinflussen. Wenn dies unmöglich zu sein scheint  – was bei gehemmten Depressiven oft der Fall ist –, sollten als nächster Schritt die Bewertung der Situation, z. B. als „negativ“, und die dabei verspürten Gefühle wahrgenommen werden. Die Patienten sind angehalten oder lernen im Rahmen der Therapie, die Bewertung zu hinterfragen und damit das auf die Bewertung bezogene Verhalten zu verändern. 35.5  Psychotherapien auf

Basis der humanistischen Psychologie

Humanistische Psychologie - Eine intellektuelle und soziale Bewegung innerhalb der Psychologie, die eine Erneuerung des psychologischen Denkens im Geist des Humanismus und Existenzialismus anstrebt. In den hierzu zu zählenden psychotherapeutischen Richtungen werden das Menschenbild und die Haltung des Therapeuten als Wirkfaktoren gesehen: Die dialektische Spannung zwischen Autonomie und Beziehungsorientierung ist von zentraler Bedeutung. Klienten-/personenzentrierte Psychotherapie, Gestalttherapie, Psychodrama, katathym-imaginatives Bilderleben, Logotherapie und Existenzanalyse sind dieser Richtung zu zuordnen.

Carl Rogers, der Begründer der Psychotherapie hatte eine theologische und eine psychoanalytische Ausbildung. Er legte im Rahmen der Psychotherapieausbildung besonderen Wert auf Tonbandaufnahmen von Therapiesitzungen und die anschließende Diskussion des Ablaufs der Therapiesitzung mit dem Therapeuten anhand dieser Tonbandaufzeichnungen (im Rahmen der Supervision). Ein zentrales Anliegen dieser Therapiemethode ist es, den Patienten zu helfen, gemachte Erfahrungen in die eigene Person zu integrieren, das „Selbst“ mit diesen Erfahrungen in Übereinstimmung zu bringen.

897 Psychotherapeutische Medizin

Bei depressiven Patienten würde dies z. B. bedeuten, den Patienten durch bestimmte Techniken wie Spiegeln zu helfen, die Verluste als Ursache der krankmachenden Verleugnung von Trauer in das „Selbst“ einzuordnen. 35.6  Systemische Therapien/

Modelle

Systemisch-psychotherapeutische Modelle - Der systemisch-psychotherapeutische Zugang beruht auf unterschiedlichen Quellen: einem kommunikationstheoretischen Zugang nach Gregory Bateson (Bateson 1972) und Paul Watzlawik et al. (1969) (Palo Alto, Kalifornien), einem psychoanalytischen Zugang nach Helm Stierlin (Stierlin 1978), einem pragmatisch-humanistischen Zugang nach Virginia Satir (Satir 1973) sowie einem kinderpsychiatrisch orientierten Zugang nach Salvatore Minuchin (Minuchin 1978). Auf diesen theoretischen Ansätzen beruhen Beschreibungsmodelle für Beziehungs- und Familiensysteme, aber zunehmend auch für komplexere Systeme. Das Aufzeigen pathogener Kommunikationsabläufe im System, z. B. mit einem depressiven Familienmitglied, soll allen Beteiligten dabei helfen, wahrzunehmen und zu verstehen, welche Interaktionsmuster eher depressionsverstärkend oder eher -abschwächend wirken könnten, und somit das Zusammenleben für alle Beteiligten erleichtern.

Die Mailänder Psychoanalytikerin Mara Selvini-Palazzoli und ihre Mitarbeiter haben für die Behandlung von schwer magersüchtigen Patientinnen und deren Familien ein Modell entwickelt, welches Elemente der Psychoanalyse mit systemischen Ansätzen kombiniert (Selvini-Palazzoli 2003). 35.7  Abgrenzung der

Psychotherapie von Psychoedukation und Beratung

>> Da der Begriff der Psychotherapie keineswegs nur entsprechend der in 7 Abschn. 35.2 gegebenen Definition verwendet wird, sind die Abgrenzungen von Psychoedukation und von Beratung wichtig.  

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35.7.1  Psychoedukation Psychoedukation - Der Begriff ist abgeleitet vom lateinischen Wort educare – Patienten und Angehörige sollen aus dem Zustand der Unwissenheit und der Unerfahrenheit „herausgeführt“ werden. Psychoedukation ist ganz allgemein der Versuch, komplizierte medizinisch-wissenschaftliche Fakten so zu über-­ setzen, dass sie von betroffenen Patienten und deren Angehörigen gut verstanden werden und bedeutet somit die therapeutisch angeleitete Begleitung von Patienten und Angehörigen auf ihrem Weg zu mehr Fachwissen und mehr Überblick über die Erkrankung, die erforderlichen Therapiemaßnahmen und die möglichen Selbsthilfestrategien. Das Verstehen-Können der eigenen Erkrankung ist die Grundvoraussetzung für den selbstverantwortlichen Umgang mit der ­Erkrankung und ihre erfolgreiche Bewältigung. In ­der täglichen Praxis werden die psychoedukativen Gruppen vielfach unter anderen Bezeichnungen angeboten: Sie heißen Info-Gruppe, Psychose-Gruppe, Angehörigen-Gruppe etc.

Psychoedukation hat ihren Ursprung in der Verhaltenstherapie und wurde ursprünglich für Patienten des schizophrenen Formenkreises und für Patienten mit Abhängigkeitserkrankungen entwickelt (D’Amelio et al. 2006). In Wien wird regelmäßig Gruppen-Psychoedukation von der Österreichischen Gesellschaft für Bipolare Erkrankungen (ÖGBE) angeboten. Bis dato wird von entsprechenden Anbietern keine spezielle Ausbildung für Psychoedukation gefordert. Meist wird Psychoedukation stationären Patienten (und deren Angehörigen) im Kontext psychiatrisch-medikamentöser Behandlung angeboten. Wichtige Elemente in der Psychoedukation 55 Informationsvermittlung (Symptomatik der Störung, Ursachen, Behandlungskonzepte etc.) 55 Emotionale Entlastung (Verständnis fördern, Erfahrungsaustausch mit anderen Betroffenen, Kontakte etc.) 55 Unterstützung einer medikamentösen oder psychotherapeutischen Behandlung, indem die Kooperation

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zwischen Behandler und Patient (Adhärenz) gefördert wird. 55 „Hilfe zur Selbsthilfe“ (z. B. Trainieren, wie Krisensituationen frühzeitig erkannt werden und welche Schritte dann unternommen werden können) >> Psychoedukation kann in einzelnen Fällen parallel zur Psychotherapie indiziert sein, ist jedoch niemals Ersatz für eine Psychotherapie.

kLink

Neurologen und Psychiater im Netz. Das Informationsportal zur psychischen Gesundheit und Nervenerkrankungen (Textautoren: Dr. med. Josef Bäuml und Dipl.-Psych. Dr. Gabi Pitschel-Walz, 2005): 7 https://www.­

55 Verständnis der Notwendigkeit von Teamentscheidungen und Inanspruchnahme dieser – sofern möglich. Beratungstechniken 55 Stellen von offenen Fragen, d. h. Fragen, auf die mit ganzen Sätzen geantwortet werden muss und nicht nur mit „Ja“ oder „Nein“ 55 Zirkuläres Fragen, z. B. ein heikles Thema kurz verlassen und „harmlose“ Fragen einschieben 55 Manipulation: den Patienten aktiv an eigene erfolgreich angewandte Bewältigungsstrategien aus der Vergangenheit erinnern 55 Stellen von Fragen im Konjunktiv: „Könnte es sein, dass …?“



neurologen-und-psychiater-im-netz.­o rg/startseite/. Zugegriffen am 20.06.2018.

35.7.2  Beratung Beratung - Anwendung intelligenter, geschulter Zuwendung zu einem Individuum oder einer Gruppe, die für die persönliche Entwicklung oder zur Problemlösung Hilfe suchen. Intelligente Zuwendung bedeutet Sachwissen um die Beratungsinhalte (Art der Erkrankung, Verlauf, prognostische Fragen etc.), geschulte Zuwendung bedeutet Kenntnisse in Beratungstechnik. Ein Ausbildungsangebot wahrzunehmen, ist nicht gefordert, aber ratsam.

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kAnforderungen an den Berater

55 Fachwissen aus dem zu beratenden Bereich, 55 Fähigkeit, eine „Containerfunktion“ auszuüben, d. h., negative Affekte der Patienten wie Wut, Trauer zuzulassen und aufzufangen, 55 Beherrschen von Beratungstechniken (Fertigkeiten), 55 Vertrautheit mit dem eigenen Wertesystem, um das eventuell „fremde“ Wertesystem des Patienten zu ertragen, ohne das eigene bedroht zu glauben,

kZiele der nondirektiven Beratung

Die Patienten sind zu befähigen, möglichst informierte, autonome Entscheidungen zu treffen und sich mit diesen zu identifizieren und so viel Verantwortung wie möglich für sich selbst zu übernehmen. 35.8  Psychotherapieforschung

Psychotherapieforschung bedeutet die Anwendung geeigneter wissenschaftlicher Methoden, um psychotherapeutisches Vorgehen zu beschreiben, zu erklären und zu evaluieren (Orlinsky et al. 2004). Universitätskliniken und -institute, extrauniversitäre Forschungseinrichtungen und die Fachspezifika (Wiener Psychoanalytische Vereinigung etc.) führen Forschungsprojekte durch und publizieren in Peer-Review-Fachzeitschriften. Die Geschichte der Psychotherapieforschung beginnt mit Sigmund Freud. kPhase der Fallgeschichte

Beginn in der ersten Hälfte des 20 Jahrhunderts mit Freuds Einzelfalldarstellungen („den Patienten eine Sprache verleihen“).

899 Psychotherapeutische Medizin

kPhase der Legimitationsforschung

Beginn in den 1970er-Jahren; Frage nach der allgemeinen Wirksamkeit von Psychotherapie, systematische, quantitative Reviews, Metaanalysen, die auf Effektstärken für den Behandlungserfolg beruhen. kPhase der Prozess-Ergebnis-Forschung

Beginn in den 1970er- und 1980er-Jahren; Frage: was wirkt wann und auf welche Weise? Unterschieden werden unspezifische Wirkfaktoren wie Zuhören, Empathie etc. und spezifische Wirkfaktoren, die genuin einer Technik/ Intervention zuzuschreiben sind, z. B. Desensibilisierung, Interpretation von Übertragung des dominanten Affekts. Zu den aktuellen Methoden der Prozess-Ergebnis-Forschung gehören z. B. Videoaufzeichnungen von Therapiesitzungen und die Auswertung der Aufnahmen nach unterschiedlichen Gesichtspunkten oder zu Supervisionszwecken. Für die Weiterentwicklung der übertragungsfokussierten Psychotherapie (TFP) (Clarkin et  al. 2008), einer speziellen Psychotherapie für Patienten mit Borderline-­Persönlichkeitsstörung, in die auch die Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie der Medizinischen Universität eingebunden war, wurde diese sehr aufwändige Forschungsmethode angewandt. 35.9  Fallbeispiel zz Patientin, 50 Jahre, ängstlich vermeidende Persönlichkeitsstörung (ICD-10-Diagnose: F60.6)

Frau M. sucht die Praxis für Psychiatrie und Psychoanalyse auf Empfehlung einer entfernten Bekannten aus eigener Initiative auf. Sie ist sehr schlank, eher mager, beladen mit Rucksack und Reisetasche: als Grundschullehrerin müsse sie die Hefte der Schüler zwecks Korrektur mit nach Hause nehmen. Vieles in ihrem Leben sollte anders, weniger anstrengend sein, aber sie wisse nicht, wie sie etwas verändern könne. Vor Jahren hätte sie eine Psychotherapie versucht, diese aber nach wenigen Monaten als sinnlos abgebrochen.

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Die selbstauferlegten Belastungen, die Neigung zu Unterwerfung, zu Askese, sieht die Patientin intellektuell kritisch, der ihre Berichte begleitende Affekt imponiert  – entgegen zu erwartenden aggressiven Reaktionen  – farblos, andere schützend, entschuldigend, sehr zurückhaltend. Dies ist ein Hinweis auf den Abwehrmechanismus „Wendung gegen die eigene Person“: d.  h.‚ „ich schlage mich anstelle des bösen Anderen“. Sie lebt allein, ist einsam, isoliert. Seit fast 30 Jahren hat sie regelmäßig brieflichen Kontakt mit ihrer im Ausland lebenden Jugendliebe. Gegenseitige Besuche finden höchst selten statt (alle paar Jahre). Sie hatte nie gewagt, diesen Mann ihren Eltern vorzustellen. kTherapie

Die Patientin kommt zu den Sitzungen (2 × 50 min/Woche) nie zu spät. Die Art und Qualität der Objektbeziehungen (Beziehungen zu wichtigen Anderen) – die Therapeutin eingeschlossen – sind durch reiferen Sadomasochismus gekennzeichnet; kurze, höflich als Fragen verkleidete unangemessene Sticheleien zeigen das. Diese werden von der Therapeutin aufgegriffen, und sie klärt, dass diese Bemerkungen eher nicht ihr, sondern einer für das Leben der Patientin wichtigeren Person gelte. Das zögernde Akzeptieren dieser Interpretation hilft Frau M. erst, zu schildern, was man (die Eltern) ihr alles angetan hatte und wogegen sie sich nie zur Wehr setzen konnte. Es dauert ca. 1 Jahr, bis sie die leidvollen und traumatisierenden Inhalte ihrer Biographie, auch begleitet von „passenden“ heftigen Emotionen erzählen kann. Ermöglicht wird dies der Patientin durch das Containing, ein psychisches „Gehaltenwerden“ seitens der Therapeutin: klar präsent sein, nicht zu vertreiben sein, nicht werten und damit als schützend erlebt werden. Um diese Funktion auszuüben ist es wichtig, sich keinesfalls in der Rolle der „besseren Mutter“ zu sehen. Ein solcher Gegenübertragungsfehler würde die Therapie ruinieren. kErgebnis

Allmählich gelingt es Frau M., die Lebensumstände für sich angenehmer zu gestalten, als

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unzumutbar Empfundenes zu verweigern, ausgewählten Anderen aktiv entgegenzukommen, worauf diese – für die Patientin verblüffend – mit sozialer Nähe und Wärme reagieren. Nach ca. 2½ Jahren wird die gemeinsame Arbeit erfolgreich abgeschlossen. 35.10  Studien/Evidenzlage zz Zur Evidenzlage von Psychotherapie am Beispiel Depression

Zum Nachweis der Wirksamkeit von psychoanalytischer/psychodynamischer Psychotherapie im Vergleich mit medikamentöser Therapie und mit Verhaltenstherapie wird der Vergleich von ­Effektstärken herangezogen. Mit der Effektstärke wird in der Psychotherapieforschung der Unterschied in den Ergebnissen zwischen den Patienten der behandelten Gruppe, also z. B. der Gruppe, die mit Psychopharmaka oder einer bestimmten psychotherapeutischen Methode behandelt wird, und einer Kontrollgruppe festgestellt. kEffektstärken bei antidepressiver Medikation als Bezugszahlen

Fluoxetin (Prozac): 0,26, Citalopram: 0,24, Effektstärke der antidepressiven Medikation im Schnitt 0,31 (Turner et al. 2008). kEffektstärken bei psychodynamischen Psychotherapien

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55 Eine Metaanalyse von 23 Therapien brachte, verglichen mit den Kontrollgruppen, Effektstärken von ca. 0,97, wobei die Effektstärke 9 Monate nach Beendigung der Therapie auf 1,51 anstieg – im Gegensatz zu anderen Therapien (wie der kognitiven Verhaltenstherapie z. B. bei der Diagnose „Depression und Angst kombiniert“), bei welchen nach Beendigung der Psychotherapie die Effektstärke deutlich abfällt (Veröffentlichung der Cochrane Library). 55 Eine Metaanalyse von Leichsenring et al. (2004) über Studien zu psychodynamischen Kurzzeittherapien im Zeitraum

zwischen 1970 und 2004 erbrachte eine durchschnittliche Effektstärke von 1,17; ca. 13 Monate nach Beendigung der Therapien stiegt diese auf 1,57 an. zz Zur Evidenzlage von Psychotherapie am Beispiel Persönlichkeitsstörungen

Es bestehen besonders auffällige Unterschiede hinsichtlich der Nachhaltigkeit von Effektstärken: eine Metaanalyse, die 11 kognitive Verhaltenstherapien einschloss, brachte eine unveränderte durchschnittliche Effektstärke nach maximal 13 Monaten von 1,0; für psychodynamische Therapien nach 1,5 Jahren hingegen von 1,46. Ein Vergleich von Langzeit- mit Kurzzeitbehandlungen mit psychodynamischer Psychotherapie bei dieser Diagnose zeigt deutlich höhere Effektstärken für letztere und einen Anstieg dieser 23 Monate nach Therapieende. Der konsistente Trend in Richtung steigender Effektstärken nach Abschluss der psychodynamischen Psychotherapie bedeutet, dass diese Therapie psychologische Prozesse mobilisiert, welche nach ihrer Beendigung weitere Veränderungen in Gang setzt (Leichsenring und Rabung 2009). 35.11  Ausbildungsmöglichkeiten

und Programme

Die Psychotherapie-Ausbildung ist in Österreich durch das am 01.01.1991 in Kraft getretene Psychotherapiegesetz (BGBl. Nr. 361/1990) geregelt. Sie unterliegt einem kontinuierlichen Entwicklungs- und Wandlungsprozess. Derzeit gibt es exklusiv für Ärzte und Ärztinnen in Österreich Ausbildungsmöglichkeiten über die PSY-Diplome der österreichischen Ärztekammer. Zusätzlich bestehen Ausbildungsmöglichkeiten an Privatuniversitäten, in privaten Vereinen und universitären Lehrgängen, die auch für andere Quellenberufe offen sind. Für die einzelnen Programmschritte ist jeweils ein Mindestmaß an Stunden vorgegeben. Die Qualität der Ausbildung ist auch von den Lehrtherapeuten und deren Ausbildung abhängig – dies gilt für PSY III und für die Fachspezifika.

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55 Diplom der österreichischen Ärztekammer Arzt für psychotherapeutische Medizin (PSY III). Die Ausbildungsmöglichkeiten und die Programme sind im Internet unter 7 https://www.­arztakademie.at/ zu finden. Dort sind alle approbierten Lehrinstitutionen, die wesentlichen Inhalte und die organisatorischen Abläufe für PSY III angeführt (s. unten, Beispiel). 55 Psychotherapieausbildung in einem Fachspezifikum, d. h. in einer vom Bundesministerium für Gesundheit anerkannten psychotherapeutischen Schule/Methode. Informationen darüber bietet der Österreichische Bundesverband für Psychotherapie (7 https://www.­psychotherapie.­at/). Zur Beratung des Bundeskanzlers in sämtlichen Angelegenheiten des Psychotherapiegesetzes ist ein Psychotherapiebeirat beim Bundesministerium für Gesundheit eingerichtet.  



zz Beispiel: PSY III-Lehrgang Psychoanalytische Therapie

Es handelt sich um ein Angebot der Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien. kAusbildungsziel

Erkennen von krankheitsrelevanten innerpsychischen Konflikten und strukturellen Defiziten unter Berücksichtigung unbewusster Prozesse in der Interaktion zwischen Patient und Therapeut sowie Erlernen entsprechender psychoanalytischer Techniken zur Behandlung psychischer Störungen. kAufbau

55 40 AE allgemeine Theorie, 40 AE Ergänzungsfächer, 120 AE methodenspezifische Theorie, 80 AE Gruppensupervision 55 1. Jahr: Entwicklungspsychologie und psychoanalytische Diagnostik 55 2. und 3. Jahr: psychoanalytische Behandlungstechnik Termine 14-tägig am Abend (4 AE). 55 Einzelsupervision (40 AE) 55 Gruppen-Selbsterfahrung (100 AE)

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55 Einzelselbsterfahrung: (50 AE, privat zu bezahlen) 55 Balint-Gruppe/Supervision (40 AE) kKosten

Etwa 10.000.– € kZusätzliche Inhalte

40 AE Theorie, 40 AE in einem Zusatzfach und 60 AE Balint-Gruppe/Supervision können in Lehrgängen im Rahmen der Psychotherapiewoche in Bad Hofgastein absolviert werden (und sind separat zu bezahlen). Mindestteilnehmerzahl: 10. kInformation

Sekretariat der Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien Währinger Gürtel 18–20 A-1090 Wien Tel. + 43 1 40400 30610 zz Sigmund Freud Privatuniversität

Hier wird ein Studium Psychotherapie angeboten (7 https://www.­sfu.­ac.­at/studien/).  

Zusammenfassung 55 Zugrunde gelegt wird die Definition der Psychotherapie von H. Strotzka mit den darin enthaltenen Klarstellungen und Forderungen. 55 Die psychotherapeutischen Techniken sind Suggestion, Persuasion, Abreaktion, Manipulation, Klärung und Interpretation. 55 Die Cluster psychotherapeutischer Schulen/ Methoden können jeweils von den vier „Psychologien vom Menschen“ abgeleitet werden. 55 Psychotherapeutische Methoden: 55 psychoanalytische Psychotherapien (mit den Elementen Übertragung und Gegenübertragung, Abstinenz oder technische Neutralität und Widerstand), 55 Verhaltenstherapien (basierend auf der Lerntheorie), 55 humanistische Psychotherapien, 55 systemische Psychotherapien. 55 Psychotherapie ist von Beratung und Psychoedukation abzugrenzen.

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55 Ein Beispiel Ausbildungsmöglichkeiten und Programme ist das Curriculum Psychoanalytische Therapie des PSY III, das von der Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie der Medizinischen Universität Wien durchgeführt wird.

Literatur

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903

Psychosomatische Medizin Marianne Springer-Kremser 36.1

Einführung – 904

36.2

Psychosomatik-Forschung – 905

36.3

 austeine der psychosomatischen B Symptombildungen – 906

36.3.1 36.3.2 36.3.3

 sychoneuroendokrinologie – 906 P Psychophysiologie: Stress und Coping-Mechanismen – 906 Psychologie des Menschen – Entwicklung des Körperschemas – 908

36.4

 sychosomatische Diagnostik – Merkmale einer P Verdachtsdiagnose – 909

36.4.1 36.4.2

 namnese – 909 A Wege zur Erhärtung der Verdachtsdiagnose „psychosomatische Störung“ – 910 Management von Patienten mit psychosomatischen Störungen – 912

36.4.3

36.5

 sychosomatische Aspekte spezieller P Krankheitsbilder – 912

36.5.1 36.5.2 36.5.3

 erz-Kreislauf-Erkrankungen – 912 H Kopfschmerzen – 913 Reizdarmsyndrom – 913

36.6

Allgemeine geschlechtsgebundene Unterschiede – 913

36.7

Fallbeispiel – 914

36.8

Studien/Evidenzlage – 915

36.9

Ausbildungsmöglichkeiten und Programme – 916 Literatur – 917

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_36

36

904

M. Springer-Kremser

36.1  Einführung

Die Geschichte der modernen Psychosomatik beginnt im 19. Jahrhundert, und seit Beginn des 20.  Jahrhunderts liegen Forschungsergebnisse zur Psychosomatik aus unterschiedlichen Fachgebieten wie Medizin, Anthropologie, Psychologie etc. vor. Ab dem Wintersemester 1963/64 gab es die „Psychosomatische Station“ an der Klinik für Psychiatrie und Neurologie der medizinischen Fakultät der Universität Wien, geleitet von Prof. Dr. Erwin Ringel, der auch eine Vorlesung zum Thema Psychosomatik hielt. Die Befindlichkeit „psychosomatischer Patienten“ in Praxen/Ambulanzen ist in der Regel von körperlichen Symptomen bestimmt. Die Patienten empfinden sich primär als körperlich krank. Die Präsentation der Symptome kann vage, unbestimmt oder von auffälligen Gefühlsreaktionen begleitet sein. Die Selbstdarstellung der Patienten kann für den Arzt oft verwirrend und belastend sein und zur ungewollten Verwendung von Vokabeln wie (ohnehin nur) „psychisch bedingt“ oder „eingebildet“ führen, die von den Betroffenen häufig als stigmatisierend erlebt werden. Die Patienten fühlen sich – nicht ganz zu Unrecht – nicht ernst genommen, denn sie sind per definitionem leidend und suchen Hilfe. Interessant ist, dass sich diese Verunsicherung, die Patienten bei Ärzten oft hervorrufen, auch in der Diversität der Forschungsergebnisse widerzuspiegeln scheint. Die folgenden Ausführungen stellen einen Versuch dar, zur Klärung des Phänomens „Psychosomatik“ beizutragen und das Interesse daran zu fördern.

36

Psychosomatik - Nach Thure von Uexküll (Uexküll und Wesiak 1998) hat psychosomatische Medizin die Aufgabe, das Zusammenwirken somatischer, psychischer (in der Persönlichkeitsstruktur des Individuums verankerter) und sozialer Faktoren in Gesundheit und Krankheit zu erforschen, um die Rolle dieser Faktoren in Dia­ gnostik und Therapie, bei Entstehung und/oder Aufrechterhaltung von Krankheitsbildern und Leidenszuständen berücksichtigen zu können.

zz Operationalisierung des Begriffs „Psychosomatik“:

Der Begriff „psychosomatisch“ wird in der Praxis auf 5 Bereiche angewandt:

1. Änderungen der Funktion eines Organs ohne Nachweis einer primären Substratänderung (ohne pathophysiologische, pathomorphologische Befunde). Den körperlichen Symptomen kommt in der Regel eine symbolische Bedeutung zu: von ­Sigmund Freud als Konversion beschrieben (Freud und Breuer 1991), im DSM IV 300.11 als conversion disorder kategorisiert. Beispiele: Manche kardialen Sensationen, sexuelle Funktionsstörungen (Erektionsstörungen, Libidoprobleme, Vaginismus), Lähmungen. 2. Krankheitsbilder, bei deren Entstehung/ Aufrechterhaltung neben somatischen auch psychosoziale Faktoren nachweislich von Bedeutung sind: Psychosomatosen im engeren Sinn. Beispiele: Anorexia nervosa, chronic pelvic pain, Colitis ulcerosa, Neurodermitis. 3. Akute/chronische Anpassungsstörungen und Belastungsreaktion (psychophysiologische Reaktionen) im Zusammenhang mit körperlichen Erkrankungen (Verletzungen), auf diagnostische und/ oder therapeutische Interventionen (Hysterektomie, Mastektomie, Amputation); Verlust körperlicher Funktionen (Sterilisation, Menopause, Potentia coeundi etc.), aber auch Reaktionen auf Chemotherapie, Strahlentherapie und schließlich bevorstehende Schmerzen, Behinderungen. Bei den Anpassungsstörungen stehen affektive Störungen wie Traurigkeit (bis zu depressiver Verstimmung), Angst, Wut, Scham im Vordergrund. 4. Psychologische Reaktionen im Zusammenhang mit Missbildungen: z. B. Turner-Syndrom, Rokitansky-Küster-­HauserSyndrom (vaginale Agenesie). 5. Patienten mit psychiatrischen/psychopathologischen Problemen, wie z. B. Suchtverhalten; Somatisierung bei Major Depression oder eher bizarr anmutenden Somatisierungen, wie sie mitunter bei Erkrankten des schizophrenen Formenkreises vorkommen (Springer-Kremser 2009)

905 Psychosomatische Medizin

36.2  Psychosomatik-Forschung

Am Anfang standen auf psychodynamischen Erkenntnissen beruhende Konzepte: Die Konversion ist das Leitthema der ersten Falldarstellungen Sigmund Freuds: Körperliche Symptome bei „Hysterie“ haben symbolische Bedeutung und sind deutbar und verstehbar als Kompromiss zwischen Triebwunsch und Verbot. Das Konzept der De- und Re-Somatisierung von Max Schur, einem Internisten, ist die Basis für aktuelle Forschungsdesigns in der Psychosomatik (Schur 1955). Schurs Hypothesen zur De- und Re-Somatisierung basieren auf der Annahme von Zusammenhängen zwischen der körperlichen Entwicklung und der Etablierung der Persönlichkeitsstruktur – des Ich, das die Anpassung an die Realität reguliert. Nach seiner Ansicht gehen die Vorgänge bei der psychobiologischen Reifung mit einer „zunehmenden De-­Somatisierung der Reaktionen auf bestimmte Erregungen einher“. Die Reaktionen auf als bedrohlich empfundene Reize sind zunehmend von der Phantasietätigkeit geprägt; die psychischen Verarbeitungsmöglichkeiten gewinnen im Verlauf der individuellen Entwicklung die Oberhand, während gleichzeitig die somatisch-­ vegetativen Abfuhrprozesse in den Hintergrund treten. Säuglinge reagieren auf Störungen ihres homöostatischen Gleichgewichts mit physiologischen Regulationsmechanismen. Bei Hunger beispielsweise kommt es zu einem Anstieg physiologischer Spannungen, die auf somatischem Weg in Form einer diffusen motorischen Reaktion wie Schreien und Bewegungsunruhe abgeführt werden. In diesen physiologischen Reaktionsmustern sieht Schur die Vorläufer von Ich-­Funktionen, aus denen sich zunächst primitive, später immer differenziertere Angstreaktionen entwickeln. Angst ist phylogenetisch aus einer biologischen Reaktionsform hervorgegangen und als Ergebnis einer langen, komplizierten Entwicklung auch anfällig für regressiven Funktionswandel. Die Fähigkeit des Individuums, Triebe – die als Wünsche im Bewusstsein wahrgenommen werden – und Affekte zu kontrollieren, sowie die

36

Fähigkeit, zu reflektieren, machen es möglich, auf dem Niveau des Sekundärprozess-­Denkens zu reagieren und zu verhindern, dass primärprozesshafte  – also triebabhängige  – Funktionsweisen die Oberhand gewinnen. Das Funktionieren bzw. das Versagen dieser wichtigen Neutralisierungsfunktion bestimmt auch den Charakter der Angstreaktion. Zum Versagen dieser wichtigen Neutralisierung, also einer Regression, kann es durch heftige Gefühlsregungen und unerwartete psychische Belastungen kommen. Bei Patienten mit psychosomatischen Störungen hat eine defekte Ich-Entwicklung zu einem labilen, narzisstischen Gleichgewicht geführt, und das Ich ist höchst anfällig für regressive Reaktionsweisen. Da in belastenden Situationen unbewusste, neurotische Konflikte aktiviert werden, die der Kontrolle des Individuums entzogen sind, gewinnen unter dem Druck der Verunsicherung infantile Formen der Angstreaktionen die Oberhand; die Gefahr wird neurotisch verzerrt eingeschätzt und mit einer inadäquaten – regressiven – Reaktion beantwortet. Dies kann je nach dem Ausmaß der Ich-Schädigung zu neurotischen Verhaltensweisen oder zu somatischen Symptombildungen führen, falls die Verarbeitungskapazität überschritten wird. Ein noch schwerer wiegender Ausfall von Ich-Funktionen liegt vor, wenn bedrohliche Reize psychisch keine Angstreaktionen hervorgerufen haben. Der gefährliche Charakter des Reizes ist psychisch nicht wahrgenommen worden; klinisch fehlt dementsprechend ein Angst­ erleben bzw. eine entsprechende psychische Beeinträchtigung. Es hat eine noch tiefere Regression bis in ein präverbales Entwicklungsstadium stattgefunden, in welchem die Reaktion auf Reize noch global psychosomatisch ist und das bewusste Erleben in dumpfen Spannungsabfuhrvorgängen besteht, die genetisch als Vorläufer des eigentlichen Angstaffekts anzusehen sind. Diese Phänomene beobachtete der Internist Schur an Patienten mit Hauterkrankungen, die er in zeitlich engmaschiger Betreuung hatte. Der psychosomatische Ansatz Schurs bezieht die Erkenntnisse der Ich-Psychologie mit ein. Seine Konzeption ist geprägt von differenzierten Überlegungen zur Struktur- und Funktionsweise

906

M. Springer-Kremser

des Ichs von Patienten, die zu somatischen Reaktionsweisen neigen. Die Spezifitätstheorie von Franz Alexander, die heute wieder kritisch diskutiert wird, das operative Denken (pensée operatoire oder automatisiertes mechanistisches Denken) nach Pierre Marty sowie das Alexithymie-Konzept (Gefühlsblindheit) von Nemiah und Sifneos (1970) sind weitere interessante psychodynamische Konzepte in der Psychosomatik. Weiterführende Informationen dazu: Schuster und Springer-Kremser (1998). In den 1970er-Jahren formulierte George Engel (Engel 1962) das biopsychosoziale Modell. Er gab damit der interdisziplinären Forschung von Krankheit neue Impulse. Psychologische Phänomene werden zunehmend mit neurobiologischen Prozessen und genetischen Einflüsse interagierend wahrgenommen (7 Abschn. 36.3.2, Stress)  

kProbleme in der Psychosomatik-­ Forschung

36

55 Studien zur Prävalenz psychosomatischer Erkrankungen liegt keine gemeinsame Methodik zugrunde; nur vereinzelte epidemiologische Querschnittserhebungen zu wenigen Krankheitsbildern sind vorhanden – das betrifft alle theoretischen Zugänge. 55 Die Heterogenität von Sprache, Kultur, Gesetzgebung und Gesundheitssystemen erschwert Vergleiche. 55 Die Prävalenz psychosomatischer Störungen wird durch gleichzeitiges Auftreten von Schmerz, Depression und Angst (Komorbiditäten) verfälscht. 36.3  Bausteine der

psychosomatischen Symptombildungen

Psychosomatische Symptombildungen (interaktiv zu verstehende Bausteine) 55 Psychoneuroendokrinologie 55 Stress- und Coping-Theorien

55 Psychologie des Menschen –– Psychosexuelle Entwicklung –– Konzepte zur Entwicklung des Körperschemas (des verinnerlichten, individuellen Bildes vom eigenen Körper) und dessen Funktionen in Gesundheit und Krankheit –– Entwicklung des Beziehungsmusters –– Lerntheoretische Konzepte

36.3.1  Psychoneuroendokrinologie

Die Psychoneuroendokrinologie beschäftigt sich mit den Korrelationen zwischen psychischen (emotionalen) und neuroendokrinen Funktionen. Die Interpretation der Korrelationsmechanismen zwischen Psyche und Soma, speziell in der Psychoneuroendokrinologie, geht heutzutage weit über die intuitive Phase hinaus. Es gilt als gesichert, dass Emotionen pathogene Einflüsse auf den Organismus ausüben können  – über den Weg des autonomen Nervensystems. Neuere Erkenntnisse über die Biochemie und Physiologie von Neurotransmittern und Neurohormonen zwingen einerseits Biochemiker und Ärzte und andererseits Humanwissenschaftler, Emotionalität als einen Stimulus und die Persönlichkeit als Vermittler des emotionalen Einflusses auf Physiologie und Pathophysiologie der endokrinen Funktionen zu akzeptieren. Psychoneuroendokrinologie ist dementsprechend ein interdisziplinäres Fach, die wesentlichen Beiträge kommen von (Neuro-)Endokrinologen, Neurologen, Neurophysiologen sowie von Psychiatern und ­Psychologen. Weiterführende Informationen zur Psychoendokrinologie und Psychoimmunologie bieten Ehlert und von Känel (2011). 36.3.2  Psychophysiologie: Stress

und Coping-Mechanismen

Psychosomatische Erkrankungen sind oft durch die Klage über „Stress“ maskiert.

907 Psychosomatische Medizin

In den letzten Jahren stieg das Verständnis der am Stressgeschehen beteiligten ZNS-­ Strukturen kontinuierlich an. Das Stresssystem hat sich entwickelt, um es zu ermöglichen, angebracht und effektiv auf Anforderungen der Umwelt zu reagieren. Sensorische Informationen aus der Außenwelt liefern ein Bild des Geschehens (in Raum und Zeit), das mit Gedächtnisinhalten abgeglichen und dann emotional besetzt wird. Das Abrufen von Gedächtnisinhalten entsprechender Situationen erleichtert normalerweise die Bewältigung in bedrohlichen bzw. herausfordernden neuen Situationen. Die individuelle Beurteilung von Belastungen sowie die Reaktion auf diese (Stress) sind bestimmt durch 55 frühere Erfahrungen wie die Art und Qualität der Beziehungen zu wichtigen anderen, 55 die psychosexuelle Entwicklung, 55 Auseinandersetzungen mit dem sozialen Umfeld. Dieser interaktive Prozess formt nicht nur die individuelle Antwortbereitschaft (Vulnerabilität vs. Resistenz), sondern auch die individuellen Antwortmuster, wie z. B. vegetative oder endokrine Stressreaktionen: kardiale Sensationen, Amenorrhö ohne organisches Substrat. Bei entsprechender Bewertung dieser Ant­wortmuster (Bedrohung/­Herausforderung vs. Sicherheit/Kontrolle/Vorhersagbarkeit) werden Stressreaktionen ausgelöst. Diese ­beinhalten vegetative, verhaltensmäßige, ­kognitive, motivationale und emotionale ­Veränderungen und können subjektiv als sehr bedrohlich erlebt werden. zz Modifizierende Faktoren der Stressbewältigung/von Coping

Diese sind in der individuellen Biographie zu finden (z. B. Häufung von belastenden Ereignissen in der Anamnese); die Art der sozialen Unterstützung (Familie, Partner, Umfeld), d. h. das Gefühl sich aufgehoben fühlen vs. im Stich gelassen zu werden, ist von Bedeutung. Schließlich spielt die Art, wie belastende Ereig-

36

nisse individuell verarbeitet werden, eine wichtige Rolle. Hilfreich für eine adaptive Bewältigung ist immer eine feste Verankerung in der Wirklichkeit, d.  h. eine möglichst realistische Einschätzung von Konsequenzen, eignen Bewältigungsstrategien und Ressourcen.

Stresskonzept (Life-event-Forschung) 55 Chronischer oder akuter Stress hat eine Auswirkung auf die Konzentration von Neurotransmittern (Katecholamine) und des Stresshormons Kortisol 55 Nach innen gerichtete Aggression führt zu erhöhtem Adrenalinspiegel mit entsprechenden pathogenen Wirkungen (z. B. Blutdruckanstieg) 55 Emotionale Zustände haben somit Einfluss auf die Hormonproduktion, z. B. auf die Releasing-Hormone, die die weiblichen Lebenszyklen steuern 55 Verschiedene Lebensereignisse – life events (z. B. Verluste) sind als psychosoziale Stressoren mit einem erhöhten Morbiditätsrisiko verbunden

Forschungshypothesen, die die pathoplastische Rolle von kritischen Lebensereignissen (Life-event-Forschung) betreffen, beziehen sich auf: 55 Die Lebensroutine durchbrechende Ereignisse, diese erfordern erhöhte Anpassungsleistungen, 55 unerwünschte, unbeeinflussbare, unerwartete und mit negativen Folgen behaftete Ereignisse, 55 die Akkumulation dieser Ereignisse, welche die individuellen ­Bewältigungsmöglichkeiten überfordern, 55 die Faktoren Neuheit, Unvorhersehbarkeit, die zu starken Anstiegen des Plasma-­ Kortisolspiegels führen. Die Folge sind pathologische psychophysiologische Reaktionen mit möglicher Somatisierung (Siegrist 1980, S. 113).

908

M. Springer-Kremser

36.3.3  Psychologie des

Menschen – Entwicklung des Körperschemas

36

Die individuelle Entwicklung und die Entwicklung des Beziehungsmusters zu anderen Personen sind von Geburt an miteinander verzahnt und prägen den persönlichen Stil, den Charakter. Damit verbunden ist die Entwicklung des Körperschemas, d. h. des verinnerlichten Bildes vom eigenen Körper, das die individuellen Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit prägt. Alle psychologischen Konzepte vom Men­schen (Lerntheorie, psychoanalytische, humanistische und systemische Theorien) sind sich über die Bedeutung der ersten Lebenswochen für die spätere seelische und körperliche Gesundheit einig. Die moderne Gedächtnisforschung zeigt, dass im impliziten Gedächtnis alles, was ein Mensch jemals erlebt, wahrgenommen, phantasiert oder geträumt hat, mit den begleitenden Affekten gespeichert ist, zwar dem Bewusstsein nicht zugänglich, aber aus dem Unbewussten Signale aussendend (Kandel 2009). Die Art, in der mit Erregungen und Aktivitäten in der frühen Kindheit umgegangen wurde, stellt die Basis für die Entwicklung von Vertrauen dar. Die zärtliche Symbiose mit der Mutter (hier synonym für die erste Bezugsperson), die dem Kind eine maximale Bedürfnisbefriedigung garantiert, verschafft dem Kleinstkind durch zärtlichen Hautkontakt und durch die Befriedigung von Hungergefühlen Lust –was am lustvollen Gesicht eines Säuglings, der eben diese Zärtlichkeiten genießt, gut zu erkennen ist (Mahler et  al. 1975) Eine good enough mother (Winnicott 2002) hat auch die Fähigkeit, die Wünsche und Bedürfnisse des Kindes „richtig“ zu interpretieren, also keine Bedeutungen unterzuschieben – oder wenn, so nur selten. In der Regel wird es möglich sein, richtig zu beurteilen, ob das Kind hungrig ist oder nur Gesellschaft und Nähe möchte oder vielleicht Blähungen hat etc., d. h., die Quelle seiner Unlustgefühle richtig zu „lesen“ und entsprechende Abhilfe zu schaffen. Ist dies aber nicht der Fall, werden einem Kind also kontinuierlich Bedürfnisse unterstellt, wird z. B. das Bedürfnis nach Nähe immer

als Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme gedeutet und als solches befriedigt, so entsteht nicht Vertrauen, sondern Ur-Misstrauen. Da das Kleinkind auf seine Umgebung angewiesen ist, wird es in der eigenen Wahrnehmung grob verunsichert, wenn diese seine kindlichen Bedürfnisse falsch interpretiert. Es kann sich schließlich selbst nicht mehr trauen und weiß nicht mehr, ob es ursprünglich Hunger hatte oder ob es Zärtlichkeit wollte; es verlernt, die Signale, die vom eigenen Körper kommen, richtig zu lesen. Körperlicher Schmerz, Lust und Affekte wie Wut oder Angst sind dann nicht mehr entwirrbar – was z. B. deutlich bei selbstverletzendem Verhalten zum Ausdruck kommt. Diese Art der Uminterpretation von Körpersignalen zeigt sich bei Personen mit psychosomatischen Störungen häufig. Ein Kleinkind, dessen Körper liebevoll behandelt wurde und das auf diese Weise ein gutes inneres Bild von seiner Mutter entwickeln konnte, wird auch im späteren Leben sich selbst, seinen eigenen Körper – und auch andere – zumeist gut und „richtig“ behandeln. >> Entsprechend der Komplexität dieser individuellen Entwicklung und des sozialen Kontextes, in dem sich das Individuum bewegt, sind Irritationen, Verletzungen und Störungen der Entwicklung von Leib und Seele fast vorprogrammiert. Daher ist frühes Erkennen und notfalls vorsichtiges Intervenieren ein zentrales Thema der integrativen Medizin.

zz Entwicklung der Beziehungsmuster

Durch die Art der Kontaktaufnahme und die Präsentation ihrer Beschwerden stellen Patienten oft hohe Anforderungen an die Contenance von Arzt und Praxisteam. Es stellt sich oft die Frage, was dieser Patient eigentlich will und wie es dem Arzt gelingen kann, eine tragfähige Beziehung herzustellen, durch die das Diagnostizieren und Behandeln erst möglich wird. Die oben beschriebenen, im frühen verbalen und nonverbalen Mutter/Eltern-Kind-Dialog erworbenen Beziehungserfahrungen bilden einen entscheidenden Organisationsfaktor

909 Psychosomatische Medizin

des Seelenlebens und folglich auch des Umgangs mit dem eigenen Körper. >> Beziehungsfähigkeit und Beziehungsmuster sind Voraussetzungen für die Fähigkeit, Vertrauen aufzubauen – auch Vertrauen zum eigenen Körper. Dies gilt auch für den intimen Rahmen jeder Arzt-Patienten-Beziehung. Es handelt sich um Persönlichkeitsmerkmale, keine Krankheitszeichen, die jeder Mensch in unterschiedlicher Ausprägung oder unterschiedlichem Mischungsverhältnis aufweist.

Salzberger-Wittenberg (2002) bietet weiterführende Informationen zum psychoanalytischen Verständnis von Beziehungen. 36.4  Psychosomatische

Diagnostik – Merkmale einer Verdachtsdiagnose

Die scheinbar verwirrende Vielfalt der an einer psychosomatischen Erkrankung beteiligten interagierenden Faktoren zeigt . Abb. 36.1. Sie illustriert das Zusammenspiel der Faktoren, die an der Entstehung und Aufrechterhaltung von psychosomatischen Störungen mitwirken, und zeigt, welche Faktoren letztlich bei der Erstellung eines Behandlungsplans zu berücksichtigen sind (Kapfhammer 2010). Damit soll  

Lebenssituation Persönlichkeit Lebensabschnitt Lebensschicksal

36

die Bedeutung einer ausführlichen Anamnese als Bedingung für eine psychosomatische Diagnose und die Erstellung eines Behandlungsplans erhärtet werden. 36.4.1  Anamnese

Diagnostik ist immer ein Prozess: Am Beginn steht die Aufforderung an den Patienten, 55 seine Beschwerden zu schildern, 55 seine Lebenssituation zu beschreiben (dabei ist die Aussage, „alles sei normal“ unzulässig, denn sie führt nicht weiter), 55 alle bis dato ergriffenen ärztlichen Maßnahmen anzugeben (sowohl solche, die erfolgreich waren, als auch solche, die schadeten), 55 über Maßnahmen zu berichten, die der Patient selbst als hilfreich entdeckt hatte. Währenddessen sollte auf den dominanten Affekt des Patienten geachtet werden: 55 Traurigkeit, 55 offene oder verhaltene Wut, 55 Scham, 55 Angst etc. Auffällig unangemessene Schmerzreaktionen, die stark abweichend sind von den zu erwartenden Schmerzen bei einer bestimmten Erkrankung/Behandlung, sollten Beachtung finden.

anthropologische Modi des Erkundens und Entdeckens der Auseinandersetzung, des Bindens und Lösens, der Bewältigung

Krankheit/Kranksein [funktionell/strukturell] medizinische Therapien

Konflikthaftigkeit/Verhaltensstil: nicht lebbare Polaritäten des Lebens: langfristig/gehemmte/ kompensatorische/reaktive Emotionen/Bestrebungen

Neurobiologische Vermittlungsprozesse

emotionale Reaktion individuelles Coping Sinnkonstruktion/Narrativ Lebensgestaltung/-qualität Akzeptanz der Endlichkeit

..      Abb. 36.1  Der biopsychosoziale Standpunkt für eine patientenzentrierten Haltung (Kapfhammer 2010)

910

M. Springer-Kremser

Das Erheben der ausführlichen biographischen Anamnese gibt Hinweise auf das Beziehungsmuster des Patienten, z. B. kann eine auffällige Selbstdarstellung zu beobachten sein oder eine sehr selbstzentrierte Haltung, die alles Angebotene abwertet und überall Feindseligkeiten vermutet. Das Fachwissen über eine mögliche psychosomatische Ätiologie der Erkrankung/Störung bleibt noch im Hinterkopf des Arztes verfügbar. Das klinische Bild psychosomatischer Erkrankungen weist oft Ähnlichkeiten mit körperlichen Erkrankungen auf: Differenzialdiagnostische Fallen 55 Dissoziative Störungen: Es gibt Ähnlichkeit mit neurologischen Störungen wie Amnesie, Lähmung, Krampfanfall u. a. 55 Somatoforme Störungen: Es bestehen Ähnlichkeiten mit gastrointestinalen, kardiovaskulären, urogenitalen Erkrankungen sowie mit Haut- und Schmerzsymptomen, die oft im Rahmen einer Major Depression auftreten; die Verschleierung der depressiven Symptomatik verhindert eine adäquate antidepressive Behandlung (Haug et al. 2004)

36.4.2  Wege zur Erhärtung der

36

Verdachtsdiagnose „psychosomatische Störung“

Das im Folgenden dargestellte diagnostische und therapeutische Vorgehen wurde in der ps­ ychosomatischen Frauenambulanz, einer Liaison-Einrichtung der Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie an der Frauenklinik der medizinischen Universität Wien, erarbeitet. Diese Spezialambulanz, 1976 von Hugo Husslein und Marianne Springer-­ Kremser gegründet, ist in Lehre und Forschung beider beteiligter Kliniken eingebunden. Einmal wö-

chentlich vormittags hält eine Ärztin mit Ausbildung in psychoanalytischer Psychotherapie diese psychosomatische Sprechstunde an der Frauenklinik ab; die Frauenklinik übernimmt die Anmeldung der Patientinnen. Dieser niederschwellige Zugang (keine „Psycho-Einrich­ tung“) wird von den Patientinnen sehr geschätzt. Das Konzept und die Aktivitäten der Ambulanz wurden extern evaluiert (Springer-Kremser et al. 1997). zz Diagnostisches Vorgehen bei einer Patientin mit chronischen Unterbauchschmerzen (chronic pelvic pain) Chronic pelvic pain - Es handelt es sich um chronifizierte Schmerzzustände im Unterbauch. Die Schmerzqualität wird unterschiedlich beschrieben: meist vage als bohrend, tief drinnen oder stechend, schneidend. Häufig steht am Beginn ein episodischer Schmerz, z. B. durch Dyspareunie, Dysmenorrhö, Adnexitis, der in einen chronischen Schmerzzustand übergehen kann. 20 % aller Patientinnen, die einmal eine Adnexitis durchgemacht haben, klagen über chronische Schmerzzustände. Die bei einer Pelviskopie zu findenden organischen Substrate wie Adhäsionen entsprechen objektiv nicht der Schmerzintensität.

Schmerzempfindungen bei chronischen Unterbauchschmerzen sind abhängig 55 von einem organischen Substrat (z. B. stattgehabte Adnexitis mit minimalen Restadhäsionen), 55 von der subjektiven Vorstellung von Verletzlichkeit und Ausgeliefertsein, 55 vom Körperschema, d. h. von dem Bild, das die betroffene Frau vom eigenen Körper hat, 55 von den subjektiven Vorstellungen von Sexualität und Fruchtbarkeit. Phase I: Stellen einer Verdachtsdiagnose kDauer

1–2 Sitzungen. kVorgehen

55 Erheben der Beschwerden, Anamnese (7 Abschn. 36.4.1). 55 „Nachaufklärung“ über Anatomie und Physiologie im kleinen Becken: Dabei legt  

911 Psychosomatische Medizin

die Patientin zuerst ihre Vorstellungen dar, danach werden diese vorsichtig, z. B. anhand von Modellen oder eigenen Skizzen, korrigiert. 55 Nachholen ausstehender diagnostischer Eingriffe, Besprechen der Bedeutung der Befunde. 55 Empfehlung zum Führen eines Schmerztagebuchs (Schulheft, Handschrift). 55 Angebot zur akuten Schmerzerleichterung (z. B. medikamentös, physikalisch-­ medizinisch). Phase  II: Maßnahmen zur Erhärtung der Verdachtsdiagnose kDauer

Mehrere (4–5) geplante Sitzungen. kVorgehen

55 Abfragen der Befindlichkeit. 55 Vorlesen der Tagebucheintragungen durch die Patientin, evtl. Kommentieren dieser durch den Arzt 55 Erheben der biographischen Anamnese: demographische Daten wie Schulbildung, Beruf, Familien-/Ρartnersituation, Kinder (geplant, problematisch etc.). 55 Erforschen der Lebenssituation zu Beginn der Beschwerden: erfragt werden Life-­Events (kritische Lebensereignisse) – besonders wird nach Trennungen von Menschen oder auch unbelebten Objekten (Migration!) gefragt – und Lebenspläne, wobei die Antwort „alles ganz normal“ gilt nicht; Qualitäten schildern lassen! Auch „positive“ Lebensereignisse erfordern Anpassungsleistungen (sozialer Aufstieg, Geburt eines erwünschten Kindes etc.) 55 Klären eines möglichen Zusammenhangs der Beschwerden mit sexuellen Aktivitäten. 55 Ermitteln der Einstellung wichtiger ­B ezugspersonen zur Erkrankung (­Mutter, Partner) aus Sicht der Patientin: wird Unterstützung geboten? wodurch?

36

55 Hinweis auf zeitliche Zusammenhänge zwischen Schmerzen und Life-Events oder psychischer Befindlichkeit. 55 Erstellen eines Behandlungsplans gemeinsam mit der Patientin: falls erforderlich, Einbeziehen von Angehörigen, physikalischer Therapie etc. 55 Erkunden der Motivation für Psychotherapie. Als Brücke zu einem psychosozial mitbedingten Krankheitsverständnis und somit als Unterstützung der Motivation für eine Psychotherapie ist es hilfreich, die subjektive Krankheitstheorie oder „Laienätiologie“ der Patientin zu ergründen. Jeder Mensch hat für seine Erkrankungen und Leiden eine solche Theorie (das gilt bereits bei einem Schnupfen). Subjektive Krankheitstheorien (nach Zenz et al. 1996) 55 Psychosozial interne Theorie: Die Patienten geben als Ursachen für ihr Leiden ihr Gefühlsleben (Affekte) an: z. B. „Ich war schon immer eine ängstliche Person“ (Angst) 55 Psychosozial externe Theorie: Als Ursachen werden z. B. Probleme des Partners (Alkoholismus) oder Mobbing angegeben 55 Naturalistisch interne Theorie: Als Ursachen werden „die Gene“ angeführt 55 Naturalistisch externe Theorie: Als Ursachen werden Umweltfaktoren genannt (z. B. Lärmbelastung)

>> Patienten mit einer psychosozialen Theorie sind eher für Psychotherapie motivierbar.

Phase  III: Beendigung des diagnostischen Prozesses kDauer

Mehrere Sitzungen.

912

M. Springer-Kremser

kVorgehen

55 Falls erforderlich: Besprechen einer Überweisung in Psychotherapie (Einzel-, Gruppen-, Paar- oder Familientherapie). 55 Angebot von Entspannungstechniken, physikalische Therapie. 55 Reduzieren/Absetzen der Medikamente. 36.4.3  Management von Patienten

mit psychosomatischen Störungen

Traumatisierte Patienten Patientinnen mit chronic pelvic pain haben nicht selten in der Biographie sexuelle Übergriffe unterschiedlichen Schweregrades erlitten, worüber schon Sandor Ferenczi berichtete (Ferenczi 1934). Für das diagnostisch-­ therapeutische Management aller traumatisierten Patienten gilt: Außergewöhnlich lebensbelastende Ereignisse erfordern das Abrufen der traumatisierenden Erinnerungen in einer containing situation, in der Wut und Angst zugelassen werden können und Intimität gewährleistet ist. Eine vorsichtig-sachliche Rekonstruktion der zeitlich zurückliegenden Vorfälle ist erforderlich, um diese von der Gegenwart klar abgrenzen zu können.

36

> > Fragen, die nicht zwingend für Dia­ gnose und Behandlung erforderlich sind, sondern eher der – oft unbewussten – Neugier der Untersuchenden entspringen, sollen unbedingt vermieden werden.

Jede Handlung sollte erklärt werden  – stummes Hantieren wird als bedrohlich erlebt –, denn wortlos agierte zumeist der Aggressor. Der Umgang mit Scham- und Schuldgefühlen erfordert besondere Beachtung und Sensibilität (Leithner-Dziubas und Springer-Kremser 2010).

 ualifikation und Eigenschaften Q des Therapeuten Erforderliche Kenntnisse und Fähigkeiten für das Management psychosomatischer Patienten 55 Kooperationsbereitschaft (z. B. telefonische Kontaktaufnahme in Gegenwart des Patienten) mit ärztlichen Kollegen, mit Vertretern anderer Gesundheitsberufe, Sozialarbeitern etc. 55 Flexibilität, die Techniken, Termine etc. betreffend 55 Grundkenntnisse in Psychosomatik, wie im Curriculum Psychosomatische Medizin (PSY II) vermittelt 55 Grundkenntnisse ärztlicher Gesprächsführung 55 Wissen um verschiedene psychotherapeutische Schulen/Methoden 55 Sehr empfehlenswert ist die Teilnahme an Balint-Gruppen!

36.5  Psychosomatische Aspekte

spezieller Krankheitsbilder

36.5.1  Herz-Kreislauf-

Erkrankungen

Erst in den letzten Jahren wurde besonderes Augenmerk auf die zwischen Frauen und Männern unterschiedlichen psychosozialen Belastungsfaktoren gelegt, die auf kardiale Erkrankungen Einfluss nehmen. Frauen scheinen, im Gegensatz zu Männern, koronare Symptome eher durch familiären und häuslichen Stress als durch Stress am Arbeitsplatz zu entwickeln. Frauen nehmen seltener als Männer an Rehabilitationsprogrammen teil, einerseits scheinen Ärztinnen und Ärzte (!) Frauen seltener dazu aktiv zu motivieren, andererseits werden bei Frauen höhere Fehlzeiten und Ausfallraten während solcher Rehabilitationsprogramme beobachtet (Abbey und Stewart 2000). Dies wird

913 Psychosomatische Medizin

durch Untersuchungen gestützt, wonach Frauen weniger von Rehabilitationsprogrammen, aber auch von sonstigen üblichen, auf Männer zugeschnittenen psychosozialen Maßnahmen im Rahmen der Rehabilitation von kardiologischen Erkrankungen profitieren. Dies gilt auch für psychotherapeutische Gruppenangebote, die im Fall von gemischtgeschlechtlichen Gruppen sogar eine zusätzliche Belastung für Frauen darstellen können. Frauen neigen in solchen Gruppen dazu, eine mütterlich-kotherapeutische Rolle einzunehmen und die eigenen Bedürfnisse zu vernachlässigen (Buchner et al. 2005). Letztendlich haben Frauen nach einem Myokardinfarkt oder nach einer Bypass-­Operation eine schlechtere Prognose und sterben häufiger früher als Männer (Mosca et al. 1997). Hierfür können mehrere Faktoren angeführt werden: Falls die Herzoperation z. B. eine alleinstehende Frau betrifft, mag Einsamkeit, mitbedingt durch die höhere Lebenserwartung von Frauen, eine depressive Gemütslage begünstigen. Letztendlich steht leider fest, dass Frauen nach einem ­Myokardinfarkt oder nach einer Bypass-Operation eine schlechtere Prognose haben und häufiger sterben als Männer. Eine andere Studie zeigte, dass Frauen ein mehr als 5-fach höheres Risiko haben, nach einer offenen Herzoperation eine Depression zu entwickeln. Eine postoperative Depression gilt zugleich als Indikator für eine schlechtere Prognose (Hata et al. 2006). Ein anderer Aspekt der Psychosomatik von Herz-Kreislauf-Erkrankungen betrifft den Zusammenhang zwischen Blutdruck und der Fähigkeit zu emotionalem Ausdruck von Aggression. Auch hier finden sich geschlechtsspezifische Unterschiede: Frauen mit der Fähigkeit zum offenen Ausdruck von Wut und Aggression weisen im Unterschied zu Männern durchweg niedrigere Blutdruckwerte auf (Hogan und Linden 2005). 36.5.2  Kopfschmerzen

Als wesentliche Auslöser von Migräne, die bei Frauen häufiger auftritt, wurde in einer österreichischen Stichprobe bei 67 % aller Patien-

36

ten Stress genannt, bei 50  % aller Patienten auch die Entspannung nach vorangehendem Stress (Wöber et al. 2006). Dies verdeutlicht, neben bekannten genetischen Einflussfaktoren, auch den psychosomatischen Aspekt der Migräne. 36.5.3  Reizdarmsyndrom

Über abdominelle Schmerzen wird ebenso wie über Obstipation und Meteorismus sowohl in Bevölkerungsstichproben wie auch in ärztlichen Praxen häufiger von Frauen berichtet. Die Komorbidität mit psychiatrischen Erkrankungen wie Angststörungen, Depression, posttraumatischen und akuten Belastungssyndromen ist bei etwa 40–60  % aller Patienten mit Reizdarmsyndrom (RDS) zu finden. Die Lebenszeitprävalenz für eine psychiatrische Erkrankung bei Patienten mit RDS beträgt 90  %. Studien, die den Zusammenhang zwischen sexuellem Missbrauch und RDS untersuchten, zeigen durchweg eine positive Korrelation  – ähnlich wie bei chronic pelvic pain (7 Abschn. 36.4.3). Bei bis zu 50 % aller Patientinnen, die in einer gastroenterologischen Einrichtung mit RDS vorstellig werden, findet sich in der Vorgeschichte ein sexueller Missbrauch. Bei Männern wurden diese Aspekte bisher nur wenig untersucht, sie deuten jedoch auf einen ähnlichen Zusammenhang, wenn auch die Prävalenzen von sexuellem Missbrauch niedriger sind als bei Frauen. Patientinnen mit Missbrauch in der Anamnese weisen häufiger therapieresistente Symptome auf. Diese Patientinnen sind es auch, bei denen wiederholte und häufig unnötige invasive Untersuchungen und operative Eingriffe durchgeführt werden (Moser 2006).  

36.6  Allgemeine

geschlechtsgebundene Unterschiede

Der französische Medizinsoziologe Roger Bastide betont:

914

M. Springer-Kremser

»» „Das Geschlecht ist eine soziale Variable –

die Stellung, die dem Geschlecht in der Gesellschaft zugeschrieben wird, hat eine pathoplastische Funktion – im Sinne einer Mitverursachung von Erkrankungen.“ (Bastide 1973)

Geschlechtsspezifische Unterschiede in der Wahrnehmung somatischer Beschwerden sind nachgewiesen: es bestehen neuroanatomische, neurophysiologische, neurobiologische und hormonelle Unterschiede und Unterschiede, die die zentrale Verarbeitung sensorischer ­Informationen und die Schmerzregulation betreffen. Frauen haben ein stärkeres Körperbewusstsein, beeinflusst durch Menstruationszyklus, Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett; Frauen werden daher regelmäßig an innerkörperliche Funktion oder Dysfunktion „erinnert“ und haben ausgeprägtere Fähigkeiten, schwache und diffuse Körpereindrücke wahrzunehmen. Der Einfluss von Kindheitserfahrungen darf nicht unterschätzt werden (7 Abschn.  36.2). Die Prävalenz von Missbrauchserfahrungen ist geschlechtsgebunden: 12–17 % aller Mädchen und 5–8  % aller Jungen, die über gynäkologische, urologische und gastrointestinale Beschwerden klagten, hatten derartige Erfahrungen gemacht (Gorey und Leslie 1997).  

36.7  Fallbeispiel zz Patientin Frau X., 38 Jahre, chronic pelvic pain

36

Frau  X. betritt mit grimmigem Gesichtsausdruck den Raum mit dem Türschild Psychosomatische Ambulanz. Nach der Aufforderung, Platz zu nehmen, stellen sich die Ärztin und die teilnehmend beobachtende Kollegin vor. Die Patientin setzt sich auf die Stuhlkante, wie auf dem Sprung, wieder zu gehen, wirft die Überweisung mit der Diagnose chronic pelvic pain auf den Schreibtisch und hält dann ihre Handtasche schützend vor ihre Leibesmitte. Auf die Frage, ob es ein Ärgernis, eine Irritation gebe, antwortet die Patientin sehr aufgebracht: „Da steht ja ‚Psycho‘ an der Tür! Ich bin nicht ver-

rückt!“ „Sicher nicht! Sie haben Schmerzen, die uns interessieren, und wie Sie und wir wissen, schlagen sich Bauchschmerzen auch auf das Gemüt“, entgegnet die Ärztin. Die Patientin beruhigt sich etwas und sieht sich um. Dann folgt die Aufforderung, alles die Schmerzen betreffend zu erzählen, was auch immer ihr einfalle. kAnamnese

Seit ca. 10 Jahren seien die Schmerzen ständig da – auch jetzt (die sehr aufrechte Haltung der Patientin lässt daran zweifeln) und oft auch nachts. Die Qualität: meist stechend, auch bohrend oder krampfartig, die Intensität wechsle, abends seien die Schmerzen meist stärker. Einen zeitlichen Zusammenhang mit bestimmten Essgewohnheiten oder anderen den Bauchbereich einbeziehenden Aktivitäten könne sie nicht ausmachen. Ihren Beruf als Sekretärin könne Sie nicht ausüben; auch der Haushalt werde nur schleppend erledigt, schwer heben müsse ihr Mann. Begonnen hätten die Schmerzen ca. 1 Jahr nach der komplikationslosen Geburt ihrer Tochter in zeitlichem Zusammenhang mit dem Drängen ihres Mannes auf ein Wiederaufnehmen des Geschlechtsverkehrs  – bei diesem Thema möchte sie ausweichen, aber eine klare und ruhige Sprache vonseiten der Ärztin hilft ihr, unangenehme und für sie beschämende Details auszusprechen, die nicht kommentiert werden. Ihr Mann wünsche sich noch ein Kind, und aus Angst, eine Verweigerung ihrerseits könnte die Ehe gefährden, habe sie eingewilligt  – bis dato sei sie aber nicht schwanger geworden. Die Menstruation sei regelmäßig, etwa eine Woche vorher würden die Schmerzen stärker, oft verbunden mit Übelkeit und Kopfschmerzen, mit Einsetzen der Blutung würden sie wieder schwächer. Der dominante Affekt ist mühsam kontrollierte Wut; Angst und Scham schwingen mit. Niemand habe Verständnis für ihren Zustand, niemand sei hilfreich, ihre Mutter rede von „zusammenreißen“. Daher gebe es auch wenig Geselligkeit, der anfangs noch bestandene Kontakt mit Kolleginnen sei abgebrochen, sie könne in ihrem Zustand nicht aus dem Haus gehen. Zur Klinik sei sie mit öffent-

915 Psychosomatische Medizin

lichen Verkehrsmitteln gefahren, sie müsse ja oft zum Arzt, das komme zu teuer … Diese Aussage wird kurz kommentiert mit der Frage, ob dies eine besondere Anstrengung bedeute. Derartige Zwischenbemerkungen registriert Frau X. eher erstaunt, nicht negativ. Die leidvollen Erfahrungen mit dem medizinischen System werden mit triumphierendem Unterton berichtet: Ultraschall-Untersuchungen, dreimal sei eine Bauchspiegelung vorgenommen worden, ohne Ergebnis, beim letzten Mal habe die Indikation gelautet, Adhäsionen zu lösen … alles ohne Erfolg. Sie habe entz­ ündungshemmende Medikamente bekommen, wenn notwendig, könnte sie diese mitbringen (sie denkt also an einen weiteren Termin); auch seien ihr Mittel gegen Depression und Schlafmittel verschrieben worden – diese habe sie nach Lesen der Packungsbeilage nicht eingenommen. Nach einer halben Stunde fasst die Ärztin zusammen und stellt Fragen: nach den erwähnten Personen, besonders der Mutter, der Tochter, dem Ehemann, und nach der Art und Qualität der Beziehung zu diesen wichtigen Anderen. Auf die Frage: was die Patientin tun würde, wenn sie keine Schmerzen hätte, folgt langes Zögern; die Ärztin muss nachdrücklich werden. Sie würde sich mehr bewegen, aber die Schmerzen hinderten sie an allem. kDiagnose

Persönlichkeitsdiagnostisch besteht bei der Patientin eine funktionelle Störung, F45.3 nach ICD-10: somatoforme autonome Funktionsstörung. Der auslösende Konflikt wird erahnt, er kann in einer späteren Sitzung mithilfe von Tagebucheintragungen angesprochen werden. kTherapie

Das Behandlungsprogramm wird vorgestellt: Bewegungsübungen in einer Bauchtanzgruppe (großes Staunen, wieder Zögern), Führen eines Schmerztagebuchs, Kontakt mit der zuweisenden Stelle, um die Medikation zu besprechen und schließlich gemeinsam mit der Patientin diese Schmerzen weiter zu erforschen. Ein neuer Termin wird angeboten, mit der dringenden Bitte, telefonisch abzusagen, falls die

36

Patientin nicht kommen könnte – was die Ärztinnen bedauern würden (dabei lächelt die Kollegin). Dies verstehe sie, da so viele Patienten ja warten. Die beiden weiteren Sitzungen verlaufen mit deutlich zwiespältigen Gefühlen aufseiten der Patientin. Bauchtanz gefällt ihr sehr, das Tagebuch zu führen, sei mühsam, es falle schwer, die Phasen mit milderem Schmerz oder gar schmerzfreie Zeiten einzutragen, doch darauf bestehen die Ärztinnen aber und fragen nach … Es muss respektiert werden, dass das Trennen von einer „lieb“ gewonnenen intensiven Befassung mit der eigenen Person, wie schmerzhaft auch immer sie sein mag – sehr schwer fällt, und dass Trauer – nicht Depressivität! – als normale Reaktion auf einen Verlust zu erwarten ist. Die Patientin absolviert insgesamt 10  Sitzungen, nach der 5. Sitzung werden die Intervalle gestreckt. Auf Wunsch der Patientin findet eine Sitzung gemeinsam mit ihrem Mann statt: er kann Fragen stellen, deren Inhalt die Patientin erstaunen: er macht sich offensichtlich doch Gedanken über sie. kErgebnis

Die Schmerzen treten nach Abschluss der Behandlung wesentlich seltener  – mitunter vorhersehbar – auf, die Intensität hat massiv abgenommen. Im Bauchtanzkurs hat Frau X. Tricks gelernt, die ihr helfen, Schmerzen nicht mehr als Feinde, sondern als Teil ihrer Weiblichkeit anzunehmen (wie ihre Sexualität). 36.8  Studien/Evidenzlage

S. Freud und J. Breuer legten 1985 in den Studien zur Hysterie die Basis für das Verständnis funktioneller Störungen. Die Umsetzung eines unbewussten Konflikts in die Körpersprache, z. B. in Lähmungen ohne organisches Substrat, sowie die symbolhafte, theatralische Darstellung geben meist einen Hinweis auf den Inhalt des Konflikts (Freud und Breuer 1991). M. Schur (1955) führte anhand einer Patientin mit Exanthem (Psoriasis) den Begriff der Somatisierung als Ausweichen vor einem seelischen Konflikt ein. Die normale Entwicklung

916

36

M. Springer-Kremser

und Reifung des Säuglings ist als Desomatisierung zu sehen: von der körperlich unkoordinierten, unbewussten Reaktion zur Fähigkeit, körperliche Triebenergien, z. B. Aggression, zu neutralisieren und diese neutralisierte Energie für bewusste Denk- und Handlungsaktionen im Dienste des ICH (der Person) zu nutzen. Resomatisierung hingegen bedeutet physiologische Regression bei ICH-­ Schwäche: bei Gefahr und Angstsituationen reagiert das ICH nicht mit psychischen Mitteln, sondern mit einer physiologischen Regression auf die Ebene des Unbewussten und mit somatischer Reaktion: es kommt also z. B. zum Ausbruch eines Exanthems. Für die charakteristische Unfähigkeit bestimmter (psychosomatischer) Patienten, Gefühle wahrzunehmen und eigene Gefühle angemessen zu beschreiben, prägten die Forscher J.  C.  Nemia und P.  Sifneos den Begriff der Alexithymie („Gefühlsblindheit“, von griech. A: fehlen, lexis: Wort, thymos: Gefühl) (Nemia und Sifneos 1970). Auch die Autoren T. Storck und R. P. Warsitz greifen den Alexithymie-Begriff auf (Storck und Warsitz 2016). Marilia Aisenstein beschreibt die über 5 Jahre dauernde psychoanalytische Psychotherapie einer Patientin mit Kolonkarzinom. Der Fokus der Behandlung (2- bis 3-mal wöchentlich, sitzend) liegt auf psychischen Prozessen, wie z.  B. dem Umgang mit Trieben, Affekten und Impulsen, dem Abwehrmechanismus Regression. Der Somatisierungsprozess kann als eine Kette von psychischen Phänomenen verstanden werden, welche die Entwicklung einer somatischen Erkrankung fördern. Es kann angenommen werden, dass die durch Interpretationen der Therapeutin gewonnene Einsicht der Patientin half, die Macht ihrer destruktiven Phantasien zu beeinflussen, was letztlich zu der Stabilisierung des als primär sehr bösartig geltenden Karzinoms beitrug (Aisenstein 2008). Klare Evidenz können  – neben sorgfältigen Einzelfallstudien  – nur Langzeitstudien liefern. Erforderlich sind prospektive Langzeitstudien, um die schwierige Frage nach dem Verhältnis von prämorbider und (post)morbider Persön-

lichkeit empirisch zu klären. Dies ist erforder­lich, um das relative Gewicht der Krankheitsfolgen gegen die lebensgeschichtlichen Erfahrungen vor der Erkrankung bewerten zu können. Psychodynamische Modelle vermögen in ihrer Komplexität seelisches Leiden sehr viel besser zu erfassen als die globale Messung von Belastung und Beeinträchtigung. 36.9  Ausbildungsmöglichkeiten

und Programme

kPSY-II-Diplom

Die Ausbildungsmöglichkeiten und die Programme das PSY-II-Diplom (Arzt für psychosomatische Medizin) der österreichischen Ärztekammer betreffend, sind im Internet unter 7 https://www.­arztakademie.­at/ zu finden. Dort sind alle approbierten Lehrinstitutionen, die wesentlichen Inhalte und die organisatorischen Abläufe bzgl. des 2-jährigen PSY-II-Diploms angeführt.  

kBalint-Gruppen

Um psychosomatisches Wissen in der Praxis umsetzen zu können, hat sich die Teilnahme an einer Balint-Gruppe sehr bewährt. Die Mitglieder einer Balint-Gruppe (maximal 10 Personen) besprechen unter der Leitung einer entsprechend ausgebildeten Person (Mitglied der Balint-Gesellschaft und psychotherapeutische Ausbildung) Fälle aus eigener Praxis mit dem Ziel, sowohl das z. B. sehr belastende, weil immer fordernde Verhalten von Patienten als auch die eigene emotionale Reaktion darauf zu reflektieren, besser zu verstehen und somit effizienter, zeitsparender diagnostizieren und behandeln zu können (Balint 2001). Weiterbildungsmöglichkeiten bieten die Tagungen der Fachgesellschaften für Psychosomatik in den Bereichen Gynäkologie und Geburtshilfe (in Österreich seit 1985) und innere Medizin. Die Fachgesellschaft für Kardiologie ist wissenschaftlich aktiv. Mit Deutschland und der Schweiz gibt es alle 2  Jahre die „Dreiländertagung“ des Faches Psychosomatik in Gynäkologie und Geburtshilfe.

917 Psychosomatische Medizin

Zusammenfassung 55 Die Operationalisierung des Begriffs „Psychosomatik“ hat Konsequenzen für Klinik und Forschung in diesem Bereich. 55 Um für eine individuelle, „psychosomatisch“ imponierende Störung das passende ­therapeutische Vorgehen zu finden, bedarf es einer Persönlichkeitsdiagnostik, wie sie in Fortbildungsseminaren (Beispiel: PSY III) angeboten wird. 55 Bei Forschungsprojekten zum Thema Psychosomatosen kooperieren Spezialisten der Medizin mit verschiedenen Disziplinen: Psychologie, Psychiatrie, Psychotherapie/ Psychoanalyse und Soziologie. 55 Der kurative Anspruch bei Psychosomatosen ist auch die Psychotherapie betreffend gerechtfertigt: Psychotherapie kann eine allergische Bereitschaft beeinflussen, Erwartungsängste, die Muskelkontraktionen im Magen-Darm-­Bereich hervorrufen, können gedämpft werden – um nur 2 Beispiele anzuführen. 55 Funktionsstörungen ohne organisches Sub­ strat, bei welchen eine psychische Konfliktlage als Auslöser identifiziert werden kann, sind durch psychodynamische Psychotherapie gut behandelbar.

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918

M. Springer-Kremser

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919

Methoden zur Entspannung, Schmerzlinderung und Bewusstseinserweiterung Heinrich Wallnöfer, Henriette Walter, Richard Crevenna, Lothar Krenner, Magdalena Singer, Julian Hannemann, Michaela Ott und Christian Schubert 37.1

Autogenes Training – 921

37.1.1 37.1.2 37.1.3 37.1.4 37.1.5 37.1.6

37.1.11 37.1.12 37.1.13 37.1.14

Einführung – 921 Herkunft des autogenen Trainings – I. H. Schultz (1894–1970) – 921 Die umgekehrte Weckreaktion – 922 Bereiche des autogenen Trainings – 922 Wozu autogene Psychotherapie? – 923 Mit dem „veränderten Bewusstseinszustand“ gegen Burnout – 923 Autogenes Training/autogene Psychotherapie – wer darf sie ausüben? – 924 Wer kommt für das Training infrage, und wie findet es statt? – 924 Theoretischer Ablauf des Trainings – 927 Wann kann, wann soll autogenes Training/autogene Psychotherapie angewendet werden? – 932 Fallbeispiele – 933 Studien/Evidenzlage – 934 Ausbildung – 935 Blick in die Zukunft – 935

37.2

Medizinische Hypnose – 936

37.2.1 37.2.2 37.2.3

Einführung – 936 Therapieziele – 937 Wirkmechanismus von Hypnotherapie  – 937

37.1.7 37.1.8 37.1.9 37.1.10

Teile des Abschnitts 37.5 entstammen einer früheren Publikation der Autoren (Singer et al. 2016) und werden – mit freundlicher Genehmigung des Schattauer Verlags – hier wiedergegeben. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_37

37

37.2.4 37.2.5 37.2.6 37.2.7 37.2.8 37.2.9 37.2.10

Unerwünschte Wirkungen – 939 Einsatz von Hypnose – 940 Nebenwirkungen und ethische Aspekte – 940 Neurophysiologie und Hypnose – 941 Fallbeispiel – 941 Studien/Evidenzlage – 942 Ausbildung und wichtige Links – 943

37.3

Biofeedback – 944

37.3.1 37.3.2 37.3.3 37.3.4 37.3.5 37.3.6 37.3.7

Grundlagen – 944 Wirkung  – 944 Ablauf – 945 Einsatzmöglichkeiten und Indikationen – 945 Praktische Anwendungen – 945 Studien, Evidenzlage – 947 Ausbildung – 947

37.4

Meditation – 948

37.4.1 37.4.2 37.4.3 37.4.4

Einführung – 948 Drei grundlegende Arten von Meditation – 949 Kognitive Korrelate der Alpha-­Kohärenz und -Synchronie – 950 Vergleichende Forschung über verschiedene Systeme der Meditation und andere Selbstentwicklungstechniken mit Schwerpunkt auf der Technik der transzendentalen Meditation – 951

37.5

Psychoneuroimmunologie achtsamkeitsbasierter Interventionen – 954

37.5.1 37.5.2 37.5.3 37.5.4 37.5.5

Einführung – 954 Stress- und Immunsystemaktivierung infolge von Stress – 955 Antiinflammatorische Gegenregulation – 955 Mind-Body-Therapien und Immunfunktion – 961 Parasympathische Aktivierung im Kontext von Mind-Body-Therapien – 963 Vom Parasympathikus zum inflammatorischen Reflex  – 964 Integrative Forschungsansätze – 964 Fallbeispiel – 966 Ausblick – 967

37.5.6 37.5.7 37.5.8 37.5.9

Literatur – 968

921 Methoden zur Entspannung

37.1  Autogenes Training Heinrich Wallnöfer 37.1.1  Einführung

Autogenes Training (in Österreich: autogene Psychotherapie) ist ein tiefenpsychologisch (s. unten, Anmerkung) fundiertes Verfahren der Psychotherapie mit verhaltenstherapeutischen Aspekten, das in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlichen Stellenwert hat und auch sehr verschieden durchgeführt wird. Gemeinsam ist allen Vorgehensweisen, dass 55 es sich um ein Verfahren der Psychotherapie handelt, 55 regelmäßig geübt werden muss, 55 das Verfahren nicht allein erlernt werden kann, sondern dazu eine vermittelnde Person gebraucht wird, 55 es in mehrere „Stufen“ eingeteilt ist (Grund-, Mittel-, Oberstufe). kAnmerkung

Sigmund Freud hat den Begriff der Tiefenpsychologie 1913 zur Unterscheidung anderer Versuche zu seiner Analyse geprägt. In der Zeit des Nationalsozialismus stand dann der Begriff „Tiefenpsychologie“ häufig für das verpönte Wort „Psychoanalyse“, damit man darüber sprechen und damit arbeiten konnte, ohne von Psychoanalyse zu sprechen. Autogenes Training ist zum einen eine Hilfe für „Gesunde“, sich effektiver, gelassener, kreativer zu verhalten, und es kann auch in der Psychotherapie, v. a. bei Neurosen und psychosomatischen Krankheiten, eingesetzt werden. Durch modernere Psychotherapien, insbesondere die kognitive Verhaltenstherapie, die klinisch heute am weitesten anerkannt ist, sowie durch die vielen, v.  a. asiatischen Methoden, die im Westen immer mehr Anklang finden (Yoga, Zen-Meditation, Qigong etc.), wurde das autogene Training, gemeinsam mit vielen anderen Verfahren, teilweise verdrängt.

37

Allerdings erfährt autogenes Training weltweit einen neuen Aufschwung, v. a. durch die Tätigkeit der ISATAP (International Society for Autogenic Training and Psychotherapy). Zu Recht hat eine Gruppe von Vertretern des autogenen Trainings um den spanischen Psychiater und Analytiker Prof. Dr. José Luis González de Rivera y Revuelta festgestellt, dass für die neue Zeit auch eine neue Organisation gebraucht wird. Vertreter aus den meisten europäischen Staaten, in denen autogenes Training praktiziert wird, aber auch aus Amerika und anderen Kontinenten haben sich zu einer aktuell sehr aktiven Gruppe zusammengeschlossen. Eine internationale Bibliothek, Kongresstätigkeiten in Europa und Übersee u. a. sind im Werden bzw. vorgesehen. 37.1.2  Herkunft des autogenen

Trainings – I. H. Schultz (1894–1970)

Das autogene Training entstand aus Versuchen, die der deutsche Psychiater, Psychotherapeut und Hypnosearzt Johann Heinrich Schultz (oft auch I. H. Schultz) vor dem Ersten Weltkrieg bei dem Neurologen und Hirnforscher Heinrich Vogt in Frankfurt am Main machte. Die Aufgabe war es, herauszufinden, was bei Hypnose eigentlich geschieht. Schultz nahm als gesunde Versuchspersonen Studenten und hypnotisierte sie mit einfachen Mitteln. Anschließend mussten sie genau beschreiben, was sie erlebt hatten. Der größte Teil der Probanden beschrieb als Anfangsempfindung ein Schweregefühl im Schreibarm. Die Geburtsstunde des autogenen Trainings war gekommen, als Schultz erkannte, dass es keinen Hypnotiseur brauchte, sondern dass die Versuchsperson auch durch die Vorstellung der Schwere in Hypnose kommen müsste. Schultz fand überdies Literatur zu Selbstschilderungen in Hypnose von kritischen Autoren wie u. a. dem berühmten Züricher Psychiater Eugen Bleuler, Begründer der Schizophrenie-­ ­ Forschung, und dem Wiener Nervenarzt Heinrich Obersteiner, Außeror-

922

H. Wallnöfer et al.

dentlicher Professor für Physiologie und Pathologie des Zentralnervensystems. Psychoanalytisch interessant ist, dass Schultz eine erhebliche Vater-Problematik hatte und sein Asthma heilte, als er – in einem Bild der Oberstufe  – in der Wüste eine Büste seines Vaters wegblies: Hypnose ohne Vaterperson gegen selbstinduzierte Hypnose. Schultz war übrigens auch ein sehr bekannter Hypnosearzt und sprach, wie sein Schüler, der Arzt und Mittelschullehrer Klaus Thomas, immer wieder von der „Selbsthypnose“ im Rahmen des autogenen Trainings. kAnmerkung

Über die Tätigkeit von I. H. Schultz in der Zeit des Nationalsozialismus gibt es Informationen, die ihn als Nationalsozialisten und Befürworter der Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ darstellen. Nach Kenntnis des Autors gibt es noch keine abschließende Untersuchung über dieses Problem (Husmann 2015).

Wird dieser Vorgang umgedreht, lässt sich durch die Muskelruhe beim autogenen Training, bei der trainierenden Entspannung, das erreichen, was schon von der ältesten Yogaübung, der Deathpose der Toten-Asana, her bekannt ist: Im Zustand der Muskelruhe melden die Spannungsrezeptoren in der Muskulatur an das Gehirn: „In der Umgebung herrscht Ruhe, Du darfst Dich entspannen!“ Alle die Bereiche im Gehirn, die für die Lebensfunktionen und die Verteidigung essenziell sind, werden nun nicht schlagartig, sondern Schritt für Schritt auf den Ruhezustand und die Erholungsphase umgeschaltet. Bei länger Trainierenden erfolgt das übrigens oft sehr rasch.

37.1.4  Bereiche des autogenen

Trainings

Die folgende Übersicht zeigt, dass die autogene Psychotherapie praktisch alle wesentlichen Bereiche des Lebens erfasst:

37.1.3  Die umgekehrte

Weckreaktion

37

Autogenes Training kann auch als „umgekehrte Weckreaktion“ bezeichnet werden. Dieser Begriff macht vielleicht am besten deutlich, was dabei geschieht. Diese Weckreaktion, eine „Notfalleinrichtung“ des Körpers, entdeckt von den amerikanischen Forschern Moruzzi und Magoun (1949), macht es möglich, bei Gefahr plötzlich „hellwach“ zu sein. Der Körper wird schlagartig „geweckt“: 55 Über das Rückenmark wird umgehend die Muskulatur aktiviert, um den Körper auf Abwehr oder Flucht vorzubereiten. 55 Vegetative Funktionen (Bereich der „Lebensnerven“), z. B. von Herz, Atmung und Darm, werden angepasst. 55 Emotional ist der Betroffene in Alarmbereitschaft und sofort „hellwach“. 55 Über die Großhirnrinde werden verschiedene Prozesse gesteuert, damit die Höchstleistung, die bei Bedrohung benötigt wird, erbracht werden kann.

Teile der (bionomen) autogenen Psychotherapie Basisteil 55 Übung: Lernen, Trainieren, psychologisch neutral „Verlernen“ einer Platzangst, Vollzugszwang 55 Persönlichkeitsentwicklung: Aufklären, Belehren, Ermutigen, Ermahnen, verbieten, „Führen“ 55 Suggestion: Zwischenmenschlicher Grundvollzug unter Ausschaltung rationaler Persönlichkeitsanteile Analytischer Teil 55 Selbstklärung: Wer? Wie? „Sachlicher“ Abstand zur eigenen Person 55 Psychagogik: „Charakter“, Helfen, wo der Weg zum Selbst verbaut ist, Führen zur Eigenentwicklung 55 Entwicklung möglich machen: Eigene Welt – eigene Entscheidung – eigenes Wesen – Selbstverwirklichung

923 Methoden zur Entspannung

37.1.5  Wozu autogene

Psychotherapie?

Einfach ausgedrückt, besteht mit dem autogenen Training in der Grundstufe vorwiegend Zugang zum „System der Lebensnerven“, d. h. zur Regulation aller Lebensvorgänge. Die Oberstufe in ihren verschiedenen Ausprägungen ermöglicht einen indirekten (oder den am direktesten möglichen) Zugang zum Unbewussten. Das Ziel der Arbeit oder der Behandlung mit autogener Psychotherapie wurde in der Zeitschrift Imagination der ÖGTAP sehr gut beschrieben:

»» „… wer sich in der Entspannung in seiner

bionomen Mitte, in seiner Balance zwischen Anspannung und Entspannung findet, kann sich öffnen gegenüber der Mitwelt und Umwelt. Der verkrampfte oder erschlaffte Mensch hingegen braucht seinen Schutzschild gegenüber den Anforderungen und Einladungen von außen. In der A T P wird die Individualität besonders gewürdigt durch das Autogene Prinzip und die Bionomie: die Bionomie sieht im Lebendigen und im Verlauf des Lebens eine Gesetzlichkeit walten, es gibt Bionomieformeln, die die Abfolge von Entwicklungsstadien in einen Zeitplan bringen … Sie besagt, dass jeder Mensch einen Bauplan in sich trägt, eben eine Lebensgesetzlichkeit, die sich nach und nach vollzieht.“ (Sedlak 2013)

Ein grundlegender Ansatz des Trainings ist nach I. H. Schultz der „absolute Respekt vor dem Spontanerleben des Übenden“. Das Autogene verlangt, dass die Individualität des Übenden nicht angetastet wird, dass er seinen Weg – mithilfe der Übungen und der anderen Möglichkeiten des Trainings – selbst findet. >> Mit Ausnahme der Ausfassung, dass der – lebensnotwendigen! – Spannung eine gesunde Entspannung entgegensetzt werden sollte, gibt es keine Doktrin.

37

Mit der Muskelentspannung, die wie in 7 Abschn.  37.1.3 erläutert, direkt auf das Gehirn zurückwirkt, kann der Übende sein gesamtes System allmählich umstellen und „gelassener“ werden. G. R. Heyer prägte den Satz:  

»» „Wer es lernt, sich im Autogenen Training zu lassen, der wird gelassen.“ (Wallnöfer 1992, S. 84; Schultz 1970, S. 127, 288)

Dass in autogenem Training Geübte auch sportlich viel leisten können, ist nicht nur durch verschiedene olympische Medaillen nachgewiesen, sondern auch durch die beiden Atlantik-Überquerungen des im autogenen Training geschulten Arztes Hannes Lindemann im Einbaum bzw. im Faltkajak (Lindemann 1957). 37.1.6  Mit dem „veränderten

Bewusstseinszustand“ gegen Burnout

>> Heute ist allgemein bekannt, dass der Zustand, in den die autogen trainierende Person kommt – der altered state of consciousness – schon immer als entspannend und heilend erfahren wurde.

Mithilfe der Übungen der autogenen Psychotherapie kommt man auf einem wissenschaftlich fundierten, weitgehend steuerbaren Weg zu dieser uralten meditativen Einstellung (I.  H.  Schultz). Dabei kann die übende Person mithilfe des Therapeuten selbst ihre ganz eigene Persönlichkeitsentwicklung, ihr Selbstbewusstsein, ihre Selbsterkenntnis etc. gestalten und zu einer „autogenen Selbstverwirklichung“ kommen. >> Heute weiß man und vermutet es nicht nur, dass psychotherapeutische Einflussnahmen positiv auf die einzelnen Hirnzellen und auch in den Bereich der Gene wirken (Stahl 2013).

Deshalb ist die autogene Psychotherapie und allein schon das Erlernen der Grundstufe des autogenen Trainings ein wertvoller Faktor zur

924

H. Wallnöfer et al.

Vorbeugung und Behandlung des heutzutage weit verbreiteten Burnout. I.  H.  Schultz hatte schon in den 1930er-Jahren von der Behandlung des „Früh-Verbrauchten“ gesprochen und meinte dabei vorwiegend den Personenkreis, der heute „Manager“ genannt wird (Schultz 1964). 37.1.7  Autogenes Training/

autogene Psychotherapie – wer darf sie ausüben?

37

Der Begründer des autogenen Trainings hat seine Methode immer als Psychotherapie verstanden. Die Grundstufe zählte er zur „kleinen“, die Oberstufe zur „großen“ Psychotherapie. Nach österreichischem Gesetz ist die autogene Psychotherapie als tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie anerkannt und wird von der ÖGATAP (Österreichische Gesellschaft für angewandte Tiefenpsychologie und Psychotherapie) vertreten. Berechtigt, autogenes Training zu vermitteln, sind entsprechend geschulte Ärzte, z.  B. Ärzte mit dem „Psydiplom“ (also in psychotherapeutischer Medizin ausgebildete Mediziner) und alle Psychotherapeuten, die eine entsprechende Ausbildung bei einer staatlich anerkannten Stelle (vorwiegend die o. g. ÖGATAP) absolviert haben. Die Dauer der Ausbildung beträgt ca. 1600 Stunden. Zu Lebzeiten von I. H. Schultz war das autogene Training praktisch ausschließlich den Ärzten vorbehalten, was heute völlig undenkbar ist. Die offizielle Begründung war v. a. die auch noch heute gültige Tatsache, dass es bei unsachgemäßer Vermittlung der Grundstufe beim Übenden zu kollapsähnlichen Zuständen kommen kann. In einer persönlichen Mitteilung erläuterte Schultz allerdings, dass vorwiegend standesrechtliche Gründe maßgeblich dafür waren. Schultz selbst nahm  – ohne es publik zu machen – durchaus auch Psychologen als Schüler auf, und er erwähnt auch den „Psychologen“ im Vorwort zum Buch seines Schülers Klaus Thomas (Thomas 1976).

kAnmerkung

Eine kurze Bemerkung am Rande: als der Autor in Österreich  – nach Maßgabe des Gesetzes  – bei der Erstellung der Statuten der Gesellschaft für das autogene Training auch die Psychologen aufnahm, machte er sich bei den deutschen Kollegen nicht nur Freunde. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich das autogene Training weltweit verbreitet, es wird praktisch in allen Erdteilen von den verschiedensten „Trainern“ vermittelt. Beispielsweise gibt es eine japanische Zeitung für autogenes Training, in der vorwiegend Psychiater publizieren (Japanese Journal of Autogenic Therapy, gegründet 1981) und deren Advisory Editor der Autor ist. Mit der Nachfolgegesellschaft des internationalen AT-Komitees, ICAT (International Committee for the Coordination of Clinical Application and Teaching of Autogenic Therapy), das Wolfgang Luthe 1961 gegründet hatte, vollzieht sich derzeit ein neuer Aufbruch: Es handelt sich um eine internationale Vereinigung, ISATAPSY (International Society of Autogenic Training & Psychotherapy), die von dem Madrider Psychoanalytiker, Psychiater und Universitätsprofessor J. L. G. de Rivera gegründet wurde. De Rivera hatte bereits 1977 autogenes Training und Psychoanalyse für den englischen Sprachraum kombiniert; etwas, das der Autor bereits seit 1966 tat: Entwicklung der „analytischen“ Oberstufe (7 Abschn. 37.1.9).  

37.1.8  Wer kommt für das Training

infrage, und wie findet es statt?

Es ist wichtig festzuhalten, dass autogenes Training, insbesondere die Grundstufe, jedem nützlich sein kann, der sie ausführen möchte. Geeignet ist für das Training prinzipiell jeder, der bereit ist, zu trainieren. Jemanden zum autogenen Training überreden zu wollen, ist nicht sinnvoll. Das Wesentliche am Training ist ja, dass der Übende selbst etwas tun will. Es ist nicht jedermanns Sache, 3-mal am Tag zu trainieren, aber das Trainieren ist sicher keine Zeitverschwendung, weil der trainierte

925 Methoden zur Entspannung

Mensch – das ist v. a. von Manager-Kursen bekannt – effektiver und zeitsparender arbeitet. Sowohl die therapeutische Anwendung als auch die Vermittlung an Sportler, Manager, Schüler etc. findet vorwiegend in Gruppen statt. Bevor jemand zur einer Therapie zugelassen wird, wird mindestens ein intensives Gespräch mit dem Betreffenden geführt und häufig auch eine Testbatterie durchgeführt, damit der Vermittelnde weiß, wen er vor sich hat, und eventuelle Kontraindikationen berücksichtigen kann (7 Abschn. 37.1.10). Zu Beginn findet, je nach Trainer, ein kürzerer oder längerer Einführungsvortrag statt. In dieser Einführung erfahren die Teilnehmer einiges über die naturwissenschaftlichen Voraussetzungen des autogenen Trainings, die eine wesentliche Basis für Funktion und Erfolg dieser Psychotherapiemethode darstellen.

37



..      Abb. 37.1  Die Liegehaltung. Beim Liegen sollte der Übende immer zugedeckt sein, die Beine sind leicht geöffnet, die Arme leicht angewinkelt in der sog. Mittelstellung

Die Haltungen Dass „Haltung“ zur Erreichung von Umschaltvorgängen wesentlich ist, war schon den Lehrern der alten asiatischen Schulen (Yoga) bekannt. Die wesentlichen Haltungen im autogenen Training/in der autogenen Psychotherapie 55 Liegen 55 Sitzen auf einem normalen Stuhl mit Arm- und Rückenlehne 55 Sitzen auf einem normalen Stuhl nur mit Rückenlehne 55 Sitzen im „Großvaterstuhl“ bzw. Chefsessel 55 Droschkenkutscherhaltung 55 Dazu kommt (v. a. für Kurse in Hörsälen usw.) das Auflegen der Unterarme auf Tisch oder Pult

Beim Liegen muss dafür gesorgt werden, dass der Patient die Beine nicht übereinander legt und die Arme locker in „Mittelstellung“ liegen, damit weder die Streck- noch die Beugemuskulatur angespannt ist (. Abb.  37.1). Been 

..      Abb. 37.2  Sitzhaltung mit Armlehne

gende Kleidungsstücke müssen geöffnet werden, denn jede Beschränkung stört. Sitzen ist auf jedem Sessel möglich (. Abb.  37.2). Wenn Armlehnen vorhanden sind, können die Arme aufgelegt werden. Diese „Chefsessel-“ oder „Großvaterstuhlhaltung“ ist für viele die bequemste Haltung, denn Arme, Kopf und Rücken sind entlastet. Ohne A ­ rmlehne  

926

H. Wallnöfer et al.

..      Abb. 37.3  Sitzhaltung ohne Armlehne ..      Abb. 37.4  Sitzhaltung am Schreibtischtisch

wird das untere Drittel der Unterarme auf den Oberschenkel aufgelegt (. Abb.  37.3). Ohne Rückenlehne wird die „Droschkenkutscherhaltung“ eingenommen. Beim Sitzen in der „Droschkenkutscherhaltung“ und beim Auflegen der Unterarme auf den Tisch/das Pult (eine Haltung, in der sich manchmal auch die Therapeuten entspannen, . Abb. 37.4) ist es wichtig, dass der Oberkörper in sich ruht und nicht von den Armen gestützt wird. Durch diese Körperhaltungen werden mechanische Spannungen weitgehend vermieden.  



