Integrative Beratung: Grundlagen und Perspektiven für die Praxis [1 ed.] 9783666634161, 9783525634165

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Integrative Beratung: Grundlagen und Perspektiven für die Praxis [1 ed.]
 9783666634161, 9783525634165

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Ulrich Giesekus / Eva Maria Jäger (Hg.)

Integrative Beratung Grundlagen und Perspektiven für die Praxis

Ulriche Giesekus / Eva Maria Jäger (Hg.)

Integrative Beratung Grundlagen und Perspektiven für die Praxis

Vandenhoeck & Ruprecht

Mit 20 Abbildungen und 6 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Eva Maria Jäger Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-63416-1

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1

»Mahlzeit!«Einleitende Worte zu einer integrativen Grundhaltung . 9 Eva Maria Jäger

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Beratung, Seelsorge und Psychotherapie: Versuch einer Bestimmung im Begriffsdschungel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Ulrich Giesekus

3

Integration: aus Puzzlestücken Bilder zaubern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Ulrich Giesekus

4

Glaube ich an Gott? Eine Selbstbefragung mit dem Inneren Team . . . 70 Friedemann Schulz von Thun

5

Das Innere Team im Selbstgespräch zu Integrativer Beratung . . . . . . 82 Eva Maria Jäger

6

Integrative Beratung mit Ego-States und dem Inneren Team . . . . . . . 89 Eva Maria Jäger

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Die Pesso-Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 Waltraud Belser

8

Geistlich-spirituelle Lebensthemen coachen mithilfe von Elementen des Zürcher Ressourcen Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Sarah Bolz

9

Pneumatopsychosomatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Matthias Samlow

10 Kommunikation mit und zwischen unter­schiedlichen Mindsets als Herausforderung für Seelsorge und Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Heinzpeter Hempelmann 11

Beratung – integrativ und transkulturell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 Dietmar Czycholl

Inhalt

5

12 Beratungsherausforderungen im welt­anschaulichen Pluralismus . . . 220 Michael Utsch 13 »Verkaufe alles, was du hast …« Der Eintritt in den Ruhestand als kritisches Lebensereignis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Michael Herbst Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262

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Inhalt

Vorwort

Als wir unseren Masterstudiengang an der Internationalen Hochschule Liebenzell vor einigen Jahren neu entwickeln und benennen wollten, sagte einer der Mitdenker1: »Integration ist eine Lustvokabel, das passt.« In der Tat – ob in der Politik (»Nun wächst zusammen, was zusammengehört«) oder in der Gesellschaft (z. B. Integration von Migrantinnen), in der Seelsorge (Integration von spirituellen und psychologischen Aspekten) oder in der Psychotherapie, bei der unterschiedliche Behandlungsansätze integriert werden: Die Vielfalt des Denkens und Handelns wird von vielen Menschen als Reichtum wahrgenommen. Dabei wird oft auch Widersprüchliches oder in Spannungsfeldern Stehendes unter einen Hut gebracht – in der Regel mit einem Gewinn größerer Wirksamkeit und umfassenderer Wirklichkeitsbezüge. Selbstverständlich müssen auch Beratung und Beratungswissenschaft integrativer wahrnehmen, denken und handeln. Die Welt, die wir verstehen wollen, wird immer komplexer. Das globale Netz versorgt uns mit Informationen und Wissen aus vielen Perspektiven, Lebenswirklichkeiten und kulturellen Bezügen. Vielleicht wird es oft zu kompliziert – Fake News, Hatespeech und verbale Gewalt im Netz zeigen ungesunde Nebenerscheinungen einer Realität, in der man nichts sicher wissen, geschweige denn verstehen und der man vertrauen kann. Polarisierung und Schwarz-Weiß-Denken sind die gefährlichen Alternativen zur Integration. So steht unsere »Liebe zur Integration« in einem Spannungsfeld zur zunehmenden Polarisierung in weiten Teilen der Gesellschaft. Unsere Beratung will Gegensätze verbinden, unterschiedliche subjektive Wirklichkeiten in den Dialog bringen und innerhalb wie außerhalb der Person zu einer Befriedung gegnerischer Tendenzen einladen. Anstelle einer Entfremdung von sich selbst, von anderen, von der Gemeinschaft, von der Natur und der Welt wollen wir zu gelingenden Bezügen und Beziehungen beitragen. Auch die unsichtbare Wirklichkeit glaubender Menschen darf und soll integriert werden. Die dazu nötige theologische Reflexion findet hier im Rahmen christlichen Glaubens statt, was nicht als Abwertung von Menschen mit anderen Glaubensvorstellungen, einschließlich aller ungläubigen 1

Aufgrund besserer Lesbarkeit wird im Wechsel die neutrale, männliche oder weibliche Form verwendet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.

Vorwort

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Menschen, gesehen werden darf. Im Gegenteil: Nur wer den eigenen Glauben reflektiert hat, ist zu einem echten interreligiösen Dialog in der Lage. Dieses Buch erfordert nicht zuletzt von den Lesern eine gehörige Portion Integrationsfähigkeit: Sehr unterschiedliche Beiträge, unterschiedliche Stile und unterschiedliche Themen kommen zusammen. Vom fachlich-nüchternen Wissenschaftsbeitrag bis zur ganz persönlichen Reflexion, von Professorinnen bis zu Studierenden, Medizinern, Psychologinnen, Theologen – eine bunte Mischung. So sollte es sein, und so wollten wir es. Dabei gibt es natürlich einen roten Faden: Integrative Beratung. Wie kann man also dieses Buch am besten lesen? Wir schlagen, vor, dass Sie, liebe Leserinnen und Leser, sich zuerst alles anschauen, und dann herausnehmen und zusammenbauen, was zu Ihnen passt. Wie in einem reichen Buffet (siehe Kapitel 1 »Mahlzeit«). Guten Appetit! Unser herzlicher Dank gilt allen, die ihren Beitrag geleistet haben: als Absolventinnen des Masterstudienganges »Integrative Beratung« sind Waltraud Belser und Sarah Bolz vertreten. Regelmäßige Dozenten dieses Studienganges sind Prof. Dr. Heinzpeter Hempelmann, Dr. Matthias Samlow und Dr. Dietmar Czycholl, die an der inhaltlichen Entwicklung intensiv beteiligt waren. Als wissenschaftliche Mitdenker und langjährig geschätzte Kollegen und Freunde Prof. Dr. Michael Herbst und Prof. Dr. Michael Utsch. Ein Gastbeitrag von Prof. Dr. Friedemann Schulz von Thun – einem der zu Recht prominentesten Vertreter der wissenschaftlichen Psychologie in Deutschland – ist ein echtes Sahnehäubchen: persönlich, authentisch und bewegend. Vielen Dank! Ein Sammelbecken, in dem sich so unterschiedliches Gedankengut und so unterschiedliche Denkerinnen treffen konnten, ist die Internationale Hochschule Liebenzell (IHL), deren Studiengang »Integrative Beratung« zu dieser Vernetzung geführt hat. Nicht zuletzt auch durch die großzügige Freistellung von Arbeitszeit für Forschung, die uns, der Herausgeberin und dem Herausgeber, als Professorin und Professor dieser Hochschule gewährt wird, wurde vieles möglich. Und auch für die Atmosphäre des wissenschaftlichen Disputs, die lebendige Diskussion in und außerhalb des Kollegiums sind wir sehr dankbar. »Wir« sind die Herausgeberin und der Herausgeber dieses Bandes, die gleichzeitig auch den Studiengang »Integrative Beratung« entwickelt haben und leiten: Eva Maria Jäger und Ulrich Giesekus. Auch Ihnen, den Leserinnen und Lesern, sind wir sind wir dankbar und wünschen Ihnen, dass Sie Freude haben an dem bunt gemischten, aber passend zusammengestellten Blumenstrauß, den Sie hier vorfinden! Bad Liebenzell, im Oktober 2022 Eva Maria Jäger und Ulrich Giesekus 8

Vorwort

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Hoffentlich bringen Sie ein bisschen Hunger mit! Eva-Maria Jäger lädt Sie zu einer Mahlzeit ein – mit einem reichen Buffet an Ideen, Fragestellungen und Anregungen. Da kann man nur sagen: Guten Appetit!

»Mahlzeit!« Einleitende Worte zu einer integrativen Grundhaltung Eva Maria Jäger

Wohin führt Beratung, wenn es gut ausgeht? Welche Vorstellung ich mir von einem »guten Ende« mache, ist auch in der Beratung selbst eine wertvolle Frage. Es ist bereits eine kleine Form der Auftragsklärung. Ich frage Ratsuchende gern zu Beginn der Sitzung: »Wie möchten Sie heute aus dem Gespräch gehen?« Und eben diese Frage darf auch an die »Integrative Beratung« gestellt werden. Eine meiner Vorstellungen ist, dass es beim Beraten um das Erkennen von persönlichen Bedürfnissen geht, um Wege zu suchen, sie zu befriedigen. Das Wort »be-friedigen« zeigt schon: Es geht um »Frieden«. Den Wunsch nach »innerem Frieden« bringen auch viele Ratsuchende mit. Wenn Beratung gut geht, sind die Ratsuchenden hinterher mehr mit sich im Reinen und zu-­friedener. Wenn ein kleines Kind Hunger hat und schreit und die Eltern erkennen, dass es um Hunger geht, können sie den Hunger stillen, das Kind wird satt und zufrieden. Es wächst – und bekommt wieder Hunger … und so geht das weiter mit dem Leben. Ein Schlussbild, das dazu vor meinem inneren Auge auftaucht, ist eine zufriedene Gemeinschaft, die sich am Ende des Tages immer wieder neu findet, sich austauscht und sich bei einem guten Essen stärkt: eine Tafelrunde! So wie auf der Schlussseite ganz hinten in jedem (!) Asterix-Heft alle Abenteuer am Lagerfeuer enden: in einer großen Runde, in der das ganze Dorf Platz hat. Jeder hat einen Platz – sogar Troubadix, wenn auch in stimmlich gedämpfter Version. Und dann geht es wieder ins nächste Abenteuer … Daher gleich zu Beginn: ein herzliches »Mahlzeit«! Doch die Alltagswirklichkeit holt uns ein, denn sie zeigt dieses Bild eher selten: In Familien ist es (selbst in Lockdown-Zeiten) nicht leicht, ein gemeinsames Essen zwischen den Stundenplänen und Arbeitszeiten zu koordinieren. Oder »Mahlzeit!«

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überhaupt Blickkontakt mit den Kindern am aufzunehmen – es gibt da jede Menge »Konkurrenzveranstaltungen digitaler Art«. Gemeinsam zu essen, ist nicht selbstverständlich, wie ein kleiner Dialog zeigt: »Hast du nicht manchmal die Sehnsucht, alle an einen Tisch zu kriegen?« – »Schaff das mal, dass alle an einem Ort sind und sich alle o. k. fühlen!«1 Nach Informationen aus der Familienfürsorge gibt es in besonders belasteten Familien nur noch selten ein gemeinsames Essen am Tag. Es gibt immer mehr Familien, die nicht einmal mehr einen Esstisch haben oder für jedes Familienmitglied einen Stuhl.2 Dabei haben gemeinsame Tischrunden einen stabilisierenden und stärkenden Einfluss auf die Familie, was nicht nur von Therapeutinnen immer häufiger betont wird3: Essen hält Leib und Seele zusammen – und auch Menschen. Auch im akademischen Miteinander ist es mit dem gemeinsamen Austausch nicht unbedingt leichter. Eher selten findet ein öffentlicher Dialog unter den Vertretern verschiedener Beratungsmodelle oder Therapieschulen statt – und so bleiben die Beratung-Studierenden mit einem Zusammenführen und Inte­ grieren oft sich selbst überlassen. Und kochen am Ende ihr »eigenes Beratungssüppchen« (auch wenn das nicht schlecht schmecken muss). Ich möchte die Vorstellung der Mahlzeit als Ausgangsbild für verschiedene Ebenen integrativer Beratung nutzen: Nicht nur bei Ratsuchenden, sondern auch bei Studierenden ist es mir wichtig, den Appetit anzuregen. Neugier und Wissensdurst sind kostbar (»kost-bar« – was für ein passendes Wort!) in einer Zeit, in der man beim Lernen eher den Eindruck hat, es gehe um ein »SäckeStopfen« statt um ein »Feuer-Entfachen«. Säcke stopfen belastet und erschöpft, aber ein Feuer, das zu brennen beginnt, hat »Hunger«: Es möchte neues Brennmaterial und transformiert es in Wärme und Licht. Auch die Verdauung im menschlichen Körper transformiert etwas Fremdes in Eigenes. Das ist ein integrativer Prozess: Beim Essen, beim Verdauen wird etwas integriert. Und das Wunder geschieht, dass die Tomate, die man eben gegessen hat, nicht mehr als »Tomate« irgendwo herausschaut. Nein, wenn es gut geht, wird sie verdaut und in etwas Eigenes verwandelt: »Man ist, was man isst«, wie es der Volksmund ausdrückt. 1

Zitat der Sängerin Dillon aus der ARTE-Sendung: Street-Philosophy, Heimat – Wo bist du zu Hause? 25.05.2019. 2 Vgl. Michaela Huber: Paare und Traumatisierung, Auditorium. Heidelberg 2014 (Information der Familienfürsorger:innen der »Familienfürsorge Rheinland Pfalz«). 3 Vgl. Befunde der Harvard Graduate School of Education: »The Family Dinner Project«. O. J. http://www.pz.harvard.edu/projects/the-family-dinner-project (Zugriff am 01.04.2022). Familien, die sich morgens oder abends eine halbe Stunde um den Tisch versammeln, stärken über ihren Zusammenhalt hinaus Schulleistungen, Abwehrkräfte, Selbstvertrauen und beugen Übergewicht, Drogenmissbrauch und Essstörungen vor.

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Immer häufiger taucht in letzter Zeit in meiner Praxis oder an der Hochschule ein Wort auf, das jedoch wenig mit Appetit zusammengeht: Es ist das Wort »Druck«. Wer mit Appetit kam, dann aber immer mehr essen und unter Druck verinnerlichen muss, verliert den letzten Rest an Appetit unter diesen Bedingungen bald. Nicht nur für Studierende, sondern auch für Ratsuchende in meiner Praxis ist es mir daher ein persönliches Anliegen, dass nach einer Begegnung mehr Neugierde da ist als zuvor, dass Ratsuchende wissensdurstiger und wenn möglich mit mehr Appetit aus der Begegnung gehen. Und dass sie dabei ihren persönlichen »Geschmack« entwickeln, erweitern und vertiefen können. Es gibt zwei lateinische Begriffe für Weisheit, einer davon, »sapientia« hat seinen Wortstamm im Verb »sapere«, abschmecken und verkosten. Und erinnert an den elementaren Zusammenhang zwischen Geschmacksorganen und Weisheit, »sapientia«. Der Mensch ist auch Mensch, weil er schmecken kann. Ich freue mich immer wieder an dem Begriff »homo sapiens« – Menschsein zeigt sich in diesem Probieren, »Kosten« und im Schmecken, Nachschmecken von Erfahrungen. Und damit darf man es als Beraterin zu tun haben. »Nicht das Vielwissen sättigt die Seele und befriedigt sie, sondern das Verspüren und Verkosten der Dinge von innen her.« So hat es Ignatius von Loyola auf den Punkt gebracht. Verkosten hat mit Zeit zu tun – alle Prozesse, die nicht über denkerische Abkürzungen laufen, sondern erspürt werden wollen, brauchen Zeit. Die C-Fasern im Nervensystem, die für dieses Spüren nach innen notwendig sind, ähneln eher verschlungenen Waldwegen, auf denen man nicht mit 120 Kilometern pro Stunde unterwegs sein kann.4 Doch der Zeitaufwand wird durch die Zeitersparnis belohnt, wenn dann im Anschluss Entscheiden und Wählen leichter fällt, weil ich in besserem Kontakt mit mir bin. Oder wie es die Zwei-Prozess-Theorie5 unter dem Begriff »Synchronisation« beschreibt, in 4

Die Bahnen der Nervenzellen, die nach innen führen, sind langsamer als diejenigen, die nach außen führen. Dafür gibt es gute Gründe: Von außen muss der Organismus eher mit akuten, gefährlichen und unerwarteten Situationen rechnen, die eine schnelle Reaktion erfordern, denn existenziell bedrohliche Gefahr kommt von außen. So sind die Nervenzellen, die der Exterozeption (Außenwahrnehmung) nach außen dienen, auch »myelinisiert«, vergleichbar mit einer asphaltierten, super befahrbaren Nerven-»Autobahn«. Die Nervenzellbahnen, die der Innenwahrnehmung dienen, sogenannte C-Fasern, sind dagegen nicht myelinisert. Diese andere Qualität des Nach-innen-Richtens würdigte auch der viel reisende Dag Hammarskjöld, als er in sein Tagebuch schrieb: »Die längste Reise ist die Reise nach innen.« Vgl. Alan Fogel: Selbstwahrnehmung und Embodiment in der Körperpsychotherapie. Vom Körpergefühl zur Kognition. Stuttgart 2018. 5 Vgl. Julia Weber/Maja Storch: Das Zürcher Ressourcen Modell. Gefühlsregulation und die Erzeugung von Sinn durch Motto-Ziele. In: Daniel Berthold/Jan Gramm/Manfred Gaspar/ Ulf Sibelius (Hg.): Psychotherapeutische Perspektiven am Lebensende. Göttingen 2017, S. 361.

»Mahlzeit!«

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der das analytische Denken und der Verstand einerseits mit dem Unbewussten und der ganzheitlichen Intuition andererseits in Verbindung gebracht werden. Wie wichtig dieses »Verkosten«, das Spüren und Wahrnehmen ist, drückt sich auch in der menschlichen Physiologie aus: 80 Prozent der Nervenbahnen führen mit sensorischen Informationen als afferente Bahnen zur Auswertung ins Gehirn – und nur 20 Prozent als efferente Bahnen vom Gehirn zurück in den Körper. Als Hochschullehrerin möchte man zwar nicht so weit gehen, ein »Sacrificium intellectum« zu vollziehen, wie es Ignatius vorgeschlagen hat, das heißt, dass es für Gott das größte Opfer ist, den Verstand zu opfern, um ihm näher sein zu können. Aber die Frage nach anderen Zugängen, auch körperlichen Zugängen zu Wissen und Weisheit, möchte gestellt werden. Und da tut es gut, in den Psalmen (Ps 34,8 und Ps 119,103) zu lesen, dass wir die Freundlichkeit des Herrn schmecken dürfen, dass es ein Stillen von Hunger6 und ein heilsames Sattwerden geben darf. Der Grundgedanke dieses Buches lässt sich tatsächlich über das Bild eines gemeinsamen Mahls beschreiben, eine Tischrunde, in der verschiedene Blickwinkel ihren Beitrag teilen. Und das mit offenem Ausgang, denn Integration findet immer wieder neu und anders statt. Ich freue mich sehr, dass es gelungen ist, Kollegen in diese Runde einzuladen, und auch zwei (mittlerweile absolvierte) Masterstudentinnen, deren Arbeiten ich begleiten durfte und deren Beiträge unser »Mahl« bereichern. Mein Beitrag hier wird einige Besonderheiten der integrativen Beratung vorstellen, so wie sie sich die vergangenen Jahre an der Hochschule und in der Praxis entwickelt haben. Beginnen möchte ich mit dem Bild der Seele als einem »offenen Schnabel«, um ein Blickfenster in die jüdisch-christliche Anthropologie zu öffnen. Im nächsten Schritt geht es um die Haltung der Beraterin, die sich aus dem Verständnis der Seele als Ort der Bedürftigkeit entwickelt: Es geht um eine wertschätzende und wahrnehmende Haltung, um Erkennen und Anerkennen. Zuletzt soll ein Überblick auf die konkret ausgewählten Beratungsverfahren der integrativen Studienmodule im Sinne eines »Viergangmenüs« dieses Kapitel abschließen.

6 Nach Safran hat der postreligiöse, postmoderne Mensch des 21. Jahrhunderts zwar »Hunger nach Religion, aber keinen Magen für religiösen Glauben.« In: Jeremy Safran: Psychoanalysis and Buddhism. An unfolding dialogue. Boston 2003, S. 2.

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1 Der offene Schnabel oder Die Seele als Ort der Bedürftigkeit Beim Durchschauen der wichtigsten psychologischen Modelle zu Bedürfnissen fällt auf, dass sie vor allem zu Beginn der Bedürfnisforschung von Psychologen jüdischer Herkunft stammen. Um nur einige von ihnen zu nennen: Abraham Maslows Bedürfnispyramide, Marshall B. Rosenbergs »Bedürfnisse«7 im Rahmen der gewaltfreien Kommunikation, Alfred Adlers »Strebungen« oder Albert Pessos Bedürfnismodell. Auf unterschiedliche Weise hatten diese Psychologen auch Bezug zu ihren jüdischen Hintergründen und dadurch eine implizite Verbindung zu deren Anthropologie. Ich möchte mir im Folgenden Zeit nehmen, das zu würdigen, denn möglicherweise ist es eine Besonderheit des jüdischchristlichen Menschenbilds und der westlichen Kultur, die uns so selbstverständlich geworden ist, dass sie uns gar nicht mehr bewusst ist. Wenn man nach Asien reist, werden die Unterschiede deutlicher, indem z. B. Bedürftigkeit aus buddhistischer Perspektive eher als Gier oder Anhaftung (eines der drei sogenannten »Geistesgifte«) bewertet wird: etwas, was es abzustreifen und abzulegen gilt. Es ist daher nicht so selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick erscheint, dass Bedürfnisse und auch ihre »Kinder«, die Primäremotionen, vor allem durch Paul Ekman (auch einem jüdischen Vertreter) erforscht, immer mehr in den Fokus gerückt sind. Die sogenannte »dritte Welle« in der Verhaltenstherapie und auch der Beitrag Klaus Grawes8 haben diesem Fokus in der therapeutischen Landschaft ab 1990 bis in die Gegenwart weiter wertvollen Vorschub geleistet. Wenn wir dem Hintergrund und der Spur der jüdisch-christlichen Anthro­ pologie weiter folgen wollen, so hat die Tatsache, dass Bedürftigkeit und Bedürfnisse besonders gewichtet wurden, möglicherweise mit dem Bedeutungsfeld des hebräischen Wortes für »Seele« zu tun. Nefesch (‫ ֶ)נ ֶ֥פׁש‬bedeutet nicht nur Seele, sondern auch Kehle. Das ist der körperliche Bereich, durch den der Atem ein- und ausfließt, das Wasser, die Nahrung, es ist der Ort meiner »Bedürftigkeit«.9

7 »Alles, was ein Mensch tut, stellt einen Versuch dar, ein Bedürfnis zu befriedigen.« In: Marshall B. Rosenberg: Gewaltfreie Kommunikation. Paderborn 2016, S. 20. 8 Klaus Grawe: Neuropsychotherapie. Göttingen 2004, S. 335. 9 Hans-Walter Wolff: Anthropologie des Alten Testaments. Gütersloh 2010, S. 33.

»Mahlzeit!«

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Abb. 1: Küken im Nest (© Pixabay/Tania Van den Berghen)

Ein Bild für solche »Orte der Bedürftigkeit« bietet der Blick in ein Vogelnest. Wer geschlüpfte Vögel von oben sehen kann, kann ihre Kehlen oft an einer Signalfarbe erkennen: Mit leuchtendem Rot oder Orange zeigen die kleinen Vögel, wo der Wurm hinsoll. Doch dieser Bereich der Kehle ist auch sehr verletzlich. Aus gutem Grund muss sie daher geschützt und auch verborgen werden. Das hebräische Wort nefesch für Seele und Kehle taucht zum ersten Mal im Schöpfungsbericht auf, wo es in 1. Mose 2,7 heißt: »Da machte Gott der HERR den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen [nefesh].« Nefesch beginnt in der Verbindung von Erde und Gottes Atem. Die Erde (zu der wir ohne diesen Atem auch wieder zerfallen, da wir aus »Erde und Asche sind«) kommt in Kontakt mit Gottes Atem, auf Hebräisch ruach (‫)רּוח‬, ַ im griechischen pneuma (πνεῦμα), was nicht nur Atem, sondern auch Geist und Kraft bedeutet. Aus Erde und Atem wird etwas Drittes: die lebendige Seele. Das Leib-Seele-Thema wird in der Philosophie als die »Grundfrage«, bei Schopenhauer sogar als »Weltknoten«, oft jedoch auch als »Scheinproblem« bezeichnet. In der Psychologie tauchte es dagegen kaum auf. Während meines Universitätsstudiums wurde der Begriff »Seele« – und noch viel mehr ein Bezug zum Atem – vermieden, da er als zu unwissenschaftlich erachtet wurde. Doch 14

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weil er auf einer wesentlichen Qualität von »Integration« und »Verbindung« hinweist, erlaube ich mir in diesem Beitrag folgende Frage: Wenn die Seele, wie es in 1. Mose heißt, durch den Kontakt zwischen Erde und Gottes Atem geworden ist, ist sie kein eigenes Element, sondern die Verbindung selbst?10 Denn in der Verbindung wurde die Seele »lebendig«. Die Vorstellung, dass es um Verbindung geht, wäre in meinen Augen der innerste Keimgedanke »integrativer« Beratung. Zu Atem und Erde sind sich auch unterschiedliche Trauma- und Körpertherapeutinnen einig, bei dissoziativen Zuständen, also Momenten des »Nebensich-Stehens«, auf eben diese zwei Kontaktstellen hinzuweisen – um wieder »zu sich zu kommen«: »Denke an den Boden (die Erde) und an deine Atmung!« Dieser Verbindungsgedanke zieht sich auch durch die Tradition christlicher Philosophinnen und Mystiker, die keine Scheu hatten, dieses »Geheimnis« zu studieren: Thomas von Aquin ordnete der Seele in seiner Lehre der »Anima forma corporis« eine Verbindungsklammer-Aufgabe zwischen Leib und Geist zu. Sie kann den Dualismus überbücken: »So ist der Mensch eine einzige (komposite) Substanz, obwohl er zugleich aus einer materiellen und einer geistigen Substanz zusammengesetzt« ist.«11 Eher bildhaft sprachen die Mystiker von der Seele: Meister Eckhart beschrieb das Seelenfünklein »Scintilla animae«12, das dort »funkt«, wo der Mensch ganz er selbst ist und gleichzeitig mit Gott in Berührung. Sein Zeitgenosse Johannes Tauler führte den Gedanken mit der Gottesgeburt in der Seele noch weiter aus: dass Gott in der Seele geboren werden will und im »Seelengrund« wohnt.13 Der Seelengrund ist – um ein kleines Wortspiel zu erlauben – ein ähnlich verborgener Ort, wie es der Grund eines Sees ist. Um zu den Bedürfnissen der Seele und Kehle zurückzukehren: Auch diese sind nicht offensichtlich, sondern liegen wie im »Schlund« verborgen und tief am »Grunde der Seele«. Der Grund ist schwierig einsehbar – Bedürfnisse sind uns keineswegs immer bewusst: »Sie können als Komponenten des Unbewussten wirksam sein, ohne dass dies bis in

10 Vgl. auch Josef Seifert: Das Leib-Seele-Problem in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion. Darmstadt 1979, S. 157: »Nach der Lehre des Thomas von Aquin sind Leib und Seele so eng vereint, dass sie als zwei Wesensteile die einheitliche menschliche Natur formen […] Nur in der Ganzheit von Leib und Seele existiert die vollständige spezifische Natur.« Und Seifert schließt »So ist der Mensch eine einzige, komposite Substanz, obwohl er zugleich aus einer materiellen und einer geistigen Substanz zusammengesetzt ist.« 11 Seifert 1979, S. 163. 12 Meister Eckhart: Deutsche Predigten und Traktate, hg. v. Josef Quint. Zürich 1979, Predigt 34. 13 Stefan Pröhle: Gottesgeburt im innersten Grund der Menschenseele. Betrachtungen nach Johannes Tauler. Mainz 2020.