>> Die erste Kontrolle richtet sich immer darauf, ob sich der Patient nicht etwa in Hab-Acht-Stellung befindet.

37

Der Entspannungsgrad Der Grad der Entspannung lässt sich bekanntermaßen sehr einfach mit dem Patellarsehnenreflex messen. Heute steht neben der Hautwiderstandsmessung zu diesem Zweck v.  a. die sog. Herzrhythmusvariable (HRV; 7 Kap.  10) zur Verfügung. Die respiratorische Arrhythmie lässt sich nutzen, um den Entspannungsgrad zu messen. Bei der HRV-Messung wird der Stressindex bestimmt (BioSign GmbH 2009). Dieser wurde  

im Rahmen der russischen Weltraummedizin von Professor R.  M.  Baevsky entwickelt, und wird auch Baevsky-Index genannt (7 http://  

www.­angioscan.­ru/en/attachments/ManualProfessional/index.­h tml?pharmparams_baevsky.­ htm, zuletzt abgerufen am 18.06.2018). Das

Verfahren wird – neben der Anwendung in der Weltraummedizin und in der Medizin  – v.  a. auch häufig in der Sportmedizin eingesetzt und ist beim körperlich Gesunden gut anwendbar. In der Darstellung ist die Position der blauen Punkte maßgeblich, die im Zentrum liegen oder in die Peripherie wandern können: Je näher diese Punkte dem zentralen roten Bereich sind, umso angespannter ist der Proband, sein Sympathikus ist stärker betont (. Abb. 37.5). Je weiter sie sich im grünen Bereich befinden, umso entspannter ist der Proband, sein Vagus überwiegt (. Abb. 37.6). In der modernen Literatur über das Verständnis von Prophylaxe gewinnt der Vagus zunehmend an Bedeutung:  



»» „You may need the vagus nerve to under­

stand pathophysiology and to treat diseases.“ (de Cook et al. 2012)

927 Methoden zur Entspannung

37

Med. psycholog. Labor OMR Dr. Heinrich Wallnöfer 1190 Wien Pyrkergasse 23

Bericht Messung: Kurzzeit-HRV 15.05.2014 08 :17:32 Proband:

Rang-Diagramm SD1 100% 80% Mittlere HF100% SD2 60% 100% 80% 80% 60% 40% 40% 60% 20%20% 40% 20% 20% 60% 40% 80% 20% 40% 100% 20% 60% Power HF 20% Stressindex 80% 40% 100% 40% 60% 60% 80% 80% 100% 100% Total Power Power LF ..      Abb. 37.5  HRV-Scanner: Messung der Kurzzeit-­ Herzrhythmusvariable (HRV) bei einer stark angespannten Person. Der Stressindex (Pfeil) liegt weit im

37.1.9  Theoretischer Ablauf des

Trainings

I.  H.  Schultz hat die „Umschaltung“  – also den Ablauf des Trainings  – in seinem Lehrbuch sehr gut beschrieben. Der Übende erlebt die „Umschaltung“ in der passiven Konzen­ tration. Der Vorgang verläuft in 12  Schritten (Schultz 1970, S. 322): Schrittweises Erlangen der „Umschaltung“ 1. Zu Beginn muss die Person einwilligen. 2. Sie muss sich sammeln, von der Außenwelt ablenken, sich selbst kritisch beobachten.

roten Bereich, SD1 und SD2 Streuung der Herzschläge im Poincaré-Diagramm, HF und LF hohe bzw. niedrige Herzfrequenz

3. Die Person schließt die Augen und ­wendet sich nach innen. 4. Sie nimmt ihren Körper besser wahr, widmet sich mehr 5. der„Ruhe“ und 6. der Entspannung (insgesamt einem Stadium der Indifferenz, also 5. und 6. zusammen), es kommt zu einer Verminderung des Wachheitszustands, zur 7. „Entwachung“, die Person ist Reizen von außen weniger zugänglich, Kritik und Spontaneität sinken ab, und es kommt zu einer „inneren Schau“. 8. Alles wird langsamer (auch Puls, Atmung etc.), und es kommt zu dem

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H. Wallnöfer et al.

Med. psycholog. Labor OMR Dr. Heinrich Wallnöfer 1190 Wien Pyrkergasse 23

Berriich Be ht Messung: Kurzzeit-HRV 24.10.2011 12 :19:51 Proband:

Rang-Diagramm SD1 100% Mittlere HF 100%

80%

SD2 60% 100% 80% 80% 60% 40% 60% 40% 20%20% 40% 20% 40%20% 60% 20% 40% 20% 100%80% 60% 80% 20% Power HF Stressindex 100% 40% 40% 60% 60% 80% 80% 100% 100% Total Power Power LF

..      Abb. 37.6  HRV-Scanner: Messung der Kurzzeit-­ Herzrhythmusvariablen (HRV) bei einer relativ gut entspannten Person. Der Stressindex (Pfeil) liegt in diesem Fall bei 80 %, d. h. für den Alltag im Normbe-

37

­ ichtigen Zustand eines Abstands w zum„Ich“, wodurch die Person empfänglicher und bestimmbarer wird. Bedeutungen verändern sich, die Grenzen des Ichs werden gelockert, und es kommt gemütsmäßig (meist) zu einer gehobenen (euphorischen) Stimmung. Der entspannte Mensch fühlt sich besser. 9. Es kommt zur „Ent-Ichung“, einem Zustand, in dem man mehr oder ­weniger Distanz zum eigenen Ich hat. Daher heißt die Formel auch nicht „mein“ Arm, sondern „der“ Arm. Die Empfänglichkeit wird er-

reich, SD1 und SD2 Streuung der Herzschläge im Poincaré-Diagramm, HF und LF hohe bzw. niedrige Herzfrequenz

höht, man wird „bestimmbarer“, die Kohärenz der Dinge zerfällt, Formen wandeln sich und zerfallen, die Bedeutungen gleichermaßen, und es kommt zu einer Verschiebung der Ich-Grenzen. 10. Es kommt zur „Umschaltung“, oder anders ausgedrückt, zu einem „Näherrücken an das Unbewusste“, sowohl körperlich als auch seelisch. Die „­Umschaltung“ lässt sich sicher auch mit dem Übergang vom Wach- zum Schlafzustand vergleichen (sie ist aber nicht damit gleichzusetzen, v. a. weil der Übende nicht schläft).

929 Methoden zur Entspannung

11. Letztlich (es muss nicht immer dieser Ablauf sein) tritt die übende Person in eine Bilderwelt ein, die hier (vom ­Unbewussten?) geboten wird. Das kann – nebenbei bemerkt – bei vorwiegend musikalisch Begabten z. B. durchaus auch eine Musikwelt sein. 12. ­Wenn hier von „Erlebnisevidenz“ gesprochen wird, so verstehen das Menschen, die schon in irgendeiner Weise erfolgreich„meditiert“ haben, meist sofort. Nicht umsonst hat I. H. Schultz einen Artikel über Yoga geschrieben, und im Zusammenhang mit autogenem Training gibt es immer wieder Hinweise auf den Zen-­Buddhismus, den Dalai Lama u. a. Der Dalai Lama wird auch in der amerikanischen ­Literatur über autogenes Training erwähnt.

Eine wesentliche Bedeutung für das autogene Training im Hinblick auf die Gehirntätigkeit hat die „Reizdeprivation“, eine Verarmung an Reizen, die das Gehirn „entlastet“. Das ist zweifellos eine wichtige Voraussetzung für das, was man auch „autogene Arbeit“ des Gehirns nennen kann.

Die „Stufen“ Schultz unterschied bereits 1929 die „gehobene Aufgabenstufe“ von der „Unterstufe“. Heute wird allgemein in 3 Stufen eingeteilt: die Grund-, die Mittel- und die Oberstufe.

Grundstufe Sie bildet die Basis des ganzen Trainings, auf ihr ist das System aufgebaut. Der Anteil der Muskulatur, der willkürlich gesteuert wird, ist unserem „Ich“ am nächsten und diesem am meisten verbunden. Daher bezieht sich die Grundübung auf die „Schwere“ der Muskulatur. Wichtig ist dabei die passive Konzentration, die im stärksten Gegensatz zur lebensnotwendigen aktiven Konzentration des Alltags steht. Die übende Person lernt allmählich, das „Geschehenlassen“.

37

>> In der Grundstufe hat die übende Person sozusagen gelernt, mit den „Lebensnerven“ umzugehen, oder besser, sie hat einen Zugang dazu bekommen, sie hat die Wichtigkeit der Regelmäßigkeit erkannt und ist auf einem guten körperlichen Weg aus dem Stress.

Mittelstufe Aus der sog. formelhaften Vorsatzbildung von I. H. Schultz entstand die Mittelstufe. Bei der formelhaften Vorsatzbildung (Beispiel: „Ich bleibe ruhig und gelassen“) soll nach I.  H.  Schultz „ohne willkürliches Zutun der übenden Person“ eine allmählich im Unbewussten verankerte Verhaltensweise entstehen. Im Laufe der Jahre wurde die autogene Psychotherapie von einer Reihe von österreichischen Ärzten, Psychologen und Psychotherapeuten weiterentwickelt. So hat Günther Bartl Wärme, Rhythmus und Konstanz v.  a. in der Grundstufe betont und ihre Bedeutung herausgearbeitet (s. ATP-Reader, Sedlak 2012). Von Franz Sedlak wurde in der Arbeit Die besonderen Möglichkeiten der Mittelstufe der Autogenen Psychotherapie: Persönlichkeitsentwicklung und Kompetenzsteigerung die Ergiebigkeit des autogenen Trainings in psychotherapeutischer Hinsicht besonders unterstrichen (Sedlak 1999). In der Mittelstufe geht es darum, sich aktuellen Themen und aktuellen Problemen zu stellen, diese aufzuspüren und sie dann  – soweit als möglich – auch mit der formelhaften Vorsatzbildung von I.  H.  Schultz und Klaus Thomas zu „bearbeiten“. Während Schultz und viele seiner Schüler vom psychoanalytischen Standpunkt aus dafür waren, dass die übende Person ihre „Formel“ selbst findet, bot Thomas – der ebenfalls ein Buch über die Selbstanalyse geschrieben hat – eine breite Auswahl an Vorsätzen an, teilweise mit eindrucksvollen, mehr oder weniger poetischen Betonungen. Es gibt Übungen zur Charakterbildung („Wie kann ich mich ändern?“), Übungen, die den Alltag erleichtern („Ich warte geduldig.“), Formeln für sexualmedizinische Anliegen und Vieles andere mehr.

930

H. Wallnöfer et al.

Grundsätzlich geht es darum, sich den sog. Existenzialwerten von I.  H.  Schultz zu nähern. Franz Sedlak hat sie folgendermaßen ­zusammengefasst:

a

Existenzialwerte 55 Körperliches Lebensgefühl (Vitalität, Gesundheit) 55 Störungsfreie Genussfähigkeit und Leistungsfähigkeit (Glücklichsein) 55 Gemeinschaftsfähigkeit (beruflich, familiär, partnerschaftlich; auch als Faktor der Sicherheit zu verstehen) 55 Richtiger Umgang mit schwierigen Lebensphasen, dem Altern, dem Tod (weltanschauliche Basis) 55 Selbst-bewusste Entscheidungsfähigkeit und Selbsterkenntnis (Autonomie, Freiheit) 55 Produktive, lebendige Selbstverwirklichung

zz Aufdecken durch Gestalten vor und nach dem autogenen Training

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Zur Mittelstufe kann auch die vom Autor in Zusammenarbeit mit Kollegen des psychotherapeutischen Seminars an der Wiener psychiatrischen Klinik entwickelte Methode Aufdecken durch Gestalten vor und nach dem Autogenen Training gerechnet werden (Sedlak 1999; Wallnöfer 1973). Es geht darum, dass die übende Person mit Farbstiften, farbigen Plastilin-Blöcken oder Malfarben vor und nach einem halbstündigen Training gestaltet, was ihre Hände gerade wollen  – also erneut „vollkommene Freiheit“. Marianne Martin hat es auf den Punkt gebracht:

»» „Look what your hands are doing!“ (Wallnöfer et al. 2013)

Ein Beispiel für ein gut „gelungenes“ Davor und Danach, gezeichnet von einem Anthropologen, zeigt . Abb.  37.7. Die Beruhigung im Laufe des Trainings ist deutlich zu sehen.  

b

..      Abb. 37.7  Aufdecken durch Gestalten a vor und b nach einer autogenen Trainingseinheit

Oberstufe I. H. Schultz hat mit Klaus Thomas die grundlegende Oberstufe entwickelt. Sie soll der übenden Person die unermessliche Weite der inneren Bilderwelt eröffnen, die Auseinandersetzung mit Problemen und Konflikten erleichtern und das Gefühl einer inneren Freiheit stärken. Schon in seiner ersten Arbeit über das autogene Training (am 3.  März 1926!) wies Schultz darauf hin, dass der berühmte Hirnforscher und Hypnotiseur Oskar Vogt 30 Jahre zuvor festgestellt hatte, dass mit seinen prophylaktischen Ruhepausen „Innenklärungen über eigene Reaktionen“  – kurz: eine „Selbstanalyse“ – zu erreichen sei (Schulz 1926). In einem 1929 folgenden Beitrag über Gehobene Aufgabenstufen im Autogenen Training (Bericht über den 4. allgemeinen ärztlichen

931 Methoden zur Entspannung

Kongress für Psychotherapie in Bad Nauheim 11.–14. April 1929) schreibt Schultz:

»» „Eine Vereinigung der drei bisher er-

wähnten Sonderverfahren der vertieften Selbstschau gestattet in einem gewissen Rahmen eine Auto Psycho Katharsis, ja bei entsprechender Schulung, Eignung und Selbstständigkeit der Versuchsperson eine Auto Psychoanalyse oft bis zu überraschender Tiefe. Diese Beobachtungen sind zweifellos für eine wirklich umfassende eingehende Bearbeitung des Widerstandsphänomenens in der Psychoanalyse von erheblichem Belang …“

Aus dem, was Schultz und Thomas begonnen hatten, entstanden verschiedene Formen der Oberstufe (Kraft 2004; Krapf 2004; Rosa 1984; Wallnöfer 1992; Stumm und Pritz 2000; Pritz 2002). Im Prinzip beginnen alle mit 55 der „Schau“ von Farben (frei und gezielt), 55 der Schau von Gegenständlichem, 55 einer Meeres- und einer Bergübung, 55 der Vorstellung von anderen Personen, 55 der Schau von abstrakten Dingen, 55 einem Versuch, sich selbst zu sehen, 55 einem Versuch, ins Unbewusste zu schauen. Die „abstinenteste“ Form ist die formelfreie Methode von Hartmut Kraft, der einfach nur schauen lässt und nur vorgibt:

»» „Vor meinem inneren Auge entwickelt sich ein Bild … Das Bild wird immer klarer.“ (Kraft 2004)

>> Auch hier ist „der absolute Respekt vor dem Spontanerleben des Übenden“ (Schultz 1970, S. 268) ganz besonders wichtig!

In der vom Autor entwickelten „analytischen“ Form der Oberstufe werden einige analytische Techniken angewendet, und die übende Person soll allmählich lernen, die „gleichschwebende“  – „neutrale“ Aufmerksamkeit, die Freud vom Analytiker verlangt, sich selbst gegenüber erlernen (Wallnöfer 1992).

37

Protokoll Ein wesentlicher Bestandteil des Trainings ist das Protokoll, in dem der Übende einmal täglich aufschreibt, was er bei den letzten drei Übungen erlebt hat. Das Protokoll ist deshalb ein wichtiger Teil des Ganzen, weil sich der Übende hier noch einmal mit dem Geschehen während des Trainierens befassen muss. Es ist nicht immer einfach, die Übenden zum Führen eines Protokolls zu bewegen. Für die Festigung des Erfolgs ist es aber sehr wichtig, sich nochmals mit dem Erlebten zu beschäftigen. In der analytischen Oberstufe ist das Protokoll außerdem auch eine „analytische“ Hilfe. >> Auf die Kommunikation kommt es an!

Spätestens seit den Bemühungen des berühmten Psychologen Paul Watzlawick ist bekannt, wie wichtig für den Erfolg jeder Psychotherapie die Kommunikation zwischen dem Patienten und dem Therapeuten ist (Watzlawick 2005). Patient und Therapeut tauschen verschlüsselte und unverschlüsselte Mitteilungen aus, verstehen einander oder verstehen einander nicht und Vieles andere mehr (bei weitergehendem Interesse s. Wallnöfer 1975a).

Neutralisation Zu erwähnen ist noch die „autogene Neutralisation“ (autogenic neutralization) von Wolfgang Luthe, der breiteste Ausbau einer Oberstufenart (Luthe 1973; ein Lehrbuch mit 441 Seiten), die in Europa nur in England, und auch hier nur wenig, angewendet wird. Das breit angelegte Verfahren hat zwei Bereiche: 55 die „autogene Abreaktion“ und 55 die autogene Verbalisation (Duden: Verbalisierung). Im Vordergrund steht der Umgang mit dem „Widerstand“, es gibt aber auch Traumarbeit und Vieles andere mehr. Luthe geht von den auch schon in der Grundstufe stattfindenden „Entladungen“, „Abreaktionen“ aus. Selbstregulatorische hirngesteuerte Mechanismen, eben „Entladungen“ der verschiedensten Formen, werden speziell ausgewählt, programmiert, verändert, adaptiert etc. und dann auch

932

H. Wallnöfer et al.

in einer psychoanalytischen Form bearbeitet, wobei v.  a. der Widerstand im Vordergrund steht. Ganz im Sinne des Autogenen greift der Therapeut nur vorsichtig, selten und wenig ein. In der Praxis heißt das, dass jedes vom Therapeuten angesprochene Thema (Vater, Therapeut, in der Hölle brennen etc.) nur ganz vorsichtig und unter Berücksichtigung der Gesamtlage angesprochen werden darf. Ein wesentlicher Satz lautet:

Wichtige Heilanzeigen (Auswahl) 55 Alle psychosomatischen Erkrankungen 55 Die meisten Störungen im HerzKreislauf-­System 55 Periphere Durchblutungsstörungen wie M. Raynaud 55 Verschiedene Hauterkrankungen, Al­ lergien etc. 55 Übergewicht und Magersucht 55 Obstipation und viele andere chronische Darmbeschwerden

»» „Generally it is favorable to wait.“ (Luthe 1973, S. 13)

37.1.10  Wann kann, wann soll

autogenes Training/ autogene Psychotherapie angewendet werden?

Es ist hier eine sehr deutliche Unterscheidung zwischen der Grundstufe und den verschiedenen Formen der Oberstufe zu machen. Da bei einer Erkrankung selten ein psychischer Aspekt fehlt, kann bei außerordentlich vielen Erkrankungen allein schon das Trainieren der Grundstufe zur Unterstützung der Behandlung sehr nützlich sein. Dieser Teil der autogenen Psychotherapie wird heute leider viel zu wenig genutzt.

Indikationen

37

Der Bereich der Indikationen reicht von Asthma bis Zahnschmerz. Der Asthmatiker kann sich das Atmen mit autogenem Training sehr erleichtern, er wird grundsätzlich ruhiger und bekommt seltener Asthmaanfälle. Der autogen Trainierte tut sich beim Zahnarzt wesentlich leichter. Auch bei der einfachen Bronchitis lässt sich der Husten meist gut dämpfen. Grundsätzlich ist ein Mensch, der regelmäßig die Grundstufe des autogenen Trainings praktiziert, besser gegen Grippe und Erkältungskrankheiten geschützt als ein nichttrainierter (persönliche Mitteilung an den Autor von Durant de Bousingen über eine ausgedehnte Arbeit in einem großen Betrieb mit rund 1000 Teilnehmern, 500 von ihnen waren trainiert, 500 nicht).

Sexualität Ein weiterer wichtiger Bereich ist die Sexualität. I. H. Schultz berichtete schon früh über Erfolge bei Alltagsproblemen auf dem Gebiet der Sexualität (Schultz 1970, S. 172). Wolfgang Luthe empfahl bereits 1969 die Oberstufe bei sexuellen Störungen (Luthe und Schultz 1969). 1975 konnte gezeigt werden, dass 34 % der Anfänger im Laufe des autogenen Trainings sexuelle Empfindungen hatten (Wallnöfer 1975b). Nach einem Jahr Training waren es 79,65 %. Die Sexualität taucht also im Training grundsätzlich auf. Therapeutisch eingesetzt, ist autogenes Training ein bewährtes Mittel gegen viele sexuelle Störungen wie Ejaculatio praecox, verschiedene Formen der Impotenz, Vaginismus, Anorgasmie etc. (7 Abschn. 37.1.11, Fallbeispiel 2).  

Hauterkrankungen Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen Hauterkrankungen und Psyche. Typisch ist ein Fall, den ein Kollege bei einer Fortbildungsveranstaltung beschrieben hat (7 Abschn. 37.1.11, Fallbeispiel 3).  

Kontraindikationen Die wichtigste Kontraindikation besteht darin, dass jemand das Training nicht machen will und vielleicht grundsätzlich gegen Psychotherapie eingestellt ist. Alle anderen Gegenanzeigen sind mehr oder weniger relativ: 55 Sehr zwanghafte Menschen könnten u. U. unter dem Zwang, trainieren zu müssen,

933 Methoden zur Entspannung

mehr leiden, als ihnen das Training nützt – es ist in der Literatur allerdings noch kein Fall beschrieben. 55 Anfänglich wurden Patienten mit psychischen Störungen, v. a. mit paranoider Schizophrenie, streng vom autogenen Training ausgeschlossen. Unter anderem durch Untersuchungen in Japan konnte gezeigt werden, dass autogenes Training gerade für diese Patienten – in bestimmten Situationen! – äußerst nützlich sein kann (Luthe und Schultz 1969, S. 53 ff.; Kraft 2004, S. 22 ff.). 55 Vorsicht ist geboten bei bestimmten Formen der Depression, weil es – bei falscher Anwendung des autogenen Trainings – zu einer Verstärkung der Depression kommen kann. >> Auf keinen Fall dürfen mit der Begründung, es würde ja jetzt eine Psychotherapie gemacht, Antidepressiva abgesetzt werden! Der verordnende Arzt muss auf jeden Fall verständigt werden, wenn der Patient ohne Medikation in das autogene Training eingeführt werden soll!

37.1.11  Fallbeispiele zz Fallbeispiel 1: Liesel

Der Fall kann oft recht dramatisch verlaufen, wie folgendes Beispiel aus der Arbeit mit der analytischen Oberstufe in einer Gruppe von Lehrerinnen illustriert: Eine der Teilnehmerinnen, eine Englischlehrerin, hatte eine Schülerin, die neu in ihre Klasse gekommen war. Das Mädchen hatte an der alten Schule ausgezeichnete Leistungen erbracht und war auch in der neuen Schule sehr gut, mit Ausnahme des Faches Englisch, in dem ihre Schularbeiten gerade noch genügend oder ungenügend ausfielen. Es ist normale Routine in der analytischen Oberstufe, dass die Betroffene sich auf die Problemperson einstellt. Sozusagen mit einem Schlag war die Szene da, als die neue Schülerin

37

sich vorstellte: „Ich heiße Elisabeth, bitte Frau Professor sagen Sie Liesel zu mir.“ Im selben Augenblick erschien der Lehrerin eine gehasste Tante, die sie als Kind immer und provozierend Liesel genannt hatte, obwohl sie unter allen Umständen Elisabeth genannt werden wollte. Einige Wochen später waren die Arbeiten der Schülerin wieder auf dem alten Niveau. Das unbewusste Verhalten der Lehrerin hatte sich offensichtlich deutlich geändert. zz Fallbeispiel 2: Die nackte Frau

Am Beginn des vom Autor entwickelten Verfahrens Aufdecken durch Gestalten vor und nach dem Autogenen Training (7 Abschn.  37.1.9, Mittelstufe) stand ein Manager und Ehemann, der unter starken Herz-Kreislauf-Beschwerden litt. Er galt nebenbei als zeichnerisch absolut unbegabt. Beim seinem ersten Versuch, mit 8 Farbstiften etwas auf das leere Blatt Papier zu bringen (. Abb.  37.8), begann er mit dem Vulva-Symbol, das vor der Computerzeit Knaben noch gerne auf Mauern malten. Er erzählte, er sei recht verlegen gewesen, als er entdeckte, was er da gezeichnet hatte. Er „steckte“ gleich einen Mast in das entstehende Schiff, malte ein gelbes Segel dazu und ergänzte mehrere Schiffe. Danach gestaltete er eine grün-­ schwarze Grenze, zeichnete dazu einen Fisch, links oben Vögel und rechts oben in der Ecke ein Rechteck, dessen Inhalt er durchstrich. Nach dem autogenen Training griff er sofort zum braunen Stift und zeichnete zügig sein Problem (. Abb.  37.9): Seine tiefgläubige  





..      Abb. 37.8  Zeichnung, erster Versuch

934

H. Wallnöfer et al.

..      Abb. 37.9  Zeichnung, nach autogenem Training

Frau erlaubte Sex nur nachts, bei geschlossenen und verhangenen Fenstern und ausschließlich unter der Decke. Er hatte sie noch nie nackt gesehen. Nach einigem Arbeiten in der Oberstufe wurden seine Beschwerden deutlich besser. zz Fallbeispiel 3: Psyche und Haut

Eine etwa 40-jährige Patientin litt unter starker Schuppenflechte, und im Rahmen der analytischen Oberstufe kam zutage, dass es in ihrer Kindheit erhebliche Probleme mit dem zudringlichen Vater gegeben hatte. Abgesehen von der analytischen Bearbeitung, wurde der Vater in den Bildern der Patientin Schritt für Schritt immer weiter buchstäblich „aus der Wohnung gedrängt“. Ihr Ausschlag war auf Jahre hinaus völlig verschwunden, nachdem der Vater ganz aus der Wohnung verschwunden war.

37.1.12  Studien/Evidenzlage

37

Die Literatur zum autogenen Training ist praktisch unüberschaubar. Es gibt seit der Begründung umfangreiche Literatur zur Theorie, zur Effizienz und zu praktischen Fragen. So bringt etwa das Japanese Journal of Autogenic Therapy ständig Einzelfallberichte und Arbeiten über die Effizienz der Methode. Eingehende Untersuchungen über autogenes Training bei Angst und Depression, mit reichlich Testmaterial, stammen von Gastaldo et al. (1995).

Zwei weitere Publikationen seien hierzu genannt: 55 Der Review-Artikel von Linden (1994) fasst die Ergebnisse zu den positiven Effekten von autogenem Training bei sehr unterschiedlichen Störungen zusammen und betont die Spezifität von autogenem Training gegenüber anderen Stressmanagement-­Techniken. 55 Die Metaanalyse von Manzoni et al. (2008) zur Evaluation von Entspannungsmethoden (autogenes Training, progressive Muskelentspannung nach Jacobson und Meditation) bei Angststörungen erstreckt sich über alle Studien im Zeitraum 1997–2007. zz Metaanalyse von Stetter und Kupper (2002) zur klinischen Wirksamkeit von autogenem Training

Aus 73 Studien im Zeitraum von 1952–1999 wurden 60 (davon 35 RCT) in die Metaanalyse aufgenommen. kErgebnisse (Auswahl)

55 Mittlere bis große Effektstärken resultierten beim Vorher-nachher-Vergleich krankheitsspezifischer Effekte von autogenem Training (höhere Effektstärken bei den RCT). 55 Verglichen mit echten Kontrollbedingungen wurden mittlere Effektstärken gefunden. 55 Bei Vergleich von autogenem Training mit anderen psychologischen Behandlungen ergab sich meist kein Effekt, oder es wurden sogar kleine negative Effektstärken ermittelt. 55 Getrennte Metaanalysen für bestimmte Störungen reduzierten die Heterogenität der Effektstärken signifikant. zz Metaanalyse von Bregenzer (2015) zu Wirksamkeitsnachweis und Indikationen des autogenen Trainings

Aufbauend auf der o.  g. Metaanalyse wurde die Studienlage für den Zeitraum 2002–2013

935 Methoden zur Entspannung

(10  RCT) evaluiert und mit den 2002 von Stetter und Kupper erzielten Ergebnissen verglichen; außerdem wurden neue Anwendungsgebiete für autogenes Training untersucht. kErgebnisse (Auswahl)

55 Große Effektstärken ergaben sich bei der Behandlung von 55Migräne und Spannungskopf­ schmerzen (Schmerzintensität, -frequenz und Angst), 55kardialem Syndrom X (eine Studie), 55 mittlere bis große Effektstärken bei der ­Behandlung von 55Angstpatienten nach Koronarplastik (eine Studie), 55multipler Sklerose, 55Brustkrebspatientinnen zur Verbesserung der Lebensqualität. kFazit

Durch autogenes Training lassen sich bei einigen somatischen und psychosomatischen Fragestellungen gute Effekte erzielen. Die aktuelle Studienlage ist jedoch immer noch sehr übersichtlich, und es besteht die Notwendigkeit für weitere Untersuchungen. 37.1.13  Ausbildung

In Österreich, wo die Autogene Psychotherapie vom zuständigen Ministerium anerkannt ist, dauert die Ausbildung bis zu 1500 Stunden. Ziel ist, dass die ausgebildeten Personen „psychische Störungen und Erkrankungen von Patienten erkennen und geeignete indikationsgerechte praktische Behandlungsschritte, die auf theoretischen Grundlagen beruhen, einsetzen können.“ Zugrunde liegt das Ausbildungscurriculum Autogene Psychotherapie der OEGATAP (7 www.­oegatap.­at/ausbildung_atp_curriculum_2004. Zugegriffen am 18.06.2018). In Deutschland liegen die Dinge nach den geltenden Gesetzen völlig anders. Es gibt unterschiedliche Möglichkeiten, die verschiedensten Formen des autogenen Trainings (für  

37

Sportler, Heilpraktiker usw.) zu erlernen und dafür ggf. auch eine Kassenzulassung zu bekommen. 1955 hat I. H. Schultz die Deutsche Gesellschaft für Ärztliche Hypnose und Autogenes Training (DGÄHAT) gegründet, die ebenfalls

eine Ausbildung in autogenem Training, vorwiegend aber für die Grundstufe und für Ärzte und Psychologen anbietet. Hauptausbildungsmöglichkeit auch für die Oberstufenformen sind die Lindauer und die Lübecker Psychotherapiewochen. In Frankreich, England, Italien, Kroatien, Spanien, Ungarn und anderen europäischen Ländern gibt es eine oder mehrere Gesellschaften für Autogenes Training. Die medizinisch fundierteste AT-Gesellschaft außerhalb des euro­ päischen Raums ist die Japanische Gesellschaft für Autogenes Training mit einer eigenen Zeitschrift, beheimatet im universitären Bereich (University of Tzukuba). Es gibt auch viel japanische Literatur über autogenes Training. 37.1.14  Blick in die Zukunft

Es scheint sich weltweit eine gewisse Wiederbelebung des autogenen Trainings zu ergeben, v. a. durch die Tätigkeit der ISATAP (International Society for Autogenic Training and Psychotherapy). Zu Recht hat eine Gruppe von Vertretern des autogenen Trainings um den spanischen Psychiater und Analytiker Prof. Dr. José Luis González de Rivera y Revuelta erkannt, dass für die neue Zeit auch eine neue Organisation gebraucht wird. Vertreter aus den meisten europäischen Staaten, in denen autogenes Training praktiziert wird, aber auch aus Amerika und anderen Kontinenten, haben sich zu einer augenblicklich sehr aktiven Gruppe zusammengeschlossen. Eine internationale Bibliothek, Kongresstätigkeiten in Europa und Übersee etc. sind im Werden bzw. bereits im Gebrauch. Wer sich näher mit der autogenen Psychotherapie (ATP) befassen will, findet im 2012 erschienenen ATP Reader. Grundsatzbeiträge zur Autogenen Psychotherapie der OEGATAP (Österreichische Gesellschaft für angewandte

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H. Wallnöfer et al.

Tiefenpsychologie und allgemeine Psychotherapie), Redaktion Franz Sedlak, eine hervorragende Zusammenfassung, die profund über alle fachlichen Fragen Auskunft gibt (Sedlak 2012). Wie es mit dem autogenen Training weitergehen wird, gleicht einem Blick in die Glaskugel. Hat Professor Hans Strotzka um 1985 weltweit noch rund 300 Psychotherapiemethoden gezählt, so sind es heute über 3000, die den Anspruch erheben, eine Psychotherapie zu sein. Dieser Psychoboom hat sich selbstverständlich auch auf die bestehenden Therapien ausgewirkt. Trotzdem ist der geläufige Name „autogenes Training“ geblieben, und es scheint die Hoffnung berechtigt, dass sich eine wissenschaftlich fundierte (weiterentwickelte) Therapie mit autogenem Training – in Österreich und Italien der „Autogenen Psychotherapie“ – weiter ausbreiten wird. Das mindert nicht den Wert des autogenen Trainings für Studenten, Sportler oder für Manager, ist aber für einen effektiven Einsatz der Schultzschen Methode für den Patienten wahrscheinlich sehr wichtig. Zusammenfassung

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55 Dem Leser wird ein Einblick in die Möglichkeiten der Arbeit mit dem autogenen Training nach I. H. Schultz gegeben, wobei die Betonung auf „nach I.  H.  Schultz“ liegen muss. 55 Unter dem gängigen Namen „autogenes Training“ (den jeder verwenden kann, denn er ist nicht schützbar) werden die verschiedensten Arten von Entspannung, mit und ohne Fremdsuggestion etc. angeboten; kein Zweifel, dass auch diese wirksam sein können. 55 Hier handelt es sich dagegen um ein ebenso physiologisch wie tiefenpsychologisch fundiertes Verfahren: 55 Praktisch jeder Mensch kann es in einigen Wochen erlernen. 55 Es dient keineswegs nur der – sehr wichtigen  – Entspannung, sondern ist eine eigenständige Form der Psychotherapie. 55 In den verschiedenen Formen der Oberstufe kann die übende Person  – bei entsprechender Eignung – mit und

ohne Hilfe eines Analytikers – zu einer tiefen Selbstanalyse kommen. 55 Wenn hier auch „autogen“ eine wesentliche Rolle spielt: zwar lassen sich die Formeln des autogenen Trainings, aber sicher nicht das autogene Training selbst, alleine, ohne Gegenüber, erlernen. Das Wesentliche an der Vermittlung ist der Dialog mit der das Training vermittelnden Person, die dazu eine gründliche Ausbildung haben muss.

37.2  Medizinische Hypnose Henriette Walter 37.2.1  Einführung

Der Begriff „Hypnose“ löst meist lebhafte Diskussionen aus. Es beschäftigt die Interessierten und lädt Menschen ein, neugierig zu sein, eigene Ressourcen zu entdecken und mehr über die rätselhaften Zusammenhänge zwischen dem mentalen und dem körperlichen Sein zu erforschen. Hypnose hat daher weit mehr Bezug zum menschlichen Alltag als nur zur Medizin oder nur zur Psychotherapie; es werden vielmehr oft philosophische Diskurse angeregt, und auch in Schule und Sport wird Hypnose zur Leistungssteigerung angewandt. zz Offizielle Definitionen der Division 30 der American Psychological Association (2014) Hypnose - Bewusstseinszustand, der mit fokussierter Aufmerksamkeit und verminderter Bewusstheit gegenüber der Umgebung einhergeht und durch ein gesteigertes Vermögen charakterisiert ist, auf Suggestionen anzusprechen.

Hypnoseinduktion - Vorgang zur Einleitung von Hypnose.

Hypnotisierbarkeit - Fähigkeit einer Person, die während der Hypnose suggerierten Veränderungen von Physiologie, Sinneswahrnehmung, Emotionen, Gedanken oder Verhalten zu erfahren. Hypnotherapie - Anwendung von Hypnose in der Behandlung einer körperlichen oder psychischen Störung oder Belastung.

937 Methoden zur Entspannung

Die klinische Beschäftigung mit Hypnose verändert die eigene Sichtweise, das eigene Verständnis für menschliches Denken und Handeln und auch für Lösungen menschlicher Probleme. Die Aneignung der „Skills“ für Hypnotherapie im medizinischen Kontext bewirkt das kreative Entwickeln anderer Sichtweisen, was die eigene Tätigkeit enorm bereichert und damit wiederum das Spektrum der eigenen Anwendung von Hypnose weiterentwickelt. Die Bedeutung von veränderten Haltungen während der Therapie ist eines der wichtigsten kreativen therapeutischen Elemente, die verwendet werden können. Ebenso wichtig ist es, die subjektiven Fähigkeiten der Patienten zu beachten, um sie für die zu planenden Therapiemaßnahmen aufzugreifen. Damit adaptiert die Hypnose an den jeweiligen Zustand und leitet auf dem Weg der Therapie kreativ weiter, um schließlich klinische Verbesserungen und länger andauernde Effekte zu erzielen. >> Ziel von Hypnose ist es immer, dass die Patienten die Kontrolle über das eigene Ich erhöhen, unabhängig, ressourcenorientiert denken/handeln und damit auch ein reifes Selbstwertgefühl entwickeln können.

37.2.2  Therapieziele

Medizinische Hypnose Hypnose wird in der Medizin als Ergänzung zu traditionellen Therapien (Unterstützung der Abwehr, Aktivierung der eigenen Ressourcen) und zur Bewältigung von Angst und zur Kontrolle/Bekämpfung von Schmerzen eingesetzt (Rainville et al. 1997; Spiegel et al. 1989b). Bei chronischen Krankheiten wird auch die Unterstützung der Selbstheilungskräfte, die Schaffung eines mentalen Abstands von der Erkrankung und bei chronischen Schmerzen die Etablierung von schmerzfreien „Pausen“ angestrebt. Alle inneren Kräfte und Ressourcen sowie Fähigkeiten, etwas im Leben, an der Wahrnehmung, an Gedanken, an Einstellungen usw. zu verändern, stehen in Trance gut zur Verfügung.

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Bei chronischen Erkrankungen eignen sich insbesondere das Erlernen/Training von Selbsthypnose und das Setzen von Ankern (Setzen von äußeren Stimuli, die immer bestimmte innere Reaktionen auslösen) (Spiegel et al. 1989b; Spiegel und Spiegel 2004).

Zahnmedizinische Hypnose Die meisten Therapieziele aus der medizinischen Hypnose sind auch in der Zahnmedizin von Bedeutung. Hypnose hilft, die Ängste von der Situation, vor Schmerzen, vor der Behandlung und dem gesamten zahnmedizinischen Setting zu mildern. Darüber hinaus gibt es einige spezielle Bereiche, wie die Behandlung von Bruxismus und Würgereiz (Griffiths 2014; Fromm und Shor 2009).

Hypnotherapie Psychotherapeutische Interventionen im Sinne von Klärung, Revision und Problemlösung etwa bei Traumata und anderen Belastungssituationen, Ängsten, depressiven Reaktionen, der Anpassung an einschneidende Lebensereignisse (Krankheitsdiagnosen, Verlust, Entwicklungskrisen) werden neben jeglicher Art von neurotischen Störungen behandelt. Im Zusammenhang mit Hypnosetherapie oder Hypnotherapie ist v.  a. Milton H.  Erickson zu nennen, der die Hypnose aus der additiven Situation, also der Situation als Zusatztherapie, herausgehoben und zu einer eigenen Psychotherapiemethode geformt hat. 37.2.3  Wirkmechanismus von

Hypnotherapie

55 Es gilt bereits im Vorgespräch, guten Rapport aufzubauen. 55 Danach kann unterstützend eine Ja-­ Haltung erzeugt werden (3 Fragen stellen, die nur mit ja beantwortet werden können), 55 gefolgt von 55 Pacing (die Patienten passend „abholen“), 55 Leading (Suggestion) und

938

H. Wallnöfer et al.

55 Utilisation (die Patienten dort „abholen“ wo sie sind, sich ihre Fähigkeiten zunutze machen und nicht zwangsläufig Neues in diesem Stadium der Therapie einzuführen). Darüber hinaus gibt es verschiedene Techniken wie 55 selektive Aufmerksamkeit, 55 Dissoziation, 55 Assoziation, 55 Imagination zur Bekämpfung von körperlichen Symptomen, wie z. B. Schmerz oder Angstbekämpfung bei unangenehmen Untersuchungen. Fingersignale werden als Signalsystem verwendet (z.  B.  Ja- bzw. Nein-Finger). Sie lassen sich auch gut in Kombination mit Levitation der oberen Extremität (ein Arm oder beide) anwenden. Martin Orne (1977) beschrieb die Trance-­ Logik, die besagt, dass auch unlogische Kombinationen in Hypnose ganz einfach akzeptiert werden und möglich sind. Darüber hinaus gibt es spezielle Techniken, auf die hier nicht eingegangen wird. kWertschätzung des Symptoms

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In der Hypnotherapie wird – oft im Gegensatz zur Psychoanalyse – versucht, beide Seiten eines Symptoms zu sehen (z .B. Narzissmus, der auch etwas Nachvollziehbares hat). Narzissmus trägt z. B. auch etwas vom aktuellen Zeitgeist in sich. Die Säuglingsforschung hat die auf Freud zurückgehende Gegenüberstellung von Selbst- und Objektliebe entkräftet (Altmeyer 2006), und es kann umgekehrt davon ausgegangen werden, dass ein gewisses Ausmaß an Selbstliebe im Sinne von Selbstbewusstsein und Selbstfürsorglichkeit eine Voraussetzung dafür ist, einen anderen lieben zu können. Hypnose ist v.  a. aber auch ein spezieller Kommunikationsstil. Jede Kommunikation hat einen informativen und einen orientierenden Anteil (Inhaltsaspekt, Orientierungsaspekt, Beziehungsaspekt). So hat z.  B. die Ein-Wort-Information „Herbstspaziergang“

inhaltlich wenig zu bieten, auf der Orientierungsebene jedoch sehr viel. Watzlawick et al. (2000) weisen darauf hin, auch auf die Gestik zu achten, die die Sprache begleitet. Wenn jemand mit „Ja“ antwortet und dabei den Kopf schüttelt, so ist dies die nonverbale Ebene, die in der Therapie zählt. Erfolgreiches Kommunizieren beachtet daher immer beides. Gestaltungsprozesse (Filter) der Welt, die über die Sinne wahrgenommen wird 1. Generalisierung (Verallgemeinerungen) 2. Tilgung (sie klammert bestimmte Informationsteile aus einer Wahrnehmung aus) 3. Verzerrung (verzogene, umgestaltete, Verallgemeinerung)

kBeispiele für Generalisierung

55 Klavier spielen. 55 Auto fahren. 55 Sie müssen verstehen, dass es notwendig ist, dass Sie mehr leisten. 55 Nur so ist es dem Team möglich, am Ende des Jahres einen Bonus zu bekommen. 55 Im Moment ist es mir nicht möglich, mehr zu leisten. kBeispiele für Tilgung

55 Das ist ein schwieriger Mitarbeiter. 55 Ich bin abhängig von ihr. 55 Wir überprüfen unsere Arbeit regelmäßig. 55 Ich weiß nicht, ob das das Richtige für mich ist. 55 Meine Gesundheit ist mir enorm wichtig. 55 Sie hören mir nicht richtig zu. 55 Mutter trinkt. kBeispiele für Verzerrung

55 Seine ständige Nörgelei macht mich krank. 55 Sie zwingt mich, mich einzuschränken. 55 Ich bin enttäuscht, dass Sie mich so ­behandeln.

939 Methoden zur Entspannung

55 Sie ärgert mich. 55 Die mangelnde Anerkennung wirkt ­demotivierend. 55 Alles geht mir auf die Nerven. 55 Das interessiert Sie doch gar nicht. 55 Ich weiß, Sie finden mein Problem trivial. 55 Das verstehen Sie nie. zz Milton-Modell

Begründer der modernen Hypnotherapie ist der amerikanische Arzt und Psychotherapeut Milton H.  Erickson (1901–1980). Ihm gelang es, durch wertschätzende Beobachtung der Individualität des Patienten, in Hypnose, dessen Unbewusstes mittels Geschichten, Metaphern und Analogien bildhaft anzuregen. Er ging davon aus, dass der Mensch in seinem Unbewussten alle Ressourcen (Möglichkeiten) mit sich trägt, um gewünschte Veränderungen herbeizuführen. Damit knüpft er mit seinem Menschenbild an die Sichtweise der Salutogenese an (Antonovsky 1987). Im sog. Milton-Modell werden die in 7 Abschn.  37.2.2 genannten Gestaltungsprozesse umgekehrt verwendet. Sie sind nicht mehr Filter, sondern werden bewusst in die Sprache eingebaut. Die Sprache wird damit auf der Informationsebene offen gehalten, vage und ungenau. Damit bleibt genügend Raum für das Auftauchen unbewusster Inhalte und das Einbeziehen von Ressourcen aus dem eigenen Unbewussten der Patienten.

37

zz Die Unabhängigkeit der Patienten

Wie bereits beschrieben, wird In der Hypnotherapie für unwillkürliche Reaktionen sowie für implizite Lern- und Gedächtnisprozesse das Unbewusste als Metapher eingeführt. Im Gegensatz zu analytischen Sichtweisen ist das Unbewusste in der Hypnose durchgängig positiv zu sehen, als „Ort“ der Kraft, der Ressourcen und der Möglichkeiten, die sich auftun können. Damit wird in der Hypnotherapie das Unbewusste zu einem „therapeutischen Tertium“, d. h. zu einer Projektionsfläche für ungenutzte Möglichkeiten des Patienten (Peter 2001). Indem auf diese Weise die Veränderung scheinbar nach außen verlegt und einer dritten Instanz (neben Patient und Therapeut) überantwortet wird, kann der Patient eher Hoffnung schöpfen als wenn er an seine bisher vergeblichen Heilungsversuche anknüpft. Dabei muss er nicht vom Therapeuten abhängig werden, denn das Unbewusste ist ein Teil seines Selbst. 37.2.4  Unerwünschte Wirkungen



kBeispiele für Generalisierung

55 Es ist gut, einfach loszulassen. 55 Keiner kann wissen, wie. kBeispiele für Tilgung

55 Es kann so einfach sein, in Trance zu gehen … und es sich gut gehen zu lassen. 55 Sie dürfen sich die Zeit nehmen, die Sie brauchen. kBeispiel für Verzerrung

55 Sie können sich selbst langsam vorkommen, aber immer schneller laufen.

MacHovec (1991) beschreibt viele Einzelfallbeispiele über unerwünschte Wirkungen der Hypnose (Verschlechterungen nach der Behandlung, mangelnde Ansprechbarkeit, emotionale Beeinträchtigung, Kopfschmerz, Übelkeit, Rapportverlust, Weinen, Dekompensation, sexuelle Schwierigkeiten, mitunter auch Abhängigkeit von der Hypnose). Leichte Nebeneffekte werden in 15 % der Fälle beobachtet, schwere Beeinträchtigungen in 2 % der Fälle. Die Zahlen sind für experimentelle und klinische Hypnoseanwendungen vergleichbar. Ethische Richtlinien 55 Im Zustand der Trance ist der Patient empfänglicher als sonst für Suggestionen. Er schränkt die Außenkontrolle ein, dies macht einen verantwortungsvollen Umgang mit Hypnose notwendig. 55 Der Behandler sorgt für die Sicherheit und den Schutz des Patienten.

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H. Wallnöfer et al.

55 Das Wohl des Patienten ist das oberste Gebot. Suggestionen müssen immer der Gesundheit, dem Wohl des Patienten dienen. 55 Hypnose dient nur medizinischen Zwecken, niemals zur Belustigung oder zu negativer Manipulation anderer. 55 Hypnose ist nur zulässig mit freiwilligem Einverständnis des Patienten. 55 Im Familien- und engeren Bekanntenkreis ist Hypnose zu vermeiden (insbesondere bei Kindern) –, Notfälle ausgenommen.

Der vollständige Code of Ethics findet sich unter

7 https://www.­ishhypnosis.­org/administration/ code-of-ethics/. Zugegriffen am 06.06.2018.  

37.2.5  Einsatz von Hypnose

Beispiel-Hypnosetext

37

Nach Einleitung … … Wie im Einklang mit einem Orchester kann man spüren, sehen und hören, oder man kann hineinhören, um die Richtung eines Musikstücks anzugeben oder um sich etwas auszudenken … oder Bilder entstehen zu lassen … ganz einfach aus der Phantasie oder auch aus der Vergangenheit … wie in der Schulzeit, wenn man die Hand hob – und eine Wortmeldung von sich gab, und um einen Beitrag zu dem inhaltlichen Geschehen zu tun … und die Spannung zu spüren … die die Kräfte einer Entspannung zuführte. Diese Assoziation kann sein, wie wenn man im Auto tiefer in die Sitze rutscht, um das Rauschen des Radios als entspannende Geräuschkulisse zu erleben. Oder nur den Ton wirken zu lassen. Einfach wirken lassen. Oder so, als ob man unter Wasser wäre und noch einmal in den Urzustand von Vertrauen tauchen könnte. Diese Therapie funktioniert ohne Prämissen …

Hypnose wird als Katalysator für Veränderung eingesetzt, wobei die Kreativität der Hypnotisanden dabei das wichtigste Mittel ist, um Symptome zu verschieben, zu mildern oder sich auflösen zu lassen. In der Medizin geht es um Stress-, Angst- und Schmerzbekämpfung, darum, die Kontrolle über Gewohnheiten wieder zu erlangen (Rauchen, Gewicht, Alkohol, Benzodiazepine), um die Beschleunigung der Heilungsprozesse sowie eine Stärkung/Beruhigung der Abwehr (Psychoneuroimmunologie). In der Psychotherapie gelten alle Störungen aus dem neurotischen Formenkreis als für Hypnose gut geeignet. Indikationen bei Störungen im Kindes- und Jugendalter bei Tics, Bettnässen, Aufmerksamkeitsstörungen, Störungen des Sozialverhaltens oder emotionalen Störungen (z.  B. nach Trennungserlebnissen) sind ebenfalls gegeben. In der Krankheitsbewältigung bei Kindern (z.  B.  Knochenmarktransplantationen) ist die Anwendung gut belegt. Hypnotherapie eignet sich für die Behandlung von Kindern u. a. auch wegen der Möglichkeit des spielerischen Umgangs mit Trance. Dazu ist eine Reihe von Lehrbüchern erschienen (Mrochen et al. 1993; Mills und Crowly 1996; Olness und Kohen 2001). kHypnose und Sport

In diesem Bereich wird Hypnose zur Stressbewältigung und zur Konzentrationssteigerung, wie auch in der schulischen Anwendung, und für ein positives Selbstbild mit Ressourcenaktivierung eingesetzt. „Mind over body“ ist hier das Schlagwort. 37.2.6  Nebenwirkungen und

ethische Aspekte

Da Suggestionen in der hypnotischen Trance wirksam eingesetzt werden, kann es bei unsachgemäßer Anwendung im Sinne von grandiosen Therapieversprechungen bzw. auch von Zeitverschwendung (wenn Zeit ein Faktor ist, z.  B. bei Tumorerkrankungen) auch zu Schaden kommen oder auch dazu, dass der Fokus der Aufmerksamkeit falsch gelegt wird.

941 Methoden zur Entspannung

Hypnose wird nicht, wie es die Bühnenhypnose nahelegt, durch die „Kräfte“ des Magnetiseurs/Hypnotiseurs erreicht, sondern vielmehr durch die Ressourcen, die Imaginationsfähigkeit und überhaupt die Kreativität der Hypnotisanden. Die unvollständige Rücknahme der Trance am Ende der Hypnose kann zu reaktiv depressiven Zuständen führen (Martin et al. 2004). >> Die therapeutische Hypnose kann nicht oft genug klarmachen, dass sie ausschließlich nach klaren ethischen Regeln angewandt wird, nämlich ausschließlich zum Zwecke der Linderung und Heilung.

37.2.7  Neurophysiologie und

Hypnose

Ist Hypnose Schlaf? Äußerlich körperliche Ähnlichkeiten von Trance und Schlaf können leicht zu dieser Annahme führen. Die Antwort ist seit vielen Jahren bekannt und sie lautet eindeutig: Nein. In Trance ist immer ein Teil des Gehirns aktiv, auch in tiefsten Trancen. Die Patienten sind wach, entspannt und aufmerksam. Diese Aufmerksamkeit richtet sich jedoch nach innen und nicht nach außen. So ermöglicht Trance eine hohe innerpsychische Aktivität (Faymonville et al. 2006). Hypnose ist aber nicht nur Trance. Hypnose bildet sich aus Trance plus Suggestion. Die Suggestionsforschung zeigt, dass körperliche Phänomene im Sinne der Suggestion gut beeinflussbar sind: Schmerzen werden gemildert, Schlafstörungen werden verbessert, Wunden bluten weniger, Blutungen werden gestillt, Ängste und depressive Verstimmungen werden gelindert oder geheilt. Suggestion ohne Trance entspricht der Vorgehensweise in der Werbung. Autos, Zahnpasta, Orangen werden oft nicht gekauft, weil sie so schnell, so gut, so süß sind, und wir gehen in einen Film, den wir glauben unbedingt sehen zu müssen, weil wir davon schon etwas Positives gehört haben. So ist die Wirkung der Suggestion. Schon A. Binet (1900) sprach von der „Leitidee“.

37

Trance ohne besondere Suggestionen verursacht im Gehirn einen Shift der Durchblutung von okzipital nach frontal und präfrontal (Walter et al. 1994). Wird eine spezifische Suggestion gegeben, wie z. B. Gesamtkörper-­ Katalepsie, dann findet sich während der Hypnose im PET eine erhöhte parietale Aktivität (diese entspricht dem Versuch, sich räumlich neu zu orientieren). Werden Schmerzreize gesetzt, werden die entsprechenden Areale aktiviert, die mit Schmerz assoziiert sind. Wird nur die unangenehme Qualität geändert, nicht die Schmerzintensität, so findet sich im Gyrus cinguli die Aktivierung, also in dem Areal, das mit der Wahrnehmung unangenehmer Sensationen assoziiert ist (Rainville et al. 1997). 37.2.8  Fallbeispiel

Patient, 43 Jahre, verheiratet, 1 Kind, Raucher zz 1. Sitzung

Der Patient raucht zur Stressreduktion und zur Entspannung, wenn er nach Hause kommt. Er ist ein abhängiger Raucher und raucht sofort nach dem Aufstehen die erste Zigarette. Die tägliche Anzahl der gerauchten Zigaretten ist eher gering (ca. 10  Zigaretten pro Tag), dennoch leidet er unter chronischem Raucherhusten. Dieser wird auch als Grund genannt, das Rauchverhalten beenden zu wollen. Da ihm das bisher nicht gelungen sei, wolle er einen Versuch mit Hypnose machen. Er hat keine Vorerfahrung mit autogenem Training oder anderen Entspannungsverfahren und weder positive noch negative Vorerfahrungen mit Hypnose. Nach der Information darüber, was Hypnose ist und wie sie wirkt, wird nach seinen subjektiven Erwartungen und Ängsten bezüglich Hypnose gefragt. An Bedenken nennt der Patient mögliche Willenlosigkeit und Furcht davor, nicht wieder erwachen zu können. Als positiven Aspekt sieht er, dass er selbst nichts tun müsse, um das Rauchen zu beenden. Dies sei ihm jedoch zugleich auch unheimlich. Die offenbar bestehende Ambivalenz wird utilisiert, frei nach dem Motto „alles hat zwei

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H. Wallnöfer et al.

Seiten“. Eine Seite kann leichter werden, die andere schwerer, die eine kann freier sein, die andere gebundener. Eine Handlevitation wird induziert, und der Patient kann neugierig sein, welche Hand es sein wird und ob auch der Arm beteiligt sein wird. Die Levitation wird als Metapher für die Unabhängigkeit von körperlichen Bedürfnissen dargestellt und nach und nach in den Gegensatz zur Abhängigkeit vom Zigarettenrauchen gesetzt. Danach werden vielfache Beispiele zur Dualität angeführt (Rauchen hat Vorteile und Nachteile; Rauchen ist gut für Sie, schlecht für Ihren Körper; Rauchen gibt das Gefühl von freiem Atmen, aber in Wahrheit schädigt es die Lunge; Freiheit kann so angenehm sein, Abhängigkeit ist unangenehm). zz 2. Sitzung

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Der Patient kommt und hat inzwischen weniger geraucht. Vor allem aber erzählt er, dass ihm plötzlich klar geworden sei, dass er alles gemeinsam mit seiner Frau unternehme und dass er mit dem Rauchen „Freiheit“ gewinne. Er könne kurz weggehen, um „Eine zu rauchen“ und sie so lange alleine lassen. Daraufhin habe er verstanden, dass in diesem Bezug eine Änderung notwendig werde. Es folgt die Wiederholung der ersten Sitzung mit viel Lob für sein Unbewusstes, das ihm diese Erkenntnis ermöglicht hat. Dann wird eine Zigarette wird zwischen Zeige- und Mittelfinger gesteckt und suggeriert, dass  – wenn der Patient auch auf der unbewussten Ebene jetzt bereit ist, das Rauchen aufzugeben – seine vorher als steif suggerierten Finger diese Zigarette nicht mehr festhalten können. Die Zigarette wurde rasch losgelassen und fiel zu Boden. Selbsthypnose wird danach mit dem Patienten geübt, wobei die Betonung auf Freiheit liegt (Freiheit, die Selbsthypnose als Training zu nutzen; Freiheit, in die Trance zu gehen und diese wieder zu beenden; Freiheit, für sich den optimalen Zeitpunkt zu definieren; Freiheit, „die Zigarette“ so oft wie nötig loslassen zu können, wobei die Hand sich auch die Freiheit nehmen kann, die Finger

während dieser Übung ganz steif werden zu lassen etc.). kErgebnis

Nach einem Monat kam per SMS die Erfolgsmeldung und die Nachricht, wie der Patient in seinem Leben für mehr Luft und mehr Freiheit gesorgt hat und dass er auch weiter drauf achten wird. 37.2.9  Studien/Evidenzlage

Seitdem Studien über Hypnose in renommierten Journalen verschiedenster Fachrichtungen publiziert werden, ist das Wissen über die aktuelle Datenlage in vielen Bereichen bekannt geworden (Hilgard und Hilgard 1975; Rainville et al. 1997, 1999). Sehr gut wirksam ist Hypnose bei Angststörungen, Anpassungsstörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen und Suchtverhalten (besonders Nikotinabhängigkeit), depressiven Störungen (z.  B.  Migräne, Schlafstörungen), somatoformen Störungen (z.  B.  Reizdarm), dermatologischen Erkrankungen (z. B. Herpes, Warzen, Neurodermitis, Allergien), Schmerz (z. B. bei Geburt, Operationen, in der Zahnmedizin) und bei chronischem Schmerz (z. B. Tumorerkrankungen, Arthritis). Für Hypnose bedarf es immer auch eines ausgefeilten Behandlungsplans, dann kann sie zur besten Wirkung kommen. Katamnesen haben klar gezeigt, dass Hypnose wirkt (Grawe et al. 1994; Revenstorf 1999). Die Wirksamkeit klinischer Hypnose ist in über 200 empirischen Studien nachgewiesen (Literatur dazu unter 7 http://www.­  

meg-­hypnose.­de/publikationen-wiss-projekte/ wissenschaft.­html. Zugegriffen am 06.06.2018).

Im Folgenden werden repräsentative Beispiele kurz umrissen. zz Revenstorf und Prudlo (1994) zu den wissenschaftlichen Grundlagen der klinischen Hypnose

Dieser Artikel mit der darin enthaltenen Metaanalyse wurde als Gutachten für die Milton

37

943 Methoden zur Entspannung

Erickson Gesellschaft Austria (MEGA) erstellt. Es wurden Studien mit Kontrollgruppe und/oder Vergleichsbedingung einbezogen. Berücksichtigt wurden nur Studien, in denen reine Hypnotherapie, also ohne Kombination mit anderen Verfahren, untersucht wurde. Es gab keine Einschränkungen bezüglich der Anwendungsbereiche, daher wurden auch Studien wie z.  B. zur Geburtshilfe eingeschlossen. Analogstudien wurden ebenfalls berücksichtigt. Effektstärken wurden nicht berechnet, sondern lediglich der Anteil der signifikanten von den gefundenen Studien angegeben. Es wurden 77 Studien in 17 Anwendungsbereichen identifiziert, von denen insgesamt 67 signifikante Ergebnisse zeigten. zz Metaanalyse empirischer Arbeiten zur klinischen Hypnose (Romminger 1995)

In dieser Metaanalyse wurden ausschließlich Studien mit Kontrollgruppe berücksichtigt, in denen die methodische Qualität sowie die mitgeteilten Daten ausreichten, um sie zur Be­ rechnung von Effektgrößen statistisch zu inte­ grieren. Studien, in denen keine Kontrollgruppe, aber eine Vergleichsbedingung gegeben war, wurden nicht eingeschlossen. Es wurden nur Studien berücksichtigt, in denen reine Hypnotherapie eingesetzt wurde, also ohne Kombination mit anderen Verfahren. Es wurden 36 Studien identifiziert, aus denen eine Effektstärke von 0,83 errechnet wurde. zz International Journal of Clinical and Experimental Hypnosis (April 2000, Vol. 48), Sonderausgabe

37.2.10  Ausbildung und wichtige

Links

kÖsterreich

Ausbildung: ÖGATAP (Österreichische Gesellschaft für angewandte Tiefenpsychologie und allgemeine Psychotherapie) (7 http:// www.­oegatap.­at/ausbildung) Weiterbildung: Universitätslehrgänge der Medizinischen Universität Wien, Prof. Walter am AKH Wien  

kDeutschland

Ausbildung: s. Angaben unter 7 http://www.­  

meg-hypnose.­de/publikationen-wiss-projekte/ wissenschaft.­html.

zz Kontakte

Univ.-Prof. Dr. med. Henriette Walter Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Medizinische Universität Wien Währinger Gürtel 18–20 A-1090 Wien [email protected] kGesellschaften

55 Europäische Gesellschaft für Hypnose (ESH): 7 http://esh-hypnosis.­eu 55 Österreichische Gesellschaft für ärztliche und zahnärztliche Hypnose:  

7 www.­oegzh.­at  

55 Ärzte und Psychotherapeuten (u. a. Prof. Walter und Dr. Wallnöfer): 7 www.­hypnos.­at  

55 Deutsche Gesellschaft für Hypnose und Hypnotherapie e. V.:

7 http://dgh-hypnose.­de/ In diesem Themenheft (The Status of Hypnosis as an Empirically Validated Clinical 55 Schweizerische Ärztegesellschaft für ­ ypnose: 7 http://smsh.­ch/ H Intervention) befinden sich Übersichtsarbeiten zu ausgewählten Anwendungsbereichen (Schmerzkontrolle, verschiedene medizinische Zusammenfassung Anwendungen, posttraumatische Belastungs- 55 Medizinische Hypnose wird als Ergänzung zu traditionellen Therapien (Unterstützung störung, Rauchen, Kinder) und ein Review der Abwehr, Aktivierung der eigenen Resüber die Kombination von Hypnose und kosourcen) und zur Bewältigung von Angst gnitiver Verhaltenstherapie. (7 https://www.­ sowie zur Kontrolle/Bekämpfung von Schmer­ tandfonline.­com/toc/nhyp20/48/2?nav=tocList. zen eingesetzt. Zugegriffen am 08.06.2018).  





944

H. Wallnöfer et al.

55 Ziele von Hypnose: Erhöhung der Kontrolle der Patienten über das eigene Ich, unabhängiges, ressourcenorientiertes Denken/ Handeln der Patienten, Entwicklung eines reifen Selbstwertgefühls. 55 Nachweisbare Wirkungen: Behandlung von Schmerz, Angst, Phobien, posttraumatischen Störungen, Depression, psychosomatischen Beschwerden und Störungen in der Kindheit. 55 In neuerer Zeit: Einsatz zur Kontrolle u.  a. von Nikotin-, Alkohol-, Beruhigungsmittelabhängigkeit. 55 Die therapeutische Hypnose wird ausschließlich nach klaren ethischen Regeln ausschließlich zum Zwecke der Linderung und Heilung angewandt.

37.3  Biofeedback Richard Crevenna 37.3.1  Grundlagen

Biofeedback befasst sich mit der Steuerung und Kommunikation im menschlichen Organismus und ist eine apparativ-instrumentelle Methode zur Erlangung oder Verbesserung der Selbstkontrolle über physiologische bzw. psychophysiologische Vorgänge im Körper (Crevenna 2010). Biofeedback - Biologische Rückkopplung mittels ei-

37

ner apparativen Methode, um die Selbstkontrolle über (psycho-)physiologische Vorgänge zu erlangen oder zu verbessern, wobei physiologische Prozesse (Bio-), d. h. Signale von Körperfunktionen wie Puls, Durchblutung, Hautleitwert, Muskeltonus, Atmung etc., mit geeigneten Messfühlern abgenommen und erfasst und dann an die Patienten in Form optischer (sichtbarer), akustischer (hörbarer) oder taktiler (fühlbarer) Signale kontinuierlich zurückgemeldet werden (-feedback).

Biofeedback steht (therapeutisch angewandt) unter dem Motto „Messen–Wahrnehmen– Verstehen–Ändern–Können“, und das Prinzip der Selbstwirksamkeitsüberzeugung spielt hier eine äußerst wichtige Rolle. Am Ende steht

die gesteigerte Selbstkompetenz der Patienten. Zur Durchführung von Biofeedback wird, da es sich um eine instrumentell-­apparative Methode handelt, eine Hardware benötigt, d.  h. ein Biofeedback-Gerät und Sensoren, sowie eine entsprechende Software (Crevenna 2010). >> Biofeedback ist 55 eine effektive Methode, 55 eine in der konventionellen Medizin anerkannte Methode und 55 eine aktive Methode, die die Mitarbeit des Patienten erfordert.

37.3.2  Wirkung

Die Wirkung von Biofeedback bezieht sich nicht allein auf die willkürliche Steuerung und Änderung sog. maladaptiver physiologischer Prozesse, ganz wesentlich ist auch die subjektive Erfahrung der Selbstregulationsfähigkeit, wodurch ein nachhaltiger Einfluss auf die Kompetenz- und Selbstwirksamkeitsüberzeugung (self-efficacy) erreicht werden kann. Selbstwirksamkeit und Selbstwirksamkeitsüberzeugung sind hier Thema – sie führen letztlich zur Steigerung der Selbstkompetenz (Crevenna 2010). Für den Einsatz von Biofeedback sprechen u. a. folgende Aspekte: Vorteile von Biofeedback 55 Gute wissenschaftliche Datenlage (s. Crevenna 2010) zur Effektivität für viele nichtmedizinische Einsatzgebiete sowie für medizinische Indikationen 55 Glaubwürdigkeit des therapeutischen Ansatzes und eine damit verbundene hohe Akzeptanz durch Patienten und Anwender 55 Förderung der Therapiemotivation durch den raschen Aufbau von Selbsthilfestrategien mit einer Verbesserung der Selbstkompetenz 55 Möglichkeit zur flexiblen Gestaltung und Kombination mit anderen therapeutischen Maßnahmen

945 Methoden zur Entspannung

Biofeedback kann in vielen Einsatzbereichen als zusätzliches Modul innerhalb eines  – bei medizinischen Indikationen konventionell-­ medizinisch – geplanten Behandlungsregimes (von der Diagnose zur Therapie) sinnvoll eingesetzt werden (Crevenna 2010). 37.3.3  Ablauf kZiel einer Biofeedbackbehandlung

Der Patient soll in die Lage versetzt werden, die Kontrolle über Körperfunktionen zu erlangen und diese Kontrolle in weiterer Folge im Alltagsleben beibehalten. Der Patient kann beim Biofeedback mithilfe von apparativer Unterstützung unter dem Motto „Messen–Wahrnehmen–Verstehen–Ändern–Können“ die Reaktionen seines eigenen Körpers häufig erstmals wahrnehmen. Dadurch wird es möglich, in einem nächsten Schritt gezielt auf diese zu reagieren und sie dadurch im Sinne eines Therapieziels zu verändern. Durch die Bewusstmachung (an sich unbewusster) physiologischer Funktionen wird in einem nächsten Schritt deren gezielte Veränderung erst möglich gemacht (Crevenna 2010). >> Biofeedback ist demnach als aktiver Prozess zu sehen, mit dem durch die Bewusstmachung physiologischer Zusammenhänge die Wiedererlangung einer willentlichen Kontrolle über unbewusste physiologische Funktionen ermöglicht werden kann (Crevenna 2010).

37.3.4  Einsatzmöglichkeiten und

Indikationen

Einsatzbereiche für Biofeedback (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) (Crevenna 2010) 55 Prävention 55 Kinder und Jugendliche: Aufmerksamkeitsdefizit und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS), „Lernschwäche“

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55 Sportlerbetreuung und Wettkampfvorbereitung 55 Rehabilitation 55 Stress: Management, Diagnostik und Behandlung 55 Entspannungstraining und leichte essenzielle Hypertonie (im konventionell-­medizinischen Gesamtkonzept) 55 Chronische Schmerzsyndrome, z. B. ȤȤ Kopfschmerzsyndrome (Spannungskopfschmerz, Migräne etc.) ȤȤ Temporomandibuläre Dysfunktion und Bruxismus (evtl. in Kombination mit Tinnitus) ȤȤ Dorsalgien (Zervikal-, Lumbalsyndrom etc.) ȤȤ Pelvic pain ȤȤ Deafferenzierungsschmerz 55 Raynaud-Syndrom 55 Harn- und Stuhlinkontinenz bzw. Harn- und Stuhlentleerungsstörungen 55 Abhängigkeits- und Suchterkrankungen 55 „Burnout“: Prophylaxe und Therapie 55 Gerichtete Angsterkrankungen (mit bestimmten Auslösern) und ungerichtete Angsterkrankungen (ohne bestimmte Auslöser), Panikattacken, Phobien, Hyperventilationssyndrom etc. 55 Ergonomie 55 (Um-)Schulungen im Rahmen einer Ergotherapie 55 Biofeedback-unterstützte Haltungsschulung

37.3.5  Praktische Anwendungen

Es folgt eine kurze, fokussierte praktische Darstellung ausgewählter Einsatzmöglichkei­ ten für Biofeedback. Besonderes Augenmerk wird auf den Parameter „Muskeltonus“ gelegt, d.  h. u.  a. die gezielte „Be-übung“ bzw. das gezielte Training der Muskulatur (bzw. des Muskeltonus) und weiterer Körperfunktionen (Crevenna 2010).

946

H. Wallnöfer et al.

kSchmerzsyndrome

In der Therapie von Schmerzsyndromen kann Biofeedback im konventionell-medizinischen Gesamtkonzept zur Schmerzreduktion beitragen. In der additiven, zusätzlich zur konventionellmedizinisch durchgeführten Schmerzbehand­ lung liegt für die typischen Kopfschmerzsyndrome Spannungskopfschmerz und Migräne für die Effektivität der Methode ein hohes Evidenzniveau vor (Crevenna 2010). kMuskuläre Verspannungen Bei psychischer Anspannung und muskulä-

37

ren Verspannungen in Angst- und Stresssituationen und daraus resultierenden Schmerzsyndromen (Zervikalsyndrom, Dorsalgien, Lumbalgien, Spannungskopfschmerz etc.) kann Biofeedback über aktives Wahrnehmen und die Bewusstmachung von Verspannungen sowie von muskulären Dysbalancen besonders effektiv eingesetzt werden. Die Patienten erlernen neben einem suffizienten Stressmanagement (unter Zuhilfenahme der Biofeedback-Parameter Hautleitwert, Temperatur, Atmung) über ein EMG-Feedback aktiv ein individualisiertes Übungs- und Trainingsprogramm. Dieses hat zum Ziel, verspannte Muskelpartien zu entspannen, abgeschwächte Muskelpartien zu trainieren und aufzubauen und verkürzte Muskeln aktiv zu dehnen. Angst und Stress, z. B. im Rahmen schwerwiegender Erkrankungen wie Krebs (vor der Diagnose, vor einem Rückfall, vor dem Tod, Sorgen um die Angehörigen, Zukunftsängste), führt durchaus nachvollziehbar nicht selten zur überproportionalen psychophysiologischen und psychomotorischen Aktivierung und damit u.  a. zu schmerzhaften muskulären Verspannungen. Biofeedback bewährt sich hier auch als Kurzzeitintervention hinsichtlich Entspannung und Angstreduktion sowie in weiterer Folge auch prophylaktisch zur gezielten „Be-­übung“ bzw. zum gezielten Training der betroffenen Muskelgruppen (Crevenna 2010). kBurnout

Das „Burnout“ genannte Überlastungssyndrom mit Erschöpfungssymptomen sowie mit

muskuloskelettalen Beschwerden kann eine weitere optimale Indikation zur Anwendung von Biofeedback als additivem Baustein im schulmedizinisch-psychiatrischen Gesamtkonzept sein (Crevenna 2010). kKnochenfrakturanfälligkeit In der onkologischen Rehabilitation (oder bei Patienten mit gravierender Osteoporose) und Frakturanfälligkeit der Wirbelsäule hat

sich Myo-(Bio)feedback gerade bei fortgeschrittenen Erkrankungen mit Knochenmetastasierung oder bei multiplem Myelom besonders bewährt, um ein entsprechendes Muskelkorsett sicher und ohne Frakturgefährdung aufzubauen (Crevenna 2010).

kAtmung und Operationsvorbereitung Eine Biofeedback-unterstützte Atemschulung

sowie ein Atemtraining (vor und nach Thorax-­ Operationen) und eine präoperative Wahrnehmungsschulung, z.  B. vor Operationen am Beckenboden, können sehr sinnvoll zu sein (Crevenna 2010). kStärkung der Beckenbodenmuskulatur Bei Harn- oder Stuhlinkontinenz sowie bei Entleerungsstörungen der Speicherorgane, aber auch bei sexuellen Funktionsstörungen kann

Biofeedback in Kombination mit Beckenbodengymnastik und -training zur gezielten „Beübung“ bzw. zum gezielten Training der Muskulatur sicher und effektiv eingesetzt werden.

kStress

Des Weiteren gibt es v. a. in der Stressdiagnostik und im Stressmanagement, in der Prävention, Ergonomie und Rehabilitation viele sinnvolle Einsatzgebiete für Biofeedback und damit auch Möglichkeiten des Einsatzes in verschiedenen Fachgebieten, z.  B. klinische Medizin, Pflege, klinische Psychologie und Sportpsychologie sowie Psychotherapie, Wirtschaft und Pädagogik. Gezielt und richtig eingesetzt, kann Biofeedback zu einer Verbesserung der Verarbeitung von Reizen und Stressoren sowie zur Steigerung der Selbstkontrolle und Selbstkompetenz führen (Crevenna 2010).

947 Methoden zur Entspannung

37.3.6  Studien, Evidenzlage zz Bertotto et al. (2017)

In einer randomisiert kontrollierten Studie (RCT) konnte bei postmenopausalen Frauen mit einer Stressharninkontinenz gezeigt werden, dass Beckenbodentraining mit Biofeedback alleinigem Beckenbodentraining ohne Biofeedback überlegen ist. Dabei konnte gezeigt werden, dass eine Kombinationstherapie zu einer besseren Kräftigung, Ausdauer und Vorkontraktion während des Hustens sowie zu einer höheren Maximalkraft führt. zz Ribeiro et al. (2010)

Auch für die männliche Harninkontinenz konnte in einer RCT gezeigt werden, dass der frühe Einsatz von Beckenbodentraining mittels Biofeedback bei Patienten nach radikaler Prostatektomie nicht nur die Genesung von der Harninkontinenz beschleunigt, sondern auch zu einer signifikanten Verbesserung des Schweregrades, der Entleerungsstörungen und der Beckenboden-Muskelkraft, auch noch nach 12 Monaten nach der Operation, führt. zz Schwenk et al. (2016)

Der Einsatz des Biofeedback ist laut einer RCT auch bei geriatrischen Patienten mit Krebserkrankung und chemotherapieinduzierter Polyneuropathie sehr sinnvoll. Mithilfe eines spielerischen Balancetrainings und eines visuell-analogen Feedbacks aus den unteren Ex­ tremitäten konnte im Vergleich zu einer Kontrollgruppe eine signifikante Besserung der Haltungsbalance erreicht werden. zz Burkhart et al. (2018)

Auch durch eine einmalige Anwendung von Biofeedback in Kombination mit einer Psychoedukation hinsichtlich Auswirkungen von Stress auf den Körper, Vorteilen durch körperliche Aktivität, Bauchatmung und progressive Muskelrelaxation konnte bei Patienten im Alter von 11–21 Jahren eine Stressreduktion erzielt werden. Patienten berichteten, dass das Erlernte im Sinne eines Stressmanagements angewendet werden konnte und dass sie gerne

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weitere Trainingseinheiten in Anspruch nehmen würden. zz Stubberud et al. (2016)

Auch in der Migränetherapie scheint der Einsatz von Biofeedback in dieser Altersgruppe erfolgversprechend zu sein. In einer Metaanalyse wurde gezeigt, dass Biofeedback im Vergleich zu einer Kontrollgruppe die Häufigkeit, Dauer und Intensität der Migräneattacken bei Kindern und Jugendlichen signifikant reduzieren kann. 37.3.7  Ausbildung

Dem Autor (seit 2008 Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Biofeedback und Psychophysiologie, ÖBFP, ZVR-Nr. 884827737) ist die kompetente fachärztliche Supervision bei medizinischen Indikationen besonders wichtig – ein Abgleiten der Methode in die Grauzone des alternativmedizinischen Bereichs ist zu vermeiden. Die konventionell-medizinische Verankerung der Methode wurde durch die Übernahme in das Lehrangebot der Medizinischen Universität Wien durchgesetzt. In Zukunft wird neben dem Ausbau eines kompetenten Biofeedback-­Angebots auch die Kostenübernahme für indizierte Biofeedback-Therapien anzustreben sein (Crevenna 2010). kLinks

Österreichische Gesellschaft für Biofeedback und Psychophysiologie (ÖBFP): 7 http://www.­austria-biofeedback.­at/  

Deutsche Gesellschaft für Biofeedback e. V. (DGBfb): 7 https://www.­dgbfb.­de/index.­php/de/  

Biofeedback Federation of Europe (BFE): 7 https://bfe.­org/  

Zusammenfassung 55 Biofeedback ist eine apparative Methode zur Erlangung und Verbesserung der ­Selbstkontrolle über Vorgänge im Körper.

948

H. Wallnöfer et al.

55 Signale von Körperfunktionen werden erfasst und in Echtzeit rückgemeldet. 55 Bei erfolgreicher Anwendung wird durch die Selbstwirksamkeitsüberzeugung die Selbstkompetenz gesteigert. 55 Der Einsatz findet in vielen medizinischen Bereichen Platz.

37.4  Meditation Lothar Krenner 37.4.1  Einführung

Das Thema „Meditation“ ist fast schon zu einem Modebegriff und der „Meditationsmarkt“ schwer überschaubar geworden. Dieser Beitrag gibt einen kurzen zusammenfassenden Überblick über die Wirkmechanismen der unterschiedlichen Meditationstechniken und zeigt – ohne auf Details der einzelnen Methoden einzugehen  – dabei auch auf, dass deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Meditationsformen bestehen (zur Psychoneuroimmunologie achtsamkeitsbasierter Interventionen 7 Abschn.  37.5, zur Technik der transzendentalen Meditation 7 Abschn. 34.10). Meditation kann unterschiedliche Schwerpunkte haben, u. a.: 55 Entspannung, 55 zur Ruhe kommen, 55 sich sammeln, 55 über bestimmte Lebensaspekte kontemplieren, 55 eine Verbindung mit Gott suchen, 55 esoterische Erkenntnisse erlangen, 55 Energieflüsse bzw. Energiezentren anregen, 55 höhere Bewusstseinszustände erfahren, 55 transzendieren.  



37

Grundlage dieses Beitrags ist eine Zusammenfassung einer vergleichenden Studie über unterschiedliche Meditationsformen von David Orme-Johnson (Travis und Shear 2010).

Die Zusammenfassung ist unter dem Link

7 www.­t ruthabouttm.­o rg/truth/TMResearch/ ComparisonofTechniques/index.­cfm (Compari­  

son of Techniques 2010. Zugegriffen am 12.08.2018) veröffentlicht. Als Einleitung dient ein Zitat aus dem Buch The Experience of Meditation: Experts Introduce the Major Traditions von Dr. Jonathan Shear:

»» „Ein weit verbreitetes Missverständnis,

das man oft in populären Büchern und Artikeln und manchmal sogar in Lehrbüchern und Forschungsartikeln findet, besagt, dass alle Meditationsverfahren mehr oder weniger ‚gleich‘ seien. Aber diese Behauptung ist nicht korrekt, denn die bedeutenden Meditationsverfahren unterscheiden sich oft in gravierender Weise. Die Kapitel dieses Buches, die von Experten in den jeweiligen Traditionen verfasst wurden (Klosteräbte, Leiter von Meditationszentren, bekannte Wissenschaftler und Lehrer etc.), stellen dies klar: Zen-­buddhistische Praktiken verwenden hauptsächlich Konzentration, entweder gerichtet auf den eigenen Atem oder konzeptionell auf Paradoxien (Koans), die sich der intellektuellen Klärung entziehen. Taoistische Praktiken legen Wert auf den Energiekreislauf in den Körperkanälen. In der Transzendentalen Meditation (TM) ist die Aufmerksamkeit auf spezielle Klänge (oder Mantren) gerichtet, die geistig verwendet werden. Yoga fügt viele andere Verfahren und Inhalte hinzu, wie z. B. die Konzentration auf die Energiezentren des Körpers (Chakren), das ‚Licht‘ des Geistes oder die Eigenschaften Gottes. Der Theravada-Buddhismus lehrt die nüchterne Betrachtung der Vergänglichkeit der Empfindungen, Gedanken und des Gegenstands der Meditation, einschließlich des Selbstes an sich. Der tibetische Buddhismus Tsonghkapa lehrt die intellektuelle Auflösung der Realität der Objekte in der Meditation sowie Konzentrationspraktiken, um den Geist zu beruhigen. Integrales Yoga lehrt das Gefühl der Suche und die Erinnerung

949 Methoden zur Entspannung

an Ruhe und Gottheit, während und nach der Meditation. Kriya-Yoga benutzt Techniken der Konzentration auf den Atem und auf Gott. Der Sufismus folgt dem inneren Gefühl der Liebe zu Gott. Und das christliche Herzensgebet benutzt ein Wort der Liebe, um die Aufgeschlossenheit gegenüber dem Gott im Inneren anzuregen. Traditionelle Meditationsverfahren können sich also unterscheiden im Hinblick auf die geistigen Fähigkeiten, die sie verwenden (Aufmerksamkeit, Fühlen, Denken, Visualisierung, Erinnerung, Körperbewusstsein etc.), die Art, wie diese Fähigkeiten angewandt werden (leicht, kraftvoll, aktiv, passiv) und hinsichtlich der Objekte (Gedanken, Bilder, Konzepte, innere Energie, Atem, subtile Aspekte des Körpers, Liebe, Gott), auf die sie gerichtet sind. Sie unterscheiden sich auch oft stark in Bezug auf Fragen des Glaubens. Einige Systeme unterstreichen die Notwendigkeit, sich an bestimmte philosophische, metaphysische und/oder religiöse Ansichten zu halten; andere betonen die völlige Unabhängigkeit von allen Fragen des Glaubens. Unterschiedliche Meditationstraditionen haben oft auch sehr unterschiedliche Ziele wie körperliche Gesundheit und geistiges Wohlbefinden, Einklang mit der Natur, höhere Bewusstseinszustände und Gotteserfahrung. Kurz gesagt, sogar die oberflächliche Kenntnis der vielen verschiedenen geistigen Aktivitäten, Objekte, Kontexte und Einstellungen, die von den großen Meditationstechniken der Welt benutzt werden, macht deutlich, dass es ein Fehler wäre, alle diese unterschiedlichen Verfahren im Wesentlichen als gleich zu betrachten. Die Anerkennung dieser Unterschiede ist daher entscheidend für das Verständnis der jeweiligen Techniken. Sie ist auch für das Verständnis der Bedeutung der beträchtlichen Anzahl an Studien über Meditation notwendig.“ (Shear 2006).

37

kSind die unterschiedlichen Meditationsund Entspannungstechniken vergleichbar?

Nach dieser Einleitung und dem Hinweis auf die Unterschiede der verschiedenen Meditationssysteme, die sich in ihren Verfahren, Inhalten, Gegenständen, einem religiösen oder nichtreligiösen Hintergrund und den Zielen sehr voneinander unterscheiden, ist es nicht überraschend, dass die Forschung gezeigt hat, dass diese unterschiedliche subjektive und objektive Wirkungen haben. 37.4.2  Drei grundlegende Arten

von Meditation

Meditationstechniken unterscheiden sich hinsichtlich der sensorischen und kognitiven Vorgänge, die sie benötigen (Shear 2006), ihrer neurophysiologischen Wirkungen (Travis und Shear 2010) und ihrer Auswirkungen auf das Verhalten (Orme Johnson und Walton 1998). Travis und Shear haben 3  Typen von Meditationsmethoden definiert, die gemäß ihrer EEG-Signaturen und der entsprechenden kognitiven Prozesse klassifiziert wurden (Travis und Shear 2010). Meditationstechniken nach Travis und Shear (2010) 1. Konzentrative Aufmerksamkeitstechniken 2. Achtsamkeitstechniken 3. Automatisch selbst-transzendierende Techniken

kKonzentrative Aufmerksamkeitstechniken

Der erste Typ  – gerichtete Aufmerksamkeitsoder Konzentrationstechniken  – wird durch die EEG-Frequenzbänder Beta-2 (20–30  Hz) und Gamma (30–50  Hz) charakterisiert, die mit der freiwilligen, dauernden Kontrolle der Aufmerksamkeit auf den Gegenstand der Meditation korrelieren (. Abb. 37.10).  

950

H. Wallnöfer et al.

..      Abb. 37.10 Meditationstechniken. (Mod. nach Travis und Shear 2010)

Höchste

Kognitive Kontrolle

Gerichtete Aufmerksamkeit (Konzentration)

Gamma (20-50 Hz)

Achtsamkeit Theta (4-8 Hz)

Automatisches (Selbstständiges) Transzendieren

Alpha1 (8-10 Hz)

Niedrigste

kAchtsamkeitstechniken

Der zweite Typ – Beobachtung oder achtsamkeitsbasierte Techniken, bei denen die auftretenden Erfahrungen objektiv und ohne Wertung beobachtet werden  – ist im EEG durch frontale Theta-Wellen (5–8  Hz) und evtl. okzipitale Gamma-Wellen von 30–50  Hz (Cahn et al. 2010) charakterisiert (. Abb. 37.10).  

kAutomatisch selbst-transzendierende Techniken

Die Technik der transzendentalen Meditation (TM) fällt in die dritte Kategorie der automatisch selbst-transzendierenden Techniken, die im EEG durch Alpha-Wellen von 7–9 Hz, verringerte geistige Aktivität und Entspannung charakterisiert sind (. Abb.  37.10). Während Konzentration und Achtsamkeitstechniken geistige Anstrengung erfordern (d.  h. das Richten der Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand oder das Aufrechterhalten allgemeiner Achtsamkeit), besteht die automatisch selbst-­transzendierende Meditation im mühelosen Überschreiten des Meditationsprozesses selbst (Travis et  al. 2004; Travis und Shear 2010). Man sagt, sie führe automatisch zur Erfahrung des Grundzustands des Bewusstseins; zum „Bewusstsein an sich“,  

37

frei von Bewusstseinsobjekten  – ein Zustand, in dem man still (Gedanken-frei) und gleichzeitig wach ist (ein Niedrig-Stress-Zustand); im Yoga wird er transzendentales oder reines Bewusstsein genannt – Turyia Chetana, 4. Haupt-­ Bewusstseinszustand (Travis und Pearson 2000). 37.4.3  Kognitive Korrelate der

Alpha-Kohärenz und -Synchronie

Alpha-EEG-Power, Kohärenz und Synchronie sind ein Teil des integrierten Musters tiefer Ruhe, das während der transzendentalen Meditationstechnik beobachtet wird (Jevning et  al. 1992). Studien haben gezeigt, dass die Technik der transzendentalen Meditation typischerweise Alpha-Kohärenz und -Synchronie erhöht, ein Anzeichen für vergrößerte Stabilität der Phasenbeziehung zwischen der gesamten neuronalen Aktivität in der linken und der rechten Hemisphäre sowie der frontalen und hinteren Gehirnareale, gemäß (Dillbeck et  al. 1981; Dillbeck und Bronson 1981; Gaylord et al. 1989; Hebert et al. 2005; Travis 2001; Travis und Arenander 2006; Travis et al. 2009).

951 Methoden zur Entspannung

zz Grundlegende EEG-Forschung

Im Laufe des letzten Jahrzehnts hat die Grundlagenforschung herausgefunden, dass Alpha-­Kohärenz und -Synchronie funktionell verstreute kortikale neuronale Einheiten verbinden, die für eine Reihe von kognitiven Aufgaben  – Aufmerksamkeit, Semantik, Gedächtnis und Lernen – sowie für grundlegende Sinnesund motorische Aufgaben erforderlich sind (Palva und Palva 2007; Sauseng und Klimesch 2008). Während Beta- und Gamma-­Kohärenz die Aufgabe haben, lokale, benachbarte kortikale Bereiche während der kognitiven Verarbeitung zu koordinieren, ist Alpha-Kohärenz verantwortlich für die breit angelegte Nervenkommunikation und Integration zwischen entfernten kortikalen Bereichen, die für das wache Bewusstsein und die sinnvolle Interpretation der Erfahrung notwendig sind (Palva und Palva 2007). Die EEG-­ Kohärenz, die während der Ausübung der Technik der transzendentalen Meditation auftritt, korreliert positiv mit Intelligenz, Kreativität, Konzeptlernen und moralischem Urteilsvermögen sowie mit reduzierter Angst, emotionaler Stabilität und psychischer Gesundheit (Dillbeck et al. 1981; Nidich et al. 1983; Orme Johnson und Haynes 1981; Travis und Arenander 2006).

37.4.4  Vergleichende Forschung

über verschiedene Systeme der Meditation und andere Selbstentwicklungstechniken mit Schwerpunkt auf der Technik der transzendentalen Meditation

Die wissenschaftliche Forschung zeigt deut­lich, dass verschiedene Verfahren der Meditation und Entspannung häufig sehr un­terschiedliche Wirkungen auf spezifische Variablen haben. Solche Unterschiede sollten in Anbetracht der Unterschiede zwischen den Verfahren nicht überraschen. Es werden z.  B. die Forschungsergebnisse über den Atem bei Verfahren, die sich auf den Atem konzentrieren,

37

mit Verfahren verglichen, die die Atmung nicht speziell einbeziehen, oder die Ergebnisse der Stressforschung bei Verfahren, die An­ strengung und Konzentration verlangen, mit solchen, die auf Mühelosigkeit Wert legen. Der Fehler, alle Meditationsverfahren in einen Topf zu werfen, hat oft zu zwei weiteren, sich gegenseitig ausschließenden Fehlschlüssen über die Bedeutung der Forschung selbst geführt. Der erste, der manchmal von Befürwortern des Prinzips der Meditation im Allgemeinen ge­ macht wird, ist die Annahme, dass signifikante Ergebnisse, die von einem bestimmten Verfahren ermittelt wurden, einfach auch für andere Verfahren gelten würden. Dies ist unbegründet optimistisch. Der zweite Fehlschluss besteht darin, gegensätzliche Forschungsergebnisse über verschiedene Verfahren zusammenzufassen. Anstatt darauf hinzuweisen, dass verschiedene Verfahren zu unterschiedlichen Ergebnissen führen können und einzeln bewertet werden müssen, schließt man aus der Tatsache, dass keine konsistenten Ergebnisse gefunden wurden, dass „Meditation“ überhaupt keine Auswirkungen habe. Dieser Schluss ist seinerseits unbegründet pessimistisch (Orme-Johnson und Walton 1998). >> Wissenschaftlich richtig ist, zu beachten, dass verschiedene Verfahren erwartungsgemäß sehr wohl unterschiedliche Ergebnisse im Hinblick auf die verschiedenen Variablen (Atem, Stress, EEG etc.) hervorbringen können und deshalb einzeln bewertet werden müssen.

Randomisierte kontrollierte Studien (s. unten) haben gezeigt, dass im Vergleich zu anderen Formen der Meditation, Entspannung und Gesundheitsförderung das Programm der transzendentalen Meditation 55 den Blutdruck senkt, 55 die Langlebigkeit und kognitive Flexibilität im Alter fördert, 55 arteriosklerotische Veränderungen reduziert, 55 das posttraumatische Stresssyndrom (PTBS) und Angst vermindert,

952

H. Wallnöfer et al.

55 Intelligenz, Kreativität, Feldunabhängigkeit, praktische Intelligenz und die Geschwindigkeit der kognitiven Verarbeitung steigert. Metaanalysen (s. unten) haben gezeigt, dass das Programm der transzendentalen Meditation 55 gewöhnlicher Ruhe überlegen ist, 55 es Angst wirksamer abbauen kann als andere Meditations- und Entspannungstechniken, 55 wirksamer zu Selbstverwirklichung führt als andere Meditations- und Entspannungstechniken, 55 wirksamer als andere Standardbehandlungen bei der Verringerung von Drogenmissbrauch, Alkoholmissbrauch und Zigarettenkonsum ist. Alle diese Änderungen können als Ergebnis des spezifischen Bewusstseinszustands (trans­ zendentales Bewusstsein) angesehen werden, den das Programm der transzendentalen Meditation erzeugt (einhergehend mit tiefer Entspannung und erhöhter Kohärenz).

progressiver Muskelentspannung (PMR) und gesundheitlicher Weiterbildung (HE). kAlexander et al. (1996)

Verminderter Blutdruck durch die Technik der transzendentalen Meditation bei Geschlechtsund Stressrisikofaktor-Untergruppen. kSchneider et al. (2005a)

Verminderter Blutdruck durch die Technik der transzendentalen Meditation im Vergleich zu progressiver Entspannung und gesundheit­ licher Weiterbildung: Wiederholungsstudie nach einem Jahr. kSchneider et al. (1995, 2005b), ­Alexander et al. (1989, 1996)

Verminderte Sterblichkeit durch die Technik der transzendentalen Meditation im Vergleich zu progressiver Muskelentspannung (PMR), Kontrollgruppe mit gesundheitlicher Weiterbildung (HE), Achtsamkeitsmeditation, Entspannungsübung und konventioneller Fürsorge.

 andomisierte kontrollierte Studien kCastillo-Richmond et al. (2000) R zu Effekten der transzendentalen Reduzierte Halsschlagader-Arteriosklerose durch die Technik der transzendentalen Meditation Meditationspraxis kAlexander et al. (1989)

37

Erhöhte Langlebigkeit und verbesserte kognitive Flexibilität bei Senioren durch die Technik der transzendentalen Meditation im Vergleich zu einem Training in Achtsamkeitsmeditation und einer der TM-Technik nachgeahmten Entspannungstechnik. 55 Randomisierter Versuch 1a: Sich weniger alt fühlen, 55 Randomisierter Versuch 1b: Verbesserte kognitive Leistung, 55 Randomisierter Versuch 1c: Verminderter systolischer Blutdruck, 55 Randomisierter Versuch 1d: Erhöhte Langlebigkeit. kSchneider et al. (1995)

Verminderter Blutdruck durch die Technik der transzendentalen Meditation im Vergleich zu

im Vergleich zu gesundheitlicher Weiterbildung. kBrooks und Scarano (1986)

Verminderte posttraumatische Belastungsstörungen durch die Technik der transzendentalen Meditation im Vergleich zu Psychotherapie. kSo und Orme-Johnson (2001)

Verbesserte kognitive Leistung und reduzierte Angst durch die TM-Praxis im Vergleich zu einer traditionellen Kontemplationstechnik, catnap und üblicher Erziehung. kPelletier (1974)

Erhöhte Feldunabhängigkeit durch transzendentale Meditation im Vergleich zu ruhigem Sitzen.

953 Methoden zur Entspannung

 etaanalysen, die das Programm M der transzendentalen Meditation mit anderen Meditations- und Entspannungstechniken vergleichen kDillbeck und Orme-Johnson (1987)

Weniger physiologische Stressmarker durch die Technik der transzendentalen Meditation im Vergleich zu normaler Ruhe. kEppley et al. (1989)

Verminderte Ängstlichkeit durch die Technik der transzendentalen Meditation im Vergleich mit anderen Meditations- und Entspannungstechniken. kAlexander et al. (1991)

Erhöhte Selbstverwirklichung durch die Technik der transzendentalen Meditation im Vergleich zu einem Training in Achtsamkeitsmeditation, Zen, Relaxation-­Response-­Techniken, Yoga, Mantra-­Meditation, progressiver Entspannung oder anderen Entspannungstechniken. kAlexander et al. (1994), Walton und Levitsky (1994)

Geringerer Alkoholmissbrauch durch die Technik der transzendentalen Meditation als bei vergleichbaren Programmen, Entspannungstechniken (Biofeedback, progressive Muskelentspannung, klinische Standardmeditation, Benson-Meditation) sowie dem Programm zur Rehabilitation von Trunkenheit am Steuer (DUI, Driving Under the Influence ­Programs) und präventiver Erziehung. kAlexander et al. (1994)

Reduzierter Drogenmissbrauch durch die Technik der transzendentalen Meditation im Vergleich zu Gruppendisziplin und vorbeugenden Erziehungsprogrammen. kAlexander et al. (1994)

Verringerter Zigarettenkonsum durch die Technik der transzendentalen Meditation im Vergleich zu unkonventionellen Behandlungen (z.  B.  Akupunktur, sensorische Deprivation, Hypnose), pharmakologischer Behandlung, individueller Beratung und Selbsthilfe-­Kits.