»Mahlzeit!«

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unser Bewusstsein vordringt.«14 Wenn wir im Bild eines Sees bleiben, dann sind es die Fische, die man noch eher als den Grund des Sees zu Gesicht bekommt. Das wunderbare Bilderbuch »Heute bin ich«15 zeigt unterschiedliche Emotionen als verschieden gestaltete und farbige Fische, die auf dunklem Grund schwimmen. Stumm wie Fische können sie nicht sprechen – und laden zum Rätselraten ein, welches Gefühl sie vermitteln möchten: Wie in einem »Vokabelheft« steht das Gefühl, das sich dem Bild zuordnen lässt, auf der anderen Seite. So geht es bereits im Umgang mit Gefühlen ums »Entschlüsseln«: Sie sind nicht eindeutig, aber sie können Hinweise auf Bedürfnisse geben und schon hier braucht es Empathie. Mit dem vertieften Blick auf Bedürfnisse, wird auch der Schutz notwendiger. Denn wo ich bedürftig bin, bin ich auch verletzbar, doch auch nirgendswo anders erfahre ich so vieles über mich. »Zeige deine Wunde« ist der Titel eines Werkes von Joseph Beuys. Doch aus guten Gründen ist es sinnvoll, sie nicht jedem zu zeigen. Ratsuchende spüren oft intuitiv, wieviel Vertrauen sie in einer Begegnung riskieren können. Zu den eigenen tieferen Schwächen und »Dünnstellen« zu stehen, erfordert Vertrauen und Mut. Warum ist die Frage nach den Bedürfnissen so wesentlich in der Beratung? Weil sie zu Befriedigung führt. Menschen suchen Beratung auf, um Lösungen zu finden, die zufriedenstellender sind als ihre bisherigen. Unbefriedigte Bedürfnisse können fixieren und die Entwicklung blockieren, wie ein Stöcklein, das im Strudel hängen bleibt. Ein zufriedener Mensch dagegen kann »weiterfließen«, er kann die Wirklichkeit wieder anders wahrnehmen und Gelegenheiten erkennen, die ein bedürftiger Mensch aufgrund seiner Fixierung nicht sehen kann. Auch im Umgang mit Konflikten dient aufmerksames Hinsehen dem Frieden oft mehr als »guter Wille« und Energie: Einmal genauer hinzuschauen, führt eher zum Ziel, als mit 150 Kilometern pro Stunde und viel Power versehentlich die Autobahnausfahrt verpasst zu haben. Außerdem rückt durch die Frage nach Bedürfnissen die Einzigartigkeit eines jeden Menschen in den Fokus. Wenn Menschen den Mut haben, sich selbst zu reflektieren und anzuerkennen, dass sie Bedürfnisse nicht »abgucken« können, sondern sie durch Auswerten eigener Befriedigungserlebnisse entdecken können, wird wertvolle Information über das ganz persönliche »Bedürfnisprofil« gesammelt. Für eine nachhaltige Zufriedenheit ist diese Selbstreflexion unersetzlich: Zufriedenheit lässt sich eben nicht durch Nachmachen oder Imi14 Gerhard Roth: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Frankfurt 2003, S. 270. 15 Mies van Hout: Heute bin ich. Zürich 2012.

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tieren16 schaffen und das glückliche Gesicht einer anderen muss sich nicht mit dem eigenen Glückserleben decken. Über meinen individuellen Weg erfahre ich mehr, wenn ich im Sinne einer Evaluation in eigener Sache regelmäßig zurückschaue und mich frage: Was hat mich die vergangenen Tage tatsächlich zufrieden gemacht? Der spirituelle Aspekt, der hier ins Spiel kommt, ist eine Dankbarkeit, die – an sich schon heilsam17 – eine Brücke und Rückbindung zu Gott öffnet. So wie es nicht nur die Aufgabe einer Vogelmutter ist, feinfühlig die Bedürfnisse ihres Kindes deuten zu lernen, so ist es die Aufgabe der Beratenden, sich den Ratsuchenden anzupassen – und nicht umgekehrt. Manche Ratsuchenden versuchen, möglichst »gute Klientinnen« zu sein und fragen sich: »Welches Pro­ blem muss ich hier haben, damit ich gesehen werde und Hilfe erfahre?« In einer Beratung dann zu erfahren, dass das Gegenüber die Beweglichkeit und Feinfühligkeit18 besitzt, eine Passform anzubieten, ist eine entscheidende Bestätigung. Die Individualität zu würdigen war auch Milton H. Ericksons Anliegen, wenn er Psychotherapie so definiert19, dass sie der Einzigartigkeit der Bedürfnisse eines Individuums gerecht werde, statt den Menschen so zurechtzustutzen, dass er in das Prokrustesbett einer hypothetischen Theorie von menschlichem Verhalten passe. (Prokrustes, ein Riese aus der griechischen Mythologie, bot Reisenden ein Bett an. Wenn sie zu groß für das Bett waren, wurden ihre Füße abgehackt, waren sie zu klein, streckte er sie auf dem Amboss.) Das Herantasten und das Abstimmen geben der Klientin direkt oder indirekt Bestätigung und »Selbst-Sicherheit«. Die Beraterin vermittelt ihr, dass sie mit ihrem Bedürfnis nicht »falsch« liegt und sie es auch selbst noch bewusster (»selbst-bewusst«) vertreten kann. Das ist ein, wenn nicht sogar das wesentliche Anliegen inte­ grativer Beratung. Seelsorge und Beratung könnten an dieser Stelle einen unschätzbar wertvollen Beitrag leisten, wenn die Beratenden in geschütztem Rahmen ermutigen, 16 Vgl. mimetische Theorie, die das eigene begehren als eine Imitation des Begehrens anderer beschreibt: Etwas, was die andere begehrt, wird dadurch für einen selbst begehrenswert. In: René Girard: Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität. Münster 2012. 17 Henning Freund/Dirk Lehr: Dankbarkeit in der Psychotherapie. Ressource und Herausforderung. Göttingen 2020. 18 Vgl. Rüdiger Marmulla/Dagmar Janssen: Computergestützte Persönlichkeitsdiagnostik. Holzgerlingen 2012. Im PST-R-Test kann der »Unkonventionalitäts«-Wert bei den Wesenszügen ein Hinweis auf eine solche Beweglichkeit sein. Im PST-R-Test kann der »Sensibilitäts«-Wert bei den Wesenszügen ein Hinweis auf Feinfühligkeit sein. 19 Milton H. Erickson, zit. nach Luise Reddemann: Die Welt als unsicherer Ort. Stuttgart 2021, S. 62.

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dieser persönlichen inneren »Bedürfnisform« näherzukommen. Oft genug ist diese Form selbst – ungewollt – das »bestgehütete Geheimnis« der Ratsuchenden. Direkt nach den Bedürfnissen zu fragen, wird in der Beratung daher selten belohnt. In Kapitel 7 stellt Waltraud Belser einen Weg, ja einen »Kunstgriff« des Therapeuten Albert Pesso vor, der es auch ohne Gesichtsverluste erlaubt, mehr über die Bedürfnisse der Ratsuchenden zu erfahren. Pesso, selbst aus einer jüdisch-sephardischen Familie stammend, hat in seiner Arbeit jedoch keine spirituellen Bezüge hergestellt. Sein Form-Passform-Modell, wie es in Waltraud Belsers Artikel beschrieben wird, bezieht sich ausschließlich auf die horizontale Passung zwischen zwei Menschen wie z. B. einer Mutter mit ihrem Kind oder einer Beraterin mit ihrer Ratsuchenden. Ich stelle mir vor, dass die Urform der Passung zwischen Mensch und Mensch in der Beziehung zwischen Mensch und Gott liegt, und habe mir erlaubt, das Form-Passform-Modell in die Vertikale zu drehen: So wie der Mensch als Erdenkloß in Gottes Hand geformt wurde, in seine Hand passt und »Seele« wird, so kann er in Gott sein idealstes »Antidot« (Gegengift) finden und in Frieden kommen.

Abb. 2: Albert Pessos Form-Passform-Modell (eigene Darstellung)

An dieser Stelle möchte ich diese Verbindung mit einem Bild aus dem Neuen Testament vertiefen. Jesus vergleicht sich im Johannesevangelium mit einem Weinstock und seine Jünger mit Weinreben und beschreibt eine ganz innige Verbindung: »Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.« (Joh 15,5) Nur die Weinreben, die mit dem Weinstock verbunden sind, bekommen von dort über die tiefen Wurzeln Nährstoffe und Wasser, um Früchte zu entwickeln. Wenn die Kontaktstelle zwischen Rebe und Weinstock zu schwach zusammengewachsen ist, ist das nicht möglich. 18

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Damit eine tiefe Verbindung entsteht, muss beim Pfropfen die Schnittstelle der Weinrebe, die aufgepfropft wird, offen sein. Diese Offenheit bedeutet jedoch auch Verletzbarkeit und Verwundbarkeit: Der Wundsaft, der beim Zuschneiden der Rebe austritt und in der Botanik und auch in der Medizin bei Knochenbrüchen »Kallus« genannt wird, verbindet die Weinrebe und den Weinstock miteinander und dient als »Klebstoff«. Die Wunde (!) wird zur Kontaktstelle, ohne Wunde gibt es keinen Kontakt. Im Remstal, einer schwäbischen Weingegend hat Eugen Wahler ein Patent für die sogenannte »Omega-Propfung« entwickelt, um Weinrebe und Weinstock stabil zu verbinden: Bei beiden wird die Form des griechischen Buchstaben »Ω« (Omega) eingestanzt, wodurch sie dann wie ein Puzzlestück ineinander geschoben werden können. Diese Verbindung ist umfassender und »inniger« als es z. B. eine V-Stanzung wäre, da es mehr Kontaktmöglichkeit gibt. Sie versinnbildlicht in besonderer Weise das Wort von Jesus: »in mir bleiben und ich in ihm«.

Abb. 3: Pfropfstelle als Verbindung zwischen Weinstock und Weinrebe (© Eva Maria Jäger)

Die beiden Kontaktstellen können derart zusammenwachsen, dass man später die Schnittstelle kaum mehr sieht. Die Rebe bekommt über den Weinstock die Verbindung zum Grundwasser: Der Weinstock gehört im Pflanzenreich zu den Pflanzen mit sehr tiefen, bis zu 30 Meter langen Wurzeln. Wenn man in den vergangenen, trockenen Sommern durch Deutschland gefahren ist, bot sich vielerorts ein überwiegend gelbes und braunes Bild. Doch bei Würzburg erschien die Landschaft überraschend frisch: Es waren die Weinberge, die trotz der Hitze und Trockenheit saftig grün leuchteten, weil sie eine Verbindung zum Grundwasser hatten. Während die Omega-Propfung eine mechanische Methode ist, die jede Rebe in derselben Form einstanzt, geht es in der Begegnung mit Jesus um eine ganz individuelle Form, die in jedem Fall anders geartet ist. Der Mensch ist eingeladen, Gottes Gegenüber zu werden. In dieser Beziehung kann er wachsen, »Mahlzeit!«

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den »Blick zurückgeben« und eines Tages »endlich den treffen, der mich immer schon gesehen hat«20. Oder wie Augustinus formulierte: »Videntem videre« – den Sehenden sehen. Gott meint mein Wesen. »Die Einheit ist die Einheit von zweien – und darin liegt die Seligkeit […]. Das ICH ist für jede Beziehung unerlässlich. Die, die sich aufeinander beziehen, bleiben erhalten. Wenn es ein Liebesverhältnis ist und wenn es schon so etwas wie eine Berührung gibt, dann wäre es widersinnig, wenn das, was ich liebe, mich auflöst und auslöscht.«21 Und so ist es einer der Kerngedanken christlich-jüdischer Anthropologie, dass Gott in den Dialog tritt. Und dass dort die Idee der Grundbeziehung entstehen kann, aus der auch Beratung zwischen Menschen schöpft. Exkurs: Reifungsparcours Es geht um Bedürfnisse. Doch es geht nicht darum, sie unbedingt zu erfüllen. Nur in wenigen Fällen ist eine zeitnahe Erfüllung möglich. Doch Wegschieben ist auch keine wachstumsförderliche Option. Reifungs- und Integrationswege sind nicht »Entweder-oder«-, sondern »Sowohl-als-auch«-Wege. Was bedeutet das für den Umgang mit Bedürfnissen? Es bedeutet, ein Bedürfnis als Teil von sich sowohl wahrzunehmen als auch zu akzeptieren, dass die äußere Wirklichkeit im Augenblick keine Befriedigung gibt. Entlang dieses Wahrnehmens und Tröstens, entlang dieses Sowohl-als-auch verläuft die geistliche Wachstumslinie, die auch Bonhoeffer beschrieb: »Es gibt ein erfülltes Leben trotz vieler unerfüllter Wünsche«.22 Praktisch könnte es heißen, anzuerkennen, dass ich gerade richtig »Heimweh« habe, auch wenn ich nicht gleich »heimfahren« kann: »Ja, ich habe gerade Heimweh, das mich richtig fertig macht – ich spüre es, obwohl ich es gerade nicht stillen kann.« Oder wahrzunehmen, dass ich eine Sexualität habe, auch wenn ich sie im Augenblick nicht so leben kann, wie ich es mir erträume. Sich die Zeit zu nehmen, das Bedürfnis noch mehr wahrzunehmen und Information über mich zu bekommen: »Nach was habe ich Heimweh? Was genau fehlt mir? Welche Sehnsucht meldet sich da?« Oder: »In welcher Weise merke ich, dass ich ein sexueller Mensch bin? Wo merke ich das in mir – an welchen Körperempfindungen, an welcher Stimmung? Und was hat es ausgelöst?« 20 Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: »Ich bin du« oder »Ich bin dein«? Vortrag in der Christuskirche München, 11.02.2020. 21 Gerl-Falkovitz 2020. 22 Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. DBW Bd. 8. München 1998, S. 359.

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Die Wachstumslinie, um als Persönlichkeit zu reifen, ist also, einen liebevollen Blick auf die eigene Bedürfnissituation zu richten und das Bedürfnis als ein eigenes Thema ernst zu nehmen, auch wenn ich es nicht »weg-stillen« kann. Erstaunlicherweise kann allein das Wahrnehmen eines Bedürfnisses schon be-friedigend sein in dem Sinne, dass es einen entscheidenden Unterschied macht, ob ein Bedürfnis von mir »gesehen« wurde oder ungesehen weg-gefegt wird. Manche Bedürfnisse verwandeln sich auch. In jedem Fall bekomme ich mehr Informationen über mich und meine aktuelle Bedürfnissituation. Damit bin ich nicht mehr so angewiesen auf »Bedürfnisideenvorschläge« der Außenwelt oder der Medien, nach dem Motto: Sowas muss ich haben, damit ich zufrieden werde. Ich kann mir Alternativen überlegen, die mich wieder handlungsfähig machen. Wenn ich z. B. beim Heimweh die Wiesen und den Wald vermisse, dann könnte es helfen, auch hier vor Ort mehr in der Natur wandern zu gehen. Wenn es der Hefezopf der Oma ist, kann ich Hefe und Mehl einkaufen und selbst backen usw. Das Anerkennen von Bedürfnissen ist eine »Spezialität« des jüdisch-christlichen Menschenbildes, das sich Bedürfnissen gegenüber sehr positiv ausrichtet: Dieses Hinschauen – selbst wenn ich unter Umständen das Bedürfnis nicht gleich stillen kann – ist wichtiger, als man es im ersten Moment meinen könnte: Es ist die Grundlage allen Trostes. Es kann sein, dass eine Mutter auf der Flucht zu ihrem Kind sagen muss: »Ich sehe, dass du weinst, weil du schon so lange auf den Beinen sein musst und müde bist und es gern warm hättest. Ist es so? Und ich habe gerade kein Plätzchen für dich zum Schlafen – aber ich sehe dich und deinen Wunsch!« So kommt Trost in die Beziehung, obwohl das Bedürfnis nicht gestillt ist.