37

kFerguson (1981)

Verbesserte psychische Gesundheit durch die Technik der transzendentalen Meditation im Vergleich zu Zen-Meditation und anderen Techniken, welche die TM-Technik nachahmen (Relaxation-Response-Techniken). kRainforth et al. (2007)

Blutdrucksenkung durch die Technik der trans­ zendentalen Meditation im Vergleich zu progressiver Muskelentspannung, Biofeedback, Relaxation-assisted-Biofeedback und Stressmanagement plus Entspannung. zz Abschließende Bemerkungen

Das Ziel der klassischen Meditationsformen, die i.  Allg. eine alte Tradition besitzen, ist die Erfahrung eines Bewusstseinszustands, der jenseits der gewohnten „Realitäten“ von Wach-, Traum- und Schlaf-Bewusstsein liegt. Im Yoga wird dieser Zustand als 4.  Haupt-­ Bewusstseinszustand, transzendentales Bewusstsein oder Turiya Chetana bezeichnet. Es ist der innerste Bereich des Menschen, sein kosmisches Selbst (Atma). Diese Transzendenz-­Erfahrung ist verbunden mit tiefer Stille und gleichzeitiger innerer Wachheit (ruhevolle Wachheit). Die Erfahrung dieses Grundzustands des Bewusstseins durch bestimmte Meditationsformen (allen voran der Technik der transzendentalen Meditation) ist der Schlüssel zur Entwicklung „höherer Bewusstseinszustände“ (die alle eigene, klar definierte Lebensrealitäten besitzen). Yoga definiert kosmisches Bewusstsein  – Turiyatita Chetana (Integration transzendentalen Bewusstseins mit dem Wach-Bewusstsein), Gottes-­Bewusstsein – Bhagavad Chetana (erweitertes kosmisches Bewusstsein mit einer Verfeinerung der Sinneswahrnehmung) und Einheits-­Bewusstsein – Brahmi Chetana (die eigene transzendente einheitliche Basis des Lebens wird zur dominanten Realität des Lebens; „Aham Brahmasmi“ – „Ich bin Totalität, Ganzheit“). Der Sinn, das Bewusstseinspotenzial des Menschen voll zu entwickeln, liegt darin, sein Denken und Handeln aus dem be­ grenzten, Ich-bezogenen Rahmen des Wach-­ Bewusstseins herauszuführen und spontan im

954

H. Wallnöfer et al.

Einklang mit dem gesamten Kosmos zu leben. Transzendieren (Zu-sich-selbst-Kommen, Sichselbst-Erfahren) ist der zentrale Lebensprozess. Die Verbindung des materiellen technologischen mit dem spirituellen Fortschritt der Menschen ist der bedeutendste Entwicklungsprozess unseres modernen Lebens. Daher wird „Meditation“ zu Recht immer mehr zum Mainstream einer modernen, gesunden und friedlichen menschlichen Gesellschaft.

»» „Die abendländische Kultur ist mehr von

der Reflexion, die asiatischen Kulturen sind mehr von der Meditation bestimmt. Die Begegnung beider erscheint mir manchmal als das eigentliche weltgeschichtliche Ereignis der gegenwärtigen Jahrhunderte.“ (Carl Friedrich von Weizsäcker, Physiker und Philosoph, 1977)

Zusammenfassung

37

55 Meditation ist ein Sammelbegriff für sehr unterschiedliche geistige Techniken und Übungen. 55 So unterschiedlich wie die Methoden selbst sind auch ihre Auswirkungen; spezifische Studienergebnisse lassen sich daher nicht allgemein auf alle Meditationsformen übertragen. 55 In einer Arbeit von Travis und Shear (2010) werden 3 grundlegende Meditationsprinzipien unterschieden: 55 konzentrative Aufmerksamkeitstechniken, 55 Kontemplations- und Achtsamkeitsübungen und 55 automatisches Selbsttranszendieren. 55 Diesen 3  Prinzipien können unterschiedliche physiologische Parameter sowie unterschiedliche subjektive Erfahrungsqualitäten zugeordnet werden (in dieser Arbeit wird speziell auf die unterschiedlichen EEG-Muster eingegangen). 55 In einer Zeit, in der von Stressepidemie die Rede ist, werden einfache und von ihren Auswirkungen her wissenschaftlich be-

legte Meditationstechniken zu einem wichtigen Aspekt eines modernen Gesundheits- und Erziehungssystems.

37.5  Psychoneuroimmunologie

achtsamkeitsbasierter Interventionen

Magdalena Singer, Julian Hannemann, Michaela Ott und Christian Schubert 37.5.1  Einführung

Die Psychoneuroimmunologie (PNI) stellt einen jungen Forschungszweig der Psychosomatik dar, der sich mit den komplexen Verbindungen zwischen Psyche, Nerven-, Hormon- und Immunsystem beschäftigt (Schubert 2015). Die PNI erforscht dabei einerseits, wie sich psychische und soziale Reize im Immunsystem abbilden (Kropiunigg 1990), und andererseits, wie Signale des Immunsystems im Zentralnervensystem (ZNS) wirksam werden (Dantzer et al. 2008). Ergebnisse aus der PNI untermauern so die jahrtausendealte Erkenntnis, dass Körper und Seele eine Einheit darstellen. Während sich die PNI traditionsgemäß v.  a. mit der Erforschung von unterschiedlichen Risikofaktoren, die Störungen der Immunfunktion bedingen, beschäftigte, gewinnt die Untersuchung immunologischer Positivund Schutzfaktoren in der PNI seit einigen Jahren an Bedeutung. Immer öfter wird untersucht, wie wechselseitige psychoneuroimmunologische Verbindungswege genutzt werden können, um die Gesundheit positiv zu beeinflussen  – Forschungsfragen, die die Gesundheitsförderung bzw. die Krankheitsprävention entscheidend vorantreiben können (Lutgendorf und Costanzo 2003). Dabei rückt, neben anderen Interventionsbereichen (z. B. Psychotherapie, Sport, Schlafhygiene, Hypnose) (Lutgendorf und Costanzo 2003), das Thema Achtsamkeit zunehmend in den Vordergrund.

955 Methoden zur Entspannung

37.5.2  Stress- und

37

Organsystemen einschließlich des Immunsystems. Absteigende sympathische Nervenfasern aus dem zentralen Nervensystem innervieren direkt lymphatische Organe und setzen insbesondere Noradrenalin frei, welches an Rezeptoren der Lymphozyten bindet und deren Funktion beeinflusst (Felten und Felten 1994). Im Nebennierenmark bewirkt die Aktivierung dort endender sympathischer Fasern die Freisetzung v.  a. von Adrenalin in den Blutkreislauf (sympathoadrenomedulläre Achse, SAMAchse) (Besedovsky et  al. 1979). Durch die Aktivierung adrenerger Rezeptoren kommt es zu einem Anstieg der Zahl und Aktivität von immunregulatorischen Zellen (natürliche Killerzellen, CD8-­Suppressorzellen/zytotoxische T-Zellen) sowie der Entzündungsaktivität von Makrophagen (Dragos und Tanasescu 2010).

Immunsystemaktivierung infolge von Stress

Zu den zentralen Grundlagen der PNI zählt das sog. immunoneuroendokrine Netzwerk (Besedovsky und Rey 2007). Die wesentlichen Funktionszusammenhänge dieses komplexen Stressregulationssystems sind in . Abb.  37.11 skizziert. Auf einen akuten psychischen oder physischen Stressreiz hin wird unmittelbar der Sympathikus aktiviert. Der Sympathikus ist der Teil des autonomen (vegetativen) Nervensystems, der den Organismus in die Lage versetzt, auf Gefahren sehr schnell zu reagieren – entweder mit Flucht oder Kampf (Fight-or-FlightReaktion). Dabei existieren enge Verbindungen zwischen Sympathikus und verschiedenen  

Exzitotoxizität Monoamine

STRESS Frühkindliche Belastungen Zwischenmenschliche Konflikte Einsamkeit

trophische Faktoren

NF-xB Hypothalamus

CRH

Locus coeruleus

Hypophyse ACTH Nebenniere

ENTZÜNDUNG

Kortisol

Pons

proinflammatorische Zytokine Chemokine Adhäsionsmolekule Akute-Phase-Reaktanten N.vagus

NF-xB Sympathikus Makrophage

..      Abb. 37.11  Psychoneuroimmunologische Regulationszusammenhänge bei Stress. Die stressassoziierte Aktivierung des Sympathikus führt zu einer Stimulierung von NF-κB in den Makrophagen und zur Produktion von proinflammatorischen Zytokinen. Am Ort des Entzündungsgeschehens kann die Entzündungsaktivität vom afferent-sensorischen Teil des N. vagus erkannt und weitergeleitet werden. Die folgende efferente Vagusaktivierung hemmt die

Immunsystem

Zytokinsynthese über den cholinergen antiinflammatorischen Wirkungsweg („inflammatorischer Reflex“). Die Aktivierung des humoralen antiinflammatorischen Verbindungsweges (HPA-Achse) erfolgt über eine gesteigerte Ausschüttung von ACTH und Kortisol. NF-κB kappa light-chain-enhancer of activated B cells, CRH Kortikotropin-Releasing-Hormon, ACTH adrenokortikotropes Hormon. (Mod. nach Miller et al. 2009)

956

H. Wallnöfer et al.

Dabei wird in Makrophagen in Reaktion auf Noradrenalin der Transkriptionsfaktor kappa light-chain-­enhancer of activated B cells (NF-κB) stimuliert, was eine gesteigerte Produktion proinflammatorischer T-Helfer-Typ-1(TH1)-Zytokine (z.  B.  Interleukin-1β, IL-1β) zur Folge hat (Bierhaus et al. 2003). Unbegrenzt würde sich ein solcher, grundsätzlich protektiver Anstieg der zellulären Immunaktivität gewebe- bzw. zellschädigend auswirken  – die Entzündungsantwort kann auf diese Weise gefährlichere Konsequenzen haben als der ursprüngliche Auslöser (Tracey 2002). 37.5.3  Antiinflammatorische

Gegenregulation

>> Vor dem Hintergrund dieser potenziell gesundheitsschädigenden Folgen bedarf es bei Stress einer immunsupprimierenden Gegenregulation, die einer überbordenden Entzündungsreaktion entgegenwirkt. Im besten Fall kann der Organismus so auf ein balanciertes immunologisches Ausgangsniveau zurückkehren.

Diese antiinflammatorische Modulation erfolgt auf verschiedenen Wegen (. Abb. 37.11). Zum einen werden im Gehirn (v. a. im Hypothalamus) Rezeptoren für proinflammatorische Zytokine exprimiert (z. B. IL-1-Rezeptor) – Entzündungszeichen können somit vom Gehirn als Warnsignale registriert werden (Bennett et al. 2013). Durch die entzündungsassoziierte Aktivierung der Hypothalamus-HypophysenNebennieren-­Achse (hypothalamic pituitary adrenal, HPA) kommt es zur Ausschüttung von Kortikoliberin (Kortikotropin-ReleasingHormon, CRH) und Arginin-Vasopressin (AVP). CRH erreicht das Gefäßnetz des Hypophysenvorderlappens (HVL) und bewirkt dort die Freisetzung des adrenokortikotropen Hormons (ACTH), welches die Ausschüttung von Kortisol und anderen Glukokortikoiden in der Nebennierenrinde forciert (Huber 2008). In weiterer Folge verringert Kortisol die Ver 

37

mehrung und Wanderung von Immunzellen und reduziert über die Hemmung von NF-κB in den Makrophagen und anderen Immunzellen die Ausschüttung proinflammtorischer TH1-­ Zytokine. Weiter stimuliert Kortisol die Freisetzung antiinflammatorischer T-Helfer-Typ-2(TH2)-Zytokine (z.  B.  IL-4, IL-10) (Oke und Tracey 2009; Schubert 2015), welche die Freisetzung von TH1-Zytokinen ebenfalls vermindern und so entzündungshemmend wirksam werden. Diese stress- bzw. entzündungsbedingte Verringerung von TH1-­ Zytokinen bei gleichzeitiger Erhöhung von TH2-Zytokinen wird als TH1/TH2-Shift bezeichnet. Eine weitere Rolle in der Rückregulation von stressbedingter Entzündungsaktivität spielt der Vagusnerv, dessen sensorisch-­ afferente Nervenfasern die Entzündungssignale direkt in der Peripherie aufnehmen und in das ZNS weiterleiten können („immunologische Synapse“) (Tracey 2002) (. Abb.  37.11). Die efferenten Nervenfasern des N.  vagus werden daraufhin mittels sekundenschneller Ausschüttung von Acetylcholin (ACh) gegenregulatorisch wirksam und verringern so ebenfalls über eine Deaktivierung der Makrophagen die gefährlich angestiegene Entzündungsaktivität. Aufgrund der Reflexhaftigkeit dieses negativen Rückkopplungsmechanismus wird dieser Verbindungsweg als „inflammatorischer Reflex“ bezeichnet (Tracey 2002) (. Abb. 37.12).  



>> Das Verhältnis von pro- und antiinflammatorischen Zytokinen (TH1/TH2-Verhältnis) hat einen hohen Stellenwert innerhalb der PNI, u. a. weil eine anhaltende Verschiebung dieser Relation eine zugrundeliegende funktionale Beeinträchtigung der PNI-Verbindungswege widerspiegelt.

kHyperkortisolismus

Wird beispielsweise der TH1/TH2-Shift bei anhaltendem Stress längerfristig aufrechterhalten, wird also über eine längere Zeit eine größere Menge an Kortisol ausgeschüttet, spricht man von Hyperkortisolismus. Hyperkortisolis-

37

957 Methoden zur Entspannung

Herz

Efferente Vagusnervaktivität Leber Organkompartiment des retikuloendothelialen Systems

Milz

ACh TNF IL-1 HMGB1

Ach-Rezeptor Gastrointestinaltrakt

..      Abb. 37.12  Der inflammatorische Reflex. Die efferente Aktivität des N. vagus führt zur gesteigerten Ausschüttung von Acetylcholin (ACh) in unterschiedlichen Organen wie Leber, Herz, Milz und Gastrointestinaltrakt. Die Interaktion mit nikotinischen ACh-Re-

zeptoren auf den Makrophagen hemmt die Ausschüttung von Tumornekrosefaktor (TNF), Interleukin 1 (IL-1) und anderen Zytokinen. HMGB1 high-mobility-group protein B1. (Mod. nach Tracey 2002)

mus ebnet aufgrund der damit verbundenen erniedrigten TH1- und erhöhten TH2-Immunität (TH1/TH2-Shift) den Weg für virale Erkrankungen, Wundheilungsstörungen, Krebs, Allergien, Atopien und Depression (Schubert 2015; Tsigos und Chrousos 2002; Nicolaides et al. 2015).

tisolismus) und einer Desensibilisierung der Glukokortikoidrezeptoren an den Immunzellen (Glukokortikoidresistenz; Cohen et  al. 2012) einstellen. Die Entzündungsanstiege im Körper können dann nicht mehr adäquat herunterreguliert werden (Besedovsky und Rey 2007), was mit der Entwicklung von schweren Entzündungskrankheiten, wie z. B. Autoimmunerkrankungen, koronare Herzkrankheit (Wirtz und von Känel 2017), rheumatoide Arthritis (Choy 2012), Osteoporose (Pacifici 1996), Demenz (Franceschi et  al. 2001) oder sickness behavior (Veränderungen des Erlebens und Verhaltens aufgrund von entzündungsassoziierten Effekten, die im ZNS wirksam werden) assoziiert ist.

kHypokortisolismus und Glukokortikoidresistenz

Bei exzessiver Aktivierung des Stresssystems, z.  B. aufgrund von chronisch-psychischem, insbesondere traumatischem Stress, kann sich ein Aktivitätsverlust der HPA-Achse mit einer verminderten Abgabe von Kortisol (Hypokor-

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H. Wallnöfer et al.

Das damit in Verbindung stehende Streben danach, die Stressverarbeitung zu optimieren, hat in den letzten Jahrzehnten zu einem enormen Aufschwung jahrtausendealter sowie moderner achtsamkeitsbasierter Verfahren geführt. Achtsamkeit wird dabei als nichtwertender Bewusstseinszustand des gegenwärtigen Augenblicks verstanden, der durch Meditation kultiviert werden kann (Jain und Mills 2015). Jon Kabat-Zinn, mittlerweile emeritierter Professor der University of Massachusetts, bahnte 1979 der Meditation den Weg in das Gesundheitssystem, um Patienten bei der Bewältigung von Krankheit, Stress und Angst zu unterstützen (Jain und Mills 2015). Sein achtsamkeitsbasiertes ­Behandlungsprogramm (Mindfulness-Based Stress Reduction, MBSR; Kabat-Zinn 1982, 1990, 2003) und Adaptionen davon werden aufgrund des hohen Standardisierungsgrades besonders oft herangezogen, um Meditationseffekte wissenschaftlich nachzuvollziehen. MBSR führt im Rahmen eines 8-wöchigen Gruppenprogramms in die achtsamkeitsbasierte Meditationspraxis ein. Es setzt sich zusammen aus 55 formellen Übungseinheiten bestehend aus Meditation im Sitzen, Körperscan-­ Meditation, sanftem Hatha-Yoga und einer Gehmeditation sowie 55 informellen Übungen, die Achtsamkeit im Alltag fördern sollen (z. B. achtsames Essen) (Jain und Mills 2015).

37

Die symptomverbessernde Auswirkung eines solchen Meditationstrainings auf unterschiedliche Erkrankungen wie Diabetes, Krebs, Depression oder Psoriasis gelten mittlerweile als wissenschaftlich bestätigt (Forschungsüberblick in Rosenkranz et  al. 2013). Über die spezifischen Wirkmechanismen, die den krankheitsverringernden Effekten von MBSR zugrunde liegen, ist hingegen wenig bekannt (Rosenkranz et al. 2013). Im Folgenden werden einige Studien vorgestellt, die Hinweise darauf geben, ob und wie achtsamkeitsbasierte Meditationsformen die Immunfunktion bei gesunden Testpersonen beeinflussen können.

zz Studien mit älteren und einsamen Probanden

Studien zeigen, dass Immunzellen von älteren und einsamen Erwachsenen eine erhöhte Expression von entzündungsassoziierten Genen aufweisen (Cole et al. 2011). Diese Ergebnisse veranlassten Creswell et  al. (2012) an einem Sample von 40 55- bis 85-jährigen gesunden Erwachsenen zu untersuchen, ob Einsamkeit und Entzündung mittels MBSR gesenkt werden können. In einer randomisierten kon­ trollierten Studie (RCT) ließ sich zeigen, dass bei Probanden, die an einem 8-wöchigen MBSR-Programm teilnahmen, im Vergleich zu einer Wartelistengruppe ohne MBSR-Behandlung sowohl die Einsamkeit als auch die NF-κB-assoziierte Genexpression in den zirkulierenden Leukozyten reduziert werden konnten. Ferner kam es im Anschluss an die MBSR-Intervention zu einer tendenziellen Reduktion von C-reaktivem Protein (CRP) im Blut (Creswell et al. 2012). kFazit

Aufgrund dieser Resultate resümieren Creswell et  al. (2012), dass MBSR eine geeignete Methode sein könnte, um Einsamkeit und die damit in Verbindung stehenden Entzündungsprozesse zu reduzieren. Aufgrund des erhöhten Krankheits- und Sterblichkeitsrisikos bei einsamen Personen (Creswell et  al. 2012) verdient dieses Ergebnis besondere Beachtung. zz Studien mit pflegenden Angehörigen von Demenzpatienten

Durch die Pflege eines an Demenz erkrankten Ehepartners chronisch belastete Personen weisen dauerhaft erhöhte Entzündungsanzeichen auf (Kiecolt-Glaser et al. 2003), was mit einem klaren Risiko für schwere Entzündungserkrankungen und vorzeitigen Tod verbunden ist (Naugler und Karin 2008). IL-6 weist beispielsweise bei pflegenden Angehörigen im Vergleich zur nichtpflegenden Kontrollgruppe innerhalb eines Beobachtungsintervalls von 6 Jahren eine Erhöhung um das 4-Fache auf (Kiecolt-Glaser et al. 2003), was über die gesamte Lebensspanne

959 Methoden zur Entspannung

hinweg gesehen mit einer relativen Lebenszeitverminderung von bis zu 20 Jahren verbunden sein kann (Harris et al. 1999). kRCT von Black et al. (2013)

Angesichts derart dramatischer Befunde zielt die Untersuchung von Black et al. (2013) darauf ab zu zeigen, wie sich Kirtan Kriya Meditation (KKM) auf eine Personengruppe auswirkt, die durch die Pflege eines an Demenz erkrankten Familienmitglieds psychoneuroimmunologisch belastet ist. KKM setzt sich u.  a. aus gezielter Aufmerksamkeits- und Atmungslenkung sowie bestimmten Hand- bzw. Fingerbewegungen (Mudras) zusammen, die in Kombination mit sich wiederholenden Gesangselementen (Chanten) repetitiv durchgeführt werden. Auch wenn KKM in erster Linie nicht zu den achtsamkeitsbasierten, sondern zu den konzentrativen Meditationsverfahren zählt, ist die RCT von Black et al. (2013) im hier erörterten Zusammenhang von besonderem Interesse: Begleitet von einführenden Interviews und 14-tägigen Kontrollterminen, die die Adhärenz (Compliance) und die Zufriedenheit der insgesamt 45 Testpersonen (durchschnittliches Alter: 61  Jahre) sicherstellen sollten, wurden 25  Probanden mit einer 12-minütigen Meditationsinstruktion auf Audio-CD ausgestattet. 8 Wochen lang meditierten sie damit täglich zu Hause. Eine Kontrollgruppe von 20  Testpersonen nahm an einem identischen Programm teil, hörte anstelle der Meditationsanleitung jedoch Entspannungsmusik. kFazit

Der Vergleich der beiden Gruppen ergab eine Umkehr der erhöhten NF-κB-bezogenen Transkription entzündungsassoziierter Gene bzw. der herabgesetzten IRF-1(interferon response factor  1)-bezogenen Transkription der angeborenen antiviralen Reaktionsgene (die bei Individuen, die einem bedeutenden Stressor ausgesetzt sind, beobachtet wurden) durch die tägliche Meditation. Dieses Ergebnis weist auf eine verringerte Entzündungsaktivität und einen verstärkten zellulären Immunschutz hin. Von diesen Änderungen waren insbesondere plasmazytoide

37

dendritische Zellen sowie B-Lymphozyten betroffen (Black et al. 2013). Unklar ist, ob die Gesamtheit oder ein bestimmtes Element der KKM diese zellspezifischen genregulatorischen Effekte auslöste (Black et al. 2013). kPilotstudie von Oken et al. (2010)

Die Studie von Oken et  al. (2010)weist ein vergleichbares Setting unter Anwendung von MBSR auf und analysierte u.  a. zirkulierende Immunbotenstoffe. Es wurden sowohl eine inaktive als auch eine aktive Kontrollgruppe, die an Edukationseinheiten zum Thema Powerful Tools for Caregivers teilnahm, eingerichtet. Dabei manifestierten sich weder für die TNF-α- und die IL-6-Konzentrationen noch für die CRP-Levels (hochsensitiv) signifikante Behandlungseffekte.

Weitere Studien zum Zusammenhang zwischen MBSR und Psychoneuroimmunologie kRCT von Rosenkranz et al. (2013)

Eine weitere Untersuchung zum Thema MBSR und PNI basiert auf der Erkenntnis, dass stressassoziierte Immunveränderungen die Entstehung und Verstärkung von entzündlichen Hautsymptomen begünstigen (z. B. bei Psoriasis oder Neurodermitis) (Buske-­Kirschbaum und Hellhammer 2003; Wright et al. 2005). Rosenkranz et al. (2013) führten in diesem Zusammenhang ein Laborexperiment durch, um herauszufinden, ob MBSR die Effekte von psychischem Stress auf experimentell hervorgerufene Entzündungen der Haut abpuffern kann. In einer RCT verglichen die Studienautoren eine 8-wöchige MBSR-Intervention mit einer aktiven Kontrollgruppe (Intervention zur Gesundheitsförderung). Allen Studienteilnehmern wurde einmal vor (prä) und zweimal nach (post, Follow-up nach 4 Monaten) der MBSR- bzw. der Kontrollintervention Capsaicin-Creme (0,1 %) am Unterarm appliziert, um eine lokale Entzündungsreaktion auf der Haut hervorzurufen. Ebenfalls wurden die Probanden zu allen drei Zeitpunkten einem Laborstresstest zur Erzeugung von psychischem Stress unterzogen (Trier Social Stress Test, TSST). Der Inhaltsstoff Capsaicin ist für die Schärfe von Chili verantwortlich und sti-

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H. Wallnöfer et al.

muliert die Ausschüttung proinflammatorischer Immunmediatoren (Rosenkranz et  al. 2013). Die Stärke des Ansprechens auf diesen künstlich gesetzten Reiz wurde anhand der Hautrötung und der lokalen Zytokinentwicklung (TNF-α, IL-8) quantifiziert. Die Autoren erwarteten, dass Personen, die dem MBSR-Training zugeteilt waren, im Vergleich zur Kontrollgruppe mit einer weniger starken Entzündungsreaktion auf die künstlich gesetzten Reize reagieren würden. Die Gruppen unterschieden sich aber letztendlich weder in der TNF-α- noch in der IL-8-Entwicklung am Wundort signifikant. Es wurde sogar deutlich, dass sich die Hautrötung nach den entsprechenden Trainings in beiden Gruppen verstärkte – in der MBSR-Gruppe nur leicht, in der Kontrollgruppe signifikant. Die Autoren ziehen saisonale Gründe (zum Testzeitpunkt nach dem Training herrschten kältere und rauere Wetterbedingungen als zum Testzeitpunkt vor dem Training) für die Interpretation dieser Ergebnisse heran. In der MBSRGruppe sei es demnach trotz Verschlechterung der Wetterlage zu einer geringeren Potenzierung der Hautrötung gekommen. Mehr Übungszeit war in der MBSR-Gruppe mit geringeren, in der Kontrollgruppe jedoch mit tendenziell höheren TNF-α-Levels assoziiert, weshalb die Autoren auf die Bedeutung von Übung bzw. der Entwicklung von Fertigkeiten für achtsamkeitsbasierte Effekte hinweisen (Rosenkranz et al. 2013). kFazit

Die dargestellten Ergebnisse, die aus z.  T. schwer vergleichbaren Studien stammen, weisen bei gesunden Testpersonen auf eine heterogene Ergebnislage im Bereich Achtsamkeit und PNI hin.

37

zz Studien zur Wirkung von achtsamkeitsbasierten Interventionen auf diverse Biomarker

Um die Ergebnisse gezielt zusammenzufassen und einen besseren Überblick zu ermöglichen, wurden in den letzten Jahren einige systematische Reviews bzw. Metaanalysen zur Wirkung von achtsamkeitsbasierten Interventionen auf unterschiedliche Biomarker erstellt.

kReview von Sanada et al. (2017)

Sanada et al. (2017) stellten auf der Basis eines Vergleichs von 7 Studien an gesunden Probanden keine bzw. keine übergreifenden Effekte achtsamkeitsbasierter Interventionen auf die zirkulierenden Zytokinkonzentrationen von IL-6, IL-8, IL-10, TNF-α und Interferon(IFN)-γ fest. kMetaanalyse von Schutte und ­Malouff (2014)

Die Autoren führten unter Einbezug von 4  RCT eine Metaanalyse zur Wirkung von achtsamkeitsbasierten Verfahren auf die Telome­ raseaktivität durch. Telomere sind DNA-Pro­ tein-Strukturen, die an den Endigungen von Chromosomen sitzen und diese vor freien Radikalen schützen, die Zellreplikation regulieren und die DNA-Stränge stabilisieren (Kiecolt-Glaser et al. 2011). Die Telomerase ist ein Enzym, das während der Zellteilung das Hinzufügen von DNA-Sequenzen in die Telomere erleichtert, wodurch die Telomerlänge erhalten bleibt und die Zellen vor vorschneller Alterung geschützt werden. Die Länge der Telomere sowie die Aktivität der Telomerase stellen somit Marker für den Alterungsprozess dar, wobei längere Telomere und höhere Telomeraseaktivität für vitales Altern sprechen (Rizvi et al. 2014). Auch weist eine höhere Aktivität der Telomerase auf eine bessere Immunfunktion hin (Wolkowitz et al. 2011). Die Berechnungen von Schutte und Malouff (2014) beruhen auf einem heterogenen Sample von 190  Testpersonen aus 4  Studien (Patienten mit Adipositas bzw. chronic fatigue sowie Gesunde bzw. Pflegepersonen) und besagen, dass das Anwenden achtsamkeitsbasierter Meditationsformen mit einer erhöhten Telomeraseaktivität in mononukleären Zellen des peripheren Bluts assoziiert ist (mittlere Effektstärke, d = 0,46). kReview von Black und Slavich (2016)

Der positive Zusammenhang von achtsamkeitsbasierten Interventionen und erhöhter Telomeraseaktivität wird auch im bisher ausführlichsten Review zu Achtsamkeit und PNI von Black und Slavich (2016) beschrieben,

37

961 Methoden zur Entspannung

der insgesamt 20 RCT (N = 1062, gesund und krank) umfasst. Neben telomerspezifischen Effekten beschreiben die Autoren, dass die achtsamkeitsbasierte Meditation studienübergreifend mit einer geringeren ­NF-κB-­assoziierten Genexpression, einer Reduktion von CRP im Blut und einer erhöhten Anzahl an CD4+-TZellen (bei HIV-positiven Patienten) assoziiert ist. Demnach scheinen achtsamkeitsbasierte Interventionen mit Verminderungen von entzündlichen Prozessen, Anstiegen der zellulären Immunabwehr und Anstiegen der protektiv-enzymatischen Aktivität gegen Zellalterung verbunden zu sein (Black und Slavich 2016). kFazit

So vielversprechend diese Ergebnisse auf den ersten Blick auch zu sein scheinen, vor voreiligen Schlüssen muss gewarnt werden: Es handelt sich, so auch die Autoren der Studien, bisher nur um vorläufige Hinweise, die auf durchmischten Samples und Interventionen beruhen sowie eine systematische Replikation erfordern (Schutte und Malouff 2014; Black und Slavich 2016). Auch die Tatsache, dass Black und Slavich (2016), ähnlich wie Sanada et  al. (2017), keine studienübergreifend einheitlichen bzw. zu selten replizierte Effekte für viele Immunmarker (zirkulierende und stimulierte Entzündungszytokine bzw. assoziierte Faktoren [IL-6, IL-8, IL-10, TNF-α, sTNF-RII, IFN-I, CRP]; Antikörpermessungen [IgA, IgG, Influenza]; diverse Zellzahlmessungen) identifizieren konnten, zeigt die Notwendigkeit vieler weiterer Forschungsanstrengungen auf. 37.5.4  Mind-Body-Therapien und

Immunfunktion

Meditation wird neben Hypnose, Yoga, mentaler Imagination oder progressiver Muskelentspannung (PME) konzeptuell der Mind-Body-Medizin zugeordnet (Muehsam et al. 2017). Deshalb werden in diesem Abschnitt zwei ergänzende Übersichtsarbeiten zur immunologischen Wirksamkeit von Mind-­Body-­Therapien (MBT) vorgestellt.

Mind-Body-Begriff - Allgemein gehören dazu Techniken, die das Zusammenspiel von Körper und Geist nutzen, um den Heilungsprozess zu begünstigen (Taylor et al. 2010; Morgan et al. 2014) – die betreffenden Methoden sind durch gemeinsame Elemente wie gemäßigte physische Aktivität, Tiefenatmung und/oder Stressreduktion miteinander verbunden (Morgan et al. 2014).

Weit verbreitet ist in diesem Zusammenhang die Unterteilung in Top-down- bzw. Bottom-­upAnsätze (Muehsam et al. 2017) (. Abb. 37.13). Bei Top-down-Verfahren werden Körperfunktionen oder -symptome über die mental-­ zerebrale Verarbeitung adressiert (Taylor et al. 2010). Durch Mind-Body-Therapien hervorgerufene affektive und kognitive Zustände sind mit einer veränderten Gehirnaktivität im orbitofrontalen Kortex, im anterioren zingulären Kortex, in der Amygdala, im Hippokampus und im somatosensorischen Kortex assoziiert (Muehsam et al. 2017). Im Kontext von Achtsamkeit beschreiben Jain und Mills (2015) in ihrem Review einen Top-down-Mechanismus der Achtsamkeit auf die Immunfunktion über kognitive und stressassoziierte Bahnen. Bottom-up bezieht sich auf Effekte, bei denen somatische, viszerale oder chemosensorische Reize über die Peripherie zum Hirnstamm und zum Kortex übertragen werden, wodurch die zentralnervöse Verarbeitung und die mentale Aktivität moduliert werden (Taylor et al. 2010).  

Top-down- bzw. Bottom-up-Prozesse und Mind-Body-Medizin (. Abb. 37.13)  

Top-down-Ansatz 55 MBT wie z. B. kontemplative Praktiken beeinflussen direkt das kognitiv-affektive Erleben von Individuen und sind mit zentralnervösen Veränderungen im orbitofrontalen Kortex, im anterioren zingulären Kortex, in der Amygdala, im Hippokampus und im somatosensorischen Kortex assoziiert. 55 Parallel dazu wird im Zusammenhang mit solchen MBT häufig eine Reduktion von psychischem Stress erlebt. 55 Folglich stellen sich eine erhöhte parasympathische sowie eine reduzierte

962

H. Wallnöfer et al.

Bottom-up-Ansatz 55 MBT wie Yoga, Qigong und Tai-Chi bewirken Veränderungen in erster Linie über die kontrollierte Atemarbeit und über körperliche Praktiken. 55 Sie beeinflussen damit physiologische Prozesse direkt über den Bewegungsapparat und die kardiovaskuläre Aktivität. 55 Dies wiederum wirkt sich upstream auf die HPA-Achse, die sympathovagale Balance, die Immunfunktion und die Stimmung aus.

sympathische und HPA-Achsen-Aktivität, eine herabgesetzte Produktion proinflammatorischer Zytokine und eine erhöhte Glukokortikoidsensitivität ein, wodurch Immun- und Entzündungsprozesse, die Aktivität des Darms bzw. Mikrobioms und die Herzratenvariabilität (HRV) reguliert werden. 55 Das Immunsystem und das Darmmikrobiom beeinflussen über Rückkopplungsprozesse zum ZNS wiederum die Stimmung und das Verhalten.

Mind-BodyTherapien

Hypothalamus

KorticotropinReleasing-Faktor

Zytokine & Chemokine Granulozyten

Hypophyse Herz

Einfluss auf Stimmung & Verhalten

Adrenokortikotropes Hormon

Eosinophil

Basophil Monozyt

Neutrophil

Vagusnerv

Leukozyten T-Zelle

Milz

Nebenniere Niere

Glukokortikoide (Kortisol)

B-Zelle

Makrophage NK-Zelle

Glukokortikoide (Kortisol) Adrenalin Noradrenalin

37

Darm-Mikrobiom

..      Abb. 37.13  Modell zu den Top-down- und Bottom-up-Prozessen im Kontext der Mind-Body-­Medizin (Erläuterungen s. Text). (Mod. nach Muehsam et al. 2017)

37

963 Methoden zur Entspannung

kWichtigste Signalwege

55 Autonomes Nervensystem: Parasympathikotonus ↑, Sympathikotonus ↓ 55 HPA-Achse: allostatische Belastung ↓ Systematischer Überblick über PNI-­Studien aus dem Bereich der Mind-Body-­Medizin kMetaanalyse von Morgan et al. (2014)

Verglichen wurden 34  RCT, um die Wirkung von Meditation, Yoga, Tai-Chi und Qigong auf das Immunsystem zu identifizieren. Die Autoren beschreiben die Datenlage als unvollständig, stellen aber zusammenfassend eine Reduktion von Entzündungsprozessen nach 7–16 Wochen MBT fest: 55 Für CRP manifestierte sich ein moderater Effekt (Effektstärke [ES] 0,58), 55 für IL-6 ein kleiner, aber nicht signifikanter Effekt (ES 0,35), 55 für TNF-α ein geringfügiger Effekt (ES 0,21). 55 Minimale Effekte zeigten sich auch für die CD4-Zellzahlen (ES 0,15) und die NK-­ Zellzahlen (ES 0,12). MBT wirkte sich darüber hinaus positiv auf die virusspezifische Immunantwort bei Impfungen aus. Die Autoren verglichen die ermittelten Effektstärken mit den Effektstärken einer Studie, die die Wirkung einer Gewichtsabnahme auf Entzündungsparameter bei übergewichtigen Frauen untersucht hatte (Schlaeppi et al. 2005). kFazit

Der entzündungsvermindernde Effekt solcher MBT für adipöse Frauen in Bezug auf IL-­ 6-­ Werte war dem einer Gewichtsreduktion vergleichbar, in Bezug auf CRP waren die MBT-Effekte einer Gewichtsabnahme sogar überlegen (Morgan et al. 2014). kDeskriptiver Review von Bower und Irwin (2016)

Die Untersuchung umfasst 26  RCT zum Thema MBT und Entzündung und zeigt Inkonsistenzen bezüglich zirkulierender Entzündungsmarker (IL-6, CRP etc.) und ex vivo

stimulierter Entzündungszytokine auf, wobei für Letztere zumindest in 3 von 6 Studien eine Reduktion nach Tai-Chi oder Yoga beobachtet werden konnte. Als konsistent beschreiben die Autoren die Ergebnisse hinsichtlich genomischer Entzündungsmarker: In allen sieben im Review eingeschlossenen Studien zu Yoga, Tai-­ Chi und Meditation wurde eine signifikante Verminderung der NF-κB-Aktivität im Zusammenhang mit der jeweiligen MBT manifest, und zwar in verschiedenen Populationen (einsame ältere Menschen, angehörige Pflegepersonen, Brustkrebspatientinnen). Dabei zeigten sich diese Effekte bereits nach relativ kurzer Interventionszeit (6  Wochen), und sie dürften vornehmlich auf eine reduzierte proinflammatorische Genexpression in Monozyten zurückzuführen sein. kFazit

Zusammengenommen weisen die Ergebnisse dieses deskriptiven Reviews auf eine erhöhte empirische Aussagekraft von genomischen Entzündungsmarkern im Vergleich zu zirkulierenden Immunparametern hin (Bower und Irwin 2016). 37.5.5  Parasympathische

Aktivierung im Kontext von Mind-­Body-­Therapien

Psychophysiologische Veränderungen, die durch achtsamkeitsbasierte MBT hervorgerufen we­ rden, modulieren, wie in . Abb.  37.11 zu­ sammenfassend dargestellt, unterschiedliche Pfade des immunoneuroendokrinen Netzwerks (Muehsam et al. 2017; Bower und Irwin 2016). Zur Funktionsweise des N.  vagus bzw. des Parasympathikus (Jain und Mills 2015; Muehsam et  al. 2017; Benarroch 1993), wird im Folgenden ein Überblick gegeben. Walter Hess beobachtete, wie zuvor auch schon der berühmte Stressforscher Walter Cannon, bereits in den 1950er-Jahren die physiologische Notfallreaktion des Körpers auf Stress und beschrieb darüber hinaus eine entgegengesetzte, durch verringerte sympathi 

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sche Aktivität gekennzeichnete Kombination von Körperreaktionen, die er als trophotropic response bezeichnete (Jacobs 2001). Herbert Benson griff diese Beobachtungen in den 1970er-Jahren auf und definierte in weiterer Folge die relaxation response, eine intrinsische Antistressreaktion, die von einer verringerten sympathischen bzw. zerebralen Gehirnaktivität (EEG) gekennzeichnet ist und in stiller Umgebung bei entspannter Muskulatur hervorgerufen werden kann (Taylor et al. 2010; Jacobs 2001). Voraussetzung dafür sei, dass es unter Ausblendung von Alltagsreizen und -gedanken gelingen müsse, sich auf einen repetitiven Stimulus wie beispielsweise ein Wort, ein Geräusch oder die eigene Atmung zu fokussieren (Jacobs 2001). Unterschiedliche MBT seien nachweislich dazu geeignet, eine relaxation response auszulösen (Jacobs 2001). Autogenes Training, Yoga, progressive Muskelentspannung oder hypnotische Relaxation, aber auch Massage, Akupunktur und Psychotherapie, gehen passend dazu mit einer erhöhten HRV einher (Forschungsüberblick in Taylor et  al. 2010). Die HRV ist ein klinischer Marker, der die sympathovagale Balance widerspiegelt. Prozesse des autonomen Nervensystems, die üblicherweise unbewusst ablaufen, scheinen sich demnach durch entsprechendes Training gezielt beeinflussen zu lassen (Tracey 2002).

Unter anderem führt eine gezielte elektrische Reizung des efferenten Anteils des N.  vagus zu einer Hemmung der proinflammatorischen Molekülfreisetzung (. Abb.  37.12) (Tracey 2002; Borovikova et  al. 2000). Eine pharmakologische Stimulation des cholinergen antiinflammatorischen Verbindungsweges (beispielsweise durch CNI-1493) führt zu vergleichbaren Resultaten (. Abb.  37.12 und 37.14). (Tracey 2002; Bernik et  al. 2002). Die HRV und die Produktion der proinflammatorischen Sub­stanzen TNF-α bzw. IL-6 stehen in Übereinstimmung dazu in negativem Zusammenhang zueinander (Taylor et al. 2010; Aronson et al. 2001; Malave et al. 2003). Demnach kann die systematische Eindämmung von Entzündungsprozessen neben Aufgaben wie Durchblutungssteigerung, Pulsverlangsamung oder Steigerung der Darmperistaltik in die Liste der Funktionen des N. vagus aufgenommen werden (Tracey 2002). Demgegenüber könnte ein fortschreitendes Entzündungsgeschehen mit einer vagalen Dysfunktion korrelieren (Tracey 2002). Wie bereits in 7 Abschn. 37.5.3 erwähnt, stellt der „inflammatorische Reflex“ nur einen von vielen Wirkmechanismen im Gesamtspektrum der MBT dar (. Abb. 37.11).  







37.5.7  Integrative 37.5.6  Vom Parasympathikus zum

inflammatorischen Reflex

37

In seinem 2002  in der Fachzeitschrift Nature erschienen Artikel stellt Kevin J.  Tracey ein Erklärungsmodell vor, das die MBT-bezogen erhöhte vagale Aktivität in systematischen Zusammenhang mit immunspezifischen Veränderungen bringt (. Abb.  37.12) (Tracey 2002). Im Vordergrund steht dabei der in 7 Abschn.  37.5.2 beschriebene „inflammatorische Reflex“ und damit die Erkenntnis, dass der sensorische Anteil des N.  vagus Entzündungen aufspürt und reflexartig über die Stimulation des efferenten N. vagus unterdrückt (. Abb.  37.11) (Tracey 2002; Libert 2003).  





Forschungsansätze

>> Insgesamt ist im Kontext der Mind-Body-­ Medizin bzw. im Kontext achtsamkeitsbasierter Interventionen von sehr komplexen Gesamtwirkungsdynamiken auszugehen. Im Gegensatz zum befehlsabhängigen Output einer Maschine ist beispielsweise keineswegs anzunehmen, dass ein und dieselbe MBT bei unterschiedlichen Individuen zu den gleichen psychoneuroimmunologischen Effekten führt.

Menschen sind, anders als Maschinen, nicht daran gebunden, auf die gleiche Ursache (Input) immer wieder mit der gleichen Wirkung (Output) zu reagieren (von Uexküll

37

965 Methoden zur Entspannung

..      Abb. 37.14 Physiologische Basis des „inflammatorischen Reflexes“ als potenzielle Grundlage für die Entwicklung entzündungsvermindernder Therapieverfahren. Der vagale Output kann mittels Biofeedback, Meditation, Konditionierung oder Akupunktur moduliert werden. Auch pharmakologische Substanzen wie CNI-1493 oder eine gezielte Vagusnervstimulation können die Vagusaktivität erhöhen. (Mod. nach Tracey 2002)

Konditionierung Biofeedback Meditation

Akupunktur

Psychoaktive antiinflammatorische Agenzien Pharmakologische Vagusnervstimulatoren • CN1-1493 • NSAID • MSH • Andere

Vagusnervstimulator

Entzündetes Gelenk mit Makrophagen

und Wesiak 2010). Dennoch dominiert das Maschinenmodell mit derartigen mechanistischen Erklärungsansätzen die moderne Biomedizin  – eine dualistisch-reduktionistische Herangehensweise, die aufgrund klarer Deutungs- und Handlungsanweisungen große Anziehungskraft hat (von Uexküll und Wesiak 2010), jedoch zu oft an der menschlichen Realität vorbeidiagnostiziert und -therapiert. Menschen zeichnen sich in ihrer biopsychosozialen

Lokale cholinerge Agonisten • Nikotinpflaster • Spezifische cholinerge Agenzien

Gesamtheit nämlich v. a. dadurch aus, dass sie aus Erfahrungen lernen, ihre Umgebung in Abhängigkeit von ihrem inneren Zustand interpretieren und ihrer Umwelt auf diese Weise individuell Bedeutung zuschreiben (von Uexküll und Wesiak 2010). Für die Wirksamkeit unterschiedlicher MBT wird demnach neben einer Reihe variierender Begleitfaktoren die subjektive Bedeutung, die das Individuum der jeweiligen Technik zuschreibt, mit ausschlag-

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H. Wallnöfer et al.

gebend sein. Auch Muehsam et al. (2017) weisen darauf hin, dass physiologische Daten im Bereich der Mind-­ Body-­ Medizin nicht verstanden werden können, ohne die Rolle von subjektiven Erfahrungen einzubeziehen.

1994) gefolgt sind, die sich hinsichtlich der zeitlichen Verzögerung sehr deutlich von Ergebnissen aus herkömmlichen Studien, insbesondere Laborstudien, unterscheiden.

zz Integrative Einzelfallstudien der PNI-­ Arbeitsgruppe an der Medizinischen Universität Innsbruck

37.5.8  Fallbeispiel

Um diesen komplexen Sachverhalten und der Dynamik des menschlichen Lebens gerecht zu werden, hat sich das Design der integrativen Einzelfallstudie als empirisch geeignet erwiesen (Schubert 2015; Schubert et al. 2012; Schubert und Schiepek 2003). Testpersonen sammeln hierbei über einen 4- bis 8-wöchigen Zeitraum ihren gesamten Harn und bearbeiten in regelmäßigen 12-­Stunden-Abständen eine spezielle, auf das untersuchte Individuum zugeschnittene Fragebogenbatterie. Wöchentliche Tiefeninterviews sollen ein umfassendes Verständnis der Person ermöglichen  – für die Untersucher eine Vo­ raussetzung für das Begreifen dessen, was einer Person Heilung bringen kann. Die biochemische Analyse der Harnproben im Labor gibt Aufschluss über physiologisch relevante immunoneuroendokrine Parameterveränderungen. Mittels statistischer Zeitreihenanalysen werden die wechselseitigen Zusammenhänge der Stresssystemvariablen über die Zeit hinweg ausgewertet. Auf den entsprechenden Zeitachsen wird dann ersichtlich, wie sich die biopsychosozialen Parameter über die Zeit hinweg gemeinsam und in Abhängigkeit voneinander verändern. Der Ansatz zeichnet sich dadurch aus, dass sich die Funktionsprüfung des Stresssystems auf das Alltagsleben der Person bezieht und dass die bislang in der PNI vernachlässigten Kriterien von Zeit und Bedeutung in die Forschung integriert werden. In den bisher durchgeführten integrativen Einzelfallstudien an Patientinnen mit Krebs- und Autoimmunerkrankungen sowie an gesunden Probandinnen zeigte sich konsistent, dass emotional bedeutsame Alltagserlebnisse von biphasisch-­zyklischen Veränderungen der Kortisol- und Neopterinkonzentration (Marker der zellulären Immunaktivität) (Fuchs et al.

Patientin, 49  Jahre, chronisch erschöpft und depressiv, vor 5 Jahren an Brustkrebs erkrankt In einer integrativen Einzelfallstudie konnte gezeigt werden, dass sich verschiedene Techniken, die dem MBT- bzw. dem komplementärund alternativmedizinischen Spektrum zugeordnet werden (Schlaeppi et al. 2005), signifikant auf das Stress- bzw. das Immunsystem auswirken: 55 Wendete die Patientin während der Studie Jin Shin Jyutsu, Tai-Chi, Physiotherapie, Singen oder energetisches Heilen an, kam es bei ihr bereits 36–48 Stunden vor der Anwendung zu einer Verringerung von Erschöpfung und zeitgleich mit der Anwendung zu einer Reduktion von negativer Stimmung. 55 Darüber hinaus traten im Anschluss an die Ausübung dieser Verfahren zyklische Veränderungen in den Harnkonzentrationen des zellulären Immunparameters Neopterin auf. Dabei stiegen die Neopterinwerte zunächst zeitgleich mit der Anwendung der Verfahren tendenziell an, um dann 36– 48 h sowie 72–84 h später signifikant abzusinken, was einer Entzündungsreduktion im Körper der Patientin entspricht und für eine Prognoseverbesserung wichtig ist. Wie bereits erwähnt, wurde diese Art von Zyklizität der Stress- und Immunsystemreaktion auch in anderen integrativen Einzelfallstudien beobachtet, und zwar meist im Zusammenhang mit dem Auftreten von emotional bedeutsamen (Beziehungs-)Ereignissen. Die Autoren des vorliegenden Beitrags vermuten, dass die im Studienzeitraum angewandten komplementär- und alternativmedizinischen Methoden für die untersuchte Patientin emotional bedeutsame Ereignisse darstellten, die sich in den identifizierten Zyklen widerspiegeln.

967 Methoden zur Entspannung

Zyklische Reaktionen in Stresssystemparametern verweisen auf Rückkopplungsphänomene innerhalb des Stressreaktionsprozesses. In einer weiteren aktuellen Auswertung derselben Einzelfallstudie wurden konkrete Hinweise für negative psychoimmunologische Feedbackschleifen gefunden: 55 Stimmungsabfälle der Patientin gingen dabei Anstiegen in den IL-6-­ Konzentrationen im Harn nach 12–24 h voraus, und angestiegene IL-6-Harnlevels wurden wiederum von Anstiegen der Stimmung nach 60–72 h gefolgt. 55 Ähnliche Wirkmuster zeigen sich für die Gereiztheit und die mentale Aktiviertheit der Patientin. Den Autoren dieses Beitrags zufolge verhielt sich IL-6  in dieser Studie antiinflammatorisch (Eisenberger et al. 2016) und war dadurch imstande, über die Aktivierung von positiven emotionalen Befindlichkeiten eine Art health behavior (im Gegensatz zu sickness behavior) zu triggern, das im Zusammenhang mit Heilungsprozessen zu sehen ist. Health behavior könnte somit Teil eines kreiskausalen Heilungsprozesses (Bischof 1989; Schubert und Schiepek 2003) sein, in welchem MBT/Achtsamkeitsverfahren oder vergleichbare PNI-Interventionen über eine antiinflammatorische Wirkung gesundheitsorientiertes ­Verhalten lancieren. kErgebnis

Aufgrund der hohen ökologischen Validität (empirische Gültigkeit eines Untersuchungsbefundes für das Alltagsgeschehen) des verwendeten Studiendesigns kann davon ausgegangen werden, dass die Ergebnisse dieser Studie auch über den Studienzeitraum hinaus Gültigkeit besitzen. Aus Nachfolgeinterviews konnte erfahren werden, dass die Probandin bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieser Arbeit rezidivfrei blieb und die erwähnten Methoden regelmäßig praktizierte. Durch die Anwendung von Interventionen, die auch dem Mind-Body-Bereich zuzuordnen sind, dürfte die Patientin aktiv zu ihrem individuellen Heilungsprozess beigetragen haben  – ein komplexer Vorgang, bei dem kulturelle, soziale und

37

damit bedeutungsassoziiert-­ subjektive Aspekte (meaning response, Moermann und Jonas 2002), aber auch immunologische Feedbackprozesse im Sinne eines health behavior eine wichtige Rolle spielen. 37.5.9  Ausblick

Achtsamkeitsbasierte Interventionen stoßen auf großes Interesse in der Bevölkerung und werden in der ganzheitsmedizinischen Praxis sowie zunehmend auch in der Psychotherapie erfolgreich genutzt. Die damit assoziierten Wirkmechanismen der MBT konnten jedoch in der westlichen, körperorientieren Medizin wissenschaftlich noch nicht vollständig belegt werden (Oke und Tracey 2009), was deren Akzeptanz im Sinne eines fundierten medizinischen Behandlungsansatzes bislang minderte. Die PNI zeigt nun die Möglichkeit auf, die Wirkpfade unterschiedlicher MBT sowohl bei Gesunden als auch bei unterschiedlichen Patientengruppen (z.  B.  Krebspatienten) zu untersuchen. Nach Jahren der intensiven Forschung lässt sich heute davon ausgehen, dass MBT das Potenzial zur Verminderung von Entzündungsprozessen, zur Steigerung des Immunschutzes und zur Entschleunigung der Zellalterung haben. Die bisher konsistentesten Ergebnisse wurden in diesem Zusammenhang mit genomischen Entzündungsmarkern erzielt, einer relativ statischen Gruppe von Variablen. Inkonsistente Ergebnisse zeigen sich hingegen in diesem Forschungsbereich der PNI dort, wo weniger statische, sondern stark fluktuierende Stresssystemvariablen wie beispielsweise die im Blut zirkulierenden Immunparameter (z.  B.  IL-6, CRP) mit der Anwendung von MBT korreliert werden. Hinsichtlich der methodischen Schwächen, die zu diesen Inkonsistenzen führen, argumentieren Bower und Irwin (2016) in der für die Biomedizin üblichen mechanistisch-­reduktionistischen Weise: Nach ihrer Auffassung müsse man MBT länger praktizieren und/oder die Fallzahl des Untersuchungssamples erhöhen, um auch signifikante Effekte in den variableren Immun-

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H. Wallnöfer et al.

parameterlevels identifizieren zu können. Die Autoren des hier vorliegenden Buchbeitrags können einer solchen Argumentationslinie nicht folgen und plädieren vielmehr für Einzelfallstudien mit Berücksichtigung von sorgfältig erhobenen Interview- und Zeitreihendaten, um in der PNI der hohen Komplexität von beziehungs- und bedeutungsassoziierten Therapieverfahren sowie achtsamkeitsbasierten Meditationsformen möglichst gut entsprechen zu können (Schubert 2017). Alles in allem zeigt die derzeitige Forschung, dass Menschen über das subjektiv bedeutsame Erleben oder Praktizieren eines Mind-Body-Verfahrens (z. B. Achtsamkeitsmeditation) lernen können, Stressreaktionsprozessen bzw. dem körpereigenen Entzündungsgeschehen gegenüber ein transzendentales Gegengewicht zu schaffen. Dabei gilt es jedoch zu berücksichtigen, dass MBT keine Panazee ist, die beliebig bei allen stressassoziierten Störungen appliziert werden kann. Verfahren beispielsweise, die der Bearbeitung von biographisch bedingten psychodynamischen Konflikten oder dem Strukturaufbau bei psychischen Strukturdefiziten dienen (z. B. Psychoanalyse), können nicht durch MBT ersetzt werden. Die Methoden der ­Strukturtranszendenz in der Meditation sind hier sogar kontraindiziert, da sie zu einer Verschlechterung des psychischen (und damit biologischen) Zustands bei entsprechend disponierten Personen führen können (Mertens 2013). Geht man also einerseits behutsam mit der Indikationsstellung von MBT bei Stress um und hält sich andererseits die ständig steigende Stressbelastung in unserer Gesellschaft (American Psychological Association 2017) sowie die dramatischen Folgen von Stress- bzw. Entzündungserkrankungen vor Augen, liegt in MBT bzw. in achtsamkeitsbasierten Interventionsformen ein enormes, ungenutztes Potenzial für unser immer noch biomedizinisch und damit mechanistisch orientiertes Gesundheitssystem. Zusammenfassung 55 Die Psychoneuroimmunologie erforscht die Funktionszusammenhänge des kom-

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plexen Stressregulationssystems des Menschen: eine intakte psychophysiologische Stressantwort korreliert mit Gesundheit. Der zeitlich begrenzte Anstieg der zellulären Immunaktivität (akute Entzündungsreaktion) bei Stress stellt eine überlebenswichtige Schutzfunktion des Organismus dar. Eine überbordende, länger andauernde Entzündungsreaktion kann sich gewebebzw. zellschädigend auswirken. Bei Stress bedarf es demnach einer immunsupprimierenden Gegenregulation. Diese antiinflammatorische Modulation erfolgt u. a. über den vom N. vagus gesteuerten„inflammatorischen Reflex“. Die Anwendung achtsamkeitsbasierter Interventionen und anderer MBT können protektive psychoneuroimmunologische Einflusspfade wie den „inflammatorischen Reflex“ stärken. Sie haben das Potenzial, Entzündungsprozesse einzudämmen, den Immunschutz zu steigern und die Zellalterung zu verlangsamen. Die Effekte von unterschiedlichen MBT auf das Immunsystem werden zunehmend wissenschaftlich untersucht, wobei inkonsistente Ergebnisse (z. B. in Bezug auf zirkulierende Immunparameter) deutlich werden. Genomische Entzündungsmarker zeig­ ten hierbei bislang konsistentere Ergebnisse auf. Methodische Schwächen (z. B. geringe ökologische Validität, Vernachlässigung von beziehungs- und bedeutungsassoziierten Aspekten, unrechtmäßige Reduktion von Komplexität) konventioneller, nomothetisch Daten aggregierender PNI-Studien können inkonsistente Ergebnisse in der PNI bedingen.

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975

Weitere Methoden Inhaltsverzeichnis Kapitel 38 Tiergestützte Intervention mit landwirtschaftlichen Nutztieren – 977 Walburga Siebenhofer

VII

977

Tiergestützte Intervention mit landwirtschaftlichen Nutztieren Walburga Siebenhofer 38.1

Einführung – 978

38.2

Entwicklung in Österreich – 979

38.3

Qualitätssicherung – 979

38.4

Dokumentationssystem – 980

38.5

Wirkungen der tiergestützten Intervention – 981

38.5.1

 achgewiesene positive Wirkungen von Nutztieren N (Scholl et al. 2003) – 981 Spezifische therapeutische und pädagogische Wirkungen – 982

38.5.2

38.6

 enereller Einfluss der Landwirtschaft auf den G Menschen – 983

38.7

 ielgruppen und effektiver Einsatz landwirtschaftlicher Z Nutztiere – 984

38.8

 iergestützte Intervention – Definition, Vorgehen T und Ziele – 985

38.9

Fallbeispiel – 987

38.10 Studien/Evidenzlage – 988 Literatur – 989

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_38

38

978

W. Siebenhofer

38.1  Einführung

38

Zahlreiche Erfahrungsberichte vermitteln, dass Tiere Menschen die Chance geben, sich mit etwas in Liebe verbunden zu fühlen. Tiere berühren auf einzigartige Weise das Herz und öffnen tiefste Gefühls- und Gedankenebenen. Ein freudiges, ohrenbetäubendes „iah“ als Begrüßung, ein liebevolles Stupsen von einem 700  kg schweren Kaltblutpferd, die ungestümen Bocksprünge der Lämmer erzeugen ein Lächeln, und der Tag fängt gut an. In Bereichen, in denen es darum geht, Vertrauen, Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl aufzubauen, sind Tiere wertvolle Partner. Tiere akzeptieren jeden Menschen, so wie er ist – ob verwirrt, geistig oder körperlich behindert, depressiv, hyperaktiv, verhaltensproblematisch, mit und ohne Probleme, Schwächen, Teilleistungsstörungen etc. Tiere urteilen und bewerten nicht, und sie senden keine missverständlichen Doppelbotschaften aus. Tiere sind oft die Quelle für Lachen, Spielen, Humor und Entspannung im Leben eines Menschen, ob bei Kindern oder Erwachsenen – und Lachen kann nachweislich Stressabbau und Schmerzlinderung bewirken. Tiere wirken als sozialer Katalysator, ob gefiedert, borstig oder wollig. Tiere können die Lebensfreude der Menschen stärken und ihrem Leben Inhalt und Aufgabe geben. Indem sie Kontakte herstellen oder verbessern, wirken sie positiv auf das soziale Verhalten der Menschen. Es können körperliche Verbesserungen erreicht werden, da Tiere eine Triebfeder sein können, um die Motivation der Klienten z.  B. für Bewegungsübungen zu steigern. Auch auf die Psyche hat die tiergestützte Intervention (TGI) wertvolle Auswirkungen, was durch wissenschaftliche Untersuchungen untermauert ist: Effekte tiergestützter Interventionen auf die Psyche 55 Psychische Entspannung und Muskelentspannung werden erleichtert

55 Sozialer Kontakt, emotionale Reaktionen und Kommunikation werden gefördert 55 Tiere wirken geistig anregend, angstlösend und antidepressiv 55 Stressreduktion 55 Befriedigung emotionaler Grundbedürfnisse: bedingungslose Liebe, emotionale Sicherheit und Geborgenheit 55 Bindungs- und Beziehungsfähigkeit werden gefördert 55 Lernen, gesunde Grenzen zu setzen 55 Fähigkeit, Gefühle wie Freude, Trauer, Zorn, Enttäuschung u. a. auszudrücken 55 Selbstwirksamkeit, Selbstkompetenz und Selbstwert werden gesteigert

Studien belegen, dass Kinder beispielsweise besser gedeihen, wenn ihnen ein Tier als Gefährte zur Seite gestellt wird  – als Identifikationssymbol, als unbestechlicher Erzieher, als Freund und Tröster. Es ist belegt, dass alte Menschen mit einem Haustier gesünder bleiben und länger leben als Vergleichsgruppen ohne Tiere (Vernooij und Schneider 2010). Die Nähe zum Tier, die Verantwortung, das Anfassen, Streicheln, Begreifen und die damit verbundene Erweiterung des Erfahrungshorizonts sowie des Selbstbewusstseins hat dazu geführt, dem landwirtschaftlichen Nutztier den Rang eines wichtigen Partners in der Therapie/Pädagogik/sozialen Arbeit zuzubilligen. Die tiergestützte Intervention ist eine relativ neue wissenschaftliche Disziplin und wurde zuerst in den angelsächsischen Ländern praktisch erprobt. Der praktischen Erprobung folgte der Beginn der wissenschaftlichen Forschung. Die Erfolge der Praktiker setzten die Wissenschaft in Erstaunen und brachten so verschiedene Forschungsinitiativen in Gang. Es ist sehr schwierig, exakte Messungen durchzuführen, wie sie in den Naturwissenschaften mit langer Forschungstradition üblich sind. Die frühen Studien ergaben sich eher zufällig, sozusagen als Nebenprodukt einer anderen Zielsetzung, und waren daher nicht streng

979 Tiergestützte Intervention mit landwirtschaftlichen Nutztieren

wissenschaftlich aufgebaut. Die Forschung ist aber inzwischen fortgeschritten, und die Bestrebungen, gute Grundlagenforschung zu machen, sind sehr viel weiter gediehen (Gatterer 2003; Greiffenhagen und Buck-­Werner 2007; Lorenz 2004a, b; Olbrich 2003; Otterstedt 2003, 2007, 2009; Scholl et al. 2003) (7 Abschn. 38.10).  

38.2  Entwicklung in Österreich

Die tiergestützten Interventionen sind aus der Praxis entstanden und durch diese wesentlich geprägt (Olbrich und Otterstedt 2003). Das Arbeitsfeld ist durch eine große Unterschiedlichkeit der Angebots- und Finanzierungsstrukturen und fachlichen Ausrichtungen der Akteure gekennzeichnet. Dies war die Grundlage für die schon jahrelang geführte Diskussion über Bedarf, Zielgruppen, Inhalte, Methodik und Wirksamkeit der Maßnahmen. Zudem fehlten einige weitere Voraussetzungen für die Akzeptanz wirkungsvoller tiergestützter Intervention wie ein überdisziplinäres Grundverständnis, eine konzeptionelle Fundierung, die strukturelle Verankerung des Bereichs und die Erprobung und Evidenzbasierung von Interventionen (Saumweber 2009). Langsam zeigt sich ein Bewusstsein dafür, dass eine Qualitätsentwicklung notwendig ist. Qualitätsmanagement für tiergestützte Interventionen muss ein sehr unterschiedliches Spektrum an Interventionen, Zielgruppen und Arbeitsfeldern abdecken (Wohlfahrt et al. 2011). Um diesen Herausforderungen zu begegnen, wurde in Österreich 2003 das Projekt Tiergestützte Therapie/Pädagogik am Bauernhof vom Österreichischen Kuratorium für Landtechnik und Landentwicklung (ÖKL) initiiert und gestartet. Es handelte sich um ein Forschungs- und Pilotprojekt. Da es wenige Studien zur therapeutischen bzw. pädagogischen Wirkung von landwirtschaftlichen Nutztieren auf Klienten gibt, hat das ÖKL in den Jahren 2003 und 2004 gemeinsam mit Dr. Kurt Kotrschal, Forschungsgruppe Mensch-Tier-Beziehung der Universität Wien, zwei Wirkungsstudien durchgeführt (Scholl et al. 2003, 2007) (7 Abschn. 38.10).  

38

Nachdem die Studien zu einem positiven Ergebnis geführt hatten, wurde mit der Entwicklung von Konzepten, Programmen und der konkreten Umsetzung der Idee begonnen. Treibende Kraft für dieses Projekt war DI Silke Scholl, die mit ihrem Team mittlerweile eine fundierte Ausbildung für Fachkräfte für tiergestützte Intervention entwickelt hat (Scholl et al. 2003). Ebenso hat sie Zertifizierungsrichtlinien für landwirtschaftliche Betriebe geschaffen, um diese Arbeit zu professionalisieren. 38.3  Qualitätssicherung

Das vom ÖKL entwickelte Zertifizierungssystem für die tiergestützte Arbeit mit landwirtschaftlichen Nutztieren hat sich bewährt. Mittlerweile richten sich 47 Betriebe in Österreich nach diesem System (Stand Juli 2017). Zertifizierungssystem für die tiergestützte Arbeit mit landwirtschaftlichen Nutztieren (Scholl 2009) 55 Betriebliche Voraussetzung: Tiergesundheit ȤȤ Überprüfung durch Tierarzt: ȤȤ Gesetzlich vorgeschriebene Impfungen ȤȤ Keine auf den Menschen übertragbare Krankheiten ȤȤ Keine kranken Tiere oder solche, die unter Schmerzen leiden ȤȤ Entwurmung ȤȤ Gepflegtes Erscheinungsbild der Tiere ȤȤ Tierärztliches Attest 55 Betriebliche Voraussetzung: Tierhaltung ȤȤ Überprüfung durch Landwirtschaftskammer: ȤȤ Stall einmalig, Ausnahme: Stallumbau oder Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen ȤȤ Artgemäße Tierhaltung für den gesamten Tierbestand

980

38

W. Siebenhofer

ȤȤ Gruppenhaltung, Raumangebot, Weidegang nach EU BIO Verordnung 2092/91, keine Anbindehaltung, keine ­Einzelhaltung (Fütterung, Medikamenteneinsatz ausgenommen) ȤȤ Protokoll und Bewilligung der LWK-­Stallbauberatung 55 Betriebliche Voraussetzung: Tiertraining ȤȤ Überprüfung des Trainings der Nutztiere – ÖKL: ȤȤ Überprüfung alle 3 Jahre ȤȤ Respektvoller Umgang mit den Nutztieren ȤȤ Training der Nutztiere nach der Methode der positiven Bestärkung ȤȤ Klares Verbot von Gewalt oder Strafen gegen Tiere im Training und im Einsatz ȤȤ Prüfung der Nutztiere auf ihre Eignung für die tiergestützte Arbeit, Grundlage – ÖKL Prüfungsordnung Nutztiere 55 Betriebliche Voraussetzung: Sicherheit ȤȤ Überprüfung durch SVB (Sozialversicherung der Bauern): ȤȤ Sicherheit einmalig, Ausnahme: Stallumbau oder Änderung der rechtlichen Rahmenbedingungen ȤȤ Keine Gefahrenquellen für Klienten im Betrieb ȤȤ Protokoll und Bewilligung der SVB-­Beratung 55 Persönliche Voraussetzungen: Ausbildung ȤȤ LFI-Zertifikatslehrgang Tiergestützte Intervention am Bauernhof und fundierte soziale therapeutische oder soziale Ausbildung ȤȤ Mindestens 3-jährige landwirtschaftliche Praxis ȤȤ Doppelqualifizierung ȤȤ Weiterbildung: 16 Unterrichtseinheiten alle 2 Jahre

Außerdem wird sehr großer Wert auf folgende Punkte gelegt: kInhaltliche Voraussetzung – Programm

55 Festlegung therapeutischer/pädagogischer Ziele, 55 Entwicklungsberichte, 55 Methodenvielfalt, 55 bei Bedarf Zusammenarbeit mit anderen Experten, 55 Vor- und Nachbereitung der Einheiten, 55 ausreichende zeitliche und personelle Ressourcen, 55 Schlechtwetterprogramm, 55 ansprechende Gestaltung. kDokumentation/Evaluierung

55 Dokumentation jeder TGI-Einheit, 55 Betreuer- und Klientenrückmeldung verpflichtend im Rahmen der 2-jährigen Weiterbildung. 38.4  Dokumentationssystem

Um die Ziele und Entwicklungen einer professionellen Mensch-Tier-Beziehung darzustellen, bedarf es einer differenzierten Darstellungsweise. Es wurde immer wieder diskutiert, ob eine umfangreiche Dokumentation in der tiergestützten Intervention notwendig sei. Die folgenden Gründe sprechen für genaue schriftliche Unterlagen. 55 Anamnese, Vor- und Nachbereitung und Dokumentation helfen, die Entwicklung der eigenen Arbeit nachzuvollziehen. 55 Die Darstellung der erzielten Effekte darzustellen, ist hilfreich bei der Evaluation der Arbeit und bei der Zielkontrolle. 55 Die Dokumentation kann für Effektivitätsstudien unterstützend wirken und lässt Verbesserungsmöglichkeiten erkennen. 55 Schriftliche Unterlagen unterstützen die Reflexion der Qualität der Begegnung zwischen Mensch und Tier, um z. B. die Bedürfnisse von Klient und Tier zu erkennen. 55 Die Dokumentation hilft, die Beobachtung der Interaktion zwischen Klient, Tier

981 Tiergestützte Intervention mit landwirtschaftlichen Nutztieren

und anderen Personen wie Therapeuten/ Pädagogen deutlich zu machen, und bei der Reflexion der TGI-Einheiten oder des Tiertrainings. 55 Die schriftlichen Unterlagen sind wertvolle Dokumente für Supervisionen und Teambesprechungen, eigene Vorträge, Referate oder Diskussionen in Fachkreisen. Da es in Österreich für diese TGI-Einheiten noch keine für eine qualitativ wertvolle Dokumentation ausgearbeiteten Formularvorschläge gab, sah die Autorin sich veranlasst, die Dokumentationsbögen selbst zu entwickeln. Die Dokumentationsbögen sind so aufgebaut, dass sie statistische Auswertungen erlauben. Bei der Entwicklung der Dokumentationsbögen standen folgende Aspekte im Mittelpunkt: 55 Erhebung der individuellen Möglichkeiten des Klienten, 55 Ermittlung von Problematiken, Verhaltensauffälligkeiten, Krankheiten des Klienten etc., 55 Feststellung von Entwicklungsabweichungen, 55 Veränderungen im persönlichen Entwicklungsverlauf während der TGI-Einheiten, 55 Erhebung des Verhaltens der Tiere während der TGI-Einheit. Bestandteile des Dokumentationssystems 55 Anamnese-Fragebogen – vor den TGI-Einheiten: Dieser Fragebogen erfasst basierend auf den Angaben der Eltern oder sonstiger verantwortlicher Personen biographische Daten und den Ist-Zustand des Klienten. 55 Fragebogen zur Dokumentation der TGI-Einheiten: Dieser Fragebogen dient der Dokumentation der TGI-Einheiten inklusive der Dokumentation über das Tierverhalten. 55 Anamnese-Fragebogen – nach den TGI-Einheiten: Dieser Fragebogen betrifft die Verhaltensveränderung des Klienten nach den TGI-Einheiten.

38

Die Anregungen dazu entstammen der eigenen Arbeit und der Diskussion mit diversen Experten und Fachkräften und aus Literaturrecherchen (Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Information 2005; Kohn 2004; Otterstedt 2007; Petermann et  al. 2008; Scholl et al. 2003). >> Es liegt nun ein Dokumentationssystem vor, das den Betrieben, die tiergestützte Interventionen anbieten, zur Verfügung steht.

38.5  Wirkungen der tiergestützten

Intervention

38.5.1  Nachgewiesene positive

Wirkungen von Nutztieren (Scholl et al. 2003)

kVerantwortung übernehmen

Die Klienten erleben, dass den Bedürfnissen der Tiere durch artgerechte Haltung (Gruppenhaltung, Beschäftigung, Auslauf etc.), Fürsorge (füttern, pflegen, einstreuen etc.) und freundlichen, rücksichtsvollen Umgang (behutsame Berührung, Respektieren von Rückzug etc.) Rechnung getragen wird. Indem die Klienten im Rahmen der tiergestützten Therapie und Pädagogik sinnvolle Tätigkeiten ausüben, die Bedürfnisse der Tiere achten und erfüllen sowie ihre eigenen Bedürfnisse wahrnehmen und befriedigen, lernen sie, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen (. Abb. 38.1). Im Kontakt mit den Tieren können die Menschen ihre soziale Kompetenz ausbauen, indem sie Verantwortung und eine konstruktive Führungsrolle entwickeln. Auch Kooperationsbereitschaft, Geduld und Hilfsbereitschaft sind im gegenseitigen Umgang gefragte Eigenschaften.  

kVerbesserte Kommunikation durch Körpersprache

Die Körpersprache der Tiere ist ein wertvolles Instrument, um die eigene Wahrnehmung und Kommunikationsfähigkeit zu fördern.

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a

b

..      Abb. 38.1  a Im Umgang mit Tieren kann Fürsorge für sich und andere erlernt, b beim Vorbereiten von Futter für die Tiere können Verantwortung und Alltagskompetenzen erworben werden

Indem die Klienten genau beobachten und hinterfragen, wie Tiere ihr Befinden und ihre Bedürfnisse sowohl Artgenossen als auch ­ Menschen gegenüber anhand von Körpersprache vermitteln, erlangen sie ein umfassenderes und tieferes Verständnis für Kommunikation. Durch die unmittelbare Reaktion der Tiere haben die Klienten die Gelegenheit, ihr eigenes Verhalten zu reflektieren.

zum authentischen Ausdruck von Gefühlen, da sie diesen selbst vorleben. Tiere zeigen ihre Gefühle unverfälscht und sehr direkt  – wenn sie z. B. Angst haben oder sich bedroht fühlen, weichen sie zurück, sie versuchen davonzulaufen oder werden aggressiv, um sich zu verteidigen. Tiere werten Verhalten und Gefühle der Klienten nicht – dadurch schaffen sie eine Atmosphäre, in der sich die Klienten so angenommen fühlen, wie sie sind. Tiere sind sehr präsent, ohne eine bestimmte Leistung von den Klienten zu erwarten. Die Klienten können auch dann mit der Liebe und Zuwendung der Tiere rechnen, wenn sie keine Hausarbeit erledigt oder bei einer Klassenarbeit schlecht abgeschnitten haben. Oft dient die Beziehung, die die Klienten zum Tier aufbauen, als Brücke bzw. Vorstufe dazu, zu anderen Menschen Beziehungen oder Freundschaften zu entwickeln. Die für die tiergestützte Arbeit wichtigste Eigenschaft ist das große Motivationspotenzial der Tiere. Manchmal sind Klienten nur mit einem speziellen Tier dazu bereit, physiotherapeutische Übungen auszuführen oder mit einem anderen Menschen zu kooperieren. Vor allem Klienten, bei denen bereits viele andere Motivationsversuche gescheitert sind, profitieren von der hohen Fähigkeit der Tiere, Menschen zu motivieren. Diese bei den Klienten ausgelöste Motivation ist auch oft die Basis für weitere positive Entwicklungen. In der Begegnung mit Tieren gelingt es, sich wirklich zu entspannen. Dadurch werden Ängste und Stress abgebaut. Tiere bieten ein ganzheitliches Naturerlebnis, das unter die Haut geht und positive Gefühle auslöst. Sie stärken das Selbstwertgefühl. Auch Erfolgserlebnisse, die Klienten wiederholt mit Tieren haben, stärken ihr Selbstwertgefühl.

kEmotionen, Beziehung und Motivation

38

Das Berühren von Tieren lässt die Klienten Geborgenheit und Nähe erleben. Gerade in Krankheits- oder Krisenzeiten kann das von enormer Bedeutung sein. Spielverhalten von Tieren oder neugieriges Zugehen auf einen Menschen können Freude und Begeisterung bei den Klienten bewirken. Tiere motivieren

38.5.2  Spezifische therapeutische

und pädagogische Wirkungen

Der Erfolg der tiergestützten Therapie/Pädagogik wird von Verantwortlichen wie Eltern,

983 Tiergestützte Intervention mit landwirtschaftlichen Nutztieren

38

Lehrern oder Betreuern oft an folgenden Änderungen in der Persönlichkeit bzw. im Verhalten gemessen: Persönlichkeits- und Verhaltensänderungen durch TGI 55 55 55 55 55

55 55 55

Aggressionsabbau Angstabbau Erlernen der Wahrung von Grenzen Erlernen von sozialer Integration und Kooperationsfähigkeit Verbesserung bei spezifischen Krankheitsbildern (Hyperaktivität, Mutismus, Borderline-Störung, Autismus u. a.) Mobilisierung von Körperfunktionen (Motorik, Orientierung etc.) Verbesserung der Konzentrationsfähigkeit Erlangen emotionaler bzw. sozialer Kompetenz (z. B. Geduld, Kooperationsfähigkeit)

38.6  Genereller Einfluss der

Landwirtschaft auf den Menschen

Der Bauernhof bietet einen ganzheitlichen Erlebniswert, der neben intensivem Tierkontakt auch grundlegende landwirtschaftliche Tätigkeiten und Abläufe in den t­ herapeutischen/pädagogischen Prozess einbezieht. Der Ortswechsel und die lebendigen Eindrücke auf dem Hof stellen dabei einen wesentlichen Unterschied z. B. zu Besuchsdiensten von Hunden dar. >> Das ländliche Umfeld wirkt sich gemeinsam mit dem gezielten Einsatz der Nutztiere positiv auf das Erleben und Verhalten der Menschen aus.

Menschen mit und ohne Probleme oder Beschwerden erleben in der Landwirtschaft eine Vielfalt von Arbeitsprozessen und Verantwortlichkeiten, die in anderen Bereichen kaum vorkommen. Viele Arbeitsabläufe sind auch von schwächeren Personen nachvollziehbar. Die Klienten lernen den landwirtschaftlichen Be-

..      Abb. 38.2  Eine sinnvolle Aufgabe innerhalb der Gemeinschaft zu haben, stärkt das Selbstwertgefühl

trieb  – trotz oder gerade wegen seiner Fülle an Möglichkeiten  – als organisatorische Einheit kennen und begreifen sich als Teil davon. Jeder ist Teil der Gemeinschaft und hilft mit seinem Einsatz, das Ganze zu erhalten, unabhängig davon, wie viel er objektiv dazu beiträgt (. Abb. 38.2). Natürliche Regelmäßigkeiten und der Jahresrhythmus prägen das landwirtschaftliche Jahr. Die Tierhaltung und andere landwirtschaftliche Tätigkeiten erfordern die Erledigung regelmäßig anfallender Arbeiten. Diese Arbeiten sind nicht nur an theoretische Arbeitspläne gebunden, sondern sie richten sich z.  B. auch nach der Witterung. Die Klienten erleben im Ablauf eines Jahres elementar alle Extreme der Witterung. Auch kann das Werden und Vergehen, also sinnbildlich das ganze Leben, in der Landwirtschaft miterlebt und beobachtet werden. Dies gilt besonders für die gehaltenen Tiere  – Decken, Trächtigkeit, Geburt, Säugen, Aufwachsen, Krankheiten bis hin zum Abschiednehmen vom Tier.  

>> Ein wichtiger bäuerlicher Beitrag im Entwicklungsprozess eines Menschen besteht in der Vermittlung elementarer Lebensvorgänge.

Die körperliche Arbeit kommt in vielen Fällen dem ausgeprägten Bewegungsbedürfnis der Klienten entgegen. Vereinzelt gelten Klienten, besonders im Bereich der Behindertenarbeit, im handwerklich-industriellen Bereich

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als schwierig, oder sie haben ein großes Aggressionspotenzial. Nach dem Wechsel in den „grünen Bereich“ entwickeln diese Menschen oft mehr Ausgeglichenheit und kommunikatives Verhalten. Insbesondere für Klienten, die sich schnell beengt fühlen, kann sich die Weiträumigkeit der Landwirtschaft, verbunden mit körperlich auslastenden Arbeiten, als therapeutisch/pädagogisch hilfreich erweisen. 38.7  Zielgruppen und effektiver

Einsatz landwirtschaftlicher Nutztiere

>> Ein großer Vorteil der tiergestützten Arbeit besteht darin, dass sie bei den unterschiedlichsten Zielgruppen für therapeutische, pädagogische oder soziale Zwecke angewandt werden kann.

Bei den regelmäßig abgehaltenen Facharbeitskreisen, bei denen sich die TGI-Fachkräfte aus ganz Österreich treffen, wird durch die Evaluationen eine positive Wirkung der TGI mit landwirtschaftlichen Tieren deutlich sichtbar. Für alle Klientengruppen muss die Art der Zielsetzung der TGI-Einheiten differenziert und individuell erfolgen. Die Intensität der TGI-Einheiten reicht von der umfassenden Konfliktverarbeitung über das gezielte Einwirken auf Verhaltens- und Persönlichkeitsbereiche bis zur Begegnung mit den Tieren, die Freude bereitet.

Zielgruppen, mit denen gearbeitet werden kann kMenschen mit besonderen Bedürfnissen

Vom Kindes- bis zum Seniorenalter können behinderte Menschen sehr gut von tiergestützten Interventionen profitieren (. Abb.  38.3). Die Zielgruppe ist sehr breit gefächert und umfasst leichte bis schwerste körperliche oder geistige Beeinträchtigungen sowie leichte bis schwerste mehrfache Behinderungen. Oft wird vergessen, dass Menschen dieser Zielgruppe häufig schwere psychische Probleme haben. Mithilfe der Tiere können im praktisch-­  

38

..      Abb. 38.3  Erfolgserlebnis nach vielen Stunden Handlungs-, Sozial- und Emotionalkompetenztraining sowie Motorikübungen

technischen und psychosozialen Bereich positive Wirkungen erzielt werden. Die Erfahrung zeigt, dass mit Tieren Kompetenzen für den Alltag wesentlich motivierter erlernt werden als ohne Tiere. kVerhaltensauffällige Kinder und Jugendliche

Diese Zielgruppe ist ebenfalls sehr vielfältig und umfasst ein breites Spektrum an Verhaltensproblemen. Gerade hier erlangt das Tier besonders große Bedeutung, z.  B. in seiner Funktion als „Eisbrecher“. Das freundliche Willkommen durch ein Tier vermittelt Geborgenheit und das Gefühl, angenommen zu werden. So kann über das Tier allmählich mit den Therapeuten/Pädagogen eine Beziehung aufgebaut und intensiviert werden. Über das Tier gewinnen diese das Vertrauen des Kindes und haben so einen besseren Zugang zu ihm und damit auch einen zunehmend stärkeren Einfluss auf dessen Psyche und Verhalten. kSenioren mit und ohne besondere ­Bedürfnisse

Für ältere Menschen, die bis ins hohe Alter körperlich und geistig fit sind, jedoch mit dem Abbau mentaler und physischer Leistungsfähigkeit sowie fortschreitender sozialer Isolation zu kämpfen haben, sind Tiere eine hervorragende Möglichkeit, die körperlichen und geistigen Fähigkeiten länger gut zu erhalten.

985 Tiergestützte Intervention mit landwirtschaftlichen Nutztieren

Die Tiere sollen für die Senioren den zwischenmenschlichen Kontakt nicht ersetzen, sie sind vielmehr sozialer Katalysator zwischen den Menschen, sozusagen Brückenbauer. Für diese Altersgruppe sind Tiere eine gute Unterstützung bei der Biographiearbeit, sie wecken Erinnerungen und können beim Verarbeiten von traumatischen Erlebnissen unterstützend wirken. Sie nehmen auch das Bedürfnis vieler Senioren, Zuwendung zu geben, gerne an. Tiere werten niemals nach menschlichen Kriterien, sie gehen auf alte, kranke und behinderte Menschen uneingeschränkt zu und berühren mit ihren Liebkosungen die Seele von an den Rand der Gesellschaft gedrängten Menschen. kMenschen mit psychischen Erkrankungen und psychosomatischen Problemen

Zu dieser Gruppe zählen Menschen jeden Alters, die oftmals an einer akuten oder chronischen Krankheit leiden und im Rahmen des Heilungsbzw. Rehabilitationsprozesses tiergestützte Maßnahmen in Anspruch nehmen wollen. Ob Schaf, Schwein, Esel oder Kuh, die Tiere rühren an das individuelle und kollektive Unbewusste und unterstützen therapeutische Prozesse durch ihre speziellen Möglichkeiten der Kommunikation und Interaktion. Negative Rückmeldungen von Tieren werden weniger kränkend und abwertend empfunden als von Menschen. Dadurch können tiergestützte Interventionen Persönlichkeitsentwicklungen, Entwicklungsstörungen, psy­ chische Prozesse etc. positiv unterstützen. In der Therapiesituation können die Tiere in Bezug auf die Beziehung zwischen Therapeuten und Klienten Brückenfunktion haben. kLangzeitarbeitslose

Tiergestützte Intervention hat sich auch im Einsatz mit Menschen bewährt, die seit längerer Zeit keine Möglichkeit hatten, Arbeit zu finden. Diese Form des Arbeitstrainings soll diesen Personen helfen, sich zu stabilisieren und sie auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten. Handlungsfähigkeit und Selbstwert können wiedererlangt werden. Besonders nach schwierigen Lebenssituationen ist das Arbeiten in der Natur heilsam und stärkend.

38

38.8  Tiergestützte Intervention –

Definition, Vorgehen und Ziele

Der letzte Stand dieser Definition ist Juli 2014. Eine Kurzversion dieser Definition ist im Grünen Bericht 2014 des Österreichischen Bundesministeriums für Land- und Forstwirtschaft auf Seite 304 zu finden. Tiergestützte Interventionen (TGI) - TGI umfassen fachlich geplante pädagogische, psychologische und sozialintegrative Angebote mit speziell dafür ausgebildeten und artgerecht gehaltenen Tieren für Menschen jeden Alters mit und ohne physische, psychische, sozial-emotionale und kognitive Einschränkungen und Verhaltensweisen. Sie beinhalten auch gesundheitsfördernde, präventive und rehabilitative Maßnahmen. Die TGI-Einheiten werden von Personen geplant, durchgeführt und evaluiert, die eine therapeutische, pädagogische oder soziale Grundausbildung sowie eine tiergestützte Aus- und Weiterbildung absolviert haben. Die TGI findet im Einzel- oder Gruppensetting statt. Basis der tiergestützten Therapie ist die Beziehungs- und Prozessgestaltung im Beziehungsdreieck Klient–Tier–Bezugsperson. „Tiergestützte Intervention“ beinhaltet Methoden, bei denen Klienten mit Tieren interagieren, über/mit Tieren kommunizieren oder für die Tiere tätig sind. Die Durchführung der angeleiteten Interaktion erfolgt zielorientiert anhand einer klaren Prozess- und Themenorientierung unter Berücksichtigung tierethischer Grundsätze mit anschließender Dokumentation und fachlich fundierter Reflexion, Evaluation und Supervision.

Der Begriff „tiergestützte Therapie“ bezieht sich ausschließlich auf die Tätigkeit von Personen mit therapeutischer Grundausbildung (wie Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, Logo­ päden und Psychotherapeuten), die eine Zusatzausbildung für tiergestütztes Setting absolviert haben. Hier werden unterschiedliche therapeutische Ziele bei Patienten jeden Alters verfolgt. Die Behandlung erfolgt nach den Richtlinien des jeweiligen Grundberufs. zz Voraussetzungen für eine artgerechte Tierhaltung

Die Tierethik erfordert die Wahrnehmung der Tiere als fühlende Lebewesen, die Respekt

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verdienen, eine artgerechte Tierhaltung sowie eine artgemäße Ausbildung der Tiere. Die Qualitätssicherung ist über eine eigene Zertifizierung von Mensch, Tier, Einrichtung bzw. Hof gewährleistet. 55 Einhaltung der aktuellen EU-Biorichtlinien für landwirtschaftliche Nutztiere, erweitert um das Verbot von Anbindehaltung und Einzelhaltung, 55 Kontakt mit Artgenossen, 55 Bereitstellung von Ressourcen für die Tiere, damit sie ihr arteigenes Verhalten wie Nahrungsaufnahme-, Bewegungs-, Sozial- und Ruheverhalten ausleben können. Die Tierausbildung beinhaltet verpflichtend eine gute Sozialisation, Habituation und ein artgerechtes Tiertraining durch Methoden der positiven Bestärkung. Das Tiertraining muss stressfrei und wertschätzend aufgebaut sein. Für eine gute Gesundheit der Tiere ist durch eine artgerechte Fütterung, Gesundheitsvorsorge und tierärztliche Betreuung zu sorgen. Ziele der TGI

Allgemeine Ziele tiergestützter Interventionen

38

55 Verbesserung, Aufbau und möglichst lange Erhaltung der physischen, mentalen und psychischen Funktionen und Fähigkeiten des Klienten 55 Unterstützen der Fähigkeiten und Fertigkeiten des Klienten zur Durchführung von Aktivitäten und Handlungen 55 Einbeziehen der TGI in die jeweilige Lebenssituation und in Alltagshandlungen des Klienten 55 Förderung des Klienten 55 Verbesserung des subjektiven Wohlbefindens und der Lebensqualität des Klienten 55 Bieten einer Chance auf nachhaltige Änderung von Verhaltensauffälligkeiten des Klienten

>> Damit soll erreicht werden, dass der einzelne Mensch in unterschiedlichen Lebensbereichen seinen Fähigkeiten entsprechend agieren, reagieren und partizipieren kann.

Die spezifischen Ziele der TGI orientieren sich, ausgehend von der Indikationsstellung, an den Bedürfnissen, Ressourcen und Stärken des jeweiligen Klienten gemäß der ICF-­ Klassifikation (International Classification of Functioning, Disability and Health) bzw. den Diagnosesystemen ICD-10/11 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) und DSM IV/5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders). zz Fachkräfte

Die tiergestützte Intervention steht in enger Beziehung zu verwandten Wissenschaftsdisziplinen wie Psychotherapie, Psychologie, Pädagogik, Pflegewissenschaft, Sozialwissenschaft, Anthropologie, Ethologie, Biologie, Medizin und Veterinärmedizin. Die tiergestützte Intervention wird von einer Fachkraft mit einer Fachausbildung für tiergestützte Therapie, Pädagogik und soziale Arbeit durchgeführt. Die Fachausbildung muss Theorie, Lehrpraxis, Selbsterfahrung, Supervisionen ebenso wie Praktika auf dafür spezialisierten Betrieben beinhalten. Eine kontinuierliche Weiterbildung im Bereich der Theorie und Praxis ist erforderlich. Die Fachkraft plant die Maßnahmen anhand unterschiedlicher Konzepte und methodischer Ansätze für die verschiedenen Zielgruppen, führt sie zielorientiert durch und dokumentiert sie anschließend. Die angeleitete Interaktion durch die Fachkraft basiert auf dem Beziehungsdreieck Klient–Tier–Fachkraft. Sie muss prozess- und themenorientiert gestaltet sein und durch eine fachlich fundierte Reflexion hinterfragt werden. Die Fachkraft bezieht dabei das soziale Umfeld und andere involvierte Fachkräfte in die Erarbeitung der Zielorientierung und die Verlaufsreflexion beim einzelnen Klienten ein.

38

987 Tiergestützte Intervention mit landwirtschaftlichen Nutztieren

38.9  Fallbeispiel

a

Patient: 9 Jahre alter Junge, Autismus-­ Spektrum-­Störung kVorgeschichte

Matteo stellt seine Umgebung aufgrund seiner autistischen Erkrankung vor große Herausforderungen. Er geht im Zentrum für Intensivund Sonderpädagogik zur Schule. Wegen seines fremdaggressiven Verhaltens – er verletzte immer wieder Kinder und Betreuer – wird er außerhalb der Schulzeit von keiner Sozialeinrichtung mehr betreut. Dadurch, dass bei Autismus-Spektrum-Störungen die Reize aus der Umgebung anders oder unzureichend verarbeitet werden, entsteht oft ein für andere Menschen unverständliches Verhalten. So zeigt Matteo eine massive Kommunikationsstörung, stereotype Verhaltensweisen, und er kann die Emotionalität seines Gegenübers nicht erkennen und einordnen. An sozialen Kontakten ist er wenig interessiert bzw. weiß er auch nicht, wie er adäquat Kontakt aufnehmen könnte. Bei einer Schnupper-TGI-Einheit zeigt Matteo den Tieren gegenüber ein respektloses und grobes Verhalten; er will die Tiere immer jagen, stupsen und schlagen. Das ist seine Art, Interesse zu zeigen. Es ergeben sich durch die hohe Motivation, mit den Tieren – wenn auch nicht auf passende Weise – Kontakt aufzunehmen, prognostisch günstige Hinweise.

b

..      Abb. 38.4  a Matteo bemüht sich, ruhig auf die Schweine zuzugehen. b Nach einem halben Jahr lässt ein Schwein ihn sehr nahe an sich herankommen

schen die Kontaktaufnahme, sie haben einen hohen Aufforderungscharakter und schaffen eine besondere Leichtigkeit. Matteo zeigt deutlich, dass er mit den Hängebauchschweinen in Kontakt sein will (. Abb.  38.4a). Über den Weg von Wahrnehmungs- und Beobachtungsübungen, das Versorgen und Pflegen der Schweine, das Spielen mit kTherapie ihnen und mit Erklärungen, wie Schweine mitIn der Folge werden auf ein halbes Jahr TGI-­ einander „sprechen“, Menschen und Schweine Einheiten mit einem Termin pro Woche sich verstehen können und Menschen untereivereinbart. Das Ziel soll die Reduktion der nander kommunizieren (KommunikationsverFremdaggression und eine adäquate Kontakt- halten) und wie sich Schweine gegenseitig Gutes tun (Sozialverhalten) lernt Matteo allmählich, aufnahme zu Mensch und Tier sein. Für die TGI-Einheiten werden Hänge- sein Verhalten so zu kontrollieren, dass die bauchschweine ausgewählt. Schweine zeichnen Schweine bei ihm bleiben, er sie berühren kann sich durch intensive Kontakt- und Kommuni- und sie ihm auf Zuruf entgegenkommen. kationsbereitschaft dem Menschen gegenüber aus. Durch ihre klaren und deutlichen Lautäu- kErgebnis ßerungen können die Tiere von den Klienten Am Ende der geplanten TGI-Einheiten schafft es schnell verstanden und gedeutet werden. Und: Matteo, langsam und freundlich mit den Tieren Schweine legen großen Wert auf „Höflichkeit“. umzugehen und ganz allgemein seine KommuMit ihrer Direktheit erleichtern sie den Men- nikationsfertigkeiten zu steigern (. Abb. 38.4b).  