2 Die anerkennende Haltung oder »Warm gucken« Es kann »verräterisch« sein, Beratungsvorgänge zu beschreiben. Je nach Wortwahl kann man schnell einem bestimmten Beratungsansatz oder therapeutischen Verfahren zugeordnet werden. Ob ich das Wort »konstruieren« oder »projizieren« wähle, deutet bereits meinen Hintergrund an, sei es nun ein systemischer oder psychoanalytischer. Ob ich von einem »Täter-Introjekt«23 spreche oder von »destruktiv wirkenden Ego-States« oder »bewältigenden, traumakompensatorischen Ego-States«24 macht bereits einen Unterschied. 23 Luise Reddemann: Psychodynamisch imaginative Traumatherapie PITT – Das Manual. 10. Aufl. Stuttgart 2020, S. 180 f. 24 Kai Fritzsche: Ego-State-Therapie bei Traumafolgestörungen. Heidelberg 2021, S. 77.

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Beim Entwickeln der integrativen Beratung wollte ich jedoch die Festlegung auf ein spezielles Paradigma durch die Wortwahl vermeiden. Spreche ich zum Beispiel von »Aufmerksamkeit« oder von »Achtsamkeit« sind sofort unterschiedliche anthropologische »Schubladen« im Spiel. Carl Rogers’ Begriffe der »Empathie, Echtheit und Wertschätzung« sind in Zusammenhang mit der Grundhaltung von Beratenden auch bereits zu sprachlichen »Grundfesten« geworden. Offener ist die Formulierung von Rosenberg, der in der gewaltfreien Kommunikation schlicht von »Beobachten« spricht.25 Auch »Wahrnehmung« ist ein unbesetztes Wort. Es geht mir darum, Beratende zu ermutigen, eine Sprache zu sprechen, die sich aus dem eigenen Mund nicht zu fremd anhört, und von Fall zu Fall neue »Wortfelder« zu suchen. Und so erlaube ich mir im Folgenden, die Frage zu stellen, wie die beraterische Grundhaltung einer integrativen Beratung beschrieben werden könnte und was sie nährt. Ich möchte zwei innere Haltungsformen einladen: das Erkennen und das Anerkennen. In einem Wort oder Wortspiel zusammengefasst geht es um ein »An-Erkennungs-Paar«. Oder, um doch einen aktuelleren Fachjargon zu bedienen: Achtsamkeit26 in Verbindung mit Mitgefühl, Awareness und Compassion. Eines ohne das andere wäre nicht hilfreich: »Üben von Achtsamkeit ohne Mitgefühl führt in kalte Gefühllosigkeit.«27 Achtsamkeit lässt klarer sehen, doch Mitgefühl öffnet das Herz, gerade für Schmerzhaftes und Unangenehmes.28 Man könnte daher auch von einer »Achtsamkeit des Herzens« sprechen.29 Andere Begriffe für diese heilsame Kombination können auch sein: »freundlich forschen«, »neugierig zuwenden«. In ihrem Buch über Selbstmitgefühl schreibt Kristin Neff, dass es darum gehe, »allem, was auftaucht, mit interessierter Neugier und Freundlichkeit zu begegnen«30. Als ich von einer Schwäbin gefragt wurde, was mein Hauptinteresse beim Vermitteln integrativer Beratung sei und ob sie das überhaupt verstehen könnte, meinte ich: Es geht ums »Warm gucken« – wenn jemand nicht nur gucken kann, sondern auch noch warm gucken kann. 25 Rosenberg 2013. 26 Alois Burkhard/Martin Bohus: Achtsamkeit. Stuttgart 2011. 27 Erik van den Brink/Frits Koster: Mitfühlend leben. Mit Selbst-Mitgefühl und Achtsamkeit die seelische Gesundheit stärken. Mindfulness-Based Compassionate Living – MBCL. München 2013, S. 14. 28 Van den Brink/Koster 2013, S. 30 f. 29 Christoph Germer zitiert aus der Pali-Kultur die beiden Seiten Sati und Citta für die beiden Aspek­ te von Geist und Herz, Beobachtungsdistanz und Herzensnähe, die so untrennbar zusammenspielen wie die beiden Flügel eines Vogels: Er braucht beide, um zu fliegen. Die Haltungen gehen »Hand in Hand«. In: Van den Brink/Koster 2013, S. 13. 30 Kristin Neff: Selbstmitgefühl. München 2012, S. 517.

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Eine Klientin ist bei mir wegen »Ausrastern« im Umgang mit ihrem zweijährigen Sohn, die ihr leidtun, die sie aber nicht »in den Griff bekommt«. Sie resümiert: »Was mir die ganzen letzten Jahre nicht geholfen hat, ja, was es verschlimmert hat, war mein Blick, mein eigener Blick auf mich selbst!« Sie möchte eine andere Blick-Qualität31 auf sich selbst entwickeln. Wie kann ihr »zusammen mit ihr« geholfen werden?32 Wie auch immer wir diese Blick-Qualitäten nennen wollen: Es geht darum, durch das Angebot des Beraters von außen, durch seine Haltung, die wie ein Modell anregen und ermutigen kann, eine innere Beobachterin33 in der Klientin zu fördern, die sie auch bei sich hat, wenn sie allein unterwegs ist. Also ein »24/7«- – 24 Stunden und 7 Tage die Woche – Coach. Um in der Beratung dieses wertvolle »An-Erkennungs-Paar« in den Ratsuchenden nachhaltig zu stärken, sollte es auch im inneren Team des Beraters präsent sein. Es geht um Integrität oder Kongruenz im Sinne von: »Man kann Ratsuchenden keine Haltung vermitteln, die nicht auch im eigenen Leben entwickelt wird.« Deshalb geht es in der Ausbildung zur Beratung um die eigene Haltung. Ich schlage für diese innere Haltung die beiden folgenden Entwicklungsfelder vor: Ȥ Erkennen: • Wahrnehmen entwickeln • oder das, was in der Verhaltenstherapie mit einer strukturierten SORKCAnalyse als Beobachtungshilfe geübt wird34, • oder das, was Rosenberg »Beobachten« nennt, • oder »Achtsamkeit« als »die höchste Form menschlicher Intelligenz, zu beobachten, ohne zu bewerten«35. Durch den Austausch von Beobachtungen und Perspektiven verschiedener Menschen ergibt sich dort, wo Schnittmengen sind, eine »gemeinsame Wirklichkeit«, die für Beratungsgespräche jedweder Art einen wertvollen Ausgangspunkt anbietet. Ein Vorbild für unbestechliche Wahrnehmung dieser Art könnte das Kind sein, das im Märchen von des »Kaisers neuen Kleidern« sieht, dass

31 Vgl. Friederike Potreck-Rose: Selbstzuwendung, Selbstakzeptanz, Selbstvertrauen. Stuttgart 2003, S. 122. 32 »Nicht jemandem helfen – nein! Sondern zusammen mit ihm ihm helfen.« Aus: Karoline Mayer: Das Geheimnis ist immer die Liebe. Freiburg 2010, S. 200. 33 Vgl. Ernest Hilgard: The hidden observer and multiple personality. International Journal of Clinical and Experimental Hypnosis 32, 248–253. 34 Vgl. Peter Neudeck/Stephan Mühlig: Therapie-Tools Verhaltenstherapie. Therapieplanung, Probatorik, Verhaltensanalyse. Weinheim 2020. 35 Jiddu Krishnamurti 1974, zitiert nach: Rosenberg 2016, S. 48.

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er »ja gar nichts anhat« – eine Wahrnehmung, in der sich auch nach und nach alle Beteiligten wiederfinden. Ȥ Anerkennen: • Wertschätzen entwickeln, • oder das, was Barmherzigkeit in der Bibel meint, • oder Mitgefühl (Compassion)36, wie es in der Meditationstradition eingeübt wird, • oder Umdeutung und Reframing von bisher ent- und abgewerteten Aspekten, • oder eben »Anerkennen« und Wärme. Im Fall der Klientin kann das so ausschauen, dass zuerst genau wahrgenommen wird, wo und wann sie »ausrastet«. Ein wertvolles Instrument dafür wäre z. B. eine verhaltenstherapeutische SORKC-Analyse. Mit dem zweiten, anerkennenden Blick ginge es darum, mit Mitgefühl auf ihre eigene Situation zu schauen, vielleicht auch das Gefühl von Ärger, das sie spürt. Dieser zweite, freundliche Anerkennungsblick ist so wichtig, weil er Wärme ins Spiel bringt. Reine Beobachtung kann durch ihre (nötige!) Distanz auch kühl sein. Erstarrte Themen kommen dadurch jedoch nicht in Bewegung, sie bleiben wie erfroren oder »kaltgestellt«. Doch Freundlichkeit bringt die nötige Wärme ins Spiel, die Versöhnung, Vergebung und damit letztendlich auch Lösungen und Verwandlung ermöglicht. Denn: ohne Perspektivenwechsel keine Versöhnung. Auch nicht in eigener Sache. Für einen Perspektivenwechsel braucht es Bewegung, und Bewegung braucht Auf-Wärmung. Im wärmenden, liebevollen Auge des Betrachters kann ein Ansatz von Verständnis, vielleicht sogar Schönheit entstehen. Es ist der Blick, den die Bibel beschreibt: Beim Bau des Tempels verwerfen die Bauleute einen Stein, weil er nicht passt. Möglicherweise werfen sie ihn weg und sehen beim Herunterrollen vom Tempelberg seine Formen aus neuer Per­ spektive. Und es geschieht das »Wunder« vor ihren Augen, dass dieser Stein verkannt wurde, ja, dass es sich dabei sogar um den Eckstein für den Tempel handelt (im Alten Testament: Ps 118,22; im Neuen Testament Mt 21,42, Mk 12,10 und Lk 20,17). Milton H. Erickson nennt diese Umdeutung »Reframing«. Der zweite Blick kann so eine gestalterische und schöpferische Kraft bekommen: Vielleicht haben wir die Situation beim ersten Blick schon erkannt, aber noch zu wenig anerkannt. Vielleicht steckt bei einem Perspektivenwechsel mehr Wert in allem – und dabei kommt es auf die Art des Betrachtens an. Darin liegt eine Hoffnung, die unabhängig von äußeren Gegebenheiten ist. Diese zweite, freundschaftliche 36 Paul Gilbert: The compassionate mind. London 2010.

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Qualität ins Spiel zu bringen und nicht nur bei der »kühlen Achtsamkeit« stehen zu bleiben, ist wesentlich in der Beratung: »Mitfühlende Achtsamkeit führt weiter als die heute viel empfohlene Achtsamkeit, die nicht urteilen soll, aber eben nicht immer und nicht grundsätzlich verbunden ist mit einem mitfühlenden Herz-Geist.«37 Irvin Yalom findet dafür auch die schöne Formulierung: »Der teilnehmende Blick.«38 Eines meiner persönlichen Ziele als Beraterin ist, dass ich Begegnungen mit Ratsuchenden so gestalten lerne, dass ich sie selbst nach der Begegnung wenigstens »ein Fitzelchen« mehr mag als zu Beginn. Im beschriebenen Fall hat die Klientin entdeckt, dass der Ärger ein Teil von ihr ist, der weniger mit dem Auslöser, dem zweijährigen Sohn zu tun hatte, sondern mit eigenen Verletzungen. Sie nutzte die Beratungssituation, um aus dem »zweiten Blickfeld« heraus zu sortieren, worüber sie in ihrer Herkunftsfamilie froh ist, aber auch, wo es ein innerliches »Stopp« gibt, das nicht nur sie, sondern auch ihren Sohn schützt. So ist sie zusammen mit ihrem Sohn in einer »neuen Entwicklungsrunde« und findet neue Gelegenheiten, nicht nur ihren Sohn, sondern auch ihre eigene Not zu versorgen. Ein eigenes inneres »An-Erkennungs-Paar« zu entwickeln, das einem selbst und anderen helfen kann, wird oft nicht freiwillig veranlasst. Es sind die Krisen und Verletzungen, die uns dazu einladen, an »Ressourcen« und »Kapazitäten« nachzulegen, um ein neues Gleichgewicht zu finden. So kann die (wenn auch schmerzhafte!) »Gewinn-Seite« für verletzte Menschen darin liegen, ein innerlich wachsendes »An-Erkennungs-Paar« auszubilden, von dem auch ihre Umgebung profitieren wird. Das entspräche der Theorie des »posttraumatischen Wachstums« (Posttraumatic Growth), des Zugewinns an Reife und Weisheit nicht durch »Wellness-Biografien«, in denen das meiste glatt lief, sondern gerade durch das Einüben im Umgang mit eigenen Verletzungen. Das soll eine Ermutigung für diejenigen sein, die Berater werden: Aus ihren Krisen werden sie auch Haltungen mitbringen, die ihrem »Überleben« geholfen haben, ja, um es mit einem Bild von Khalil Gibran zu sagen: Perlen, die in den Austernmuscheln durch ein Sandkorn entstanden sind, das ihre innere Perlmuttschicht verletzt und verwundet hat.39 Auf einer tieferen Ebene geht es beim »An-Erkennungs-Paar« um ein Pendeln zwischen Distanz (bzw. Beobachtung) und Nähe (bzw. Mitgefühl und Barmherzigkeit). Auch das zentrale Kontinuum zwischen dem Autonomie37 Reddemann 2020, S. 39. 38 Irvin Yalom: Und Nietzsche weinte. München 2008, S. 84. 39 »Die Perle« in Khalil Gibran: Der Wanderer. München 2009, S. 22.