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Nun ist es ihm möglich, Menschen zur Kontaktaufnahme die Hand zu reichen, Blickkontakt aufzubauen und  – wenn auch nur kurz – „Hallo“ zu sagen, auch gegenüber ihm fremden Menschen. Das aggressive Verhalten zeigt sich nur noch selten. Es bricht nur noch aus, wenn eine Reizflut massiv über Matteo hereinbricht und er sich überfordert und orientierungslos fühlt. Matteo hat gelernt, nicht nur die Schweine zu „lesen“, sondern kann nun auch körpersprachliche Äußerungen von Menschen besser interpretieren und einordnen. 38.10  Studien/Evidenzlage zz Julius et al. (2014): Bindung zu Tieren

38

Die Autoren schufen mit dieser Veröffentlichung eine umfassende wissenschaftliche Basis für den Ansatz der TGI. Die Synthese von Neurobiologie und Psychologie ergab eine wertvolle Zusammenfassung der biologischen Grundlagen menschlicher Beziehungen. Sie geben einen Überblick über den aktuellen Stand der Forschung. 66 Originalstudien sind tabellarisch aufgelistet. Aus der Tabelle sind die Autoren, die Population/Altersgruppe, das Design der Studie, die Anzahl der Probanden und signifikant positive Effekte zu ersehen (Julius et al. 2014, S.  54  ff). Dabei beschränkten sich die Autoren auf Studien, die ein wissenschaftliches Review-Verfahren durchliefen, und aus dieser Gruppe wurden nur Arbeiten einbezogen, die zuvor definierten wissenschaftlichen Standards genügt hatten. Sie konzentrierten sich bei der Sichtung der Studien auf die psychische und körperliche Gesundheit von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Es werden aber nicht nur die Studienergebnisse besprochen, die Autoren diskutieren auf wissenschaftlicher Basis auch z. B. die physiologischen und endokrinen Muster, die einer Mensch-Tier-Beziehung zugrunde liegen, das biopsychologische Konstrukt „Bindung“ oder aber auch über die Frage, warum Menschen überhaupt Beziehungen zu Tieren aufnehmen können und wollen.

Im Folgenden werden beispielhaft 3 der analysierten Studien skizziert: kBerget et al. (2011)

55 Population/Altersgruppe: erwachsene Psychiatriepatienten, 55 Design der Studie: 12 Wochen TGI mit Nutztieren, Kontrollgruppe; 6-­MonatsFollow-up, 55 Probanden: 41/28, 55 signifikant positive Effekte: Reduktion der manifesten Angst 6 Monate nach Ende der TGI. kFriedmann und Thomas (1998)

55 Population/Altersgruppe: erwachsene Patienten mit Myokardinfarkt, 55 Design der Studie: Vergleich der Überlebensrate nach einem Jahr von Heimtierbesitzern mit Nichtheimtierbesitzern, 55 Probanden: 424, 55 signifikant positive Effekte: signifikant höhere Überlebensrate der Heimtierbesitzer. kBass et al. (2009)

55 Population/Altersgruppe: Kinder mit Autismus, 55 Design der Studie: 12 Wochen therapeutisches Reiten, Warteliste-Kontrollgruppe, 55 Probanden: 19/15, 55 signifikant positive Effekte: mehr sensorische Aufmerksamkeit, Feinfühligkeit, soziale Motivation, weniger Unaufmerksamkeit und Sitzen. kFazit

Die Ergebnisse der von Julius et al. (2014) ausgewerteten Studien weisen auf eine Reihe positiver Effekte hin, insbesondere 55 körperlicher Gesundheitszustand, 55 Stimulation sozialer Interkation, 55 Verbesserung des empathischen Verstehens, 55 Reduktion von Angst und Furcht, 55 erhöhtes Vertrauen, 55 größere Ruhe, 55 Verbesserung des Gemütszustandes bzw. Reduktion depressiver Verstimmungen,

989 Tiergestützte Intervention mit landwirtschaftlichen Nutztieren

55 höhere Schmerzschwelle, 55 Reduktion von Aggressionen und Stress, 55 verbesserte Lernfähigkeit. zz Scholl et al. (2003, 2007)

Bei diesen Studien wurde untersucht, wie Ziegen, Rinder und Schweine von therapeutischem und pädagogischem Nutzen für unterschiedliche Zielgruppen sein können. Es sollte erhoben werden, ob landwirtschaftliche Nutztiere geeignet sind, positive Verhaltensänderungen bei hyperaktiven Kindern zu induzieren, Ängste oder Aggression bei Klienten nachhaltig abzubauen oder die Lebensqualität von Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu verbessern. Dies konnte bestätigt werden. kStudienbeispiel

55 Population/Altersgruppe: Frauen und Männer mit Mehrfachbehinderung zwischen 18 und 45 Jahren, 55 Studiendesign: 11 Wochen TGI mit Ziegen, Kontrollsituationen, 55 Probanden: 10, 55 signifikant positive Effekte: bessere Konzentration, mehr Ruhe, erhöhte Mobilität, Erhöhung eines zu niederen Muskeltonus, bessere Angstbewältigung. zz Kontakt

Verein Guat leb’n Tiergestützte Intervention am Bauernhof Dr. Walburga Siebenhofer, Hans Brückler Leska 27 A-8160 Weiz 7 www.­guatlebn.­at  

Zusammenfassung 55 Die tiergestützte Intervention (TGI) ist ein relativ junges, interdisziplinäres Arbeitsfeld, das zur menschlichen Potenzialentwicklung eingesetzt wird. 55 Auch bei den landwirtschaftlichen Tieren haben sich vielfältige Einsatzmöglichkeiten eröffnet und eindrucksvolle Wirkungen bei den verschiedensten Zielgruppen gezeigt.

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55 In den Settings zeigt sich immer wieder eine innige Verbundenheit mit den Tieren, die den Zugang zu sozialen und emotionalen Prozessen eröffnen und eine Veränderungsarbeit ermöglichen. 55 Mit System durchgeführte TGI-Settings unterscheiden sich von einem spontanen Kontakt zu Haustieren: Sie sind 55 geplant, 55 zielgerichtet, 55 ausgerichtet auf den Kompetenzbereich des Anwendenden, der den Prozess lenkt und begleitet. 55 Von entscheidender Bedeutung dafür sind: 55 professionelle Rahmenbedingungen die Qualifikation des Anbietenden Menschen und Tiere betreffend, 55 eine gute Ausbildung, 55 der artgerechte Einsatz der landwirtschaftlichen Tiere.

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991

VIII

Forschung, Recht und Ethik Inhaltsverzeichnis Kapitel 39 Komplementär- und integrativmedizinische Forschungsprojekte und Horizont 2020 (8. Europäisches Forschungsförderprogramm) – 993 Hedda Sützl-Klein Kapitel 40 Die universitäre Entwicklung von Naturheilkunde und Komplementärmedizin im deutschsprachigen Raum – 1037 Rainer Stange Kapitel 41 Die gesundheitsrechtliche Situation im Bereich der Komplementärmedizin – 1049 Susanne Weiss Kapitel 42 Medizinethik und Komplementärmedizin – 1091 Franz X. Lackner

993

Komplementär- und integrativmedizinische Forschungsprojekte und Horizont 2020 (8. Europäisches Forschungsförderprogramm) Hedda Sützl-Klein 39.1

 rfahrungen und Einschätzungen – eine persönliche E Annäherung – 996

39.2

 omplementär- und integrativmedizinische Forschung K in Horizont 2020: Zielsetzung und Zusammenfassung des Kernthemas – 997

39.3

 omplementär- und integrativmedizinische K Ansätze für mehr Gesundheit und nachhaltigere Gesundheitssysteme – 998

39.3.1

 intergrund und Zielsetzungen: die großen H Herausforderungen der Gesundheitssysteme – 998 Europäische Forschung zur Verbreitung von Komplementärmedizin – 999 Bedürfnisse und ganzheitliche Sicht von Patienten – 1001 Interdisziplinärer Zugang bei Analysen, Diagnosen, Empfehlungen und Behandlungsformen – 1003

39.3.2 39.3.3 39.3.4

Mit Beiträgen von Kristjan Plätzer, Nicole Tortik und Pierre Madl © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_39

39

39.4

I nternationaler Vergleich: Komplementär- und Integrativmedizin und Forschung – 1005

39.4.1 39.4.2

 SA – 1005 U Zur Situation in Deutschland, Österreich und der Schweiz: hoher Stellenwert von Naturheilkunde und Komplementärmedizin – 1006 Erste nationale Erhebung zur komplementärmedizinischen Forschung in Österreich – 1009 Workshop: CAM-Forschung 09 – 1011

39.4.3 39.4.4

39.5

 eue Forschungsansätze und N Zukunftsperspektiven – 1011

39.5.1

F orschung zur wissenschaftsbasierten Integration und innovativen Weiterentwicklung von tradiertem Heilwissen – 1011 Europäischer und alpiner Heilpflanzenschatz – 1012 Neues Forschungsfeld „Photodynamische Inaktivierung von Mikroorganismen auf Basis lichtsensitiver Naturstoffe“ – 1015 Hydrotherapien: Wasserfalltherapie bei allergischem Asthma – 1016 Wachstumssegment ganzheitlicher Gesundheitsmarkt – 1018

39.5.2 39.5.3

39.5.4 39.5.5

39.6

Komplementärmedizin in europäischen Forschungsprogrammen: FP5, FP7 und Horizont 2020 – 1019

39.6.1 39.6.2

F P5 und FP7 – 1019 Horizont 2020 – das EU-Forschungsprogramm (2014–2020) – 1019 Horizont 2020: Vernetzungstreffen für IM-/CAM-Forschung in Wien seit 2014 – 1025

39.6.3

39.7

 usblick: Integrativmedizin- und CAM-Forschung A in Europa – 1025

39.8

 Weltweiter Aufschwung der Komplementär- und Integrativmedizinforschung – 1027

39.8.1

E tablierung der Komplementärmedizinforschung im deutschsprachigen Raum – 1027 Nationale und internationale Kongresse zu komplementärmedizinischer Forschung – Präsentation von Forschungsergebnissen – 1029 Ausbildungssituation – 1031 Musiktherapie – 1031

39.8.2

39.8.3 39.8.4

Literatur – 1032

996

H. Sützl-Klein

In diesem Beitrag werden zahlreiche nützliche Links genannt. Aus Gründen der Übersichtlichkeit wird an den betreffenden Stellen auf die Angabe des letzten Abrufdatums verzichtet, denn alle wurden bei einer Überprüfung am 14.03.2018 zuletzt abgerufen. 39.1  Erfahrungen und

Einschätzungen – eine persönliche Annäherung

Fast jeder Mensch kennt Gesundheit und Krankheit aus eigener Erfahrung. Solange wir uns wohl fühlen, gesund sind, uns „im Gleichgewicht“ befinden und „die Welt in Ordnung“ ist, machen wir uns nicht allzu viele Gedanken über die Gesundheit und leben i. Allg. – so wie wir es gewohnt sind – wohl. Spätestens dann, wenn Kinder, Partner, Angehörige, nahe Verwandte oder Freunde ernsthaft krank werden, beginnen wir uns zu fragen, wie und warum diese Krankheiten entstehen, was getan werden kann, um sie zu lindern bzw. zu heilen. Was können wir/ die Erkrankten selbst dazu beitragen, wieder gesund zu werden oder zumindest eine dauerhafte Verbesserung bzw. Stabilisierung zu erreichen? Hätten diese Krankheiten vermieden werden können, und wenn ja, wie? Diese und viele weitere Fragen zur Pathogenese (Krankheitsentstehung), zur Salutogenese (Gesundwerdung, 7 Kap.  9) und zu interdisziplinären Möglichkeiten zur Förderung von Gesundungsprozessen tauchen auf. Gibt es Therapien, und wenn ja, welche (konventionelle, komplementäre)? Dabei stellen sich Fragen zur Wirksamkeit, Zuverlässigkeit, Zweckmäßigkeit, zu Risiken, Nebenwirkungen und Voraussetzungen von Behandlungen, von konventionellen wie komplementären Methoden, von methodenspezifischen und interdisziplinären bzw. integrativen Ansätzen. Patienten und ihre Angehörigen richten diese Fragen an Ärzte und mit Gesundheit und Krankheit befasste Berufsgruppen (Gesundheitsberufe). Viele dieser Fragen lassen sich noch nicht oder nicht abschließend eindeutig und zuverlässig beantworten oder werden kontrovers diskutiert. Manche dieser  

39

berechtigten Fragen von Patienten und Angehörigen sowie von Mitarbeitern in Gesundheitsberufen wurden beforscht, viele Fragestellungen wurden jedoch noch nicht in ausreichendem Maß von der Forschung aufgegriffen. Ganzheitliche und integrativmedizinische Ansätze werden sowohl von Patienten zunehmend nachgefragt als auch von Ärzten angeboten bzw. empfohlen: Als Motive für die Beschäftigung mit Komplementärmedizin werden nachhaltigere Erfolge mit möglichst wenigen unerwünschten Nebenwirkungen und möglichst anhaltender Verbesserung des Gesundheitszustands angeführt. Auch die Suche nach kompetenten Empfehlungen für eigenverantwortliches Verhalten in Gesundheitsfragen und für eigene gesundheitsrelevante Beiträge ist vielfach ein Motiv. Von ärztlicher Seite wird in der heutigen Zeit vielfach auch ein „Therapienotstand“ angeführt: Darunter wird der Mangel an befriedigenden wissenschaftlichen Erklärungen von Krankheitsursachen und an wirksamen und nebenwirkungsarmen Präventions- und Therapiemaßnahmen verstanden, die für die Betroffenen auch leistbar sind. Auch persönliche Betroffenheit ist nach Aussagen und Einschätzungen aus zahlreichen Gesprächen mit Experten aus Praxis und Forschung eine wichtige Motivation, sich mit komplementären Methoden zu befassen: Erkrankungen, die die Grenzen des aktuell vorhandenen oder verfügbaren Wissens bzw. der Wirksamkeit konventioneller Methoden spürbar machten (s. auch CAMbrella-Projektergebnisse zu Erfahrungen, Einstellungen und Bedürfnissen der Bürger in Europa: Eardley et  al. 2012, S. 18, S. 23 ff.; Nissen et al. 2012a). Angesichts der dabei aufkommenden Fragen soll mit diesem Beitrag zur vermehrten Forschung ermutigt und zum interdisziplinären Dialog zwischen Forschung und Praxis, ggf. auch unter Einbeziehung von Patienten und Angehörigen bzw. deren Vertretern (z. B. Selbsthilfegruppen), angeregt werden. Das vorliegende Kapitel basiert wesentlich auf Unterlagen für die Vorlesungseinheit Was sollen MedizinstudentInnen über Komplementärmedizin wissen? an der Medizinischen Universität Wien und auf Zusammenstellungen für Petitionen zur IM- und CAM-­Forschungsförderung.

39

997 Komplementär- und integrativmedizinische Forschungsprojekte

39.2  Komplementär- und

integrativmedizinische Forschung in Horizont 2020: Zielsetzung und Zusammenfassung des Kernthemas

Im Gesundheitsforschungsprogramm von „Horizon 2020“ („Horizont 2020“), dem 8. Rah­ menprogramm der Europäischen Union für Forschung und Innovation von 2014–2020 (s. Horizon 2020 auf einen Blick: 7 https://www.­ ffg.­at/europa/h2020), haben interdisziplinäre Ansätze, eine patientenzentierte integrierte Gesundheitsversorgung und nachhaltige Gesundheitssysteme einen hohen Stellenwert (7 https://www.­ffg.­at/gesundheit-demographischer-wandel-und-wohlergehen). Für komplementäre und alternative Gesundheitsansätze wurde schon im vorangegangen Gesundheitsprogramm des 7. Rahmenprogramms der EU (FP7: 7th Framework Programme) ein Koordinationsprojekt zur  



Darstellung der Angebots- und Nachfrageseite von Komplementärmedizin sowie kom-

plementärer und alternativer Gesundheitsförderansätze in Europa unter der Bezeichnung Complementary and Alternative Medicine (CAM) ausgeschrieben und durchgeführt (Topic: FP7-HEALTH-2009-3.1-3, CAMbrella-Projekt, 2010–2012; s. CAMbrella-­Projektwebseite: 7 http://www.­cambrella.­eu). Dabei gab die Europäische Kommission auch die Erstellung eines Fahrplans für europäische CAM-Forschung in Auftrag (s. Topic HEALTH-2009-3.1-3 im FP7-­Arbeitsprogramm Gesundheit 2009, S. 29:  

»» „HEALTH-2009-3.1-3: Complementary and

Alternative Medicine. FP7-HEALTH-­2009single-stage. In order to create the knowledge base concerning the demands for Complementary and Alternative Medicine (CAM) and the prevalence of its use in Europe, consensus on the terminology of CAM

and the definition of respective CAM meth­ ods needs to be established. The current state with respect to the provider’s perspective as well as needs and demands of the citizens should be explored; the different legal status of CAM in EU Member States needs to be taken into account. A roadmap for future European research in this area should be developed. Funding scheme: Coordination and Support Action (Coordinating Action).“ (7 http://ec.­europa.­eu/research/participants/data/ref/fp7/88705/a_wp_200901_ en.­pdf )  

Damit wurden erste Schritte gesetzt, um bisherige Ansätze der europäischen Forschung zu Integrativ- bzw. Komplementärmedizin weiterentwickeln und in den folgenden Forschungsförderprogrammen durch länderübergreifen­ de Forschungsprojekte konkretisieren zu können (die meisten EU-Forschungsprojekte sind Kooperationsprojekte von zumindest 3 Partner-Institutionen aus verschiedenen EU-­ Mitglieds- oder assoziierten Staaten; Teilnehmerportal der EU zu Horizont 2020: 7 http://  

ec.­europa.­eu/research/participants/portal/desktop/en/funding/index.­html). >> Es ist zu hoffen, dass zahlreiche europäische Forschungsprojekte zur Umsetzung der im CAMbrella-Projekt für 2020 skizzierten Vision für CAM-Forschung erfolgreich beitragen, eine solide evidenzbasierte Basis aufzubauen, die es den europäischen Bürgern und den gesundheitsrelevanten Berufsgruppen ermöglicht, informierte Entscheidungen zur Nutzung von CAM-Methoden zu treffen (Übersetzung durch die Autorin. Zur Vision von CAMbrella: Brinkhaus 2012: Roadmap for Future CAM Research, Präsentation des CAMbrella-Projekts am 29.11.2012 bei der öffentlichen Abschlusskonferenz in Brüssel, s. auch Nissen et al. 2012b, S. 14).

998

H. Sützl-Klein

39.3  Komplementär- und

integrativmedizinische Ansätze für mehr Gesundheit und nachhaltigere Gesundheitssysteme

39.3.1  Hintergrund und

Zielsetzungen: die großen Herausforderungen der Gesundheitssysteme

Die Zunahme an chronischen Erkrankungen und die damit häufig einhergehende Polypharmazie, steigende Antibiotikaresistenzen und die wachsende Zahl an Non-Respondern/therapieresistenten Personen sind weltweit zu großen Herausforderungen geworden. Zugleich haben sich ungesunde Lebensbedingungen bzw. Lebensstile und die damit verbundenen Folgeerkrankungen verbreitet. kDeutlicher Anstieg der Kosten der Gesundheitssysteme und der Belastung nationaler Budgets

Hohe und tendenziell steigende Gesundheitskosten belasten die Gesundheitssysteme und nationalen Budgets in Europa stark (7 http://  

ec.­e uropa.­e u/eurostat/statistics-explained/ index.­p hp/Healthcare_expenditure_statistics/ de). Es zeigte sich, dass die Bürger Europas

zwar im Durchschnitt älter, aber nicht unbedingt gesünder werden. Angesichts dieser Entwicklungen ist es ein erklärtes Ziel europäischer Gesundheitsprogramme, dass die Bürgerinnen und Bürger länger gesund bleiben (Europäische Kommission: 2. Gesundheitsprogramm 2008–2013 „Gemeinsam für die Gesundheit“, Booklet der Europäischen Kommission 2008, Generaldirektion Gesundheit & Verbraucher, S. 5; 7 http://ec.­europa.­eu/  

health/ph_programme/documents/prog_booklet_de.­pdf).

39

In der EU ist bei insgesamt zunehmender Lebensdauer (2012: durchschnittlich knapp 80 Jahre) in fortgeschrittenem Alter für etwa 20 Jahre mit einer activity limitation (Einschränkung der Aktivitäten) zu rechnen: Frauen wiesen 2011 einen geschätzten Durchschnitt von 62,2 gesunden Jahren, Männer von 61,8 gesunden Jahren

auf (OECD 2014, S. 9 und S. 16 ff.). Im 3. Gesundheitsprogramm der EU Health for Growth (2014–2020) wird daher darauf hingewiesen, dass das Wirtschaftswachstum durch Verbesserung des Gesundheitszustands der Bevölkerung gefördert werden kann (z.  B. 7 https:// epthinktank.­e u/2014/02/20/eu-health-­p rogrammefor-2014-to-2020/) und indem Menschen befähigt werden, länger aktiv und in einem besseren Gesundheitszustand zu verbleiben (OECD 2014; 7 http:// www.­oecd-ilibrary.­org/social-issues-migration-­health/ health-at-a-glance-europe-­2014_health_glance_eur2014-en). Chronische Krankheiten, die für die Gesundheitsversorgungssysteme eine besondere Herausforderung darstellen, verursachen laut Einschätzung des europäischen Bündnisses für öffentliche Gesundheit EPHA (European Public Health Alliance) jährliche Kosten von ungefähr 700 Mrd. € – was etwa 70–80 % der Gesamtkosten für die Gesundheitsversorgung in der EU ausmacht (Web-Artikel, EPHA 2012).  



So wurde z.  B. 2011 eine europäische Pilot-­ Innovationspartnerschaft (Active and Healthy Ageing  – A European Innovation Partnership:

7 http://ec.­e uropa.­e u/research/innovation-­ union/pdf/active-healthy-ageing/presentation.­ pdf) zur Verlängerung der gesunden Lebens 

spanne der älteren Bevölkerung um 2 Jahre bis 2020 ins Leben gerufen (Europäische Kommission: 2. Gesundheitsprogramm 2008–2013; OECD Health at a Glance: Europe 2014; EPHA-­ Webartikel 2012; Schlussfolgerung des Rates zu chronischen Erkrankungen 2010, EG  – Europäische Gemeinschaften 2010).

zz Europäische Kommission: 2. Gesundheitsprogramm Ein Fokus der Europäischen Gesundheitsprogramme liegt auf multimodaler Präven-

tion, Gesundheitsförderung und Gesundheit in allen Lebensbereichen, um die Entstehung von Krankheiten möglichst zu vermeiden bzw. ihren Ausbruch zeitlich zu verschieben und ihre Schwere möglichst gering zu halten (EK  – Europäische Kommission: 3. Gesundheitsprogramm der EU „Health for Growth“ 2014–2020: Übersichtsdarstellungen der Europäischen Kommission. 7 http://ec.­europa.­eu/ health/programme/policy/index_de.­htm). Das Gelingen dieser Zielsetzung hat nicht nur wesentliche Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen, sondern auch auf die Kosten  

39

999 Komplementär- und integrativmedizinische Forschungsprojekte

und somit auf die Finanzierbarkeit und Nachhaltigkeit der Gesundheitssysteme. Das 3. Gesundheitsprogramm der EU „Health for Growth“ (2014–2020) ­verfolgt 4 übergeordnete Ziele 1. Gesundheitsförderung, Prävention von Krankheiten und Schaffung eines günstigen Umfelds für eine gesunde Lebensführung unter Berücksichtigung des Grundsatzes: Einbeziehung von Gesundheitsfragen in alle Politikbereiche 2. Schutz der EU-Bürger vor schwerwiegenden grenzübergreifenden Gesundheitsgefahren 3. Beitrag zu innovativen, effizienten und nachhaltigen Gesundheitssystemen 4. Erleichterung des Zugangs zu besserer und sichererer Gesundheitsversorgung

Gesundheit diskutiert (so wurde CAM z. B. im 2. Aktionsprogramm Gesundheit der EU 2008– 2013, Punkt 24, explizit erwähnt; Beschluss Nr. 1350/2007/EG) und z. T. auch beforscht (EG – Europäische Gemeinschaften 2007). 39.3.2  Europäische Forschung

zur Verbreitung von Komplementärmedizin

Komplementärmedizin und interdisziplinäre Ge­ sundheitsförderung spielen in der Gesund­ heitsversorgung in Europa eine zunehmend wichtige Rolle; zum Anstieg der Verbreitung von CAM in Europa (und anderen westlichen Industriestaaten) s. insbesondere die Ergebnisse des CAMbrella-Projekts unter 7 http:// www.­cambrella.­eu (Fischer et  al. 2014; Eardley et al. 2012, S. 18 ff.). Sie werden bei allen Altersgruppen, sowohl in der Kinder- und Jugendheilkunde als auch in der medizinischen Versorgung Eigene Ausschreibungen zu den Gesundheitsvon Erwachsenen und in der Pflege hochbetagprogrammen der EU fördern die Umsetzung ter Menschen, eingesetzt. ihrer Ziele (EC  – Europäische Kommission: Forschung zu Komplementärmedizin und „The Third Health Programme 2014–2020: Funinterdisziplinärer Gesundheitsförderung, die ding Health Initiatives“: Übersichtspräsentation v.  a. auf tradiertem Heilwissen wie europäider Europäischen Kommission. 7 http://ec.­ scher Naturheilkunde oder traditionellen asiaeuropa.­eu/health/programme/docs/factsheet_ tischen Medizinsystemen aufbaut bzw. dieses healthprogramme2014_2020_en.­pdf). weiterentwickelt hat, wird international unter den Begriffen CAM (complementary and alzz Wissensgrundlagen zu Gesundheit, ternative medicine) und CIM (complementary Krankheit, Alter and integrative medicine) durchgeführt (zur Auf Gemeinschaftsebene unterstützen die euro- Definition von CAM und CIM: NCCIH 2016: päischen Gesundheits-­Forschungsprogramme 7 https://nccih.­nih.­gov/health/whatiscam; zu Forschung und Innovationen zu den The- CAM und traditional medicine: WHO Tradimenbereichen Gesundheit, Krankheit und al- tional Medicine Strategy 2014–2025, WHO: tersbedingte Entwicklungen, um die großen 2013, S. 15). Komplementärmedizin bedeutet, gesellschaftlichen Herausforderungen im Ge- dass diese Verfahren ergänzend zur konventiosundheitsbereich besser bewältigen zu können; nellen Medizin eingesetzt werden. Kurzfassung: FFG – Österreichische ForschungsDas EU-Projekt CAMbrella (2010–2012) förderungsgesellschaft (2005– 2016b); ausführ- wurde im 7. Rahmenprogramm der europäilich: EG – Europäische Gemeinschaften (2013). schen Forschungsförderung (FP7) als Koor­ Komplementärmedizinische Ansätze wer- dinationsprojekt finanziert (Topic: FP7-­ den v.  a. im Zusammenhang mit der Suche HEALTH-­2009-3.1-3: Complementary and nach nebenwirkungsarmen, effizienten und Alternative Medicine: Coordination and Support kostengünstigen Therapien sowie nachhaltigen Action, Grant Agreement No. 241951, 7 http:// Präventionsstrategien zur Erzielung von mehr www.­cambrella.­eu/home.­php?il=8&l=deu) und  







1000

H. Sützl-Klein

gibt erstmals einen Einblick in die Bedeutung von CAM in Europa. kPragmatische CAM-Definition im CAMbrella-Projekt

»» „Complementary and alternative medicine

(CAM) utilised by European citizens represents a variety of different medical systems and therapies based on the knowledge, skills and practices derived from theories, philosophies and experiences used to maintain and improve health, as well as to prevent, diagnose, relieve or treat physical and mental illnesses. CAM has been mainly used outside conventional health care, but in some countries certain treatments are being adopted or adapted by conventional health care.“ (Falkenberg et al. 2012)

Bedeutung von CAM in Europa

39

55 Mehr als 305.000 qualifizierte registrierte CAM-Praktiker sind in Europa tätig, davon mehr als 145.000 Ärzte mit CAM-­Zertifikaten (von Ammon et al. 2012, S. 37) 55 Die Verbreitung von CAM in den einzelnen europäischen Ländern ist sehr unterschiedlich (wobei es keine einheitliche CAM-Definition in den verschiedenen Ländern gibt). Entsprechend den Berichten nutzen in den einzelnen Ländern zwischen deutlich unter 10 % bis weit über 50 % der Bürger (bzw. der befragten Bevölkerungsgruppen) CAM (CAMbrella Roadmap 2012, S. 30; CAMbrella Policy Brief 2012, S. 1; Eardley et al. 2012, S. 18–20). 55 Entsprechend den Ergebnissen des CAMbrella-Projekts werden CAM-­ Methoden v. a. für Schmerzen, Schlafstörungen, Verdauungsprobleme, Krankheiten des täglichen Lebens, Beschwerden des Bewegungsapparats sowie emotionale Probleme und psychosomatische Beschwerden eingesetzt.

55 Die am häufigsten berichtete CAM-­ Methode ist der Einsatz von Heilpflanzen. 55 Zu den in Europa am häufigsten verwendeten Methoden, für die CAM-Praktiker eigene Zertifikate erworben haben, zählen die Akupunktur (ca. 96.000 zertifizierte Praktiker in EU 27+12), Homöopathie (über 50.000 zertifizierte Praktiker), Heilpflanzen-Medizin, Reflexzonenmassagen und europäische Naturheilverfahren, ferner Homotoxikologie, Ausleitungsverfahren, Kinesiologie, Shiatsu, orthomolekulare Medizin und Manualtherapien (Osteopathie, Chiropraktik) (CAMbrella Roadmap 2012, S. 36 f.; von Ammon et al. 2012). 55 Die Ergebnisse des CAMbrella-Projekts sind auf der Projektwebseite 7 http:// www.­cambrella.­eu dargestellt, in der CORDIS Projektdatenbank (7 https:// cordis.­europa.­eu/project/rcn/92501_ en.­htm) und v. a. im Fachjournal Forschende Komplementärmedizin (2012) publiziert (Walach und Weidenhammer 2012). Ein wichtiges Ergebnis des CAMbrella-Projekts ist auch der European Policy Brief: The Roadmap to Future CAM Research in Europe (veröffentlicht auf: 7 https://cambrella.­eu/ press/policy-09%20HR.­pdf ).  





Hintergrundinformation Eardley et  al. (2012) weisen auf die große Heterogenität der Daten (reported prevalence rates of CAM use: 0,3–86 %), auf die schwache Datenlage und in einigen Ländern Europas auch auf völlig fehlende Informationen zur Verbreitung von CAM hin (s. S. 24 ff.). Nissen et al. (2012b), CAMbrella-Abschlussbericht, Arbeitspaket 4 (Teil 1): Der Medianwert für die Nutzung von irgendeiner Form von CAM zu irgendeiner Zeit wurde in der Auswertung der 87 einbezogenen Studien mit 29 % ermittelt (s. S. 20).

Eine Aussage zur Inanspruchnahme von CAM in Europa insgesamt ist schwierig, da es bisher (bis Anfang 2018) noch keine europaweite Erhebung

1001 Komplementär- und integrativmedizinische Forschungsprojekte

zu CAM gab und auch die Definition von CAM in den Staaten Europas z. T. sehr unterschiedlich ist. Es gibt daher bisher nur Schätzungen auf der Grundlage vorhandener Studien (Ergebnisse des CAMbrella-­Projekts: Eardley et al. 2012). Einschätzungen zur Nutzung von CAM in Europa finden sich z. B. auf der Webseite der EUROCAM-Initiative beim Bericht zur CAM-Konferenz CAM: Innovation and Added Value for European Healthcare am 09.10.2012 im Europäischen Parlament: „Across Europe at least 25 % of the population use CAM, currently largely paying for it out of their own pocket.“ (7 http://www.­cam-europe.­eu/ cam-conference.­php); vgl. auch die Schätzung von 100–150 Mio. CAM-Nutzern in Europa (De Derdt und Schunder-Tatzber 2014).  

zz Zunahme an Forschung zu Komplementärmedizin bzw. CAM und Forschungsbedarf

39

39.3.3  Bedürfnisse und

ganzheitliche Sicht von Patienten

Das CAMbrella-Projekt identifizierte auf Basis einer umfassenden Literaturstudie die zentralen Bedürfnisse und Einstellungen von Patienten folgendermaßen:

»» „independent and easily accessible information about CAM, based on the strength of available evidence to support informed decision making,quality of care that comprises CAM services, providers and products,equal access to CAM services.“ (CAMbrella Roadmap 2012, S. 22: 7 http://www.­ camdoc.­eu/Pdf/the_roadmap_for_european_cam_research.­pdf )  

Seit Ende des 20. Jahrhunderts haben die Forschungen zu CAM weltweit stark zugenommen, v. a. zu asiatischen CAM-Methoden (wie z. B. zu herbal medicine, TCM, Akupunktur), und damit auch die Publikationen, die eine Wirksamkeit und Kosteneffizienz von CAM-Methoden belegen (Herman et  al. 2012; Kooreman und Baars 2012; Studer und Busato 2011; Esch et al. 2008). Die Forscher des CAMbrella-­ Projekts weisen auf den starken Anstieg der internationalen Journale zu CAM seit etwa Mitte der 1990er-Jahre hin und stellten 37 wichtige internationale Journale mit Fokus auf CAM dar (Näheres s. Reiter et al. 2012). Im Vergleich zu nordamerikanischen und asiatischen Forschungsförderungen ist die europäische Forschungsförderung jedoch stark unterdimensioniert (Hök et al. 2012). Die Entwicklung der PubMed-Publikationen im Bereich CAM (Complementary & Alternative Medicine) und CIM (Complementary & Integrative Medicine) ist in . Abb.  39.1 und  39.2 dargestellt. Von ärztlicher Seite, von Mitarbeitern in Gesundheitsberufen, Patienten und Vertretern öffentlicher Stellen wird ein großer Forschungs- und auch Kommunikationsbedarf im Bereich CAM gesehen (s. auch 7 http://www.­ cambrella.­eu).  



Dass die ganzheitliche Sicht von Patienten ein wichtiges Element für Patienten ist, wurde im CAMbrella-Projekt ebenfalls aufgezeigt (Nissen et al. 2012b, S. 9, 63, 70, und Präsentation bei der CAMbrella Projektabschluss-­ Konferenz am 29.11.2012 in Brüssel). Es wird die „ganze Person“ in (soweit möglich) allen gesundheitsrelevanten Aspekten mit ihrer individuellen Geschichte gesehen. In Österreich ist dafür auch der Begriff „Ganzheitsmedizin“ üblich. Diesen Ansatz betont auch der Österreichische Dachverband für ärztliche Ganzheitsmedizin (7 http://www.­ganzheitsmed.­at).  

>> So werden Menschen beispielsweise modellhaft als „Körper-Geist-Seele-­Einheit“ oder als „offenes lernendes System“ (z. B. mit soziokulturellem, biologischem, psychischem und spirituellem Hintergrund, zielorientiert, agierend in gesundheitsrelevanten Umgebungen) gesehen. Dadurch können mehr Fragestellungen zu möglichen Krankheitsursachen, Stressoren oder Ressourcen zur Gesundung und mehr potenziell gesundheitsrelevante Einflüsse einbezogen werden.

Komplementäre Methoden zeichnen sich vielfach dadurch aus, dass schon sehr frühzeitig Interventionsmöglichkeiten bzw. Handlungs-

1002

H. Sützl-Klein

2500

1500

1000

Anzahl der Publikationen

2000

2017

2016

2015

2014

2013

2012

2011

2010

2009

2008

2007

2006

2005

2004

2003

2002

2001

2000

1998

1999

1997

1996

1995

1994

1993

1992

1991

1990

1989

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1987

1986

1985

1984

1983

1982

1977

1976

1975

500

0

..      Abb. 39.1  Anstieg der in PubMed gelisteten Publikationen unter dem Suchbegriff complementary alternative medicine zwischen 1975 und 2017

400

200

Anzahl der Publikationen

300

100

39

1982 1990 1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017

-

..      Abb. 39.2  Anstieg der in PubMed gelisteten Publikationen unter dem Suchbegriff complementary integrative medicine zwischen 1982 und 2017

1003 Komplementär- und integrativmedizinische Forschungsprojekte

39

bedarf gesehen werden: Von Komplementärmedizinern wird z.  B. als Herangehensweise angesprochen, möglichst bald bei der Entstehung von Beschwerden einzugreifen und genauer zu beobachten bzw. zu analysieren, um veränderte Regulationsprozesse diagnostizieren und so behandeln zu können, dass sich anbahnende Erkrankungen nicht oder nur gemildert auftreten. Eine allgemeine und spezifische Prävention sowie die (spezifische) Gesundheitsförderung gerade auch bei kranken Menschen sind oft wichtige Aspekte komplementärer Ansätze. Mit dem Fokus auf Regulationsprozesse und Förderung der eigenen Regulationsfähigkeit bzw. Modifikation der Regulationsprozesse in Richtung mehr Gesundheit (Unterstützung der Salutogenese) in einer möglichst frühen Phase der Pathogenese soll z. B. auch der Entstehung von krankhaften Strukturveränderungen und -zerstörungen, die im Zuge von Erkrankungen auftreten können, entgegengewirkt werden.

Nackenschmerzen (Trinh et  al. 2006)), Achtsamkeitsübungen, Biofeedback, Musiktherapie und andere Methoden bzw. Kombinationen zu einer Beschwerdereduktion oder Beschwerdefreiheit führen  – und somit einen geringeren Einsatz von Schmerzmitteln ermöglichen oder sie sogar nicht mehr erfordern. So hat nach Jacobs u. Fisher (2013, S.  6) das UK National Institute of Health and Care Excellence (NICE) Bewegung, Manualtherapie und – bis vor kurzem auch  – Akupunktur als First-line-Therapien bei Schmerzen im unteren Rückenbereich empfohlen (NICE 2009, CG88). (Zur aktuellen Diskussion zu Akupunktur-Forschungen s. v. a. PubMed-Publikationen, wie z. B. Trinh et al. 2016.)

kJennifer Jacobs und Peter Fisher: Polypharmacy, multimorbidity and the value of integrative medicine in public health

Um Einflüsse auf gesundheits- bzw. krankheitsrelevante Regulationsprozesse genauer zu erfassen und Ursachen bzw. Bedingungen für Krankheits- und Gesundungsprozesse zu ergründen bzw. zu analysieren (und zu pro­ gnostizieren), können Erkenntnisse und Forschungsbeiträge aus einer Vielzahl von (sowohl grundlagen- als auch anwendungsorientierten) Wissenschaftsdisziplinen neben der Medizin hilfreich sein:

Die Autoren weisen in ihrem Artikel auch auf einen anderen Aspekt des möglichen Einsatzes von CAM hin (Jacobs und Fisher 2013): Sie argumentieren, dass die gleichzeitige Gabe von mehreren (≥ 5) konventionellen Medikamenten angesichts der Nebenwirkungen und Interaktionen zwischen Medikamenten sowie zufälliger Überdosierungen und Fehler in der Anwendung ein zunehmendes Gesundheitsproblem ist, das stark durch die Integration von CAM in das Gesundheitssystem gemildert werden kann; Einschätzungen zu den gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen in den USA und Europa finden sich ebenso in Jacobs u. Fisher (2013, S. 4 f.). Vor allem bei Schmerzen können möglicherweise nichtmedikamentöse Therapien wie Akupunktur (Studienhinweise zur Schmerzreduktion durch Akupunktur bei Jacobs und Fisher (2013): für Knieschmerzen (Witt et  al. 2005), chronische Schmerzen im unteren Rückenbereich (Haake et  al. 2007),

39.3.4  Interdisziplinärer Zugang

bei Analysen, Diagnosen, Empfehlungen und Behandlungsformen

Fachgebiete, die zu einem interdisziplinären Zugang zu Gesundheit und Krankheit beitragen (Auswahl) 55 55 55 55 55 55 55 55

Biophysik Biochemie Mikro- und Molekularbiologie Regulationsbiologie Physiologie Ernährungswissenschaften Pharmazie -omics: Nutrigenomics etc.

1004

55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55

39

H. Sützl-Klein

Umweltmedizin Umweltepidemiologie Systembiologie, -ökologie Psychologie Soziologie Psychoneuroimmunologie Systemwissenschaften Gehirnforschung Lerntheorien Rhythmusforschung, Chronomedizin Musikwirkungsforschung Wetterbiotropie, Klima- und Kurforschung

Um möglichst zutreffende Erklärungsmodelle zu entwickeln, aus denen geeignete Empfehlungen sowohl für Therapeuten als auch für die Betroffenen selbst abgeleitet werden können, sind vielfach interdisziplinäre Diskussionen und Forschungskooperationen erforderlich. Bei der Diskussion um die Zunahme von chronischen Erkrankungen, die im Zusammenhang mit Arbeits-, Umwelt- und Lebensbedingungen sowie Lebensweisen (täglichen Gewohnheiten, v. a. im Hinblick auf Ernährung, Bewegung, Freizeitverhalten etc.) gesehen werden, wird von umwelt- und auch ganzheitsmedizinischer Seite darauf hingewiesen, dass viele der Erkrankungen als sog. umwelt- und stressassoziierte Erkrankungen oder Beschwerden eingestuft werden können. Die Analyse von Stressoren und individuellen Reaktions- und Anpassungsvarianten auf die verschiedenen Stressoren bekommt daher einen hohen Stellenwert bei der Suche nach Krankheitsursachen und für effiziente individuelle therapie- und bevölkerungsme­ dizinische Präventionsstrategien. Modelle, wie das Stress-Anpassungs-Modell von Selye, be­ schreiben nicht nur kurzfristige Stressreak­ tionen, sondern auch verschiedene Stadien der physiologischen Reaktionen bei andauerndem Stress (Selye 1998 [Originalartikel von 1936]; s. auch: Wilks et al. 2015).

zz Stimuli bei CAM-Interventionen und Reiz-Reaktions-Muster

Interventionen zur Therapie oder Prävention können entweder primär auf einer Interventionsebene gesetzt werden (z. B. bei Akupunktur bzw. Akupressur auf der Ebene der Physik durch Nadelstiche oder Laserlicht bzw. Druck) oder auf mehreren Ebenen. Für Forschungen sind u.  a. Stimulus-Response-Reaktionsmuster interessant, die durch präventive oder therapeutische Interventionen ausgelöst werden können, da die Muster der Reizantworten sehr verschieden sein können. Eine Frage dazu lautet beispielsweise: Welche psychophysischen Reaktionen werden durch bestimmte Stimuli hervorgerufen? Die Erfahrungen von Praktikern und Patienten zeigen, dass nicht – wie vielleicht erwartet –„alle“ Patienten auf dieselben Therapien gleichermaßen ansprechen: Dabei stellen sich Fragen wie diese: Welche Unterschiede gibt es bei Menschen, die präventions- und therapierelevant sind? So wird beispielsweise auf genetische Prädisposition und epigenetische Einflussfaktoren wie Stressfolgen oder individuelle Belastungssituationen hingewiesen. >> Von Ganzheitsmedizinern wird oft betont, sie würden auf die individuellen Besonderheiten besonders achten – auf individuelle Reaktionen und persönliche Lebensbedingungen und Entwicklungen, auf potenzielle Veränderungen belastender Lebensgewohnheiten in Richtung mehr Gesundheit – und sie würden ihre Patienten dabei auch unterstützen: Ein Fokus wird auf möglichst frühzeitige Interventionen, hohe Verträglichkeit (Biokompatibilität) und Salutogenese (Ressourcen für Gesundung) gelegt.

Hoher Forschungsbedarf wird auch bei systemischen Ansätzen zu Gesundheit und Krankheit gesehen. Dabei erscheinen neben ganzheitsmedizinischen v.  a. umweltbezogene (umweltmedizinische und umweltepidemiologische) Ansätze für die Erklärung von Krankheitsursachen und für zielgerichtete Präventionsstrategien als relevant.

39

1005 Komplementär- und integrativmedizinische Forschungsprojekte

39.4  Internationaler Vergleich:

Komplementär- und Integrativmedizin und Forschung

IM (integrative medicine) und complementary health approaches werden auf der NCCIH-Webseite näher erläutert (7 https://nccih.­nih.­gov/ health/whatiscam). In Nordamerika sind komplementärmedizinische Methoden sowohl an renommierten Privatkliniken als auch an Universitätskliniken im Rahmen einer sog. Integrativ-Medizin (Kombination aus konventionellen plus komplementären Methoden) als etablierte Angebote weit verbreitet (Cowen und Cyr 2015 zu CAM an medizinischen Hochschulen in USA).  

39.4.1  USA

Nach Umfragen des staatlichen NCCIH (National Center for Complementary and Integrative Health) nutzen mehr als 30 % der erwachsenen US-Amerikaner komplementäre Methoden für die Behandlung ihrer Beschwerden oder für ihr allgemeines Wohlbefinden. Die meisten greifen auf sog. Nicht-­Mainstream-­Ansätze in Ergänzung zu konventionellen (westlichen Mainstream-) Behandlungen zurück (somit „komplementär“). Neben der Verwendung von Naturprodukten spielen Atemtechniken, asiatische Bewegungs-, Gesundheits- und Entspannungsübungen, physikalische Therapien, Massagen sowie Meditation eine wichtige Rolle (. Tab.  39.1). Die Begriffe CAM (complementary and alternative medicine),  

..      Tab. 39.1  Häufigste komplementäre Gesundheitsansätze bei Erwachsenen in den USA 2012 (7 https://nccih.­nih.­gov/health/ whatiscam)  

Behandlungsansatz

Häufigkeit (%)

Naturproduktea

17,7

Tiefes Atmen

10,9

Yoga, Tai Chi, Qigong

10,1

Chiropraktische oder osteopathische Manipulationen

8,4

Meditation

8,0

Massage

6,9

Spezielle Diäten

3,0

Homöopathie

2,2

Progressive Muskelentspannung

2,1

Geführte Imagination

1,7

a Nahrungsergänzungsmittel, ausgenommen sind Vitamine und Mineralstoffe

zz Komplementär- und integrativmedizinische Forschung in den USA

In den USA verfügt allein das NCCIH (vor 2015: NCCAM – National Center of Complementary and Alternative Medicine) über ein jährliches Budget von umgerechnet mehr als 100 Mio  € (Budget des NCCIH 2017 ca. 130 Mio  US$: 7 https://nccih.­nih.­gov/about/budget/appropriations.­htm). Das NCCIH ist das führende Institut der US-Bundesregierung für wissenschaftliche Forschung zu komplementären und integrativen Gesundheitsansätzen und als eines der nationalen Gesundheitsinstitute (National Institutes of Health – NIH) im US-­Gesundheitsministerium verankert. Das NCCIH vergibt Forschungsfördergelder und führt auch eigene Forschungen durch. Zudem gibt das National Cancer Institute (NCI) beachtliche Forschungsgelder für CAM aus. Andere Nationale Forschungsinstitute der USA investieren ebenfalls in komplementärmedizinische Forschung. 2014 wurden nach Angaben des NIH für CAM-Forschung vom NCI 72 Mio. US$, vom NCCIH 100 Mio. US$ und insgesamt von allen NIH-Instituten 367 Mio.  US$ ausgewiesen (detaillierte Aufstellung: 7 ­https:// nccih.­nih.­gov/about/budget/institute-center.­htm).  



zz Vergleich USA – Europa

Im Rahmen des CAMbrella-Projekts wurde ein beachtlicher Nachholbedarf im Bereich CAM-Forschung in Europa gesehen. Auch in der Lehre im Bereich CAM (bzw. komplementärmedizinischer Therapieverfahren) weist

1006

H. Sützl-Klein

die PASCOE-Umfrage 2012 (relativiert durch Cowen und Cyr 2015) auf einen beachtlichen Nachholbedarf in Deutschland hin. 39.4.2  Zur Situation

in Deutschland, Österreich und der Schweiz: hoher Stellenwert von Naturheilkunde und Komplementärmedizin

In Deutschland, Österreich und der Schweiz haben Naturheilkunde und Komplementärmedizin in der Behandlung von Patienten traditionell einen hohen Stellenwert. Das Vertrauen der Bürger in die europäische Naturheilkunde und die Nachfrage nach naturheilkundlichen bzw. komplementärmedizinischen Beratungen und Behandlungen ist vergleichsweise hoch. Die Entwicklung der komplementärmedizinischen Forschung an den Universitäten und der Lehrstühle in Deutschland, Österreich und Schweiz wird in 7 Abschn. 39.8.1 näher dargestellt.

55 60 % aller Hausärzte in Deutschland wenden komplementärmedizinische Verfahren an: Am häufigsten werden Methoden der europäischen Naturheilkunde und Akupunktur eingesetzt. Dies geht aus einer bundesweiten Befragung zur Versorgungssituation mit Komplementärmedizin in hausärztlichen Praxen im Rahmen eines Forschungsprojekts der Universität Heidelberg aus dem Jahr 2009 hervor, das vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanziell unterstützt wurde (Joos et al. 2011). 55 73 % der befragten Hausärzte vertraten die Meinung, dass Medizinstudierende eine Basisausbildung in Komplementärmedizin erhalten sollten, und 68 % votierten für eine verstärkte Forschung in diesem Bereich (Kurzdarstellung der Ergebnisse: 7 http://www.­  

versorgungsforschung-aktuell.­de/downloads/newsletter/Ausgabe01-2009.­pdf; Joos

et al. 2011).



 eutschland: Land der NaturheilD kunde

39

Die Umfragewerte zeigen den hohen Stellenwert von Naturheilkunde und Komplementärmedizin für die Patienten und Hausärzte in Deutschland auf: 55 Laut Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach aus dem Jahr 2010 haben ca. 70 % der erwachsenen Bevölkerung Naturheilmittel schon selbst verwendet (IfD-Allensbach 2010). 55 Etwa 80 % der Befragten gaben bei einer repräsentativen Umfrage in Deutschland an, die „Naturmedizin“ – bei entsprechender Wahlmöglichkeit – als ihre Primärmedizin zu bevorzugen. Mehr als 90 % versprechen sich eine bessere Wirksamkeit und weniger Nebenwirkungen (PASCOE-­ Umfrage 2007).

 sterreich: hohe Verbreitung von Ö Ganzheitsmedizin und interdisziplinärer Gesundheitsförderung Entsprechend der repräsentativen Umfrage von Karmasin.Motivforschung (2011) zum Thema Komplementärmedizin nutzen in Österreich 70 % aller Befragten (ab 14 Jahre) Hausmittel (z.  B. bestimmte Nahrungsmittel, Tees, Wickel, Bäder etc.), 54  % aller Befragten zumindest gelegentlich pflanzliche Arzneimittel/Heilmittel und 44  % Homöopathie (. Abb. 39.3). 55 61 % der Befragten können sich vorstellen, komplementärmedizinische Heilmittel zu verwenden, auch wenn die Wirkung langsamer einsetzt. 55 Zwei Drittel der interviewten Personen zeigen eine positive oder sehr positive Haltung gegenüber der Komplementärmedizin (Karmasin.Motivforschung 2011, Folien 14, 17, 25–28).  

39

1007 Komplementär- und integrativmedizinische Forschungsprojekte

0

10

20

30

Kopfschmerzen, Migräne Nervosität, innere Unruhe

28

Magen- bzw. Verdauungsbeschwerden

27

Schlafstörungen

26

Verspannungen

24

Allergien

24

Kreuzschmerzen

24

Entgiftung

18

Durchblutungsstörung

11

chronische Erkrankungen (z. B.- Bronchitis)

10

Hauterkrankungen

9

psychische Erkrankungen (z. B.- Depressionen, Burnout etc.)

9

Erkrankungen innerer Organe (Herz, Lunge, Leber etc.)

7

Kinderkrankheiten (z. B.- Masern, Mumps, Feuchtblattern etc.) Krebs

4 1

andere keine Angabe/weiß nicht

40 39

12 1

..      Abb. 39.3  Österreich: Einsatz komplementärmedizinischer Behandlungsmethoden im Jahr 2011 bei Befragten, die bereits Erfahrung mit komplementärmedizinischen Behandlungen gemacht hatten ( %-Werte, n = 459). Kopfschmerzen und Migräne waren hauptsächliche Auslöser für die Inanspruchnahme

einer komplementärmedizinischen Behandlungsmethode. (Karmasin.Motivforschung 2011, Folie 33 zu Frage Nr. 17, veröffentlicht auf: 7 http://www. ganzheitsmed.at/images/Artikel/2011_Karmsinstudie-Motivforschg-Kompl.med.pdf, mit freundlicher Genehmigung)

Die Zufriedenheit der Patienten mit komplementärmedizinischen Behandlungen in Österreich ist sehr hoch: 55 Von den 46 % der in der Karmasin-­ Umfrage von 2011 Befragten, die bereits Erfahrung mit komplementärmedizinischen Behandlungen gemacht hatten, waren 91 % mit der Behandlung zufrieden oder sehr zufrieden (Karmasin.Motivforschung 2011, Folien 29, 34). 55 Frauen hatten mehr Vertrauen in Komplementärmedizin und waren mit ihren Erfahrungen bei den Behandlungen auch etwas zufriedener als Männer (Karmasin. Motivforschung 2011, Folien 18, 21, 26, 28, 35).

bung der österreichischen Ärztekammer – Diplome der Österreichischen Ärztekammer für komplementäre Medizin.

Komplementärmedizin hat beim medizinischen Angebot in Österreich einen sichtbaren Stellenwert: Rund 17  % aller Ärzte in Österreich hatten 2014 – basierend auf einer Erhe-



 chweiz: Recht auf komplemenS tärmedizinische Versorgung durch Ärzte in der Grundversicherung Die Nutzung von Komplementärmedizin wurde in der Schweiz in mehreren Umfragen, auch im Rahmen des Schweizer Regierungsprogramms zur Evaluation der Komplementärmedizin (PEK), mit dem Ergebnis erhoben, dass annähernd die Hälfte der Schweizer Bevölkerung Komplementärmedizin in Anspruch genommen hat (Mittelwert: 49 ± 22 %, abhängig vom Umfragethema und der interviewten Bevölkerungsgruppe; Wolf et  al. 2006). Entsprechend der Schweizerischen Gesundheitsbefragung (SGB) 2007 hat etwa ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung in der Schweiz in den vergangenen

1008

H. Sützl-Klein

12 Monaten Komplementärmedizin genutzt (Klein et al. 2012). In der Schweiz wurde die Komplementärmedizin als Aufgabe von Bund und Kantonen aufgrund einer Volksinitiative in der Volksabstimmung vom 17. Mai 2009 in die Bundesverfassung aufgenommen (s. Art. 118a der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 [Stand am 18. Mai 2014]: Komplementärmedizin: „Bund und Kantone sorgen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für die Berücksichtigung der Komplementärmedizin.“ (7 https://www.­admin.­ch/

men der obligatorischen Krankenpflegeversicherung war auch die Auflage geknüpft, bis 2017 den Nachweis für Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit dieser Leistungen (Behandlungsmethoden) zu erbringen ( 7 https://www.­a dmin.­c h/opc/de/classified-­ compilation/19995395/index.­html – a118a).  

kAktueller Stand

Ab dem 1. August 2017 wurden ärztliche Leistungen der Akupunktur, anthroposophischen Medizin, Arzneimitteltherapie der traditionellen chinesischen Medizin, klassischen Homöopaopc/de/classified-compilation/19995395/index.­ thie und Phytotherapie von der obligatorischen html#a118a) Krankenversicherung übernommen – sofern sie Dem Schweizer Volksentscheid für eine von Ärzten abgerechnet werden, die über einen bessere Berücksichtigung der Komplementär- Facharzttitel und eine komplementärmedizinimedizin in der Grundversorgung war eine groß sche Weiterbildung verfügen (7 https://www.­ angelegte nationale Studie (das „Programm bag.­admin.­ch/bag/de/home/aktuell/news/newsEvaluation Komplementärmedizin“ oder die 16-06-2017.­html). PEK-Studie, 1998–2005) vorausgegangen, in der Ärzte und Praxen mit Angeboten zu den kWeitere wichtige Umsetzungsschritte fünf wichtigsten komplementärmedizinischen Künftig sollen Arzneimittel der KomplemenMethoden (anthroposophische Medizin, Ho- tärmedizin und Pflanzenheilkunde einen ermöopathie, TCM, Neuraltherapie, Phytothe- leichterten Zugang zum Markt erhalten, die rapie: „CAM-­Praxis“) und ihre Patienten mit Zulassung soll vereinfacht werden. solchen konventioneller Ärzte („CON-Praxis“) Angehende Ärzte, Apotheker, Zahnärzte, verglichen wurden. Tierärzte und Chiropraktoren sollen sich künftig Neben einer weitgehend größeren Zufrie- während ihrer Ausbildung an der Universität andenheit der Patienten der CAM-Ärzte, insbe- gemessene Kenntnisse über Komplementärmedisondere in den Dimensionen Kommunikation zin aneignen (7 https://www.­bag.­admin.­ch/bag/ und Beziehungen, ergab die PEK-Studie etwa de/home/themen/strategien-­politik/nationale-­ gleich hohe, tendenziell sogar niedrigere Kosten gesundheitspolitik/stand-umsetzung-des-­neuenbei den CAM-Richtungen, obwohl diese Ärzte verfassungsartikels-zur-komplementaermedizin.­ mehr chronische und mehr schwer kranke Pa- html). tienten betreut hatten als „CON-­Ärzte“ (Esch Die bedeutendsten von Ärzten praktizierten et al. 2008; Studer und Busato 2011). und in Ärztegesellschaften organisierten komSeit 1999 ist die Akupunktur auf Bundesrats-­ plementärmedizinischen Richtungen sind auch Beschluss, seit 2011 die Neuraltherapie auf An- an den Schweizer Universitäten vertreten. In trag der Fachgesellschaft erstattungspflichtig Zürich: Phytotherapie seit 1994 (seit 2014 v. a. nach dem KVG (Krankenversicherungsgesetz) erweitert um Akupunktur, Osteopathie und (Hinweis von Dr. Klaus von Ammon, Univer- Mind-Body-­Medicine; 7 http://www.­iki.­usz.­ch), in Bern: seit 1995: anthroposophische Medizin, sität Bern). Mit der zunächst vorläufigen Aufnahme Homöopathie, Neuraltherapie und traditionelle dieser fünf komplementärmedizinischen Be- chinesische Medizin mit Akupunktur(7 http:// handlungsmethoden und ihrer Vergütung www.­ikom.­unibe.­ch/, s. auch PASCOE-Umfrage unter bestimmten Voraussetzungen im Rah- 2012; Stange 2013).  







39



39

1009 Komplementär- und integrativmedizinische Forschungsprojekte

Tradiertes Heilwissen – Heilpflanzen – Naturheilverfahren: hoher Stellenwert in Deutschland, Österreich und Schweiz 55 Tradiertes Heilwissen und insbesondere das Wissen um die Wirksamkeit von Heilpflanzen wird sowohl im Alltag der Menschen eingesetzt als auch von Gesundheits- und Wellnessberufen genutzt und weiterentwickelt. 55 Es wird nicht nur im ländlichen und im alpinen Raum aktiv gepflegt. 55 Auch im städtischen Bereich gibt es zahlreiche Interessierte und Anwender. Dies hat u. a. zu einem Boom an Heilkräuter-, Gewürz- und Kochbüchern und Seminarangeboten geführt sowie zu zahlreichen Veröffentlichungen zu gesundheitsfördernden und therapeutischen Wirkungen von Heilpflanzen, Gewürzen und anderen Naturstoffen. 55 Grundlagenforschung zu Heilpflanzen und Arzneimitteln aus Naturstoffen spielen in Deutschland, Österreich und Schweiz an Universitäten eine bedeutende Rolle, Naturheilkunde und Phytotherapie werden v. a. in Deutschland und der Schweiz auch an medizinischen Universitäten gelehrt und beforscht.

39.4.3  Erste nationale Erhebung zur

komplementärmedizinischen Forschung in Österreich

In Österreich wurden sowohl im Bereich asiatischer Heilmethoden als auch heimischer Heiltraditionen komplementärmedizinische Forschungsprojekte mit Bundesmitteln gefördert. So haben beispielsweise das österreichische Wissenschafts- und Gesundheitsministerium im Bereich traditionelle chinesische Medizin für ein gemeinsames mehrjähriges „TCMCluster-­ Forschungsprojekt“ Mittel zur Forschungsförderung an 9 Universitäten vergeben.

Für traditionelle asiatische Medizin hatte das österreichische Gesundheitsministerium auch ei­ nen eigenen „TAM-Beirat“ (2005–2015) mit Experten aus Forschung und Praxis eingerichtet. Das österreichische Gesundheitsministerium hat auch eine „Erhebung komplementärer und traditioneller Heilmethoden in Österreich“ gemeinsam mit der UNIQA-Versicherung beauftragt, durchgeführt 2007–2010 von Dr. Michaela Noseck-Licul (Institut für Kulturund Sozialanthropologie, Universität Wien). In dieser Studie entwickelte sie auch ein mehrdimensionales Kategorienmodell zur Beschreibung und Analyse der verschiedenen komplementären und traditionellen Heilmethoden (7 http://www.­ cam-tm.­com/Jacomo/upload/projektbericht.­pdf). An der gesundheitspolitisch wichtigen Schnittstelle Umwelt und Gesundheit hat das österreichische Wissenschaftsministerium in Zusammenarbeit mit dem Land Salzburg bereits 2008 zum Themenbereich „Forschungsperspektiven Umwelt und Gesundheit: Status quo und Zukunft“ einen Workshop beauftragt, der vom umweltmedizinischen Referenten der Österreichischen Ärztekammer Dr. Gerd Oberfeld gestaltet wurde und der österreichischen Forschungs-Community eine Möglichkeit zur Vernetzung  – auch für Forschungskooperationen – bot. Der Workshop fand mit österreichischen Wissenschaftlern und Forschungseinrichtungen, die an der Schnittstelle Umwelt und Gesundheit forschend tätig waren, am 30. Juni 2008 in Salzburg statt. Als 2008 die Europäische Kommission zum Themenbereich Complementary and Alternative Medicine im 7. Rahmenprogramm der Europäischen Forschungsförderung eine europaweite Erkundung der Angebots- und Nachfrageseite von CAM und die Erstellung einer Europäischen CAM-Forschungs-­Roadmap ausschrieb, hat das österreichische Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung erstmals eine Erhebung zum Stand und zu den Perspektiven der Forschung im Bereich CAM in Österreich in Auftrag gegeben (gedankt sei Herrn Sektionschef Hon.Prof. Dr. Peter Kowalski und Frau Ministerialrätin Mag. Eva-Maria Schmitzer vom Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, dass  

1010

H. Sützl-Klein

sie diese erste Erhebung zur CAM-Forschung in Österreich und den Workshop CAM-­Forschung 09 ermöglicht haben). In der 2009 von ESIHR (Europäische Gesellschaft für Integrative Gesundheitsforschung, Verein mit Sitz in Wien, ZVR 906391939) auf Initiative der Autorin (als Vereinsvorsitzende) durchgeführten Studie wurden Forscher zu ihren bisherigen, aktuellen und künftigen Forschungsvorhaben (2009–2013) und zu Forschungsprioritäten im Bereich der CAM-­Forschung befragt (Sützl-Klein 2009). Die Ergebnisse zeigten die Vielfalt und Lebendigkeit der österreichischen Forschungsszene auf, obwohl in Österreich im Vergleich zu Deutschland keine großen Universitätsinstitute für Komplementärmedizin und -forschung existierten. Die Untersuchung stellte einen ersten Ansatz zur Erfassung der Forschungstätigkeit im Bereich CAM in Österreich dar: 122 Fragebögen konnten ausgewertet werden (davon 68 von Personen, die als Forscher an österreichischen Universitäten, und 32, die (auch) an außeruniversitären Forschungseinrichtungen tätig waren) (Sützl-Klein 2009; . Abb. 39.4).  

26

CAM-Definition der österreichischen CAM-Forschungserhebung Für die Klassifizierung von CAM-Methoden wurden in Anlehnung an die WHO (World Health Organisation) und die 3. Gesundheitswirtschaftskonferenz 2007 in Deutschland (BioCon Valley GmbH 2007) 4 Kategorien verwendet: 1. Biologische Therapien und Traditionelle Europäische Medizin 2. Alternative, tradierte Medizinsysteme in außereuropäischen Kulturkreisen 3. Manipulative, körperbezogene Therapien 4. Mind-Body-Therapien Für die Untersuchung wurden diese Kategorien um eine 5. und 6. Kategorie erweitert: 5. Aus europäischen Heiltraditionen weiterentwickelte Verfahren (wie Homöopathie, Anthroposophie etc.) 6. Andere (mit der Bitte um genauere Angabe): Darin wurden von den Forschern z. B. Grundlagenforschungsthemen oder methodenübergreifende indikationsspezifische Forschungen eingeordnet

Alternative, tradierte Medizinsysteme in anßereuropäischen Kulturkreisen

39

Biologische Therapien und Traditionelle Europäische Medizin Manipulative, körperbezogene Therapien 28 Mind-Body-Therapien 36 25

Aus europäischer Heiltradition weiterentwickelte Verfahren Andere

28

39 ..      Abb. 39.4  CAM-Forschung in Österreich (2009): bisherige Forschungsvorhaben. Bei der Anzahl der jeweiligen Forschungsvorhaben waren

­ ehrfachnennungen möglich; 88 Teilnehmer gaben M bisherige Forschungsvorhaben an (aus Sützl-Klein 2009, S. 27)

1011 Komplementär- und integrativmedizinische Forschungsprojekte

39

39.4.4  Workshop:

39.5  Neue Forschungsansätze und

Im anschließenden öffentlichen Workshop CAM-Forschung 09: Status Quo und Perspektiven für Komplementärmedizin und integrative Gesundheitsförderung, zu dem das österreichische Wissenschafts- und Gesundheitsministerium einlud, wurden die Teilnehmer auch nach ihren Forschungsempfehlungen gefragt. Der Workshop, den die Autorin im Auftrag von Wissenschafts- und Gesundheitsministerium konzipierte und ESIHR organisierte, fand am 25. Mai 2009  in Wien mit rund 150 Teilnehmern statt. Experten aus Forschung und Praxis führten in die CAM-­Thematik ein, und die Teilnehmer erstellten Empfehlungen an das Wissenschaftsministerium zu künftigen Forschungsthemen (Sützl-­Klein et al. 2009).

39.5.1  Forschung zur

CAM-Forschung 09

Von österreichischen Forschern empfohlener Fokus für künftige Forschungsförderung (detailliertere Darstellung in Sützl-Klein et al. 2009) 55 Schwerpunkt auf europäischen Heiltraditionen 55 Wissenschaftliche Fundierung und Evaluation ganzheitlicher Ansätze 55 Heilpflanzenforschung (für Prävention und Therapien): sowohl europäische als auch asiatische Heilpflanzen 55 Manipulative körperbezogene Therapien und Mind-Body-Ansätze als neue Forschungsfelder

Die erhoffte Etablierung eines Forschungsschwerpunkts zum Themenbereich CAM in Österreich fand jedoch angesichts der budgetären Restriktionen infolge der Wirtschaftskrise 2009 nicht statt. Bisher durchgeführte Forschungen zu komplementärmedizinischen Themen wie z.  B. zu tradiertem europäischem und asiatischem Heilwissen und zur Nutzung von Heilpflanzen zeigen eine große potenzielle Bedeutung dieses Erfahrungswissens für aktuelle und künftige Herausforderungen im Gesundheitsbereich auf.

Zukunftsperspektiven

wissenschaftsbasierten Integration und innovativen Weiterentwicklung von tradiertem Heilwissen

Die Wurzeln der konventionellen Medizin liegen in den europäischen Heiltraditionen, wobei es offensichtlich aber auch seit Jahrhunderten Einflüsse aus dem ägyptischen, arabischen und asiatischen Raum und einen Austausch des Wissens mit den Gelehrten und Heilkundigen des Orients gab. Mit der frühen beruflichen Trennung zwischen Medizin und Pharmazie in Europa und der Entwicklung der einzelnen Fachbereiche der Medizin erfolgte eine hohe arbeitsteilige Spezialisierung im akademischen Bereich. Tradiertes Heilwissen wurde nur zum Teil in die universitäre Forschung übernommen und komplementäre Methoden fanden erst in jüngster Zeit wieder vermehrt Beachtung, z. B. 55 bei der Suche nach neuen Wirkstoffen für antimikrobielle Strategien auf der Grundlage von traditionell genutzten Heilpflanzen bzw. Naturstoffen, 55 bei der Frage, wie unerwünschte Nebenwirkungen verringert werden können, 55 bei der Entwicklung erfolgversprechender Präventionsstrategien, 55 bei systemischen Ansätzen und 55 bei der Auffindung von Kostensenkungspotenzialen im Bereich der Gesundheitssysteme. Ein prominentes Beispiel für den hohen Nutzen tradierten Heilwissens ist die erfolgreiche systematische Durchsuchung des Wissens der traditionellen chinesischen Medizin zur Auffindung eines Wirkstoffs gegen Malaria: 2015 hat die chinesische Forscherin und Pharmakologin Tu Youyou für ihre Entdeckungen für eine erfolgreiche neue Therapie gegen Malaria den Medizin-Nobelpreis erhalten  – aufbauend

1012

H. Sützl-Klein

auf Analysen von TCM-Rezepten und der Isolierung des gegen Malaria wirksamen Wirkstoffs Artemisinin aus dem Einjährigen Beifuß (7 https://www.­n obelprize.­o rg/nobel_prizes/ medicine/laureates/2015/ und: 7 https://www.­  



nobelprize.­o rg/nobel_prizes/medicine/laureates/2015/tu-facts.­html, 7 http://www.­nobelprize.­ org/nobel_prizes/lists/year/).  

kWelche Beiträge können Komplementärmedizin und interdisziplinäre Gesundheitsförderung (CAM) in Zukunft zu den Zielen „mehr Gesundheit“ und „nachhaltigere Gesundheitssysteme“ leisten?

Im Folgenden werden drei zukunftsweisende Beispiele für Forschungen in Europa, die die wissenschaftliche Basis zu tradiertem Heilwissen und regional vorhandenen natürlichen Heilmitteln gestärkt haben, vorgestellt: Die Nutzung von Heilpflanzen (7 Abschn. 39.5.2), die photodynamische Inaktivierung von Mikroorganismen auf Basis von Naturstoffen (7 Abschn.  39.5.3) und die Anwendung von Wasser (Wasserfällen, 7 Abschn.  39.5.4) zur Gesundheitsförderung und für Therapien.  





39.5.2  Europäischer und alpiner

Heilpflanzenschatz

Seit Jahrtausenden werden in Europa Heilpflanzen zur Prävention, Therapie und Begleitung bei Erkrankungen und auch in der Küche bei der Zubereitung von Nahrungs- und Genussmitteln eingesetzt: Das tradierte Heilpflanzenwissen, das v. a. im alpinen Raum noch relativ stark verbreitet ist, wurde in zahlreichen Feldstudien erfasst (z.  B. an den österreichischen Universitäten Wien, Graz und Salzburg). Die Ernährungswissenschaftlerin Dr. Karin Buchart (Universität Salzburg, Verein Traditionelle Europäische Heilkunde [TEH]; 7 http:// www.­teh.­at) hat das lokale tradierte Heilkräuterwissen im alpinen Raum des Landes Salzburg (Salachtal) in einer Feldstudie mit ländlichen Experten für traditionellen Einsatz von Heilpflanzen dokumentiert und dieses mündlich weitergegebene Heilkräuterwissen mit den  

39

Monographien der ESCOP (European Scientific Cooperative on Phytotherapy: 7 http://www.­ escop.­com) und der Deutschen Kommission E verglichen (Buchart 2010). Die Ergebnisse der Arbeit von Dr. Karin Buchart wurden beim ICCMR 2013 am 12.04.2013 in London präsentiert (Poster Nr. 716: Traditional Biogenic Medicine in Salzburg; . Abb. 39.5). Die Arbeit Traditionelle biogene Medizin in Salzburg wurde als Dissertation am Institut für Biowissenschaften und Gesundheit der Paris Lodron Universität Salzburg erstellt. Aufbauend auf den übereinstimmenden Ergebnissen zu 57 alpinen Heilpflanzen wurde ein Bildungskonzept erstellt, das bewährte Anwendungen für Alltagsbeschwerden und zur familiären Gesundheitsförderung vermittelt. 2010 hat die österreichische Nationalagentur der UNESCO-Kommission (im Bereich: „Wissen und Praktiken im Umgang mit der Natur und dem Universum“) das „Heilwissen der PinzgauerInnen“ (Bundesland Salzburg) auf die nationale Liste des immateriellen Kulturerbes gesetzt – und so die Bedeutung des tradierten Heilpflanzenwissens anerkannt und seine Schutzwürdigkeit als immaterielles Kulturerbe betont (7 https://www.­unesco.­at/kultur/  





immaterielles-kulturerbe/oesterreichisches-verzeichnis/detail/article/heilwissen-der-pinzgauerinnen/). 2010 wurden auch apothekeneigene

Hausspezialitäten österreichischer Apotheken in das österreichische Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes der UNESCO aufgenommen (7 http://immaterielleskulturerbe.­unesco.­at/cgibin/unesco/element.­pl?eid=1&lang=de). Forschungsbedarf wird bei den im Alltag eingesetzten Heilpflanzen v. a. in der Analyse der Inhaltsstoffe und ihrer Wirkungsweise  – nicht nur von einzelnen Heilpflanzen, sondern auch von Heilpflanzen-Kombinationen (z.  B. von Kräutermischungen für Tees) bzw. von verschiedenen biogenen Substanzen (z. B. für Salben, Cremes) sowie zur (auch unterschiedlichen) Aufnahme und Verwertung durch Menschen gesehen (in diesem Zusammenhang spielt auch das relativ junge Forschungsfeld der Nutrigenomik eine Rolle, das Ernährungswissenschaft und funktionelle Genomik  

1013 Komplementär- und integrativmedizinische Forschungsprojekte

zusammenführt und Aspekte wie Krankheitsprävention durch Ernährung und personalisierte Ernährung untersucht). zz Sammlung des tradierten Wissens zu traditionellen Heilmitteln in der österreichischen VOLKSMED-Datenbank

Die Ergebnisse der Feldforschung zu tradierten Heilmitteln in Österreich sind v.  a. in der VOLKSMED-Datenbank der Universität Wien dokumentiert: Unter der Betreuung von Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Kubelka und Univ.-Prof. Dr. Johannes Saukel am Institut für Pharmakognosie der Universität Wien erfassten Studierende in Österreich und angrenzenden Gebieten volksmedizinisch verwendete Heilmittel in zwischen 1983 und 1995 durchgeführten Diplomarbeiten (Kubelka et al. 2009). Dr. Siegrun Gerlach hat 2007 im Rahmen ihrer Dissertation Informationen aus 42 Diplomarbeiten und Daten von 1857 befragten Personen in ca. 40.000 Datensätzen

a

39

erfasst (Gerlach 2007; Saukel 2012). Durch die Fülle an Informationen und die Vielfalt der Heilmittel bildet die VOLKSMED-Datenbank eine wichtige Basis für tradiertes Wissen: Sie enthält sowohl Monographien (Name und Art des Heilmittels, Indikationen, Hinweise zur Verwendung u.  v.  a.; ca. 67.000 Personenangaben zur Einzeldrogenanwendung) als auch Dokumentationen zu Mischungen wie Heilsalben, Tinkturen, Tees etc. (> 15.000 Personenangaben; Saukel 2012). Die VOLKSMED-­ Datenbank gibt Einblicke den großen bisher traditionell genutzten österreichischen Heilmittelschatz, der systematisch im Hinblick auf Wirksamkeit, Eignung zur Prävention, Gesundheitsförderung und Therapie für Erwachsene, für Kinder und auch für Tiere v. a. in europäischen Projekten beforscht werden könnte. Eine erste Publikation zu antiinflammatorischen Aktivitäten traditioneller österreichischer pflanzlicher Arzneimittel ist im Jahr 2013 erschienen (Vogl et al. 2013).

b

..      Abb. 39.5  Traditionelle biogene Heilmittel – Beispiele des lokalen Heilpflanzenwissens: a Ringelblume, b Farn, c Johanniskraut, d Malve, e Kamille, f Brennnessel (Fotos a–b und d–f: Anita Buchart, Foto c: Karin Buchart; © Dr. Karin Buchart, mit freundlicher Genehmigung)

1014

H. Sützl-Klein

c

e

..Abb. 39.5  (Fortsetzung)

39

d

f

39

1015 Komplementär- und integrativmedizinische Forschungsprojekte

39.5.3  Neues Forschungsfeld

„Photodynamische Inaktivierung von Mikroorganismen auf Basis lichtsensitiver Naturstoffe“

auf Basis von Naturstoffen aufgebaut. Wie die durchgeführten Experimente zeigen, werden z.  B. Staphylococcus-­aureus-­Bakterien durch den Einsatz des lichtaktiven Stoffs Hyperizin, welches hoch rein aus Johanniskraut (. Abb.  39.5c) gewonnen und in einer wasserlöslichen Variante nach GMP-Standards formuliert wurde (PVP-­Hyperizin, Sanochemia Pharmazeutika AG, Wien), nach Photoaktivierung mit Rotlicht (z. B. 100 nM PVP-Hyperizin, 90 J/cm2 Belichtung bei 600–700 nm) zu 99,9999  % abgetötet (. Abb.  39.6). Vergleichbare Resultate wurden unter Verwendung von Kurkumin (aus der Gelbwurz) in Verbindung mit Blaulicht erzielt (Winter et al. 2013). Durch den unspezifischen Wirkmechanismus der PDI  – der lichtinduzierten Bildung  

Kristjan PlätzerNicole Tortik und Hedda Sützl-­Klein

Die antimikrobielle Resistenz stellt nach Einschätzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine wesentliche Bedrohung für die menschliche Gesundheit dar (WHO 2017a, 2018). Aufbauend auf tradiertem Heilpflanzenwissen wurde z. B. an der Universität Salzburg das neue Forschungsfeld „Photodynamische Inaktivierung“ (PDI) von Mikroorganismen



107

bacterial count [CFU]

106 105 > 99,9999 %

104 103 102 101 100 Ko -/-

Dunkel-Ko

..      Abb. 39.6  Photodynamische Inaktivierung (PDI) von Staphylococcus aureus mittels PVP-Hyperizin (100 nM). Das Experiment wurde bei 600–700 nm Wellenlänge und einer Leistungsdichte von 90 J/ cm2 durchgeführt. Das Experiment umfasst außer 2 PDI-Proben auch immer 3 Kontrollen: eine Negativ-­ Kontrolle (Ko –/–), die weder mit PVP-Hyperizin inkubiert noch belichtet wird, eine Dunkel-Kontrolle

Licht-Ko

PDI 5' ID

PDI 15' ID

(Dunkel-Ko), die mit PVP-Hyperizin inkubiert, aber nicht belichtet wird, und eine Licht-Kontrolle (Licht-Ko), die kein PVP-Hyperizin erhält, aber belichtet wird. ID Inkubationsdauer, PDI 5’ IZ Inkubation mit PVP-Hyperizin für 5 Minuten, PDI 15’ ID Inkubation mit PVP-Hyperizin für 15 Minuten (Doz. Dr. Kristjan Plätzer/Universität Salzburg, mit freundlicher Genehmigung der Fa. Sanochemia Pharmazeutika AG, Wien)

1016

H. Sützl-Klein

von reaktiven Sauerstoffformen  – konnte in der Literatur der Beweis geführt werden, dass sich multiresistente Keime mit derselben Effizienz wie der jeweilige Wildtyp eliminieren lassen. Somit zeichnet sich die Entwicklung einer vielversprechenden innovativen Strategie zur Bekämpfung von Mikroorganismen mit lichtsensitiven Substanzen aus Naturstoffen ab, mit zahlreichen Ansatzpunkten wie z. B. Pro­ blemen bei der Wundheilung im HNO-Bereich (Hamblin und Hasan 2004). Auch die Lebensmittelindustrie könnte sich als neues Anwendungsgebiet für das Abtöten von Mikroorganismen durch photosensitive Naturstoffe (z. B. Kurkuma und Blaulicht) entwickeln, wobei v. a. angesichts der Massentierhaltung und der häufigen Verwendung von Antibiotika vielfach resistente Keime entstehen können (Fluch 2014). Kukurma (Gelbwurz) ist ein südasiatisches Gewürz und wird z. B. als Bestandteil von Currypulver für indische Gerichte verwendet. Aufgrund seiner antioxidativen, antikanzerogenen und antiinflammatorischen Eigenschaften wären weitere Forschungen zu Kurkuma auch im Hinblick auf Einsatzmöglichkeiten zur Krebsprävention und für Krebstherapien interessant (z. B. Lee et al. 2011; Sahebkar et al. 2016). 39.5.4  Hydrotherapien:

Wasserfalltherapie bei allergischem Asthma

Hedda Sützl-Klein und Pierre Madl

39

Europa hat eine sehr lange Tradition von Wasseranwendungen in den verschiedensten Varianten (Thermalbäder, Trinkkuren mit Mineralwässern, Kneipp-Kuren, Unterwassergymnastik z. B. bei Gelenkproblemen, Saunaanwendungen zur Gesundheitsförderung v. a. in der kalten Jahreszeit, zur Prävention von grippalen Infekten und Erkältungskrankheiten etc.). Asthma ist laut WHO eine der häufigsten Erkrankungen weltweit: ca. 235 Mio. Menschen sind davon betroffen (WHO 2017b). Asthma ist auch die häufigste nichtübertragbare chronische

Krankheit bei Kindern. Als stärkste Risikofaktoren für die Entwicklung von Asthma werden nach WHO Substanzen und Partikel diskutiert, die die Atemwege irritieren und Allergien hervorrufen können, wie Innenraum- und Freiluft-Allergene, Tabakrauch und chemische Reizstoffe am Arbeitsplatz und Luftverschmutzung (s. auch Nahrungsmittelallergene u.  a. Umweltstressoren, Diagnose- und Therapiekonzepte der Allergie- und Umweltklinik Neukirchen: 7 http:// www.­spezialklinik-neukirchen.­de, 7 http://www.­  



spezialklinik-neukirchen.­de/index.­php/menuasthma). Das Vermeiden dieser asthmaauslösenden

Stressoren kann auch die Schwere der Asthmaanfälle verringern (WHO 2017b). In Österreich sind etwa 11  % der Jugendlichen von Asthma betroffen (Bachert et  al. 2005, zitiert nach Hartl 2010). Eine seit langem im alpinen Raum gelebte Tradition, die Umgebungsluft von Wasserfällen bei Lungenerkrankungen therapeutisch zu nutzen, wurde 2012 genauer untersucht. Dabei haben die Forscher auch die gesundheitsfördernden Bestandteile identifiziert: Eine internationale Forschungsgruppe unter der Leitung der Paracelsus Medizinischen Privatuniversität Salzburg (PMU) fand bei der Erforschung der fünf größten inneralpinen Wasserfällen heraus, dass im Sprühnebel der Umgebungsluft von Wasserfällen ein hoher Anteil an negativ geladenen Wassertröpfchen vorhanden ist (Kolarž et al. 2012). Die vorklinischen Studien und die klinische Studie der PMU (Forschungsteam unter der Leitung von Univ.Doz. Dr. Arnulf Hartl) und ihrer Partner zu Wasserfall-Klimatherapien zeigten am Beispiel der Krimmler Wasserfälle (. Abb. 39.7) die Gesundheitswirksamkeit dieser geladenen Aerosole in der Nähe von Wasserfällen für Kinder und Jugendliche mit allergischem Asthma auf: 55 In einer randomisierten kontrollierten klinischen Studie mit 54 Kindern und Jugendlichen mit allergischem Asthma hielt sich während des 3-wöchigen Gesundheitsaufenthalts am inneralpinen Reinluftort Krimml (Salzburg) eine Gruppe von Kindern eine Stunde pro Tag in unmittelbarer Nähe des Krimmler Wasserfalls auf.  

1017 Komplementär- und integrativmedizinische Forschungsprojekte

39

zz Zum therapeutischen Einsatz der Krimmler Wasserfälle und zur Salzburger Studie

Über 380  m stürzen die Krimmler Wasserfälle in drei Stufen bis ins Salzachtal, sie sind die größten Wasserfälle in Europa. Am Fuße der untersten Wasserfallstufe herrscht entsprechend den Messungen der Forscher ein außerordentlich feiner Sprühnebel vor (Salzburger Landeskorrespondenz vom 09.06.2015,

7 http://service.­s alzburg.­g v.­a t/lkorrj/Index? cmd=detail_ind&nachrid=54786; Video zum Splash Camp Krimml: 7 http://www.­youtube.­ com/watch?v=Y2YEczvrNlo).  



..      Abb. 39.7  Krimmler Wasserfälle (Foto: Ferdinand Rieder; © Tourismusverband Krimml, mit freundlicher Genehmigung)

55 Es konnte gezeigt werden, dass diese Gruppe signifikant höhere und länger anhaltende Gesundheitseffekte erzielte als die Kontrollgruppe, die ihren Aufenthalt in größerem Abstand (6 km Entfernung) zum Wasserfall Krimml verbrachte. 55 Beide Gruppen waren in Unterkünften mit allergikergerechter Innenraumgestaltung untergebracht und erhielten eine allergiegerechte Ernährung (Gaisberger et al. 2012). Die von den Universitäten Belgrad, Salzburg und der PMU durchgeführten Grundlagenforschungen zu Wasserfällen (Hartl 2010) haben auch zur Bildung eines neuen Modells für die Entstehung der gesundheitswirksamen negativ geladenen Wasser-Aerosole (Nano-­Wassertröpfchen) in der Umgebungsluft von Wasserfällen geführt. Dr. Pierre Madl (Universität Salzburg):

»» „Innerhalb der vernebelten Wassermenge

kommt es zu ‚kohärent oszillierenden‘ Wasser-­Aggregaten, welche die Eigenschaft haben, negative Ladungen an deren Oberfläche anzureichern. Dieser Effekt manifestiert sich über eine relativ große Bandbreite, ist aber speziell bei der kleinsten Fraktion, den lungengängigen Nanotröpfchen, besonders ausgeprägt, die auch als solche während der Feldstudie gemessen wurden.“ (Madl et al. 2013)

Inzwischen hat das Land Salzburg die Krimmler Wasserfälle als „natürliches Heilvorkommen“ anerkannt: Durch den heftigen Aufprall am Fels werden die Wassermoleküle

»» „ionisch (negativ) aufgeladen und in win-

zige Fragmente zerschmettert, die 200mal kleiner als in einem Asthmaspray sind. Dadurch gelangen sie beim Einatmen besonders tief in die Atemwege.“

In der Begründung für die Anerkennung als natürliches Heilvorkommen wird weiter erläutert:

»» „Die Krimmler Wasserfälle wirken in ihrem

mittleren Ionenbereich und ihrer spezifischen Nanoaerosolgröße auf die genannten Indikatoren ICD-10 J45 [Asthma bronchiale] und die assoziierten Erkrankungen der oberen Atemwege ICD-10 J30.1–4 [Allergische Rhinopathien oder ‚Heuschnupfen‘].“ (Salzburger Landeskorrespondenz vom 9. Juni 2015)

Näheres zu den genannten IDC-10-Indikationen unter 7 http://www.­icd-code.­de/icd/code/ J45.­0.­html und 7 http://www.­icd-code.­de/­icd/ code/J30.­1.­html. Es wäre prüfenswert, ob sich auch durch künstliche Wasserfälle z.  B. im urbanen Bereich (nach Einschätzung von Biophysiker Dr. Pierre Madl, Universität Salzburg) gesundheitsförderliche Verbesserungen des kleinräu 



1018

H. Sützl-Klein

migen Mikroklimas erzielen lassen (Kwasny et al. 2008). Nach umweltmedizinischen Erkenntnissen sind bei einer Reduktion von Feinstaubemissionen (aus Industrie, Verkehr, Heizung, Energiegewinnung etc.) und dadurch bedingten geringeren Schadstoffbelastungen der Luft (z.  B. in Städten) Verbesserungen bei umweltassoziierten chronischen Erkrankungen, etwa der Atemwege und des Herz-Kreislauf-­Systems, zu erwarten. 39.5.5  Wachstumssegment

ganzheitlicher Gesundheitsmarkt

39

Forschungen zur Wirksamkeit natürlicher Heil-­ mittel sind nicht nur für den medizinischen Einsatz, sondern auch für die Gastronomie (z.  B. zu Wirkungen von Heilpflanzen als Nahrungs- und Genussmittel, Gewürze oder Essenzen für Düfte etc.), den gesamten Gesundheits- und Wellnesssektor und den Gesundheits- und Sporttourismus relevant: Der ganzheitliche Gesundheitsmarkt wird als bedeutendes Wachstumssegment identifiziert: Marktforschungen prognostizierten sowohl für Österreich und Deutschland als auch europa- und weltweit mittelfristig überproportionale Zuwächse im Gesundheitsmarkt und insbesondere im ganzheitlichen Gesundheitsmarkt (komplementärmedizinische Dienstleistungen und innovative Produkte im ganzheitlichen bzw. sekundären Gesundheitsmarkt) (Kartte und Neumann 2007, 2011; WKÖ  – Wirtschaftskammer Österreich 2010). Kur- und Klimaforschung zeigen die positiven Effekte von Regionen auf (z. B. alpine Höhenlagen in Kombination mit sehr guter Luftqualität – reine Luft, Waldluft; Klimakuren am Meer etc.). Das 2. Aktionsprogramm der EU im Bereich Gesundheit (2008–2013) betont die zentrale Bedeutung von gesunder Ernährung und Bewegung für die Gesundheit der Menschen und weist auch auf umwelt- und ganzheitsmedizinische Zugänge hin (EG  – Europäische Gemeinschaften 2007  – insbesondere

Erwägungsgrund 24: ganzheitlicher Zugang zur Gesundheit und Erwägungsgrund 25: Vorsorgeprinzip und Risikobewertung, s. unten). 2.  Aktionsprogramm der EU im Bereich Gesundheit (2008–2013): Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates Nr. 1350/2007/EG (EG – Europäische Gemeinschaften 2007) Erwägungsgrund 24: „Das Programm sollte der Bedeutung eines ganzheitlichen Ansatzes für die Gesundheit der Allgemeinheit Rechnung tragen und bei seinen Aktionen die ergänzende und alternative Medizin, soweit angemessen und soweit wissenschaftliche oder klinische Nachweise ihrer Wirksamkeit bestehen, berücksichtigen.“ Erwägungsgrund 25: „Das Vorsorgeprinzip und die Risikobewertung sind Schlüsselfaktoren für den Schutz der menschlichen Gesundheit und sollten deshalb verstärkt in andere Strategien und Tätigkeiten der Gemeinschaft einbezogen werden.“

Prof. Dr. Wolfgang Marktl, Vorsitzender der Wiener Internationalen Akademie für Ganzheitsmedizin, der an der Medizinischen Universität Wien im Bereich Physiologie und Pathophysiologie (Ernährungs- und Stoffwech­ selphysiologie, Balneologie, medizinische Klimatologie und Chronobiologie) tätig und langjähriger wissenschaftlicher Leiter des Ludwig-­Boltzmann-Instituts zur Erforschung physiologischer Rhythmen im Kurort Bad Tatzmannsdorf (Burgenland) war, erläutert die positiven Effekte der Kombination von Höhenaufenthalten und Bewegung, die auch Sportler beim Höhentraining nutzen: Durch die Höhenlage bedingt, wird die Sauerstoffabgabe an die arbeitenden Zellen verbessert. Das sind Effekte, die auch beim Wintersport oder beim Wandern relevant sind (Sützl-Klein 2008, S. 102 ff.). >> Es erscheint sinnvoll im Interesse der Bevölkerung und der involvierten Berufsgruppen, dass die Tätigkeiten und das Hintergrundwissen der gesundheitsrelevanten Berufsgruppen im Rahmen integrativer Ansätze zur Gesundheitsförderung stärker wissenschaftlich fundiert werden.

39

1019 Komplementär- und integrativmedizinische Forschungsprojekte

39.6  Komplementärmedizin

Akademie für Ganzheitsmedizin, gemeinsam mit verschiedenen Universitäten in Europa, 2004 die sog. EURICAM-Initiative gestartet.

39.6.1  FP5 und FP7

39.6.2  Horizont 2020 – das EU-

in europäischen Forschungsprogrammen: FP5, FP7 und Horizont 2020

Im 5. und 7. Rahmenprogramm der Europäischen Forschungsförderung (FP5 und FP7) war das Thema CAM bereits in einzelnen Projekten vertreten: 55 Im FP5 wurde ein CAM-Projekt zum Thema Krebserkrankungen finanziert: Concerted Action for Complementary and Alternative Medicine Assessment in the Cancer Field (CAM-Cancer: 7 http://www.­ cam-cancer.­org). (Reiter et al. 2012). 55 Das Koordinationsprojekt Good Practice TCM (im FP7) hat sich mit den Voraussetzungen für Patientensicherheit bei den in Europa verwendeten Medizinprodukten der traditionellen chinesischen Medizin befasst (7 http://www.­gp-tcm.­org/the-­project/). 55 Im CAMbrella-Projekt (2010–2012, im FP7) wurde erstmals die Situation von CAM in Europa systematisch erfasst und die Angebots- und Nachfrageseite zu CAM in 39 Staaten Europas einschließlich der rechtlichen Regulierungen aufgearbeitet. 16 Partnerinstitutionen, vorwiegend Universitäten, aus 12 Ländern arbeiteten unter der Leitung von DDr. Wolfgang Weidenhammer (Kompetenzzentrum für Komplementärmedizin und Naturheilkunde, Klinikum rechts der Isar, TU München) auf Basis vorhandener Studien und befragten Experten. Unter der Leitung von Univ. Prof. Dr. Benno Brinkhaus (Charité – Universitätsmedizin Berlin) erstellten die Experten einen Fahrplan für die europäische Forschung zu CAM. Die Ergebnisse des CAMbrella-Projekts sind auch in der CORDIS-Datenbank (7 https:// cordis.­europa.­eu/project/rcn/92501_en.­html) veröffentlicht (. Abb. 39.8).  







Damit Forschung zu CAM in FP7 aufgenommen wird, hatte die Wiener Internationale

Forschungsprogramm (2014–2020)

Horizont 2020 (Horizon 2020) ist das 8. Rahmenprogramm zur Förderung von Forschung und Innovation der Europäischen Union, für das rund 80 Mrd. € für den Zeitraum von 2014–2020 veranschlagt wurde (7 http://ec.­europa.­eu/research/  

participants/portal/desktop/en/opportunities/ index.­html). Damit ist Horizont 2020 das welt-

weit größte, in sich geschlossene Forschungsund Innovationsprogramm (7 http://www.­ horizont2020.­de/einstieg-kurzueberblick.­htm). Das Programm Horizon 2020 wird in drei Säulen gegliedert: 1. industrielle Exzellenz, 2. Technologien für industrielle Führerschaft, 3. gesellschaftliche Herausforderungen.  

Das spezifische Programm Gesundheit, demografischer Wandel und Wohlergehen, für das knapp 10 % aller Mittel von Horizont 2020 zur Verfügung stehen, ist in der 3. Säule (gesellschaftliche Herausforderungen) verankert. >> Mit den europäischen Forschungsförderprogrammen sollen durch mitgliedsländerüberschreitende Forschungsprojekte auch Antworten auf zentrale gesellschaftliche Herausforderungen wie Gesundheit, Energieversorgung und Bewältigung des Klimawandels gefunden werden. Die Stärkung der internationalen Wettbewerbsposition durch mehr und bessere Forschung, Innovation und Technologie sind ebenso ein zentrales Ziel von Horizont 2020, wie Antworten auf die Wirtschaftskrise zu finden, um Investitionen in neue Arbeitsplätze und Wirtschaftswachstum zu unterstützen (Horizon 2020 auf einen Blick: 7 https:// www.­ffg.­at/europa/h2020).  

1020

H. Sützl-Klein

Funded by the European Union

CAM Research Roadmap – six key areas * Citizens *

CAM integration *

Prevalence *

Safety *

Mixed Methods Approach Effectiveness *

Research Funding

Research Infrastructure

..      Abb. 39.8  Die 6 Schlüsselgebiete für einen Fahrplan für europäische CAM-Forschung (Univ. Prof. Dr. Benno Brinkhaus, Charité Universitätsmedizin Berlin, Präsentation zu WP 7 CAM Research Roadmap Background am

29.11.2012 in Brüssel, mit freundlicher Genehmigung). Das CAMbrella-Projekt wurde von der Europäischen Union im FP7 gefördert (Grant Agreement No. 241951; Projektwebseite: 7 http://www.­cambrella.­eu)

Einen Überblick über Horizon 2020 gibt die Präsentation Horizon 2020: Das Rahmenpro­ gramm für Forschung und Innovation (2014–2020) der EU der Österreichischen Forschungsfördergesellschaft (FFG) auf 7 https://www.­

policy-coordination/eu-economic-­governance-­ monitoring-prevention-­correction/european-semester/framework/europe-2020-strategy_de ).



ffg.­a t/sites/default/files/downloads/page/ horizon_2020_praesentation.­pdf. Alle Infor-

Der Fortschrittsbericht der Europäischen Kom­ mission zu Forschung und Innovation der EU 2014 zeigt die Stärkefelder Europas auf (EK  – Europäische Kommission 2014).

7 http://ec.­e uropa.­e u/research/participants/ portal.