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und Bindungsbedürfnis beschreibt dieses lebenslange Schwingen.40 Dieses Hinund Herschwingen zwischen Abstand und Nähe greift der Paartherapeut David Schnarch auf: Um die Spannung zwischen diesen beiden Polen zu lösen, schlägt er das Prinzip der »Selbstdifferenzierung« vor: in Beziehung sein mit dem Gegenüber und zugleich den Kontakt zu sich selbst nicht aufgeben, sondern bei sich bleiben.41 Im Rahmen einer Paartherapie konkretisiert sich diese Haltung im Einüben vom »Umarmen bis zur Entspannung«: auf eigenen Beinen selbstständig stehen und gleichzeitig in der Verbindung, in Umarmung sein. Das Maß menschlicher Wärme und Barmherzigkeit beim »Warm-Gucken« kommt immer wieder an seine Grenzen. Und so stellt sich die Frage nach spirituellen Ressourcen und nach einer Erweiterung dieses warmen Blickes. Auch wenn diese Erweiterung nur stellvertretend möglich wird, das heißt, dass ich nicht selbst einen anderen, weiteren Blick haben muss – aber auf jemanden schauen kann, der einen weiteren Blick hat: eine göttliche Barmherzigkeit, die es schafft, das, was für mich bisher widersprüchlich bleibt, ungelöst, konflikthaft verkantet und nicht integrierbar ist, in ihren Blick aufzunehmen, wie unter einen großen Schirm, der sich weit ausbreiten kann. Je höher der Mittelgriff nach oben in den Himmel ragt, desto weiter wird der Radius, der darunter beschirmt wird. In diesem Bild würde das menschliche Barmherzigkeitschirmmodell eher den kleinen Papierschirmchen auf dem Eisbecher ähneln, während der göttliche Barmherzigkeitsschirm einen größeren Radius hat. Vielleicht kann der Mensch in seinem kleinen Herzen diesen Weitblick für innere und äußere Widersprüche nicht entwickeln, doch in Verbindung mit Gott bekommt er die Einladung, unter den großen Regenbogenschirm zu treten, den Gott ausgespannt hat. Dort kann er etwas von Gottes Barmherzigkeit für sich und für die andere, das Eigene und das (Noch-)Fremde aufnehmen. Er kann ein Teil der Gemeinschaft werden, die unter Gottes »Schirm und Schutz« (Ps 91,1) steht. Oder wie es Søren Kierkegaard formulierte: Sich in der Barmherzigkeit Gottes verlieren, um sich zu finden.42

40 Zugleich »ungetrennt« (Nähe/Bindung) und zugleich »unvermischt« (Distanz/Autonomie) ist eine starke Beschreibung, um mit der Spannung zwischen Bindung und Autonomie umzugehen. Sie geht auf das Konzil von Chalkedon zurück, bei dem der Kompromiss formuliert wurde: Jesus Christus als »eine göttliche Person in zwei Naturen«. 41 David Schnarch: Die Psychologie sexueller Leidenschaft. Stuttgart 2009, S. 189. 42 Vgl. Thorsten Dietz: Selbstliebe. Weder Selbstflucht noch Selbstsucht. Ichthys, 26, 1998, 15.

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3 Die »Zutaten« integrativer Beratung Welche Zutaten darf nun die »integrative Mahlzeit« haben? Das Kennzeichen für eine »integrative Mahlzeit« sind Zutaten in Form unterschiedlicher Beratungsverfahren. Dabei darf die Zusammensetzung variieren und sich durch Offenheit für weitere Verfahren auszeichnen. Bevorzugt werden Verfahren miteinander integriert, die bereits selbst als »integrativ« gelten können. Die letztendliche integrative Qualität, die auch die spirituelle Dimension umfasst, ergibt sich jedoch nicht aus den Verfahren selbst, sondern aus der Art ihrer Anwendung durch die Haltung der Beratenden, die oben angedeutet wurde. Es sind nicht in erster Linie die Zutaten, die den integrativen und auch spirituellen Moment in die Beratung bringen, sondern ihre »Zubereitung«. Im Folgenden möchte ich ein Beratungsangebot vorstellen, in dem schrittweise verschiedene »Tools« eingeführt werden, die unterschiedliche Schwerpunkte und Qualitäten haben. Dem Vorgehen bei diesem Angebot liegt ein »stepped care«-Gedanke zugrunde, das heißt, die genannten Verfahren kommen wie Bausteine, die aufeinander aufbauen, in Einsatz: Es kann vertiefend weitergearbeitet werden, aber ebenso besteht die Möglichkeit, dass die Beratung nach jedem Schritt abgeschlossen werden kann, wenn die Ratsuchenden bereits zufrieden ist.43 Oder im Bild gesprochen: Die Ratsuchenden bekommen verschiedene Menügänge angeboten, aber können selbst entscheiden, wann sie satt sind. In der Abbildung 4 beginnt das Menü von unten mit dem ersten Gang und wandert von Gang zu Gang nach oben. Die einzelnen Gänge werden im Folgenden kurz beschrieben. Im Gegensatz zu klinischen Modellen, die häufig auf Störungsmodelle und entsprechende Indikationen ausgerichtet sind (vgl. Giesekus in Kapitel 3), wird hier die Struktur entlang des Beratungsablaufes aus Sicht von Beratenden entwickelt. Bevor die vier Beratungsbausteine zum Tragen kommen – oder wie ich sie hier nenne: bevor die vier Gänge aufgetischt werden –, geht es um die Voraussetzung, die selbst bereits eine wesentliche Intervention sein kann: Es geht um den geschützten »Raum«, der freiwillig aufgesucht wird. Er bietet den Rahmen für die im Weiteren folgenden Beratungsgänge. Zwei Kriterien kennzeichnen den »Raum«: Für Beratung und Selbstreflexion sollte ein sicherer Raum geschaffen werden, in dem keine Gefährdung für Leib und Seele besteht. Etwas salopp formuliert: Wenn das Haus brennt, sollten keine Beratungs43 Martin Härter: Collaborative and stepped care for depression. Development of a model project within the Hamburg Network for Mental Health. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 58, 2015, 420–429.

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Modul

Themen

Techniken

4. Umdeuten

Akzeptanz

Verflüssigen (syst.)

- Innerlich

Perspektivenwechsel

Reframing (Hypnotherapie)

Sinnfindung/Kohärenz

Kognitive Umstrukturierung

Egostates

Imaginative Verfahren

Vergebung/Versöhnung

Kreative Medien

Wechselwirkungen

Impact-Techniken

Integrieren

3. Intervenieren - Äußerlich Integrieren

entdecken Verhaltensrepertoire erweitern Problembewältigung

2. Wahrnehmen

Aufstellung (syst.) Verhaltens-Experimente Körpertherapeut. Interv.

Trennen von Beobachten

Beobachten (GfK)

und Bewerten (außen)

SORKC (VT)

Gefühle erkennen/

Paraphrasieren/VEE

Empathie (innen)

Microtracking (Pesso) Mimikresonanz Idiolektik (syst.)

Bedürfnisse

1.Ziel-/ Auftragsklärung

Überlebensregel (Sulz) Antidote (Feelingseen)

Selbstbestimmung/

Systemische

Kontrolle

Auftragsfragen (Kunde, Beklagender, Besucher)

Annäherungsformulierung

Wunder-/Ausnahmefrage ZRM: somatic marker mit Bilder/Fotos

©emJ

Raum (Sicherheit, Wahlfreiheit)

Abb. 4: Beratungsablauf aus Sicht von Beratenden (© Eva Maria Jäger)

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gespräche fortgeführt werden, sondern der Brand gelöscht werden. Auch unter verletzenden Bedingungen wie Täterkontakten sind erst einmal andere Maßnahmen und Schutz gefragt. An zweiter Stelle kennzeichnet ein geschützter Raum das Angebot von Wahlfreiheit. Diese Bedingung scheint selbstverständlich zu sein, doch bedingt durch Notsituationen können Ratsuchende auch in einem Modus der Außenorientierung stecken und durch bisher erlebte Fremdbestimmung bis hin zu Submissivität mit Fragen beschäftigt sein wie: »Wie bin ich hier eine möglichst gute Ratsuchende? Was muss ich hier machen? Welche Erwartungen hat die Beratung an mich?« In solchen Fällen kann ein bewusstes, aber feinfühliges Anbieten von Wahlmöglichkeiten unterstützend sein und Ratsuchende gleich zum Einstieg dazu einladen, zu spüren, dass in diesem Rahmen Selbstbeteiligung und persönliche Würde unterstützt werden. Manchmal genügt bereits diese erste Stufe eines sicheren Raums, in dem die Ratsuchenden auch Würde, Wahlfreiheit und Selbstwirksamkeit erleben. Insgesamt ist zu den äußeren Bedingungen zu sagen: Integrativ unterwegs zu sein, bedeutet nicht, undifferenziert zu arbeiten. Es geht auch darum, von Situation zu Situation maßgeschneidert vorzugehen. Je unsicherer und gefährlicher die Lage, Ȥ desto eher ist direktives Eingreifen notwendig, Ȥ desto weniger Zeit ist für Eigenwahrnehmung gegeben, Ȥ desto weniger Wahlmöglichkeiten bestehen, Ȥ desto eher geht die Aufmerksamkeit nach außen, um Sicherheit wiederherzustellen. Je entspannter die Lage ist, Ȥ desto weiter kann der Fokus werden, Ȥ desto weniger sind Ziele von außen vorgegeben und können durch Intro­ spektion und Selbstexploration selbst gewählt werden, Ȥ desto hilfreicher sind non-direktive Formen. Beobachtungen aus der Sozialpsychologie zu Führungsstilen verdeutlichen, dass direktives, eher autoritäres Verhalten angemessen sein kann, wenn es um Notsituationen oder zunehmende Gruppengröße geht.44 Interessant bleibt die Frage, ab wann etwas als »Notsituation« eingestuft werden kann. Für Beratende gilt es, immer wieder einzuschätzen, in welchen Bereich die Ausgangssituation der Ratsuchenden gehört, wie reell gefährlich sie ist, wie groß der Zeitraum für die Intervention ist und welche persönliche Disposition, z. B. Ängstlichkeit, die 44 Helmut Crott: Soziale Interaktion und Gruppenprozesse. Stuttgart 1991.

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Ratsuchenden mitbringen. An dieser Stelle sind Beratende eingeladen, auch ihr eigenes Paradigma immer wieder zu reflektieren: In welchem Bereich hatte man bisher seinen persönlichen Schwerpunkt? Eher in der Notfallarbeit oder eher in einer zieloffeneren Beratungssituation? Welche neuen Horizonte wären für einen selbst bereichernd? Welche Auswirkungen würde es haben, wenn ich als Beraterin in einer sicheren Situation eher direktive Techniken anwende, Bewertungen, Ratschläge und Anweisungen gebe? Und welche Auswirkungen hat es, wenn in einer eher unsicheren Situation non-direktive Angebote gemacht werden, Druck vermieden wird, Zeit gegeben wird? Der Einfluss dieses Wahlverhaltens der Beratenden auf die Gesprächsatmosphäre ist nicht zu unterschätzen. Nicht erst seit der Formulierung des Yerkes-Dodson-Gesetzes45 ist aufmerksam im Blick zu behalten, dass die »Lernzone«, die es in einer Beratungssituation für die jeweiligen Ratsuchende zu entdecken gilt, zwischen der Komfort- und der Panikzone liegt.46 Für die folgenden vier Gänge könnte auch eine Art Von-außen-nach-innenPrinzip formuliert werden: zuerst ausreichend äußere Sicherheit herstellen, die akuten Stressoren bearbeiten und Stabilität herstellen. Und dann an systemische Bedingungen (systemische Verfahren), an Überzeugungen und Werte (kognitive verhaltenstherapeutische Verfahren) und später an persönliche, »tiefere«, überdauernde Haltungen (Inneres Team, Ego-State-Therapie/EST) herangehen. Im Folgenden werden nun die vier Gänge vorgestellt: Mit dem ersten Gang der Ziel- und Auftrags-Klärung steht die Klärung des Auftrags durch Herausarbeiten des Anliegens und der Zielvorstellungen der Ratsuchenden im Vordergrund. Der gern zitierte Satz aus der systemischen Beratung »Eine Minute Auftragsklärung ersetzt eine Stunde Beratung« lädt ein, diesen Schritt ernst zu nehmen, genauer hinzuschauen, welchen speziellen

45 Robert Yerkes/John Dodson: The relation of strength of stimulus to rapidity of habit-formation. Journal of Comparative Neurology and Psychology, 18, 1908, 459–482. 46 Komfortzone wird von Brené Brown folgendermaßen definiert: »Wo unsere Unsicherheit, Knappheit und Verletzlichkeit minimiert werden – wo wir glauben, dass wir Zugang zu genug Liebe, Essen, Talent, Zeit und Bewunderung haben werden. Wo wir das Gefühl haben, etwas Kontrolle zu haben. Wenn wir in Zeiten sozialer, politischer oder finanzieller Instabilität geraten, werden unsere Komfortzonen kleiner. Je mehr Angst wir haben, desto undurchdringlicher werden unsere Puffer für Komfortzonen.« In: Alina Tugend: Tiptoeing Out of One’s Comfort Zone (and of Course, Back In). New York Times, 11.02.2011. https://www.nytimes. com/2011/02/12/your-money/12shortcuts.html (Zugriff am 15.07.2022).

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Unterschied die Beratung für die einzelnen Ratsuchenden machen soll: »Was ist für Sie zieldienlich? Wie möchten Sie nachher aus der Beratung gehen?«47 Auf zwei Kriterien ist in der Auftragsformulierung Wert zu legen: Ȥ das Ziel ist positiv im Sinne eines Annäherungsziels beschrieben Ȥ und die Ratsuchenden können den Einfluss auf die Zielerreichung selbst übernehmen (Kontrolle). Um diese Qualitäten für eine selbstwirksame und motivierende Auftragsbeschreibung schaffen zu können, werden vor allem Fragen aus der systemischen Praxis genutzt.48 Annäherungsziele können z. B. durch Wunderfragen formuliert werden: Angenommen, es würde ein Wunder passieren, woran würden Sie es als Erstes bemerken? Wie würden Sie sich dann verhalten?49 Das Zürcher Ressourcenmodell, selbst bereits ein hochwertiges, integratives Verfahren, kann an dieser Stelle auch eine wertvolle Grundlage bieten: Durch das Auswählen von Bildern und weitere Verankerungsschritte wird die Synchronisierung von unbewussten Bedürfnissen mit den bewussten »Aufträgen« unterstützt.50 Ich freue mich an dieser Stelle sehr über den Beitrag mit einem Fallbeispiel zu einer integrativen Anwendung des Zürcher Ressourcenmodells von Sarah Bolz in Kapitel 8. Das Übernehmen von eigener Verantwortung für Ziele verknüpft sich mit dem ganzen Fundus systemischer Fragen wie z. B. den »Verschlimmerungsfragen« (»Was müssten Sie machen, damit sich die Krise zur Katastrophe auswächst?«). Auch in der Unterscheidung von Ratsuchenden als »Klagenden«, »Besucherinnen« oder »Kunden«51 kommt dieses Thema zum Tragen: Wie können die Ratsuchenden dazu eingeladen werden, offener und neugieriger ihre eigene Beteiligung oder Verantwortung an der Krise zu erforschen? Insgesamt ist jedoch der erste Block auch von einer Haltung geprägt, die auf Ressourcen ausgerichtet ist. So einfach es klingt: Man kann nur mit dem anfangen, »was da ist«. Und um auf die »guten Steine bauen« zu können, muss man sie bewusst suchen gehen. Selbst die kleine Frage »Was soll sich durch die 47 Eine ultimative Variante dieser Frage ist: »Wie möchte ich am Ende auf mein Leben zurückblicken?« Auch eine Sterbemeditation kann in einer Beratung gefragt sein. 48 Vgl. Hans-Rudi Fischer/Ulrike Borst/Arist von Schlippe: Was tun? Fragen und Antworten aus der systemischen Praxis. Stuttgart 2015. 49 Vgl. Steve de Shazer/Yvonne Dolan: Mehr als ein Wunder. Die Kunst der lösungsorientierten Kurzzeittherapie. Heidelberg 2015. 50 Maja Storch/Frank Krause: Selbstmanagement – ressourcenorientiert. Theoretische Grundlagen und Trainingsmanual für die Arbeit mit dem Züricher Ressourcen-Modell. Bern 2014. 51 Vgl. Kundentypen bei de Shazer/Dolan 2015.

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Beratung nicht ändern?« kann bereits ein kleiner Hinweis sein. Dankbarkeitsübungen von Reddemann52, die »Liste angenehmer Ereignisse« von Hautzinger aus der kognitiven Verhaltenstherapie53, hypnotherapeutische Ressourcenübungen von Signer-Fischer54 oder die +++-Übung von mir55 sind nur einige weitere Beispiele für eine aktive Ressourcenaktivierung. So, wie manche Beratung bereits nach Klärung des Auftrags abgeschlossen sein kann, kann auch nach dieser Stufe ein Kurzzeitberatungsprozess abgeschlossen werden. Mit einem zweiten Gang unter dem Sammelbegriff Wahrnehmen wird der Schwerpunkt auf die Wahrnehmung eigener Emotionen und Bedürfnisse gelegt. Insgesamt geht es dabei um ein Beobachten, ohne zu bewerten. Bevor es an die Gefühle und Emotionen geht, werden äußerliche Umstände in den Blick genommen: Das kann im Sinne einer Verhaltensanalyse (SORKC) angeboten werden56, als Systemanalyse mit Fokus auf Unterschiedsbildung oder im Sinne von Rosenbergs Gewaltfreier Kommunikation. Innerliche Situationen wie Emotionen, Gefühle und dahinterstehende Bedürfnisse können empathisch erspürt werden – mit Techniken aus der Gesprächstherapie oder mit dem Focusing nach Eugen Gendlin57 oder der Microtracking-Technik von Pesso58. Dazu kann auch der Fokus auf das Wahrnehmen von Mimik oder Eigensprache gelegt werden.59 Insgesamt geht es in diesem Gang um Informationen, die, wie Gunther Schmidt es betont, der »Unterschiedsbildung« dienen: mehr Schärfe und »Pixel« ins Bild bringen.60 Auch psycho-edukative Wissensvermittlung über Affekte und Gefühle (wie die sechs Primäremotionen Angst, Trauer, Wut, Ekel, Überraschung und Freude 52 53 54 55

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Luise Reddemann: Überlebenskunst. Stuttgart 2006, S. 90. Martin Hautzinger: Kognitive Verhaltenstherapie bei Depressionen. München 1989, S. 61. Susy Signer-Fischer: Hypnotherapie – effizient und kreativ. Heidelberg 2019. In der +++-Übung werden drei Ressourcen-Ebenen (+) erforscht: auf körperlicher Ebene eine Körperstelle, die sich angenehm anfühlt, auf emotionaler Ebene eine konkrete Erinnerung aus den zurückliegenden Wochen, die angenehme Gefühle geweckt hat, und auf der spirituellen Ebene eine Erinnerung an einen Augenblick, in dem Verbundenheit mit Gott erlebt wurde. Z. B. Hans Reinecker: Verhaltensanalyse – ein Praxisleitfaden. Berlin 2015. Eugen Gendlin: Focusing: Selbsthilfe bei der Lösung persönlicher Probleme. Hamburg 1998. Leonhard Schrenker: Pesso-Therapie. Das Wissen zur Heilung liegt in uns. PBSP als ganzheitliches Verfahren einer körperorientierten Psychotherapie. Stuttgart 2017. Dieter Eilert: Mimikresonanz. Gefühle sehen. Menschen verstehen. Paderborn 2014; Daniel Bindernagel/Peter Winkler: Schlüsselworte. Ideolektische Gesprächsführung in Therapie, Beratung und Coaching. Heidelberg 2012. Gunther Schmidt: Einführung in die systemische Therapie. Heidelberg 2006; Gunther Schmidt: Grundkurs systemischer Beratung, Auditorium, 2005.

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sowie sozialisationsbedingte Sekundäremotionen) spielt eine Rolle.61 Dabei geht es darum, selbst ein akzeptierendes und »integratives« Verständnis für die eigene Gefühlswelt zu entwickeln, das auch von einem weiteren Blick aus biblischer Perspektive geprägt sein darf: Ratsuchende können ermutigt werden, zu erforschen, was in der Bibel zu Primärgefühlen wie z. B. der Wut steht, mit denen sie bisher eher auf »Kriegsfuß leben«. Auch die Vermittlung von Wissen über verschiedene Bedürfnisse ermöglicht eine wertschätzende und aufmerksame Haltung. So kann z. B. die Unterscheidung und Akzeptanz von Bindungs- vs. Autonomiebedürfnissen, wie Sicherheit/Dauer vs. Wandel/Lustbedürfnissen, den Ratsuchenden Mut machen, sich mit ihren auch immer wieder wechselnden Bedürfnissen näher zu beschäftigen und Verantwortung für sich zu übernehmen.62 Auch die Schematherapie als Verfahren aus dem verhaltenstherapeutischen Bereich kann an dieser Stelle herangezogen werden. Dabei geht es um die Ermutigung zu eigenem inneren Kontakt, um auch Selbstfürsorge und ein »Gestillt-Werden« eigener Bedürfnisse zu erleben.63 Auch wenn man vieles darüber »wissen« kann: Bedürfnisse lassen sich, wie oben angesprochen, nicht so einfach erschließen und bleiben einem oft selbst länger ein »blinder Fleck«. Entdeckungshilfen können im Gebrauch der Pesso-/ Feeling-seen-Techniken liegen, indem nach einer idealen Figur, einem Antidot gefragt wird (vgl. Kap. 7 von Waltraud Belser).64 Auch das strukturierte Erarbeiten einer »Überlebensregel« von Serge Sulz mit Fragebögen kann diesen »Selbsterforschungsweg« hilfreich unterstützen.65 Der zweite Gang kann außerdem dazu dienen, Konflikte aus dem ersten Gang bei der Ziel- und Auftragsklärung (wie z. B. konfligierende Zielvorstellungen oder Bedürfnisse) noch besser zu beleuchten und zu klären. Auch nach dieser Stufe des genaueren Verstehens und Erkennens kann ein Beratungsprozess, sofern ausreichende Ressourcen zur Selbstaktualisierung und zum Selbstmanagement gegeben sind, abgeschlossen werden. 61 Z. B. Jan Glasenapp: Emotionen als Ressourcen. Manual für Psychotherapie, Coaching und Beratung. Weinheim 2013. 62 Vgl. Grawe 2004; Christoph Thomann/Friedemann Schulz von Thun: Klärungshilfen 1. Handbuch für Therapeuten, Gesprächshelfer und Moderatoren in schwierigen Gesprächen. Hamburg 2011. Früher auch schon bei Fritz Riemann: Grundformen der Angst. Basel 2022. 63 Jeffrey E. Young/Janet S. Klosko/Marjorie E. Weishaar: Schematherapie. Ein praxisorientiertes Handbuch. Paderborn 2005. 64 Michael Bachg: Feeling seen – Einführung in eine körperorientierte Psychotherapie für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern mit Transkript einer Sitzung. In: Serge K. D. Sulz/Siegfried Höfling (Hg.): … und er entwickelt sich doch. Entwicklung durch Psychotherapie. München 2010, S. 277–312. 65 Serge K. D. Sulz/Sabine Burkhardt: Das Coaching-Fall-Buch. 13 Berichte über effektive Business-Coachings. München 2014.

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Der dritte Gang des äußerlichen Integrierens und Bewegens bietet Interventionen an, die äußere Parameter verändern, z. B. indem Verhaltensexperimente (behavioristische Tradition) angeregt werden oder das Verhaltensrepertoire erweitert wird (körpertherapeutische Übungen aus dem Embodiment-Ansatz, Rollenspiele zur sozialen Kompetenz66 u. Ä.), systemische Verschreibungen67 gemacht oder lösungsorientierte Aufstellungen durchgespielt werden. Dazu bieten sich auch Impact-Techniken68 und in besonderer Weise Stuhlarbeit69 an, wie z. B. die Zweistühle-Technik, die auch in der Gestalttherapie Tradition hat. Während hier eine Bewegung und ein Integrieren von außen nach innen angeregt wird, kann jedoch auch über eine weitere – oder stattdessen angebotene – Stufe Bewegung und Integration von innen nach außen unterstützt werden: Beim vierten Gang geht es um Prozesse der inneren Integration und Bewegung – das süße Dessert des Menüs: Süß und schwer kann es deshalb sein, weil es mit einem entspannteren, vielleicht sogar schläfrigen Blick zu tun hat, zu dem eingeladen wird, wenn sich äußerlich wenig bis nichts ändern lässt. Dann sind Umdeutungen und Perspektivenwechsel gefragt: Das Anliegen kann von verschiedenen Seiten erlebt werden, oder systemischer formuliert: »verflüssigt« werden. Für dieses innere Bewegen äußerer Wirklichkeiten gibt es reichhaltige Konzepte aus der kognitiven Verhaltenstherapie, deren Grundidee bereits Epiktet auf den Punkt brachte: »Es sind nicht die Dinge selbst, die uns beunruhigen, sondern unsere Ansicht der Dinge.« Beunruhigende »Ansichten« können kognitiv »umstrukturiert« werden (Rational-Emotive Therapie, RET, von Albert Ellis, Kognitive Therapie, KT, von Aaron T. Beck), oder aus der Hypnotherapie Milton H. Ericksons zum sogenannten »Reframing«70. Hier geht es um Transformationsprozesse, die sich aus der Akzeptanz einer Situation entwickeln und die durch Imaginationstechniken unterstützt werden können. Das psycho-edukative Vermitteln von physiologischem Allgemeinwissen und das Ermutigen von persönlichem Wissen über Entspannungsprozesse sind in diesem Baustein zu verankern. Entspannung, Schlaf und Trance führen in bildhaftes Denken und in eine »Sowohl-als-auch-Haltung«. Hier öffnet sich auch die Türe für Beratung zum bildhaften Denken und einer Beratung mit Bildern und Metaphern. Oder in den Worten Gunther Schmidts: 66 Rüdiger Hinsch/Ulrich Pfingsten: Gruppentraining sozialer Kompetenz GSK. Weinheim 2015. 67 Tom Levold/Michael Wirsching: Systemische Therapie und Beratung – das große Lehrbuch. Heidelberg 2014. 68 Danie Beaulieu: Impact-Techniken für Psychotherapie. Heidelberg 2013. 69 Stefan Hammel: Das Stühlespiel. Freiburg 2015. 70 Wilhelm Gerl, Reframing in: Dirk Revenstorf/Burkhard Peter: Hypnose in Psychotherapie, Psychosomatik und Medizin. Manual für die Praxis. Berlin 2015, S. 253.

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»Wenn die Lösungs-Kompetenzen im ›unbewussten Eldorado‹ liegen, wie es Milton Erickson formulierte, dann lautet die Devise: Am bewussten Denken vorbei ins tolle Eldorado des Unbewussten, also das Bewusste schubidubidu ablenken und die Lösung ansteuern!«71 Förderlich sind sowohl Entspannungsmethoden herkömmlicher Art, wie sie in verhaltenstherapeutischem Kontext angeboten werden (z. B. Progressive Muskelentspannung nach Edmund Jacobsen), als auch imaginative Methoden aus der Trauma- und Hypnotherapie, wie z. B. »Der sichere Ort«72 oder »Der innere Garten«73. Mit einem Schritt weiter, der Wahl der »Gastraum-Metapher«74 oder der »inneren Bibliothek«75 öffnet sich bereits der Einstieg zur inneren Teamarbeit (vgl. Kap. 6). Einhergehend mit der an-erkennenden Haltung der Akzeptanz tauchen neue Horizonte auf und der Blick weitet sich auch auf Vergebungsprozesse intrapersoneller Art wie in der Ego-State-Arbeit (vgl. Kapitel 6) oder auch interpersoneller Art: Wenn das Eigene zufriedenstellend und »good enough« gesehen wurde, wird der Blick über den eigenen Tellerrand frei und ermöglicht das Erkennen, dass es mehr gibt als einen selbst – auch im Sinne der Selbst-­ Transzendenz.76 So öffnen sich wieder neue Ressourcen. Die Dritte und vierte Stufe können auch in umgekehrter Reihenfolge stattfinden. Natürlich entwickeln sich Beratungsprozesse in der Praxis nicht immer in dieser »stromlinienförmigen« Struktur von Stufe 1 bis 4, sondern können zum Beispiel auch zwischen Wahrnehmen (Stufe 2) und Bewegen (Stufen 3/4) hinund herpendeln. Es gibt eine Vielzahl anderer Verfahren. Der »Tool-Korb« ist nach oben offen und darf nach individuellem Gusto gefüllt werden. Aus den unterschiedlichen Therapieschulen, wie sie Ulrich Giesekus in Kapitel 2 vorstellt, lassen sich viele Schätze heben. Manche Beratenden schätzen eher strukturierte Ver71 Gunther Schmidt: Die Klugheit unserer archaischen Bilderwelten im systemischen Raum. Die Potentiale von Imagination und Visionen. In: Die Kraft von Imaginationen und Visionen, Auditorium. Heidelberg 2012. 72 Luise Reddemann: Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren. 22. Aufl. Stuttgart 2016, S. 45. 73 Michaela Huber: Der innere Garten. Ein achtsamer Weg zur persönlichen Veränderung. Paderborn 2010. 74 Kai Fritzsche: Praxis der Ego-State-Therapie. Heidelberg 2013, S. 253. 75 Fritzsche 2021, S. 278. 76 Viktor E. Frankl: Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn. Stuttgart 1985.