Europäisches Forschungsförderprogramm zu Gesundheit, demographischer Wandel und Wohlergehen



mationen zu Horizont 2020, die für Einreicher relevant sind, finden sich auf dem Teilnehmer-Portal (Participant Portal) der EU auf  

39

Context Factors *

Stakeholder Involvement

Die 2010 entwickelte Europa 2020-­Strategie hat als vorrangiges Ziel, Wachstum und Arbeitsplätze in Europa zu schaffen. Forschung und Innovation kommt hierbei eine wichtige Rolle zu. Horizont 2020 ist eines der Programme zur Umsetzung der Europa 2020-Strategie (. Abb. 39.9) (7 https://ec.­europa.­eu/info/  



business-­e conomy-euro/economic-and-fiscal-­

Im Gesundheitsforschungs- und Innovationsprogramm von Horizon 2020 (Horizont 2020, das 8. Rahmenprogramm der Europäischen Union für Forschung und Innovation: 2014– 2020) spielen interdisziplinäre Ansätze eine wichtige Rolle, auch vor dem Hintergrund einer immer älter werdenden Bevölkerung („demographischer Wandel“) und der Zunahme an

1021 Komplementär- und integrativmedizinische Forschungsprojekte

39

Strategie Europa 2020 Drei Prioritäten Intelligentes Wachstum

Integratives Wachstum

Nachhaltiges Wachstum

Aus den Prioritäten werden fünf Kernziele abgeleitet Erwerbstätigkeit der Bevölkerung zwischen 20-64 Jahren bei 75%

Klimaschutzziele 20–20–20

3% des BIP der EU für Forschung und Entwicklung

Verbesserung des Bildungssektors

Armutsbekämpfung

Zur Umsetzung sieben Leitinitiativen Digitale Agenda Europas

Innovationsunion

Jugend in Bewegung

Industriepolitikim Zeitalter der Globalisierung

Ressourcenschonendes Europa

Neue Kompetenzen und Beschäftigungsmöglichkeiten

Europäische Plattform zur Armutsbekämpfung

STADT ESSEN

Europabüro Horizont 2020

..      Abb. 39.9  Hintergrund zu Horizont 2020: die EUROPA 2020-Strategie, mit Hinweis auf Horizont 2020 durch H. Sützl-Klein. (Stadt Essen Europabüro,

chronischen Erkrankungen und altersbedingten Beschwerden. Öffentliche Gesundheitsprogramme und Forschungsprogramme der EU adressieren zunehmend die mit einer älter werdenden Bevölkerung verbundenen Probleme der Gesundheitssysteme (Kurzbeschreibung: Österreichische Forschungsfördergesellschaft FFG zum Hintergrund für das Forschungsprogramm für Gesundheit, demographischen Wandel und Wohlergehen: 7 https://www.­ ffg.­at/print/15427).  

»» „Vor dem Hintergrund einer älter wer-

denden Bevölkerung stellt die damit verbundene stetig steigende Belastung durch Krankheit und Invalidität immer größere Anforderungen an die Gesundheits- und Pflegesektoren. Die Aufrechterhaltung effizienter Gesundheits- und Pflegedienste

7 https://www.­essen.­de/rathaus/europa/strate 

gie_2020/strategie_2020___allgemein_1.­de.­html, mit freundlicher Genehmigung)

erfordert zunehmend Verbesserungen bei der Prävention und Behandlung sowie bei der Ermittlung bewährter Verfahren im Gesundheitswesen und deren Weitergabe. Ebenso muss die integrierte Pflege und die Einführung technologischer, organisatorischer und gesellschaftlicher Innovationen verstärkt unterstützt werden, um zu gewährleisten, dass insbesondere ältere und behinderte Menschen möglichst lange aktiv und unabhängig bleiben. Innovative Entwicklungen zur Verhütung, Verwaltung, Behandlung und Heilung von Krankheiten, Invalidität und verminderter Funktionalität müssen verstärkt mit der grundlegenden Erforschung ihrer Ursachen, Prozesse und Auswirkungen, sowie der Faktoren, die Gesundheit und Wohlergehen zugrunde

1022

H. Sützl-Klein

liegen, ineinander greifen. Ebenso wichtig ist die Umsetzung von Forschungsergebnissen in klinische Anwendungen, v. a. durch klinische Studien.“ (FFG: Gesundheitsprogramm von Horizont 2020 mit aktuellen Links: 7 https://www.­ffg.­at/ gesundheit-demografischer-­wandel-­undwohlergehen)  

Um die Herausforderungen im Gesundheitsbereich besser bewältigen zu können, wurden folgende Programmschwerpunkte festgelegt: Schwerpunkte des Gesundheitsforschungsprogramms von Horizont 2020 (7 https://www.­ffg.­at/  

gesundheit-­demografischer-­wandelund-wohlergehen) 55 Erforschung der Faktoren, die der Gesundheit und dem Wohlergehen sowie Krankheitsprozessen zugrunde liegen 55 Prävention von Krankheiten 55 Behandlung und Verwaltung von Krankheiten 55 Aktives Altern und selbstständige Gesundheitsfürsorge 55 Methoden und Daten 55 Gesundheitssysteme und integrierte Gesundheitsfürsorge

kWie wird das Gesundheitsforschungsprogramm umgesetzt?

In den (in der Regel 2-jährigen) Arbeitsprogrammen werden vorrangige Themenbereiche festgelegt. Es finden jedes Jahr Ausschreibungen zu einzelnen Forschungsthemen statt, an denen sich (üblicherweise) mindestens 3 Partner aus mindestens 3 EU-Mitgliedsländern beteiligen können. Nähere Informationen zu Teilnahmeberechtigten und Förderhöhe: 7 https://www.­ffg.­at/print/15427. Im Gegensatz zu früheren europäischen Forschungsprogrammen, bei denen Ausschreibungsinhalte eher eng und mit wenig Spielraum festlegt wurden, sind in Horizont 2020 die Themen vielfach breit angelegt und  

39

bieten Forschern damit auch mehr Möglichkeiten, eigene Konzepte bzw. Ansätze zu entwickeln.

 ur Vorgeschichte: CAM explizit Z in Horizont 2020 verankert? Um das Ergebnis gleich vorwegzunehmen: Auch wenn CAM (Complementary and Alternative Medicine, in etwa Komplementärmedizin und interdisziplinäre Gesundheitsförderung umfassend) bzw. Kombinationen konventioneller Medizin mit ergänzenden und alternativen Methoden nicht explizit in Horizon 2020 erwähnt sind, können nach Auskünften der Europäischen ­ Kommission auch Forschungsprojekte mit integrativ- bzw. komplementärmedizinischen Aspekten im Rahmen der europäischen Forschungsförderprogramme eingebracht werden, wo dies angebracht ist. Die Themen des 1. Gesundheitsarbeitsprogramms sind so breit definiert, dass „rein von der thematischen Seite betrachtet auch CAM Forschungsprojekte darin Platz fänden“ (z. B. Hinweis im Antwortschreiben des Büros der Forschungskommissarin vom 15.01.2014, [Ares 2013, 4017809] an DDr. Hedda Sützl-Klein, Verein ESIHR, zur Petition, eine explizite Verankerung von CAM- bzw. Integrativmedizin-Forschung [einschließlich CAM-Forschung] in Horizont 2020 betreffend). Doch wie kam es dazu? Zahlreiche Inte­ ressensgruppen setzten sich für die explizite Aufnahme von CAM-Forschung in das 8. Rahmenprogramm der europäischen Forschung, Horizon 2020 ein, das von 2014–2020 läuft (7 http://ec.­europa.­eu/programmes/horizon2020): Im Rahmen des vorangegangenen öffentlichen Beteiligungsverfahrens (Verfahren zur Vorbereitung von Horizont 2020: Öffentlicher Konsultationsprozess der Europäischen Kommission zur Gestaltung der künftigen Förderung von Forschung und Innovation auf europäischer Ebene: Februar–Mai 2011; nähere Darstellung:  

7 http://www.­forschungsrahmenprogramm.­de/ konsultation.­htm. Zugegriffen am 17.01.2017)  

wurden vom Projektleiter des EU-Projekts CAMbrella (7 http://www.­cambrella.­eu), DDr. Wolfgang Weidenhammer, TU München, drei Vor 

39

1023 Komplementär- und integrativmedizinische Forschungsprojekte

schläge zur Berücksichtigung von CAM in Horizont 2020 eingebracht, um 55 eine bestmögliche Versorgung vor dem Hintergrund zunehmender Erkrankungen, v. a. chronischer Erkrankungen und Gebrechlichkeit im Kontext einer alternden Gesellschaft, zu gewährleisten und 55 die Präferenzen der Patienten zu berücksichtigen.

Unternehmen und Forschern (EUROCAM-­ Initiative: 7 http://www.­cam-­europe.­eu; das FORUM universitärer Arbeitsgruppen für Naturheilverfahren und Komplementärmedizin: 7 http://www.­uniforum-­naturheilkunde.­de/; der deutsche Zentralverband der Ärzte für Naturheilverfahren und Regulationsmedizin e.V. ZAEN: 7 http://www.zaen.­org/; der Österreichische Dachverband für ärztliche Ganzheitsmedizin: 7 www.­ganzheitsmed.­at; ESIHR) – plädierten für eine explizite Aufnahme von CAM bzw. Integrativmedizin ­(einschließlich CAM-Interventionen) in das Gesundheitsprogramm von Horizont 2020 und in die Arbeitsprogramme, um CAM-­ Forschung und integrativmedizinische Forschung auf europäischer Ebene zu stärken. Obwohl  – entsprechend Expertenberichten – in einem Entwurf des Europäischen Parlaments zu Horizon 2020 zunächst CAM explizit aufgenommen wurde (Beschluss im ITRE-Committee am 28.11.2012, laut Präsentation II des Projektleiters DDr. W.  Weidenhammer bei der Abschlusspräsentation des CAMbrella-Projekts in Brüssel am 29.11.2012, 7 http://  







Im Europäischen Parlament setzte sich die Interessensgruppe Europäischer Parlamentarier für CAM (Members of European Parlia-

ment [MEPs] for CAM) für eine explizite Aufnahme des Forschungsthemas CAM in das 8. Rahmenprogramm ein (z.  B.  Bericht DÄGfA 2013) und organisierte z.  B. eine Veranstaltung im Europäischen Parlament zum Thema Complementary and Alternative Medicine (CAM): An Investment in Health, die gemeinsam von MEPs for CAM und MEPs against Cancer (Interessensgruppe gegen Krebs) abgehalten wurde und am 27. Juni 2013 in Brüssel stattfand: 55 Es wurden Forschungsergebnisse aus den Niederlanden und Italien zur Wirksamkeit und Kostensenkung durch CAM präsentiert. 55 Die eingeladenen Experten und die Parlamentarier plädierten für mehr Investitionen in Komplementärmedizinforschung auf europäischer Ebene, insbesondere zur Wirksamkeit und Kosteneffizienz von CAM (7 http://www.­daegfa.­de/  

Aerzteportal/Aktuelles.­Berufspolitik.­CAM_ IG_2013.­aspx; 7 http://www.­icmart.­org/ files/dza_03_2013_cam_column_w.­_maricoehler.­pdf).  

55 Auch der damalige EU Gesundheitskommissar Dr. Tonio Borg äußerte sich positiv zum Thema CAM und stellte CAM als eine wichtige Ergänzung der europäischen Gesundheitsbereiche dar (Wortlaut der Rede: 7 http://ec.­europa.­eu/commis 

sion_2010-­2014/borg/docs/speech_cancer_27062013_en.­pdf).

Verschiedene Interessensgruppen – sowohl Vertreter involvierter Berufsgruppen als auch von



www.­camdoc.­eu/CAM_for_Europe/Cambrella_ results.­html; 7 http://www.­camdoc.­eu/Pdf/Weidenhammer_ClosingRemarks.­pdf sowie schriftli 

che Mitteilung vom Büro des EU-Abgeordneten Dr. Hannes Swoboda vom 18.11.2013), ist CAM letztendlich (wie auch manche andere Themenbereiche) nicht mehr explizit in Horizon 2020 erwähnt. Österreich war auch das erste europäische Mitgliedsland, das angesichts der Bedeutung von Komplementärmedizin im Gesundheitsbereich die explizite Aufnahme von CAM auf europäischer Ebene im sog. Programm-­ Komitee Gesundheit, in dem die Entwürfe des Gesundheitsprogramms von Horizont 2020 vorgestellt und, ebenso wie die 2-jährigen Arbeitsprogramme, von den Vertretern der Mitgliedsländer diskutiert wurden, einbrachte: Österreichische Forscher, der Österreichische Dachverband für ärztliche Ganzheitsmedizin und ESIHR hatten sich an das österreichische Wissenschaftsministerium und an Wissenschaftsminister Univ.-Prof. Dr. Karl-

1024

H. Sützl-Klein

heinz Töchterle mit dem Ansuchen um Unterstützung der ausdrücklichen Aufnahme von CAM-Forschung in Horizont 2020 gewandt. Dieses Anliegen zur expliziten Berücksichtigung von CAM-Forschung im Gesundheitsprogramm von Horizont 2020

»» „… fand jedoch keine mehrheitsfähige

Unterstützung durch die anderen Mitgliedstaaten bzw. durch die Europäische Kommission.“

Im Antwortschreiben des österreichischen Wissenschaftsministeriums vom 26.11.2013, BMWF-10.240/0013-II/3c/2013, auf das Ansuchen von DDr. Hedda Sützl-Klein, Verein ESIHR, um Unterstützung für eine explizite Verankerung von CAM-Forschung in Horizont 2020 hieß es außerdem: Vonseiten der Europäischen Kommission wurde betont,

»» „… dass, auch wenn CAM Forschung im

Arbeitsprogramm 2014–2015 der ‚Gesellschaftlichen Herausforderung Gesundheit, demografischer Wandel und Wohlbefinden‘ nicht explizit angeführt wird, es nicht heißt, dass es keine Antragsmöglichkeiten für CAM-­Forschungsprojekte gäbe. Die Themen des ersten Arbeitsprogramms sind so breit definiert, dass rein von der thematischen Seite betrachtet auch CAM-Forschungsprojekte darin Platz fänden.“

In Deutschland wandte sich das Forum universitärer Arbeitsgruppen für Naturheilverfahren und Komplementärmedizin („Forum“), der Zusammenschluss von Wissenschaftlern, die an deutschsprachigen Universitäten auf dem Gebiet Naturheilverfahren und Komplementärmedizin arbeiten (7 http://www.­uniforumnaturheilkunde.­de), an Forschungsministerin Prof. Dr. Johanna Wanka und Gesundheitsminister Daniel Bahr, BSC, MBA, um eine explizite Aufnahme von Integrativ- und Komplementärmedizin in das Gesundheitsprogramm von Horizont 2020 zu unterstützen. In einer Petition an Forschungskommissarin Máire Geoghegan-Quinn setzten sich 2013 der Österreichische Dachverband für ärztliche Ganzheitsmedizin (7 http://

www.­ganzheitsmed.­at), der deutsche ZAEN

(Zentralverband der Ärzte für Naturheilverfahren und Regulationsmedizin e. V., 7 http:// www.­zaen.­org) und ESIHR für die explizite Aufnahme von Integrativmedizin (einschließlich CAM) in das europäische Forschungsförderprogramm Horizont 2020 und die dazugehörigen Arbeitsprogramme ein. Formuliert wurde das Anliegen zur expliziten Aufnahme von Integrativmedizin (einschließlich CAM) in die Präambel des 1. Arbeitsprogramms folgendermaßen:  

»» „Integrative Medicine, including ‚CAM‘

(Complementary and Alternative Medicine), playing a major role in the European health care, is included in all research areas where appropriate.“

Die Forschungskommissarin wurde auch um die explizite Nennung von Integrativme-

dizin  – einschließlich CAM-Forschung  – in allen Horizon 2020-Arbeitsprogrammen Gesundheit der Europäischen Kommission er-

sucht, und Integrativmedizin wurde als eigene Schwerpunktlinien innerhalb von Fokusgebieten angeregt. In der Begründung wurde v. a. auf die zunehmende Bedeutung von CAM in der Patientenversorgung hingewiesen:

»» „Die europäische Naturheilkunde hat

einen wesentlichen Stellenwert in der Patientenversorgung der europäischen Bürger, insbesondere im Bereich chronischer Erkrankungen und zur Behandlung von Risikogruppen, und sollte daher auch eine entsprechende Wertigkeit in der europäischen Forschung einnehmen.“



39



Im Antwortschreiben vom 15.01.2014 des Kabinetts der Forschungskommissarin wurde hervorgehoben, dass die Programme unter dem Unterpunkt Gesundheit, demographischer Wandel und Wohlergehen 55 „weit gefasste, weniger präskriptive Themen“ bieten, um den Wettbewerb zwischen den besten Vorschlägen zu fördern. 55 Dies ermögliche es den Antragstellern in weiten Teilen, die zu erforschende Krank-

1025 Komplementär- und integrativmedizinische Forschungsprojekte

heit und den therapeutischen Ansatz oder die eingesetzte Technologie für ihre Forschung selbst zu bestimmen. Gegebenenfalls zählten dazu auch Ansätze der integrativen Medizin, einschließlich der Kombination herkömmlicher Medizin mit ergänzenden und alternativen Methoden, wo dies angebracht sei. 55 Darüber hinaus wurde im Antwortschreiben des Kabinetts der Forschungskommissarin darauf hingewiesen, dass sie über die neuesten Entwicklungen und die wachsende Rolle, welche die Ansätze in der integrativen Medizin für die Gesundheit und das Wohlergehen der europäischen Bürger beitragen können, informiert seien. 55 Zudem wurde versichert, dass einschlägige Beiträge anderer Akteure wie der eigene sehr zu begrüßen seien und diese in die Diskussion über künftige Prioritäten mit einfließen würden (Antwortschreiben vom 15.01.2014 der Europäischen Kommission, Kabinett der Forschungskommissarin Máire Geoghegan-Quinn, Ares (2013) 4017809 an DDr. Hedda Sützl-Klein, Europäische Gesellschaft für Integrative Gesundheitsforschung, auf unser Schreiben betreffend explizite Aufnahme von Integrativmedizin (einschließlich CAM) in die Arbeitsprogramme Gesundheit, Demografischer Wandel und Wohlergehen). 39.6.3  Horizont 2020:

Vernetzungstreffen für IM-/CAM-Forschung in Wien seit 2014

Da somit die grundsätzliche Möglichkeit bestand, integrativ- und komplementärmedizinische Themen in die europäische Forschung (im Rahmen von Horizont 2020) einzubringen, wurden von Univ.-Prof. Dr. Michael Frass (Medizinische Universität Wien und Leiter der Ambulanz Homöopathie bei malignen Erkrankungen am AKH Wien sowie Präsident des Österreichischen Dachverbandes für ärztliche Ganzheitsmedizin), von Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Mosgöller (Medizi-

39

nische Universität Wien) und DDr. Hedda SützlKlein (ESIHR) als Initiatorin 55 Anfang 2014 in Österreich (Wien) die ersten internationalen Vernetzungstreffen zu Integrativ- und Komplementärmedizinforschung für Horizont-2020-Projekte mit Forschern aus Europa ins Leben gerufen. 55 In den drei internationalen Vernetzungstreffen 2014 in Wien, zu denen jeweils zwischen 20 und 30 Forscher und Vertreter von Gesundheitsberufen kamen, wurden zahlreiche Projektideen ausgetauscht, diskutiert, mehrere Forschungsthemen aufgegriffen und weiterentwickelt. 55 Es wird sich zeigen, inwieweit diese Formen der Vernetzung potenzieller Projektpartner und der Diskussion und Vorbereitung von Projektkonzepten fortgesetzt und zu erfolgreichen Projekten führen werden. Der Verein Europäische Gesellschaft für Inte­ grative Gesundheitsforschung (ESIHR) setzt sich für mehr öffentliche Forschung zu Integrativbzw. Komplementärmedizin und insbesondere zu europäischen Heilpflanzen und Heilmethoden ein sowie für mehr Vernetzung zwischen Forschern, zwischen Forschung und Praxis, öffentlicher Hand und Patienten und für einen offenen und einfachen Zugang zu Forschung. 39.7  Ausblick: Integrativmedizin-

und CAM-Forschung in Europa

Das CAMbrella-Konsortium, dem universitäre Vertreter aus 12 Ländern angehörten, erarbeitete im Auftrag der Europäischen Kommission einen Fahrplan für die europäische CAM-Forschung. In der in Österreich 2009 im Auftrag des österreichischen Wissenschaftsministeriums durchführten Erhebung zur CAM-Forschung sprachen sich die befragten Forscher für hohe Forschungsprioritäten v. a. in folgenden Bereichen aus (Sützl-Klein 2009, S. 68 ff.): 55 europäische CAM-Methoden, 55 asiatische Medizinsysteme,

1026

55 55 55 55

H. Sützl-Klein

Mind-Body-Medizin, manipulative körperbezogene Therapien, Musiktherapie, mehr Grundlagenforschung v. a. in den Bereichen Phyto- und Regulationsbiologie/-medizin.

Die österreichischen Experten erstellten im vom österreichischen Wissenschafts- und Gesundheitsministerium veranstalteten Workshop CAM-Forschung 09 unter der Leitung von Univ.Prof. Dr. Florian Überall (Universität Innsbruck) Grundzüge einer Phyto-­Forschungs-­ Roadmap mit zahlreichen Anregungen für künftige Forschungsthemen. Dabei wurden insbesondere nichtlineare Signal-­ Verschaltungen und neue Strategien zur Risiko-Nutzen-Bewertung von Naturstoffen und Phytopharmaka nach Verzehr angesprochen (weitere Vorschläge zu Forschungen s. Workshop CAM-Forschung 09, Sützl-Klein et al. 2009):

»» „Die Etablierung moderner Arbeitsgebiete

der Life-Science-Sparten Systembiologie, Strukturbiologie, Molecular Modelling, Genomik, Nutrigenomik, Metabolomik und Bioinformatik, kombiniert mit analytischen (MS-MS, MALDI-TOF) und dia­ gnostischen Methoden (Lab-on Chip, Biomarkerselektion, Gene Expression Profiling etc.) ermöglichen die Etablierung neuer Strategien zur Risiko-­Nutzen-­Bewertung und können mithelfen, komplexe Signalverschaltungen von Naturstoffextrakten und Phytopharmaka molekular besser zu verstehen.“

39

Eine personalisierte Medizin und interdisziplinäre Ansätze zur Optimierung der Patientenversorgung, zur Gesundheitsförderung und Prävention haben in der europäischen Forschungsförderung (in Horizon 2020) einen deutlichen Stellenwert, wie dies bereits im 1. Arbeitsprogramm zu Gesundheit, demographischem Wandel und Wohlergehen 2014/15 zu sehen war. So wurden auch Fragestellungen berücksichtigt wie: 55 Welche Modelle erlauben die Implementierung nachhaltiger, sicherer, effizienter

vorsorgeorientierter Gesundheits- und Vorsorgesysteme? 55 Wie können Bürger unterstützt werden, aktiv und engagiert ihre Gesundheit und ihr Wohlergehen zu managen (z. B. aktives und gesundes Altern zu fördern)? 55 Wie kann eine integrierte, nachhaltige und bürgerorientierte Pflege aufgebaut bzw. gestärkt werden (Horizont 2020: Arbeitsprogramm 2014–2015 Personalising Health and Care, 7 http://ec.­europa.­eu/research/  

participants/data/ref/h2020/wp/2014_2015/ main/h2020-wp1415-­health_en.­pdf)?

Es ist anzunehmen, dass angesichts der Orientierung von Horizont 2020 an Herausforderungen (challenges) und der bisherigen Breite der Ansätze auch in den künftigen Ausschreibungen – je nach konkretem Ausschreibungsinhalt  – Projekte mit integrativ- und komplementärmedizinischen Forschungsthemen eingereicht werden können. zz Diskussion

In Europa nehmen „integrativmedizinische“ Angebote, die komplementäre Ansätze inte­ grieren, zu (vermutlich auch angesichts der Zunahme chronischer Erkrankungen und der daraus resultierenden Anfragen der Patienten um nebenwirkungsarme, wirksame Therapien). Gestützt auf die Erfahrungen der involvierten Berufsgruppen und der weltweit bei Forschungen erzielten zunehmenden Evidenz zeichnet sich ab, dass komplementäre Methoden und Integrativmedizin geeignet sein können, wertvolle Beiträge zur Optimierung der Patientenversorgung zur Verfügung zu stellen und zugleich auch zur Sicherung einer nachhaltigeren Entwicklung des Gesundheitswesens beitragen zu können (s. die sich abzeichnende zunehmende Evidenz für Kosteneffizienz  – und auch potenzieller Kostenersparnis bei zumindest einigen wenigen klinischen Krankheitsbildern) (Herman et  al. 2012). Um die möglichen Beiträge von Integrativund Komplementärmedizin zu mehr Gesundheit und zu den Herausforderungen in den

39

1027 Komplementär- und integrativmedizinische Forschungsprojekte

Gesundheitssystemen besser abschätzen zu können, ist noch mehr, insbesondere öffentliche Forschung erforderlich. Auch ein strukturierter Stakeholder-Diskussionsprozess mit Vertretern der öffentlichen Hand, Trägern des Gesundheitswesens und Vertretern aus Forschung und Praxis unter Einbeziehung von Patientenvertretern erscheint erstrebenswert, um die Wissensbasis zu verbreitern und Forschungsanliegen und Forschungsfragen für die öffentliche Forschung zu formulieren. 39.8  Weltweiter Aufschwung

der Komplementär- und Integrativmedizinforschung

39.8.1  Etablierung der Komple-

mentärmedizinforschung im deutschsprachigen Raum

pascoe.­d e/unternehmen/meinungsforschung-­ naturmedizin/), gestiftet von verschiedenen

Stiftern bzw. Stiftungen, denen Forschung und Lehre zu Naturheilkunde bzw. Komplementärund Integrativmedizin ein Anliegen sind. Die erste klinische Abteilung für Naturheilkunde haben in Berlin zu Beginn der 1950er-­Jahre einige engagierte naturheilkundliche Ärzte unter einfachsten Bedingungen im damaligen West-Berlin gegründet. 1989 wurde dazu die erste Professur für Naturheilkunde im deutschsprachigen Raum nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen (Stange 2013). Inzwischen gibt es an den größeren Zentren für Naturheilkunde und Komplementär- bzw. Integrativmedizin zwischen 10 und 20 Mitarbeiter, an den großen Universitätskliniken und Hochschulambulanzen wie in Essen oder Berlin sind es noch viel mehr. Eine ausführlichere Darstellung der universitären Entwicklung von Naturheilkunde und Komplementärmedizin im deutschsprachigen Raum findet sich in 7 Kap. 40. Bereits in den 1980er-Jahren nahm beispielsweise  

Deutschland Die komplementärmedizinische Forschung in Deutschland erfuhr etwa seit Beginn dieses Jahrtausends v. a. über private Stiftungen einen starken Aufschwung: Es entstanden international bedeutende Universitätsinstitute zur Komplementärmedizinforschung mit Stiftungsprofessuren zu Naturheilkunde und Integrativmedizin bzw. Komplementärmedizinforschung. Forschungsaktivitäten, wissenschaftliche Publikationen und Lehrangebote stiegen an. Beispiele dafür sind die großen universitären Zentren für Naturheilkunde und Komplementär- bzw. Integrativmedizin wie Essen-Duisburg, München, Berlin (Charité) und zahlreiche kleinere Universitätsinstitute: Im FORUM der universitären Arbeitsgruppen für Naturheilkunde und Komplementärmedizin, einem internationalen Zusammenschluss von Forschern im deutschsprachigen Raum, sind die Forschungsgruppen von 19 deutschen Universitäten vertreten (7 http:// www.­uniforum-­naturheilkunde.­de). 2002 gab es erst zwei Professuren für Naturheilkunde, 2012 waren es bereits zehn (PASCOE-Umfrage 2012, S.  3, 7 http://www.­  



»» „… nach einer zunächst studentischen Ini-

tiative unter Federführung von Dieter Melchart das ‚Münchner Modell‘ seine Tätigkeit auf, das sich der Integration von Naturheilverfahren und Komplementärmedizin in die universitäre Medizin in Forschung und Lehre widmete.“ (Stange 2013)

Wesentliche Forschungsschwerpunkte des mit der Medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen verknüpften Lehrstuhls für Naturheilkunde und Integrative Medizin (7 https:// www.­uni-due.­de/naturheilkunde/) sind klassische westliche Naturheilverfahren, die Ordnungstherapie sowie die Integration der traditionellen chinesischen Medizin (TCM) und der traditionellen indischen Medizin (TIM) und die an dieser Klinik erstmals in Deutschland eingeführte Mind-Body-Medizin (Angebote der Klinik für Naturheilkunde und Integrative Medizin, Leitung: Prof. Dr. Gustav Dobos, zu TCM, traditioneller ayurvedischer Medizin und traditioneller europäischer Medizin:  

1028

H. Sützl-Klein

7 http://www.­k liniken-essen-mitte.­de/leistung/ fachabteilungen/naturheilkunde-u-­integrativemedizin/home.­html); ein zweiter Lehrstuhl  

wurde inzwischen im Bereich Integrative Gastroenterologie gestiftet (7 http://www.­kliniken 

essen-mitte.­d e/leistung/zentren-institute/ integrative-­gastroenterologie/home.­html). Zur

Mind-­ Body-­ Medizin wurden auch jährliche Summer-School-Angebote eröffnet. An der Charité  – Universitätsmedizin Berlin hat die Carstens-Stiftung 2008 eine Stiftungsprofessur für Komplementärmedizinforschung eingerichtet (7 http://www.carstens 

stiftung.de/artikel/berliner-charite-besetztdeutschlands-erste-professur-zur-erforschung-derkomplementaermedizin-alternativmedizin.­html),

die v.  a. Forschungen in den Bereichen Akupunktur, Mind-Body-­Medizin und Homöopathie ermöglichte. Das Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie forschte seit 1997 zu Wirksamkeit und Nutzen komplementärmedizinischer Ansätze wie Akupunktur und Homöopathie bei Patienten mit chronischen Erkrankungen. 2015 hatte Berlin an der Charité und im Immanuel-Krankenhaus je eine naturheilkundliche Ambulanz (die Hochschulambulanzen für Naturheilkunde der Charité  – Universitätsmedizin Berlin an den Standorten Immanuel-Krankenhaus Berlin-­ Wannsee und Campus Mitte: 7 http://www.­hochschulambulanznaturheilkunde.­de/die_ambulanz/, 7 http://www. hochschulambulanz-naturheilkunde.de) sowie zwei Stiftungsprofessuren am Institut für Sozi­almedizin, Epi­demiologie und Gesundheitsökonomie der Charité  – Universitätsmedizin Berlin (7 http://www.hochschulambulanz-­  





naturheilkunde.de/unser_team/prof_dr_benno_ brinkhaus/, 7 http://naturheilkunde.­immanuel.­de/ andreas-michalsen/).  

39

Insgesamt war die Zahl der Professuren in Deutschland zu Naturheilkunde und Komplementärmedizin mit 10 bis 2012 im Vergleich zur großen Bedeutung in der Patientenversorgung jedoch immer noch vergleichsweise sehr gering (PASCOE-Umfrage 2012). An der Universität Freiburg gibt es eine naturheilkundliche und eine umweltmedizinische Ambulanz, und auch die Kombination von

Umweltmedizin und Naturheilkunde in der Patientenbetreuung (z. B. umweltmedizinische Diagnose, naturheilkundliche Behandlungen). Im Gegensatz zu anderen Staaten, die Komplementärmedizin schon vor 2000 explizit in nationale Forschungsprogramme aufgenommen hatten, wie manche asiatische Länder (Angaben zum Korean Institute of Oriental Medicine (KIOM) in Hök et  al. 2012) und die USA (s. Budgets des NCCAM/nunmehr NCCIH und anderer NIH-Institute für CAM-­ Forschung seit 1999, 7 https://nccih.­nih.­gov/about/budget/ institute-center.­htm), gab es in Deutschland bis 2015 kaum Bundesmittel für Komplementärmedizinforschung (Hök et  al. 2012, S.  47; PASCOE-Umfrage 2012). Eine der wenigen Ausnahmen ist das Akupunktur-­Forschungsprojekt zu Allergien (ACUSAR-­Studie), das unter Leitung der Charité  – Universitätsmedizin Berlin (Projektleiter: Prof. Dr. Benno Brinkhaus) durchgeführt wurde (Brinkhaus et al. 2013).  

Schweiz In der Schweiz wurde der erste Lehrstuhl für Naturheilkunde 1994 am Universitätsspital Zürich eingerichtet. Der Lehrstuhlinhaber und langjährige Direktor des Instituts für Naturheilkunde, Professor Dr. Reinhard Saller, setzte den Schwerpunkt auf Phytotherapie. 2014 wurde es in das Institut für Komplementäre und Integrative Medizin umgewandelt (Institutsdirektorin: Frau Prof. Dr. Claudia Witt; 7 http://www.­iki.­usz.­ch/). 1995 folgte in Bern, ebenfalls auf eine Ini­ tiative der Bürger hin, die Einrichtung der sog. Kollegialen Instanz für Komplementärmedizin (KIKOM, inzwischen: IKOM, Institut für Komplementärmedizin, 7 http://www.­ ikom.­unibe.­ch/content/index_ger.­html), in der die anthroposophisch erweiterte Medizin, die Homöopathie, die Neuraltherapie und die traditionelle chinesische Medizin (TCM) in Forschung und Lehre sowie bei der Patientenbetreuung vertreten sind (Stange 2013).  



Österreich In Österreich gab es 2015 an den Medizinischen Universitäten Wien, Graz und Innsbruck bereits verschiedene Forschungstätigkeiten und

1029 Komplementär- und integrativmedizinische Forschungsprojekte

auch Forschungseinrichtungen (z. B. Stronach-­ Forschungseinheit für komplementäre und integrative Lasermedizin an der Medizinischen Universität Graz) sowie in Wien und Graz komplementärmedizinische Angebote bzw. Ambulanzen (z. B. die Ambulanz für komplementäre Therapien bei Krebserkrankungen in der Frauenheilkunde, Ass.-Prof. Dr. Leo Auerbach, am AKH Wien/Medizinische Universität Wien und Ambulanz Homöopathie bei mali­ gnen Erkrankungen: ao Univ. Prof. Dr. Michael Frass) und auch Aus- und Weiterbildungsangebote im Bereich Komplementärmedizin (wie den Universitätslehrgang für Grundlagen und Praxis der TCM an der Meduni Wien, Leitung: Ass.Prof. Priv.-Doz. Dr. Yan Ma), allerdings noch keinen eigenen Lehrstuhl. Die noch junge Donau-Universität Krems errichtete an der Fakultät für Gesundheit und Medizin 2011 ein eigenes Zentrum für Traditionelle Chinesische Medizin und Komplementärmedizin, das Prof. Dr. Andrea Zauner-Dungl im Department für Gesundheitswissenschaften und Biomedizin aufbaute, sowie ein Department für Interdisziplinäre Zahnmedizin – und auch ein Department für Klinische Neurowissenschaften und Präventionsmedizin. Damit berücksichtigte die Donau-Universität Krems als öffentliche Universität für Weiterbildung bereits stärker den internationalen Trend zu Lehre und Forschung im Bereich Komplementär- bzw. Integrativmedizin und die hohe Bedeutung ganzheitsmedizinischer Ansätze in Österreich und Europa (7 http://www.­donauuni.­ac.­at/de/department/index.­php).

39

zin ist auch ein von Patienten und Therapeuten gefordertes Anliegen, das zunehmend mehr artikuliert wird. zz Zunahme an Kongressen zum Thema Komplementär- und Integrativmedizin

Die Fülle an Kongressen in Europa und weltweit und insbesondere die in diesem Jahrhundert neu entstandenen nationalen und internationalen Kongresse spiegeln die zunehmenden Forschungsbemühungen und die lebhafte interdisziplinäre Diskussion wieder: Der Internationale Komplementärmedizinforschungskongress ICCMR (International Congress on Complementary Medicine Research, seit 2016 in World Congress Integrative Medicine and Health umbenannt), ist international am bedeutendsten und wird jährlich von der ISCMR (International Society for Complementary Medicine Research) abwechselnd in Europa, USA und in außereuropäischen, nichtamerikanischen Ländern (v. a. Asien, Australien) mitorganisiert, um die internationale Diskussion und Entwicklung von Komplementär- und Integrativmedizin-Forschung zu stärken.

»» „ISCMR is an international professional,

multidisciplinary, non-profit scientific organization that is devoted to fostering Complementary and Integrative Medicine research and provides a platform for knowledge and information exchange to enhance international communication and collaboration.“ (7 http://www.­iscmr.­org)  



39.8.2  Nationale und internatio-

nale Kongresse zu komplementärmedizinischer Forschung – Präsentation von Forschungsergebnissen

Mehr Forschung zur Wissensgewinnung und Verbesserung von Therapie- und Präventionsmöglichkeiten unter Berücksichtigung von integrativen Ansätzen und Komplementärmedi-

Das Thema der Nachhaltigkeit von Gesundheitssystemen gelangt zunehmend in den

Blickpunkt der Forschung: So befasste sich bereits 2013 der 8. Internationale Kongress für Komplementärmedizinforschung in London mit dem Thema Langfristige Bedingungen: Entwicklung globaler, integrativer und nachhaltiger Lösungen und stellte neueste Studien zur Wirksamkeit und Kosteneffizienz von komplementär- und integrativmedizinischen Methoden vor (7 https://www.­karger.­com/Book/ Home/259780). Die beim ICCMR 2013 in London präsentierte Übersichtsstudie einer amerikanisch-­  

1030

H. Sützl-Klein

europäischen Forschungsgruppe identifizierte auch zunehmende Evidenz bezüglich Kosteneffektivität und potenzieller Kostenersparnis bei zumindest einigen wenigen klinischen Krankheitsbildern: Die Metaanalyse zur Wirtschaft-

zen- und Naturstoff-Forschung e.V. (7 http:// www.­ga-online.­org) und die in Asien stattfin 

denden Internationalen Kongresse für Orientalische Medizin (ICOM), bei denen z. B. 2012 unter dem Motto The Future of Medicine, Tradilichkeit von komplementären Therapien und tional Medicine in Seoul, Südkorea, neben neuintegrativer Pflege (Herman et al. 2012; basie- esten Forschungsergebnissen zu traditionellen rend auf der Analyse von 204 zwischen 2001 asiatischen Methoden auch innovative Weiterund 2010 durchgeführten ökonomischen Stu- entwicklungen, v. a. im Gerätebereich, präsendien zu CIM  – complementary and integrative tiert wurden. Auch in Europa finden zahlreiche medicine) kam zu folgendem Schluss: Kongresse zu traditionellen asiatischen Heil„This comprehensive review identified many methoden statt, v. a. zu Akupunktur und TCM, CIM economic evaluations missed by previ- z. B. seit 1968 TCM-Kongresse in Rothenburg ous reviews and emerging evidence of cost-­ ob der Tauber (7 http://www.­tcm-kongress.­de/ effectiveness and possible cost savings in at least de/geschichte/index.­htm), aber auch zu Kampōa few clinical populations.“ (Herman et al. 2012) oder Ayurveda-Medizin. Auf Initiative von Forschern der Charité – Wien fungiert als Gastgeberin für eine Universitätsmedizin Berlin wurde 2008 der große Vielfalt an Kongressen zu KomplemenEuropäische Kongress für Integrativmedizin tär- und Integrativmedizin, psychosozialen mit dem Thema Die Zukunft der optimalen Pa- Aspekten, Musikwirkungsforschung und Umtientenversorgung ins Leben gerufen (7 http:// weltmedizin, z. B. www.­ecim-congress.­org). 55 der Internationale Umweltmediziner-­ Mit mehr als 850 Teilnehmern aus allen Kongress (2007), Kontinenten hat der Anfang Mai in 2017 in Ber- 55 der Weltkongress für Allgemein- und lin gemeinsam mit ECIM (European Congress Familienmedizin WONCA (2012), der for Integrative Medicine) durchgeführte World auch Praxis-Beiträge von KomplementärCongress Integrative Medicine and Health die medizinern beinhaltete, Bedeutung und Dynamik in diesem zukunfts- 55 der Internationale Kongress für Musikweisenden Forschungssegment sehr deutlich wirkungsforschung IMARAA (2010, 2012: aufgezeigt. Grußworte des deutschen BundesMozart & Science), ministers für Gesundheit, Hermann Gröhe 55 Weltkongresse für Psychotherapie (der (7 https://www.­ecim-iccmr.­org/2017/program/ Weltverband für Psychotherapie wurde greeting/), und die Videobotschaft der General1995 in Wien gegründet und veranstaltet direktorin der WHO, Dr. Margaret Chan, unalle 3 Jahre Weltkongresse für Psychotheterstrichen die bereits erlangte Bedeutung von rapie, davon 1996–2002 in Wien), komplementär- und integrativmedizinischer 55 zahlreiche themenspezifische nationale Forschung. Dr. Chan betonte die Bedeutung Kongresse, Symposien und Fachveranstaltraditioneller und komplementärer Medizin tungen mit internationalen Gastreferenten für die Nachhaltigkeit der Gesundheitsdienste wie Kongresse der Wiener Internationalen und die Erreichung der Agenda 2030 (SustainaAkademie für Ganzheitsmedizin (GAMED) ble Development Goals) (7 https://www.­ecimund des Österreichischen Dachverbands iccmr.­org/2017/) Die Kongressbeiträge sind für ärztliche Ganzheitsmedizin, z. B. 2013 im Online-Journal BMC Complementary and zum Thema Die Heilkraft des Wassers, Alternative Medicine veröffentlicht (7 https:// 2014 zu Silent Inflammation und 2017 zum bmccomplementalternmed.­biomedcentral.­com/ Thema integrative Onkologie oder gemeinarticles/supplements/volume-17-supplement-1). same Kongresse der Universität Wien und Eine lange Tradition haben die internationader Sigmund Freud Privatuniversität zum len Kongresse der Gesellschaft für Arzneipflaninterkulturellen Vergleich europäischer  







39



1031 Komplementär- und integrativmedizinische Forschungsprojekte

und asiatischer Ansätze zu Gesundheit und Krankheit, z. B. der Kongress The Concepts of Health and Disease From the Viewpoint of 4 Cultures 2013 (gemeinsam mit dem TMRI und dem Ministry of Public Health Thailand organisiert; 7 https:// www.­sfu.­ac.­at/de/).  

Am Beginn dieser erfolgreichen Forschungsentwicklungen stand  – wie immer wieder in Gesprächen mit forschenden Ärzten und Forschern darauf hingewiesen wird  – das hohe Engagement von Einzelpersonen, v.  a. von zahlreichen Medizinern und Therapeuten, die zunehmend auch Schritte in Richtung Forschung wagten und einen konstruktiven Dialog mit Wissenschaftlern aus unterschiedlichsten Fachgebieten suchten und auch interessierte Sponsoren fanden, die erste Forschungsprojekte und in der Folge diese erfolgreiche Forschungsentwicklung in ihren Anfängen erst ermöglichten. Auch von Forschern aus den verschiedensten Fachgebieten sind Initiativen ausgegangen, sich mit tradiertem Heilwissen, Komplementär- und Integrativmedizin zu befassen, die das Interesse von Forschern, Grundlagen von Funktionsweisen zu klären, sichtbar machten – wie u. a. auch die Erhebung zur CAM-Forschung in Österreich und Gespräche mit Forschern zeigten. Inzwischen sind komplementär- und integrativmedizinische Forschungen, Forschungseinheiten und Lehrangebote an zahlreichen universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen weltweit vielfach auch im Rahmen staatlicher Forschung und Lehre finanziert. 39.8.3  Ausbildungssituation

Naturheilkunde und Komplementärmedizin werden in Deutschland an medizinischen Universitäten im Rahmen des Querschnittsbereichs Q12 (Rehabilitation, Physikalische Medizin und Naturheilverfahren) unterrichtet (Näheres zur Ausbildungssituation in Deutschland: PASCOE-Umfrage 2012):

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55 2009 organisierten Mitglieder des FORUMS universitärer Arbeitsgruppen für Naturheilverfahren und Komplementärmedizin (Dr. Cornelia von Hagens, Dr. Detmar Jobst, Dr. Gudrun Ulrich-­Merzenich und Dr. Beate Stock-Schröer) den ersten akademischen Seminarkongress zum Thema Lehre zu Naturheilkunde und Komplementärmedizin in Bonn (Detmar Jobst: 7 http://www.­uniforum-­naturheilkunde.­de/ seminarkongress/ergebnisse.­html).  

55 Lehrbücher zu Naturheilkunde und Komplementärmedizin wurden erarbeitet, wie das von Prof. Dr. Karin Kraft und Dr. Rainer Stange herausgegebene Lehrbuch Naturheilverfahren (Kraft und Stange 2009) oder Onkologie integrativ: Konventionelle und komplementäre Therapie (Pfeifer et al. 2006). 39.8.4  Musiktherapie

Eine Besonderheit in Österreich ist die Bedeutung der Musik (die vermutlich seit jeher in vielen Kulturen auch zur Unterstützung von Heilungsprozessen eingesetzt wird) und der Musikwirkungsforschung, die an vier Universitäten (Wien, Salzburg, Graz, Krems) betrieben wird und die sowohl die Wirkung rezeptiver als auch aktiver Musiktherapie beforscht (s. Publikationen zu Musikwirkungsforschung der Universitäten Wien, Salzburg, Graz, Krems, z. B. Bernatzky et al. 2011). In Österreich wurde 2008 das Musiktherapiegesetz (MuthG, BGBl. I Nr. 93/2008) verabschiedet, welches am 1. Juli 2009  in Kraft getreten ist. Die Anerkennung des „Musiktherapeuten“ als neuer Gesundheitsberuf in Österreich durch dieses Gesetz dürfte ein erfolgreiches Beispiel dafür sein, dass international erfolgreiche Forschung in den Bereichen angewandte klinische Forschung und Grundlagenforschung auch positive Auswirkungen auf die Anerkennung von Methoden durch die Gesundheitsbehörden haben kann. Inzwischen sind in der PubMed-­Datenbank mehr als 5000 wissenschaftliche Publikationen

1032

H. Sützl-Klein

zum Themenbereich Musiktherapie (music therapy) zu finden. Zu den Einsatzbereichen von Musiktherapie, die als rezeptive oder aktive Musiktherapie v. a. im stationär klinischen Bereich eingesetzt wird, 7 Kap. 25.  

Zusammenfassung 55 Der Beitrag führt in das Thema Komplementär- und Integrativmedizin ein und gibt einen Einblick in die jüngere Entwicklung und in Bewegungen zum Aufbau von Komplementär- und Integrativmedizinforschung v. a. in Europa und in den deutschsprachigen Ländern. 55 Vorgestellt wird das grundlegende Koordinationsprojekt zu CAM (Komplementär- und Alternativmedizin) CAMbrella im 7. Rahmenprogramm der Europäischen Forschungsförderung (2010–2012), in dem neben einer Analyse der Angebots- und Nachfrageseite und der unterschiedlichen rechtlichen Situation in Europa, eine Roadmap für Europäische CAM-Forschung entwickelt wurde. 55 In den darauffolgenden Jahren gab es zahlreiche Initiativen zur Unterstützung von CAMund Integrativmedizinforschung in Horizon 2020, dem 8. Rahmenprogramm der Europäischen Forschungsförderung (2014–2020). 55 Anhand von ausgewählten Forschungsbeispielen in Österreich zu CAM und zu tradiertem Heilwissen aus den Bereichen Heilpflanzen und Wasserfälle sowie zu innovativen Weiterentwicklungen (antimi­ krobielle Strategien auf Basis von Extrakten lichtsensitiver Heilpflanzen) wird gezeigt, wie lebendig die Forschungsszene ist und welche vielversprechenden Ergebnisse bereits erzielt wurden. 55 Der Beitrag ermutigt zu verstärkten Forschungsaktivitäten.

Literatur

39

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H. Sützl-Klein

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1035 Komplementär- und integrativmedizinische Forschungsprojekte

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1037

Die universitäre Entwicklung von Naturheilkunde und Komplementärmedizin im deutschsprachigen Raum Rainer Stange 40.1

Einführung – 1038

40.2

Frühe Entwicklungen im deutschsprachigen Raum – 1039

40.2.1 40.2.2 40.2.3

 ien ab Ende des 19. Jahrhunderts – 1039 W Berlin im 20. Jahrhundert – 1041 Jena – 1043

40.3

Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg – 1043

40.3.1 40.3.2 40.3.3 40.3.4 40.3.5 40.3.6

 erlin – 1043 B Zürich – 1044 Bern – 1044 Rostock – 1045 München – 1045 Essen – 1046

40.4

Bedingungen in der Lehre in Deutschland – 1046

40.5

 epräsentation in übergeordneten akademischen R Gremien – 1047 Literatur – 1047

Weite Teile dieses Textes beruhen auf dem Aufsatz des Autors Die Akademisierung von Naturheilkunde und Komplementärmedizin im deutschsprachigen Raum (Stange 2013). Diese wurden aktualisiert und um österreichische Aspekte erweitert. Wir danken dem Verlag S. Karger GmbH, Freiburg, für die freundliche Nachdruckgenehmigung. Für wichtige Anregungen und Informationen zu den Entwicklungen in Wien ab Ende des 19. Jahrhunderts sei Frau Dr. Roswitha Bergsmann, Wien, gedankt. Bei folgenden Abschnitten haben Kolleginnen und Kollegen mit wertvollen Informationen und kritischem Gegenlesen entscheidend mitgewirkt: Jena: Daniel Jung; Bern: Brigitte Ausfeld-Hafter; Rostock: Karin Kraft; München: Dieter Melchart. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_40

40

1038

R. Stange

40.1  Einführung

40

Naturheilverfahren und später Komplementärmedizin wurden lange Zeit in Abgrenzung zu universitärer Medizin gesehen. Seit gut zwei Dekaden lässt sich jedoch ihre Akademisierung u.  a. im deutschsprachigen Raum beobachten, was die Frage nach den spezifischen Bedingungen dieses Prozesses aufwirft. Erstmalig hat vermutlich der homöopathische Arzt Franz Fischer aus Weingarten in der Laienzeitschrift Homöopathische Monatsblätter in den 1870er-Jahren den Begriff „Schulmedizin“ in einem eher polemisch intendierten Schlagabtausch mit der konventionellen Medizin gebraucht (Jütte 1996). Diese Debatte und ihre Schlüsselbegriffe schwappten jedoch bald auch auf die naturheilkundliche und ab etwa den 1980er-Jahren auf die dann sog. komplementärmedizinische Diskussion über und haben sie bis in die Gegenwart geprägt. Diese Auseinandersetzung war von vornherein von wechselseitigen Missverständnissen geprägt. Eine „Schulmedizin“ bedarf notwendigerweise einer Schule. Darunter verstand man schon sehr früh ausschließlich universitäre Einrichtungen, damals also v.  a. Lehrstühle und deren Inhaber, die an ihre Persönlichkeiten gebundene Schulen prägten und sich unterein­ ander heftig befehden konnten. Dieser Disput akademischer Schulen war im 19. Jahrhundert völlig probat und konnte in einzelnen Aspekten in einen Konsens münden. Somit entsprach zumindest damals das von Fischer gebrauchte Bild nur einer einzigen – wie auch immer definierten – Schule nicht der Realität. Auf der anderen Seite standen ärztliche Gruppierungen, insbesondere Homöopathen und Naturheilkundler mit einer großen Nähe zur Volksmedizin oder quasimedizinisch auftretenden Laientherapeuten wie Vincenz Prießnitz und Sebastian Kneipp, die sich zumindest einen Teil ihrer ärztlichen Weisheit über andere Wissenskanäle beschafft hatten. Auch unter diesen gab es selbstverständlich wiederum Schulen, wenn es etwa in der Naturheilkunde darum ging, Arzneimittel zuzulassen oder nicht, was aber in der Auseinan-

dersetzung mit dem „gemeinsamen Gegner“ meist geflissentlich übersehen wurde. Diese zunächst unübersichtliche Polarisierung wurde später dahingehend vereinfacht, dass als „Schulmedizin“ jegliche universitäre, inhaltlich eine eher deduktiv-experimentell arbeitende und eher naturwissenschaftlich denkende und patientenferne Medizin bezeichnet wurde. Umgekehrt ist zu beobachten, dass auch Stiftungsprofessuren, wie sie in den letzten 20 Jahren an verschiedenen deutschsprachigen medizinischen Fakultäten eingerichtet wurden (7 Abschn. 40.3), häufig als „Lehrstühle“ bezeichnet werden, offenbar um ihre akademische Position aufzuwerten. Dieser Terminus ist im deutschen Hochschulrecht bzw. in den entsprechenden Vergütungsregelungen mittlerweile nicht mehr üblich, bezeichnete früher jedoch üblicherweise die Einrichtung einer ordentlichen Lebenszeitprofessur mit allen akademischen Rechten. In der moderneren Debatte hat Malte Bühring (1997) wiederholt darauf hingewiesen, dass vonseiten der Naturheilkunde wie der Homöopathie von Anfang an untergründig auch ein Ambivalenzkonflikt vorlag. Die ­Kritiker hätten sich nicht an der Existenz von Schulen generell und ihren Repräsentanten gestoßen, die die Meinungsbildung, etwa der Medizinstudenten an ihrer jeweiligen Fakultät, quasi monopolartig beherrschten, sondern indirekt v. a. die Nichtberücksichtigung ihrer eigenen Positionen beklagt. Er ging so weit, den „unkonventionellen medizinischen Richtungen“ eine Art Neid auf die „Schulmedizin“ zu unterstellen bzw. den Auftrag mitzugeben, aus einer Vielzahl von sich teilweise widersprechenden Ansätzen selbst Schule zu werden. Bis heute bleibt allerdings unklar, was die jeweilige „Unkonventionalität“ bzw. „Komplementarität“ überhaupt ausmacht. In seiner erstmalig 1993 benutzten, ebenso pragmatischen wie langlebigen Definition verstand der US-Forscher David Eisenberg darunter Therapierichtungen, die nicht an den US-­ medizinischen Fakultäten gelehrt wurden (Eisenberg et al. 1993). Dieser Definition konnte aufgrund der beginnenden akademischen Anerkennung der Komplementärmedizin allenfalls für eine Dekade Gültigkeit zugesprochen  

40

1039 Die universitäre Entwicklung im deutschsprachigen Raum

werden. Auch der jüngst veröffentlichte Konsensus des von 2009–2012 mit EU-Mitteln geförderten Projektes CAMbrella zur Definition der Komplementärmedizin muss nach gründlicher Sichtung der Literatur, mehreren Arbeitskonferenzen und bei dem Versuch einer eigenen, letztlich äußerst liberal gefassten Definition für Komplementärmedizin konstatieren:

»» „The plethora of terms and the lack of con-

sensus about definitions can have negative implications for research and clinical practice.“ (Die Fülle der Begriffe und der mangelnde Konsens über Definitionen können negative Implikationen für Forschung und klinische Praxis haben) (Falkenberg et al. 2012; Übersetzung R. Stange)

40.2  Frühe Entwicklungen im

deutschsprachigen Raum

40.2.1  Wien ab Ende des

19. Jahrhunderts

Unter den heute als Naturheilverfahren angesprochenen Verfahren sollte die zuvor als „Wasserpanscherei“ belächelte Hydrotherapie den akademischen Durchbruch bewirken. Die erste und wichtigste Persönlichkeit bei der akademischen Entwicklung der Hydrotherapie, ja der Naturheilkunde überhaupt, trat gegen Ende des 19.  Jahrhunderts in Österreich auf. Wilhelm von Winternitz (1834 Josephstadt, Böhmen, heute Tschechische Republik – 1917 Wien) hatte Medizin in Prag und Wien studiert, wo er Schüler von Johann von Oppolzer, Josef von Škoda und den anderen Wiener medizinischen Größen dieser Zeit war. Im Jahr 1857 wurde er zum Dr. med. promoviert und habilitierte sich 1865 als Dozent für Hydrotherapie mit der Abhandlung Zur rationellen Begründung einiger hydrotherapeutischen Prozeduren  – ein völlig neues akademisches Fachgebiet. Wohl auch wegen fehlender Anerkennung habilitierte er sich im Jahr 1874 zusätzlich im Fachbereich innere Medizin. 1881 wurde er

zum außerordentlichen Professor berufen, 1899 zum ersten Leiter der hydrotherapeutischen Klinik in der Allgemeinen Poliklinik in Wien, und er erhielt den ersten Lehrstuhl für Hydriatik/Hydrotherapie vermutlich weltweit, in jedem Fall aber an einer deutschsprachigen Universität (7 https://www.­wien.­gv.­at/ wiki/index.­php/Wilhelm_Winternitz; 7 http://  



www.­springermedizin.­at/artikel/6214-die-wasserdoktoren-der-arzt-als-droge-altes-medizinisches-wien-52. Zugegriffen am 10.03.2018).

Wegen der Nähe von Prag und Wien zu Schlesien lag ein Lehraufenthalt im Sanatorium in Gräfenberg/Oberschlesien beim Nachfolger Schindler des berühmten Laientherapeuten Vincenz Prießnitz (1799–1851) nahe, der seine spätere Praxis prägte. Bereits damals lieferte er die umfassende und dauerhafte Definition der Hydrotherapie als

»» „… die methodische innere und äußere

Anwendung des Wassers in den verschiedenen Temperaturen und allen Aggregatformen.“ (Averbeck 2012)

Er erweiterte das hydropathische Kaltwasserkurverfahren zur modernen Hydrotherapie und übte als erster eine umfangreiche wissenschaftliche Publikationstätigkeit aus, etwa mit zwei Bänden Vorlesungen über Hydrotherapie (1877– 1880), zahlreichen Monographien und Handbuchbeiträgen und der Herausgeberschaft der ab 1891 monatlich erscheinenden Blätter für klinische Hydrotherapie und verwandte Heilmethoden (1910 umbenannt in Blätter für klinische Hydrotherapie und physikalische Heilmethoden). Sein 1877 veröffentlichtes Buch Die Hydrotherapie auf physiologischer und klinischer Grundlage fand weltweite Verbreitung. Vor seiner akademischen Karriere hatte er 1865  in Kaltenleutgeben bei Wien die zweite dortige Kaltwasser-Heilanstalt und spätere Wasserheilanstalt Professor Winternitz gegründet – ein sog. Heilbad, das er auch besaß und das den kleinen Ort zu einem der mondänsten Kurorte der Welt machte. Die Kaltwasser-­ Heilanstalt bestand nach seinem Tod noch bis 1938. Winternitz war eine weithin anerkannte Arztpersönlichkeit, u. a. Hofrat, Träger mehre-

1040

R. Stange

rer Orden und Vorsitzender der Ärzte Wiens, und weit entfernt vom Ringen um Anerkennung. Sein Nachfolger wurde Alois Strasser (1867 Budapest  – 1945 Wien), der ab 1893 als sein Schüler Assistenzarzt an der 2.  Abteilung der Allgemeinen Poliklinik in Wien sowie an der Kaltwasserabteilung in Kaltenleutgeben arbeitete. 1897 habilitierte er sich über innere Medizin an der Universität Wien, 1898 wechselte er als Privatdozent für innere Medizin an die Universität Budapest. Später übernahm er die Nachfolge von Winternitz, sowohl als Abteilungsleiter der Allgemeinen Poliklinik in Wien als auch in der Kaltwasser-Heilanstalt Kaltenleutgeben. 1938 wurde er aus „rassischen“ Gründen „bis auf Weiteres beurlaubt“ (7 https://www.­wien.­gv.­at/ wiki/index.­php/Alois_Stacher. Zugegriffen am 10.03.2018). Damit endeten knapp 4  Jahrzehnte Forschung, Lehre und Therapie mit Hydrotherapie als der damaligen Leitdisziplin der Naturheilverfahren. Darüber hinaus brachte die Wiener Medizinische Fakultät einzelne Persönlichkeiten hervor, die auch zu unkonventionellen Fragestellungen Forschung und Lehre betrieben, ohne dass dies in spezialisierten Einrichtungen der Universität gemündet wäre. Der Pathologe Carl Freiherr von Rokitansky (tschechisch: Karel Rokytanský, 1804 Königgrätz, Böhmen  – 1878 Wien) erhielt 1844 den ersten Lehrstuhl für Pathologische Anatomie an der Universität Wien. Obwohl er grundsätzlich Zeit seiner wissenschaftlichen Karriere auf dem damaligen Verständnis einer naturwissenschaftlich verstandenen Medizin aufbaute und etwa das Wiener Pendant zu Rudolf Virchow darstellte, versuchte er ab 1846 die Krasenlehre als eine damalige Interpretation der Humoralpathologie wissenschaftlich zu untermauern. Der Internist Hans Eppinger (1879 Prag  – 1946 Wien) führte Rokitanskys Arbeiten als Versuch einer Synthese zwischen Humoral- und Zellularpathologie weiter. Er widmete sich als erster der Beziehung Blut-­Kapillarwand-­InterstitiumZelle-Lymphbahn und entwickelte seine Per 

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meabilitätstheorie, in der die Interzellularsubstanz die wichtige Transitstrecke für die Zellmetaboliten wird. Auch darauf aufbauend legte der Ordinarius für Histologie und Embryologie der Universität Wien Alfred Pischinger (1899 Linz  – 1983 Wien), der sich in seiner aktiven Karriere sehr erfolgreich mit histologischen Färbemethoden beschäftigt hatte, 1975 als Emeritus erstmals seine Erkenntnisse über das „System der Grundregulation“ vor. Damit beschrieb er eine Matrix, auf der sich die Wechselwirkungen im menschlichen Organismus abspielen sollen. Dieses größte, den Organismus ganzheitlich durchziehende System sei Basis aller Lebensfunktionen und bilde die anatomische Grundlage für die Entstehung von akuten und chronischen Erkrankungen bis hin zum Krebsgeschehen. Damit legte er die Grundlage für das spätere sog. Wiener Team, das sich konstituierte, um am Konzept des Grundsystems weiterzuarbeiten. Dazu gehörten neben anderen 55 Johannes Bischko, der als Chirurg der Akupunktur in Österreich zum Durchbruch verholfen hatte, u. a. als Gründer der Österreichischen Gesellschaft für Akupunktur und des Ludwig-Boltzmann-­ Instituts für Akupunktur, 55 Alois Stacher (s. unten), 55 Mathias Dorcsi (1923 Wien – 2001 München), der als Leiter des Instituts für Physikalische Medizin im Krankenhaus Lainz wesentlich die Homöopathie in Österreich eingeführt hatte, 55 Franz Hopfer, Zahnarzt aus Wien und einer der großen Neuraltherapeuten, 55 Hartmut Heine (1941 Herrsching, Deutschland – 2016). Heine stieß 1991 zum Wiener Team, und es entwickelte sich eine sehr enge, fruchtbringende Zusammenarbeit und Freundschaft. Als Anatom in Deutschland (1976 Universität Würzburg, ab 1982 Universität Witten-­ Herdecke) arbeitete er bereits an seinem System der Grundregulation und überarbeitete dabei Pischingers Grundsystem, u. a mit neuen

1041 Die universitäre Entwicklung im deutschsprachigen Raum

Darstellungsmethoden der Ultrastruktur der Zelle, und er gab ein Lehrbuch der Biologischen Medizin heraus. >> Immer versuchte das Wiener Team, eine Brücke zur konventionellen Medizin zu schlagen und die genannten Methoden als Regulations- bzw. Ganzheitsmedizin zu erklären und zu etablieren.

Unabhängig von dieser Linie entwickelte der Gynäkologe und Physiologe Bernhard Aschner (1883 Wien  – 1960 New  York) eine moderne Sichtweise der Humoralpathologie als Grundlage für seine „ausleitenden Verfahren“. Er musste, da jüdischer Abstammung, nach Amerika auswandern, und arbeitete dort weiter als einer der wenigen Europäer, die in den USA erfolgreich Ansätze aus ihrem Verständnis von Naturheilkunde und traditioneller Medizin praktizieren und weitergeben konnten. Der Hämatologe und Onkologe Alois Stacher (1925 Wien – 2013 Wien) gründete 1988 außerhalb der Universität die Wiener Internationale Akademie für Ganzheitsmedizin (GAMED) und war bis 2003 ihr Leiter. Als einer der wenigen akademisch engagierten Persönlichkeiten in Naturheilkunde und Komplementärmedizin konnte er zu diesem Zeitpunkt auf eine lange und sehr erfolgreiche Karriere in konventioneller Medizin und in Gesundheitspolitik zurückblicken und setzte sich mit seinem unumstrittenen Ruf für neue Fragestellungen in der Medizin ein: als Hämatologe hatte er 1968 das Ludwig-Boltzmann-­Institut für Leukämieforschung und Hämatologie gegründet und bis 1994 geleitet. 1974 wurde er zum Universitätsprofessor ernannt und 1976 zum Vorstand der Dritten Medizinischen Abteilung des Hanusch-­ Krankenhauses, eines hämatologisch-­onkologischen Zentrums. Politisch war Stacher von November 1973 bis Dezember 1989 als Amtsführender Stadtrat für Gesundheit und Soziales bzw. für Gesundheit und Spitalswesen der Wiener Stadtregierung aktiv. Als Leiter von GAMED folgte ihm Wolfgang Marktl (geb. 1944 in Waiern/Kärnten), der an der Medizinischen Fakultät der Universität

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Wien als außerordentlicher Professor Leiter der Abteilung Umweltphysiologie und Balneologie tätig war (7 http://www.­springermedizin.­at/  

artikel/6214-die-wasserdoktoren-­d er-arzt-alsdroge-altes-medizinisches-­wien-52. Zugegrif-

fen am 10.03.2018). Trotz der akademischen Leitung und des Titels „Akademie“ gelingt es der inzwischen auch sehr breit komplementärmedizinisch engagierten GAMED nicht mehr, an die frühere akademische Tradition an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien anzuknüpfen, insbesondere mangels eigener Forschungsmöglichkeiten. 40.2.2

Berlin im 20. Jahrhundert

Die Charité  – Medizinische Fakultät der Hum­ boldt-­Universität zu Berlin befand sich damals in harter Konkurrenz zur Wiener Medizinischen Fakultät als führendem Meinungsbildner in Europa, wenn nicht weltweit, und dort wurde die Entwicklung um die Hydrotherapie genau beobachtet. Auch auf Initiative von Emil von Leyden, der damals die internistischen Kliniken der Charité dominierte und in weiten Kreisen hoch angesehen war, wurde 1899 eine Professur für „Allgemeine Therapie“ mit durchaus schon unkonventionellen Inhalten eingerichtet. Die Professur wurde mit dem bis dahin in der konventionellen Medizin, insbesondere der Infektiologie, sehr renommierten Ludwig Brieger (1849 Glatz – 1919 Berlin), auf den u. a. die Begriffsbildung „Toxin“ zurückgeht, besetzt, 1901 in „Hydrotherapie“ umbenannt und in nur wenigen Monaten mit entsprechenden baulichen und apparativen Maßnahmen ausgestattet. Brieger war zuvor zur Hospitation nach Wien geschickt worden, um die ihm noch nicht vertraute Hydrotherapie bei Winternitz zu erlernen. Die durch Otto von Bismarck 1884 aus Dankbarkeit für seine eigene Genesung gegen den Willen der Fakultät erzwungene Berufung seines bis dahin akademisch nicht exponierten Leibarztes Ernst Schweninger (1850 Freystadt – 1924 München) auf den nächsten freiwerdenden Lehrstuhl, in diesem Fall für Dermatologie, wird üblicherweise nicht der akademischen

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Naturheilkunde zugerechnet. Zunächst hatte Schweninger keinen expliziten fachlichen Auftrag erhalten und wollte diese Position auch nur bedingt ausfüllen. Angesichts vieler Anfeindungen und weiterer Aktivitäten zog er sich allmählich aus der Fakultät zurück, um bereits nach 8 Jahren die akademische Laufbahn völlig aufzugeben. Ab 1900 konnte er die Leitung des Kreiskrankenhauses in Berlin Groß-Lichterfelde übernehmen, um es bis zu seiner Rückkehr nach München 1906 zum ersten deutschen Naturheilkrankenhaus zu gestalten. Aus einem Erlass des preußischen Kultusministers aus dem Jahr 1919 ergaben sich später weitere Impulse für diese äußerst rasche Entwicklung. Die Verordnung sah vor, an den medizinischen Fakultäten des Landes Institutionen für „Physikalisch-diätetische Therapie“ einzurichten. Damit waren wichtige Bestandteile damaliger naturheilkundlicher Thematik in den universitären Lehr- und Forschungsinhalten vertreten, wenngleich als personelle Realisierung insbesondere Vertreter der damals aufkeimenden, kompromisslos akademisch orientierten physikalischen Medizin infrage kamen, die den sonstigen naturheilkundlichen Ansätzen wie etwa der Phytotherapie kein Interesse entgegenbrachten. Die Berliner Professur für Hydrotherapie sollte das Rückgrat der akademischen Naturheilkunde in Deutschland bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg werden. Sie wurde später unter Arnold Schönenberger (1865–1933, Professur 1920–1933) in „Natürliche Heil- und Lebensweise“ umbenannt. Die zugehörige Poliklinik erfreute sich in der Bevölkerung großer Beliebtheit und betrieb mit Zirkeln niedergelassener Ärzte im Rahmen kooperativer Versorgungsmodelle eine Art Netzwerk. Nach einem wechselvollen, auch politisch bedingten Interregnum erreichte die Professur trotz schwerster äußerer Bedingungen unter dem brillanten Paul Vogler (1899–1969, Professur 1941–1964) ihre Blütezeit. Später integrierten Herbert Krauß (1909–1991, Professur 1966– 1972) und sein Nachfolger Eberhard Conradi (1932–2015, Professur 1982–1995) die alten

Ideen in ein neu geschaffenes akademisches Fachgebiet „Physiotherapie“  – auch um sie unter dem DDR-Zeitgeist erhalten zu können. Völlig unabhängig von akademischen Motiven forderte der Deutsche Naturheilbund (1889 unter dem Namen „Deutscher Bund der Vereine für Gesundheitspflege und arzneilose Heilweise“ als Dachverband der nationalen Laienbewegung gegründet) seit Anfang der 1920er-Jahre die Errichtung einer naturheilkundlichen Klinik mit breitem Therapie- und Indikationsspektrum. Dieses Vorhaben gelang gegen viele Widerstände mit der Errichtung des Prießnitz-Hauses in Mahlow am Südrand Berlins, das nach völlig neuen Gesichtspunkten gebaut und 1927 eröffnet wurde. Verabredet war eine enge Zusammenarbeit mit der akademischen Einrichtung an der Charité. Nahezu sämtliche, bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wichtigen ärztlichen Persönlichkeiten der deutschen Naturheilkunde waren zumindest kurzzeitig im Prießnitz-Haus aktiv, insbesondere Alfred Karl Brauchle (1898– 1964) und Herbert Krauß (s. oben). Berlin stellte somit in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg ein Zentrum der Naturheilkunde mit enger Verflechtung von Forschung, Lehre und Krankenversorgung dar. 40.2.3

Jena

Die Besetzung der von der Fakultät bereits 1922 ausgeschriebenen Professur für Naturheilkunde entwickelte sich zu einem Politikum, da einerseits die Professorenschaft dem Projekt sehr kritisch gegenüberstand, andererseits die Besetzung auch zu einer ideologischen Debatte führte. Der für diese Professur am ehesten geeignete Emil Klein (1873–1950) wurde bereits damals wegen seines jüdischen Hintergrunds von den nationalistisch orientierten Kräften abgelehnt, andererseits lag die Errichtung der Professur durchaus in ihrem Interesse. Die Fakultät präsentierte daraufhin Julius Grober, der sich allerdings bis dahin nicht mit Naturheilkunde beschäftigt hatte,

1043 Die universitäre Entwicklung im deutschsprachigen Raum

als den bestqualifizierten Kandidaten. Der Streit konnte nur dadurch beigelegt werden, dass der damalige Kultusminister der thüringischen Staatsregierung in relativ autoritärer Manier Emil Klein auf diesen Lehrstuhl berief. Leider reduzierte sich die Personaldebatte auf die damals verbreitete allgemeine Auseinandersetzung zwischen Naturheilkunde und „Schulmedizin“ und wurde teilweise auf einem bescheidenen intellektuellen Niveau ausgetragen; das sollte den Lehrstuhl während der Dauer seines Bestehens negativ überschatten (Jung 1996). 40.3  Entwicklungen nach dem

Zweiten Weltkrieg

40.3.1  Berlin

Der Internist Malte Bühring (1939 Berlin  – 2014 Berlin) konnte im Oktober 1989, wenige Wochen vor der „Wende“, am damaligen Klinikum Steglitz der Freien Universität (später Universitätsklinikum Benjamin Franklin bzw. heute Charité Campus Benjamin Franklin) die erste Professur für Naturheilkunde im deutschsprachigen Raum nach dem Zweiten Weltkrieg antreten. Bühring betonte von Anfang an, dass die akademische Weiterentwicklung der Naturheilkunde nicht aus einer Professur, sondern nur im kollegialen Austausch mehrerer Professuren erfolgen könne. Die geplante Einrichtung einer zusätzlichen Stiftungsprofessur für Phytotherapie an seinem Lehrstuhl, deren Finanzierung über zunächst 5  Jahre durch die Karl-und-Veronica-Carstens-Stiftung gesichert war, scheiterte an unterschiedlichen Präferenzen des Stifters, des Lehrstuhlinhabers und der in der Kommission tätigen Fakultätsvertreter bezüglich der drei engeren Bewerber und der von ihnen vertretenen Therapien, nämlich Homöopathie und Phytotherapie  – letztere in ihrer ganzen Breite und im Sinne „rationaler“ Phytotherapie (ein Begriff, dessen heute spezifischer Gebrauch damals allerdings noch nicht üblich war).

40

In seinen zahlreichen Veröffentlichungen und mehr noch in seinen Vorträgen vertrat Bühring aber auch vehement die Auffassung, dass sich die Naturheilkunde trotz ihres immensen Nachholbedarfs in Bezug auf ihre klinische Erforschung nicht völlig „versachlichen“ lassen solle. Er betonte stets die Bedeutung der Empathie des Arztes, den legitimen Stellenwert „vorwissenschaftlicher“ Identifizierung des Patienten, insbesondere seiner sinnlichen Wahrnehmung der Heilmittel wie des Wassers, sowie die Einflechtung der medizinischen Theorie und Praxis in eine größere, geistig-kulturelle Atmosphäre aus Literatur, Kunst, Musik, Menschenbildern und ­Philosophie. Letzteres blieb im klinischen Alltag zwar eine Utopie, wurde aber ansatzweise im damaligen Lehrangebot in den 1990er-Jahren realisiert  – neben einer klinischen Vorlesung mit Patientendemonstrationen, Phyto- und Ernährungstherapie, Eurythmie, Homöopathie und Stimmbildung. Höhepunkte waren klinische Konferenzen zu Patientenverläufen mit ausgewiesenen Experten der klassischen Naturheilverfahren, der anthroposophischen Medizin, der Homöopathie sowie der Neuraltherapie. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen ließ sich mit Beteiligung weiterer naturheilkundlicher Professoren wie Reinhard Saller in Zürich und Karin Kraft in Rostock sowie großzügiger Unterstützung durch die Erich-Rothenfußer-Stiftung und die Eden-­Stiftung in den Jahren 1998–2008  in Überlingen am Bodensee eine Summer School durchführen, in der Medizinstudenten aus ganz Deutschland in einem Kompaktseminar die Möglichkeit wissenschaftlicher Durchdringung und der Selbsterfahrung wichtigster Naturheilverfahren geboten wurde. Als wichtigste publizistische Aktivität gab Bühring zusammen mit dem Nestor der Phytotherapie, Hugo Kempter, über viele Jahre eine regelmäßig aktualisierte Loseblattsammlung zu sämtlichen Aspekten von Naturheilkunde und unkonventionellen Verfahren he­ raus (Bühring 1993).

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Nach Bührings Ausscheiden 2003 konnten an der Charité  –  Universitätsmedizin Berlin erst 2009 nach mehrjähriger Pause zwei Stiftungsprofessuren für Naturheilkunde infolge einer gemeinsamen Ausschreibung besetzt werden: die eine für Forschung in der Naturheilkunde mit Benno Brinkhaus (geb. 1964), auch „Kneipp-Professur“ genannt, da der Kneipp-Bund ein Gremium von sechs Stiftern anführt; die andere für Klinische Naturheilkunde mit Andreas Michalsen (geb. 1962), die als einzige Professur mit einer bettenführenden Abteilung, darüber hinaus einer Tagesklinik und einer Hochschulambulanz im Immanuel-Krankenhaus in Berlin als alleinigem Stifter verbunden ist. Bereits zuvor war auf Initiative der Karl-und-Veronica-Carstens-Stiftung von 2008–2013 eine Professur für Komplementärmedizin mit Claudia Witt (7 Abschn.  40.3.2) besetzt worden, die sich besonders der Akupunktur und der Homöopathie widmete.  

40.3.2

40

Zürich

In Zürich hatten sich die Regierung und später auch die Fakultät auf Druck der Bevölkerung und nach einem Experten-Hearing 1990 für die Ausschreibung einer ordentlichen Professur für Naturheilkunde ausgesprochen. Die Medizinische Fakultät der Universität Zürich hatte hierfür 50  Bewerbungen erhalten. Am 1. Mai 1994 trat Reinhard Saller, der wie Bühring über viele Jahre an der Medizinischen Fakultät der JohannWolfgang-Goethe-­Universität in Frankfurt/ Main Schüler von Karl Pirlet gewesen war, diese Professur an. Neben Grundlagenforschung, dem Schwerpunkt Phytotherapie und der Lehre stand die ambulante Betreuung von Patienten im Vordergrund, die zunehmend auch in Form von Konsiliartätigkeiten innerhalb der Medizinischen Fakultät stattfand. Seine Nachfolge als derzeit einzige deutschsprachige ordentliche Lebenszeitprofessur aus Erstmitteln wurde 2012

ausgeschrieben und ab dem Wintersemester 2014/2015 mit Claudia Witt aus Berlin (7 Abschn. 40.3.1) besetzt.  

40.3.3

Bern

Ebenfalls auf eine Initiative aus der Bevölkerung aus dem Jahr 1992 wurde an der Medizinischen Fakultät der Universität Bern am 1.  Juni 1995 die Kollegiale Instanz für Komplementärmedizin (KIKOM) als Lehrstuhläquivalent besetzt. Diese besteht aus 4  Dozenten, die bewusst keine Naturheilkunde, sondern jeweils eine komplementärmedizinische Richtung im engeren Sinne vertreten. Als Gründungsdozenten konnten für traditionelle Chinesische Medizin (TCM/Akupunktur) Brigitte Ausfeld-Hafter, für anthroposophische ­Medizin Peter Heusser, für klassische Homöopathie André Thurneysen und für Neuraltherapie Andreas Beck mit einem Beschäftigungsverhältnis von jeweils 25  % im Rang einer außerordentlichen Professur gewonnen werden; jeder der Dozenten wurde durch einen wissenschaftlichen Mitarbeiter auf einer 50  %-Stelle unterstützt. Zusammen mit zwei in Vollzeit beschäftigten Sekretariatskräften handelte sich damit um die am besten ausgestattete Professur aus Erstmitteln. Von Anfang an war eine Tätigkeit in den jeweils eigenen Praxen auch aus Gründen der Aus-, Weiterbildungs- und Forschungstätigkeit erwünscht. Die KIKOM ist mit den Aufgaben Lehre, Forschung sowie Dienstleistungen beauftragt. Die TCM/Akupunktur ist, ebenso wie alle anderen komplementärmedizinischen Richtungen der KIKOM, im Bereich der Lehre in das für Studierende fakultative Curriculum des 1.–3. und 5.  Studienjahres aufgenommen worden und kann für einen Monat im Wahlstudienjahr belegt werden. Seit 1998 erscheint jährlich die Ringvorlesung Komplementäre Medizin im interdisziplinären Diskurs in Buchform. Forschungsarbeiten entstanden überwiegend in Zusammenarbeit mit anderen Instituten des universitären Inselspitals. Als bislang einzige

1045 Die universitäre Entwicklung im deutschsprachigen Raum

Institution ist die KIKOM durch Lehre und Promotionen einerseits in das Medizinstudium integriert und bietet andererseits auch Bachelor- und Master-Abschlüsse an. Die KIKOM hat sich im Projekt Evaluation Komplementärmedizin (PEK) engagiert, woraus mehrere Artikel in wissenschaftlichen Fachzeitschriften resultierten. Mittlerweile sind die ersten Dozenten komplett aus der KIKOM ausgeschieden, und das Institut wurde in Institut für Komplementärmedizin (IKOM) umbenannt. Derzeit sind dort Ursula Wolf (anthroposophische Medizin), Johannes Fleckenstein (TCM/Akupunktur), Lorenz Fischer (Neuraltherapie) und Martin Frei-Erb (klassische Homöopathie) beschäftigt (IKOM: 7 http://www.ikom.unibe.ch/. Zugegriffen am 10.03.2018).

40

fahren im Rostocker Klinikum. Gemäß Stiftervertrag muss die Professur alle 5 Jahre neu ausgeschrieben werden. Karin Kraft wurde zweimal für weitere 5  Jahre bestätigt, zuletzt bis 2017. Die Lehre bildet einen Schwerpunkt ihrer akademischen Tätigkeit. Mit Aufnahme des durch die Approbationsordnung (ÄApprO) neu geschaffenen Querschnittsbereichs 12 (7 Abschn.  40.4). Seit dem Sommersemester 2003 hält sie Vorlesungen zu diesem Bereich. Einzig in Rostock ist auch wegen der Vernetzung der Rehabilitationsmedizin mit einer Professur für Naturheilkunde der gesamte Querschnittsbereich „Rehabilitation, Physikalische Medizin, Naturheilverfahren“ in der Lehre verbunden.  



40.3.4

Rostock

Im Jahr 2000 erfolgte die Ausschreibung einer C4-Stiftungsprofessur für Naturheilkunde an der Medizinischen Fakultät der Universität Rostock, die ab dem 1.  Dezember 2002 mit Karin Kraft besetzt werden konnte. Stifter der ersten Periode waren die Dr. Ebel Fachklinik für Orthopädie, Rheumatologie, Onkologie, Physikalische Medizin und Naturheilverfahren in Bad Doberan sowie die Ärztegesellschaft für Erfahrungsheilkunde e.V. (EHK). Später konnten weitere Rehabilitationsträger gewonnen werden. Die Wahl fiel auf Rostock, weil es die akademische Wirkstätte des Ernährungsforschers und Begründers der „Vollwerternährung“ Werner Kollath gewesen war. Einen Teil seines Erbes verwaltet die EHK treuhänderisch u. a. als Stifter dieser Professur. Ein Novum der stifterischen Verbindung zur Rehabilitationsmedizin war die Maßgabe, eine Abteilung für Naturheilverfahren an der Rehaklinik Moorbad in Bad Doberan aufzubauen, die 2004 als Lehrkrankenhaus für das Wahlfach Naturheilkunde anerkannt wurde. Ab 2005 begann die ambulante Behandlung in einer Hochschulambulanz für Naturheilver-

40.3.5

München

Vor etwa 30 Jahren nahm nach einer zunächst studentischen Initiative unter Federführung von Dieter Melchart das „Münchener Modell“ seine Tätigkeit auf, dass sich der Inte­ gration von Naturheilverfahren und Komplementärmedizin in die universitäre Medizin in Forschung und Lehre widmete. Aus diesem Engagement entstanden ein Modellstudiengang und ein großes Vorlesungsangebot für Naturheilkunde an der Ludwig-Maximilians-­ Universität München sowie ein Netzwerk von Kliniken für Naturheilkunde (Klinikverbund Münchener Modell). Zudem wurden zahlreiche Forschungsarbeiten, u.  a. im Bereich der TCM und zu Amalgamverträglichkeit, durchgeführt. 2010 erfolgte die Umbenennung des Zentrums für naturheilkundliche Forschung (ZnF) am Universitätsklinikum rechts der Isar in das Kompetenzzentrum für Komplementärmedizin und Naturheilkunde (KoKoNat) der Technischen Universität München. Von Anfang 2010 bis Ende 2015 hatte Melchart die erste Stiftungsprofessur für Naturheilkunde und Komplementärmedizin als Extraordinariat an der medizinischen Fakultät der Technischen Hochschule München inne, über den gesamten Zeitraum komplett durch

1046

R. Stange

die Erich-­Rothenfußer-­Stiftung finanziert. Das Extraordinariat wurde mit vier weiteren Planstellen aus dem bayerischen Hochschulhaushalt unterstützt. Schwerpunkte waren moderne Lebensstilmedizin in einem „Befähigungsmodell“ einschließlich der Erforschung seiner quantifizierbaren Beschreibung sowie die Fortentwicklung der Theoriebildung in Selbstheilung und Salutogenese (Kompetenzzentrum für Komplementärmedizin und Naturheilkunde: 7 www.kokonat.med.tum.de. Zugegriffen am 10.03.2018). Melchart baut derzeit ein Netzwerk verschiedener Kurorte auf (Campus IGM [Individuelles Gesundheits-­ Management]). Darüber hinaus nahm seine Abteilung aber auch richtungweisend an den Modellversuchen der Ersatzkassen zur Akupunktur teil.

40.4  Bedingungen in der Lehre

in Deutschland

1992 wurden erstmals Fragen zu Naturheilverfahren in den Katalog des 2.  medizinischen Staatsexamens aufgenommen (Dobos und Michalsen 2002). Im Oktober 2003 trat eine weitgehend reformierte ÄApprO in Kraft. Neu gestaltet war insbesondere die Hierarchie der klinischen Disziplinen in 21  Fächer sowie 12  Querschnittsbereiche im §  27 (Mau et  al. 2004). Die auch schon in früheren Versionen der ÄApprO als prüfungsrelevant genannten Naturheilverfahren wurden nun explizit in den Querschnittsbereich  12 „Rehabilitation, Physikalische Me40.3.6 Essen dizin, Naturheilverfahren“ aufgenommen. Auf Initiative der damaligen Gesundheits- Die Vermittlung soll „themenbezogen, am ministerin in Nordrhein-Westfalen (NRW) Gegenstand ausgerichtet und fächerverbinwurde Mitte der 1990er-Jahre die Einrichtung dend erfolgen“ (§  27; Jütte 1996). Dementzweier klinischer Modellabteilungen an Klini- sprechend müssen die Studierenden seither ken in NRW mit infrastruktureller Förderung Leistungsnachweise erbringen. Die ÄApprO durch das Ministerium ausgeschrieben und regelt allerdings keine Details über die Aufnach Essen und Hattingen vergeben. 1999 er- teilung des Lehrangebots auf die mindestens hielt Gustav Dobos mit seiner Ernennung 868 Pflicht-­S emesterwochenstunden im klizum Chefarzt der neugegründeten Abteilung nischen Studium. Weitere Leistungsnachfür Naturheilkunde und Integrative Medizin weise müssen die Studierenden in einem an den Kliniken Essen-Mitte zunächst einen der 22 Wahlfächer erbringen, darunter auch Lehrauftrag an der Medizinischen Fakultät Naturheilverfahren, Homöopathie, physikader Universität Duisburg-Essen, später stiftete lische Therapie sowie physikalische und redie Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-­ habilitative Medizin. Zweifellos bedeutet die Stiftung für 5 Jahre (2002–2007) eine Professur reformierte ÄApprO eine erhebliche akadefür Naturheilkunde und traditionelle chinesi- mische Aufwertung für die Naturheilverfahsche Medizin. Wesentliche Forschungsschwer- ren. Die Möglichkeiten für Lehraktivitäten punkte waren Fastentherapie, ausleitende wurden sehr unterschiedlich über ProfessuVerfahren sowie die an dieser Klinik erstmals ren, den wissenschaftlichen Mittelbau und in Deutschland eingeführte Mind-Body-­ Lehraufträge geregelt. In keinem Fall jedoch Medizin, der später neben den Lehrveranstal- war die Berücksichtigung der Lehre ein vortungen eine eigene jährliche Summer School dergründiges Motiv für Ausschreibungen gewidmet wurde. Die Abteilung in Hattingen und Besetzungen einer Professur nach 2003. ist seit 2010 über eine außerplanmäßige Pro- Eher haben die Stifter dazu beigetragen, dass fessur ihres Chefarztes Michel-André Beer für an ausgewählten Fakultäten ein entsprechenAllgemeinmedizin und Naturheilkunde an das des Lehrangebot existiert (Stange 2003).  

40

Institut für Allgemeinmedizin der Medizinischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum angebunden.

1047 Die universitäre Entwicklung im deutschsprachigen Raum

40.5  Repräsentation

in übergeordneten akademischen Gremien

Die obersten Gremien für Belange der Universitätsmedizin in Deutschland sind der Medizinische Fakultätentag (MFT) und der Verband der Universitätsklinika Deutschlands e.V. (VUD), die sich zur Deutschen Hochschulmedizin e.V. zusammengeschlossen haben. Jede der 36 medizinischen Fakultäten Deutschlands hat hier eine Stimme. Einige österreichische und schweizerische Fakultäten sind mit dem MFT assoziiert. Aus diesen Gremien sind bislang keine Äußerungen zu Naturheilverfahren oder Komplementärmedizin bekannt geworden. Darüber hinaus ist die Arbeitsgemeinschaft Wissenschaftlich Medizinischer Fachgesellschaften e.V. (AWMF) ein akademischer Meinungsbildner in der Medizin in Deutschland, insbesondere wenn es um die Erstellung von Leitlinien geht. Hier wurde 2014 als bislang einziger Vertreter von Naturheilkunde und Komplementärmedizin die 1971 gegründete Gesellschaft für Phytotherapie e.V. (GPT) aufgenommen. Die Entwicklung der universitären Naturheilkunde in Deutschland war in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts auf die medizinischen Fakultäten der Universitäten Berlin und Jena beschränkt. Erst ab etwa 1990 sind wieder neue Entwicklungen zu verzeichnen, die in Deutschland nur in einem Fall, in der deutschsprachigen Schweiz in zwei Fällen zu Lebenszeitprofessuren aus Erstmitteln führten. In den anderen Fällen ist seit Ende der 1990er-­Jahre eine zunehmende Aktivität von Stiftungen zu verzeichnen. Diese waren in vier Fällen in der Lage, für zunächst 5 Jahre Stiftungsprofessuren zu finanzieren, in zwei Fällen konnte dies nur durch den Zusammenschluss mehrerer Stifter gelingen. Anscheinend lassen sich diese Modelle nicht ausbauen, sondern es muss im Gegenteil damit gerechnet werden, dass sie sich auf Dauer nicht halten lassen. Die in der Schweiz erfolgreiche Strategie, mit der öffentlichen

40

Meinungsbildung politischen Druck auf die Fakultäten auszuüben, erscheint in Deutschland wie in Österreich nicht praktikabel. Bislang noch nicht beforscht und deshalb auch nicht Gegenstand dieses Kapitels sind die Auswirkungen dieser Entwicklungen auf die praktizierte Medizin. zz Disclosure Statement

Der Autor erklärt hiermit, dass keine Interessenskonflikte vorliegen. Zusammenfassung 55 Nachdem Naturheilverfahren und später die Komplementärmedizin lange Zeit in Abgrenzung zu universitärer Medizin gesehen wurden, lässt sich seit gut 20 Jahren ihre Akademisierung u. a. im deutschsprachigen Raum beobachten. 55 Im deutschen Sprachraum gibt es derzeit acht Professuren, die diesen Bereich abdecken. 55 Naturheilkunde und Komplementärmedizin werden in der universitätsmedizinischen Landschaft mittlerweile stark rezipiert, dennoch werden heute die meisten Forschungsaktivitäten von gemeinnützigen Organisationen finanziert.

Literatur Averbeck H (2012) Von der Kaltwasserkur bis zur physikalischen Therapie. Europäischer Hochschulverlag, Bremen, S 290 Bühring M (1993) Loseblattsammlung: Naturheilverfahren und unkonventionelle medizinische Richtungen. Springer, Berlin/Heidelberg/New York Bühring M (1997) Naturheilkunde. C. H. Beck, München, S 136 Dobos G, Michalsen A (2002) Die Naturheilkunde in Forschung und Lehre: neue Perspektiven? Forsch Komplementärmed Klass Naturheilkd 9:136–137 Eisenberg DM, Kessler RC, Foster C et  al (1993) Unconventional medicine in the United States. Prevalence, costs, and patterns of use. N Engl J Med 328:246–252 Falkenberg T, Lewith G, Roberti di Sarsina PR et al (2012) Towards a pan-European definition of complementary and alternative medicine  – a realistic ambition? Forsch Komplementmed 19(Suppl 2):6–8

1048

R. Stange

Jung D (1996) Institutionalisierung und akademische Ausbildung auf dem Gebiet der Naturheilkunde im gesellschaftlichen Wandel. Die Geschichte der Lehrstühle für Naturheilkunde an den Medizinischen Fakultäten Jena (1923–1938) und Berlin (1900–1945). Dissertation, Freie Universität Berlin Jütte R (1996) Geschichte der alternativen Medizin: von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapien von heute. C. H. Beck, München, S 341 Mau W, Gülich M, Gutenbrunner C et al (2004) Lernziele im Querschnittsbereich Rehabilitation, Physikalische Medizin und Naturheilverfahren nach der 9.

40

Revision der Approbationsordnung für Ärzte. Phys Med Rehab Kurort 14:308–318 Stange R (2003) Naturheilverfahren in die Mediziner-­ Ausbildung  – ein Teilerfolg? In: Bühring M, Resch KD, Saller R et al (Hrsg) Naturheilverfahren und Unkonventionelle Medizinische Richtungen. Springer, Berlin/Heidelberg/New York, S 1–3 Stange R (2013) Die Akademisierung von Naturheilkunde und Komplementärmedizin im deut­ schsprachigen Raum. Forsch Komplementmed 20:58–64

1049

Die gesundheitsrechtliche Situation im Bereich der Komplementärmedizin Susanne Weiss 41.1

Österreich – 1050

41.1.1 41.1.2

41.1.6 41.1.7

 esundheitsberufe – 1050 G Berufsrechtliche Grundlagen der ärztlichen Berufsausübung – Ärztegesetz 1998 – 1056 Der Begriff der „Schulmedizin“ – 1059 Der Begriff der Komplementärmedizin in der österreichischen Rechtsordnung – 1061 Ausbildung zum Arzt und ärztliche (Zusatz-)Ausbildungen im Bereich komplementärmedizinischer Methoden – 1068 Komplementärmedizinische Arzneimittel – 1071 Gewerbliche Berufe – „Neue Gesundheitsberufe“ – 1072

41.2

Deutschland – 1079

41.2.1 41.2.2 41.2.3 41.2.4 41.2.5

 istorische Entwicklung – 1079 H Berufsrechtliche Regelungen – 1079 Arzneimittel – 1083 Versicherungsrechtliche Aspekte – 1083 Universitäre Ausbildungseinrichtungen – 1084

41.1.3 41.1.4 41.1.5

41.3

Schweiz – 1085

41.3.1 41.3.2 41.3.3 41.3.4

 istorische Entwicklung – 1085 H Berufsrechtliche Regelungen – 1086 Versicherungsrechtliche Aspekte und Arzneimittel – 1088 Universitäre Ausbildungseinrichtungen – 1089

Literatur – 1090

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_41

41

1050

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S. Weiss

41.1  Österreich 41.1.1  Gesundheitsberufe

»» „Gesundheit ist ein Zustand vollkomme-

nen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht die bloße Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen“

lautet die Definition des Begriffs „Gesundheit“ in der Verfassung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vom 22. Juli 1946.

»» „Daneben finden sich viele weitere Um-

schreibungen der Gesundheit als ,das subjektive Empfinden des Fehlens körperlicher, geistiger und seelischer Störungen oder Veränderungen bzw. ein Zustand, in dem Erkrankungen und pathologische Veränderungen nicht nachgewiesen werden können‘ (Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch) oder ‚Gesundheit bedeutet eine zufrieden stellende Entfaltung von Selbstständigkeit und Wohlbefinden in den Aktivitäten des Lebens‘ (Lay); ‚Gesundheit kann definiert werden als der Zustand optimaler Leistungsfähigkeit eines Individuums für die Erfüllung der Rollen und Aufgaben, für die es sozialisiert worden ist‘ (Parsons); ‚Gesundheit ist das geordnete Zusammenspiel normaler Funktionsabläufe und des normalen Stoffwechsels‘ (Büchner); ‚Gesundheit ist die Fähigkeit, lieben und arbeiten zu können‘ (Freud).“

Gesundheit und Krankheit (be)treffen jeden Menschen, sie beschäftigen ihn lebenslang. Somit ist die Vorbeugung, Behandlung und Heilung von Krankheiten und krankheitswertigen Störungen sowie die Erhaltung der Gesundheit ein zentrales Thema jeder Gesellschaft und findet Eingang in die Rechtsordnungen. Österreich verfügt über eine lange Tradition von gesetzlich detailliert geregelten Gesundheitsberufen. Unter dem Rechtsbegriff „Gesundheitsberuf “ ist ein auf Grundlage des verfassungsrechtlichen Kompetenztatbestands „Gesundheitswesen“ (Art.  10 Abs.  1 Z 12 Bundes-Verfassungsgesetz, BGBl. Nr.  1/1930)

gesetzlich geregelter Beruf zu verstehen, dessen Berufsbild die Umsetzung von Maßnahmen zur Obsorge für den allgemeinen Gesundheitszustand der Bevölkerung umfasst. Darunter sind Tätigkeiten im Rahmen der Gesundheitsversorgung zu verstehen, die unmittelbar am Menschen bzw. unmittelbar oder mittelbar für den Menschen zum Zwecke der Förderung, Erhaltung, Wiederherstellung oder Verbesserung der Gesundheit im ganzheitlichen Sinn und in allen Phasen des Lebens erbracht werden. Der österreichische Gesetzgeber hat für jeden Gesundheitsberuf eine gesetzliche Regelung in Form eines Berufs- und Ausbildungsgesetzes geschaffen, die in der Regel durch Durchführungsverordnungen (insbesondere für die nähere Ausgestaltung der Ausbildung) ergänzt wird. In einigen Fällen wurden auch Gruppen von mehreren Gesundheitsberufen in einem Gesetz zusammengefasst (z. B. Bundesgesetz über die Regelung der gehobenen medizinisch-technischen Dienste, Gesundheits- und Krankenpflegegesetz, Medizinische-­Assistenzberufe-Gesetz). Folgende Gesundheitsberufe sind in Österreich gesetzlich geregelt (. Tab. 41.1): Zahlreiche Gesundheitsberufe sind (teilweise unter Auflagen wie Meldung an die Bezirksverwaltungsbehörde) zur freiberuflichen Berufsausübung berechtigt:  

Freie Gesundheitsberufe 55 55 55 55 55 55 55 55 55

Arzt Zahnarzt Apotheker Tierarzt Gesundheitspsychologe Klinischer Psychologe Psychotherapeut Musiktherapeut Hebamme

Gehobene medizinisch-technische Dienste: 55 Physiotherapeut 55 Biomedizinischer Analytiker 55 Radiologietechnologe 55 Diätologe

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1051 Die gesundheitsrechtliche Situation im Bereich der Komplementärmedizin

55 Ergotherapeut 55 Logopäde 55 Orthoptist

Heilmassage: 55 Heilmasseur

Gehobener Dienst für Gesundheits- und Krankenpflege: 55 Diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger

Eine gesetzliche Interessenvertretung bzw. Kammer, die auch die Berufsliste führt, hat der Gesetzgeber in Österreich nur für einige wenige Gesundheitsberufe normiert (. Tab. 41.2).  

..      Tab. 41.1  Gesetzlich geregelte Gesundheitsberufe (geordnet nach Ausbildungsniveau) Berufsbezeichnung

Gesetz/Verordnung

Arzt

Ärztegesetz 1998 (ÄrzteG 1998), BGBl I Nr. 169/1998 Bundesgesetz über die Durchführung von ästhetischen Behandlungen und Operationen (ÄsthOpG), BGBl. I Nr. 80/2012 Ärztinnen-/Ärzte-Ausbildungsordnung 2015 (ÄAO 2015), BGBl. II Nr. 147/2015 Ärzte-/Ärztinnen-EU-Qualifikationsnachweisverordnung 2014 (Ärzte-/Ärztinnen-EU-VO 2014), BGBl. II Nr. 283/2014 Verordnung der Österreichischen Ärztekammer über Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten in der Ausbildung zur Ärztin für Allgemeinmedizin/ zum Arzt für Allgemeinmedizin und zur Fachärztin/zum Facharzt, sowie über die Ausgestaltung und Form der Rasterzeugnisse, Prüfungszertifikate und Ausbildungsbücher (KEF und RZ-V 2015) Verordnungen der Österreichischen Ärztekammer

Zahnarzt

Zahnärztegesetz (ZÄG), BGBl I Nr. 126/2005 Zahnärztekammergesetz, BGBl. I Nr. 154/2005 Zahnärztekammer-Wahlordnung, BGBl. II Nr. 131/2006 Zahnärzte-EWR-Qualifikationsnachweisverordnung 2008, BGBl. II Nr. 194/2008 Verordnungen der Österreichischen Zahnärztekammer

Apotheker

Apothekengesetz, RGBl Nr. 5/1907 Pharmazeutische Fachkräfteverordnung, BGBl. Nr. 40/1930 Apothekerkammergesetz 2001, BGBl. I Nr. 111/2001 Apothekerkammer-Wahlordnung 2001, BGBl. II Nr. 339/2001 Pharmazeutische Fachkräfteverordnung, BGBl. Nr. 40/1930 (Fortsetzung)

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..      Tab. 41.1 (Fortsetzung) Berufsbezeichnung

Gesetz/Verordnung

Tierarzt

Tierärztegesetz, BGBl Nr. 16/1975 Tierärztekammergesetz, BGBl. I Nr. 86/2012 Tierärztekammer-Wahlordnung, BGBl. II Nr. 420/2012 Tierärzteliste und -ausweis VO, BGBl. II Nr. 421/2012

Gesundheitspsychologe/ Klinischer Psychologe

Psychologengesetz 2013, BGBl. I Nr. 182/2013 EWR-Psychologengesetz, BGBl. I Nr. 113/1999 EWR-Psychologenverordnung, BGBl. II Nr. 408/1999

Psychotherapeut

Psychotherapiegesetz, BGBl Nr. 361/1990 EWR-Psychotherapiegesetz, BGBl. I Nr. 114/1999 EWR-Psychotherapieverordnung BGBl. II Nr. 409/1999

Musiktherapeut

Musiktherapiegesetz (MuthG), BGBl I Nr. 93/2008 Musiktherapie-Ausbildungsverordnung in Vorbereitung

Hebamme

Hebammengesetz (HebG), BGBl Nr. 310/1994 FH-Hebammenausbildungsverordnung, BGBl. II Nr. 1/2006 Hebammen-Ausweisverordnung, BGBl. Nr. 149/1995 Hebammen-Geburtenstatistikverordnung, BGBl. Nr. 981/1994 Hebammen-Gremialwahlordnung, BGBl. Nr. 150/1995 Hebammen-EWR-Qualifikationsnachweis-Verordnung 2008, BGBl. II Nr. 195/2008

Gehobene medizinisch-technische Dienste Physiotherapeutischer Dienst: Physiotherapeut Medizinisch-technischer Laboratoriumsdienst: Biomedizinischer Analytiker Radiologisch-technischer Dienst: Radiologietechnologe Diätdienst und ernährungsmedizinischer Beratungsdienst: Diätologe Ergotherapeutischer Dienst: Ergotherapeut Logopädisch-phoniatrisch-­ audiologischer Dienst: Logopäde Orthoptischer Dienst: Orthoptist

Bundesgesetz über die Regelung der gehobenen medizinisch-technischen Dienste (MTD-Gesetz), BGBl Nr. 460/1992 FH-MTD-Ausbildungsverordnung, BGBl. II Nr. 2/2006 Berufsausweisverordnung für die gehobenen medizinisch-technischen Dienste, BGBl. II Nr. 343/2006

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1053 Die gesundheitsrechtliche Situation im Bereich der Komplementärmedizin

..      Tab. 41.1 (Fortsetzung) Berufsbezeichnung

Gesetz/Verordnung

Gesundheits- und Krankenpflegeberufe: Gehobener Dienst für Gesundheits- und Krankenpflege Diplomierter Gesundheitsund Krankenpfleger

Gesundheits- und Krankenpflegegesetz (GuKG), BGBl I Nr.  108/1997 Gesundheits- und Krankenpflege-Ausbildungsverordnung, BGBl. II Nr. 179/1999 FH-Gesundheits- und Krankenpflege-Ausbildungsverordnung, BGBl. II Nr. 200/2008 Gesundheits- und Krankenpflege-Spezialaufgaben-Verordnung, BGBl. II Nr. 452/2005 Gesundheits- und Krankenpflege-Lehr- und Führungsaufgaben-­ Verordnung, BGBl. II Nr. 453/2005 Gesundheits- und Krankenpflege-Weiterbildungsverordnung, BGBl. II Nr. 453/2006 Gesundheits- und Krankenpflege-Teilzeitausbildungsverordnung, BGBl. II Nr. 455/2006 Gesundheits- und Krankenpflege-Basisversorgungs-Ausbildungs-­ verordnung, BGBl. II Nr. 281/2006 Gesundheits- und Krankenpflege-EWR-Qualifikationsnachweis-Verordnung 2008, BGBl. II Nr. 193/2008 Gesundheits- und Krankenpflege-Ausweisverordnung, BGBl. II Nr. 454/2006

Gesundheits- und Krankenpflegeberufe: Pflegefachassistenz und Pflegeassistenz Pflegefachassistent Pflegeassistent

Gesundheits- und Krankenpflegegesetz (GuKG), BGBl. I Nr. 108/1997 Pflegeassistenzberufe-Ausbildungsverordnung, BGBl. II Nr. 301/2016

Kardiotechnischer Dienst Diplomierter Kardiotechniker

Kardiotechnikergesetz (KTG), BGBl I Nr. 96/1998 Kardiotechniker-Ausbildungsverordnung, BGBl. II Nr. 335/2001

Medizinische Massage und Heilmassage Medizinischer Masseur Heilmasseur

Medizinischer Masseur- und Heilmasseurgesetz (MMHmG), BGBl I Nr. 169/2002 Medizinischer Masseur- und Heilmasseur-Ausbildungsverordnung, BGBl. II Nr. 250/2003 Medizinischer Masseur- und Heilmasseur-Zeugnisverordnung, BGBl. II Nr. 458/2006

Sanitätsdienst Sanitäter: Rettungssanitäter Notfallsanitäter

Sanitätergesetz (SanG), BGBl I Nr. 30/2002 Sanitäter-Ausbildungsverordnung, BGBl. II Nr. 420/2003 Sanitäter-Ausweis- und Fortbildungspass-Verordnung, BGBl. II Nr. 421/2003 (Fortsetzung)

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..      Tab. 41.1 (Fortsetzung) Berufsbezeichnung

Gesetz/Verordnung

Medizinische Assistenzberufe Desinfektionsassistenz Gipsassistenz Laborassistenz Obduktionsassistenz Operationsassistenz Ordinationsassistenz Röntgenassistenz Medizinische Fachassistenz Trainingstherapie durch Sportwissenschaftler

Medizinische Assistenzberufe-Gesetz (MABG), BGBl. I Nr. 89/2012 MAB-Ausbildungsverordnung, BGBl. II Nr. 282/2013 Trainingstherapie-Ausbildungsverordnung, BGBl. II Nr. 460/2012

Zahnärztliche Assistenz und Prophylaxeassistenz Zahnärztlicher Assistent Prophylaxeassistent

Zahnärztegesetz, BGBl. I Nr. 125/2005, in der Fassung BGBl. I Nr. 38/2012 (Zahnärztliche Assistenz-Gesetz) ZASS-Ausbildungsverordnung, BGBl. II Nr. 283/2013

..      Tab. 41.2  Gesundheitsberufe mit gesetzlicher Interessenvertretung (Kammer) Beruf

Vertretung

Arzt

Österreichische Ärztekammer

Zahnarzt

Österreichische Zahnärztekammer

Apotheker

Österreichische Apothekerkammer

Tierarzt

Österreichische Tierärztekammer

Hebamme

Österreichisches Hebammengremium

Ferner gibt es Gesundheitsberufe mit Listenführung durch das Bundesministerium für

Gesundheit und Frauen (BMGF):

Gesundheitsberufe mit Listenführung durch das BMGF 55 55 55 55 55 55

Gesundheitspsychologe Klinischer Psychologe Psychotherapeut Musiktherapeut Kardiotechniker Trainingstherapeut

Durch das Gesundheitsberuferegister-­Gesetz, BGBl. I Nr. 87/2016, das mit dem 01.01.2017 in Kraft getreten ist, wurde ein Berufsregister für die Gesundheits- und Krankenpflegeberufe und die gehobenen medizinisch-­technischen Dienste eingerichtet: Gesundheitsberufe mit Registrierung durch die Gesundheit Österreich GmbH 55 Diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger 55 Pflegefachassistent 55 Pflegeassistent 55 Physiotherapeut 55 Biomedizinischer Analytiker 55 Radiologietechnologe 55 Diätologe 55 Ergotherapeut 55 Logopäde 55 Orthoptist

Die Führung des Gesundheitsberuferegisters obliegt der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG). Registrierungsbehörde und daher zuständig für die Registrierung der Berufs-

1055 Die gesundheitsrechtliche Situation im Bereich der Komplementärmedizin

angehörigen, die Arbeiterkammer-Mitglieder sind, ist die Bundesarbeitskammer (BAK). Für alle anderen Berufsangehörigen (nicht Arbeiterkammer-Mitglieder, Selbstständige) ist die GÖG als Registrierungsbehörde zuständig. Alle anderen Gesundheitsberufe sind derzeit nicht registriert und haben keine gesetzliche Interessenvertretung, abgesehen von der Vertretung durch die Bundesarbeitskammer und den Österreichischen Gewerkschaftsbund Fachgruppenvereinigung für Gesundheitsund Sozialberufe. Bei diesen wird die Berufsvertretung durch private Vereine und Verbände wahrgenommen. Gesundheitsberufe werden vom Gesetzgeber durch diverse Vorbehalte geschützt. Hierzu zählen der Berufs-, der Tätigkeits-, der Bezeichnungs- und der Ausbildungsvorbehalt: Tätigkeitsvorbehalt - Genereller Ausschließlichkeitsanspruch auf die Ausübung von Tätigkeiten, unabhängig davon, ob diese berufsmäßig oder nicht berufsmäßig ausgeübt werden.

Berufsvorbehalt - Ausschließlichkeitsanspruch auf die berufsmäßige Ausübung von Tätigkeiten, der Berufsvorbehalt ist somit ein Teil des Tätigkeitsvorbehalts. Der Schutz der berufsmäßigen Ausübung von Tätigkeiten wird durch die Normierung von Voraussetzungen für die Erlangung der Berufsberechtigung erreicht. Bezeichnungsvorbehalt - Ausschließlichkeitsanspruch auf die Führung von Bezeichnungen im Zusammenhang mit der Ausübung eines Berufs. Ausbildungsvorbehalt - Ausschließlichkeitsanspruch auf das Anbieten und die Durchführung einer Ausbildung zu einem Gesundheitsberuf. Ausbildung in diesem Sinne bezeichnet den geregelten Erwerb der für die Ausübung eines Berufes erforderlichen Kenntnisse, Fertigkeiten, Erfahrungen und Kompetenzen. Ausbildungsvorbehalte sind einerseits in jedem Berufs- und Ausbildungsgesetz der Gesundheitsberufe, andererseits zusätzlich im Ausbildungsvorbehaltsgesetz, BGBl Nr. 378/1996, festgelegt: „Die Ausbildung zu Tätigkeiten, die durch das Ärztegesetz 1998 … (Anm.: hier folgt eine Aufzählung aller Gesetze für Gesundheitsberufe) geregelt sind, obliegt ausschließlich den nach diesen Bundesgesetzen dafür vorgesehenen Einrichtungen. Das Anbieten oder Vermitteln solcher Ausbildungen durch andere Personen oder Einrichtungen ist verboten.“ Ein Zuwiderhandeln ist unter Strafe gestellt.

41

Ausgenommen vom Berufs- bzw. Tätigkeitsvorbehalt der Gesundheitsberufe sind Hilfeleistungen in der Nachbarschafts-, Familienund Haushaltshilfe. Eine weitere Ausnahme stellt die Übertragung ärztlicher oder pflegerischer Tätigkeiten an Laien dar, die jeweils gesondert geregelt ist (vgl. §§ 50a und 50b ÄrzteG 1998, §§ 3b und 3c GuKG). Zum Tätigkeitsvorbehalt der Gesundheitsberufe zählt der Diagnose- und Behandlungsvorbehalt, wonach die Untersuchung auf das Vorliegen einer Krankheit oder krankheitswertigen Störung sowie deren Behandlung v.  a. Ärzten für Allgemeinmedizin und Fachärzten vorbehalten ist. Dieser kommt auch zur Anwendung, wenn die Tätigkeiten mithilfe komplementärmedizinischer oder sonstiger komplementärer Methoden erfolgen. Dieser „Arztvorbehalt“, der dem Schutz der Patienten und der Qualitätssicherung in der Ausübung der Medizin dient, bedeutet auch für den Bereich der Komplementärmedizin einen Ausschließlichkeitsanspruch für Ärzte auf die Ausübung von Tätigkeiten zu Heilzwecken. Die Diagnostik und Behandlung von psychischen Verhaltensstörungen und Leidenszuständen fällt auch in das Berufsbild der Psychotherapeuten, der Klinischen Psychologen und der Gesundheitspsychologen. Die Behandlung von Menschen mit Verhaltensstörungen und Leidenszuständen durch den Einsatz musikalischer Mittel ist Musiktherapeuten vorbehalten. Eine berufsspezifische Diagnosestellung und Behandlung hat der Gesetzgeber daneben für diverse weitere Gesundheitsberufe vorgesehen (z. B. gehobener Dienst für Gesundheits- und Krankenpflege, therapeutisch tätige gehobene medizinisch-­technische Dienste). Alle Maßnahmen zum Zweck der Förderung, Erhaltung, Wiederherstellung oder Verbesserung der Gesundheit im ganzheitlichen Sinn gehören ebenfalls zu den Tätigkeitsbereichen der Gesundheitsberufe. So fällt beispielsweise die „Vorbeugung von Erkrankungen“ gemäß §  2 Abs.  2 Z 5 ÄrzteG 1998 unter die Ausübung des ärztlichen Berufs, Physiotherapeuten obliegt gemäß § 2 Abs. 1 MTD-Gesetz u. a. die „Beratung und Erziehung Gesunder“,

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und der gehobene Dienst für Gesundheitsund Krankenpflege trägt gemäß §  12 Abs.  2 Gesundheits- und Krankenpflegegesetz „auf Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse durch gesundheitsfördernde, präventive, kurative, rehabilitative sowie palliative Kompetenzen zur Förderung und Aufrechterhaltung der Gesundheit, zur Unterstützung des Heilungsprozesses, zur Linderung und Bewältigung von gesundheitlicher Beeinträchtigung sowie zur Aufrechterhaltung der höchstmöglichen Lebensqualität aus pflegerischer Sicht bei“. Gemeinsam sind den Gesundheitsberufen zudem diverse Berufspflichten wie etwa die Fortbildungs-, Dokumentations-, Verschwiegenheits- und Auskunftspflicht. Angehörige der Gesundheitsberufe haben ihren Beruf ohne Unterschied der Person gewissenhaft (nach bestem Wissen und Gewissen) auszuüben. Sie haben das Wohl und die Gesundheit der ihnen anvertrauten Menschen unter Einhaltung der hierfür geltenden Vorschriften und nach Maßgabe der fachlichen und wissenschaftlichen Erkenntnisse und Erfahrungen zu wahren und jede eigenmächtige Heilbehandlung zu unterlassen. Sie haben sich über die neuesten Entwicklungen und Erkenntnisse der berufsrelevanten Wissenschaften regelmäßig fortzubilden. Angehörige der Gesundheitsberufe sind zur Verschwiegenheit über alle ihnen in Ausübung ihres Berufs anvertrauten oder bekannt gewordenen Geheimnisse verpflichtet. Sie haben bei Ausübung ihres Berufs über jede von ihnen gesetzte Maßnahme Aufzeichnungen zu führen bzw. diese zu dokumentieren sowie den Patienten darüber Auskunft zu geben. Berufsangehörige haben nach erbrachter Leistung eine Rechnung nach objektiven, nichtdiskriminierenden Kriterien auszustellen, sofern die Leistung nicht direkt mit einem inländischen Träger der Sozialversicherung oder der Krankenfürsorge verrechnet wird. Ferner ist für die freien Gesundheitsberufe der verpflichtende Abschluss einer Berufshaftpflichtversicherung vorgesehen. Einige dieser Berufspflichten wie etwa die Versicherungspflicht und die Rechnungslegungspflicht sind durch die Richtlinie 2011/24/EU über die Ausübung der Patientenrechte in der grenzüber-

schreitenden Gesundheitsversorgung (Patientenmobilitätsrichtlinie) vorgegeben (7 http://  

eur-lex.­europa.­eu/legal-­content/DE/TXT/?uri=LEGISSUM:sp0002).

>> Bei Verstoß gegen die in den Berufsgesetzen normierten Vorbehalte und Pflichten sieht der Gesetzgeber verwaltungsstrafrechtliche und teilweise auch disziplinarrechtliche Sanktionen vor, sofern die Tat nicht den Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung bildet (Vorrang des gerichtlichen Strafrechts).

41.1.2  Berufsrechtliche

Grundlagen der ärztlichen Berufsausübung – Ärztegesetz 1998

Gemäß §  2 ÄrzteG 1998 ist der Arzt zur Ausübung der Medizin berufen. Die Ausübung des ärztlichen Berufs umfasst jede auf medizinisch-­wissenschaftlichen Erkenntnissen begründete Tätigkeit, die unmittelbar am Menschen oder mittelbar für den Menschen ausgeführt wird, insbesondere 55 die Untersuchung auf das Vorliegen oder Nichtvorliegen von körperlichen und psychischen Krankheiten oder Störungen, von Behinderungen oder Missbildungen und Anomalien, die krankhafter Natur sind, 55 die Beurteilung dieser Zustände bei Verwendung medizinisch-diagnostischer Hilfsmittel, 55 die Behandlung solcher Zustände, 55 die Vornahme operativer Eingriffe einschließlich der Entnahme oder Infusion von Blut, 55 die Vorbeugung von Erkrankungen, 55 die Geburtshilfe sowie die Anwendung von Maßnahmen der medizinischen Fortpflanzungshilfe, 55 die Verordnung von Heilmitteln, Heilbehelfen und medizinisch diagnostischen Hilfsmitteln, 55 die Vornahme von Leichenöffnungen.

1057 Die gesundheitsrechtliche Situation im Bereich der Komplementärmedizin

kMedizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse

Der Begriff setzt voraus, dass eine wissenschaftliche Begründung der angewendeten Methoden im Sinne einer rational nachvollziehbaren und überprüfbaren Ableitung aus empirisch nachweisbaren oder offen gelegten hypothetischen Prämissen durch adäquate Methoden vorliegen muss. Die Zugehörigkeit zur medizinischen Wissenschaft ist gemäß der ständigen Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofes (OGH) dann als gegeben anzusehen, wenn für die Durchführung der Tätigkeiten das typischerweise durch das Medizinstudium vermittelte umfassende Wissen erforderlich ist. Zusätzlich sind in diesem Zusammenhang die Fächer der Ärzteausbildung gemäß Ausbildungsordnung 2015 maßgeblich. Es muss zudem ein gewisses Mindestmaß an Rationalität der durchgeführten Tätigkeiten vorliegen.

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ris.­bka.­gv.­at/Bund/) und der KEF und RZ-V 2015 (7 http://www.­aerztekammer.­at/kundma­  

chungen/-/asset_publisher/ZHk4/content/ id/26465?_101_INSTANCE_ZHk4_redirect=%2 Fkundmachungen) zu entnehmen.

zz Therapiefreiheit

Dem Arzt kommt im Rahmen seiner Berufsausübung freie Methodenwahl nach pflichtgemäßem Ermessen zu. Bei der Wahl der Behandlungsmethode kommt es auf die Gesamtbetrachtung einer zweckmäßigen Behandlung an (vgl. OGH SSV-NF 7/112). In erster Linie ist auf das Wohl der Patienten Rücksicht zu nehmen. Die Entscheidung über die adäquate Methode liegt grundsätzlich beim behandelnden Arzt im Rahmen seiner Therapiefreiheit. Der Arzt hat ggf. auch andere Behandlungsmethoden aufzuzeigen, da derartige Informationen für die Entscheidungsfindung des Patienten von ausschlaggebender Bedeutung kSelbstständige Ausübung des ärztlichen sein können. In diesem Sinne darf auch eine Berufs Aufklärung über alternative bzw. komplemenDiese ist gemäß §  3 Abs.  1 ÄrzteG 1998 aus- täre Behandlungsmethoden, die weniger geschließlich Ärzten für Allgemeinmedizin und fährlich sind oder besseren Erfolg versprechen, Fachärzten vorbehalten. Die selbstständige nicht unterbleiben. Die Vor- und Nachteile Ausübung des ärztlichen Berufs besteht in der sind mit dem Patienten abzuwägen, damit dieeigenverantwortlichen Ausführung der im § 2 ser eine echte Wahlmöglichkeit hat. Der Arzt ÄrzteG 1998 umschriebenen Tätigkeiten. Die hat insbesondere über die Vor- und Nachteile, Berufsausübung kann freiberuflich oder im die unterschiedlichen Risiken, SchmerzbelasRahmen eines Dienstverhältnisses erfolgen. tungen und Erfolgsaussichten zu informieren. Anderen als den in § 3 ÄrzteG 1998 genannten So befreit etwa der Umstand, dass eine bePersonen ist jede Ausübung des ärztlichen Be- stimmte alternative Methode eine längere Berufs verboten. handlungsdauer zur Folge hat, nicht von der Aufklärungspflicht, wenn mit ihr geringere kSonderfachbeschränkung Risiken verbunden sind. Dabei hat der Arzt Fachärzte haben ihre fachärztliche Berufstätig- auch Behandlungen in Betracht zu ziehen, die keit auf ihr Sonderfach zu beschränken (vgl. er nicht selbst vornehmen kann. §  31 Abs.  3 ÄrzteG 1998). Die TätigkeitsbeOb über eine „Außenseitermethode“ aufreiche der einzelnen Sonderfächer sind aller- zuklären ist, hängt vom Einzelfall ab. Fragt dings nicht immer trennscharf voneinander der Patient ausdrücklich nach einer konkreabgrenzbar. Manche Tätigkeiten fallen in das ten Behandlung, so ist hierüber aufzuklären, Berufsbild mehrerer ärztlicher Sonderfächer gleichgültig, ob diese Methode noch nicht oder und dürfen daher von verschiedenen Fachärz- nicht mehr dem allgemeinen medizinischen ten durchgeführt werden. Der Berechtigungs- Standard entspricht. Der Patient ist über eine umfang der ärztlichen Sonderfächer ist dem Behandlungsmethode, die noch nicht dem allFächerkatalog der ÄAO 2015 (7 http://www.­ gemeinen medizinischen Standard entspricht,  

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aufzuklären, wenn diese Methode u. a. bessere Erfolgsaussichten, eine geringere Schmerzbelastung oder eine raschere Genesung verspricht oder wenn der Arzt im Rahmen seiner Therapiefreiheit diese Behandlung für angemessen erachtet. Dies gilt auch für noch nicht zugelassene Arzneimittel, wenn sie erfolgversprechender als andere sind. Die fehlende arzneimittelrechtliche Zulassung für die entsprechende Indikation steht der therapeutischen Freiheit des Arztes nicht entgegen (Näheres zum Begriff Komplementärmedizin in der österreichischen Rechtsordnung 7 Abschn. 41.1.4).

»» „ … daß die Krankenbehandlung ‚nach

zz Behandlung nach Maßgabe der ärztlichen Wissenschaft und Erfahrung

zz Delegation ärztlicher Tätigkeiten

der medizinischen Wissenschaft vertreten wird. Anders wäre es, wenn ein gewichtiger Teil der medizinischen Wissenschaft und Praxis eine bislang akzeptierte Behandlungsmethode für bedenklich hält.“ (OGH 16.03.1989, 8Ob525, 526/88) dem jeweiligen und aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft‘ zu erbringen ist; damit wird unzweifelhaft auf die in der Schulmedizin anerkannten Methoden abgestellt.“ (OGH 29.06.1999, 10ObS382/98v)



Hat der Arzt die Behandlung übernommen, so hat die Behandlung der Kranken und die Betreuung der Gesunden gemäß § 49 Abs. 1 ÄrzteG 1998 55 ohne Unterschied der Person gewissenhaft, 55 nach Maßgabe der ärztlichen Wissenschaft und Erfahrung (lege artis – nach den Regeln der ärztlichen Kunst) und 55 unter Einhaltung der bestehenden Vorschriften und der fachspezifischen Qualitätsstandards zu erfolgen. Der Arzt hat sich laufend fortzubilden (Näheres zur Fortbildungspflicht 7 Abschn. 41.1.5). Die „Maßgabe der ärztlichen Wissenschaft und Erfahrung“ hat der OGH ausgelegt wie folgt:  

»» „Die Behandlung muss entsprechend den

Grundsätzen der medizinischen Wissenschaft und Regeln der ärztlichen Kunst erfolgen. Der Arzt handelt nicht fahrlässig, wenn die von ihm gewählte Behandlungsmethode einer Praxis entspricht, die von angesehenen, mit dieser Methode vertrauten Medizinern anerkannt ist, selbst wenn ebenfalls kompetente Kollegen eine andere Methode bevorzugt hätten. Eine Behandlungsmethode kann grundsätzlich so lange als fachgerecht angesehen werden, wie sie von einer anerkannten Schule

§ 49 Abs. 2 ÄrzteG 1998 normiert, dass der Arzt seinen Beruf persönlich und unmittelbar, allenfalls in Zusammenarbeit mit anderen Ärzten auszuüben hat. Zur Mithilfe kann er sich jedoch Hilfspersonen bedienen, wenn diese nach seinen genauen Anordnungen und unter seiner ständigen Aufsicht handeln. Hilfspersonen dürfen nur zur untergeordneten Unterstützung herangezogen werden. Die eigene Durchführung ärztlicher Tätigkeiten durch Hilfspersonen im Sinne des §  49 Abs.  2 leg.cit. ist nach herrschender Lehre ausgeschlossen. Auch das „Anlernen“ von Hilfspersonen zur Durchführung ärztlicher Tätigkeiten ist verboten. Die Durchführung von ärztlichen Tätigkeiten durch Nicht-Ärzte ist ausschließlich nur im Rahmen der Delegation an Angehörige anderer Gesundheitsberufe oder im Einzelfall an Laien gemäß den Vorgaben des ÄrzteG 1998 erlaubt. Die Möglichkeit der Übertragung ärztlicher Tätigkeiten an Angehörige anderer Gesundheitsberufe ist in §  49 Abs.  3 ÄrzteG 1998 normiert:

»» „Der Arzt kann im Einzelfall an Angehö-

rige anderer Gesundheitsberufe oder in Ausbildung zu einem Gesundheitsberuf stehende Personen ärztliche Tätigkeiten übertragen, sofern diese vom Tätigkeitsbereich des entsprechenden Gesundheitsberufes umfasst sind. Er trägt die Verantwortung für die Anordnung. Die ärztliche Aufsicht entfällt, sofern die Regelungen

1059 Die gesundheitsrechtliche Situation im Bereich der Komplementärmedizin

der entsprechenden Gesundheitsberufe bei der Durchführung übertragener ärztlicher Tätigkeiten keine ärztliche Aufsicht vorsehen.“

In diesem Zusammenhang ist auf die entsprechenden Bestimmungen der einzelnen Berufsgesetze der Gesundheitsberufe zu verweisen, in denen die vom Arzt übertragbaren Tätigkeiten und die Begleitumstände, wie z. B. das Erfordernis der Aufsicht, für den jeweiligen Gesundheitsberuf angeführt sind. Weitere Delegationsmöglichkeiten ärztlicher Tätigkeiten unter bestimmten Voraussetzungen sind in den §§ 50a und 50b ÄrzteG 1998 (Übertragung einzelner ärztlicher Tätigkeiten im Einzelfall an Laien) normiert. zz Verwaltungsstrafbestimmung

Geschützt wird der ärztliche Tätigkeits- und Berufsvorbehalt durch die verwaltungsrechtliche Strafbestimmung des § 199 Abs. 1 ÄrzteG 1998:

»» „Wer eine in den §§ 2 Abs. 2 und 3 umschriebene Tätigkeit ausübt, ohne hierzu nach diesem Bundesgesetz oder nach anderen gesetzlichen Vorschriften berechtigt zu sein, begeht, sofern die Tat nicht den Tatbestand einer in die Zuständigkeit der Gerichte fallenden strafbaren Handlung bildet, eine Verwaltungsübertretung und ist mit Geldstrafe bis zu 3630 Euro zu bestrafen.“

Ebenfalls strafbar ist ein Zuwiderhandeln gegen die aufgrund des ÄrzteG 1998 erlassenen Verordnungen. zz Kurpfuscherei

Das Strafgesetzbuch (StGB), BGBl. Nr. 60/1994, schützt den ärztlichen Tätigkeits- und Berufsvorbehalt durch die Normierung der „Kurpfuscherei“ in § 184 wie folgt:

»» „Wer, ohne die zur Ausübung des ärzt-

lichen Berufes erforderliche Ausbildung erhalten zu haben, eine Tätigkeit, die den Ärzten vorbehalten ist, in Bezug auf eine größere Zahl von Menschen gewerbs-

41

mäßig ausübt, ist mit Freiheitsstrafe bis zu drei Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 180 Tagessätzen zu bestrafen.“

„Ausbildung“ ist in diesem Zusammenhang das an einer in- oder ausländischen Universität ordnungsgemäß abgeschlossene Medizinstudium. Eine „größere Anzahl von Menschen“ wird ab ca. 10 angenommen. „Gewerbsmäßig“ begeht eine strafbare Handlung, wer sie in der Absicht vornimmt, sich durch ihre wiederkehrende Begehung eine fortlaufende Einnahme zu verschaffen (vgl. § 70 StGB). Täter ist, wer nicht die zur Ausübung des ärztlichen Berufes erforderliche Ausbildung erhalten hat. Tathandlung ist die Ausübung einer Tätigkeit, die den Ärzten vorbehalten ist. Welche Tätigkeiten das sind, ergibt sich aus dem ÄrzteG 1998. Die Tätigkeit muss sich auf eine größere Zahl von Menschen beziehen, die Behandlung eines einzigen Menschen genügt zur Kurpfuscherei nicht.

41.1.3  Der Begriff der

„Schulmedizin“

Die österreichische Rechtsordnung kennt keine gesetzliche Definition des Begriffs „Schulmedizin“. „Schulmedizin“ ist demnach zwar kein Rechtsbegriff, wird aber in der rechtswissenschaftlichen Literatur und Judikatur verwendet. Es können darunter verstanden werden:

»» „Methoden, die nach wissenschaftlicher

Erprobung von führenden Fachärzten im Wesentlichen unbestritten anerkannt werden und keinen sozialethischen Bedenken ausgesetzt sind“

oder

»» „Die allgemein anerkannte und an den

medizinischen Hochschulen gelehrte Medizin im Sinne einer angewandten Naturwissenschaft“ (Pschyrembel Online, 7 https://www.­pschyrembel.­de/Schulmedizin/K0KJW)  

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S. Weiss

In Verwendung ist teilweise auch der Begriff „konventionelle Medizin“, der mit dem Begriff „Schulmedizin“ gleichzusetzen ist. Johannes Köbberling führt aus,

»» „… daß die eigentliche Medizin als ,Schul-

medizin‘ bezeichnet wird. Wohlwollend könnte man den Begriff so interpretieren, daß dies die Medizin ist, die an den Hochschulen gelehrt wird. Der Begriff wurde aber bereits von Hahnemann verwandt, um die zu seiner Zeit etablierte Medizin abzuqualifizieren, übrigens nicht ganz zu Unrecht. Schule war in diesem Zusammenhang als starres, unflexibles System gemeint, das in festen Denkstrukturen verhaftet und unfähig zu Innovationen ist. Der Begriff Schulmedizin besagt also genau das Gegenteil von dem, was ausgedrückt werden müßte, denn die wissenschaftliche Medizin vertritt ja gerade nicht ein geschlossenes System, sondern ist dadurch gekennzeichnet, daß sie sich kontinuierlich in Frage stellt.“ (AWMF online, 7 http://www.­awmf.­org/fileadmin/ user_upload/Die_AWMF/Service/Gesamtarchiv/AWMF-Konferenz/Der_Begriff_der_ Wissenschaft_in_der_Medizin.­pdf )  

Im Allgemeinen wird der Begriff von der historischen Bezeichnung für medizinische Ausbildungsstätten, der „Schule“, abgeleitet. Der Ausdruck ist im deutschen Sprachraum bereits seit mehreren Jahrhunderten in Verwendung, teils auch mit negativen Bedeutungen. So beklagte bereits im 16. Jahrhundert Paracelsus:

»» „Eine große Schande ist es doch, dass die hohen Schulen solche Ärzte machen, die es nur dem Scheine nach sind.“

Christian Friedrich Samuel Hahnemann, Begründer der Homöopathie, wandte sich im Jahr 1832 öffentlich gegen die humoralpathologische Lehrmeinung der sog. „Medizin der Schule“. Diese Kritik griff später der deutsche Arzt und Homöopath Franz Fischer auf und prägte dabei den Begriff „Schulmedizin“. Zur Zeit des Nationalsozialismus wurde der Begriff in Deutschland und Österreich missbräuch-

lich verwendet, um die (vorwiegend) jüdische Ärzteschaft zu diffamieren und stattdessen die gesunde „Volksmedizin“ oder eine „Neue Deutsche Heilkunde“ als Gegenstück zur „verjudeten Schulmedizin“ zu propagieren. In der höchstgerichtlichen Judikatur sind u. a. folgende, sich wiederholende, Umschreibungen des Begriffs „Schulmedizin“ zu finden:

»» „Diese Empfehlungen der Ophthalmo-

logischen Gesellschaften markier(t)en in Österreich den Standard der Schulmedizin.“ (OGH 13.10.2011 1Ob202/11d)

»» „Dass die Wirkung einer alternativen Be-

handlungsmethode nach dem Stand der Wissenschaft, also von der Schulmedizin, nicht bestätigt (nicht anerkannt) wird, entspricht der Begriffsdefinition einer alternativen Methode und sagt nichts über deren Effektivität aus, die am eingetretenen Erfolg zu messen ist.“ (OGH 19.05.2009, 3Ob283/08a)

»» „Der Begriff der ‚medizinisch-­

wissenschaftlichen Erkenntnisse‘ ist nicht mit dem der Schulmedizin gleichzusetzen. Wissenschaftlich fundiert können auch Methoden sein, die (noch) nicht Eingang in die Schulmedizin gefunden haben, wie die Homöopathie und die Akupunktur. Eine auf medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen gegründete Tätigkeit wird aber nur ausgeübt, wenn die angewandte Methode ein gewisses Mindestmaß an Rationalität aufweist und für ihre Durchführung das typischerweise durch das Medizinstudium vermittelte umfassende Wissen erforderlich ist.“ (OGH 14.03.2006, 4Ob256/05h)

»» „Die Schulmedizin (zumindest definiert als

die Richtung, die wissenschaftlich begründet und in Fachkreisen anerkannt ist sowie an Hochschulen gelehrt wird) ist nach diesem Verständnis zwar nicht zu 100 % ident mit der medizinisch-wissenschaftlichen Fundierung, aber doch weitgehend gleichläufig. Für Alternativmedizin ist bis heute eine allgemein-­verbindliche Definition nicht entwickelt, was wohl daraus

1061 Die gesundheitsrechtliche Situation im Bereich der Komplementärmedizin

resultiert, dass eine Vielzahl unterschiedlichster Methoden mit unterschiedlichsten Ansätzen dazu zählt. Definiert man ‚Alternativmedizin‘ als alle Behandlungsmethoden, die eben alternativ (‚komplementär‘) zur Schulmedizin bestehen, so ist von vergleichsweise anerkannten und wissenschaftlichen Methoden wie der Akupunktur oder der Homöopathie bis hin zu Geistheilern und Gesundbetern das gesamte Spektrum erfasst. Unter sogenannten ‚Geist- oder Wunderheilern‘ werden Personen verstanden, die unter Berufung auf ein metaphysisches Geistwesen mittels Handauflegen, Beten, Besprechen, Fern- oder Gruppenbehandlung, medial, schamanistisch, exorzistisch oder radionisch ‚Heilen‘. Auch wenn sie (noch) nicht Eingang in die Schulmedizin gefunden haben, können alternative Behandlungsmethoden (zumindest in gewissem Ausmaß) wissenschaftlich fundiert sein, so etwa der Fall bei der Homöopathie und der Akupunktur. Nur soweit die Anwendung eines Alternativverfahrens (auch) die durch das Medizinstudium vermittelten umfassenden Kenntnisse erfordert, basiert die Methode im obigen Sinne auf ‚medizinisch-­wissenschaftlichen Erkenntnissen‘ und ist dem ärztlichen Vorbehaltsbereich zuzurechnen.“ (OLG Graz 01.03.2006, 9Bs254/05d)

Der Begriff „Schulmedizin“ ist in dieser Form nur in der deutschen Sprache geläufig. 41.1.4  Der Begriff der

Komplementärmedizin in der österreichischen Rechtsordnung

Auch der Begriff „Komplementärmedizin“ erfährt keine Definition in der österreichischen Rechtsordnung. Komplementärmedizin - Medizinische Richtung, die bestimmte individuelle diagnostische und therapeu-

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tische Verfahren, die z. T. außerhalb der klassischen Schulmedizin stehen und daher auch als alternative Heilverfahren bezeichnet werden, ergänzend zur Schulmedizin einsetzt. Dazu gehören beispielsweise Akupunktur, Naturheilkunde, Ernährungstherapie oder körperorientierte Therapieverfahren. (Psychrembel Online, 7 https://www.­pschyrembel.­de/)  

Das Bundesministerium für Gesundheit und Frauen hat folgende Umschreibung gewählt:

»» „Unter dem Begriff ‚Komplementär-

medizin‘ wird ein breites Spektrum von Disziplinen und Behandlungsmethoden zusammengefasst, die auf anderen Modellen der Entstehung von Krankheiten und deren Behandlung basieren als jene der ,Schulmedizin‘, die definitionsgemäß ergänzend zur Schulmedizin eingesetzt werden. Alternativmedizin, ,Complementary and Alternative Medicine – CAM‘, Ganzheitsmedizin, Integrative Medizin, Naturheilkunde, traditionelle Medizin (z. B. chinesische, europäische, tibetische …) sind verwandte Überbegriffe, die Heilmethoden oder diagnostische Konzepte bezeichnen. Die heutige Begriffsvielfalt geht zurück auf die lange Tradition der Auseinandersetzung zwischen anerkannten medizinischen Verfahren und den so genannten ,Außenseitermethoden‘. Das Bundesministerium für Gesundheit favorisiert den Begriff Komplementärmedizin, um zu signalisieren, dass die Methoden nicht als Alternativen zur Schulmedizin angesehen werden sollen.“

Weder in der Judikatur noch in der (rechts-) wissenschaftlichen Literatur besteht hierzu ein einheitliches Begriffsverständnis. Begriffe wie Alternativmedizin, Ganzheitsmedizin, CAM (complementary and alternative medicine), Außenseitermethoden, Außenseitermedizin, alternative Behandlungsmethoden, neue Behandlungsmethoden, unkonventionelle Behandlungsmethoden, paramedizinische Therapien, biologische Medizin, Integrativmedizin, integrative Medizin, sanfte Methoden, traditionelle Heilweisen (UNESCO) und viele weitere sind zu finden.

1062

41

S. Weiss

Der Oberste Sanitätsrat (OSR) hat die Begriffe „alternative Behandlungsmethoden“ und „komplementärmedizinische Behandlungs­ methoden“ geprägt, diese allerdings ebenfalls nicht definiert, sondern lediglich einer punktuellen Bewertung unterzogen. Der Oberste Gerichtshof (OGH) spricht auch von „Außenseitermethoden“. Komplementäre Methoden finden nicht nur in der Medizin Anwendung, sondern werden im Bereich der Gesundheitsberufe beispielsweise auch in der Psychotherapie, der klinischen Psychologie, der Gesundheitspsychologie, der Musiktherapie, der Gesundheitsund Krankenpflege oder der Heilmassage eingesetzt. Soweit eine alternativ- oder komplementärmedizinische Methode bzw. Behandlung die Anforderungen des § 2 ÄrzteG 1998 erfüllt, ist dessen Anwendung jedenfalls als ärztliche Tätigkeit zu qualifizieren und infolgedessen dem ärztlichen Vorbehaltsbereich zuzurechnen. Dies trifft etwa auf die Homöopathie oder die Akupunktur und andere Verfahren der traditionellen chinesischen Medizin zu. Einige komplementärmedizinische Methoden können auch von anderen Gesundheitsberufen angewendet werden. Die Reichweite des ärztlichen Tätigkeitsvorbehalts kann allerdings, nicht zuletzt auch aufgrund der z.  T. uneinheitlichen höchstgerichtlichen Rechtsprechung, nicht abschließend bestimmt werden, sodass eine Beurteilung im Einzelfall zu erfolgen hat.

 erufsrecht der Gesundheitsberufe B und Komplementärmedizin Der Begriff „Komplementär(medizin)“ findet sich in Österreich in folgenden gesetzlichen Regelungen:

Fortbildungsveranstaltungen von Gesundheitsberufen, die in Zusammenarbeit mit einer Landesärztekammer oder der Österreichischen Ärztekammer durchgeführt werden, vorgeführt werden.“ (§ 42 Abs. 1 ÄrzteG 1998)

Diese Bestimmung soll etwa die Vorführung von Heilverfahren der traditionellen chinesischen Medizin durch Personen, die in Österreich nicht über eine ärztliche Berufsberechtigung verfügen, ermöglichen. §  42 Abs.  1 bestätigt die bereits davor herrschende Rechtsauffassung, dass Ärzte im Rahmen ihrer Berufsberechtigung und der ihnen eingeräumten Therapiefreiheit grundsätzlich auch zur Anwendung „alternativer“ bzw. „komplementärer“ Methoden berechtigt sind. Allerdings bestehen für diese nach herrschender Rechtsmeinung erhöhte Sorgfalts- und Aufklärungspflichten. Das Verbot der Tätigkeit von Heilpraktikern wird durch diese Bestimmung nicht berührt. zz Zahnärztegesetz, BGBl. I Nr. 126/2005

»» „Der zahnärztliche Beruf umfasst jede

auf zahnmedizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen begründete Tätigkeit einschließlich komplementär- und alternativmedizinischer Heilverfahren, die unmittelbar am Menschen oder mittelbar für den Menschen ausgeführt wird.“ (§ 4 Abs. 2 ZÄG)

»» „Komplementär- oder alternativmedi-

zinische Heilverfahren dürfen auch von Personen, die nicht zur Ausübung des ärztlichen oder zahnärztlichen Berufs berechtigt sind, zu Demonstrationszwecken in Aus- und Fortbildungsveranstaltungen für Gesundheitsberufe vorgeführt werden.“ (§ 34 Abs. 1 ZÄG)

zz Ärztegesetz 1998, BGBl. I Nr. 169/1998

zz Arzneimittelgesetz, BGBl. Nr. 185/1983

»» „Komplementär- oder alternativme-

»» „Keine Arzneimittel sind … Stoffe oder Zu-

dizinische Heilverfahren dürfen auch von Personen, die im Geltungsbereich dieses Bundesgesetzes nicht zur ärztlichen Berufsausübung berechtigt sind, zu Demonstrationszwecken in Aus- und

bereitungen aus Stoffen, die ausschließlich dazu bestimmt sind, nach komplementärmedizinischen Methoden angewendet zu werden, sofern sie weder dazu dienen noch dazu bestimmt sind, die Zweckbestimmun-

1063 Die gesundheitsrechtliche Situation im Bereich der Komplementärmedizin

gen des Abs. 1 zu erfüllen, es sei denn, es handelt sich um Stoffe oder Zubereitungen aus Stoffen, die nach homöopathischen Grundsätzen und Verfahrenstechniken hergestellt sind.“ (§ 1 Abs. 3 Z 9 AMG)

»» „‚Homöopathische Arzneimittel‘ sind

Arzneimittel, die nach einem im Europäischen Arzneibuch oder in Ermangelung dessen nach einem in den aktuellen offiziell gebräuchlichen Pharmakopöen der Vertragsparteien des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum beschriebenen homöopathischen Zubereitungsverfahren aus Substanzen hergestellt worden sind, die homöopathische Ursubstanzen genannt werden. Ein homöopathisches Arzneimittel kann auch mehrere Wirkstoffe enthalten.“ (§ 1 Abs. 10 AMG)

»» „‚Biologische Arzneimittel‘ sind Arznei-

mittel, deren Wirkstoff ein biologischer Stoff ist. Ein biologischer Stoff ist ein Stoff, der biologischen Ursprungs ist oder aus biologischem Ursprungsmaterial erzeugt wird und zu dessen Charakterisierung und Qualitätsbestimmung physikalische, chemische und biologische Prüfungen und die Beurteilung des Produktionsprozesses und seiner Kontrolle erforderlich sind.“ (§ 1 Abs. 111a AMG)

»» „‚Pflanzliche Stoffe‘ sind alle vorwiegend

ganzen, zerkleinerten oder geschnittenen Pflanzen, Pflanzenteile, Algen, Pilze, Flechten in unverarbeitetem Zustand, gewöhnlich in getrockneter Form, aber zuweilen auch frisch. Bestimmte pflanzliche Ausscheidungen, die keiner speziellen Behandlung unterzogen wurden, gelten ebenfalls als pflanzliche Stoffe. Pflanzliche Stoffe sind durch den verwendeten Pflanzenteil und die botanische Bezeichnung nach dem binomialen System (Gattung, Art. Varietät und Autor) genau definiert.“ (§ 1 Abs. 21 AMG)

»» „‚Pflanzliche Zubereitungen‘ sind Zubereitungen, die dadurch hergestellt werden, dass pflanzliche Stoffe Behandlungen wie

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Extraktion, Destillation, Pressung, Fraktionierung, Reinigung, Konzentrierung oder Fermentierung unterzogen werden. Diese umfassen zerriebene oder pulverisierte pflanzliche Stoffe, Tinkturen, Extrakte, ätherische Öle, Presssäfte und verarbeitete Ausscheidungen von Pflanzen.“ (§ 1 Abs. 22 AMG)

»» „‚Pflanzliche Arzneimittel‘ sind alle Arznei-

mittel, die als Wirkstoffe ausschließlich einen oder mehrere pflanzliche Stoffe oder einen oder mehrere pflanzliche Zubereitungen oder einen oder mehrere solcher pflanzlichen Stoffe in Kombination mit einer oder mehreren solcher pflanzlichen Zubereitungen enthalten.“ (§ 1 Abs. 23 AMG)

»» „‚Traditionelle pflanzliche Arzneispezialität‘ ist ein pflanzliches Arzneimittel, das die in § 12 festgelegten Bedingungen erfüllt.“ (§ 1 Abs. 24 AMG)

zz Gesundheits- und Krankenpflegegesetz, BGBl. I Nr. 108/1997

»» „Allgemeine und spezielle Pathologie, Dia-

gnose und Therapie, einschließlich komplementärmedizinische Methoden.“ (§ 42 Z 10 GuKG, Ausbildungsinhalt der allgemeinen Gesundheits- und Krankenpflege)

zz FH-Gesundheits- und Krankenpflege-­ Ausbildungsverordnung, BGBl. II Nr. 200/2008

»» „Spezielle medizinische Fachgebiete ein-

schließlich komplementärmedizinischer Methoden“ (Anlage 4, Mindestinhalte der Ausbildung in der allgemeinen Gesundheits- und Krankenpflege).

zz Gesundheits- und Krankenpflege-­ Ausbildungsverordnung, BGBl. II Nr. 179/1999

»» „Komplementäre Pflegemethoden“ (An-

lage 1, Ausbildung in der allgemeinen Gesundheits- und Krankenpflege, Unterrichtsfach 3. Gesundheits- und Krankenpflege).

1064

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S. Weiss

zz Gesundheits- und Krankenpflege-­ Spezialaufgaben-­Verordnung, BGBl. II Nr. 452/2005

»» „Komplementäre Pflegemethoden“ (An-

lage 1 Sonderausbildung in der Kinderund Jugendlichenpflege, Unterrichtsfach 2. Gesundheits- und Krankenpflege von Kindern und Jugendlichen)

zz Gesundheits- und Krankenpflege-­ Weiterbildungsverordnung, BGBl. II Nr. 453/2006

»»

von deren Ausübung ausgeschlossen, sofern nicht eine besondere Rechtsgrundlage eine spezielle gesetzliche Erlaubnis zur Ausübung einzelner ärztlicher Tätigkeiten vorsieht, wie dies beispielsweise für Angehörige bestimmter Gesundheitsberufe aufgrund gesetzlicher Regelungen der Fall ist. Sowohl die Ausbildung zum Heilpraktiker als auch die Berufsausübung des Heilpraktikers sind daher in Österreich unzulässig. Diese österreichische Rechtslage steht auch im Einklang mit dem Europäischen Gemeinschaftsrecht (vgl. EuGH, Urteil vom 11.07.2002, C-294/00; 7 http://  

„Komplementäre Pflege – Aromapflege“ „Komplementäre Pflege – Ayurveda“ „Komplementäre Pflege – Kindertuina“ „Komplementäre Pflege – Therapeutic Touch“ (Anlage 1, Weiterbildungen im gehobenen Dienst für Gesundheits- und Krankenpflege)

zz Medizinischer Masseur- und Heilmasseur-­Ausbildungsverordnung, BGBl. II Nr. 250/2003

Ohne das Wort „Komplementärmedizin“ direkt anzuführen, zählt die MMHm-AV im Modul B, Unterrichtsfach „Massagetechniken zu Heilzwecken“ komplementärmedizinische Massagemethoden auf:

»» „Reflextherapeutische Massagetechniken:

Meridianlehre, Lehre der 5 Elemente, Energielehre, Energiekreislauf, Regellehre, Pulslehre“

»» „Chinesische Massagetechniken, wie

Akupunktmassage und Tuina“ (Anlage 2, Ausbildung zum medizinischen Masseur)

kHeilpraktiker Der Beruf Heilpraktiker ist in Österreich (im

Gegensatz zu Deutschland) nicht gesetzlich geregelt und daher kein anerkannter Gesundheitsberuf. Aus dem Wortlaut der bereits angeführten ärzterechtlichen Bestimmungen und dem §  174 StGB (Kurpfuscherei) ergibt sich, dass die Ausübung ärztlicher Tätigkeiten im Sinne eines Tätigkeitsvorbehalts umfassend geschützt wird. Andere Personen sind somit

curia.­europa.­eu/juris/liste.­jsf?pro=&nat=or&oq p=&dates=&lg=&language=de&jur=C%2CT%2 CF&cit=none%252CC%252CCJ%252CR%252C 2008E%252C%252C%252C%252C%252C%252 C%252C%252C%252C%252Ctrue%252Cfalse% 252Cfalse&num=C-­294%252F00&td=%3BALL& pcs=Oor&avg=&page=1&mat=or&jge=&for=& cid=663241).

Sozialversicherungsrecht und ­Komplementärmedizin Zusätzlich zum Berufsrecht der Gesundheitsberufe ist auch das Sozialversicherungsrecht von Relevanz für die Ausübung von Komplementärmedizin. § 133 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. Nr.  189/1955, normiert:

»» „Die Krankenbehandlung muss aus-

reichend und zweckmäßig sein, sie darf jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Durch die Krankenbehandlung sollen die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit und die Fähigkeit, für die lebenswichtigen persönlichen Bedürfnisse zu sorgen, nach Möglichkeit wiederhergestellt, gefestigt oder gebessert werden.“

Krankenbehandlung ist zweckmäßig, wenn die Behandlung in Verfolgung der Ziele der Krankenbehandlung durchgeführt wird und erfolgreich oder zumindest erfolgversprechend war. Die Behandlung muss daher nach den Erfahrungssätzen der medizinischen Wissenschaft mit hinreichender Sicherheit objektiv geeignet

1065 Die gesundheitsrechtliche Situation im Bereich der Komplementärmedizin

sein, die beabsichtigte Wirkung zu erzielen (OGH SSV-NF 7/112). Im Sozialversicherungsrecht findet sich allerdings an keiner Stelle explizit der T ­ erminus „Komplementärmedizin“ oder ein vergleichbarer Begriff, ebenso fehlt auch hier der Begriff „Schulmedizin“. Der Anspruch auf Krankenbehandlung ist in § 133 Abs. 1 und Abs. 2 ASVG grundsätzlich offen  – im Sinne von methodenneutral  – formuliert. Der zitierten Gesetzesstelle ist nicht zu entnehmen, dass die Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung per se auf eine bestimmte medizinische Richtung beschränkt wäre. Ein Ausschluss komplementärmedizinischer Heilmittel und Methoden ist nicht explizit angeführt. Seitens des Hauptverbandes der Sozialversicherungsträger wird allerdings davon ausgegangen, dass grundsätzlich nur eine Kostenübernahme für wissenschaftlich anerkannte Heilmethoden als Krankenbehandlung in Betracht kommt. Die Krankenbehandlung muss dabei auch den wirtschaftlichen Kriterien entsprechen; sie muss ausreichend und zweckmäßig sein, darf jedoch das Maß des Not­wendigen nicht überschreiten. Da Behandlungsmethoden, die der Komplementärmedizin zugerechnet werden, vielfach als wissenschaftlich nicht anerkannt eingestuft werden, können diese nicht als Sachleistung bei den Vertragspartnern der Krankenversicherungsträger in Anspruch genommen werden. Der Versicherte hat daher die Kosten dieser Behandlungen zunächst selbst zu tragen. Eine Erstattung der Kosten für Leistungen der Komplementärmedizin kann nur im Einzelfall auf Antrag des Versicherten bei seinem zuständigen Krankenversicherungsträger erfolgen. Dabei wird die medizinisch anerkannte Behandlungsmethode mit der komplementärmedizinischen Behandlungsmethode verglichen. Existieren beide Behandlungsmethoden für eine bestimmte Krankheit, so ist zu beurteilen, welche für den Patienten mit höheren Erfolgsaussichten und geringeren Nebenwirkungen verbunden ist. Ist dies die komplementärmedizinische Behandlungsmethode, so kann der gesetzliche

41

Krankenversicherungsträger im Einzelfall die Kosten auf Antrag des Versicherten erstatten. Von Interesse sind in diesem Zusammenhang beispielsweise folgende Erkenntnisse des OGH:

»» „Ist eine Krankheit durch schulmedizini-

sche Maßnahmen gut zu behandeln, gibt es an sich keinen Anlass für die Finanzierung von ‚Außerseitermethoden‘ im Sinne einer komplementärmedizinischen bzw. alternativen Behandlung. Ein Kostenersatz kann auch bei einer von der Wissenschaft noch nicht anerkannten Behandlungsmethode (‚Außenseitermethode‘ bzw. komplementärmedizinische Behandlungsmethode – vgl. zu dieser Begriffswahl die Ausführungen in Heilmittel und Komplementärmedizin [Thaler und Plank 2005, 118 f.]) – nur dann gewährt werden, wenn diese Krankenbehandlung zweckmäßig ist und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet. Dies setzt voraus, dass eine zumutbare Behandlung nach wissenschaftlich anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst nicht zur Verfügung stand, nicht erfolgversprechend war oder erfolglos blieb, während die komplementärmedizinische Behandlungsmethode beim Versicherten erfolgreich war oder von ihr nach den Ergebnissen einer für die Bildung eines Erfahrungssatzes ausreichenden Zahl von Fällen (prognostisch) ein Erfolg erwartet werden durfte. Eine Kostenübernahme für komplementärmedizinische Behandlungsmethoden (‚Außenseitermethoden‘) durch den gesetzlichen Krankenversicherungsträger kommt auch dann in Betracht, wenn schulmedizinische Behandlungsmethoden zu unerwünschten (erheblichen) Nebenwirkungen führen und durch komplementärmedizinische Behandlungsmethoden (‚alternative Heilmethoden‘) der gleiche Behandlungserfolg (ohne solche Nebenwirkungen) erzielt werden kann (vgl. 10 ObS 86/09h, SSV-NF 23/81

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S. Weiss

= DRdA 2011/43, 440 [Naderhirn] = ZAS 2011/46, 284 [Stadler] mwN; RIS-Justiz RS0102470, RS0104903, RS0083792 u. a.). Es trifft zwar zu, dass die Entscheidung über die konkrete Wahl einer Behandlungsmethode grundsätzlich im Einvernehmen zwischen Arzt und Patient zu treffen ist, der Leistungsanspruch des Versicherten gegenüber dem Krankenversicherungsträger wird jedoch nach ständiger Rechtsprechung im Streitfall letztlich durch die Gerichte im Rahmen der bestehenden Gesetze konkretisiert (vgl. Heilmittel und Komplementärmedizin Thaler und Plank 2005, S. 187; 10 ObS 21/10a, SSV-NF 24/19 mwN). Die Entscheidung des Gerichts erfolgt in der Regel aufgrund der Ergebnisse der eingeholten medizinischen Sachverständigengutachten.“ (OGH 10ObS26/14t vom 23.04.2014)

»» „Wenn eine herkömmliche Behandlungs-

methode erfolgreich und ohne (unzumutbare) Nebenwirkungen angewendet werden konnte (oder kann), besteht kein Anlass zur Übernahme der Kosten von Außenseitermethoden. In einem solchen Fall ist es auch nicht wesentlich, wie hoch die Kosten der Außenseitermedizin im Vergleich zu jenen der Schulmedizin sind. Kostenersatz für Außenseitermethoden kann daher immer erst dann erfolgen, wenn entweder eine zumutbare erfolgversprechende Behandlung nach wissenschaftlich anerkannten Regeln der ärztlichen Kunst nicht zur Verfügung steht oder eine solche erfolglos blieb.“ (Rechtsatz OGH 10ObS20/95; 10ObS382/98v; 10ObS202/99z; 10ObS27/01w; 3Ob283/08a; 10ObS86/09h; 7Ob63/10f; 9Ob32/12i; 10ObS26/14t)

zz Komplementärmedizin in ­ Kranken- und Kuranstalten

Nicht unumstritten ist die Anwendung komplementärmedizinischer Methoden in Krankenanstalten und Kuranstalten. §  8 Abs.  2

Krankenanstalten- und Kuranstaltengesetz

(KAKuG), BGBl. Nr.  1/1957, normiert, dass Pfleglinge von Krankenanstalten

»» „nur nach den Grundsätzen und anerkannten Methoden der medizinischen bzw. zahnmedizinischen Wissenschaft“

ärztlich bzw. zahnärztlich behandelt werden dürfen. Den Krankenanstaltenträger trifft damit eine Organisationsverpflichtung, sowohl auf personeller als auch auf apparativer Ebene für eine Behandlung entsprechend dem Stand der medizinischen Wissenschaft („in Fachkreisen anerkannter Standard“, vgl. OGH 6Ob549/98 vom 29.06.1989) zu sorgen. >> Allerdings kann davon ausgegangen werden, dass, wie bereits ausgeführt, die Begriffe „Schulmedizin“ und „anerkannte Methoden der medizinischen Wissenschaft“ nicht identisch sind. Bei Methoden der „Schulmedizin“ wird Zweckmäßigkeit grundsätzlich angenommen, bei alternativen (komplementärmedizinischen) Behandlungen ist nach herrschender Rechtsauffassung die Zweckmäßigkeit dagegen im Einzelfall zu prüfen.

Dies bedeutet, dass wohl auch in Krankenanstalten Raum für die Anwendung „alternativer“ oder „komplementärer“ Behandlungsmethoden auf Basis medizinischen Wissens und unter Einhaltung wissenschaftlicher Methoden gegeben sein müsste. zz Anwendung von Komplementärmedizin durch Angehörige anderer ­Gesundheitsberufe

Eigenverantwortlich tätige Gesundheitsberufe haben die Möglichkeit, komplementäre bzw. komplementärmedizinische Maßnahmen innerhalb ihres gesetzlichen Berufsbildes und Tätigkeitsbereichs nach Absolvierung einer entsprechenden Fortbildung oder Zusatzausbildung anzuwenden, allerdings sehen die Berufsgesetze hierzu keine expliziten Regelungen vor. Beispielhaft wären hier anzuführen:

1067 Die gesundheitsrechtliche Situation im Bereich der Komplementärmedizin

55 Behandlung mittels Akupunktur durch Ärzte und durch Hebammen (eingeschränkt auf die Bereiche Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett) 55 Durchführung von Hippo-Therapie durch Physiotherapeuten, die durch den Obersten Sanitätsrat als „physiotherapeutische Behandlung“ anerkannt worden ist 55 Durchführung von Osteopathie durch Ärzte, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten und Hebammen (jeweils eingeschränkt auf das entsprechende Berufsbild) 55 Anwendung „komplementärer Pflege“ (vgl. Anlage 1 Gesundheits- und Krankenpflege-­Weiterbildungsverordnung) durch ­Angehörige des gehobenen Dienstes für Gesundheits- und Krankenpflege

Beiräte, Studien und Projekte Der Oberste Sanitätsrat (OSR) hat sich im Rahmen seiner langen Tätigkeit als Beratungsorgan des Bundesministers für Gesundheit und Frauen einige Male mit „alternativen Behandlungsmethoden“ auseinandergesetzt: 55 Homöopathie ist seit 1990 als „zugelassene Therapie“ eingestuft, allerdings „nicht wissenschaftlich anerkannt“. 55 Nadelakupunktur ist seit 1986 „wissenschaftlich anerkannte Heilmethode bzgl. Erkrankungen der Knochen, Gelenke und Weichteile“, wobei diese „nur von entsprechend ausgebildeten Ärzten angewendet werden“ dürfe. 55 Unter der Bezeichnung „keine wissenschaftlich anerkannte Heilmethode“ finden sich z. B. Laser-Akupunktur, Ozontherapie, Frischzellentherapie oder Bachblütentherapie. 55 Osteopathie wird als „keine wissenschaftlich anerkannte Methode (wissenschaftliche Grundlagen fehlen)“ bewertet, wobei die „Methode prinzipiell unter Anleitung eines Arztes zu erfolgen hat“. Um den Bundesminister für Gesundheit und Frauen in allen Angelegenheiten der traditionellen asiatischen Medizin zu beraten, wurde ergänzend zum OSR im Jahr 2005 im Bundes-

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ministerium für Gesundheit und Frauen ein

Beirat für Traditionelle Asiatische Medizin (TAM) eingerichtet. In diesem sind insbeson-

dere vertreten: 55 die traditionelle chinesische Medizin (TCM), 55 die japanische Medizin/Kampō-Medizin, 55 die tibetische Medizin, 55 die koreanische Medizin, 55 die mongolische Medizin und 55 die ayurvedische Medizin.

Das Bundesministerium für Gesundheit gab im Dezember 2007 ein Projekt „Erhebung der

traditionellen und komplementären Heilmethoden in Österreich“ in Auftrag, um das

weite Feld dieser Methoden erstmals in Österreich systematisch zu erfassen. Angeregt wurde das Projekt durch die Beschäftigung der UNESCO Nationalagentur für das Immaterielle Kulturerbe mit der Frage, welche traditionellen Heilmethoden in Österreich angewendet werden. Dazu wurden zunächst Schlüsselbegriffe definiert, danach erfolgte eine Bearbeitung der einzelnen Methoden bezüglich ihrer Anwendungsweise, der Motivation der Klienten, diese in Anspruch zu nehmen, der Erklärungsmodelle der Anwender und deren berufliche und soziale Hintergründe. Im Rahmen der Studie wurden eingehende, qualitative Interviews mit Anwendern sowie Klienten geführt, durch teilnehmende Beobachtung eigene Erfahrungen der Autorin Dr. Michaela Noseck integriert und darüber hinaus Literatur- sowie Internetrecherchen miteinbezogen. Des Weiteren wurde der Stand der wissenschaftlichen Forschung durch Datenbankrecherchen und Experteninterviews abgeklärt, um in einem nächsten Schritt Überlegungen zur Patientenbzw. Klientensicherheit anstellen zu können, und auf mögliche Wirkfaktoren zu schließen, die in Zukunft noch weiter beforscht werden könnten. Diese Studie stellt allerdings weder eine medizinische noch eine juristische Expertise dar und trifft keine Aussage zur Rechtmäßigkeit der durchgeführten Tätigkeiten im Sinne

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S. Weiss

des ÄrzteG 1998 bzw. der anderen Berufsgesetze für Gesundheitsberufe. Eine Studie zu „Komplementärmedizin“ von Karmasin.Motivforschung wurde im Auftrag von Sanova Pharma GesmbH im Juli/ August 2011 fertiggestellt (7 http://www.ganz 

heitsmed.at/images/Artikel/2011_KarmsinstudieMotivforschg-Kompl.med.pdf). Ziel der Studie

war es, eine Einschätzung der österreichi­ schen Bevölkerung hinsichtlich ihrer Einstellung zu Komplementärmedizin und komplementärmedizinischen Behandlungsmethoden zu erhalten. Im Jahr 2005 wurde – nach Schweizer Vorbild  – auch in Österreich eine Plattform „Ja zur Komplementärmedizin“ gegründet, die sich als wichtigste Aufgabe gestellt hatte,

»» „die Bedeutung der Komplementärmedi-

zin als ergänzendes und erweiterndes Therapieverfahren (zur schulmedizinischen Behandlung) in Sinne einer integrativen, ganzheitlichen Medizin zu transportieren.“

In ihrer Grundsatzerklärung wurde u.  a. ausgeführt:

»» „Viele ÖsterreicherInnen nehmen heute

bereits komplementärmedizinische Gesundheitsangebote in Anspruch (z. B. Homöopathie 50 %, Akupunktur 25 % aller ÖsterreicherInnen), vor allem, weil diese der Erhöhung und Erhaltung der Lebensqualität, also dem psychischen, sozialen und körperlichen Wohlbefinden einen zentralen Platz einräumen. Komplementärmedizinische Angebote sind daher ein wesentlicher Bestandteil eines modernen Gesundheitswesens. Sie sind eine Erweiterung und Ergänzung des naturwissenschaftlichen medizinischen Angebotes und werden von den Bürgerinnen und Bürgern in Wahrnehmung ihres Rechtes auf Wahlfreiheit mit einem hohen Maß an Eigenverantwortung nachgefragt.“

Mit der Kampagne versuchte die Plattform zu erreichen,

»» „…, dass das Recht auf bestmögliche

medizinische Versorgung nach wissenschaftlichen, gesundheitsökonomischen und individuellen medizinischen Gesichtspunkten, unabhängig von der Einkommenssituation der Patientinnen und Patienten wieder hergestellt und um die Komplementärmedizin erweitert wird, dass der ständig wachsenden Nachfrage nach komplementärmedizinischen Gesundheitsangeboten in Österreich durch die Anerkennung ihres zentralen Beitrages für das Gesundheitssystem in Österreich Rechnung getragen wird, und dass ein geordneter Dialog zwischen der konventionellen Medizin und der Komplementärmedizin eingeleitet wird.“

41.1.5  Ausbildung zum Arzt

und ärztliche (Zusatz-) Ausbildungen im Bereich komplementärmedizinischer Methoden

Die Ausbildung zum Arzt umfasst folgende Teile: 55 Diplomstudium oder Bachelor- und Masterstudium der Humanmedizin an einer medizinischen Universität, Privatuniversität oder medizinischen Fakultät einer Universität in der Dauer von 12 Semestern („Doktorat der gesamten Heilkunde“) und 55 Basisausbildung in der Dauer von mindestens 9 Monaten und 55 Ausbildung zum Arzt für Allgemeinmedizin in der Dauer von mindestens 33 Monaten oder 55 Ausbildung zum Facharzt (Sonderfach-­ Grundausbildung und Sonderfach-­ Schwerpunktausbildung) in der Dauer von insgesamt mindestens 63 Monaten. kBasisausbildung

Erster Schritt der postgraduellen Ärzteausbildung ist die Absolvierung einer mindes-

41

1069 Die gesundheitsrechtliche Situation im Bereich der Komplementärmedizin

tens 9-monatigen praktischen Ausbildung (Basisausbildung) zur Vermittlung klinischer Basiskompetenzen in chirurgischen und konservativen Fachgebieten im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses in anerkannten Ausbildungsstätten. Die Ausbildung hat jedenfalls in den Fachgebieten Allgemeinmedizin und innere Medizin zu erfolgen. Der Inhalt der Basisausbildung bezieht sich auf die gemäß dem aktuellen Stand der Wissenschaft häufigsten Krankheiten und deren Symptomenkomplexe, die Betreuung der zugewiesenen Patienten, insbesondere im Bereich der Herz-­Kreislauf-­ Erkrankungen, der Erkrankungen oder Verletzungen des Stütz- und Bewegungsapparats, der Stoffwechselerkrankungen, der psychischen Erkrankungen oder der zerebrovaskulären Erkrankungen, wie insbesondere Demenz und Schlaganfälle, sowie bei Notfallsituationen. kAusbildung zum Arzt für ­Allgemeinmedizin

Nach erfolgreicher Absolvierung der Basisausbildung umfasst sie eine Dauer von zumindest 33 Monaten. Im Anschluss an die Basisausbildung ist im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses eine praktische Ausbildung zum Arzt für Allgemeinmedizin sowie die Prüfung zum Arzt für Allgemeinmedizin zu absolvieren und der Erfolg der Ausbildung und Prüfung nachzuweisen. Am Ende der Ausbildung ist das Fachgebiet Allgemeinmedizin zumindest im Umfang von 6 Monaten in Lehrpraxen oder Lehrgruppenpraxen niedergelassener Ärzte für Allgemeinmedizin sowie in Lehrambulatorien zu absolvieren.

und eine mindestens 27-monatige praktische Schwerpunktausbildung (Sonderfach-­ Schwerpunktausbildung) – ausgenommen die Ausbildung im Sonderfach Mund-, Kieferund Gesichtschirurgie  – sowie die entsprechende Facharztprüfung zu absolvieren, und der Erfolg der Ausbildung und Prüfung nachzuweisen. Die österreichische Ärzteausbildung steht im Einklang mit den europarechtlichen Vorgaben der Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen, zuletzt geändert durch die Richtlinie 2013/55/EU (7 http://eur 

lex.­e uropa.­e u/legal-­c ontent/DE/TXT/?uri=celex%3A32005L0036), und basiert auf folgenden gesetzlichen Grundlagen (. Abb. 41.1):  

Komplementärmedizin spielt im österreichischen Medizinstudium und in der österreichischen Ärzteausbildung eine sehr untergeordnete Rolle. Zwar werden beispielsweise Vorlesungen zu komplementärmedizinischen Methoden im Rahmen des Diplomstudiums Humanmedizin von der Medizinischen Universität Wien angeboten, in der postgraduellen Ausbildung zum Arzt ist Komplementärmedi-

Richtlinie 2005/36/EG Fort-und Weiterbildungen

Universitätsgesetz 2002

Ärztin/Arzt

kAusbildung zum Facharzt

Nach erfolgreicher Absolvierung der Basisausbildung umfasst sie eine Dauer von mindestens 63 Monaten. Im Anschluss an die Basisausbildung ist im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses eine mindestens 27-monatige praktische Ausbildung im entsprechenden Sonderfach (Sonderfach-Grundausbildung)  – ausgenommen die Ausbildung in chirurgischen Fachgebieten in der Dauer von zumindest 15 Monaten  –

Ärztegesetz 1998

KEF und RZ-V 2015 Ärztinnen/ÄrzteAusbildungsordnung 2015

..      Abb. 41.1  Gesetzliche Grundlagen der Ärzteausbildung in Österreich

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zin allerdings nicht explizit vorgesehen, ebenso fehlt eine Normierung in der ÄAO 2015. Die KEF und RZ-V 2015 kennt zumindest an einigen Stellen die Begriffe „alternative Therapieformen“ und „alternative Behandlungsformen“, allerdings ohne näher zu definieren, was darunter zu verstehen ist. Zusatzausbildungen sowie Fort- und Weiterbildungen im komplementär- bzw. alternativmedizinischen Bereich für Ärzte sind in Österreich ebenfalls nicht gesetzlich geregelt. In §  49 Abs.  1 ÄrzteG 1998 findet sich lediglich die allgemeine Rechtsgrundlage zur Fortbildungspflicht, wonach sich

»» „der Arzt … laufend im Rahmen anerkann-

ter Fortbildungsprogramme der Ärztekammern in den Bundesländern oder der Österreichischen Ärztekammer oder im Rahmen anerkannter ausländischer Fortbildungsprogramme fortzubilden und nach Maßgabe der ärztlichen Wissenschaft und Erfahrung sowie unter Einhaltung der bestehenden Vorschriften und der fachspezifischen Qualitätsstandards, insbesondere aufgrund des Gesundheitsqualitätsgesetzes (GQG) das Wohl der Kranken und den Schutz der Gesunden zu wahren“

hat. Aus dieser Bestimmung ergibt sich, dass neben inländischen Fortbildungsveranstaltungen, die in engem Kontext mit den Ärztekammern stattfinden, auch internationale Fachtagungen, Kongresse oder Weiterbildungen sowie Literaturstudium möglich sind. Eine Einschränkung auf bestimmte Wissensgebiete sieht das ÄrzteG 1998 nicht vor. Dennoch steigen auch im ärztlichen Bereich Interesse und Nachfrage nach Komplementärmedizin. An der Medizinischen Universität Wien ist etwa seit einigen Jahren ein Universitätslehrgang „Grundlagen und Praxis der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM)“ eingerichtet. Als Zielsetzung des Lehrgangs werden das Erlernen der theoretischen Grundlagen der chinesischen Diagnostik, Akupunktur und Arzneimittelkunde sowie deren praktische Anwendung angeführt, der Lehrgang

»» „… orientiert sich an den Grundsätzen

der Traditionellen Chinesischen Medizin wie sie heute international gelehrt und praktiziert wird, z. B. in der VR China, in Japan, Korea, Frankreich, Holland und den USA.“

Der Lehrgang dauert 5 Semester berufsbegleitend und schließt mit dem akademischen Grad Master of Science (TCM) ab. Die Österreichische Ärztekammer bietet Spezialdiplome u. a. in folgenden komplementären bzw. alternativen Disziplinen an: Spezialdiplome der Österreichischen Ärztekammer 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55 55

Akupunktur Anthroposophische Medizin Applied Kinesiology Begleitende Krebsbehandlungen Chinesische Diagnostik und Arzneitherapie Diagnostik und Therapie nach Dr. F. X. Mayr Ernährungsmedizin Homöopathie Kneippmedizin Manuelle Medizin Neuraltherapie Orthomolekulare Medizin Phytotherapie

Ergänzend sei hierzu angemerkt, dass der Obers­ te Sanitätsrat im Jahr 1990 die „Dr. F.X.Mayr-Kur“ als „keine den Grundsätzen und anerkannten Methoden der medizinischen Wissenschaft entsprechende Heilmethode“ bewertet hat. Fort- und Weiterbildungen im komplementärmedizinischen Bereich für Ärzte werden zudem von Ärztegesellschaften und von zahlreichen Weiterbildungsinstitutionen wie etwa dem Zentrum für Traditionelle Chinesische Medizin und Komplementärmedizin an der Donauuniversität Krems (z.  B.  TCM, Osteopathie oder natural medicine) durchgeführt.

1071 Die gesundheitsrechtliche Situation im Bereich der Komplementärmedizin

41.1.6  Komplementärmedizini-

sche Arzneimittel

Europarechtliche Grundlage für registrierte Arzneimittel im Bereich der Humanmedizin sind eine Fülle von Richtlinien des (Europäischen Parlaments und des) Rates, wie die Richtlinien 65/65/EWG, 75/318/EWG, 75/319/ EWG, 83/570/EWG, 92/73/EWG u. v. a. Diese sind im Arzneimittelgesetz (AMG), BGBl. Nr.  185/1983, in nationales Recht umgesetzt, das durch das Bundesministerium für Gesundheit und Frauen betreut und vollzogen wird. Im Bundesministerium für Gesundheit und Frauen sind maßgebliche Beiräte und Kommissionen des Arzneimittelsektors eingerichtet. Die für operative Angelegenheiten des Arzneimittelsektors (Zulassung, Pharmakovigilanz, klinische Prüfungen, Marktüberwachung und Inspektionen) zuständige Behörde ist das Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen, das sich bei der Erfüllung seiner Aufgaben der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit GmbH (Bereich Medizinmarktaufsicht) bedient. Europaweite Vorgaben in diesem Bereich werden durch die Generaldirektion Gesundheit und Verbraucher sowie die Europäische Arzneimittelagentur erstellt. Eine wichtige Institution ist auch das Europäische Direktorat für die Qualität von Arzneimitteln und Gesundheitsfürsorge (EDQM) des Europarats. Neuzulassungen von Arzneimitteln und Änderungen werden durch das Bundesamt für Sicherheit im Gesundheitswesen einmal pro Monat, jeweils getrennt nach Human- oder Veterinärarzneispezialitäten gesammelt, veröffentlicht. Mehrere Urteile des Europäischen Gerichtshofs bestätigen den Status von P ­ hytopharmaka als Arzneimittel im Sinne von Art. 1 der Richtlinie 65/65 EWG (Angabe von vorbeugenden oder therapeutischen Indikationen, Verabreichung dient der Beeinflussung von Körperfunktionen, pharmakologische Wirkung, z. B. auf das Immunsystem, Aufmachung und Verkehrsauffassung des Produkts).

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In Umsetzung der Richtlinie 2004/24/EG zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG zur Schaffung eines Gemeinschaftskodexes für Humanarzneimittel hinsichtlich traditioneller pflanzlicher Arzneimittel im AMG können pflanzliche Arzneimittel entweder eine Vollzulassung, eine Zulassung nach well established use oder eine Zulassung als traditionelles pflanzliches Arzneimittel erfahren. Bei einer Vollzulassung sind die pharmazeutische und therapeutische Qualität (Wirkung, Wirksamkeit, Klinische Studien, Bibliographische Daten, Unbedenklichkeit) nachzuweisen. zz Definitionen gemäß AMG Wirksamkeit - Eignung eines Arzneimittels, die in § 1 Abs. 1 AMG genannten Zweckbestimmungen zu erfüllen (Eigenschaften zur Heilung oder Linderung oder Verhütung menschlicher oder tierischer Krankheiten oder krankhafter Beschwerden, Wiederherstellung, Korrektur oder Beeinflussung physiologischer Funktionen durch eine pharmakologische, immunologische oder metabolische Wirkung, oder Grundlage für eine medizinische Diagnose).

Wirkung - Eine mit naturwissenschaftlichen Methoden nachweisbare Beeinflussung der Beschaffenheit oder der Funktion eines biologischen Objekts.

Unbedenklichkeit - Bei bestimmungsgemäßem Gebrauch ist das vorhersehbare Risiko unerwünschter Wirkungen in Abwägung mit der Wirksamkeit oder Zweckbestimmung nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft vertretbar.

Zulassung gemäß well established use - Es ist keine Vorlage von Ergebnissen von nichtklinischen und/ oder klinischen Studien erforderlich, wenn mittels detaillierter bibliographischer Unterlagen nachgewiesen werden kann, dass der Wirkstoff/die Wirkstoffe der Arzneispezialität seit mindestens 19 Jahren in der Europäischen Union allgemein medizinisch verwendet werden und die für eine Zulassung anerkannte Wirksamkeit und die Unbedenklichkeit der Arzneispezialität gegeben ist (vgl. § 10a AMG).

kRegistrierung traditioneller pflanzlicher Arzneispezialitäten

§§  12–14 AMG: Eine Registrierung als traditionelle pflanzliche Arzneispezialität ist nur möglich, wenn die Anwendungsgebiete ausschließlich denen traditioneller pflanzlicher Arzneimittel entsprechen, die nach ihrer Zu-

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sammensetzung und ihrem Verwendungszweck dazu bestimmt sind, ohne Verschreibung angewendet zu werden, sie ausschließlich in einer bestimmten Stärke und Dosierung zu verabreichen und ausschließlich zur oralen oder äußerlichen Anwendung oder zur Inhalation bestimmt sind, und die Angaben über die traditionelle pflanzliche Verwendung einschließlich Unbedenklichkeit und Plausibilität der Wirksamkeit ausreichend belegt sind. kRegistrierung homöopathischer Arzneispezialitäten

§ 11 AMG: Homöopathische Arzneispezialitäten unterliegen nicht der Zulassungspflicht gemäß § 7 AMG, wenn sie als Humanarzneispezialität zur äußerlichen oder oralen Anwendung bestimmt sind, keine bestimmte therapeutische Indikation im Namen, der Kennzeichnung oder ggf. in der Gebrauchsinformation aufweisen, und nur in Verdünnungen abgegeben werden, die die Unbedenklichkeit der Arzneispezialität garantieren. kPflanzliche Produkte ohne Arzneimittelanspruch

Hierbei handelt es sich entweder um Lebensmittel (geregelt durch das Lebensmittelgesetz 1975, BGBl. Nr. 86/1975), zu denen auch Nahrungsergänzungsmittel (vgl. Richtlinie 2002/46/EG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten für Nahrungsergänzungsmittel; Nahrungsergänzungsmittelverordnung, BGBl. II Nr. 88/2004) zählen, um Kosmetika (vgl. Verordnung (EG) Nr. 1223/2009 über kosmetische Mittel) oder um Therapie-­ Ergänzungsmittel (wie z.  B.  Bach-Blüten). Für diese muss eine Dokumentation zu Qualität und Unbedenklichkeit eingereicht werden, Indikationsansprüche sind nicht erlaubt. 41.1.7  Gewerbliche Berufe – „Neue

Gesundheitsberufe“

Komplementäre Methoden haben nicht nur bei den Gesundheitsberufen, sondern auch im Gewerbe Einzug gefunden.

Die Rechtsgrundlagen für Gewerbe finden sich in der Gewerbeordnung 1994 (GewO 1994), BGBl. Nr.  194/1994, und den entsprechenden Durchführungsverordnungen. §  2 GewO 1994 normiert zur „Ausübung der Heilkunde“:

»» „Dieses Bundesgesetz ist … auf die in den nachfolgenden Bestimmungen angeführten Tätigkeiten nicht anzuwenden: … 11. die Ausübung der Heilkunde, der Psychotherapie und des psychologischen Berufes im Bereich des Gesundheitswesens, die zur Berufsausübung zählenden und in deren Rahmen vorgenommenen Tätigkeiten der Dentisten, Hebammen, der Tierärzte sowie der Apotheker, die Krankenpflegefachdienste, die medizinisch-technischen Dienste sowie die Sanitätshilfsdienste …“

Daraus ergibt sich, dass Angehörige der Gewerbe keine Tätigkeiten „der Heilkunde“ und sonstige den Gesundheitsberufen vorbehaltene Tätigkeiten ausüben dürfen.

Reglementierte Gewerbe Die GewO 1994 kennt folgende reglementierte Gewerbe (vgl. § 94), die direkte Schnittstellen zur menschlichen Gesundheit aufweisen bzw. direkt Tätigkeiten am Menschen durchführen: Reglementierte Gewerbe in Zusammenhang mit der menschlichen Gesundheit 55 Augenoptik 55 Bandagisten, Orthopädietechnik, Miederwarenerzeugung 55 Bestattung 55 Drogisten 55 Erzeugung von kosmetischen Artikeln 55 Friseur und Perückenmacher (Stylist) 55 Fußpflege 55 Herstellung von Arzneimitteln und Giften und Großhandel von Arzneimitteln und Giften 55 Herstellung und Aufbereitung von Medizinprodukten und Handel mit

1073 Die gesundheitsrechtliche Situation im Bereich der Komplementärmedizin

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sowie Vermietung von Medizinprodukten Hörgeräteakustik Kontaktlinsenoptik Kosmetik (Schönheitspflege) – hierzu zählt auch Piercen und Tätowieren Lebens- und Sozialberatung Massage – hierzu zählen auch Shiatsu, Ayurveda-Wohlfühlpraktik, Tuina-AnMo-­Praktik und „andere ganzheitlich in sich geschlossene Systeme“ Orthopädieschuhmacher Zahntechniker

Für die Ausübung eines reglementierten Gewerbes ist die Erbringung eines Befähigungsnachweises erforderlich.

Freie Gewerbe Daneben bieten auch freie Gewerbe, die nicht befähigungsnachweispflichtig sind, gesundheitsbezogene Dienstleistungen an. Zu den freien Gewerben zählen u. a. die sogenannten Hilfesteller oder Energetiker. Die Wirtschaftskammer Österreich hat hierzu einen Methodenkatalog & Berufsbild Humanenergetik veröffentlicht. Die Bundeseinheitliche Liste der freien Gewerbe (Stand: 6. Juli 2017) führt folgende Methoden der sog. Hilfesteller an: Hilfestellung zur Erreichung einer körperlichen bzw. energetischen Ausgewogenheit 55 55 55 55 55 55 55 55 55

mittels der Methode von Dr. Bach mittels Biofeedback oder Bioresonanz mittels Auswahl von Farben mittels Auswahl von Düften mittels Auswahl von Lichtquellen mittels Auswahl von Aromastoffen mittels Auswahl von Edelsteinen mittels Auswahl von Musik unter Anwendung kinesiologischer Methoden 55 mittels Interpretation der Aura 55 mittels Magnetfeldanwendung

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55 durch sanfte Berührung des Körpers bzw. gezieltes Auflegen der Hände an bestimmten Körperstellen 55 mittels Cranio Sacral Balancing 55 durch Berücksichtigung bioenergetischer, geobiologischer, elektrobiologischer, baubiologischer und geomantischer Gesichtspunkte 55 durch Berücksichtigung der Auswirkungen der energetischen Geometrie und Lichtphysik 55 mittels Feng Shui, Zen, Vastu bzw. anderer lebensraumrelevanter Aspekte verschiedener Epochen und Kulturen 55 mittels Numerologie 55 mittels Wassersuche sowie radiästhetischer Untersuchungen mit Rute, Pendel etc. 55 mittels Wahrnehmung raumenergetischer Phänomene mit und ohne Geräteunterstützung 55 durch Berücksichtigung von Planetenkonstellationen und lunaren Energien

>> Angehörigen von Gewerben ist eine Diagnostik, Behandlung bzw. Therapie von Krankheiten oder krankheitswertigen Störungen nicht erlaubt.

Weitere Personenkreise Komplementäre Methoden werden darüber hinaus auch von Personen angeboten, die weder in einem Gesundheitsberuf noch in einem Gewerbe eine gesetzlich geregelte Ausbildung absolviert haben, wie z. B. Wender, Geistheiler, Spruchheiler, Schamanen etc. >> Auch diesen Personen ist jegliche Dia­ gnostik, Behandlung bzw. Therapie von Krankheiten oder krankheitswertigen Störungen verboten.

In diesem Zusammenhang sei der Vollständigkeit halber auf die Richtlinie für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zur Frage der Abgrenzung der Psychotherapie von

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esoterischen, spirituellen und religiösen Methoden des Bundesministeriums für Gesundheit und Frauen verwiesen, die für den Bereich der Psychotherapie als wissenschaftlich fundierter Krankenbehandlung eine entsprechende Grenzziehung intendiert (7 https://  

www.­b mgf.­g v.­at/home/Schwerpunkte/Berufe/ Formulare_Informationen_und_Richtlinien_im_ Bereich_der_Psychotherapie).