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fahren oder Manuale wie das Zürcher Ressourcen Modell (ZRM) und die »Überlebensregeln«, andere improvisieren mit einem Strauß systemischer Fragen oder Stühlen. Dieses Modell soll eine Strukturhilfe schaffen, in der sich auch die fünf Wirkfaktoren aus Grawes Metaanalyse einordnen lassen: Die »therapeutische Beziehung« bietet den sicheren Rahmen, die »motivationale Klärung« findet auf Stufe 1 (Ziel- und Auftragsklärung) statt, die »Problemaktualisierung« auf Stufe 2 (Wahrnehmen), die »Problembewältigung« auf Stufe 3 (Intervenieren/ Äußerlich bewegen) und die »Ressourcenaktivierung« auf Stufe 4 (Umdeuten/ Innerlich bewegen).77 Im Rückbezug auf das Kapitel über die beraterische Grundhaltung kommt das Erkennen insbesondere im zweiten Gang (Beobachten) zum Tragen, während sich die Haltung des An-Erkennens vor allem im ersten (Ressourcen) und vierten Gang (Reframing) widerspiegelt.

Abb. 5: Der »Baukasten« der Anwendung (eigene Darstellung)

Die verschiedenen Gänge lassen sich auf unterschiedliche Settings anwenden: auf die Frage nach mir selbst in Verbindung zu meiner Herkunftsfamilie, nach mir selbst in Verbindung zu mir selbst (Inneres Team), nach mir selbst in einer Partnerschaft und nach mir selbst in einer Gemeinschaft/Gruppe. Die kleinen Punkte in den einzelnen Kreisen (s. Abb. 5) deuten die Idee des inneren Teams an, die in Kapitel 6 vertieft wird.

77 Klaus Grawe: Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession. Göttingen 2001.

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Nun bleibt mir, einen guten Appetit zu wünschen. Und eine gesegnete Verdauung. Oder vielmehr: eine gelungene »Integration«!

Literatur Michael Bachg: Feeling seen – Einführung in eine körperorientierte Psychotherapie für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern mit Transkript einer Sitzung. In: Serge K. D. Sulz/Siegfried Höfling (Hg.): … und er entwickelt sich doch. Entwicklung durch Psychotherapie. München 2010, S. 277–312. Danie Beaulieu: Impact-Techniken für Psychotherapie. Heidelberg 2013. Daniel Bindernagel/Peter Winkler: Schlüsselworte. Ideolektische Gesprächsführung in Therapie, Beratung und Coaching. Heidelberg 2012. Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. DBW Bd. 8. München 1998. Erik van den Brink/Frits Koster: Mitfühlend leben. Mit Selbst-Mitgefühl und Achtsamkeit die seelische Gesundheit stärken. Mindfulness-Based Compassionate Living – MBCL. München 2013. Alois Burkhard/Martin Bohus: Achtsamkeit. Stuttgart 2011. Helmut Crott: Soziale Interaktion und Gruppenprozesse. Stuttgart 1991. Thorsten Dietz: Selbstliebe. Weder Selbstflucht noch Selbstsucht. Ichthys, 26, 1998, 15. Meister Eckhart: Deutsche Predigten und Traktate, hg. v. Josef Quint. Zürich 1979, Predigt 34. Dieter Eilert: Mimikresonanz. Gefühle sehen. Menschen verstehen. Paderborn 2014. Hans-Rudi Fischer/Ulrike Borst/Arist von Schlippe: Was tun? Fragen und Antworten aus der systemischen Praxis. Stuttgart 2015. Alan Fogel: Selbstwahrnehmung und Embodiment in der Körperpsychotherapie. Vom Körpergefühl zur Kognition. Stuttgart 2018. Viktor E. Frankl: Der Mensch vor der Frage nach dem Sinn. Stuttgart 1985. Henning Freund/Dirk Lehr: Dankbarkeit in der Psychotherapie. Ressource und Herausforderung. Göttingen 2020. Kai Fritzsche: Praxis der Ego-State-Therapie. Heidelberg 2013. Kai Fritzsche: Ego-State-Therapie bei Traumafolgestörungen. Heidelberg 2021. Eugen Gendlin: Focusing: Selbsthilfe bei der Lösung persönlicher Probleme. Hamburg 1998. Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz: »Ich bin du« oder »Ich bin dein«? Vortrag in der Christuskirche München, 11.02.2020. Khalil Gibran: Der Wanderer. München 2009. Paul Gilbert: The compassionate mind. London 2010. René Girard: Figuren des Begehrens. Das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität. Münster 2012. Jan Glasenapp: Emotionen als Ressourcen. Manual für Psychotherapie, Coaching und Beratung. Weinheim 2013. Klaus Grawe: Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession. Göttingen 2001. Klaus Grawe: Neuropsychotherapie. Göttingen 2004. Stefan Hammel: Das Stühlespiel. Freiburg 2015. Martin Härter: Collaborative and stepped care for depression. Development of a model project within the Hamburg Network for Mental Health. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 58, 2015, 420–429. Harvard Graduate School of Education: »The Family Dinner Project«. O. J. http://www.pz.harvard. edu/projects/the-family-dinner-project (Zugriff am 01.04.2022).

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Ernest Hilgard: The hidden observer and multiple personality. International Journal of Clinical and Experimental Hypnosis 32, 248–253. Rüdiger Hinsch/Ulrich Pfingsten: Gruppentraining sozialer Kompetenz GSK. Weinheim 2015. Mies van Hout: Heute bin ich. Zürich 2012. Michaela Huber: Der innere Garten. Ein achtsamer Weg zur persönlichen Veränderung. Paderborn 2010. Michaela Huber: Paare und Traumatisierung, Auditorium. Heidelberg 2014 (Information der Familienfürsorger:innen der »Familienfürsorge Rheinland Pfalz«). Tom Levold/Michael Wirsching: Systemische Therapie und Beratung – das große Lehrbuch. Heidelberg 2014. Rüdiger Marmulla/Dagmar Janssen: Computergestützte Persönlichkeitsdiagnostik. Holzgerlingen 2012. Karoline Mayer: Das Geheimnis ist immer die Liebe. Freiburg 2010. Kristin Neff: Selbstmitgefühl. München 2012. Peter Neudeck/Stephan Mühlig: Therapie-Tools Verhaltenstherapie. Therapieplanung, Probatorik, Verhaltensanalyse. Weinheim 2020. Friederike Potreck-Rose: Selbstzuwendung, Selbstakzeptanz, Selbstvertrauen. Stuttgart 2003. Stefan Pröhle: Gottesgeburt im innersten Grund der Menschenseele. Betrachtungen nach Johannes Tauler. Mainz 2020. Luise Reddemann: Überlebenskunst. Stuttgart 2006. Luise Reddemann: Imagination als heilsame Kraft. Zur Behandlung von Traumafolgen mit ressourcenorientierten Verfahren. 22. Aufl. Stuttgart 2016. Luise Reddemann: Psychodynamisch imaginative Traumatherapie PITT – Das Manual. 10. Aufl. Stuttgart 2020. Luise Reddemann: Die Welt als unsicherer Ort. Stuttgart 2021. Hans Reinecker: Verhaltensanalyse – ein Praxisleitfaden. Berlin 2015. Fritz Riemann: Grundformen der Angst. Basel 2022. Marshall B. Rosenberg: Gewaltfreie Kommunikation. Paderborn 2016. Gerhard Roth: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Frankfurt 2003. Jeremy Safran: Psychoanalysis and Buddhism. An unfolding dialogue. Boston 2003. Gunther Schmidt: Grundkurs systemischer Beratung, Auditorium, 2005. Gunther Schmidt: Einführung in die systemische Therapie. Heidelberg 2006. Gunther Schmidt: Die Klugheit unserer archaischen Bilderwelten im systemischen Raum. Die Potentiale von Imagination und Visionen. In: Die Kraft von Imaginationen und Visionen, Auditorium. Heidelberg 2012. David Schnarch: Die Psychologie sexueller Leidenschaft. Stuttgart 2009. Leonhard Schrenker: Pesso-Therapie. Das Wissen zur Heilung liegt in uns. PBSP als ganzheitliches Verfahren einer körperorientierten Psychotherapie. Stuttgart 2017. Josef Seifert: Das Leib-Seele-Problem in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion. Darmstadt 1979. Steve de Shazer/Yvonne Dolan: Mehr als ein Wunder. Die Kunst der lösungsorientierten Kurzzeittherapie. Heidelberg 2015. Susy Signer-Fischer: Hypnotherapie – effizient und kreativ. Heidelberg 2019. Maja Storch/Frank Krause: Selbstmanagement – ressourcenorientiert. Theoretische Grundlagen und Trainingsmanual für die Arbeit mit dem Züricher Ressourcen-Modell. Bern 2014. Serge K. D. Sulz/Sabine Burkhardt: Das Coaching-Fall-Buch. 13 Berichte über effektive BusinessCoachings. München 2014. Christoph Thomann/Friedemann Schulz von Thun: Klärungshilfen 1. Handbuch für Therapeuten, Gesprächshelfer und Moderatoren in schwierigen Gesprächen. Hamburg 2011. Alina Tugend: Tiptoeing Out of One’s Comfort Zone (and of Course, Back In). New York Times, 11.02.2011. https://www.nytimes.com/2011/02/12/your-money/12shortcuts.html (Zugriff am 15.07.2022).

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Julia Weber/Maja Storch: Das Zürcher Ressourcen Modell. Gefühlsregulation und die Erzeugung von Sinn durch Motto-Ziele. In: Daniel Berthold/Jan Gramm/Manfred Gaspar/Ulf Sibelius (Hg.): Psychotherapeutische Perspektiven am Lebensende. Göttingen 2017, S. 359–374. Hans-Walter Wolff: Anthropologie des Alten Testaments. Gütersloh 2010. Irvin Yalom: Und Nietzsche weinte. München 2008. Robert Yerkes/John Dodson: The relation of strength of stimulus to rapidity of habit-formation. Journal of Comparative Neurology and Psychology, 18, 1908, 459–482. Jeffrey E. Young/Janet S. Klosko/Marjorie E. Weishaar: Schematherapie. Ein praxisorientiertes Handbuch. Paderborn 2005.

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Wenn ich mir eine Hose kaufen will, freue ich mich über gute Kundenberatung. Beim Elternsprechtag suche ich pädagogische Tipps und bin froh, wenn ich hinterher eine bessere Vorstellung davon habe, wie ich meinem Kind bei den Hausaufgaben helfen kann. Bei der Vorbereitung meines Ruhestandes suche ich eine Rentenberatung auf. Und in einer Ehekrise brauche ich möglichst kompetente Paarberatung, die uns hilft, unsere Liebe wieder zu beleben. Was ist eigentlich »Beratung«? Wie überschneidet sie sich mit Seelsorge und Psychotherapie? Und – kann man sie überhaupt genau definieren?

Beratung, Seelsorge und Psychotherapie: Versuch einer Bestimmung im Begriffsdschungel Ulrich Giesekus

Bei den verschiedenen Angeboten für Menschen, die im Gespräch Hilfe suchen, gibt es eine Vielzahl von Begriffen, die nicht immer klar definiert sind und noch seltener als allgemeinverständlich vorausgesetzt werden können: Psychologische Beratung, Lebens- und Sozialberatung, therapeutische Seelsorge, Klinische Psychologie, psychotherapeutische Heilpraxis, Psychotherapie und Psychotherapeutin – und selbst dort, wo es klare gesetzliche Definitionen gibt, richtet sich der Alltagsgebrauch selten danach. Ganz davon abgesehen, dass Gesetze einen Gültigkeitsbereich haben und international sehr unterschiedliche Regeln gelten. Fangen wir mit der Situation in Deutschland an: Personen, die beruflich Psychotherapie betreiben, sind also immer Psychotherapeuten? Falsch. Viele Berufe vom Heilpraktiker bis zur Krankenpflegerin sind in der Psychotherapie tätig, in unterschiedlichen Aufgabenbereichen und mit unterschiedlicher Verantwortung. Sie betreiben also Psychotherapie – sind aber keine Psychotherapeutinnen. Nach dem Psychotherapeutengesetz (PsychThG) von 2019 darf diese Berufsbezeichnung nur geführt werden von »Ärztinnen und Ärzten, Psychologischen Psychotherapeutinnen und Psychologischen Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und Kin40