Im Rahmen einer Studie der Kammer für Arbeiter und Angestellte für Steiermark vom August 2004 wurden unter dem Titel „Neue Gesundheitsberufe“ folgende „Gesundheitsund Wellnessangebote“ vornehmlich im Bundesland Steiermark angeführt und beschrieben: 55 Aromatherapie, 55 Astrologie, 55 Aura Soma, 55 Ayurveda, 55 Bachblütentherapie, 55 Biodanza, 55 Bowen-Technik, 55 Breema, 55 Enneagramm, 55 Farbtherapie, 55 Feldenkrais-Methode, 55 Feng Shui, 55 Holistic Pulsing, 55 Human Design System, 55 Hypnose, 55 Iridologie, 55 Kinesiologie, 55 Magnetfeldtherapie, 55 Mind Walking, 55 Polarity, Pranic Healing, 55 Qigong, 55 Radionik, 55 Rebirthing, 55 Reiki, 55 Rolfing, 55 Schüßler-Salze, 55 Shiatsu, 55 Spagyrik, 55 Tachyonen, 55 Taiji, 55 Tantra, 55 TCM – traditionelle chinesische Medizin,

55 Thalassotherapie, 55 Yoga. In der Beschreibung fast aller dieser Methoden wird von „Therapie“, „Behandlung“, „Behandlungsmethode“ oder sogar „Heilung“ gesprochen; es wird angeführt, bei welchen Beschwerden und Krankheitsbildern diese anzuwenden seien (obwohl, wie ausgeführt, Gewerben und sonstigen Anbietern, die keine gesetzlich geregelten Gesundheitsberufe sind, eine diagnostische oder therapeutische Tätigkeit im Zusammenhang mit Krankheiten in Österreich verboten ist).

 echtsprechung im Bereich R gewerbliche Berufe und „neue Gesundheitsberufe“ Einen nicht zu vernachlässigenden Einfluss auf die Entwicklungen in diesem Bereich trägt die höchstgerichtliche Rechtsprechung bei. Während der Verwaltungsgerichtshof in seinem Erkenntnis vom 10.11.2002, 98/04/0026, noch zu dem Schluss kam, dass Tätigkeiten, die sich darauf beziehen, Personen auf ihren Gesundheitszustand hin zu untersuchen und mit natürlichen Heilmethoden zu behandeln, unabhängig davon, ob die angewandten Methoden auf medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen oder nicht, als „Ausübung der Heilkunde“ zu qualifizieren seien, sodass solche Tätigkeiten nicht unter den Anwendungsbereich der GewO 1994 fallen, hat der Oberste Gerichtshof seit 2004 teilweise eine andere Linie verfolgt. Im Folgenden werden Auszüge aus einigen Erkenntnissen der letzten Jahre angeführt, die für die Beurteilung, ob eine Tätigkeit unter den Arztvorbehalt fällt, von Bedeutung sind: zz OGH 4 Ob 166/03w

»» „Ist eine Tätigkeit dem ‚Medizinischen‘ zu-

zuordnen (wie z. B. Diagnose, Behandlung, Operation etc.), ist sie erst dann Ärzten vorbehalten, wenn sie darüber hinaus umfassende medizinisch-wissenschaftliche Kenntnisse in der Breite erfordert, wie sie der Fächerkanon der medizinischen Ausbil-

1075 Die gesundheitsrechtliche Situation im Bereich der Komplementärmedizin

dung umschreibt, und dessen erkenntnistheoretische Grundlagen zumindest jene methodische Rationalität aufweisen, wie es den Anforderungen der Wissenschaft genügt. … Entscheidend ist aus strafrechtlicher Sicht, ob die betreffende Verhaltensweise unter die Generalklausel des ÄrzteG zu subsumieren ist. Bei dieser Beurteilung ist nicht so sehr an das äußere Erscheinungsbild einer Verhaltensweise, sondern an den damit verfolgten Zweck anzuknüpfen (Trifterer aaO Rz 6). Strafrechtlich verpönt ist es, die Gesundheit eines Ratsuchenden (abstrakt) zu gefährden, indem ein Nichtarzt durch sein Verhalten den Eindruck erweckt, der Ratsuchende könne von ihm all das erlangen, was ihm auch ein Arztbesuch bietet, was zur Folge hat, dass ein Arztbesuch unterbleibt. … Wer als Nichtarzt Untersuchungen – welcher Art immer – mit der erkennbaren Absicht vornimmt, einem Ratsuchenden dadurch Auskünfte über das Vorliegen oder Nichtvorliegen von Krankheiten oder krankhaften Störungen, Behinderungen oder Missbildungen zu erteilen, oder wer als Nichtarzt solche Auskünfte in Form einer Diagnose – auf Grund welcher Erkenntnisquelle immer – erteilt, erweckt den Anschein, ein Arztbesuch sei entbehrlich.“

zz OGH 4 Ob 156/04a

»» „… und Rechtsprechung zur Frage fehle,

ob die Ausübung der ‚cranio-sacralen Osteopathie‘ aufgrund eines Gewerbescheins zulässig oder den Ärzten oder Physiotherapeuten vorbehalten sei. … Ein Nichtarzt handelt sittenwidrig im Sinne des § 1 UWG, wenn er den eigenen (oder fremden) Wettbewerb durch Tätigkeiten fördert, die in den Ärztevorbehalt eingreifen (4 Ob 166/03w = ÖBl 2004, 14 – Natur- und Geistheiler). Gleiches gilt, wenn Blut- oder Harnanalysen von einem Unternehmen angeboten werden, das nicht die nach dem Bundesgesetz über die Regelung der gehobenen medizi-

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nisch-technischen Dienste (MTD-Gesetz) erforderliche Befugnis zur Erbringung medizinisch-technischer Dienste besitzt (4 Ob 17/04k). Nichts anderes kann gelten, wenn Leistungen angeboten werden, die als mechanotherapeutische Maßnahmen unter § 2 Abs. 1 MTD-Gesetz fallen. Maßgebend ist, dass die Beklagte die Behandlung krankhafter Zustände (wie Schmerzen im Schulterbereich, Bandscheibenvorfall) durch mechanotherapeutische Maßnahmen anbietet.“

zz OGH 4 Ob 19/04d

»» „… ob das Verhalten eines Nichtarztes ein

sittenwidriger Eingriff in den Ärztevorbehalt ist oder ob dieses Verhalten nicht geeignet ist, sich auf die Wettbewerbslage zwischen Ärzten und Nichtärzten auszuwirken, darauf ab, welchen Eindruck der Ratsuchende vom Verhalten des Nichtarztes gewinnen muss. Wer als Nichtarzt Untersuchungen – welcher Art immer – in der erkennbaren Absicht vornimmt, einem Ratsuchenden dadurch Auskünfte über das Vorliegen oder Nichtvorliegen von Krankheiten oder krankhaften Störungen, Behinderungen oder Missbildungen zu erteilen, oder wer als Nichtarzt solche Auskünfte in Form einer Diagnose – auf Grund welcher Erkenntnisquelle immer – erteilt, erweckt den Anschein, ein Arztbesuch sei entbehrlich; er fördert dadurch den eigenen Wettbewerb auf sittenwidrige Weise, nämlich unter Missachtung des § 2 Abs. 2 ÄrzteG, zu Lasten der Ärzte und verstößt damit gegen § 1 UWG (4 Ob 166/03w). Im Hinblick auf das Gutachten des Obersten Sanitätsrats, wonach die Behandlung mit homöopathischen Arzneimitteln nur nach ärztlicher Anordnung erfolgen dürfe, wurde ausgesprochen, dass darin die Rechtsmeinung der in Gesundheitsfragen zuständigen höchsten Verwaltungsbehörde zum Ausdruck kommt, die bis zu einer gegenteiligen Äußerung für die Rechtsanwender als Richtschnur ihres

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Verhaltens zu dienen hat; wer von diesem Verhalten abweicht, kann sich daher auch nicht mit Erfolg auf einen entschuldbaren Rechtsirrtum berufen (4 Ob 70/02a).“

zz OGH 4 Ob 168/04s

»» „… dass es für die Frage, ob eine ärztliche Heilbehandlung vorliegt, nicht darauf ankommt, ob eine körperliche Berührung des ‚Patienten‘ erfolgt, weil es auch ärztliche Diagnose- und Heilmethoden ohne eine solche gibt.“

zz OGH 4 Ob 217/04x

»» „Der Begriff der ‚medizinisch-­

wissenschaftlichen Erkenntnisse‘ ist nicht mit dem der Schulmedizin gleichzusetzen. Wissenschaftlich fundiert können auch Methoden sein, die (noch) nicht Eingang in die Schulmedizin gefunden haben, wie die Homöopathie und die Akupunktur. Eine auf medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen gegründete Tätigkeit wird aber – wie oben dargelegt – nur ausgeübt, wenn die angewandte Methode ein gewisses Mindestmaß an Rationalität aufweist und für ihre Durchführung das typischerweise durch das Medizinstudium vermittelte umfassende Wissen erforderlich ist.“

zz OLG Graz 9 Bs 254/05d)

»» „Mit der Entscheidung vom 30.11.2004, 4

Ob 217/04x, festigte der OGH mit eingehender Begründung diese jüngere Judikatur im Einklang mit der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes (vgl. B761/03) unter Kritik an der strafrechtlichen Judikatur und stellte klar, dass die in § 2 Abs. 2 ÄrzteG genannten Tätigkeiten nur dann unter den Ärztevorhalt fallen, wenn sie auf medizinisch-­ wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Der Auffassung der Lehre (s. Mazal, Krankheitsbegriff und Risikobegrenzung [Wien 1992] 246 ff.; Aigner/Kierein/Ko-

petzki, ÄrzteG 1998 § 2 Rz 6, Heilegger, Ärztlicher Vorbehaltsbereich und Alternativmedizin: Versuch einer Ab- und Eingrenzung, RdM 1999, 135) folgend, wird eine auf medizinisch-­wissenschaftliche Erkenntnisse gegründete Tätigkeit nur dann ausgeübt, wenn die angewandte Methode ein gewisses Mindestmaß an Rationalität aufweist und für ihre Durchführung das typischerweise durch das Medizinstudium vermittelte umfassende Wissen erforderlich ist. Die Schulmedizin (zumindest definiert als die Richtung, die wissenschaftlich begründet und in Fachkreisen anerkannt ist sowie an Hochschulen gelehrt wird) ist nach diesem Verständnis zwar nicht zu 100 % ident mit der medizinisch-wissenschaftlichen Fundierung, aber doch weitgehend gleichläufig. Für Alternativmedizin ist bis heute eine allgemein-­verbindliche Definition nicht entwickelt, was wohl daraus resultiert, dass eine Vielzahl unterschiedlichster Methoden mit unterschiedlichsten Ansätzen dazu zählt. Definiert man ‚Alternativmedizin‘ als alle Behandlungsmethoden, die eben alternativ (‚komplementär‘) zur Schulmedizin bestehen, so ist von vergleichsweise anerkannten und wissenschaftlichen Methoden wie der Akupunktur oder der Homöopathie bis hin zu Geistheilern und Gesundbetern das gesamte Spektrum erfasst. Unter sogenannten ‚Geist- oder Wunderheilern‘ werden Personen verstanden, die unter Berufung auf ein metaphysisches Geistwesen mittels Handauflegen, Beten, Besprechen, Fern- oder Gruppenbehandlung, medial, schamanistisch, exorzistisch oder radionisch ‚Heilen‘. Auch wenn sie (noch) nicht Eingang in die Schulmedizin gefunden haben, können alternative Behandlungsmethoden (zumindest in gewissem Ausmaß) wissenschaftlich fundiert sein, so etwa der Fall bei der Homöopathie und der Akupunktur. Nur soweit die Anwendung eines Alternativverfahrens (auch) die durch das Medizinstudium vermittelten umfassenden Kenntnisse erfordert,

1077 Die gesundheitsrechtliche Situation im Bereich der Komplementärmedizin

basiert die Methode im obigen Sinne auf ‚medizinisch-­wissenschaftlichen Erkenntnissen‘ und ist dem ärztlichen Vorbehaltsbereich zuzurechnen. Dementsprechend erfüllen ‚Geistheiler‘ und verwandte Methoden nicht einmal das Kriterium der Mindestrationalität, geschweige denn ist das Beherrschen des durch das Medizinstudium vermittelten Wissens für ihre Durchführung erforderlich, weshalb sie auch nicht in den ärztlichen Vorbehaltsbereich fallen (Heilegger, Ärztlicher Vorbehaltsbereich und Alternativmedizin: Versuch einer Ab- und Eingrenzung, RdM 1999, 135; Schwartz, Von Exorzisten und Heilpraktikern: Geistheilungen rechtlich betrachtet, RdM 1999, 13).“

zz OGH 4 Ob 256/05h

»» „Nach nunmehriger Rechtsprechung des

Obersten Gerichtshofs kommt es bei der Abgrenzung des ärztlichen Vorbehaltsbereichs nicht (mehr) darauf an, ob der Ratsuchende den Eindruck gewinnt, ein Arztbesuch sei entbehrlich. Maßgebend ist vielmehr die wissenschaftliche Begründung der angewendeten Methoden und die Zugehörigkeit zur medizinischen Wissenschaft. Damit fallen die in § 2 Abs. 2 ÄrzteG genannten Tätigkeiten, wie die Untersuchung auf das Vorliegen oder Nichtvorliegen von körperlichen oder psychischen Krankheiten oder Störungen und die Behandlung solcher Zustände, nur dann unter den Ärztevorbehalt, wenn sie auf medizinisch-­wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Der Begriff der ‚medizinisch-­ wissenschaftlichen Erkenntnisse‘ ist nicht mit dem der Schulmedizin gleichzusetzen. Wissenschaftlich fundiert können auch Methoden sein, die (noch) nicht Eingang in die Schulmedizin gefunden haben, wie die Homöopathie und die Akupunktur. Eine auf medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnissen gegründete Tätigkeit wird aber nur ausgeübt, wenn die angewandte Methode ein gewisses Mindestmaß an Rationalität

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aufweist und für ihre Durchführung das typischerweise durch das Medizinstudium vermittelte umfassende Wissen erforderlich ist.“ (4 Ob 217/04x = ÖBl 2005/21 – Tiuna-Massage).

zz OGH 4 Ob 151/06v

»» „Denn die Abgrenzung des ärztlichen

Vorbehaltsbereichs kann grundsätzlich nur nach objektiven Kriterien erfolgen. Nach der neueren wettbewerbsrechtlichen Rechtsprechung zum Ärztevorbehalt (4 Ob 217/04x = SZ 2004/171 = ÖBl 2005/21 [Gamerith] – Tuina-­Massage mwN; 4 Ob 256/05h – Ekzembehandlung; ebenso zu § 184 StGB OLG Graz 9 Bs 254/05d) kommt es daher nicht (mehr) darauf an, ob Ratsuchende aufgrund des beanstandeten Verhaltens den Eindruck gewinnen, ein Arztbesuch sei entbehrlich. Maßgebend ist vielmehr die Frage, ob die angewendeten Methoden auf medizinisch- ­wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Sie fallen nur dann in den ärztlichen Vorbehaltsbereich, wenn sie ein gewisses Mindestmaß an Rationalität aufweisen und für ihre Durchführung das typischerweise durch ein Medizinstudium vermittelte umfassende Wissen erforderlich ist. – Nach den Feststellungen der Vorinstanzen ist die Irisdiagnose wissenschaftlich widerlegt. Die ihr zugrunde liegenden Annahmen – Einteilung der Iris in bestimmten Körperteilen zugeordnete Segmente – sind ‚völlig willkürlich gewählt‘ und können zudem schon aus physiologischen Gründen (Kreuzen der Nervenbahnen) nicht zutreffen. Damit fehlt von vornherein das Mindestmaß an Rationalität, das für die Annahme einer den Ärzten vorbehaltenen Tätigkeit erforderlich ist. Das typischerweise in einem Medizinstudium vermittelte umfassende Wissen ist für die Irisdiagnose völlig irrelevant. Es mag zwar zutreffen, dass die Schlussfolgerung von körperlichen ‚Symp­ tomen‘ (hier: Eigenheiten der Iris) auf

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Krankheiten den für die wissenschaftliche Medizin typischen empirischen Zugang ‚nachbildet‘. Maßgebend ist aber nicht dieser Eindruck nach außen, sondern das objektiv zu bestimmende Wissenschaftlichkeitskriterium. Die Wissenschaftlichkeit der Methode kann sich auch nicht allein daraus ergeben, dass sie einer Widerlegung zugänglich (falsifizierbar) ist. Denn nach diesem Kriterium müsste auch jede andere pseudomedizinische Methode als wissenschaftlich angesehen werden, wenn nur eine empirische Untersuchung ergibt, dass sie keine nachweisbaren Heil- und/ oder Diagnoseerfolge hat. Das wäre auch bei Handauflegen oder Geisterbeschwörungen möglich. – Ärzten und Nichtärzten sind freilich nach § 2 UWG irreführende Angaben über die eigenen Leistungen untersagt. Dabei kann auch das Verschweigen von Tatsachen eine relevante Irreführung sein, wenn eine Aufklärung des Publikums zu erwarten wäre (RIS-Justiz RS0078579; vgl. auch RS0078615). Eine solche Aufklärungspflicht wird jedenfalls dann anzunehmen sein, wenn eine Methode angewendet wird, die zwar nicht wissenschaftlich-­rational ist, aber einen solchen Eindruck erweckt, oder wenn die Unwirksamkeit einer Methode aufgrund empirischer Untersuchungen erwiesen ist.“

zz OGH 2012/11/0095

»» „Es ist allgemein bekannt, dass eine ärzt-

liche Berufsberechtigung nicht durch ‚Zertifizierung‘ durch einen Dritten bzw. eine Privatperson erworben wird, sondern im Wesentlichen durch ein Universitätsstudium und eine anschließende ärztliche Ausbildung. Darüber hinaus kann als im allgemeinen Verkehr bekannt vorausgesetzt werden, dass mit einem medizinischen Hochschulstudium nicht der akademische Grad Diplomingenieur (DI), wie ihn der Beschuldigte führt, erlangt

wird. Die dem akademischen Grad und dem Namen des Beschuldigten nachgestellte Bezeichnung ‚von P zertifizierter Aurachirurgie-­Trainer‘ ist demnach nicht objektiv geeignet, eine Täuschung über das Bestehen einer ärztlichen Berufsberechtigung gemäß § 43 Abs. 3 ÄrzteG 1998 hervorzurufen. Auch für sich genommen führt die Bezeichnung ‚Aurachirurgie-Trainer‘ zu keinem anderen Ergebnis. Einerseits wäre es für Ärzte ganz unüblich, sich als ‚Trainer‘ zu bezeichnen, andererseits ist nicht davon auszugehen, dass nach der Verkehrsauffassung ‚Aurachirurgie‘ nicht bloß als dem Bereich der Esoterik zugehörige behauptete Einflussnahme auf einen Menschen und seine ‚Aura‘, sondern als Ausübung einer ärztlichen – nämlich chirurgischen im herkömmlichen Verständnis – Tätigkeit, zu der es der (fach) ärztlichen Berufsausübungsberechtigung bedarf, verstanden wird.“

Zusammenfassung 55 Die österreichische Rechtsordnung lässt aus Sicht der Autorin eine klare durchgängige Regelung sowohl der Ausbildung in als auch der Ausübung von Komplementärmedizin vermissen. 55 Insbesondere das ÄrzteG 1998, das Allgemeine Sozialversicherungsgesetz und das Krankenanstalten- und Kuranstaltenge­ setz enthalten hierzu keine zeitgemäßen Normen. 55 Gänzlich fehlt die explizite Normierung von komplementärmedizinischen Inhalten in der Ärzteausbildung. 55 Ob die nähere Zukunft entsprechende Änderungen bringen wird, bleibt abzuwarten. 55 Einer dringenden klaren Abgrenzung bedürften auch freie Gewerbe, die ohne Ausbildung und zumeist ungestraft „Heilung“ anbieten bzw. versprechen und so eine ernsthafte Gefahr für kranke Menschen darstellen können.

1079 Die gesundheitsrechtliche Situation im Bereich der Komplementärmedizin

41.2  Deutschland 41.2.1  Historische Entwicklung

In Deutschland erfolgte eine erste Verankerung der Komplementärmedizin in der Rechtsordnung in den 1970er-Jahren. In der Neufassung des Arzneimittelgesetzes im Jahr 1976 wurde ein „Schutzraum“ für die Arzneimittel der „besonderen Therapierichtungen und Stoffgruppen“ Homöopathie, Phytotherapie und anthroposophisch erweiterte Medizin geschaffen, wobei den Begriffen der „traditionellen Anwendung“ bzw. der „traditionellen Arzneimittel“ besondere Bedeutung zukam. Auf die Einführung der Gebiete Naturheilverfahren und Homöopathie in der Novellierung der Approbationsordnung für Ärzte 1988 folgte im Jahr 1989 der erste ordentlich-­ öffentliche Lehrstuhl für Naturheilkunde an der Freien Universität Berlin. Von 1986–1996 wurden die Förderprogramme Unkonventionelle Methoden der Krebsbekämpfung und Unkonventionelle Medizinische Richtungen vom Bundesforschungsministerium im Umfang von rund 15 Mio. € unterstützt. 1998 bildete sich das Forum universitärer Arbeitsgruppen für Naturheilverfahren und Komplementärmedizin und im Jahr 2000 das sog. Pluralismusforum (Dialogforum Pluralismus in der Medizin) bei der Bundesärztekammer. In der Approbationsordnung für Ärzte (ÄApprO 2002) vom 27. Juni 2002 (BGBl. I S.  2405), blieben zwar die Naturheilverfahren als obligatorisches Fach erhalten, Homöopathie und weitere komplementäre Methoden wie Chirotherapie stehen seitdem aber lediglich als Wahlpflichtfächer zur Verfügung. Seit 2004 dürfen Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen  – von Ausnahmen abgesehen  – nicht mehr von der gesetzlichen Krankenversicherung erstattet werden.

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41.2.2  Berufsrechtliche

Regelungen

In der Bundesrepublik Deutschland gehört es zu den wesentlichen Freiheitsrechten aller Bürger, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes geregelt werden (vgl. Art. 12 Abs. 1 und 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949, BGBl. S. 1). Der Schutz von Berufsbezeichnungen wird über § 132a Strafgesetzbuch (StGB) vom 13.11.1998, BGBl. I S.  3322, durch den Straftatbestand „Missbrauch von Titeln, Berufsbezeichnungen und Abzeichen“ geregelt. Wer unbefugt inländische oder ausländische Amtsoder Dienstbezeichnungen, akademische Grade, Titel oder öffentliche Würden führt, die Berufsbezeichnung Arzt, Zahnarzt, psychologischer Psychotherapeut, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut, Psychotherapeut, Tierarzt, Apotheker (…) führt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. Personen in der Ausbildung dürfen eine Berufsbezeichnung nur führen, wenn diese mit einem entsprechenden Zusatz versehen ist. Neben den geschützten Berufsbezeichnungen gibt es in Deutschland bei einigen Gesundheitsberufen auch vorbehaltene Tätigkeiten. So ist die „Ausübung der Heilkunde“ Ärzten, Zahnärzten, psychologischen Psychotherapeuten, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und Heilpraktikern vorbehalten. Vorbehaltene Tätigkeiten sind ferner auch für Apotheker, Hebammen und medizinisch-­ technische Assistenten (Laboratorium, Radiologie, Funktionsdiagnostik) normiert. Dies ist in den entsprechenden Berufsgesetzen geregelt (vgl. § 9 MTA-Gesetz, § 4 HebG, § 1 PsychThG, u. a.). Beispielhaft sei hier die Ausübung der Zahnheilkunde angeführt: Diese bedarf nach § 1 Abs. 1 Gesetz über die Ausübung der Zahnheilkunde vom 16. April 1987 (BGBl. I S. 1225)

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einer Approbation als Zahnarzt nach Maßgabe dieses Gesetzes. Die Approbation berechtigt zur Führung der Bezeichnung als „Zahnarzt“ oder „Zahnärztin“. Die Ausübung der Zahnheilkunde ist gemäß Abs. 3 leg. cit. die berufsmäßige, auf zahnärztlich-wissenschaftliche Erkenntnisse gegründete Feststellung und Behandlung von Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten. Auch das Führen der Bezeichnung „Hebamme“ oder „Entbindungspfleger“ bedarf gemäß Gesetz über den Beruf der Hebamme und des Entbindungspflegers (Hebammengesetz), vom 4. Juni 1985 (BGBl. I S. 902) der Erlaubnis, wobei die Geburtshilfe nur von Ärzten und Hebammen/Entbindungspflegern geleistet werden darf. Die Anwendung „alternativer“ Behandlungsmethoden ist in Deutschland grundsätzlich erlaubt, solange kein Verstoß gegen die guten Sitten im Sinne von § 138 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) und § 228 Strafgesetzbuch (StGB) vorliegt. >> Vor Anwendung solcher Methoden ist der Patient umfänglich über etwaige Risiken und Nebenwirkungen aufzuklären. Steht eine erfolgversprechendere anerkannte Therapie zur Verfügung, muss der Patient hierüber vorrangig aufgeklärt werden.

Angehörige von nichtärztlichen Gesundheitsberufen (z.  B.  Physiotherapeuten) werden in Deutschland in der Regel entweder auf Anweisung und unter Aufsicht eines Arztes oder aufgrund einer Verordnung eines Arztes tätig. Sofern der Arzt komplementärmedizinische Therapien und Methoden anweist oder verordnet und die jeweiligen Angehörigen des nichtärztlichen Gesundheitsberufs entsprechend aus-, fort- oder weitergebildet sind, dürfen diese auch komplementärmedizinische Therapien, Methoden oder Arzneimittel anwenden. Beispielsweise darf Chirotherapie auch von entsprechend weitergebildeten Physiotherapeuten durchgeführt werden.

 eiterbildung für Ärzte W in Komplementärmedizin Die (Muster-)Weiterbildungsordnung 2003 der deutschen Bundesärztekammer enthält Regelungen zur Weiterbildung in Komplementärmedizinrichtungen nach abgeschlossener ärztlicher Ausbildung und Erteilung der Erlaubnis zur Ausübung der ärztlichen Tätigkeit. Diese führt sog. Zusatz-Weiterbildungen u.  a. für Akupunktur, Homöopathie, manuelle Medizin/Chirotherapie oder Naturheilverfahren an. >> Voraussetzung für eine Zusatz-Weiterbildung bzw. den Erwerb der entsprechenden Bezeichnung ist das erfolgreiche Absolvieren einer Facharztweiterbildung bzw. eine Facharztanerkennung, z. T. in einem speziellen Gebiet.

kZusatz-Weiterbildung Akupunktur

Sie umfasst in Ergänzung zu einer Facharztkompetenz die therapeutische Beeinflussung von Körperfunktionen über definierte Punkte und Areale der Körperoberfläche durch Akupunkturtechniken, für die eine Wirksamkeit nachgewiesen ist. Inhalt der Zusatz-Weiterbildung Akupunktur Erwerb von Kenntnissen, Erfahrungen und Fertigkeiten in: 55 Neurophysiologischen und humoralen Grundlagen und klinischen Forschungsergebnissen zur Akupunktur einschließlich der Theorie der Funktionskreise 55 Systematik und Topographie der Leitbahnen und ausgewählter Akupunkturpunkte einschließlich Extra- und Triggerpunkte sowie Punkte außerhalb der Leitbahnen 55 Indikationsstellung und Einbindung der Akupunktur in Behandlungskonzepte

1081 Die gesundheitsrechtliche Situation im Bereich der Komplementärmedizin

55 Punktauswahl und -lokalisation unter akupunkturspezifischen differenzialdiagnostischen Gesichtspunkten 55 Stichtechniken und Stimulationsverfahren der Durchführung der Akupunktur einschließlich der Mikrosystemakupunktur, z. B. im Rahmen der Schmerztherapie 55 Teilnahme an Fallseminaren einschließlich Vertiefung und Ergänzung der Theorie und Praxis der Akupunktur anhand eigener Fallvorstellungen

kZusatz-Weiterbildung Homöopathie

Sie umfasst in Ergänzung zu einer Facharztkompetenz die konservative Behandlung mit homöopathischen Arzneimitteln, die aufgrund individueller Krankheitszeichen als Einzelmittel nach dem Ähnlichkeitsprinzip angewendet werden. Inhalt der Zusatz-Weiterbildung Homöopathie Erwerb von Kenntnissen, Erfahrungen und Fertigkeiten in: 55 Therapieansatz der Homöopathie 55 Herstellung, Prüfung und Wirkung homöopathischer Arzneimittel 55 Homöopathischer Lehre der akuten und chronischen Krankheiten und ihrer spezifischen homöopathischen Behandlung 55 Individueller Arzneimittelwahl nach dem Ähnlichkeitsprinzip 55 Strukturierter homöopathischer Erstanamnese und Folgeanamnesen 55 Indikationsstellung, Durchführung und Grenzen homöopathischer Behandlung 55 Fallanalyse akuter und chronischer homöopathischer Behandlungsfälle mit wahlanzeigenden Symptomen, Repertorisation und Differenzialdiagnose unter Zuhilfenahme verschie-

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dener Repertorien und Arzneimittellehren 55 Verlaufsanalyse akuter und chronischer Krankheitsfälle einschließlich Bewertung der Reaktion und Begründung für einen Wechsel des Mittels oder der Potenz 55 Dosierungslehre: Potenzwahl, Potenzhöhe, Repetition in Abhängigkeit vom Fallverlauf

kZusatz-Weiterbildung manuelle Medizin/ Chirotherapie

Sie umfasst in Ergänzung zu einer Facharztkompetenz die Erkennung und Behandlung reversibler Funktionsstörungen des Bewegungssystems mittels manueller Untersuchungs- und Behandlungstechniken. Inhalt der Zusatz-Weiterbildung manuelle Medizin/Chirotherapie Erwerb von Kenntnissen, Erfahrungen und Fertigkeiten in: 55 Manueller Befunderhebung mit Untersuchungs- und Weichteiltechniken an Wirbelsäule, Schädel, Schulter- und Beckengürtel und Extremitäten 55 Indikation und Kontraindikation manualmedizinischer Maßnahmen 55 Erkennung der reflektorisch gesteuerten Wechselbeziehungen zwischen Bewegungssystem und anderen Funktionssystemen einschließlich Grundlagen somatischer Dysfunktionen im Konzept parietaler und viszeraler Komponenten 55 Einordnung von funktionspathologischen Befunden einschließlich hypo- und hypermobiler Funktionsstörungen zu pathologischen Strukturveränderungen 55 Mobilisation, Manipulation und ­Übungsbehandlung an den Extremitätengelenken, am Beckengürtel, den Wirbelgelenken und am Schädel

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kZusatz-Weiterbildung Naturheilverfahren

Sie umfasst in Ergänzung zu einer Facharztkompetenz die Anregung der individuellen körpereigenen Ordnungs- und Heilkräfte durch Anwendung nebenwirkungsarmer oder -freier natürlicher Mittel. Inhalt der Zusatz-Weiterbildung Naturheilverfahren Erwerb von Kenntnissen, Erfahrungen und Fertigkeiten in: 55 Balneo-, klimatherapeutischen und verwandten Maßnahmen 55 Bewegungs-, atem- und entspannungstherapeutischen Maßnahmen 55 Massagebehandlung und reflexzonentherapeutischen Maßnahmen einschließlich manueller Diagnostik 55 Grundlagen der Ernährungsmedizin und Fastentherapie 55 Phytotherapie und Anwendung weiterer Medikamente aus Naturstoffen 55 Ordnungstherapie und Grundlagen der Chronobiologie 55 Physikalischen Maßnahmen einschließlich Elektro- und Ultraschalltherapie 55 Ausleitenden und umstimmenden Verfahren 55 Heilungshindernissen und Grundlagen der Neuraltherapie

Bestallung (Heilpraktikergesetz – HPG) vom 17.02.1939. Nach dem HPG bedarf es der Erlaubnis, die Heilkunde in Deutschland auszuüben, wenn man nicht als Arzt approbiert ist. >> Jede berufs- oder gewerbsmäßige nichtärztliche Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Krankheiten, Leiden oder Körperschäden beim Menschen fällt unter den Regelungsbedarf des Heilpraktikergesetzes.

Heilpraktiker

Wenn die Erlaubnis nach §  1 HPG unter Maßgabe der Bestimmungen der 1. Durchführungsverordnung zum HPG erteilt wurde, kann der Heilpraktiker im Rahmen seiner Kurierfreiheit alle naturheilkundlichen Methoden anwenden und alle Krankheiten behandeln, soweit nicht andere Gesetze oder einschlägige Urteile diese Freiheit einschränken. Das HPG regelt als einziges deutsches Gesetz außer dem Beruf des Heilpraktikers die Notwendigkeit der Erlaubnis als Heilpraktiker bzw. der Approbation als Arzt, wenn jemand die Heilkunde ausüben will. Somit wird jeder illegale „Heiler“ nach dem HPG bestraft und nicht etwa nach der Bundesärzteordnung (BÄO). Es gibt einige weitere Gesetze, die die Behandlungsfreiheit des Heilpraktikers einschränken bzw. zusätzlich regeln. So müssen Heilpraktiker Krankheiten nach § 6 des Infektionsschutzgesetzes melden und dürfen nach §  24 Personen, die an einer der in §§  6 oder 34 genannten übertragbaren Krankheiten erkrankt oder dessen verdächtig sind oder die mit einem Krankheitserreger nach § 7 infiziert sind, insoweit im Rahmen der berufsmäßigen Ausübung der Heilkunde nicht behandeln. Dies gilt entsprechend bei sexuell übertragbaren Krankheiten und für Krankheiten oder Krankheitserreger, die durch eine Rechtsverordnung aufgrund des § 15 Abs. 1 in die Meldepflicht einbezogen sind.

Neben Ärzten, die zur „Ausübung der Heilkunde“ berufen sind, gibt es in Deutschland den Beruf des Heilpraktikers. Rechtsgrundlage für diesen Beruf ist das Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne

>> Nach dem Arzneimittelgesetz darf der Heilpraktiker keine rezeptpflichtigen Arzneimittel verschreiben und auch keine Arzneimittel herstellen.

Zuständig für die Weiter- und Fortbildung der Ärzte sind in die Bundesländer. Diese haben ihre Kompetenz im Bereich der Weiterbildung an die Landesärztekammern übertragen. Die Landesärztekammern orientieren sich grundsätzlich an der Musterweiterbildungsordnung der Bundesärztekammer.

1083 Die gesundheitsrechtliche Situation im Bereich der Komplementärmedizin

Dazu gehört allerdings auch schon das Abgeben von Arzneimitteln aus einer Fertigpackung heraus. Eine Ausnahme bildet nur die direkte Applikation beim Patienten oder die Abgabe des gesamten Fertigarzneimittels. Die Arzneimittel dürfen dabei aber nicht verkauft werden, sondern nur gegen Auslagenersatz abgegeben werden. Besonderheiten bei der Vorratshaltung von Arzneimitteln sind zu beachten. Betäubungsmittel dürfen durch Heilpraktiker weder verschrieben noch abgegeben werden. Die Zahnheilkunde ist dem Heilpraktiker nach dem Gesetz über die Ausübung der Zahnheilkunde verboten. Dem Heilpraktiker steht allerdings die Behandlung einer Glossitis oder Stomatitis zu, wenn diese nicht als Folge z. B. einer Prothese oder einer Zahnfehlstellung zustande kommen. Geburtshilfe darf nach dem Gesetz für Hebammen und Geburtshelfer nur von Ärzten und Hebammen/Entbindungspflegern geleistet werden. Die Geburtshilfe beginnt dabei mit den geburtsauslösenden Wehen und endet mit dem Ende des Puerperiums (Wochenbett). Heilpraktiker dürfen zudem keine Untersuchungen und Blutproben, keine Durchführung der Leichenschau und nicht das Ausstellen von Totenscheinen oder die sichere Todesfeststellung vornehmen. Der Heilpraktiker unterliegt keiner Behandlungspflicht, er kann also grundsätzlich selbst entscheiden, ob er jemanden behandeln will. Eine Ausnahme stellt lediglich die Hilfeleistung bei Unglücksfällen oder allgemeiner Gefahr dar. Hier muss der Heilpraktiker im Rahmen seiner Möglichkeiten Hilfe leisten, da er sich sonst nach § 323c StBG strafbar macht. 41.2.3  Arzneimittel

Nach dem Gesetz über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz  – AMG) vom 12. Dezember 2005 (BGBl. I S. 3394), sind bei der Zulassung von Arzneimitteln der Therapierichtungen Homöopathie, anthroposophische Medizin und Phytotherapie die medizinischen Erfahrungen der jeweiligen Therapierichtungen zu berücksichtigen. Dazu ist, anders als bei

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anderen Arzneimitteln, in die Zulassungsentscheidung die Beurteilung durch eine eigens für die jeweilige Therapierichtung einberufene Zulassungskommission einzubeziehen (Binnenkonsens). Diese besteht aus Experten der jeweiligen Therapierichtung, die über entsprechende Kenntnisse verfügen und auch praktische Erfahrungen im Anwendungsgebiet gesammelt haben. Dem AMG liegen die in Kapitel IV. 17. angeführten Richtlinien des Europäischen Parlaments und des Rates zugrunde. Die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft urteilte 1998, die nicht wissenschaftlich fundierten Therapierichtungen machten

»» „… in der Regel Besonderheiten geltend, um sich der wissenschaftlichen Prüfung ihrer Hypothesen zu entziehen.“

Dies gelte für die im AMG explizit erwähnten Formen wie „Homöopathie“, anthroposophisch begründete Heilverfahren und traditionelle Phytopharmaka ebenso wie für die Vielzahl heterogener Methoden von Ayurveda bis Bachblütentherapie. Die Kommission sah eine „seitens der Politik eingeräumte Sonderstellung“ für die „besonderen Therapierichtungen“ (Homöopathie, Anthroposophie, Phytotherapie) und kritisierte, dass diese Stellung nicht nur jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehre, sondern auch bedeute, dass Wirksamkeit mit zweierlei Maß gemessen werde. Sie transferiere Konzepte des individuell oder staatlich praktizierten Wertepluralismus fälschlicherweise in die Bewertung der von wissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten bestimmten modernen Arzneitherapie. 41.2.4  Versicherungsrechtliche

Aspekte

Da komplementärmedizinische Therapien, Methoden und Arzneimittel in der Regel nicht oder nur in begrenztem Umfang von der gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt werden, ist deren Anwendungsbereich vergleichsweise gering.

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Zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) dürfen nur Leistungen abgerechnet werden, die notwendig und wirtschaftlich vertretbar sind; beides wird für alternative Methoden in der Regel bezweifelt. Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden dürfen zulasten der Krankenkassen nur abgerechnet werden, wenn der Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen den diagnostischen oder therapeutischen Nutzen, die medizinische Notwendigkeit und die Wirtschaftlichkeit der neuen Methode bewertet und in Richtlinien nach §  92 SGB V (Sozialgesetzbuch  – Fünftes Buch  – Gesetzliche Krankenversicherung) Empfehlungen über die Anerkennung abgegeben hat. >> Leistungen im Rahmen alternativmedizinischer Behandlungen werden von der deutschen GKV meist nicht übernommen und können dann nur privat in Rechnung gestellt werden. Über die ggf. selbst zu tragenden Kosten ist der Patient aufzuklären.

Mit dem Gesetz zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versorgungsstrukturgesetz) soll ein rascher und gezielter Zugang von Innovationen in die Versorgung gesichert werden, indem dem Gemeinsamen Bundesausschuss ein neues Instrument zur Erprobung nichtmedikamentöser Untersuchungs- und Behandlungsmethoden gegeben wurde. Darin aufgenommen ist eine Klarstellung im Leistungsrecht, dass Versicherte mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung, für die eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, eine noch nicht allgemein anerkannte Leistung beanspruchen können, wenn Aussicht auf Heilung oder eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Nach der Reichsversicherungsordnung (RVO) bzw. nach dem Fünften Sozialgesetzbuch (SGB V) sind die Leistungen eines Heilpraktikers für Behandlungen nach der gesetzlichen Krankenversicherung, Rentenver-

sicherung (Kurbehandlungen) und Unfallversicherung nicht erstattungsfähig. Ein Heilpraktiker muss vor der Behandlung seine Patienten darauf hinweisen, damit er nicht Anschein erweckt, dass dies so wäre. Lediglich Privatkrankenkassen können, je nach Versicherungsvertrag, Heilpraktiker-Leistungen erstatten. 41.2.5  Universitäre

Ausbildungseinrichtungen

Die erste Stiftungsprofessur für Naturheilkunde, Lehrstuhl für Naturheilkunde, am Zentrum für Innere Medizin der Universitätsmedizin Rostock wurde 2002 errichtet und steht seitdem zur medizinischen Versorgung der Patienten sowie zur Lehre, Ausbildung und Forschung zur Verfügung. 1999 wurde in Essen die Modellklinik des Landes Nordrhein-­Westfalen für Naturheilkunde gegründet. 2004 wurde an der medizinischen Fakultät der Universität Duisburg-Essen als Stiftungslehrstuhl der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung der Lehrstuhl für Naturheilkunde und Integrative Medizin etabliert. Zu erwähnen sind des Weiteren insbesondere der Stiftungslehrstuhl für Medizintheorie, Integrative und Anthroposophische Medizin an der Universität Witten/Herdecke, das Kompetenzzentrum für Komplementärmedizin und Naturheilkunde (KoKoNat) der ­ Technischen Universität München und das Uni-­ Zentrum Naturheilkunde des Akademischen Zentrums Komplementäre und Integrative Medizin (AZKIM) am Universitätszentrum Freiburg. Zusammenfassung 55 Die deutsche Rechtsordnung kennt die strengen Vorbehalte der österreichischen Gesundheitsberufe nur ansatzweise. 55 Einige komplementärmedizinische Zusatz-­ Weiterbildungen für Ärzte sind normiert. 55 Der Beruf des Heilpraktikers ist gesetzlich geregelt.

1085 Die gesundheitsrechtliche Situation im Bereich der Komplementärmedizin

41.3  Schweiz 41.3.1  Historische Entwicklung

Die politischen Rahmenbedingungen in der Schweiz sind geprägt durch eine liberale und tolerante Grundhaltung. Der Wirtschaftsfreiheit (Handels- und Gewerbefreiheit) kommt traditionell ein hoher Stellenwert zu. Der Bund ist nur verantwortlich für Aufgaben, die nicht dezentral durch Gemeinden oder Kantone gelöst werden können. Die solidarische Finanzierung der Gesundheitsversorgung durch Prämien und Steuern garantiert einen gesicherten Zugang aller Bürgerinnen und Bürger zu den notwendigen Gesundheitsleistungen. Durch die in den 1990er-Jahren verstärkte Medizinkritik und das Misstrauen gegen die sog. Mainstream-Medizin entstanden eine Nachfrage nach Alternativen auch innerhalb der medizinischen Berufe (Phänomene wie Impfkritik) und Forderungen nach Forschung in Komplementärmedizin sowie der Schaffung von entsprechenden Lehrstühlen an den medizinischen Fakultäten, wobei sich auch die Mainstream-Medizin weiterentwickelte (z.  B. Managed Care, evidenzbasierte Medizin – EBM, patientenzentrierte Medizin). Die Situation der Komplementärmedizin in der Schweiz stellte sich bis zum Jahr 1995 (vor dem Versicherungsobligatorium) wie folgt dar: 55 In der Medizin waren Akupunktur und anthroposophische Medizin akzeptiert, andere Methoden als „Exoten“ geduldet. Erste Forderungen nach einer Integration der Komplementärmedizin in die Lehre wurden gestellt, einzelne Krankenhäuser boten komplementärmedizinische Behandlungen an. Für die Finanzierung gab es keine klaren Regeln. 55 Nichtärztliche Therapeuten boten eine große Vielfalt an Therapien an, wobei deren Zulassung von Kanton zu Kanton unterschiedlich geregelt war. Die Finanzierung durch Privatversicherer verfolgte z. T. das Ziel, gesundheitsbewusste Personen als Versicherte zu gewinnen.

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Mit der Neuordnung der Krankenversicherung 1996 wurde ein Versicherungsobligatorium (Versicherungspflicht für jede in der Schweiz wohnhafte Person) mit einem gemeinsamen verbindlichen Leistungskatalog, basierend auf den Kriterien „Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit, Wirtschaftlichkeit“ (WZW) als Voraussetzungen normiert. Der politischen Forderung nach Berücksichtigung der Komplementärmedizin wurde insofern Rechnung getragen, als fünf ärztliche Methoden (Homöopathie, anthroposophische Medizin, Phytotherapie, traditionelle chinesische Therapie und Neuraltherapie) ab dem Jahr 1999  in die obligatorische Krankenversicherung aufgenommen wurden. Dies war auf sechs Jahre befristet und mit einer Evaluationsauflage (WZW-Nachweis) verbunden. Aufgrund der strikten Trennung von Grund- und Zusatzversicherung und der daraus resultierenden großen Konkurrenz im Zusatzversicherungsbereich blieb es attraktiv, Verträge für nichtärztliche Komplementärmedizin anzubieten. 1999 entstand ein Therapeutenregister auf privater Basis (EMR). 2005 endete die Leistungspflicht für ärztliche Komplementärmedizin, nachdem im Rahmen des Programms Evaluation Komplementärmedizin (PEK), das 1999–2005 mittels Literaturreviews, Metaanalysen und Praxisbeobachtungsstudien durchgeführt worden war, die geforderte Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit von der beratenden Kommission als nicht erfüllt beurteilt worden war. Allerdings war hierdurch der Methodenstreit nicht beigelegt, vielmehr wurde eine Volksinitiative mit folgenden Kernforderungen lanciert: 55 Freier Zugang zu Komplementärmedizin (Therapiewahlfreiheit), 55 Therapiefreiheit für ärztliche und nichtärztliche Fachpersonen, 55 Berücksichtigung der Komplementärmedizin in Aus- und Weiterbildung, Lehre und Forschung, im Heilmittelbereich und – für den ärztlichen Bereich – in der Sozialversicherung.

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Am 17. Mai 2009 hat die Schweizer Bevölkerung bei üblicher Stimmbeteiligung mit einer Mehrheit von zwei Dritteln (67 %) den neuen Artikel 118a Komplementärmedizin der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft wie folgt angenommen:

»» „Bund und Kantone sorgen im Rahmen

ihrer Zuständigkeiten für die Berücksichtigung der Komplementärmedizin.“

Basierend auf diesem 2009 angenommenen Verfassungsartikel zur Komplementärmedizin hat das Parlament den Bundesrat im März 2014 aufgefordert, über den Stand der Umsetzung sowie eventuellen Handlungsbedarf zu informieren. Im nun vorliegenden Bericht kommt dieser zum Schluss, dass die Kerninhalte der Verfassungsbestimmung in Umsetzung begriffen sind. Sie betreffen verschiedene Bereiche: 55 Künftig sollen Arzneimittel der Komplementärmedizin und Pflanzenheilkunde einen erleichterten Zugang zum Markt erhalten; die Zulassung soll vereinfacht werden. Die entsprechende Revision des Heilmittelgesetzes ist in Gang und soll sicherstellen, dass eine breite Palette von komplementärmedizinischen Arzneimitteln auf dem Markt verfügbar ist. 55 Angehende Ärzte, Apotheker, Zahnärzte, Tierärzte und Chiropraktoren sollen sich künftig während ihrer Ausbildung an der Universität angemessene Kenntnisse über Komplementärmedizin aneignen. Entsprechende Ausbildungsziele wurden im Medizinalberufegesetz im Rahmen der Teilrevision bereits aufgenommen und werden in den Lernzielkataloge der jeweiligen Medizinalberufe in nächster Zeit aufgenommen. 55 Das Staatssekretariat für Bildung Forschung und Innovation (SBFI) hat die höhere Fachprüfung für Naturheilpraktiker am 28. Mai 2015 genehmigt, eine höhere Fachprüfung für Komplementärtherapeuten wird geprüft. Diese eidgenössischen Diplome sollen in Zukunft die Vorausset-

zung für kantonale Berufsausübungsbewilligungen sein. 55 Ein Vorschlag für die Neuregelung der Leistungspflicht von komplementärmedizinischen ärztlichen Leistungen in der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP, Grundversicherung) ist in Erarbeitung. Er sieht vor, dass künftig für alle ärztlichen Leistungen das Vertrauensprinzip gilt, und somit die Kostenübernahme der heute befristet aufgenommenen ärztlichen Leistungen der anthroposophischen Medizin der Homöopathie, der Phytotherapie und der traditionellen chinesischen Medizin langfristig gewährleistet wird. Das Inkrafttreten dieser Neuregelung ist per 1. Januar 2017 geplant. 41.3.2  Berufsrechtliche

Regelungen

Die meisten Kantone verfügen über die gesetzlichen Grundlagen, um auch den nichtärztlichen komplementärmedizinischen Therapeuten, Naturheilpraktikern bzw. Komplementärmedizinern und weiteren Heilerberufen, welche in der Schweiz eine lange Tradition haben, die therapeutische Praxis zu ermöglichen. >> Da es in der Schweiz 26 verschiedene Gesundheitsgesetze gibt, sind auch die Handhabungen sehr unterschiedlich.

Die Umsetzungsbereiche umfassen die Ausund Weiterbildung sowie die Berufsausübung nichtärztlicher Berufe, Arzneimittel, Krankenversicherung sowie Lehre (Medizin) und Forschung. Bei der Umsetzung zu berücksichtigen sind Gesundheits- und Verbraucherschutz (Schutz vor potenziell gefährlichen Praktiken und/oder Arzneimitteln, Schutz vor Täuschung) und bezüglich der Sozialversicherung die hohe Hürde des Nachweises von Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit. Die Berufsausübung nichtärztlicher Therapeuten fällt in die Zuständigkeit der Kantone. Vor dem Jahr 2000 gab es verschiedenste

1087 Die gesundheitsrechtliche Situation im Bereich der Komplementärmedizin

vielfältige Modelle der Berufsausübung, die von einer Bewilligungspflicht für einzelne oder die meisten Tätigkeiten mit z. T. sehr restriktiver Praxis über eine Meldepflicht bis hin zu keinen Vorgaben und Eingreifen der Behörde durch Erteilung von Berufsverboten nur bei Gefährdung reichten. Im Jahr 2000 führten die Empfehlungen der Gesundheitsdirektorenkonferenz (Organisation der kantonalen Gesundheitsminister und -departemente) zu einer allgemeinen Liberalisierung, wobei eine staatliche Regulierung seitdem nur bei Gefährdungspotenzial erfolgt. Die Gesetzgebung in den Kantonen seit 2000 sieht Bewilligungen nur noch für Tätigkeiten mit Gefährdungspotenzial (im konventionellen und komplementären Bereich) und in der Komplementärmedizin z.  B. für Akupunktur, TCM, Homöopathie, Ayurveda-­ Praktiker und Heilpraktiker vor. Alle Tätigkeiten, die nicht bewilligungspflichtig sind, können frei ausgeübt werden. In den meisten Fällen besteht keine Meldepflicht bzw. kein Register, da ein Register den irrtümlichen Anschein einer Kontrolle des Angebots erwecken oder sogar einer staatlichen Anerkennung der nicht auf wissenschaftlicher Basis aufbauenden Tätigkeiten gleichkommen würde. >> Gegen Missstände bzw. die Gefährdung von Patienten können nur im Einzelfall Maßnahmen ergriffen werden.

Durch das Bundesgesetz über die Berufsbildung (Berufsbildungsgesetz, BBG), SR 412.10, vom 13. Dezember 2002 wurde die Berufsbildung zu einer nationalen Aufgabe und führte zu einer Harmonisierung der Ausbildung für nichtärztliche Therapeuten. Zahlreiche Berufsverbände aus der Komplementärmedizin glichen ihre Ausbildungsgänge an die Vorgaben dieses Gesetzes an. In Zusammenarbeit mit dem zuständigen Bundesamt für Gesundheit erfolgte eine Konzen­ tration auf die zwei Berufsbilder „Komplementärtherapie“ und „Alternativmedizin“ mit nationalen Berufsdiplomen auf dem Niveau „Höhere Fachprüfung“.

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Für das Berufsbild „Komplementärtherapie“ sind die Arbeiten mit einem national einheitlichen, allerdings noch ohne Anerkennung durch den Bund erfolgten Zwischenschritt „Branchendiplom“ weit fortgeschritten. Basis für diese Ausbildung ist in jeden Fall ein konventioneller Gesundheitsberuf (Pflege, Physiotherapie, etc.). In Arbeit sind 55 ein einheitliches Berufsbild (Handlungskompetenzen), 55 eine Definition der Ausbildungsvorgaben und -ziele, 55 ein Qualifikationsverfahren zur Sicherstellung der Handlungskompetenzen, 55 ein Validierungsverfahren für bereits Praktizierende, 55 ein Verfahren zur Qualitätssicherung und -entwicklung. Methodisch differenzierte Praktizierende der Komplementärtherapie in z.  B.  Alexandertechnik, Atemtherapie, Kraniosakraltherapie, Feldenkrais, Polarity, Shiatsu oder Kinesiologie sind angedacht. Im Bereich „Alternativmedizin“ sollen Praktizierende in den Fachrichtungen traditionelle europäische Naturheilkunde (TEN), traditionelle chinesische Medizin (TCM), Homöopathie und Ayurveda-Medizin behandeln können. Auch die Regeln zu geschützten Berufsbezeichnungen sind in unterschiedlichen Gesetzen enthalten. Das Berufsbildungsgesetz enthält zwar entsprechende Regelungen, nennt die eigentlichen Titel aber nicht, sondern verweist dabei auf den Verordnungsweg, der diese für die einzelnen Berufe individuell regelt. Art.  36 definiert einen Titelschutz, wonach nur Inhaber eines Abschlusses der beruflichen Grundbildung und der höheren Berufsbildung berechtigt sind, den in den entsprechenden Vorschriften festgelegten Titel zu führen. >> Art. 63 normiert als Strafbestimmungen, dass im Falle der Titelanmaßung mit Buße bestraft wird, wer einen geschützten Titel führt, ohne die erforderlichen Prüfungen bestanden oder ein gleichwertiges Quali-

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fikationsverfahren erfolgreich durchlaufen zu haben oder einen Titel verwendet, der den Eindruck erweckt, er oder sie habe die entsprechende Prüfung bestanden oder ein gleichwertiges Qualifikationsverfahren erfolgreich durchlaufen.

Ärztliche Komplementärmedizin setzt in

jedem Fall einen Hochschulabschluss und einen FMH-Fachtitel (FMH: Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte) sowie einen entsprechenden Fähigkeitsausweis (ausgestellt von einer Ärztegesellschaft) voraus. Schweizer Forschungsergebnisse und Publikationen universitärer Institutionen zeigen, dass die Methoden Phytotherapie, traditionelle chinesische Medizin, anthroposophische Medizin und Homöopathie in der Schweiz einen klaren Stellenwert im Rahmen der Komplementärmedizin haben. Während diese Methoden z.  T. sowohl von Ärzten als auch von Nichtärzten ausgeübt werden können, kann die Neuraltherapie, die ebenfalls beforscht wird, nur von Ärzten eingesetzt werden. Ergebnisse einer Studie zur Komplementärmedizin in Schweizer Praxen der Grundversorgung 55 14,2 % der Ärzte der Grundversorgung haben mindestens einen CAM-­ Fähigkeitsausweis. 55 Etwa 30 % (95 % Konfidenzintervall 25,4–34,6 %) der Ärzte der Grundversorgung werden häufiger als einmal pro Woche von Patienten nach CAM gefragt. 55 Homöopathie und Phytotherapie werden am häufigsten angeboten, gefolgt von traditioneller chinesischer Medizin/Akupunktur. 55 62,5 % (57,6–67,4 %) der Befragten überweisen Patienten an CAM-­Behandlungen, am häufigsten an TCM/Akupunktur. 55 Von den 37,5 % (32,6–42,4 %), die ihre Patienten nicht überweisen, bieten rund 40 % (35,1–44,9 %) selbst CAM-­ Behandlungen an.

Dies bedeutet, dass rund drei Viertel der befragten Ärzte selbst CAM anbieten oder Patienten an CAM-Therapien überweisen. CAM hat einen hohen Stellenwert in der Patientenversorgung. Klare Ausbildungsrichtlinien für Ärzte wären wünschenswert, um eine qualitativ hochwertige Versorgung mit CAM zu gewährleisten.

41.3.3  Versicherungsrechtliche

Aspekte und Arzneimittel

Im Brennpunkt stehen in jedem Fall die Vorgaben für die Krankenversicherung. Hierzu normiert Art. 32 Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG), SR 832.10, vom 18. März 1994:

»» „

1 Die Leistungen nach den Artikeln 25–31 müssen wirksam, zweckmäßig und wirtschaftlich sein. Die Wirksamkeit muss nach wissenschaftlichen Methoden nachgewiesen sein. 2 Die Wirksamkeit, die Zweckmäßigkeit und die Wirtschaftlichkeit der Leistungen werden periodisch überprüft.“

Das KVG regelt eine obligatorische Krankenpflegeversicherung, eine Aufnahmepflicht der Versicheren und Rechtsgleichheit für alle Versicherten (einheitlicher Leistungskatalog, einheitliche Kriterien). Die begrenzten finanziellen Mittel erfordern Kriterien für den Ein- oder Ausschluss von Leistungen der Krankenpflegeversicherung. Übergeordnetes Ziel sind die Gewährung der Effizienz des Gesamtsystems und der Erhalt der Möglichkeit zur Finanzierung von Innovationen. Die Umsetzung erfolgt im Sinne der WZW durch Bezeichnung der Leistungen (Verordnungen, Listen), Spitalplanung, Tarife und Preise, vorgängige Kostengutsprache des Versicherers nach Beurteilung durch Vertrauensarzt und Qualitätssicherung. Es gibt abschließende Listen für ambulante Leistungen von nichtärztlichen Leistungserbringern, Leistungen der Prävention, in normaler Schwangerschaft und der Zahnmedizin, für Arz-

1089 Die gesundheitsrechtliche Situation im Bereich der Komplementärmedizin

neimittel, Analysen, Mittel und Gegenstände zur Diagnose und Therapie, die von den Versicherten selbst angewendet werden sowie eine Liste der Ausnahmen (nicht oder nur unter bestimmten Voraussetzungen vergütete Leistungen) und Leistungen der Ärzte und Spitäler. Die Bezeichnung erfolgt durch das Ministerium (Eidgenössisches Departement des Innern) bzw. für Arzneimittel durch das Bundesamt für Gesundheit (BAG) nach Beratung durch Fachkommissionen. Ein Arzneimittel wird in die Spezialitätenliste (SL) aufgenommen, wenn es die Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (WZW-Kriterien) erfüllt (Art.  32 KVG). In den entsprechenden Bestimmungen der Verordnung vom 27. Juni 1995 über die Krankenversicherung (KVV; SR 832.102) und der Krankenpflege-­Leistungsverordnung vom 29. September 1995 (KLV; SR 832.112.31) sowie im Handbuch betreffend die SL wurden diese Kriterien durch den Bundesrat, das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) und das Bundesamt für Gesundheit (BAG) näher konkretisiert. Zur Beurteilung der Gesuche zur SL wird das BAG von der Eidgenössischen Arzneimittelkommission (EAK) beraten. Das BAG und die EAK orientieren sich bei der Beurteilung an den international entwickelten Methoden und Grundsätzen des Health Technology Assessments (HTA). Dabei werden die Kriterien der Wirksamkeit, Sicherheit und Kosten jeweils unter Berücksichtigung sozialer, rechtlicher und ethischer Aspekte untersucht (vgl. Bundesversammlung; 14.3516 – Interpellation Leistungsvergütungen der Krankenkasse. Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit vom 19.06.2014). WZW-Kriterien, die in der Bezeichnung der Leistungen von Ärzten und Spitälern gelten 55 Wirksamkeit: Der Nutzen für die Patienten ist in reproduzierbaren klinischen Studien belegt und im Schweizer Kontext zu erwarten.

41

55 Zweckmäßigkeit: Die Methode ist unter Berücksichtigung von Nutzen und Nebenwirkungen am besten geeignet zur Erreichung des therapeutischen Ziels. Der Einsatz der Mittel im Hinblick auf Therapieziel ist verhältnismäßig. Gleichwertige, einfachere Alternativen sind nicht verfügbar. 55 Wirtschaftlichkeit: Komparative Wirtschaftlichkeit (Kosten-Nutzen-Profile) und Wirtschaftlichkeit der Tarife und Preise sowie Kostenfolgen stehen im Vordergrund.

Das Schweizer Heilmittelgesetz (HMG), SR 812.21, vom 15. Dezember 2000 regelt über die Swissmedic (Schweizerisches Heilmittelinstitut: Zulassungs- und Aufsichtsbehörde für Heilmittel – Arzneimittel und Medizinprodukte) auch die Zulassung komplementärmedizinischer Arzneimittel. So sind bestimmte pflanzliche Arzneimittel für qualifizierte nichtärztliche Therapeuten durchaus zugänglich. Hierfür sind allerdings fundierte Spezialausbildungen erforderlich. >> Arzneimittel aus der Komplementärmedizin werden in der Schweiz teilweise von der Krankenkasse bezahlt. Die Grundversicherung übernimmt Medikamente abzüglich Kostenbeteiligung, wenn sie auf der Spezialitätenliste aufgelistet sind. Auf dieser Liste sind auch Arzneimittel aus Phytotherapie, Anthroposophie und Homöopathie vertreten.

41.3.4  Universitäre

Ausbildungseinrichtungen

In der Schweiz bestehen derzeit als universitäre akademische Einrichtungen der Lehrstuhl für Naturheilkunde an der Universität Zürich, das Institut für komplementäre und integrative Medizin am UniversitätsSpital Zürich und das Institut für Komplementärmedizin (IKOM) der Universität Bern.

1090

41

S. Weiss

Das IKOM als universitäre Einrichtung vereint konventionelle Medizin und Komplementärmedizin in den Bereichen Patientenbetreuung, Forschung und Lehre. Es beinhaltet vier Fachbereiche: anthroposophisch erweiterte Medizin, Homöopathie, Neuraltherapie und TCM/Akupunktur. 2010 wurde an der Universität Lausanne die „Groupe de Recherche et d'Enseignement sur les médecines complémentaires“ gegründet, die in das Institut für Sozial- und Präventivmedizin integriert ist. An der Universität Genf wurde 2012 eine Arbeitsgruppe zur Integration der Komplementärmedizin in die Lehre im Studium Humanmedizin eingerichtet. Zusammenfassung 55 Die föderale Regulierung komplementärmedizinisch tätiger Personen zeigt eine große Vielfalt unter den kantonalen Gesetzgebern. 55 In der regulatorischen Handhabung besteht keine Einheit. 55 Die Berufsausübungszulassungen und therapeutischen Kompetenzen von nichtärztlichen Therapeuten sind variabel.

Literatur Österreich Aigner G, Kierein M, Kopetzki C (2007) Ärztegesetz. Manz, Wien Bundesministerium für Gesundheit und Frauen. Arzneimittel. https://www.bmgf.gv.at Bundesministerium für Gesundheit und Frauen. Information zur Frage der Ausübung heilpraktischer Tätigkeiten in Österreich. https://www.­bmgf.­gv.­at Bundesministerium für Gesundheit und Frauen. Komplementäre Heilmethoden und traditionelle Anwendungen in Österreich. https://www.­bmgf.­gv.­at Bundesministerium für Gesundheit und Frauen. Komplementärmedizin/Komplementäre Methoden. https://www.bmgf.gv.at Bundesministerium für Gesundheit und Frauen. Richtlinie für Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zur Frage der Abgrenzung der Psychotherapie von esoterischen, spirituellen und religiösen Methoden. https://www.­bmgf.­gv.­at

Bundesministerium für Gesundheit und Frauen, Weiss S (2017) Gesundheitsberufe in Österreich. https:// www.­bmgf.­gv.­at Mayerhofer (Stand August 2007, rdb.at). WK StGB. Manz, Wien Pschyrembel online. https://www.pschyrembel.de/ Skiczuk S (2006) Berufs- und Tätigkeitsschutz der österreichischen Gesundheitsberufe. NWV, Wien Thaler M, Plank M-L (2005) Heilmittel und Komplementärmedizin. Manz, Wien Weiss S (2008) Die menschliche Gesundheit als neues berufliches Tätigkeitsgebiet. In: Jahrbuch Gesundheitsrecht 2008. Die menschliche Gesundheit als neues berufliches Tätigkeitsgebiet. NWV, Wien Windisch-Graetz M (2014) In: Aigner/Kletečka/Kletečka-­ Pulker/Memmer, Handbuch Medizinrecht (Stand April 2014, rdb.at). Manz, Wien Deutschland Albrecht H (2013) Zur Lage der Komplementärmedizin in Deutschland. Forsch Komplementmed 20:73–77 Bundesärztekammer. Musterweiterbildungsordnung. http://www.­bundesaerztekammer.­de/aerzte/aus-­ weiter-­fortbildung/weiterbildung/ Fachverband Deutscher Heilpraktiker e.V.  Der rechtliche Status des Heilpraktikers. http://www.­heilprakt iker.­org/der-rechtliche-status-des-heilpraktikers Forum universitärer Arbeitsgruppen für Naturheilverfahren und Komplementärmedizin. http://www. uniforum-naturheilkunde.de/ Haustein K-O, Höffler D, Lasek R, Müller-Oerlinghausen B (1998) Außerhalb der wissenschaftlichen Medizin stehende Methoden der Arzneitherapie. Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft. Dt Ärztebl 95(14):A800–A805 Schweiz Déglon-Fischer A, Barth J, Ausfeld-Hafter B (2009) Studie zur Komplementärmedizin in Schweizer Praxen der Grundversorgung, 9 April 2009. Union Schweizerischer komplementärmedizinischer Ärzteorganisationen, Luzern. https://www.­unioncomed.­ch/ komplementärmedizin/studien/km-und-grundversorgung/ Organisation der Arbeitswelt KomplementärTherapie OdA KT. http://www.­oda-kt.­ch/. Zugegeriffen am 18.07.2018 Schlander M (2012) Schweizer HTA-Konsensus-Projekt, Umsetzungspapier 4/2012. http://www.innoval-hc. com/discussion-papers.html Schweizerische Eidgenossenschaft. Bundesamt für Gesundheit BAG. ­https://www.­bag.­admin.­ch/bag/de/ home.­html?_organization=317

1091

Medizinethik und Komplementärmedizin Franz X. Lackner 42.1

Einführung – 1092

42.2

 thische Konzepte (der ärztlichen Verpflichtung) E therapeutischer Verfahren – 1092

42.3

 ernöstliche philosophische Konzepte der F Medizin – 1097

42.4

Begriffsbestimmungen – 1098

42.5

Wirkungsnachweis – 1100

42.6

I nteraktion von konventioneller Medizin und Komplementärmedizin – 1101

42.7

Fallbeispiele – 1101

42.8

Synopsis – 1103 Literatur – 1103

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9_42

42

1092

F. X. Lackner

»» „Scharlatanerie in der Medizin ist nichts

42.1  Einführung

42

Die ursprünglichen Aufgaben der abendländischen Medizin waren nach Hippokrates: zu heilen, Schmerzen zu lindern, Funktionen wiederherzustellen und Sterbende zu trösten. Die damalige Vorgehensweise orientierte sich an dem Prinzip, die auftretenden Symptome durch Gegenmaßnahmen zu bekämpfen – der Allopathie. Die Mittel dazu waren zunächst beschränkt, und alle Heilverfahren seit der Antike wurden als eine „Kunst“ angesehen mit starken Bezügen auf den Heiler und ein geschlossenes Weltbild, etwa im Sinne von Hildegard von Bingen. Erst in der Renaissance ergab sich eine Entwicklung hin zur Medizin als einer Wissenschaft, deren Protagonisten Andreas Vesalius und Paracelsus waren. Einer der Ersten, die empirisch dachten und das Kausalitätsgesetz auch in der Medizin verwirklicht sehen wollten, war Christian Friedrich Samuel Hahnemann. Um die Wirkung der Chinarinde gegen Wechselfieber zu verstehen, bezweifelte er die damalige Auffassung, dass diese über eine Stärkung der Magenfunktion zustande komme (Bayr 1989). Er nahm im Selbstversuch Chinin zu sich und entdeckte, dass dies (malaria-)ähnliche Symptome zur Folge hatte, ohne jedoch den eigentlichen „Fieberschauer“ zu erzeugen. Daraus folgerte er, kleine Mengen einer Substanz würden mitigierte Krankheitssymptome hervorrufen und der Körper heile sich durch diese Stimulation selbst  – das Simile-Prinzip war gefunden (7 Kap.  17). Diese „Homöopathielehre“ brachte ihn in Gegensatz zu dem sich emanzipierenden allopathischen Mainstream. Heute ist sein Konzept, spricht man von Komplementärmedizin, auf den vordersten Plätzen zu finden. Hahnemann, der 1776 als Student bei Quarin am Gumpendorfer Spital studierte, hatte, bis er seine mutigen Thesen 1819 im Organon der Heilkunde unter dem Motto aude sapere (Wage es, weise zu sein!) niederschrieb, noch einen langen Weg zu gehen (Hahnemann 1810). 1843, in dem Jahr, in dem er in Paris verstarb, schrieb er:  

Neues, aber zu keiner Zeit ward sie so schamlos und so im Grossen betrieben wie heutzutage, und niemals war die Aussicht auf Ehre und Gewinn so sicher für jedwede Absurdität. Unerhörte kopfüberstürzende Dinge verlangt das Publikum, seine Helden sind die Verabreicher der Dezilliongaben, die Schäfer von Nieder-Embst, die Geisterseher, Magnetiseure und Hydro-Sudopathen. Nur etwas Mystik – und sie sind alle mystifiziert.“ (Hahnemann 1936)

Spätestens zu diesem Zeitpunkt kommt die Ethik ins Spiel. Als Disziplin der Philosophie steht sie über jeder Wissenschaft, soll diese zum Wohle der Menschheit „geordnet“ zur Anwendung kommen. Schon in Hahnemanns aude sapere, das eigentlich von Horaz stammt und Kant zur Beflügelung seiner Gedankengänge diente, war, ermutigt durch die Aufklärung, das kühne Schwimmen gegen den Strom trefflich charakterisiert. Wie ein paradigmatischer Vertreter der Komplementärmedizin vor fast 200 Jahren diese ethischen Probleme anspricht, ermutigt zum Versuch einer Analyse. Einer Begriffsbestimmung wird die Darlegung gegenwärtiger ethischer Konzepte folgen müssen, wissenschaftstheoretisch müssen Beziehungen hergestellt werden, der Forschung stellen sich besondere Herausforderungen entgegen, und hinsichtlich der Ressourcenallokation wird besonders der Dialog der Ärzte untereinander, aber auch der gesellschaftlichen Teilbereiche erforderlich. 42.2  Ethische Konzepte (der

ärztlichen Verpflichtung) therapeutischer Verfahren

Eine verantwortungsvolle Behandlung erfordert sowohl fachliche als auch moralisch-­ ethische Kompetenz (Lackner 2011). Seit die hippokratischen Prinzipien die Standesethik prägten, ist auch in Europa eine zunehmende Pluralisierung festzustellen.

1093 Medizinethik und Komplementärmedizin

Moralisches Handeln wird nach Aristoteles durch Handlungsabsicht, Handlungsziel und Handlungsumstände bestimmt. Ein solches Ziel, „das wir um seiner selbst willen wollen oder um dessentwillen wir alles andere wollen“, kann aus der altgriechischen Auffassung des glücklichen Lebens verstanden werden. Hier wäre schon ein Bezug auf „holistische“ Züge komplementärer Verfahren zu ersehen. Eine weitere Differenzierung des Handlungsziels könnte auch praktisch zugeordnet werden. So entspräche das theoretische Handeln (mit resultierender wahrer oder falscher Erkenntnis) der Erstellung von Theorien, die als Behandlungsgrundlage dienen. Herstellendes Handeln (richtig oder falsch) entspräche der Anfertigung von Heilbehelfen und letztlich praktischem Handeln (gut oder böse) als dem eigentlichen moralischen Handeln im Rahmen der Beziehung zum Patienten. Hier wird das Handlungsziel in starker Fokussierung auf das individuelle Lebensbild sichtbar. Bei der obersten Begründung könnte man an das Standesethos denken, das für Heilberufe festlegt, warum ihr Tun gerechtfertigt ist. Ob es nun die goldene Regel ist, die durch Übung erworbene Tugend des Aristoteles, Thomas von Aquins Unterlassen des Bösen und Kants Verallgemeinerungsfähigkeit unserer Handlungsmaxime, die Erreichung des größtmöglichen Glücks der größtmöglichen Zahl von Bentham – sie finden sich alle in der Wohltuensaufforderung des Hippokrates wieder. Die Gewissensfreiheit wird von Nietzsche als Stimme einiger Menschen im Menschen beschrieben, von Thomas von Aquin einfach als das Tun des Richtigen, es ist für ihn verbindlich. Eine solche Freiheit wird dort begrenzt, wo sie die Freiheit anderer berührt oder beschränkt. Die Freiheit des Wunsches eines Patienten nach einer bestimmten Behandlung begrenzt die Freiheit der Therapiewahl eines Therapeuten. Auch scheinen Urteile aus religiöser Überzeugung per se nicht korrigierbar zu sein, sie können anderen nicht aufgezwungen werden. Bei delegierten Entscheidungen kann diese Freiheit nicht einfach auf ein anderes Individuum übertragen werden.

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Der Elternentscheid, einem Kind in einer lebensbedrohlichen Situation nur alternative Behandlung zukommen zu lassen, wird von der Gesellschaft nicht akzeptiert. Der Begriff der Menschenwürde Kants schließt an diese Freiheit an und wird durch den Vollzug des guten Willens gekennzeichnet. Kurz gesagt, das Menschsein besitzt nicht einen Preis, sondern eben Würde, sie kann nicht abgegolten werden und hat ihren Zweck in ihr selbst. Der durch Thomas von Aquin geprägte Begriff der Heiligkeit, verdient durch Gutes tun und Nächstenliebe, hat sich säkularisiert und in Richtung Autonomie gewandt. Würde ist nicht empirisch begriffen, sie ist nicht quantifizierbar oder etwa durch intrinsische Werte wie Mut, Selbstlosigkeit oder Ehrlichkeit vermehrbar. Die aristotelische Auffassung bezieht Moral, Schönheitsempfindung, aber v.  a. das Bewusstsein des Selbst und der Gesellschaft stark in diesen Begriff ein. Der Würdebegriff existiert eher auf konzeptioneller Ebene, und da die zu schützenden Güter wie etwa die Freiheit unantastbar sind, ist dieser zur Lösung moralischer Probleme wenig geeignet. Im Vergleich zur Autonomie oder zur Gerechtigkeit fällt es nicht leicht, aus ihm handlungsanleitende Prinzipien zu erstellen. In der Bedeutung dieses Begriffs für die Medizin kann gesagt werden, dass dieser eher begrenzt, was Menschen tun dürfen, ohne anzugeben, was sie tun müssen. Aber auch aus anderen Gründen wird der Würdebegriff kritisiert. Die Würde  – primär religiös konnotiert  – werde nur wegen ihrer traditionellen Rolle in Menschenrechtsdokumenten und in der medizinischen Literatur noch hochgehalten, sei aber eine leere Hülse, es gehe vielmehr um die Respektierung der Autonomie. Der Philosoph Peter Singer spricht einer großen Zahl von Mitmenschen diese Würde ab, etwa Neugeborenen oder Demenzpatienten. Der Knackpunkt hierbei ist die mit der Zuerkennung verbundene Schutzfunktion, wenn es etwa um das Abbrechen ­lebenserhaltender Maßnahmen geht. Der Autonomiebegriff, welcher in der säkularen Gesellschaft die Heiligkeit und Gott-

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F. X. Lackner

ergebenheit etwa einer Hildegard von Bingen abgelöst hat, kann im Sinne des Kantschen kategorischen Imperativs, des englischen Utilitarismus oder der amerikanischen Kontrakttheorie interpretiert werden. Wie bei der Freiheit, deren Bestandteil sie ja ist, stößt auch die Autonomie dort an, wo sie diese anderer berührt. Aufgrund dieser Grenzen muss ein Patientenwunsch intern durch Ergründung von motivationalen Faktoren und extern durch Erheben der Reaktion der Gesellschaft hinterfragt werden. Wir unterscheiden eine negative Freiheit  – also eine Freiheit von etwas –, welche am Äußeren orientiert die absolute Selbstbestimmung verkörpert. Die Freiheit zu etwas – also eine positive Freiheit – richtet sich an die inneren Faktoren, um ein moralisches Ziel zu erreichen. Die negative Freiheit wird stark von der Realität bestimmt, etwa von den zur Verfügung stehenden materiellen Möglichkeiten. Das negative Freiheitskonzept wäre etwa bei totalitären Staatsformen zu erkennen oder im ausgeprägten Wohlfahrtsstaat, während das positive liberalen Wirtschaftsformen mit ausgeprägtem Individualismus zuzuschreiben ist. Die Gestaltung der Vergütung von komplementären Arzneimitteln fände sich durch die Anwendung dieser Konzepte beeinflusst. Soll der Autonomiebegriff nicht nur im Sinne der oben geäußerten Kritik inhaltlich leer, sondern auch in seiner Anwendung zur Farce werden, so muss dessen Adressat, der Patient, in seiner konkreten Situation auf seine Fähigkeit, seine Autonomie auch zu verwirklichen, untersucht werden. In der Praxis ist die Rede von der Zustimmungsfähigkeit. Echte Freiwilligkeit, etwa einer Behandlung zuzustimmen, setzt die Abwesenheit von äußerem Druck, etwa intensiver irreführender Werbung, Manipulation oder innerer Einflussnahme bedingt durch die Krankheitssituation oder Suchtverhalten, voraus. Die Intention zu einer Entscheidung muss sich auf ausreichende Informationen stützen, die daraus resultierende Handlung oder Wahl muss daher zweckgerichtet sein, nicht zufällig oder unvermittelt. Das Erkennen der

Tragweite beruht auf entsprechenden Entscheidungsgrundlagen aus dem Erfahrungsschatz, aber auch auf daraus gebildeten eigenen Ansichten; man spricht hierbei von der Episteme. zz Teleologie und Deontologie

Die grundlegende Herangehensweise an die alles bestimmende Urteilsbildung kann auf zweierlei Arten erfolgen: 55 Die Rede ist von Teleologie, wenn sich die Zuschreibung der Sittlichkeit einer Handlung und damit ihre Rechtfertigung im besprochenen Sinne auf das im Voraus intendierte Resultat einer Handlung richtet; diese Theorie ist daher konsequentialistisch. 55 Im Gegensatz dazu wird als Deontologie eine Theorie bezeichnet, bei der die Moralität ausschließlich im Inhalt des Urteils liegt und nicht so sehr auf dessen Auswirkung Bezug nimmt. Scheint erstere Herangehensweise ihre Wurzeln in der griechischen Antike zu haben, so erinnert letztere klar an die 10  Gebote des Christentums. Die Ausrichtung ersterer auf das alte platonische und aristotelische Ziel auf das Glück als höchstes Gut gemahnt an die holistischen Konzepte der Komplementärmedizin. Konzentriert man sich im deontologischen Sinn ganz auf den Handlungsinhalt, so können Teilinhalte innerhalb oder außerhalb des Beabsichtigten liegen. Nach Thomas von Aquin wird das Wesen einer Handlung nur durch das damit Beabsichtigte und nicht durch das, was außerhalb der Absicht liegt, bestimmt. In seiner Rechtfertigung dafür bringt er als deontologische Bedingung die Beabsichtigung einer guten Wirkung und als teleologische, dass entstehendes Übel hinlänglich aufgewogen werden muss. Das Prinzip der Doppelwirkung ist in der Medizin von Bedeutung, wenn bei einer infausten Krankheit nur die Schmerzbekämpfung intendiert wird, eine Todesfolge aber in Kauf genommen wird; so kann diese Handlung trotzdem gerechtfertigt erscheinen.

1095 Medizinethik und Komplementärmedizin

Die Stärke des deontologischen Verfahrens liegt in der einfachen Anwendbarkeit des Kantschen Verallgemeinerungsverfahrens, dem Zeitgeist entsprechen solche streng normativen rigiden Verfahren weniger, sie werden dogmatisch konnotiert. Auch theoretisch kann dagegen eingewendet werden, dass das Universalisierbare per se noch nicht gut sein muss, dass wir es nur mit Negativität, also Verboten ohne richtungsweisende Gebote, zu tun haben und v. a. dass das Entscheidende einer Handlung, die Folgen, vernachlässigt werden. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass sich die Medizinethik – und dies gilt v. a. für die Auseinandersetzung mit alternativen Verfahren  – der Theorie des Konsequentialismus mit seinen praktisch orientierten und verhandelbaren Prinzipien zuneigt. Bei dieser ist die Maximierung des außermoralischen Guten, also die Befriedigung einer oder mehrerer Neigungen, das Moralitätskriterium. Es kann sich hierbei um Lust im hedonistischen Sinne oder um mehrere verschiedene Güter wie zwischenmenschliche Beziehungen oder ästhetischer Genuss handeln. Diese Werte müssen um ihrer selbst willen wählenswert sein, und sie müssen sich auf den kollektiven Nutzen beziehen. Die beiden Protagonisten des Utilitarismus unterscheiden sich durch ihre Lustbemessung; Jeremy Bentham tut dies quantitativ, während John Stuart Mill auch qualitative Unterschiede einräumt. Die Lust kann sozusagen intrinsisch sein und somit als eigenständiges Erlebnis gewertet werden, sie kann aber auch im Gefolge von einem Vorgang auftreten, sie kann etwa den Erfolg einer Tätigkeit begleiten. zz Utilitarismus Beim Präferenzutilitarismus ist die Präzision

von der Qualität der Information, auf die sich die therapeutische Entscheidung eines Patienten stützt, abhängig. Das Informed-desire-­Konzept stellt Anforderungen sowohl an den Behandelten als auch an den Behandler. Von ersterem wird intellektuelle Sorgfalt, von letzterem Wahrheitsliebe und verständliche Aufklärung erwartet, wenngleich die tatsächliche Präferenz letztlich nur bei Erreichung des Therapieziels (actual

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desire) zum „Glück“ führt. Eine Überbetonung des informed desire bringt den alten Paternalismus wieder durch die Hintertür herein, er verbietet sich bei dem Szenario der Komplementärmedizin, in dem Behandelter und Behandler oft von verschiedenen Wertskalen ausgehen. Gegen den Utilitarismus lässt sich einwenden – und dies tut John Rawls, der große amerikanische Gesellschafts- und Gerechtigkeitsphilosoph  – dass nur global die Summe des Nutzens zur Disposition steht und nicht dessen konkrete Verteilung. Wer ist der Nutznießer nicht nur des zur Disposition stehenden Glücks oder vielmehr der finanziellen Mittel, wenn sie auch die Heilbehelfe der Komplementärmedizin abdecken sollen? Rawls wählt das Beispiel einer Gesellschaft von Menschen mit eingeschränktem Wissen über ihre Situation, in welcher die Unterprivilegierten zumindest nicht schlechtere Chancen haben sollen. Sein Differenzprinzip besagt, dass diejenigen, die am schlechtesten gestellt sind, am meisten zu profitieren haben. Soziale Ungerechtigkeit kann nur dann legitimiert werden, wenn sie für den Schwächsten einen Vorteil bewirkt. Für Utilitarismus sprechen die Unparteilichkeit etwa bei der Verteilung der Ressourcen und die Zweckrationalität bei der Wahl der Mittel. zz Prinziplismus

Ein stark auf die medizinische Praxis ausgerichtetes Verfahren stellt der Prinziplismus dar (Beauchamp und Childress 1994). Er besteht aus Prinzipien erster Ordnung, aus Kriterien zweiter Ordnung, welche diese inhaltlich und prozedural konkretisieren, sowie Tugenden, wie wir sie von den alten Griechen und ihrer Tugendethik kennengelernt haben. Medizinethische Prinzipien nach Beauchamp und Childress (s. auch 7 Abschn. 42.4)  

55 55 55 55

Respektierung der Autonomie Nichtschadensprinzip Fürsorgeprinzip Gerechtigkeitsprinzip

1096

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F. X. Lackner

Diese vier Prinzipien stellen prima facie Pflichten dar, welche dann unbedingt gelten, wenn ihnen nicht solche gleicher Art entgegenstehen. Spezifikation bedeutet, dass aus diesen mehr allgemeinen Normen in einer Konfliktsituation konkretere Handlungsanleitungen gewonnen werden können. Balancing charakterisiert eine Gegenüberstellung und Ausbalancierung kollidierender Normen. Ein solches reflexives Überlegungsgleichgewicht wird von wechselseitiger Stützung der Prinzipien und der Herstellung eines Zusammenhangs zwischen diesen und konkreter Anwendung begleitet. Der Prinziplismus kann weder der teleologischen noch der deontologischen Methodik zugeordnet werden; seine Prinzipien, pluralistisch in der Begründung, werden nicht in gleicher Art abgeleitet und nicht durch eine bestimmte ethische Theorie gerechtfertigt, hingegen werden sie aus praktischen Erfahrungen abgeleitet. Von induktiver Intuition herrührend wurden sie nicht der diskursiven Tätigkeit der Vernunft unterworfen. Es droht also die Gefahr, dass durch Opferung der ethischen Rechtfertigung das Abgleiten in extremen Partikularismus erfolgt. Eine für unsere Fragestellung brauchbare ethische Theorie muss moralischen Konsens oder Dissens erklären können, sie muss eindeutige Handlungsanweisungen zur Verfügung stellen, auf konkrete Situationen anwendbar sein und diese Moralvorstellungen als universal gültig darstellen können. Der Grund für die Entwicklung eines praktikablen Verfahrens für die Medizin war ja, dass etwa das hippokratische Nichtschadensverbot nicht ausreichte, um in einem Szenario von fehlender Kenntnis der Nebenwirkungen komplementärer Verfahren diese bei dringendem Patientenwunsch zu Verfügung zu stellen oder zu verweigern. Ebenso waren aus indigenen philosophischen oder religiösen Traditionen nicht leicht Verhaltensregeln ableitbar, welche sowohl allgemein akzeptiert als auch universell anwendbar erschienen. Die praktische Anwendbarkeit ist geradezu ein Qualitätskriterium für ein solches ethisches Konzept, und es kommt darauf an, ob ein solches

nützlich und nicht, ob es richtig oder falsch ist. Diese mittleren Prinzipien – im Gegensatz zu den großen wie etwa einem absoluten Lebensschutz  – weisen eine Verhandlungsfähigkeit auf, sie entspringen einer common morality, also Lösungen, welche alle rational Denkenden akzeptieren können. Wurde bei den alten Theorien um jeden Preis verallgemeinerte und Gültigkeit für jede Situation gesucht, so wird hier wieder in die entgegengesetzte Richtung gegangen, es wird auf die Kasuistik zurückgegriffen, paradigmatische Einzelfälle werden dazu herangezogen, zunächst nur, um daraus moralische Vorgangsweisen für „diesen“ Fall abzuleiten. Es geht dabei stets um einen Fall „solcher Art“, es steckt zwar Allgemeines darin, aber streng genommen kann aus dem Einzelfall nichts „anderes“ abgeleitet werden. Den Standard sowohl für eine Handlung als auch für eine Antwort stellt deren Rechtfertigung dar. Gerade in der Komplementärmedizin muss jede eingenommene Position rechtfertigbar (justifieable) oder verteidigbar (defendable) sein, das Hauptgewicht liegt auf dem Diskurs. Diese Rechtfertigbarkeit stellt einen niedrigeren Standard dar als der Wahrheitsanspruch, trotzdem mag er der einzig erreichbare Standard sein vor dem Hintergrund eines universalen moralischen Konzepts. >> Die Praktikabilität solcher Prinzipien, die ja auch handlungsanleitend sein sollen und in Konflikten hilfreich, muss nicht unbedingt umfassende Begründungsmuster samt anthropologischen Konzepten umfassen, die argumentative Begründung soll zwar nicht ganz auf der Strecke bleiben, aber dem Handelnden sollte ein gewisser Spielraum bleiben.

Schon Aristoteles hat das Verfahren der Epikie eingeführt, streng genommen ein kasuistisches Verfahren mit Betonung auf der Einmaligkeit einer Situation und ihrer Handelnden – v. a. in der Medizin. Bei der Kollision dieser Prinzipien wird, wobei keine Letztbegründung erfolgt, immer eines unterliegen, es wird ein Interesse auf der

1097 Medizinethik und Komplementärmedizin

Strecke bleiben und dies moralische Residuen hervorrufen, ein Unrechtbewusstsein. Für die Anwendung auf den Gesundheitssektor sprechen leichte Verständlichkeit der Vorgehensweise, transparente Struktur und die Eignung für pluralistische Gesellschaften. Im Gegensatz dazu verlangen Moraltheorien eine breite Anerkennung von Werten. Es ist die Frage, ob diese Prinzipien miteinander so in systematischer Beziehung stehen, dass davon allgemeine Prinzipien abgeleitet werden können. Auch die großen Moraltheorien sind nicht eindeutig, wenn Thomas von Aquin uns empfiehlt, das Gute zu tun, oder Bentham das größte Glück für die höchste Zahl fordert. Ohne Kriterien wird sich hiermit keine Entscheidung über die Allokation beschränkter medizinischer Güter rechtfertigen lassen. Auch sind die einzelnen Prinzipien nicht homogen. Sie beinhalten wieder verschiedene moralische Erwägungen  – das Autonomieprinzip z. B. umfasst Elemente von Aufklärung, Verstehen, Freiwilligkeit und Delegation –, für eine Handlungsanleitung kann dies verwirrend sein. Die kontinentaltaleuropäische Kritik richtet sich darauf, dass die Prinzipien erster Ordnung von der Autonomie bis zur Gerechtigkeit nicht ausreichend bestimmt werden, es kommt ihnen eigentlich keine Rangordnung zu, sondern die Gewichtung erfolgt aus der Situation heraus. Diese nicht ausreichende Begründung verunsichert das Moralempfinden. Sowohl die europäische Tradition, die auf Geduld, Einfühlungsvermögen, Mitempfinden und Verschwiegenheit baut, als auch der Unterbau der asiatischen Medizin, der für die Komplementärmedizin von großer Bedeutung ist, werden vom Prinziplismus nicht wirklich repräsentiert. Hingegen bringt die Unabhängigkeit von übergeordneten ethischen Theorien die Möglichkeit, den Einzelfall in einem rationalen Diskurs zu behandeln  – also im Sinne eines wichtigen Faktors der Komplementärmedizin, der Individualisierung; auf der Strecke bleibt jedoch die europäische Ausrichtung auf eine Beurteilung des Strukturganzen der Handlung.

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Für die ethische Beurteilung der Komplementärmedizin bietet der Prinziplismus mehrere Vorteile. Ein Gutteil der diesbezüglichen Diskussion begann in den Vereinigten Staaten, und es wird einfach der Diskurs durch eine einheitliche Methode begünstigt. Die Diskussion muss in der breiten Öffentlichkeit stattfinden, die Einfachheit und Palpabilität des Prinziplismus kommt dem zugute. Durch die Aufgliederung der Regeln wird die weltanschauliche Konfrontation in ihrem Impakt auf den Diskurs entschärft und versachlicht. 42.3  Fernöstliche philosophische

Konzepte der Medizin

Da Teile der Komplementärmedizin ihren Ursprung auch außerhalb Europas und Amerikas haben, ist es notwendig, zumindest die philosophischen Grundlagen der chinesischen und indischen Medizin zu erwähnen. zz Chinesische Medizin

Für die chinesische Medizin ist das Verständnis der Yin-Yang-Theorie sowie der Fünf Phasen erforderlich (Li 2011). Diese Tradition beruht auf dem Verständnis des Universums und des Menschen in einer holistischen Betrachtungsweise. Dabei können die Teile des Körpers nicht isoliert betrachtet werden; wenn ein Organ befallen ist, werden auch alle anderen betroffen. Darüber hinaus sind Körper und Geist nicht getrennte Identitäten, sondern Gefühle verursachen ihrerseits Erkrankungen. Ein weiterer Zusammenhang besteht zum Universum, sodass Erkrankungen auch von Umwelteinflüssen hervorgerufen werden können. Dies steht im Gegensatz zur physikalisch-chemisch abgesicherten organbezogenen Vorgehensweise der westlichen Medizin. Historisch beginnt die chinesische Philosophie mehr als 1000 Jahre v. Chr. mit der Chou-­Dynastie mit Prinzipien zum Verhalten des Einzelnen in der Unordnung der Zeit. Die Schulen von Konfuzius und Menzius etwa

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F. X. Lackner

500 v. Chr. führten diese Zustände auf einen Zerfall der Ordnung zurück und verlangten deren Wiederherstellung. Die taoistische Schule im 4. Jh. v. Chr. sah die Probleme bedingt durch Verweltlichung und Abkehr von der Moral und der natürlichen Ordnung. In diese Zeit fallen auch die schon erwähnte YinYang-­Schule der Kosmologie und das System der Elemente. Um die Zeit von Christi Geburt wurden in der Han-Dynastie die Elemente von Konfuzius und den taoistischen Vorstellungen zusammengefasst und als Zusammenspiel der menschlichen und der natürlichen Kräfte mit starker Betonung des Zyklischen und der gegenseitigen Beeinflussung dargestellt. Um das 5. Jh. n. Chr. erreichte der buddhistische Einfluss in der chinesischen Philosophie seinen Höhepunkt, dies erfolgte aber auch in umgekehrter Richtung. Auch ergab sich im 2.  Jahrtausend ein Einfluss europäischer, namentlich marxistischer Philosophie, dieser war aber eher gesellschaftspolitischer Natur als auf das Individuum und dessen Physis ausgerichtet. zz Indische Medizin

42.4  Begriffsbestimmungen Alternativmedizin - Der Terminus will besagen, dass es sich hier um etwas anderes handelt, etwas, das sich unterscheidet. Alternativmedizin unterscheidet sich von der wissenschaftsbasierenden Medizin, die in Europa in der Renaissance ihren Anfang nahm. Diese versteht sich als orthodoxe, reguläre konventionelle Medizin („Schulmedizin“), die sozusagen im Mainstream dahindriftet. Sie setzt sich aus einer Vielzahl von nach Kultur und Konzept verschieden Theorien und Praktiken zusammen. Da sie sich als alternatives Heilverfahren im Sinne eines Entweder-Oder versteht, ist sie geeignet, ethische Debatten im Sinne des Wohltuens- und Nichtschadensprinzips anzustoßen.

Komplementärmedizin - Darunter kann eine Behandlungstaktik subsummiert werden, welche nicht auf einem von der konventionellen Medizin verschiedenen Konzept beruht, sondern diese ergänzt – also sozusagen konventionelle Medizin plus Alternativmedizin. Versteht man dies so, erübrigen sich die meisten Debatten, da ja lege artis behandelt wird und die Nebenwirkungsarmut der Alternativmedizin anerkannt ist – sie ist ja im Gegensatz zum High Tech der konventionellen Medizin eine sanfte. CAM (complemetary and alternative medicine) Komplementär- und Alternativmedizin werden v. a. im angloamerikanischen Sprachgebrauch als CAM (complemetary and alternative medicine) zusammengefasst. Edzard Ernst hat dafür die folgende Definition angeboten: Diagnose, Behandlung und/oder Prävention, welche die „Mainstream-Medizin“ zu einem gemeinsamen Ganzen beitragend ergänzt, indem sie Ansprüche, denen die orthodoxe Medizin nicht gerecht wird, erfüllt, oder welche die der Medizin zugrundeliegenden Konzepte diversifiziert (Ernst et al. 2004)

Die indische Philosophie hingegen beruht auf der alten Veda-Lehre. Sie enthält Hymnen zur Verehrung von Naturgöttern und Rituale sowie kosmische, moralische und mystische Züge (Honderich 1995). Mystische Seher dieser Richtung stellten sich schon eineinhalb Konventionelle Medizin - Sie wird charakterisiert Jahrtausende vor Christus die Frage nach dem durch Begriffe wie Materialismus, Rationalismus, Ursprung des Universums. Es entwickelten evidenzbasiert auf harten Daten beruhend; den Goldstandard stellt das Experiment dar, randomisiert, sich 6 Systeme der Veda-Lehre; die Wirklich- verblindet und kontrolliert. Logische Argumentation keit ist für den Buddhisten immer wechselnd, und das Ursache-Wirkungs-Gesetz stellen die Grundim nichtdualistischen Veda sind das nie Wech- lage für die Evidenz betreffs Wirkung und Nebenwirselnde und das Ewige real. Der medizinische kung zur Verfügung. Ob konventionelle Medizin oder Bereich der Lehre ist in den sog. Ayurveda-­ Alternativmedizin, ist von Ort und Zeit abhängig. Vor Jahrhunderten galten Aderlass, Schwitzkuren und ReiSchriften niedergelegt und stellt eine metho- nigungsklysmen durchaus als orthodoxe Maßnahmen dologisch ausgeklügelte Deutung von Gesund- und wurden auch an Universitäten durchgeführt. Akuheit dar. punktur stellt in China heute noch eine konventionelle

>> Es wird ersichtlich, dass auch diese außereuropäischen Konzepte zunächst nur sehr allgemeine Leitlinien zur Verfügung stellen, an denen sich dann die konkreten Heilverfahren orientieren können.

medizinische Technik dar, dass diese der westlichen Medizin auch zur Verfügung steht, tut ihrer Popularität und ihren wirtschaftlichen Vorteilen keinen Abbruch.

Allopathische Medizin und Homöopathie - Konventionelle Medizin beruht auf Allopathie, einer Taktik, der zufolge eine Heilung durch Mittel, welche von der Krankheit verschiedene Symptome hervorrufen, her-

1099 Medizinethik und Komplementärmedizin

beigeführt werden soll (contraria contrariis curantur). Die Homöopathie hingegen beruht auf dem Simile-Prinzip, wonach mit Substanzen, welche krankheitsähnliche Symptome hervorrufen, geheilt wird (similia similibus curantur). Allopathie bekämpft, antagonisiert; es haftet ihr schon per definitionem ein aggressiver Charakter an.

Medizinethische Prinzipien (s. auch 7 Abschn. 42.2) kRespektierung der Autonomie

In der hippokratischen Tradition stand das Wohlergehen des Patienten im Sinne von geheilt werden im Vordergrund, sie war aber paternalistisch, weil der Heiler die Mittel dazu selbst bestimmte. Mit der Aufklärung wurde auch der Patient mündig und gewann nicht nur ein Mitspracherecht, sondern die Gesamtbestimmung über seine Therapie. Die Einwilligung nach qualifizierter Aufklärung  – sie muss in der Komplementärmedizin die Besonderheiten des Wirkungsnachweises eingehend erläutern – kann auch eine Verweigerung der konventionell-medizinischen Vorgehensweise enthalten. Das Wertesystem des Patienten kann also von dem des Behandelnden verschieden sein, es darf jedoch nicht auf völlig irrationale Überlegungen gründen – eine heikle Schutzfunktion des Arztes und der Gesellschaft. Auf die Begrenzung der delegierten Entscheidung etwa für Kinder wurde schon verwiesen (7 Abschn. 42.2).  

kWohltuensprinzip

Diese in der Regel mit dem Autonomieprinzip in Konflikt stehende alte Uranforderung an den Behandler wird dadurch herausgefordert, dass Zweifel darüber bestehen, was einem Patienten hilft. Ist es der feste Glaube an ein alternatives Verfahren, der eine pharmakologische Wirksamkeit gar nicht mehr erfordert? Soll nur ein Krankheitssymptom bekämpft werden, oder hilft das Verfahren in seiner Gesamtheit eine umfassende Zufriedenheit im Sinne einer Erlangung des Heils zu gewinnen? kNichtschadensprinzip

Dieses Prinzip könnte als reine Ergänzung, also als das Negativum des Wohltuensprinzips,

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betrachtet werden. Das würde dann heißen: wenn man einem Patienten nur Gutes tun will, so gibt es dabei kein Schaden. Karl Herrmann Spitzy hat einmal gesagt, ein Medikament, das keine Nebenwirkungen hat, sei dringend darauf verdächtig, auch keine Wirkung zu haben. Angesichts der Nebenwirkungsarmut der Komplementärmedizin scheint also dieses Prinzip hier nicht so relevant zu sein, prinzipiell ist aber die Schadensvermeidung im ethischen Sinne noch vor der Wohltuensverpflichtung angesiedelt. kGerechtigkeitsprinzip

Dieses Prinzip ist in der Komplementärmedizin v.  a. für die Verteilung öffentlicher Mittel relevant. Es beginnt dort von Bedeutung zu sein, wo es um die Förderung von Forschung auf diesem Gebiet geht. Forschung bildet ja die Grundlage für den Wirkungsnachweis im Sinne der evidenzbasierten Medizin und stellt dadurch die reale Grundlage für die Implementierung des Wohltuensprinzips dar. Aber auch im System des Wohlfahrtsstaats stellt sich die Frage der Vergütung von alternativen Heilbehelfen durch die Krankenkasse, um diese Medizin nicht nur der Oberschicht zugänglich zu machen. Auf europäischer Ebene erfuhr dieses Problem besondere Beachtung insbesondere bezüglich Zugang, Information und zur Verfügung stehen (Nissen et al. 2013). Aber auch die Übertragung einer autonomen Entscheidung auf ein anderes Individuum, wie in 7 Abschn. 42.2 geschildert, ist eine Frage der Gerechtigkeit.  

kWahrheitsverpflichtung

Dieses etwas neuere Prinzip hat eine sehr praktische Konnotation, nämlich die der Seriosität von Verschreibung und Vertrieb komplementärer Mittel und Verfahren. Das Wesen der schon von Hahnemann beklagten Quacksalberei liegt ja im Vortäuschen nicht eintretender Wirkungen vor dem Hintergrund der Zwangslage von Kranken und dem Ausbeuten von Schutzbedürftigen. Der alte therapeutische Vorbehalt, er bestand in einem Privileg des Arztes, dem Patienten eine Wahrheit vorzu-

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behalten, wenn dieser dadurch einen schweren Schaden erlitte, kann in der Komplementärmedizin wohl nicht generell als Rechtfertigung dienen. zz Epistemiologie

Wenn wir uns fragen, warum wir das, was wir wissen, als richtig zu wissen glauben und dies als Grundlage für unsere gerechtfertigten Handlungen ansehen, so nennt man dies Episteme (griechisches Wort für Kenntnis). Wir vergleichen unsere Handlungsstrategien über die Zeit miteinander, modifizieren sie und verwerfen auch früher für als gut, aber jetzt als schlecht empfundene. Wir verfügen über unvermitteltes Glauben, nämlich solches, das sich nicht auf schon vorhandenes Glauben begründet. Der Übergang vom Unmediierten zum Mediierten besteht in einer Rechtfertigung. Wenn wir die Augen öffnen und die Sonne sehen, dann fühlen wir uns berechtigt zu glauben, die Sonne zu sehen. Die Rechtfertigung, etwas zu glauben, besteht in einem unendlichen Regress, d. h., das jeweilige Urteil stützt sich auf ein vorangehendes. Das Wissen sollte also sowohl gerechtfertigt als auch wahr sein. Auch eine zeitliche und räumliche Dimension liegt in der Verfügbarkeit, sie kann erreichbar oder unerreichbar sein. Ferner besteht eine Skepsis, etwa dass vom eigenen lokalen Wissen auf das globale extrapoliert werden kann oder dass das eigene Glauben besser als das von anderen ist. Für die Wissenschaft ist Epistemiologie eine Schlüsseldisziplin, da die Ergebnisse der Forschung auf diesbezügliche Taktik aufbauen. Man denke an Popper und seine Falsifikation im Experiment (Honderich 1995). Epistemiologisch liegen etwa die Endpunkte eines komplementärmedizinischen Experiments nicht im konventionell-­medizinischen Bereich, sondern außerhalb. So gesehen, stößt das methodologische Manifest von Levin, welches angibt, mit welchen Modifikationen sich Komplementärmedizin wissenschaftlich beforschen ließe, an Grenzen (Levin et al. 1997). Diese Begründungstheorie des eigenen Standpunkts hat in Bereichen, die außerhalb

der konventionellen Medizin liegen, ohne Zweifel einen wichtigen Platz (Kiene und Heinpel 2010). Ich glaube an ein alternatives Verfahren aufgrund der Bevorzugung meiner eigenen guten Erfahrung vor der anderer. Ich rechtfertige meine Überzeugung im Vertrauen auf einen Heiler oder ein philosophisches Konzept, die Rechtfertigung ist nicht nur normativ, sie ist auch zutiefst individuell. 42.5  Wirkungsnachweis

Die erst Ende des vorigen Jahrhunderts aufkommende Forderung, alle Mittel und Maßnahmen der klinischen Medizin nach rigorosen wissenschaftlichen Kriterien experimentell abzusichern, hat die Hinterfragung der Fundierung der Komplementärmedizin zugespitzt. Es besteht hier ein grundsätzliches Problem. Haben wir es mit verschiedenen medizinischen Kulturen zu tun, wie sie zeitlich und örtlich getrennt in ihrem eigenen Recht (in their own right) existieren, oder kann es nur eine seriöse Medizin geben, die sich auf weltweit einheitliche Voraussetzungen stützt. Für die ethischen Vorgaben besteht Einigkeit, dass es, was die biomedizinische Ethik westlicher Prägung betrifft, keine Partikularlösungen geben soll, sondern dass die sich über die Jahrhunderte, wie gezeigt, aufeinander aufbauenden Systeme zu einer auf allgemeine Anerkennung fundierende angewandte Ethik zu einer akkordierten und allgemein verbindlichen Auffassung f­ühren. Die Gegenposition im Sinne einer überbetonten Autonomie kann darauf verweisen, dass allein in der Wissenschaftstheorie Uneinigkeit über die Frage des Wirkungsnachweises besteht. Die Universität verband im Abendland sowohl die Wissenschaftskritik im Bereich der Philosophie als auch die spätestens nach Zurufen von Claude Bernard zur Wissenschaft gewordenen Medizin. Sie wurde dadurch zur höchsten Instanz bei der Anerkennung wissenschaftlicher Aussagen (Lackner 2013). Als Reifezeichen und damit Selbstqualifizierung benannte Thomas Kuhn die Existenz von Paradigmen. Damit meinte er das, was in der Wissenschaft notwen-

1101 Medizinethik und Komplementärmedizin

dig ist, um als gesicherte Erkenntnis zu gelten. Doch diese Paradigmen bleiben nicht immer gleich, sondern sie wechseln – dies wird als Paradigmenwechsel bezeichnet. Die Methoden der westlichen Medizin fallen in diese Überlegungen, viele komplementäre Verfahren beruhen auf speziellen systematischen Theorien, welche nicht auf die Empirie beschränkt sind. Die Frage ist, ob sie als Paradigmen im Kuhnschen Sinne aufgefasst werden können (Kuhn 1962). Karl Popper schrieb die Bewertung der wissenschaftlichen Experimente neu. Popper bezeichnete es als das Hauptziel eines Experiments, falsche Annahmen auszuscheiden  – die Falsifikation (Popper 1959). Sollten sie nicht falsifizierbar sein, so sollten sie so lange neuen strengeren Tests unterzogen werden, bis nur die Wahrheit übrig bliebe. In Anlehnung an John Hume begründete Popper seine Kritik an der Induktion damit, dass schon nur ein anderslaufender Ausgang die Annahme einer Hypothese infrage stellt. So sind alternative Methoden oft, können sie nicht als empirische Fragen formuliert werden, dieser Art von Bewertung nicht zugänglich. Universale Theorien oder Ideengebäude scheinen in diesem Sinn nicht falsifizierbar zu sein. Studien, die unwissenschaftlich sind, sind auch unethisch (Denham et al. 1979). Dies erklärt sich nicht nur aus den falschen Versprechungen, welche solche für Patienten ergeben, sondern auch durch das nicht durch eine gültige Aussage gerechtfertigte Risiko, welchem Versuchsteilnehmer immer ausgesetzt sind. >> Der vereinfachende Slogan lautet: Alternative Therapie – ja, alternative Forschung – nein.

Diese unterschiedliche Bewertung hat in diesem Sinne mit soziokulturellen Faktoren zu tun, denn es hängt vom Mainstream in der augenblicklichen scientific community ab, was als gültig erkannt wird. Es gibt in Anlehnung an das Recht des Stärkeren auch im Gesundheitswesen so etwas wie den military-industrial complex, welcher auch die Wissenschaftskritik mitbestimmt. Komplementärmedizin hingegen war ein klassischer Randbereich, mit viel weniger Forschungsmitteln.

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Diese Debatte wurde auch in Wien geführt, als die Medizinische Fakultät noch ein Teil der Universität war. Der Pharmakologe Turnheim hielt die wissenschaftlichen Fundierungen von alternativer (nicht komplementärer) und konventioneller Medizin für inkompatibel (Turnheim 2002). Begriffe wie immaterielle Energie seien wissenschaftlich nicht fassbar und die daraus resultierenden Therapieempfehlungen dogmatisch. Die Plausibilität eines neuen Heilverfahrens sei zwar nicht das einzige Beurteilungskriterium, sie würde aber einen Wirkungsnachweis legitimieren. Ebenfalls in Wien hielt Edzard Ernst dem entgegen, das neben der evidence auch der experience eine wichtige Rolle zukomme (Ernst 2001). Es solle weniger Wert darauf gelegt werden, wie ein Medikament oder Verfahren wirkt, sondern darauf, ob es wirkt. Gleichzeitig verlangte Ernst aber, alternative Therapieverfahren rigoros einer wissenschaftlichen Überprüfung zu unterwerfen. 42.6  Interaktion von

konventioneller Medizin und ­Komplementärmedizin

Wenn es sich bei der Komplementärmedizin oft um ergänzende Maßnahmen handelt, so kann dies harmlose chronische Zustände wie chronische Schmerzzustände oder Erkältungsanfälligkeit betreffen. Auch bei lebensbedrohlichen Erkrankungen kann die Komplementärmedizin etwa bei einer Chemotherapie helfen, Begleitsymptome wie das Erbrechen zu verringern. >> Ethische Probleme entstehen aber bei ernsten Erkrankungen, wenn der Patient auf der Verwendung von ausschließlich alternativen Verfahren besteht.

42.7  Fallbeispiele

Zur Illustration seien hier zwei Fälle paradigmatisch geschildert: einer, bei dem eine Patientin nach Ablehnung einer konventionell-medi-

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F. X. Lackner

zinischen Behandlung zu Tode gekommen ist, und ein erfreulicherer, bei dem Eltern die Ver-

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wurde und das durch konventionelle Behandlung, eine Operation, geheilt werden konnte.

fügung über ihr Kind vom Gericht entzogen

konnten. Dies wäre vielleicht, im Gegensatz zur verrufenen paternalistischen Haltung, mehr eine maternalistische  – kein Problem, wenn das Gesamtpatientenwohl an die Spitze gestellt wird.

zz Fall 1

zz Fall 2

Jacobson schildert den Fall einer 38-jährigen Frau, die wegen starker Vaginalblutungen den Gynäkologen aufsuchte (Jacobson und Cain 2009). Die Patientin lehnte den Therapievorschlag, der aus einer Operation, Chemotherapie und Bestrahlung bestand, ab und unterzog sich lediglich einer Radiatio mit immunologisch stimulierender Kräuterkur; sie wollte auf jeden Fall ihre Ovarialfunktion erhalten. Nach 10  Monaten suchte sie erneut den Gynäkologen auf. Es hatte sich eine generalisierte Lymphkontenschwellung ergeben, und in der Scheide war eine Harnfistel aufgetreten. Nun stimmte sie einer Chemotherapie und einer Schienung der Ureter zu. 21 Monate nach Stellung der Diagnose verstarb die Patientin. Dies ist ein Beispiel von vielen, bei dem ein schwerer Konflikt der Wohltuensverpflichtung des Arztes und der Autonomie des Patienten auftritt. Dieser wird dort verschärft, wo die alternative Behandlung durch einen Nicht-­Arzt durchgeführt wird. Auch für den Arzt ist bei einem wohl informierten und konsensfähigen Patienten die Verweigerung einer seiner Meinung nach dringend indizierten Behandlung bindend. Wie soll er sich aber verhalten? Jacobson empfiehlt, den Kontakt zum Patienten nicht abreißen zu lassen, v. a. wenn er, wie im geschilderten Fall, nach einer erfolglosen alternativen Therapie zurückkommt. Ohne den Patienten zu manipulieren, sollte doch stets versucht werden, ihm mit Aufklärung zur Seite zu stehen. Die Festlegung auf ein alternatives Verfahren ist keine fixierte und über die Zeit unverändert bleibende Überzeugung, sondern im Rechtfertigungsprozess (Episteme) des Patienten ein kontinuierlicher Vorgang. So kann der Arzt helfen, etwa übertriebene Furcht vor den Nebenwirkungen von Operation oder Chemotherapie abzubauen, weil diese in den letzten Jahren wesentlich verringert werden

Ein Mädchen kam in ein österreichisches Krankenhaus, wo ein Tumor der Niere festgestellt wurde (Lackner 2004). Da die Eltern Anhänger einer Sekte waren, deren Arzt die Ursache der Erkrankung in der Psyche suchte, verweigerten sie das Einverständnis zur Operation. Das Gericht entzog den Eltern das Verfügungsrecht über das Kind, der große Nierentumor wurde operiert. Jahre später erschien ein Bild der nunmehr jungen Dame, welche eine Laufbahn als Model anstrebte, in einer Tageszeitung. Hier ist weniger relevant, wie sich das Kind damals selbst entschieden hätte; die Grundfrage ist, ob bei lebenswichtigen ­ Entscheidungen gegen den Mainstream die Einschätzung der Erfolgsaussichten delegiert erfolgen darf. Hier geht es wieder um Wohltuen vs. Autonomie, allerdings nicht die eigene, sondern eine solche, welche einem noch nicht lebenserfahrenen Menschen übergestülpt werden soll. Damals hatte dieser Fall im Vorfeld eine große Diskussion darüber ausgelöst, ob es rechtens sei, zwischen das Kind, die Eltern und den Arzt, wenn er auch Naturheiler war, einen Keil zu treiben. Psychologisch führen solche Entscheidungen dann zum Ausstoßen aus einer Überzeugungsgemeinschaft, die als sehr traumatisch empfunden werden kann. Aber die Abwägung der Prinzipien musste hier zu Recht auf die Seite der größeren Sicherheit hin erfolgen. Welche Richtung die Diskussion genommen hätte, wäre die Operation nicht erfolgreich verlaufen, kann man sich vorstellen. Diese Entscheidung wurde im Sinne des weiter oben Gesagten (7 Abschn.  42.2) deontologisch getroffen, denn aus dem damaligen a-priori konnte man ja nicht wissen, wie die Sache ausgehen würde. Sind unsere Systeme also doch nicht so flächendeckend verwendbar? Hat Kant in unserer modernen Gesellschaft einen Platz?  

1103 Medizinethik und Komplementärmedizin

42.8  Synopsis

Ethik versteht sich als Reflexion über das Handeln, eine über den Zweck hinausgehende Bewertung derselben sowohl für den Handelnden als auch seine Umwelt. In der Medizin ist, wie der hippokratische Eid zeigt, mehr als in jedem anderen Beruf eine solche erforderlich. Obwohl konventionelle Medizin und Komplementärmedizin dieselben Qualitäten diesbezüglich aufweisen müssen, sind doch unterschiedliche Vorgehensweisen festzustellen. Komplementär als ergänzende Maßnahme birgt zunächst wenig erkennbare ethische Problematik in sich, sieht man vielleicht von der Zurverfügungstellung öffentlicher Mittel ab. Alternative Medizin hingegen meint die Verwendung unterschiedlicher, nicht wissenschaftlich geprüfter Verfahren. Diese können in lebensbedrohlichen Situationen einen starken Gegensatz der zu verwirklichenden Prinzipien bringen und münden daher oft in einem Dilemma  – nicht auflösbar und wie die Kuhnschen Paradigmen einem steten Wandel unterworfen. >> Wie in allen solchen Situationen ist der andauernde Versuch einer Kommunikation, die Diskussionsoffenheit der verschiedenen Richtungen, das Kennenlernen der gegnerischen Konzepte die einzige Möglichkeit einer Auflösung.

Ob diese dann Integration heißt, ob sich verschiedene Verfahren auf einem freien Markt anbieten, ob die finanziellen Nöte des Gesundheitssystems diese Fragen durch eine Rationierung lösen ist, heute noch nicht abzusehen. Bei kritischer Annahme jedweder Therapien sollte Hahnemanns Klage, dass Scharlatanerie noch nie so gewinnbringend war wie damals – heute nicht mehr zutreffen. Zusammenfassung 55 Der Wirkungsnachweis konventioneller und komplementärer Verfahren ist im Wandel begriffen. 55 Auch komplementäre Verfahren müssen experimentell bewiesen werden.

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55 Die Forschung weist bei unkonventionellen Therapien Defizite auf. 55 In der Praxis bildet die Einverständniserklärung die größte Reibungsfläche. 55 Nichtzustimmungsfähige Patienten stellen ethisch am häufigsten Probleme dar. 55 Die Anerkennung als wirksames Verfahren bedingt die Aufnahme in den Leistungskatalog. 55 Lehren und Diskussion seitens der Universitäten festigen deren Reputation als I­nstitution.

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F. X. Lackner

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Serviceteil Stichwortverzeichnis – 1107

© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2019 M. Frass, L. Krenner (Hrsg.), Integrative Medizin, https://doi.org/10.1007/978-3-662-48879-9

1107 Stichwortverzeichnis

A

Stichwortverzeichnis

A Abführmittel  687, 690 –– Missbrauch 692 Abhyanga 854 Abstinenz (Psychoanalyse)  895 Abwärmen –– Training 369 achtsamkeitsbasierte Techniken  863, 950, 954, 958 –– und Biomarker  960 –– Wirkungsdynamik 964 Adaptation –– physiologische 675 Adaptationssyndrom 202 –– allgemeines (Selye)  162, 165 Aderlass  266, 271, 651, 695, 818 –– Befunde 266 –– Blutproben 267 –– Empfehlungen 268 advanced glycation end products. Siehe AGE  Ärztegesetz (Österreich)  1056, 1062 ärztliche Berufsausübung –– Delegation ärztlicher Tätigkeiten 1058 –– Fortbildungspflicht 1070 –– Therapiefreiheit 1057 –– Voraussetzungen 1056 ätherische Öle  274 –– antiemetische Wirkung  280, 294 –– antimikrobielle Wirkung  276, 277, 284, 286, 291, 293 –– antioxidative Wirkung  278 –– Auswahl 290 –– chemopräventive Wirkung  278 –– Definition 282 –– Eigenschaften  276, 282 –– Gewinnung  258, 275, 282 –– Haarpflege 300 –– Harnanalyse 283 –– Hautpflege 300 –– Kennzeichnung magistraler Zubereitungen 288 –– Konzentration 293 –– Labordiagnostik 284 –– orale Applikation  291, 301 –– pharmakologische Wirkung  280 –– Qualität 287 –– Serumkonzentrationen von Inhaltsstoffen 278 –– Trockeninhalation 299

–– Überdosierung  296, 298 –– unerwünschte Wirkungen  296, 298 –– Wirksamkeitsprüfung 286 –– Wirkung auf die Psyche  279 –– Wirkung auf pathogene Keime  295 –– Wirkungsebenen 276 –– Zahnreinigung 618 Ätherleib 458 Agardiffusionstest 285 AGE (advanced glycation end products)  153, 155, 497 Agni  247, 717, 845, 853, 856 –– Stärkung 694 Akratopege 676 Akratothermalwasser 676 Aktion (physikalische Grundgröße)  53 –– Stationarität 53 –– Therapie 55 Akupunktur  194, 211, 522, 739, 751, 802, 1003, 1044 –– Behandlungsmöglichkeiten 745 –– EAV 232 –– Einsatzgebiete  37, 739 –– Evidenzlage 748 –– Fallbericht 747 –– Formen 747 –– Goldene-Nadel-Akupunktur 818 –– Situation in Europa  39 –– Zusatz-Weiterbildung (Deutschland) 1080 Akupunkturpunkte  742, 769, 791 –– Aktivierung 748 –– Hautwiderstand  228, 231 –– Mundraum 602 –– Zuordnung 229 Allergie –– Mikroimmuntherapie 426 allergische Reaktion –– Ablauf 427 Allgemeingültigkeit  25, 29 Allopathie 1092 –– Definition 1098 Allostase 523 –– allostatische Belastung  524 –– allostatische Situation  524 –– Definition 523 –– Mediatoren 524 Alltagskompetenzen, Erwerb  982, 984 Alpha-Kohärenz und -Synchronie (EEG) 950 Alpinia officinarum  269 Alternativmedizin  40, 1061 –– Berufsbild (Schweiz)  1087

–– Definition  18, 1098 Alzheimer-Demenz 160 Ama  247, 717, 849, 853, 856 Amalgam 629 –– Ausleitung  631, 636 –– Diagnostik 630 –– Symptome bei Belastung  630 –– Tausch 629 Ammoniakentgiftung 161 Amyloid-β  156, 157, 160 Anamnese –– aromatologische 280 –– F. X. Mayr  501 –– ganzheitliche Zahnmedizin  595 –– homöopathische  384, 391 –– homotoxikologische 407 –– Kampō 781 –– Kneipp-Medizin 441 –– manuelle Diagnostik  330 –– Mikroimmuntherapie 419 –– neuraltherapeutisch 529 –– orthomolekularmedizinisch 547 –– osteopathisch  318, 321 –– psychosomatisch 909 –– TCM  239, 746 –– tibetische Medizin  246 Angst –– Reduktion durch Biofeedback 946 –– und Hypnose  937 Angstreaktion 905 Angststörung –– Herzratenvariabilität 192 Ankopplung 120 –– aurikulokardialer Reflex  130 –– Bioresonanzmodulation 131 –– Definition 120 –– in der Komplementärmedizin  120 –– EAV 125 –– elektrobiologisch 130 –– elektrometeorologisch 121 –– kinesiologischer Muskeltest  126 –– Low-power-Laser 127 –– Magnetfeldtherapie 131 –– neuraltherapeutische Sekundenphänomene 131 –– Oberflächenmyographie 127 –– radiästhetisches Rutenphänomen  130 –– und Grundsystem  132 Anpassungsstörung 904 Anthroposophie 456 –– Menschenbild 458 –– Weltbild 458

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Stichwortverzeichnis

anthroposophische Heilmittel  466 –– Anwendung 466 –– Arzneiformen 466 –– Herstellung 468 –– Nebenwirkungen 472 –– Selbstbehandlung 474 –– Zubereitung 465 anthroposophische Kunsttherapie  469 anthroposophische Medizin  69, 455, 460, 1043, 1044 –– Behandlungsdauer 473 –– Behandlungskosten 473 –– Diagnose 464 –– Evidenzlage 475 –– Fallbericht 474 –– Heilmittel 465 –– Indikation 471 –– integratives Konzept  471 –– Konsultation, Verlauf  474 –– Krankheitsverständnis 463 –– medikamentöse Therapie  465 –– nichtmedikamentöse Therapie  468 –– Situation in Europa  39 –– Therapeutika 470 –– Verständnis von Heilung  464 anthroposophische Pharmazie  466 –– rhythmische Anwendungen  466 –– vegetabilisierte Metalle  466 –– Wärmeprozesse 466 Aphthen 628 Apolipoprotein A1  555 Aporie  25, 26, 29, 31 Appican  156, 157, 160 Applied Kinesiology. Siehe ­funktionelle Myodiagnostik Armbad 442 Armlängenreflex  200, 617 –– Besonderheiten 202 –– Technik 200 Aromapflege 274 –– Anwendungen  298, 299 –– Bäder 300 –– Definition 297 –– Dokumentation 299 –– Einreibungen 300 –– Kompressen 301 –– praktische Erfahrungen  301 –– Streichungen 300 –– Waschungen 300 –– Wickel 301 Aromatherapie  258, 274 –– Anwendung  275, 277, 290 –– Bad 290 –– Definition 281 –– in der Lungenheilkunde  291, 293 –– duales Wirkprinzip  277, 283 –– Einreibung  278, 290, 293

–– Inhalation  279, 283, 290 –– Massage 278 –– Notfallmaßnahmen bei unerwünschten Wirkungen  296 –– Qualitätssicherung 287 –– topische Anwendung  279, 283 –– Wirkungen auf die Psyche  279 Aromatogramm  278, 285 Artemisinin 1012 Arthron 327 –– Art Therapy  574. Siehe auch Kunsttherapie Arzneidrogen 258 Arzneimischung –– Erforschung von Monosubstanzen 821 –– TCM  753, 765 –– tibetisch 820 Arzneimittel –– Kampō 782 –– Registrierung 1071 –– TCM 753 –– Zulassungsvoraussetzungen 258, 1071, 1083, 1089 Arzneimittelbild –– homöopathisches  387, 389, 407 –– Tollkirsche 383 Arzneimittelgesetz (Deutschland) 1083 Arzneimittelgesetz (Österreich)  1062, 1071 Arzneimittelprüfung –– homöopathische 389 Arzneitee  258, 446 Asthma, Wasserfalltherapie  1016 Astralleib 459 Astrozyt –– Ammenfunktion  156, 157, 160 –– Grundregulation 147 Atemtest –– Fruktose 703 –– H2-Laktose 703 Atemtherapie 599 Atma  837, 838, 851 Aufmerksamkeitstechniken, konzentrative  863, 949 Auftrieb 443 Aufwärmen –– Training 369 aurikulokardialer Reflex  128, 596, 617 Ausbildungsvorbehalt 1055 Ausdauertraining  357, 363, 446 –– Dauermethode 364 –– Herzfrequenzsteuerung 364 –– HRV 193 –– Intervallmethode 364

–– onkologische Erkrankungen  312 –– Wirkungen 364 Ausstrahlungsschmerz  328, 527 autogenes Training  921 –– Ablauf 927 –– Aufdecken durch Gestalten  930, 933 –– autogene Neutralisation  931 –– Bereiche 922 –– Evidenzlage 934 –– Fallberichte 933 –– Haltungen 925 –– Indikationen 932 –– Kontraindikationen 932 –– nach I. H. Schultz  921 –– Protokoll 931 –– Stufen 929 –– und Sexualität  932 –– Ziel 923 Autointoxikation –– intestinale 487 autonome Dysbalance  189 –– Adipositas 190 –– Angststörung 192 –– Depression 192 –– Diabetes 190 –– Hypertonie 192 –– Stress 192 Autonomie  31, 1093 Autophagie  497, 506 Autopoiese 145 Auto-Sanguis-Stufentherapie 407 Ayurveda  47, 59, 69, 829, 835, 1098 –– Besonderheiten 79 –– Entstehung 830 –– Gesundheitstipps 854 –– Hauptwerke 79 –– 3 ×  3-Matrix 80 Ayurveda-Diagnostik  246, 853 –– Ersteinschätzung des Patienten 247 –– Methoden  246, 853 –– Untersuchungsarten 248 Ayurveda-Kurbehandlung 694 Ayurveda-Medizin –– Ablauf einer Konsultation  876 –– Ansätze 829 –– Ernährungsempfehlungen  696, 718 –– Fallberichte 877 –– Indikationen 860 –– Konstitutionslehre 843 –– multimodaler Therapieansatz  854 –– Qualitätsstandard 832 –– Stadien der Pathogenese  850 –– Theorie 834 –– therapeutische Strategien  853 –– Ziele  246, 830, 832

1109 Stichwortverzeichnis

ayurvedische Ernährungslehre  716 –– allgemeine Empfehlungen  718, 856 –– Regeln 857

B Badezusatz –– ätherisches Öl  290 –– Emulgator 300 –– Kneipp 443 Balanced-ligamentous-tension-­ Technik 317 Balanced-membranous-tension-­ Technik 316 Balneologie 668 Balneotherapie 309 Baroreflex 182 –– Sensitivität  190, 193 Basalmembran 154 Basenpulver  508, 509, 618, 627 Basispunkte (YNSA), Lage  802 Bauchbehandlung (F. X. Mayr)  510 –– Behandlungspositionen 505 –– Effekte 510 Bauchdeckendiagnostik nach Yamamoto 803 Bauchformen nach F. X. Mayr  484, 492 Bauchmaß 484 Bauchpalpation –– Kampō  778, 781 –– YNSA 803 Belastbarkeit –– Definition 355 –– Verbesserung 356 Belastungssyndrom –– chronisches (siehe chronisches Belastungssyndrom) Beratung –– Definition 898 –– Techniken 898 Bernoulli-Verschiebung  104, 112 Berufsbezeichnung, Schutz  1079, 1087 Berufsvorbehalt 1055 –– Verwaltungsstrafbestimmung 1059 Beutelbegasung mit Ozon  653 Beweglichkeit –– aktive 335 –– passive 335 –– Training 368 –– Untersuchung 335 Bewegungsapparat –– und Entschlackung  504 –– und Verdauungstrakt  502 Bewegungssegment 526 –– Definition 327

Bewegungstherapie  570, 577 –– Kneipp-Medizin 446 Bewusstsein  15, 64, 174, 459, 834, 893, 950, 953 –– Bezug zur Quantenmechanik  60 –– Eigendynamik  70, 73, 78 –– höhere Zustände  865 –– kollektives  834, 872 –– Selbstbezug  47, 61, 73, 86 –– transzendentales  15, 52, 61, 77, 86, 834, 836, 840, 851, 862, 950, 952 Bewusstseinsdynamik 47 Bewusstseinsentwicklung 830 Bewusstseinsfeld, stilles  838 Bewusstseinszustand, veränderter (autogenes Training)  923 Bezeichnungsvorbehalt 1055 Beziehungsmuster, Entwicklung  908 Bindegewebe –– Bedeutung in der Osteopathie  318 Bindegewebsstrich 529 Biofeedback  594, 743, 944 –– Anwendungen 945 –– Behandlungsziel 945 –– Definition 944 –– Evidenzlage 947 –– HRV 193 –– Indikationen 945 –– Wirkung 944 Biographie –– musikalische  565, 570 Biographiearbeit  470, 985 Bioinformation –– niederenergetische (siehe niederenergetische Bioinformation) Biokybernetik 140 –– Definition 523 biologischer Schnitt nach Reckeweg  404, 406, 490 Biomechanik 210 biopsychosoziales Modell  906, 909 Bioresonanzmodulation 131 Biorhythmus  158, 440, 447, 463, 569, 675 –– Jahresrhythmus 858 –– natürliche Rhythmen  858 –– Tagesrhythmus  856, 858 Biotherapeutika-Antihomotoxika 406 Birnhonigkur  264, 680 Bitterwasser 508 Blockierung –– Hypomobilität 328 Blutdruck 182 –– Regelkreis  100, 103, 107, 112 –– und transzendentale ­Meditation  868, 952

A–C

Blutspende –– Unterschiede zum Aderlass  267 Blutspiegel –– pharmakologisch-­ therapeutischer 548 –– physiologischer 548 Boltzmann-Konstante 68 Borg-Skala  364, 366 Bruxismus  594, 607, 624, 628, 937 Bürstenmassage  444, 681, 685 Burnout 691 –– und autogenes Training  923 –– und Biofeedback  946 Buschmeisterschlange 392

C Calcitriol 556 CAMbrella-Projekt  39, 997, 999, 1001, 1019, 1039 Cannabis 729 Carboxymethylzellulose  701, 703 Casimir-Kraft 75 Chaos –– determiniertes  144, 149 Chaosforschung 95 Chaossteuerung 115 Chaostheorie 743 Chapmann-und-Benett-­ Reflexpunkte 211 Chemotherapie –– Verträglichkeit  726, 727, 730, 732 Chemotypen  276, 290 Chinarindenversuch  382, 383, 1092 Chiropraktik  200, 211, 214, 321 –– Einsatzgebiete 37 Chirurgie –– orthopädische 326 Cholesterin 687 ChondroitinsulfatProteoglykane 156 chronic pelvic pain  912 –– Definition 910 –– Diagnostik 910 –– Fallbericht 914 chronisches Belastungssyndrom  162 –– Phasen 163 –– Regulationsverhalten 166 –– Schema 164 –– Symptomatik 168 –– Therapiehinweise 168 Chronizität –– Grundregulation 161 CIM. Siehe Complementary and Integrative Medicine CLP-Verordnung 289

1110

Stichwortverzeichnis

Coenzym Q10  546, 557 –– Blutspiegel 548 –– Funktion 557 –– orthomolekularmedizinische Indikation 558 –– Struktur 557 –– Synthese 557 Complementary and Alternative Medicine (CAM)  39, 1061 –– Definition  18, 1000, 1010, 1098 –– in Europa  1000 –– Forschung 39 –– Forschung in den USA  1005 –– Forschung in der EU  997, 1025 –– Forschung in Österreich  1009, 1011 –– Forschungsprioritäten Österreich 1025 –– Publikationen 1002 –– und Horizont  2020 1022 Complementary and Integrative Medicine (CIM)  997, 999 –– Publikationen 1002 Composite-Füllung 634 Compositum-Präparat –– homotoxikologisch 406 Coping-Mechanismen 906 Cyanocobalamin 549

D Daoyin 769 Darmbegasung mit Ozon  652 –– Dosierungsanleitung 654 –– Vorgehen 653 Darmsanierung 619 Darmschädigung –– Stadien  487, 489 Darmtonus nach F. X. Mayr  488 –– atones Stadium  490 –– hypertones Stadium  488, 493 –– hypotones Stadium  489, 493 Degeneration –– Grundregulation 161 Dekokt 757 Dekonditionierung 311 Demenz 958 –– Ammoniak-Theorie 160 –– Grundregulation  156, 157, 160 –– Homocystein 560 –– Kunsttherapie  570, 582 Denkrahmen –– mechanistischer  4, 26, 27 Dentalmaterialien 628 –– Amalgam 629 –– Composite-Füllung 634 –– Gold- und Stahllegierungen  632 –– Keramik 635 –– kunststoffhaltiger Befestigungszement 635

–– Problematik 616 –– Prothetikkunststoff 636 –– Zirkonoxid 635 Deontologie 1094 Depression 691 –– Entstehungshypothese 428 –– HRV 192 –– Mikroimmuntherapie 428 –– Psychotherapie bei  896 –– Stress 192 Desintegration –– regulatorische (siehe regulatorische Desintegration) Dhatus  247, 718, 845, 853 Diagnose- und Behandlungsvorbehalt 1055 Dialektik der Verantwortung  33 Dialog –– musikalischer  566, 570 Diaminoxidase 704 Diatherapuncteur 228 Differenzialdiagnostik –– TCM 746 Differenzialgleichung –– gekoppelte, lineare  106 –– gekoppelte, nichtlineare  108 –– 1. Ordnung  99 Dilution 387 –– Definition 388 Dinkelsuppe 709 Disaccharide –– fermentierbare 704 Disposition –– genetische 553 Doppelspalt-Gedankenexperiment 64 Doshas  247, 716, 843 –– Harmonisierung 694 Dreigliederung des Menschen  461 –– Krankheitstendenzen 462 –– Prozesse 462 Drei-in-Eins-Struktur der Dynamik  57, 63, 69 Droge-Extrakt-Verhältnis 258 Druckschmerzhaftigkeit 331 Dunstwickel, Schrothscher  685 –– Anwendung  685, 693 –– bei Arthrose  687 Dynamik –– Definition 56 –– Drei-in-Eins-Struktur nach Schelling  57, 63, 69 –– selbstbezügliche  54, 55 –– von Prozessen  99 Dynamisation –– Verschüttelung  387, 388 dynamische Stille  55, 74 Dysbalance

–– autonome (siehe autonome Dysbalance) Dysbiose –– intestinale  702, 705 Dysfunktion –– kraniomandibuläre 212 Dyskrasie 140

E Eigenblutbehandlung mit Ozon  650 –– Vorgehen 651 Eigenschaften komplementärmedizinischer Methoden –– Merkmale 10 einheitliches Feld aller Naturgesetze  14, 48, 72, 76, 836 Einmaligkeit 25 Eisen –– Bestimmung im Serum  547 Eisentherapie –– intravenöse 552 Elastin  132, 149, 156 Elektroakupunktur nach Voll  227, 405, 596, 617 –– Medikamententest  124, 231 –– Messung  231, 233 –– Messwert 233 Elektrokardiogramm 184 elektromagnetisches Feld  120 –– Bindegewebs-pH 122 Elektrotherapie 309 Elixier –– Definition 270 –– Hildegard-Medizin 270 Embodied Communication  568 Embodiment 568 Energetiker (Hilfesteller), Methoden  1073 Engrammierung  132, 144 Enteropathie-Syndrom nach F. X. Mayr 486 –– und Bewegungsapparat  502 Enteroptosegriff nach F. X. Mayr  494 Entlassungsbericht –– Muster 362 Entrainment  154, 158 Entschlackung –– Panchakarma-Kur 694 Entspannung 569 Entspannungsgrad, Messung  926 Entspannungstechniken  194, 701, 919 Entweder-Oder  27, 29 Entwicklungsalter, energetisches  798 Entwicklungsmodell, energetisches 788 Entzündung –– Mikroimmuntherapie 425 Enzympräparat 727

1111 Stichwortverzeichnis

Enzymtherapie –– onkologische Erkrankungen  727 Epigenetik  553, 554 Epikie 1096 Epistemiologie 1100 EPR-Korrelation 66 Ergometrie  351, 369 Erleuchtung  851, 864 Ernährung –– Ayurveda-Medizin  716, 856 –– nach Hildegard von Bingen  706 –– Nahrungsmittelunverträglichkeit 701 –– TCM-Diätetik 710 –– tibetische Medizin  714, 817 –– und Krebs  731 Ernährungslehre –– ayurvedische (siehe ayurvedische Ernährungslehre) Ernährungstherapie nach Kneipp  444 Ernährungstypen –– TCM 713 Ernährungsweise nach F. X. Mayr  511 Erreger –– pathogene, Wirkung ätherischer Öle 295 Erythrozyt 646 –– begabter 648 Eukrasie 140 Europäische Union –– 2. Aktionsprogramm im Bereich Gesundheit 1018 –– 8. Rahmenprogramm für Forschung und Innovation  997, 1019 –– 2. und 3. Gesundheitsprogramm  998 –– 5. und 7. Rahmenprogramm für Forschung und Innovation  1019 Europa  2020-Strategie 1020 evidenzbasierte Medizin  11 Existenzialwerte (I. H. Schultz)  930 extrazelluläre Matrix  125, 142, 143, 522, 530, 646, 1040 –– Eigenschaften 145 –– Einlagerung von Homotoxinen  404 –– hyperboloide Tunnelstrukturen  149 –– perineuronale  156, 160 –– räumliche Struktur  149 –– Regulationsbelastung 161 –– Stofftransport 152 –– Strukturkomponenten  132, 146 –– ultrapermeable Membraneigenschaften 148 –– Verschlackung  153, 154, 402, 497 –– Zelladhäsion 153 –– zirkadianer Rhythmus  159 –– Zytokinnetzwerk 152

F Facies lymphatica  595 Falsifikation, wissenschaftliches Experiment 1101 Fasten 684 –– und Lebensdauer  506 Fastenkrise 516 Fastenkur –– Entwicklung 684 –– Hildegard-Medizin 681 Faszienbehandlung 320 Faszienkonzept nach Still  314 Fatigue  311, 726, 728, 730 Feedback 523 Fehler des Intellekts  78, 81, 853 –– Beseitigung 81 Fernpunkt –– Laserbehandlung 128 Fernstörung 163 –– Lokalisation 165 –– Sekundärreiz 167 Fernwirkung 66 Feynmanscher Formalismus  55 Fibroblast –– Grundregulation 146 Fixpunkt  100, 102, 106, 108 Fixpunkt-Attraktor  102, 104, 106, 108 Fixpunkt-Repellor  102, 104, 109 Flüssigextrakt –– Phytopharmaka 258 Fluorprophylaxe 618 FODMAP (fermentierbare Oligo-, Di- und Monosaccharide und Polyole) 701 –– Definition 704 –– Gruppen 705 Foetor –– humoraldiagnostische Zeichen  496 Folsäure  547, 560 Fortschritt –– Qualitäten 51 fraktale Strukturen  144 freie Radikale  559, 728 –– biologische Funktion  545 –– Definition 544 –– Entschärfung 546 –– Entstehung 545 Fremdbestimmung 32 Frontzahnkontakt 610 Fruktoseintoleranz –– hereditäre 703 Fruktosemalabsorption 703 Fülle-Syndrom –– TCM 238

C–F

Fünf Elemente  710, 740, 741, 1097 –– Funktionskreise 712 –– Lehre 743 funktionelle Myodiagnostik (Applied Kinesiology)  200, 210, 405 –– Anwendungsbereiche 211 –– Einsatzmöglichkeiten 212 –– Evidenzlage 223 –– Fallbericht 221 –– Interdisziplinarität 214 –– klinisch-praktisches Vorgehen  219 –– Muskel als Indikator  213 –– Muskeltest 216 –– Personalisierung 215 –– Therapie-Evaluation 215 –– Zahnheilkunde  212, 596, 617, 637 Funktionskieferorthopädie  595, 600 –– bei Kindern  610 –– Fallbericht 611 –– Geräte 611 –– interzeptive Behandlung  612 Funktionsstörung, Stütz-­ Bewegungsapparat  325, 326, 333 –– arthrogene 328 –– manuelle Diagnostik  329 –– Muskeln 329 –– Schmerz 328 Funktionstest, manuelle Diagnostik 333 –– Gelenke 334 –– Haut 334 –– Muskeln 334 Funktionszerstörungen, Stütz-­ Bewegungsapparat 325 –– manuelle Diagnostik  329 Fuzzy-Logik 156 F. X. Mayr, Diagnostik  481, 490 –– Bauchformen 492 –– Haltungsformen 491 –– humoraldiagnostische Zeichen  496 –– Körpermaße 498 –– Palpation 494 –– Perkussion 493 F. X. Mayr, Therapie  481, 505 –– ambulante 510 –– Essverhalten, Schulung  509 –– Fallberichte 513 –– Gesundheitsbegriff 484 –– Indikationen 511 –– Kontraindikationen 511 –– Laborwertveränderungen 515 –– manuelle Bauchbehandlung  510 –– Säuberung des Darms  508 –– Schonung des Darms  506 –– stationäre 510 –– Substitution 509

1112

Stichwortverzeichnis

G Galgant (Alpinia officinarum)  269 Gangrän –– ozontherapeutische Behandlung 658 Ganzheit  13, 16, 838 –– Selbstentfaltung  71, 75 –– Strukturen 71 Ganzheitsmedizin  4, 18, 60, 1001, 1041, 1061 –– Definition 19 Gedächtnisleistung –– Grundsystem 156 Gefäße –– EAV 232 Gegenübertragung 894 Gehirnfunktionen und transzendentale Meditation  870 Gelenk –– Beweglichkeitsuntersuchung 334 Genanalyse 554 Gendefekt 553 Generalisierung 938 genetische Information  553 Genvariante 553 Geopathie 233 Geschmack –– Arzneimittel (TCM)  753 –– Nahrungsmittel, Ayurveda-­ Medizin 717 –– Nahrungsmittel, TCM  711 –– Nahrungsmittel, tibetische Medizin 715 Gesetz –– von Entzündung  525 –– von Schmerz  525 Gesprächstherapie –– anthroposophisch orientierte  470 Gestalten –– therapeutisch-bildnerisches 469, 576 Gesundheit –– Bewusstsein 15 –– Definition 1050 –– Definition (Ayurveda)  843 –– Ebenen 851 –– ganzheitliche  9, 14 –– nach F. X. Mayr  484 Gesundheitsberufe –– Berufspflichten 1056 –– Berufsrecht und Komplementärmedizin 1062 –– Definition 1050 –– freie 1050 –– gesetzliche Interessenvertretung 1054

–– Register 1054 –– Sozialversicherungsrecht und Komplementärmedizin 1064 –– und freie Gewerbe  1073 –– und reglementierte Gewerbe  1072 –– Vorbehalte 1055 Gesundheitsberufe, gesetzliche Regelungen –– Deutschland 1079 –– Österreich 1050 –– Schweiz 1086 Gesundheitsberufe, neue –– Methodenspektrum 1074 –– rechtliche Aspekte  1074 Gesundheitsmarkt, ganzheitlicher 1018 Gesundheitssystem –– Bedeutung der Komplementärmedizin 35 –– Forderungen an ein ganzheitliches Gesundheitssystem 16 –– Kosten  9, 868, 998, 999 –– Problembereiche  4, 7 –– Ziele  5, 18, 843 Gesundheitswesen 30 Getreideabkochung  264, 709 Gewissensfreiheit 1093 Gewöhnungstraining 366 Gewürzpulveranwendungen –– Hildegard-Medizin 270 Glaube 177 Gleichfeld –– positives 121 Globuli 388 Glukokortikoidresistenz 957 Glutathion  560, 648 Glutathionperoxidase  548, 559 Glutathionreduktase 546 Gluten  701, 704, 710 Glykokalyx  143, 146 Glykosylierung –– nichtenzymatische 154 Goetheanum 457 Goldgussfüllung 632 Grenzflächenaktivität 122 Grenztorus  108, 109 Grenzzyklus 108 Grundhaltung –– positive 176 grundlegende Elemente, ­Qualitäten  819 Grundsystem  137, 143, 231, 402, 522, 1040 –– Alzheimer-Demenz 160 –– Definition  132, 143 –– Funktion 143 –– Nichtlinearität 144

–– regulatorische Desintegration  161, 163 –– Schema 147 –– Struktur 143 –– zirkadianer Rhythmus  158 Grundzustand –– quantenmechanischer 51

H Habermus  708, 710 Hämolgobin 646 Halbseitenfernreflex 165 Halsdiagnostik (YNSA)  803 Haltungsformen nach F. X. Mayr  491 Hamilton-Formalismus 58 Handeln –– absichtsloses 177 –– moralisches 1093 Handmode  201, 624 Haut –– bei Senioren  792 –– Funktionen  672, 685 –– humoraldiagnostische Zeichen 496 Hautfaltentechnik nach Kibler  529 Hautstrich 529 Hautverträglichkeitstest –– Aromapflege 298 Heilerde 670 Heilerfolg –– Resilienz 177 Heileurythmie 468 Heilfasten  271, 681, 684 Heilmittel –– anthroposophische (siehe anthroposophische Heilmittel) Heilmittelgesetz (Schweiz)  1089 Heilpflanzen 255 –– Alpenraum 1012 –– Anwendung  256, 446 –– tibetische Medizin  819 Heilpraktiker, gesetzliche Regelungen  1064, 1082 Heilung –– anthroposophisches Verständnis 464 Heilungskrise 780 Heilvorkommen, ortsgebunden natürlich –– Definition 669 –– Krimmler Wasserfälle  1017 –– Wirkmechanismen 670 Heilwasser –– Anforderungen 669 –– Charakteristika 676 –– eisenhaltiges 679

1113 Stichwortverzeichnis

–– Inhalation 673 –– jodhaltiges 679 –– kochsalzhaltiges 678 –– kohlensäurehaltiges 676 –– NaHCO3-haltiges 678 –– radonhaltiges 676 –– schwefelhaltiges 677 –– sulfathaltiges 678 –– Trinkkur 672 –– Vollbad 671 –– Vorkommen 676 Heilwissen, tradiertes –– Bedeutung 1009 –– Datenbank 1013 –– Österreich  1012, 1067 Heparansulfat-Proteoglykane 156 Heparin 148 Herd –– Definition  234, 525 Herdtest –– EAV 233 –– FMD 220 –– Physioenergetik 204 Herpesinfektion –– Mikroimmuntherapie 425 Herz –– Funktionen, TCM  743 Herzfrequenz –– Beeinflussung 182 –– Biofeedback 193 –– Training 193 –– Trainingssteuerung  351, 364 Herzratenvariabilität 182 –– Adipositas 190 –– Angststörungen 192 –– Anwendungsfelder 189 –– Depression 192 –– Determinanten 189 –– Diabetes mellitus  190 –– Evidenzlage 189 –– Hypertonie 192 –– Kenngrößen 186 –– Korrelate 189 –– Messmethodik 184 –– Morbidität 189 –– Mortalität 189 –– Parameter 185 –– Ruhemessung, Beispielauswertung 185 –– Stress 192 –– Therapiekontrolle 193 –– und Entspannungsgrad  926 Heteronomie 31 Hierarchisierung –– Homöopathie 385 –– nach Baisch  229 Hilarotherapie 598 Hildegard-Ernährung  264, 706

–– empfohlene Lebensmittel  707 –– Getreidearten 710 –– Küchengifte 708 –– Mahlzeiten 708 –– Rezepte 709 Hildegard-Heilfasten  271, 681 Hildegard-Kuren  264, 270, 680 Hildegard-Medizin  69, 263 –– Blutdiagnostik 266 –– Elixiere 270 –– Fallberichte 272 –– Gewürze  269, 707 –– Gewürzpulveranwendung 270 –– Kräuteranwendung 263, 264, 269 –– Patiententypen 265 –– Hilfesteller 1073. siehe auch Energetiker hippokratische Prinzipien  140, 1092 Hirnströme –– kontingente negative Variation 279 Hirschzungenelixier 270 Histaminintoleranz 703 HLA-Typisierung 421 Hören –– TCM 238 Hoffnung  174, 177, 567 Holismus 573 Hologramm 145 Homocystein 560 Homöopathie  57, 68, 382, 402, 1038, 1043, 1044, 1092 –– Ablauf einer Konsultation  391 –– Arzneifindung 385 –– Definition 1098 –– Einsatzgebiete 37 –– Evidenzlage 396 –– Fallberichte 392 –– Kombination mit konventioneller Medizin 390 –– Möglichkeiten und Grenzen  389 –– Situation in Europa  39 –– supportiver Einsatz bei Krebspatienten 730 –– Zusatz-Weiterbildung (Deutschland) 1081 Homöopathikum  113, 125, 387, 627 –– Aufbereitung 387 –– Darreichungsformen 388 –– Definition 234 –– Potenzierung 388 –– Qualität 390 –– Unterschied zu Biotherapeutika-­ Antihomotoxika 406 –– Verdünnungsgrad 387 –– Wirkmechanismus 68 Homöosiniatrie 747

G–H

Homöostase  51, 100, 102, 142, 146, 155, 162, 569 –– Definition 523 Homotoxikologie 402 –– Ablauf einer Konsultation  407 –– Definition 402 –– Evidenzlage 410 –– Indikation 407 –– Sinusitis-Behandlung 408 Homotoxin 403 –– Ausleitung 406 Horizont  2020 997 –– Forschungsförderprogramm zu Gesundheit, demographischer Wandel und Wohlergehen  1021 –– Gliederung 1019 –– Schwerpunkte 1022 –– und CAM  1022 HPA-Achse  161, 428, 956, 963 humanistische Psychologie  892 –– Definition 896 humorale Phasen nach Reckeweg 403 Humoralpathologie  141, 438, 1040 HX-Modell –– Harmonie 32 –– HX-Verwirrung 32 –– Umgang mit Medizin  33 –– Umgang mit Naturwissenschaft  33 Hyaluronsäure  147, 156 Hybriden –– Aromapflanzen 282 Hydrogel 145 Hydrotherapie  671, 1016, 1039, 1041 –– Definition 1039 Hydrotherapie (Kneipp)  441, 448 –– Anwendungsdauer 444 –– Anwendungsformen 442 –– Besonderheiten 441 –– Reaktionen des Körpers  443 –– Temperaturbereiche 443 Hyperboloide (ECM)  149 Hyperizin 1015 Hyperkortisolismus 956 Hypermobilität 328 Hypnose  890, 921, 936, 961 –– Anwendung 940 –– Beispieltext 940 –– Definition 936 –– in der Zahnmedizin  937 –– ethische Aspekte  940 –– ethische Richtlinien  939 –– Evidenzlage 942 –– Therapieziele 937 –– und Neurophysiologie  941 –– und Rauchen  941 –– unerwünschte Wirkungen  939 Hypnotherapie 937

1114

Stichwortverzeichnis

–– Definition 936 –– Einsatzgebiete 37 –– Wirkmechanismus 937 Hypokortisolismus 957

I Iatrochemie 141 Ich 459 Ich-Entwicklung, gestörte  905 Ileozäkalklappensyndrom 495 Iliopsoas-Verkürzung 503 Immunmodulatoren 416 Immunschwäche –– Mikroimmuntherapie bei  423 Immunsystem und Stress  955 Inaktivierung, photodynamische 1015 Indifferenzpunkt 57 Inflamm-Aging 488 Inflammationsprofil  421, 525, 621, 632 Information –– mit Antigeneigenschaften  119 –– nichtantigenwirksame 118 Informationsmedizin  65, 68 –– 3 +  1-Prinzip 66 Informationsverarbeitung in biologischen Systemen  119 Informed-desire-Konzept 1095 Inspektion –– ganzheitliche Zahnmedizin  595 –– Kampō 781 –– manuelle Diagnostik  330 –– neuraltherapeutische 529 –– TCM  238, 746 –– tibetische Medizin  241 Instabilität 328 integrative Medizin  16, 40, 47, 49, 92, 1061, 1101 –– Begriffssystem 82 –– Definition 19 –– Forschung  997, 1027 –– Forschung in der EU  997 –– Informationsmedizin 69 –– Kongresse 1029 –– Meditation 85 –– sieben Sprachen der Natur  62, 68 –– Strukturen der Ganzheit  71 –– theoretische Begründungen  83 –– Ziel 88 Integrine  153, 157 Intelligenz –– in der Medizin  80 –– des Organismus  74, 837, 841, 850, 854 –– fundamentale Eigenschaften  839 –– kreative  49, 78, 834

–– –– –– ––

Qualitäten  51, 74, 82, 84 reine  82, 836 unbegrenzte 75 Verbindung von Materie und Bewusstsein 82 Interferon 417 Interleukin  417, 424, 425, 427, 430, 621 Interleukine  956, 964 Intermittenz 151 iterierte Abbildung  104

J Jing 742 –– und Ernährung  714

K Kalorienrestriktion 506 Kalziumglukonat 549 Kalziumsalze –– Kariesprophylaxe 618 Kampō 740 –– bei Restless-Legs-Syndrom  784 –– Definition 776 –– Diagnostik 780 –– Evidenzlage 784 –– Geschichte 777 –– Grundbegriffe 779 –– Indikationen 783 –– Konsultation 783 –– Kontraindikationen 783 –– Therapie 782 –– Unterschiede zur TCM  776, 777 –– Unterschiede zur westlichen Medizin 777 Kampō-Arzneimittel  779, 782 –– Formelfamilien 782 Kapha  81, 247, 717, 843 Kapha-Diät 719 kardiovaskuläre Erkrankungen –– Biofeedback 193 –– Einfluss körperlicher Aktivität 193 –– Entspannungsverfahren 194 –– HRV  187, 192 –– Morbidität  189, 192 –– Mortalität 189 kardiovaskuläre Erkrankungen –– psychosomatische Aspekte  912 –– und transzendentale Meditation 868 Karvonen-Formel  351, 364 Katalysator –– homotoxikologischer 406 Kausalität 95

Kausystem 593 –– Definition 605 –– funktionelle Wechselbeziehungen 594 –– Funktionsstörungen 607 –– und Körperhaltung  598 –– und Stress  593, 599 –– Überlastung  594, 607 Keramik –– Zahn 635 Kieferostitis –– chronisch-persistierende 624 Kieselsäure 148 Kinesiologie 200 –– Verfahren 216 kinesiologischer Muskeltest  126, 200, 216 kinetische Theorie  67 KiSS-Syndrom  608, 799 –– Shōnishin-Behandlung 795 Kneipp-Medizin 438 –– Bewegungstherapie 446 –– Diagnostik 441 –– Ernährungstherapie 444 –– Evidenzlage 449 –– Fallbericht 449 –– Heilkräuterkunde 445 –– Hydrotherapie 441 –– Indikationen 448 –– Krankheitskonzept 438 –– Leitbild 448 –– Ordnungstherapie 447 –– Tee nach Kneipp, Bestandteile 446 –– Säulen  439, 441, 448 Körperhaltung –– Korrektur 598 Körpermaße nach F. X. Mayr –– Bauchmaß 500 –– Halsmaß 498 –– im Liegen  499 –– im Stehen  498 –– Schultermaß 499 Körperschema, Entwicklung  908 Körpersprache 981 kognitive Verhaltenstherapie  894, 921 –– Definition 896 Kohärenz  72, 76, 834 –– Definition 174 Kollagen  132, 149, 156 Kommunikation 565 –– Aspekte 938 –– durch Körpersprache  981 –– Interaktionsmuster 567 Kompensation –– pathologische 202

1115 Stichwortverzeichnis

Komplementarität  29, 751 Komplementärmedizin –– ärztliche Aus- und Weiterbildung (Österreich) 1068 –– ärztliche Aus- und Weiterbildung (Schweiz) 1088 –– ärztliche Weiterbildung (Deutschland) 1080 –– Berufsrecht der Gesundheitsberufe  1062, 1080 –– Definition  18, 1039, 1061, 1098 –– Einsatzgebiete  37, 38 –– Evidenz 11 –– Forschung 39 –– Forschung in der EU  997 –– Forschung in der Schweiz  1028 –– Forschung in Deutschland  1027 –– Forschung in Österreich  1028 –– gesundheitsrechtliche Situation in der Schweiz  1008, 1085 –– gesundheitsrechtliche Situation in Deutschland 1079 –– gesundheitsrechtliche Situation in Österreich 1049 –– Kongresse 1029 –– Kostenübernahme durch die Krankenkassen  1065, 1083, 1089 –– in Kranken- und Kuranstalten  1066 –– Merkmale 12 –– in der Onkologie  10, 721 –– Quantenmedizin 56 –– Rechtfertigbarkeit 1096 –– in Schweizer Praxen der Grundversorgung 1088 –– Spezialdiplome (Österreich)  1070 –– Synonyme 1061 –– und fernöstliche philosophische Konzepte 1097 –– und konventionelle Medizin  1101 –– und Medizinethik  1091 –– universitäre Ausbildungseinrichtungen  1043, 1084, 1089 –– Verbreitung 999 –– versicherungsrechtliche Aspekte (Deutschland) 1083 –– versicherungsrechtliche Aspekte (Österreich) 1064 –– versicherungsrechtliche Aspekte (Schweiz) 1088 –– Wirkungsnachweis  12, 1101 komplementärmedizinische Therapien, Inanspruchnahme –– Australien 37 –– Deutschland  38, 1006 –– Europa  996, 1001 –– Großbritannien 37 –– Österreich  5, 38, 1006, 1068

–– Schweiz 1008 –– USA  36, 1005 Komplementärmedizin, universitäre Entwicklung 1037 –– Berlin  1027, 1041, 1043 –– Bern  1028, 1044 –– Essen  1028, 1046 –– Gremien 1047 –– Jena 1042 –– Lehre 1046 –– München 1045 –– Rostock 1045 –– Ursprung 1039 –– Zürich  1028, 1044 Komplementärtherapie, Berufsbild (Schweiz) 1087 Konsequentialismus 1095 Konstitutionslehre 140 –– Ayurveda  716, 717, 843 –– TCM 713 Konstitutionspuls 245 Konstitutionstypen (Ayurveda)  844 –– Selbsttest 844 konventionelle Medizin  1038 –– bei chronischen Erkrankungen  9 –– Bewertung 5 –– Definition  18, 1038, 1059, 1098 –– Problembereiche 9 –– und Informationsmedizin  69 –– und Komplementärmedizin  1101 Konversion 905 –– Störung 904 Konzentration, passive  927, 929 kooperatives Handeln  566 Koordinationstraining  367, 446 Kosmetika 289 Kräuterheilkunde  256, 263, 445 –– TCM 751 Kraft-Ausdauer-Training 366 Kraftlinienkonzepte nach Littlejohn 316 Krafttraining  357, 446 –– onkologische Erkrankungen  312 –– Richtlinien 367 –– Stufenplan 366 –– Wirkung 364 kraniomandibuläre Dysfunktion  212 kraniomandibuläres System –– Definition 605 –– Dysfunktion  593, 607 –– Dysmorphie 607 kraniosakrale Therapie  316, 319, 595 Krankheit –– anthroposophisches Verständnis 463 Krankheitstheorien, subjektive  911 Krasenlehre  142, 1040

H–L

kreative Entwicklung, Stufenmodell 580 Kreativitätstherapie 580 Kremser Modell der Musiktherapie 568 Krimmler Wasserfälle  1016 Kunstbegriff  574, 577, 580 Kunst, bildende  575 –– Materialien 577 Kunststoffallergie –– Zähne  635, 636 Kunsttherapie 574 Kunsttherapie, anthroposophische 468 Kunsttherapie, ganzheitliche  573 –– Ansätze 573 –– bei Demenz  582 –– in der Psychiatrie  581 –– Evidenzlage 584 –– Fallbericht 582 –– Methoden 575 –– Ziele 573 –– Zwecke 573 Kur –– allgemeine Maßnahmen  668 –– allgemeine Wirkungsgrundlagen 674 –– balneologische  668, 669 –– Definition 668 –– Hafteffekt 675 –– Reizparameter 674 –– spezielle Maßnahmen  668 Kureffekt 675 Kurkumin 1015 Kurmedizin –– Ayurveda 694 –– Balneologie 668 –– nach Hildegard von Bingen  680 –– Schrothkur 682 Kurpfuscherei 1059 Kurreaktion 448 Kybernetik 115 Kynurenin-Metabolismus 428

L Lachen 598 Lachesis muta ­(Buschmeisterschlange)  392 Lagrange-Formalismus 58 Laktat-Leistungskurve 352 Laktoseintoleranz  702, 704 Landwirtschaft und Mensch  983 Leaky-gut-Syndrom  422, 496, 620 Lebensebenen 851 Lebensleib 458 Lebensstilmedizin 1046

1116

Stichwortverzeichnis

Leber –– Funktionen, TCM  743 Leib –– physischer 458 Leinsamenabkochung 271 Leistungsfähigkeit –– Definition 355 –– körperliche Aktivität  353 –– kognitive 354 –– metabolische 354 –– physische  353, 355 –– psychoemotionale 354 –– Steigerung 361 –– Verbesserung 356 Leitwert –– EAV 124 Lernen –– und Grundsystem  156 Lerntheorie  892, 896 Leukozytenseitendifferenz  122, 406 Leukozytentest nach Pischinger  405 Leukozytolyse –– physiologische 155 Lichttherapie 309 Linearität  96, 106 Ljapunov-Exponent  103, 105, 106, 109, 111 Logik –– aristotelische 27 Logopädie 595 Lokalanästhetika in der Neuraltherapie  522, 747 –– diagnostische Injektion  530 –– Injektionstherapie 530 Lorenz-Attraktor 110 Lorenz-Gleichungen 110 Low-FODMAP-Diät  703, 704 –– Studienlage 705 Low-power-Laser  127, 747 Lücke zwischen klassischer und quantenmechanischer Realität  65 Lumbalgie –– intestinale Ursachen  503 Lunge –– Funktionen, TCM  743 Lymphozytentransformationstest 633 Lymphozytentypisierung 420

M Magen –– Funktionen, TCM  743 Magnetfeldtherapie 131 –– Maharishi AyurVeda  830. Siehe auch Ayurveda –– Maharishi Vedische Medizin  829. Siehe auch Ayurveda-Medizin

Maikur  270, 680 Maladaptationssyndrom 162 Malas  247, 845 Malen –– therapeutisches  469, 576 Mangel-Syndrom –– TCM 238 Manipulation, chirotherapeutische  339, 340 –– Ausführung 342 –– Definition 343 –– Indikation 342 –– Kontraindikation 342 Manipulation, osteopathische  321 manuelle Diagnostik  326, 329 –– klinische Untersuchung  329 –– Voraussetzungen 329 manuelle Medizin  316, 320, 324, 522 –– Fallbericht 340 –– Rehabilitation 343 –– Zusatz-Weiterbildung (Deutschland) 1081 –– Zwischenfallbilanz 340 manuelle Therapie  326, 337 –– Techniken bei chronischen Beschwerden 338 –– über die Gelenke  339 –– über die Haut  339 –– über die Muskulatur  339 Massage –– rhythmische 468 Masterkey-Punkte 803 Materialtestung 630 –– Zahnersatz  212, 596, 617 Materia-Medica-Vergleich  385, 387 Matrix –– extrazellulläre (siehe extrazelluläre Matrix) Matrixphasen nach Reckeweg  404 Mechanik 58 Mechanotherapie 309 Medikament –– Nebenwirkung  9, 106, 113 Medikamententest –– EAV  228, 231 –– FMD 212 Meditation  85, 86, 458, 696, 820, 856, 861, 948, 958, 961 –– Methodenvergleich 953 –– Schwerpunkte 948 –– Techniken  863, 949 –– transzendentale (siehe transzendentale Meditation) Medizin –– anthroposophische (siehe anthroposophische Medizin)

–– integrative (siehe integrative Medizin) –– manuelle (siehe manuelle Medizin) –– orthomolekulare (siehe orthomolekulare Medizin) –– tibetische (siehe tibetische Medizin) –– traditionelle (siehe traditionelle Medizin) –– und Naturwissenschaft  4, 24, 92, 95 Medizinethik  30, 1091 –– Konzepte 1092 –– Prinzipien nach Beauchamp und Childress  1095, 1099 –– Wirkungsnachweis 1100 Medizintheorie –– Antike  139, 439 –– hippokratisch-galenische  140, 439 Mensch –– Dreigliederung  461, 467 –– ganzheitliche Funktionsweise des Körpers 841 –– Lebensbereiche 440 –– Unauswechselbarkeit  24, 26 –– und Natur  459 –– Wesensglieder 458 Meridian 232 –– Entstehungshypothesen 745 –– Verlauf 744 Meridiane 788 –– Entwicklung 788 –– Fünf Wandlungsphasen  790 –– Sechs Achsen (Keiraku)  789 Meridianfamilien 788 –– hintere Familie  789 –– seitliche Familie  789 –– Unterstützung bei Senioren  794 –– vordere Familie  789 Meridianlehre 744 Meridianpunkt 744 Mesenchymreaktivierungskur 234 Metallallergie –– Zähne 633 Metall-Organ-Prozess 466 Methacrylat  634, 636 Methylmalonsäure 549 Migräne 913 Mikroakupunktursysteme  600, 744 –– Projektionen 603 Mikrobiom –– intestinales 705 Mikrodosen –– Mikroimmuntherapie 417 Mikroimmuntherapie 415 –– bei Allergie  426 –– Definition 416 –– in der Onkologie  429

1117 Stichwortverzeichnis

–– –– –– –– –– –– ––

diagnostische Hilfsmittel  419 Evidenzlage 431 Fallbericht 430 Indikation 423 Konsultation, Ablauf  430 Labordiagnostik 419 sequenzielle Informationsübermittlung 418 –– sublinguale Applikation  418 –– Verlaufskontrolle 423 –– Wirkungsmechanismen 417 Mikronährstoffe 544 –– Einsatz 548 Mikroorganismen, photodynamische Inaktivierung 1015 Milton-Modell 939 Milz –– Funktionen, TCM  743 Mind-Body-Medizin 1046 –– Ansätze 961 –– Definition 19 –– Fallbericht 966 –– Parasympathikusaktivierung 963 –– und Immunfunktion  961 –– Wirkungsdynamik 964 Mindfulness-Based Stress Reduction 958 –– und Psychoneuroimmunologie  959 Mineralstoffe 627 –– Bedarf 551 Mistel (Viscum album)  259, 472, 725 Mistellektine  260, 725 Mistelpräparate  259, 468, 472, 725, 727 –– Zulassung 260 Misteltherapie  472, 473, 725 –– Einsatzbereiche 727 –– Kontraindikation 727 –– Wirkungen 726 Mobilisation –– chirotherapeutische 339 Modalitäten –– physikalische Therapie  309 Modellbildung 95 Monosaccharide –– fermentierbare 704 Motion Energy Analysis  568 Moxibustion 818 MTK-Prinzip (Messen, Therapieren, Kontrollieren) 547 multimediale Techniken –– Kunsttherapie 577 multiresistente Erreger –– Aromatherapie 286 Mundakupunktur  595, 600, 608 –– bei Trigeminusneuralgie  605 –– Merkmale 604

–– Muskelbefunde  606, 615 Mundatmung –– Lymphstau 611 –– Umstellung auf Nasenatmung  614 Mundraum 593 –– chronische Entzündung  620 –– Entwicklung 600 –– Funktionen 605 –– Funktionen bei Kindern  608 –– Inspektion 596 –– somatotopische Gliederung  600 –– Störherde 621 –– verlagerte Zähne mit Herdwirkung 624 Mundschleimhautabstrich 626 Musik –– Verarbeitung im Gehirn  564 Musikalität –– kommunikative 567 Musikmedizin –– Definition 564 Musiktherapie  469, 564, 579, 1031 –– aktive  565, 569 –– beziehungsmedizinische Komponenten 565 –– Definition 564 –– Einflussfaktoren 567 –– Evidenzlage 571 –– in der Intensivmedizin  570 –– Kremser Modell  568 –– rezeptive  565, 569, 575 Muskel –– Antagonistenhemmung 339 –– Challenge 220 –– dysreaktiver 219 –– Kontraktionsformen 217 –– manualdiagnostischer Befund  334 –– normoreaktiver 219 –– Palpation 529 Muskelaufbautraining 366 Muskelenergietechnik 339 Muskeltechniken –– Osteopathie 320 Muskeltest 216 –– Befunde 222 –– Definition 217 –– Durchführung 217 –– kinesiologischer 126 –– normotoner 218 Muskeltypen nach Garten  219 Muskelverspannung  334, 339 –– Reduktion durch Biofeedback 946 Mutationsursache 554 Myodiagnostik –– funktionelle (siehe funktionelle Myodiagnostik)

L–N

N Nahrungsmittelunverträglichkeit 506, 686, 701 –– Diätetik 704 –– Diagnostik 702 –– Fallbericht 705 –– Zunahme 701 Nanospacer 149 Narbenstörfeld –– Laserbehandlung 128 Naturheilkunde –– Definition 19 –– Hydrotherapie  671, 1016, 1039 –– universitäre Entwicklung  1038 Naturheilverfahren, Zusatz-­ Weiterbildung 1082 Naturwissenschaft –– und Medizin  4, 24, 92, 95 Nebenwirkungen –– Medikamente  9, 106, 113 Nerven-Sinnes-System 461 –– Krankheitstendenz 462 Nervenstimulation –– elektrische, transkutane (TEN)  747 Netzwerk, immunoneuroendokrines 955 Neuraltherapie  131, 521, 624, 747, 1043, 1044 –– Bewertung der Methode  535 –– Definition 522 –– Diagnostik 526 –– Einsatzbereiche 533 –– Evidenzlage 536 –– Fallbericht 534 –– Indikationen 533 –– Injektionstechnik 531 –– Kontraindikationen 534 –– Nichtindikation 534 –– systemische 531 –– Therapieplanung 532 neuromuskuläre Technik  339 neuromuskuläres Assessment  210 neuronale Netze –– Unschärfelogik 156 Neuropathie –– autonome 190 Neutralisation, autogene  931 Neutralität, technische  895 Neutralpunkttechnik 338 Nichtlinearität  96, 143 niederenergetische Bioinformation 118 –– Definition 118 –– Grundlagen 118 Niere –– Funktionen, TCM  743

1118

Stichwortverzeichnis

nitrosativer Stress  545 –– Definition 544 –– Telomere 555 Nosode  125, 200, 406 –– Definition 234 Nukleinsäuren –– mikroimmuntherapeutische Anwendung 416 –– spezifische  418, 425 Nukleolyse mit Ozon  655 Nutztiere, landwirtschaftliche  977, 983 –– artgerechte Haltung  979, 985 –– Einsatzbereiche 984 –– positive Einflüsse auf Klienten  981 –– Voraussetzungen für die Arbeit mit 979

O Odontone –– Wechselbeziehungen  229, 233, 600, 621 Öl –– ätherisches (siehe ätherische Öle) Ölziehen 626 Ojas  849, 853 –– Aktivierung 694 Oligosaccharide, fermentierbare  704 Olivenöl –– ozoniertes 655 Omega-3-Fettsäuren 555 onkologische Erkrankungen –– Aromatherapie 280 –– Behandlung mit Antioxidanzien  728 –– Einsatz komplementärmedizinischer Methoden  38 –– Enzymtherapie 727 –– Ernährung bei  731 –– europäische Forschungsförderung 1019 –– ganzheitliches Therapiekonzept  725 –– immunmodulatorsche Therapie  725 –– komplementäre Therapien  10, 721 –– Lebensqualität bei  723, 726, 731 –– mikroimmuntherapeutische Unterstützung 430 –– Misteltherapie  260, 472 –– Phytotherapie 729 –– Statistik Österreich  310 –– supportive Homöopathie  730 –– supportive Therapien  310, 723 –– Therapiebewertung 10 onkologische Rehabilitation  310, 313, 723, 732 –– ambulante 311

–– Bestandteile 310 –– Biofeedback 946 –– Diätologie 313 –– Ernährungstherapie 313 –– Trainingstherapie 311 –– Ziele 310 Optimalgesundheit nach F. X. Mayr  484 Ordnungstherapie nach Kneipp  447 Organlehre –– TCM 742 Organon der Heilkunst  383, 384 Organpräparat  125, 200, 229 –– Definition 234 orthomolekulare Medizin  211, 541 –– Anwendung 543 –– Definition  542, 543 –– Genetik 553 –– Indikationen 552 –– Infusionstherapie 552 –– Labordiagnostik 547 –– Therapie 548 orthomolekulare Substanzen –– Auswahl 548 –– Dosierung 551 –– Interaktionen 549 –– Qualität  543, 550 Orthopädie 326 orthopädische Chirurgie  326 Osteopathie  211, 314, 338, 595, 608 –– Definition 318 –– Evidenzlage 323 –– Fallbericht 321 –– Faszienbehandlung 320 –– Hauptindikationen 321 –– Konsultation, Ablauf  318 –– Konzepte 315 –– kraniosakrale Behandlung  319 –– Manipulationstechnik 321 –– Muskeltechnik 320 –– philosophischer Ansatz  317 –– Prinzipien 317 –– viszerale Technik  319 osteopathisches System  318 oxidativer Stress  545 –– Definition 544 –– Ozon 646 –– Telomere 555 Ozon –– Anreicherung von Olivenöl  655 –– Anwendungsarten 648 –– Eigenschaften 643 –– Entstehung 643 –– Wirkungen 646 Ozon-Akupunktur 652 Ozoninjektion 652 –– Anwendungsbereiche 652 Ozonolyse 647

Ozontherapie  641, 644 –– Darmbegasung 652 –– Evidenzlage 661 –– Fallberichte 657 –– Gangrän-Behandlung 658 –– große Eigenblutbehandlung  650 –– Hautbegasung 653 –– Indikationen 656 –– Injektion 652 –– kleine Eigenblutbehandlung  651 –– Kontraindikationen 656 –– Nukleolyse bei Bandscheibenvorfall 655 –– sensitive Mikroorganismen  654 –– topische Anwendung  653, 655 –– Tropfinfusion NaCl plus Ozon  649 –– Wirkmechanismus 646 –– Wundbegasung 653 Ozon-Tropfinfusion 649

P Palpation –– Bauchbefunde (Kampō)  782 –– ganzheitliche Zahnmedizin  596 –– Kampō  778, 781 –– Magen-Darm-Trakt (nach F. X. Mayr) 494 –– manuelle Diagnostik  330, 331 –– neuraltherapeutische 529 –– Organtestzonen (YNSA)  803 –– TCM  239, 746 –– tibetische Medizin  243 Panchakarma-Kur  694, 832, 849, 854 –– Ablauf 694 –– Fallbeispiel 696 Pao-zhi-Verfahren 756 Paradigmenwechsel 1101 –– Parasympathikus 963. Siehe auch Vagusnerv –– und Mind-Body-Therapien  963 Parodontologie 625 pathogene Erreger, Wirkung von ätherischen Ölen  295 Peloid –– Definition 670 –– Vollanalyse 670 Permeabilitätspathologie 142 Peroxide 648 Petersilien-Honigwein 270 Pharmazie –– anthroposophische (siehe anthroposophische Pharmazie) Photographie in der Kunsttherapie 577 Physik

1119 Stichwortverzeichnis

–– und Medizin  52 physikalische Medizin  309 –– Brustkrebs 313 –– onkologische Rehabilitation  310 –– Prostatakrebs 313 physikalische Therapie  309 –– Reizparameter 310 –– Serien 309 physikalische Therapien  1042 Physioenergetik  200, 617 –– Behandlungsebenen  201, 204 –– Behandlungspriorität 201 –– Fallbeschreibung 206 –– Hauptindikationen 205 –– Prozessdiagnose 203 –– Therapieermittlung 204 –– Vortests 202 Physiologie –– Chaosforschung 100 –– 3 × 3-Matrix 80 Phytoöstrogene 729 Phytopharmaka 257 –– Darreichungsformen 258 –– Definition 257 –– Indikationsgebiete 259 –– Qualität 258 –– Status als Arzneimittel  1071 –– tibetische Medizin  819 –– Zubereitungsformen 257 Phytotherapie  255, 1043 –– adjuvanter Einsatz  259 –– Definition  255, 256 –– Evidenzlage 261 –– Mistelpräparate 259 –– Onkologie  729, 730 –– Risiken 259 –– Situation in Europa  39 –– TCM  740, 751 –– Unterschiede zu Kampō  782 Pitta  81, 247, 717, 843 Pitta-Diät 719 Plancksches Wirkungsquantum  54 Planetenmetalle –– und Organsysteme  466 Plazebo  114, 766 Plazeboeffekt  177, 279, 318, 535 –– Homöopathie 390 –– Merkmale 391 PNIEE-Komplex 159 Poesietherapie 579 Polyole 704 Polypharmazie und CAM  1003 Potenzierung  68, 106, 387, 467 –– Potenzarten 388 –– Potenzstufen 388 Prävention  13, 1003 Prinziplismus 1095 Projektionssymptome  165, 526

Proteinprofil 421 Proteoglykane/Glykosaminglykane (PG/GAG)  125, 132, 147, 403 –– Definition 143 –– Eigenschaften 133 –– Struktur 146 –– Synthese 146 –– ZNS 156 Provokationstest –– FMD 220 –– manuelle Diagnostik  332 –– Physioenergetik 202 Prozessdiagnose –– Physioenergetik 203 psychiatrische Störungen und transzendentale Meditation  871 –– Psychoanalyse  890, 893, 921. Siehe auch Psychotherapie, psychoanalytische –– Elemente 893 Psychoedukation –– Definition 897 –– Elemente 897 Psychoneuroendokrinologie 906 Psychoneuroimmunologie 954 –– und Stress  956 Psychophysiologie 906 Psychosomatik  57, 903 –– Anwendungsbereiche 904 –– Definition 904 –– Diagnostik 909 –– Forschung 905 –– Herz-Kreislauf-Erkrankungen 912 –– Kopfschmerz 913 –– psychodynamische Konzepte  905 –– Psychoneuroimmunologie 954 –– Reizdarmsyndrom 913 –– Symptombildungen 906 psychosomatische Störung  904 –– chronic pelvic pain, Diagnostik  910 –– Differenzialdiagnostik 910 –– Faktoren 909 –– geschlechtsspezifische Wahrnehmung 914 –– Patientenmanagement 912 –– tiergestützte Interventionen  985 psychotherapeutisches Erstinterview, Inhalte 892 Psychotherapie 889 –– achtsamkeitsbasierte Interventionen 967 –– autogenes Training  921 –– Definition 891 –– Fallbericht 899 –– Forschung 898 –– Hypnotherapie 937 –– Indikationsstellung 892 –– Methoden 892

N–Q

–– personen-/klientenzentriert 896 –– Prinzipien 892 –– systemische Therapien  897 –– Techniken 891 Psychotherapie, anthroposophisch orientierte 469 –– Biographiearbeit 470 –– Gesprächstherapie 470 –– Psychotherapie, autogene  922. Siehe auch autogenes Training Psychotherapie, psychoanalytische  892 –– bei Depression  896 –– Definition 893 –– Effektstärke 900 –– Elemente 893 Pulpitis –– chronische 621 Pulsdiagnostik  182, 781 –– Ayurveda-Medizin  247, 853 –– Methoden 244 –– TCM  240, 746 –– tibetische Medizin  244, 815 –– Voraussetzungen 244 Pulsqualität  240, 247

Q Qi 741 –– Stagnation 769 –– und Ernährung  711 Qigong  740, 768 –– Definition 769 –– Durchführung 769 –– Evidenzlage 770 –– Indikationen 770 –– Positionen 769 –– Ursprung 768 Quaddeltherapie 531 Qualitätssicherung, Aromatherapie –– Dokumentation 287 –– Richtlinien 287 Quanten –– Funktion 61 –– selbstbezügliche Dynamik  56 Quantenfeldtheorie  58, 81 Quantenmechanik  47, 56 –– Bewusstseinsbezug 60 –– Merkmale 60 Quantenmedizin 49 –– Definition 51 –– Ziel 65 Quantenphysik  5, 14, 29, 835 –– integrative Medizin  47 Quantisierung  50, 58 Quecksilber  560, 629 –– Allergie 632 –– Testung 630 Quendel (Thymus pulegioides)  269

1120

Stichwortverzeichnis

R radiästhetisches Rutenphänomen 130 Radikale –– freie (siehe freie Radikale) Radikalfänger  544, 559 –– Wirkungsweise 546 Radixödem 494 Rainfarnelixier 270 Rauchen –– Schrothkur 690 –– und Hypnose  941 Raumbeduftung  291, 295, 299 Reaktion –– konsensuelle, Hydrotherapie  443 Realität –– Bewusstsein 62 –– ganzheitliche 85 –– klassische  49, 63 –– quantenmechanische  54, 56, 64, 68 Reflex –– aurikulokardialer  128, 596, 617 Reflex, inflammatorischer  956 –– Physiologie 964 Reflexzone –– viszerokutane 504 –– viszeromuskuläre 504 Regulation 569 Regulationsmedizin  155, 162, 1041 –– Definition 523 Regulationsstarre  165, 167, 523 Regulationsstörung 161 –– Reizdauer 163 –– Reizstärke 163 Regulationstherapie 674 –– Definition 739 regulatorische Desintegration  122, 162, 163 –– lokale 163 –– Lokalisation von Fernsymptomen 165 –– Nachweis 167 Rehabilitation 309 –– onkologische (siehe onkologische Rehabilitation) Rehabilitationsmedizin 1045 Reihenverdünnungstest  278, 285 –– Nachteile 286 –– Vorteile 286 Reinkarnation 459 Reizdarmsyndrom  701, 703, 705 –– psychosomatische Aspekte  913 Reizparameter –– physikalische 310 Reiz-Reaktions-Mechanismus 57 Reiz-Reaktions-Therapie 674

Rekonditionierung –– onkologische Patienten  311 Relativitätstheorie 27 Relaxation –– postisometrische 339 Repertorisation –– homöopathische  385, 386 Reservekraft –– exzentrische 218 Resilienz  173, 177, 356 –– Definition 174 –– individuelle, Fragenkatalog  175 –– Voraussetzungen 176 Resonanz –– emotionale 567 Resonanztest –– EAV 233 Retromolarenpunkte 602 Rezeptoren-Schmerz 328 Rezeptur, TCM  758 –– bei Erdnussallergie  766 –– bei Otitis media  763 –– Beispiel 759 –– Modifikationen 761 –– Rangordnung 759 rhythmische Massage nach I. Wegman 468 rhythmisches System  461 –– Krankheitstendenz 463 Rhythmus –– zirkadianer (siehe zirkadianer Rhythmus) Riechen –– TCM 238 RR-Tachogramm  184, 194, 195 Rückkopplungsprinzip  51, 96 ruhevolle Wachheit  86, 851, 862 Rutenphänomen –– radiästhetisches 130

S Säftelehre  139, 265, 266 Säuerling 676 Salutogenese  16, 317, 668, 674, 939, 996, 1046 –– Definition 174 Sauerstoff 643 –– freies Radikal  643 Sauerstoffverbindung –– reaktive 544 Schaffensdrang, Komponenten des menschlichen  25, 29 Schafgarbe (Achillea sp.)  270 Schenkelguss 442 Schlaf als Heilprozess  463 Schlamm 670

Schmerz –– Bewegungsapparat 328 –– Entzündung 525 –– Inhibition 339 –– Maximalpunkte  332, 529 –– Palpation 331 –– Projektion  328, 527 –– und Biofeedback  946 –– und Hypnose  937 Schmerzpalpation 529 Schmetterlingseffekt 104 Schonung, Darm (F. X. Mayr)  506 –– Diätstufen  506, 507 Schröpfen  268, 271, 505, 818 –– blutig 268 –– trocken 268 Schrothkur 682 –– Arthrose  687, 692 –– Atemwegserkrankungen 688 –– Aufnahme 686 –– Darmerkrankungen 686 –– Diabetes mellitus  687 –– Elemente 684 –– ergänzende Anwendungen  686 –– erhöhtes Cholesterin  687 –– Fallberichte 692 –– Hauterkrankungen 688 –– Indikation 686 –– klimakterische Beschwerden  689 –– Lebererkrankungen  689, 692 –– metabolisches Syndrom  692 –– Migräne 691 –– psychiatrische Erkrankungen  691 –– Rauchen 690 –– Übergewicht 687 –– Verlauf 686 Schwellstromtherapie 312 Schwermetallmobilisation  547, 552, 560 Schwingungsfähigkeit 167 –– Definition 523 Sechs-Phasen-Tabelle nach ­Reckeweg  403, 405, 406 Seele  30, 742 Seelenleib 459 Seelsorge 26 segmentalregulatorischer ­Komplex  124, 163, 526, 530 Segmenttherapie 532 Sekundenphänomen  131, 522, 801 –– Definition 131 Selbstähnlichkeit  144, 149 Selbstbestimmung 31 Selbsthypnose  937, 942 Selbstkompetenz, Steigerung  944 selbst-transzendierende Techniken  863, 950

1121 Stichwortverzeichnis

Selbstwechselwirkung  47, 51, 55, 64 Selbstwert und tiergestützte Intervention  982, 985 Selbstwirksamkeitsüberzeugung 944 Selen  628, 728 –– Blutspiegel 548 –– Versorgung 559 Seneszenz 555 Sferics 122 –– Biotropie im Infralangwellenbereich 123 Shodana-Therapie 694 Shōnishin  740, 747, 786 –– Anwendungen im Westen  787 –– Anwendungsbereiche 792 –– bei ADHS-Symptomatik  799 –– Definition 786 –– Diagnostik 788 –– Indikationen nach Altersstufen  795 –– Instrumente 791 –– Klopfbehandlung 798 –– Konsultation 797 –– Streichtechnik  791, 792, 794, 798 –– Therapie 791 –– Ursprung 786 –– Vibrationstechnik 798 –– Vorteile 797 Shōnishin-Behandlung bei ­Kindern  787, 792, 795, 798 Shōnishin-Behandlung bei KiSS-­ Syndrom 795 –– Behandlungsschema 797 –– Wirksamkeit 796 Shōnishin-Behandlung bei Senioren 792 –– Besonderheiten 794 –– Ziele 793 Shrotas  247, 850 sickness behavior  957 silent inflammation  422, 425, 611 Simile, homöopathisches  383, 406 –– Analogisierung 385 Simile-Prinzip  228, 383, 385, 1092 Singen –– therapeutisches 579 Sinnenbewusstsein nach zur Lippe 568 Sinusarrhythmie –– respiratorische 182 Sole 678 Solidarpathologie 141 Somatisierung  904, 907 –– De- und Re-Somatisierung  905 Somatotopie  802, 803 –– Kopf 803 –– Mikrosystem 600 –– Mundraum 600 Sophrologie  595, 611

–– Definition 598 –– Übungen zur Stresskontrolle  599 soziale Kompetenz und tiergestützte Interventionen 981 Sozialversicherungsrecht (Österreich) 1064 Speichelfluss –– Anregung 597 Speisesoda 618 Spiegelneurone 566 Spieltechnik –– therapeutische 565 Spiroergometrie 352 sportmedizinisch-­ leistungsphysiologische Grunduntersuchung 348 –– Inhalte 349 –– Interpretation 349 Sprachen der Natur  62, 68, 69 Sprachgestaltungstherapie  469, 578 Spurenelemente  544, 547, 728 –– Bedarf 551 Stickstoffmonoxidradikale 544 Störfeld 522 –– allostatische Situation  525 –– Definition  131, 234, 525 –– Mundraum 604 –– Umflutung 531 Stoffwechsel-Gliedmaßen-­ System 461 –– Krankheitstendenz 462 stomatognathes System  593 Stress 691 –– antiinflammatorische Gegenregulation 956 –– Bewältigung 907 –– Kausystem  593, 599 –– Konzept (Life-event-­ Forschung) 907 –– Mechanismen 906 –– Mikroimmuntherapie 428 –– nitrosativer (siehe nitrosativer Stress) –– oxidativer (siehe oxidativer Stress) –– psychoneuroimmunologische Regulationszusammenhänge 955 –– relaxation response  964 –– trophotropic response  964 –– und Biofeedback  946 –– und Herzratenvariabilität  192 –– und Immunsystem  955 –– und transzendentale Meditation 870 Stresshormonsystem –– Störung 428 Stressindex (HRV)  186, 926 Stressresistenz 174 Strukturpalpation 331

R–T

Stütz- und Bewegungsapparat, Erkrankungen –– Arthrose 325 –– chronisch 338 –– Funktionsstörung  325, 326, 333 –– Funktionszerstörung 325 –– Schmerz  328, 338 –– Statistik Österreich  325 –– Wirbelsäule 325 Succussionen nach F. X. Mayr  495 Suggestion  890, 922 –– Hypnose  939, 941 Suis-Organauszug 406 Superkompensation 361 Superoxiddismutase  546, 559, 648 Superstring-Theorie  77, 836, 844 Switching-Phänomen –– FMD 219 Symbioselenkung  620, 626, 628 Sympathikusaktivität 184 –– Akzentuierung, HRV  189, 190 –– stressassoziiert 955 Synkrasie 140 Systemtheorie  892, 897

T Tätigkeitsvorbehalt  1055, 1072, 1074, 1079 –– komplementärmedizinische Methoden 1062 –– Verwaltungsstrafbestimmung 1059 TAM (traditionelle asiatische Medizin) –– China 737 –– Diätetik 710 –– Diagnostik 237 –– Japan 775 –– in der Onkologie  732 –– in Österreich  1067 –– Tibet 807 TAM-Diagnostik –– Ayurveda  246, 853 –– TCM  238, 746 –– tibetische Medizin  241, 815 Tanzrituale 578 Tanztherapie  570, 578 TCM (traditionelle Chinesische Medizin) 1044 –– Akupunktur 739 –– Dreier-Regel 746 –– Grundlagen 741 –– Grundstoffe des Organismus  741 –– Malariawirkstoff 1011 –– Medizintheorie 740 –– Organlehre 742 –– Qigong 768 –– und Kampō-Medizin  776, 777

1122

Stichwortverzeichnis

TCM-Arzneien 753 –– Bearbeitung 756 –– Darreichungsformen 757 –– Eigenschaften 755 –– Klassifikation 753 –– Präparation 755 –– Rezepturen 758 –– Sicherheit 756 –– Toxikologie 757 –– Wirkrichtung 753 –– Wirkungsnachweis 765 TCM-Diätetik 710 –– Charakteristika von Lebensmitteln 711 –– nach Jahreszeit  713 –– nach Kondition  713 –– nach Konstitution  713 TCM-Diagnostik  238, 746 –– Methoden  238, 746 TCM-Phytotherapie 751 –– Behandlungsregeln 761 –– Behandlungsstrategien 761 –– bei Otitis media  763 –– Evidenzlage 765 –– Forschung 765 –– Indikationen 762 –– traditionelle Strategien  762 –– Ursprung 751 Teedroge 258 Teefasten  506, 507 Teleologie 1094 Temperaturverhalten –– Arzneimittel (TCM)  753 –– Nahrungsmittel (TCM)  711 Tensegrität  153, 157, 160 Testampulle –– Physioenergetik  204, 205 Thangkas  811, 815, 817 Theatertherapie 580 Therapeutikum 470 therapeutische Beziehung 567 Therapieerfolg –– Einflussfaktoren 567 Therapiefreiheit, Arzt  1057 Therapielokalisation 526 Thermodynamik 47 –– biologische Systeme  63 –– 3. Hauptsatz  53, 85, 87 –– 3 ×  3-Matrix 80 Thermotherapie 309 tibetische Medizin  113, 807 –– bei akuter Belastungssituation  823 –– buddhistische Einflüsse  809 –– Diagnosemethoden  241, 815 –– Ernährung  714, 817 –– Evidenzlage 820

–– ganzheitlich ausgerichtetes Gesundheitsmodell 813 –– Geschichte 808 –– Grundbegriffe 814 –– Indikationen 820 –– Konsultation 823 –– Pharmakologie 819 –– Tantras  244, 714, 810, 814, 815, 817 –– therapeutische Maßnahmen  816 –– und tibetische Kultur  808 –– Verhaltensmaßnahmen 817 –– Ziele 816 tiergestützte Intervention  977 –– bei Autismus-Spektrum-­ Störung 987 –– bei Senioren  984 –– Definition 985 –– Dokumentation 980 –– Effekte 978 –– Entwicklung in Österreich  979 –– Evidenzlage 988 –– Persönlichkeits- und Verhaltensänderungen durch  983 –– Qualitätsmanagement 979 –– Wirkungen 981 –– Zertifizierung 979 –– Ziele 986 –– Zielgruppen 984 Tiergesundheit 979 Tierhaltung 979 Tiertraining 980 Tilgung 938 Titanstimulierungstest 633 Tollkirsche (Atropa belladonna) 383 Tonuslehre nach F. X. Mayr  488 Torf 670 tracheomukoziliäre Clearance  673 traditionelle japanische Medizin –– Kampō 776 –– Shōnishin 786 –– YNSA 801 –– traditionelle Medizin  18, 1012. Siehe auch Heilwissen, tradiertes –– Definition 18 –– europäische Heilpflanzen  1012 –– Integration und Weiterentwicklung  1011, 1067 –– und Quantenphysik  59 –– traditionelle tibetische Medizin XI, 807. Siehe auch tibetische Medizin Trainierbarkeit –– Definition 355 Training –– Aufbau 368 –– Definition 354

–– Dokumentation 362 –– Häufigkeit 358 –– Inhalte  357, 363 –– Planung 362 Trainingsbelastung –– ansteigende 360 –– individualisierte 359 –– Relation zur Erholung  361 –– richtige Belastungsfolge  360 –– trainingswirksamer Reiz  359 –– variierende 360 –– wechselnde 361 –– Zyklisierung zur Sicherung der Anpassung 361 Trainingsintensität 366 –– Steuerung 351 Trainingsmethode 357 Trainingsmittel 357 Trainingsreize 357 –– Dauer 358 –– Dichte 357 –– Intensität 357 –– Umfang 358 Trainingstherapie  311, 347 –– 5-A-Konzept 353 –– Auswahl geeigneter Sportarten  349, 365 –– Definition 348 –– Erkrankungen mit evidenzbasierten, positiven Effekten  358, 362 –– Evidenzlage 371 –– Fallbericht 369 –– Prinzipien  348, 359 –– Vergleich mit medikamentösen Behandlungen bzw. PCI  362 –– Ziele  352, 356 Trance  938, 939, 941 Transformation (Ayurveda)  844 –– Prozessschritte 845 Transformation, Ayurveda  716 Transformationsdynamik 70 –– kinetisches Elementarschema  67 transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS)  747 transzendentale Meditation  16, 77, 250, 834, 837, 851, 861, 950 –– Blutdruck und transzendentale Meditation  868, 952 –– in der Medizin  865 –– EEG-Befunde 950 –– Effekte 952 –– Erlernen 863 –– Evidenzlage 952 –– Mechanismus 862 –– Studien 867 Trauma, Management  912 Triad of Health  214, 220

1123 Stichwortverzeichnis

Trigger 528 Triggerpunkt  339, 603 –– Definition 528 –– Infiltration 531 Triggerstraße 528 Trinkkur –– Definition 672 –– Wirkmechanismen 673 Trituration 387 Trockenextrakt –– Phytopharmaka 258 Tropismus –– Nahrungsmittel, TCM  711 Tuina  740, 748 –– Indikation 748 Tumornekrosefaktor  417, 424, 425, 430, 964 Two-Pointing 204

U Ubichinol 558 Übergangszustand –– kinetische Theorie  68 Übertragung 894 –– Definition 894 Umschläge 258 Unbewusstes  892, 893, 923 unitäre Transformation  59, 64 Urin –– bei Gesunden  242 –– störungsspezifische Merkmale 242 Urindiagnostik  241, 815 –– Harnmerkmale, zugehörige Störungen 243 –– Prozedur 242 –– Vorbereitung 241 Ursprung-Ansatz-Technik 211 Urtinktur 387 Utilitarismus 1095

V Vagusaktivität, HRV  183 –– trainigsinduzierter Anstieg  193 –– Verringerung  189, 192 –– Vagusnerv 963. Siehe Auch Parasympathikus –– und inflammatorischer Reflex  956, 964 Vastu 876 Vata  81, 247, 717, 843 Vata-Diät 719 Veda  76, 829, 836, 838, 1098 –– 40 Aspekte  840 –– Entfaltungsordnung 838

–– Heilwirkung 78 –– Maßnahmen zur Belebung  854 –– und Physiologie  841 –– und Quantenphysik  78 vedische Architektur  835, 876 vedische Astrologie  835, 873 –– Hauptbereiche 874 –– Horoskop 874 vedische Literatur  77, 841 –– 40 Aspekte  840 vedische Wissenschaft  16, 76, 831, 838 –– kosmische Persönlichkeitsstruktur 852 –– und Naturwissenschaft  835 VEGA-Test 405 vegetabilisierte Metalle  466 vegetative Gesamtumschaltung  162 Verdauungsprozess 485 –– Ayurveda  716, 849 –– Phasen 485 Verdünnungsmodulation –– Mikroimmuntherapie 417 –– Verhaltenstherapie  896, 897. Siehe auch kognitive Verhaltenstherapie –– Definition 896 Vernetzungsglykoproteine  132, 146, 157 Verreibung (Trituration)  387 Verschränkung –– Quantenmechanik 66 Vertebron 327 Very-Point-Technik 604 Verzerrung 938 Vestibulumpunkte 602 Vikariation 406 –– progressiv 405 –– regressiv  405, 406 Viscotoxin  260, 725 Viscum album  259 viszerale Technik  319 Vitalpilze 728 Vitamin B12 549 Vitamin  C 543 –– Blutspiegel 548 –– hoch dosiertes  543, 552, 728 Vitamin  D 556 –– orthomolekularmedizinische Indikation 556 Vitamine  544, 547, 627, 728 –– Bedarf 551 Vollatmung –– Übung 599 Vollbad 443 –– Hildegard-Heilfasten 681 –– Wirkfaktoren 671 Vorbewusstes 893 Vorsatzbildung, formelhafte  929 Vorsorgemedizin 13

T–Z

W Wachheit –– ruhevolle 86 Wachstumsfaktor  417, 430 Wasserfalltherapie bei Asthma  1016 Wasserlinsenelixier 270 Wasserozonisierung 655 Wechselwirkung –– Medikamente 113 Weckreaktion, umgekehrte  922 Wege zum wahren Selbst  178 Weichteiltechnik 339 Wermutelixier  270, 680 Wetterfühligkeit 121 Wickel 258 Widerstand (Psychoanalyse)  895 Widerstandstestung –– manuelle Diagnostik  335 Wiederholungsmaximum –– Krafttraining 366 Würde des Menschen  24, 1093 WZW-Kriterien (Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit)  1085, 1089

Y –– Yamamotos neue Schädelakupunktur 801. Siehe auch YNSA Yin-Yang 769 Yin-Yang-Lehre  238, 710, 739, 741, 751, 1097 –– Grundzüge 741 YNSA (Yamamotos neue Schädelakupunktur)  740, 747, 801 –– Basispunkte 802 –– Bauchdeckendiagnostik 803 –– Halsdiagnostik 803 –– Ypsilon-Punkte 803 Yoga  16, 76, 77, 834, 851, 861, 922, 953, 958, 961 –– Sutren 864 –– Ziel 864 Ypsilon-Punkte (YNSA) –– Halsdiagnostik 803 –– Lage 802 Ysop (Hyssopus officinalis)  269

Z Zahn –– devitaler 621 –– wurzelbehandelter 622 Zahnärztegesetz (Österreich)  1062 Zahnhalteapparat –– Entzündung 626

1124

Stichwortverzeichnis

Zahnheilkunde, ganzheitliche  591 –– chronische Kieferentzündung  620 –– Definition 593 –– Dentalmaterialien  616, 628 –– Evidenzlage 614 –– Fallbericht  611, 636 –– funktionelle Diagnose  595 –– für Kinder  608 –– Herdtestung  220, 617 –– Materialtestung 617 –– Prophylaxe  597, 618 –– Testmethoden 596 –– Therapiemöglichkeiten 596 Zahnherdtestung  220, 233, 596, 617, 623 Zahnpasta 618 Zahnregulierung  608, 610 –– elastisch-offene Aktivatoren  611 Zahnreinigung 625 Zahnspülung 618

Zeichnen –– therapeutisches 575 Zeit –– absolute 59 –– relative 59 Zelladhäsion 153 zelluläre Phasen nach Reckeweg  404 Zellularpathologie  141, 1040 Zervikalsyndrom –– intestinale Ursachen  502 Zink 628 zirkadianer Rhythmus  158, 675, 856, 858 –– extrazelluläre Matrix  159 –– Körpertemperatur 448 –– Regulation 159 –– und Grundregulation  158 Zirkonoxid 635 Zufriedenheit –– Resilienz 176

Zunge –– Position 598 Zungendiagnostik 497 –– Ayurveda-Medizin 248 –– Befunde 240 –– TCM  240, 746 –– tibetische Medizin  241, 815 Zungenscanner 781 Zustimmungsfähigkeit 1094 Zytokine  417, 524, 956, 964 Balance  426, 429 Balance pro- und antiinflammatorisch 956 ECM 152 mikroimmuntherapeutische Anwendung  416, 424, 425, 427, 430 Ozon 649 Spiegel nach Erdnuss-Challenge  767 TH1/TH2-Shift 956