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der- und Jugendlichenpsychotherapeuten« (PsychThG Abs. 1 § 1,1). Sozialarbeitende, die in Suchtkliniken oder in einem Frauenhaus mit traumatisierten Frauen arbeiten, sind keine Psychotherapeuten. Therapeutische Seelsorge hat die Aufgabe, seelische Störungen zu behandeln? Wieder falsch. Hoffentlich ist Seelsorge in vieler Hinsicht heilsam, aber die Behandlung krankheitswertiger Störungen ist ihr in Deutschland nicht erlaubt – wie auch die Diagnose oder Linderung. Schauen wir noch einmal in das PsychThG (Abs. 1 § 1,2): »Ausübung der Psychotherapie im Sinne dieses Gesetzes ist jede mittels wissenschaftlich geprüfter und anerkannter psychotherapeutischer Verfahren oder Methoden berufs- oder geschäftsmäßig vorgenommene Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Störungen mit Krankheitswert, bei denen Psychotherapie indiziert ist.« Das Angebot »Psychologische Beratung« setzt Psychologie voraus? Weit gefehlt. Der Begriff »Psychologische Beratung« ist nicht geschützt, und man muss dazu weder Psychologin sein (das heißt, ein Psychologiestudium abgeschlossen haben) noch irgendeine Qualifikation nachweisen. Es gibt jede Menge Ausbildungs­ angebote zur »Psychologischen Beratung«, die auf ganz unterschiedlichem Niveau abgeschlossen werden können. Wie »Personal Coach« oder »Achtsamkeitscoach« – Bezeichnungen, die jeder führen darf. Klinische Psychologen arbeiten in einer Klinik? Sie ahnen es … »klinisch« heißt jener Fachbereich der Psychologie, der sich mit der Erforschung, Diagnose und Behandlung von Störungen befasst und hat nichts damit zu tun, in welchem Gebäude jemand arbeitet. Viele »klinische Psychologen« sind auch zugelassene Psychotherapeuten – aber viele sind auch in Industrie, Wissenschaft und Forschung tätig und behandeln selbst keine Patientinnen. Otto Normalklient kann da nicht mehr durchblicken. Und während für alle klar ist, dass eine Mutter, die ihr Kind »verarztet«, nicht Ärztin sein muss, nutzen manche Anbieter den Begriffsdschungel der Psycho-Helfer-Szene aus, um Kompetenzen vorzuspiegeln, die sie gar nicht haben. In der Esoterikszene verdienen Tausende ihr Geld mit äußerst dubiosen »Therapie«-Angeboten, aber auch in der christlichen Welt gibt es manche »Therapeutinnen«, die keine sind. Heilungsversprechen sind unseriös und dienen in der Regel eher dem Sammeln von Spenden als der Gesundheit der Betroffenen. Seelsorge, seelsorgliche Begleitung, geistliche Begleitung, Gemeindeberatung, Heilungsdienst, Lebens- und Sozialberatung, Coaching, Supervision, Psychologische Beratung, Psychologie und Psychotherapie sind Begriffe, deren unüberBeratung, Seelsorge und Psychotherapie

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schaubare Bedeutungsvielfalt dann noch durch Kombinationen wie z. B. »therapeutische Seelsorge«1 oder »christliche Psychologie«2 erhöht wird.

1 Psychotherapie Egal, wie jemand sich darstellt und als was er sich selbst bezeichnet: Wenn behandlungsbedürftige Störungen mit Methoden der Psychotherapie (und dazu gehört so ziemlich alles, was Menschen in Beziehungen tun) geheilt werden sollen, ist das nach deutschem Recht Psychotherapie. Wenn eine seelsorgerlich ausgebildete Person also »Hilfe bei Depressionen« anbietet, ohne eine psychotherapeutische Zulassung zu haben, kann sie dafür strafrechtlich belangt werden. Die Aussage »Ich mache ja nur Seelsorge, keine Therapie …!« ändert daran nichts. In der Schweiz und in Österreich gelten wieder andere Regeln, aber das Prinzip ist das gleiche: Sobald ein Begriff gesetzlich geschützt wird, entstehen eine Vielzahl von anderen Umschreibungen, die eine professionelle Kompetenz suggerieren, die manchmal vorliegt – und oft auch nicht. Eine Behandlung seelischer Störungen darf in Deutschland also nur durchgeführt werden, wenn eine Zulassung zur Psychotherapie vorliegt. Es gibt zwei Wege zu einer solchen Zulassung: 1. Ärztinnen, Psychologische Psychotherapeuten sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuteninnen haben ein Hochschulstudium der Medizin, Psychotherapie oder Psychologie abgeschlossen und notwendige therapeutische Zusatzausbildungen absolviert. Nur diese Personen dürfen sich »Psychotherapeut« nennen. Und nur diese Personen können eine Kassenzulassung erhalten. 2. Ein zweiter Weg für die Zulassung zur psychotherapeutischen Praxis besteht über die Zulassung zur »Heilpraktikerin, beschränkt auf Psychotherapie« (Psychotherapie HPG). Vor dem Inkrafttreten des alten Psycho1 »Therapeutisch« soll in diesem Zusammenhang dann heißen, dass z. B. Erkenntnisse der wissenschaftlichen psychologischen Forschung oder Methoden aus der Psychotherapie (auch zwei u. U. sehr verschiedene Paar Schuhe!) in die seelsorgerliche Begleitung einfließen; für den Normalbürger heißt »therapeutisch« wohl eher, dass das Ziel dieser Seelsorge ist, seelische Störungen zu behandeln – ein willkommenes Missverständnis? 2 Die Psychologie erhebt zwar an sich den Anspruch, eine empirische Wissenschaft zu sein und damit weltanschaulich neutral. Insofern kann es in diesem Sinne eine »christliche Psychologie« genau so wenig geben wie eine »katholische Mathematik«. Da es mit der weltanschaulichen Neutralität aber in der Regel bei der Theorie bleibt, sind die Bestrebungen, aus einem christlichen Weltbild heraus wissenschaftliche Forschungen zu betreiben, weltweit unter der Bezeichnung »christliche Psychologie« organisiert.

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therapiegesetzes (1999) war dies die einzige Möglichkeit für Psychologen, eine psychotherapeutische Praxis zu führen.3 Die »Psychotherapie (HPG)« ist aber nicht auf akademisch ausgebildete Profis beschränkt. In dieser Kategorie sind Personen mit sehr unterschiedlichen fachlichen Qualitäten: einige wenige, die als ausgebildete Psychologinnen praktizieren, andere, die ihre Kompetenz in nichtakademischen Ausbildungen gewonnen haben, und leider auch etliche, die wenig oder gar keine Ausbildung genossen haben, auch Quacksalber und Esoterikerinnen jeglicher Couleur. Letztere haben ihre Zulassung oft noch aus Zeiten, in denen es sehr einfach war, sie zu erhalten. Um diese Zulassung heute zu erhalten, muss man eine (je nach Region mehr oder weniger) umfangreiche und schwierige schriftliche und mündliche Prüfung absolvieren. Wie bereits festgestellt, sind diese psychotherapeutisch tätigen Personen aber keine Psychotherapeuten. Für die gesetzliche Regelung der Psychotherapie ist also nicht nur die Methode ausschlaggebend, sondern das Vorhandensein einer »Störung mit Krankheitswert«. Sobald eine solche krankheitswertige Störung vorliegt, ist eine Behandlung nur mit staatlicher Zulassung legal. Es spricht manches dafür, dass der Begriff »therapeutisch« – auch im Zusammenhang mit »Seelsorge« – ausschließlich im Kontext staatlich zugelassener Psychotherapie verwendet werden sollte.4

2 Beratung Unter Beratung versteht man in der Regel eine methodisch strukturierte Hilfestellung bei der Lösung von Lebensproblemen ohne Krankheitswert. Dazu gehören z. B. Ehe- und Familienkonflikte, Berufsfragen, Finanzen oder Lebensentscheidungen. In Deutschland ist die Zulassung zur Beratung noch nicht gesetzlich geregelt, wie es in Österreich bereits der Fall ist; entsprechende Gesetzentwürfe sind aber in der Planung und werden möglicherweise in Zukunft EU-weit geregelt. Offizielle Beratungsstellen (z. B. der Landkreise, in der Diakonie oder in der Trägerschaft von Kirchen) fordern von ihren Mitarbeitenden jedoch qualifizierte Ausbildungen, in der Regel ein abgeschlossenes Studium und entsprechende Zusatzausbildungen, nicht zuletzt, weil die staat3 Manche Psychologen praktizieren bis heute mit dieser alten Zulassung (u. a. der Autor), insbesondere wenn eine Kassenzulassung nicht angestrebt wird. 4 Verschiedene Seelsorgeinitiativen führen in ihrem Namen den Begriff »Therapeutische Seelsorge« noch aus der Zeit vor dem 1. Januar 1999, wo ein anderes Gesetz galt.

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liche Finanzierung solcher Stellen von dieser Qualifikation abhängt. Auf dem Markt der Helfenden tummeln sich jedoch eine Vielzahl von Beratenden mit sehr unterschiedlichen Ausbildungen – von der Betriebswirtschaftlerin, die Unternehmensberatung bietet, bis zum Astrologen, der Partnerzusammenführung verspricht. Wenn es in der Beratung um die Entwicklung persönlicher Kompetenzen, hauptsächlich im beruflichen Kontext geht, spricht man heute oft vom »Coaching«, hergeleitet vom amerikanischen Coach = Trainer (im Sport). Bei Berufen, in denen der persönliche Kontakt mit anderen Menschen im Mittelpunkt steht, ist die Bezeichnung »Supervision« üblich, oft auch als Teamoder Gruppensupervision. Diese spezielle Form der Beratung, in der die eigene Person und ihre Wirkung reflektiert und bearbeitet wird, wird durch Fachgesellschaften gefördert und zertifiziert. Es gibt qualifizierte Ausbildungsgänge und -verzeichnisse. Die Beratung zur Streitschlichtung von Konfliktparteien heißt »Mediation« (»Vermittlung«). Für allgemeine Lebensberatung, Coaching, Supervision und Mediation gibt es also keine staatlichen Zulassungen, aber Fachverbände, die ihre Qualitätssiegel an entsprechend ausgebildete Personen vergeben. Die meisten dieser Fachverbände sind wiederum in der Dachorganisation DGfB verbunden. Die Deutsche Gesellschaft für Beratung (DGfB) setzt für eine qualifizierte Beratungsausbildung folgende Standards: Eine Ausbildung von 420 Stunden plus 150 Stunden Praxis, aufbauend auf ein fachspezifisches Hochschulstudium (was in Ausnahmefällen durch Berufserfahrung usw. ersetzt werden kann). Viele christliche Beratungs- und Seelsorgeausbildungen entsprechen diesen Bedingungen, zumindest für solche Teilnehmenden, die ein Hochschulstudium in Theologie, Psychologie oder Sozialpädagogik absolviert haben. Der »ACC – Dachverband für Beratung und Seelsorge« (ACC = Association of Christian Counsellors) bietet eine entsprechende Akkreditierung an, die auf den Standards der DGfB basiert und neben den weltlichen Bedingungen eine Glaubensbasis erfordert (persönliches Bekenntnis, Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche und Referenz der Gemeindeverantwortlichen). Ähnliche Standards gelten für die Aufnahme in den »Beratungsführer« (www.derberatungsfuehrer.de). Für beide Qualifizierungen gelten auch regelmäßige Re-Zertifizierungen, die z. B. die Durchführung regelmäßiger Supervision erfordern. Da die Überprüfung der Qualität unterschiedlicher Ausbildungsabschlüsse für die Normalbürgerin schlicht unmöglich ist, halte ich eine qualifizierte Akkreditierung für extrem wichtig. 44

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3 Seelsorge Um die unterschiedlichen theologischen Zugänge und Definitionen zum Seelsorgebegriff umfassend zu beschreiben, muss man Bücher schreiben – und das haben glücklicherweise auch schon einige getan. Zum Beispiel Michael Herbst, Holger Eschmann, Rolf Sons und Manfred Seitz, um nur einige zu nennen.5 Ich plädiere für ein sehr weites Seelsorgeverständnis, welches sich wie folgt zusammenfassen lässt: 1. Christliche Seelsorge hat ein christliches Wirklichkeitsverständnis. Die sichtbare und unsichtbare Welt sind wirklich: Die unsichtbare Welt Gottes und des Teufels, die Gegenwart Gottes, die Bedeutung des Gebetes, das Wirken des Geistes Gottes, Bekennen von Schuld und Zuspruch von Vergebung, die Bibel als Wort Gottes usw. werden nicht »psychologisiert« und als »subjektive religiöse Erfahrung« abgetan, sondern im Glauben an einen lebendigen und liebenden Gott einbezogen. Auch die sichtbare Welt, die Natur, offenbart Gottes Schöpfungshandeln und ist damit nicht zweitrangig. Seelsorge ist also ein »weisheitliches« Handeln. Das bezieht sich auch auf wissenschaftliche Erkenntnisse aus den Sozial- und Humanwissenschaften: Medizin, Biologie und Psychologie beschreiben Gottes Schöpfung und können daher relevante Einblicke in wichtige Zusammenhänge aufzeigen. 2. Christliche Seelsorge hat ein christliches Menschenbild. Der Mensch ist in der Bibel als eine Ganzheit aus Geist (ruach, pneuma), Seele (nefesch, psyche) und Leib (basar, soma) gesehen. Diese unterschiedlichen Aspekte menschlicher Existenz lassen sich nicht voneinander trennen und als separate Entitäten behandeln. Die geistliche Dimension ist unsichtbar und entzieht sich der empirischen Beobachtung (es gibt kein »Glaubometer«). Seele (Psyche) und Leib dagegen sind in der sichtbaren Welt zu beobachten und können daher wissenschaftlich untersucht werden. Reifung und Wachstum, Probleme und Lösungen, Beziehungen und Konflikte, Krankheit und Gesundheit – immer sind alle drei Aspekte zusammen zu denken, wenn es um eine ganzheitliche Sichtweise geht.

5 Michael Herbst: beziehungsweise. Grundlagen und Praxisfelder evangelischer Seelsorge. Neukirchen-Vluyn 2012; Holger Eschmann: Theologie der Seelsorge. Grundlagen – Konkretionen – Perspektiven. Neukirchen-Vluyn 2000; Rolf Sons: Seelsorge zwischen Bibel und Psychotherapie. Die Entwicklung der Seelsorge im letzten Vierteljahrhundert. Stuttgart 1995; Manfred Seitz: Erneuerung der Gemeinde. Gemeindeaufbau und Spiritualität. Göttingen 1985.

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3. Christliche Seelsorge findet in unterschiedlichen Beziehungen und unter verschiedenen Rahmenbedingungen statt. Ein liebevoller Segenswunsch für die Reise, eine gute Predigt im Gottesdienst, ein vertrauliches Gespräch unter vier Augen, ein Besuch im Krankenhaus, eine liebevolle Konfrontation im Hauskreis, aber auch professionelle Eheberatung oder eine Therapiesitzung bei einem gläubigen Psychotherapeuten – alles das kann Seelsorge sein. Jede Christin ist zur Seelsorge berufen (»Einer trage des anderen Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen«, Gal 6,2) und jeder Christ ist seelsorgebedürftig. Die Kirche als Gemeinschaft gläubiger Menschen braucht Seelsorge auf jeder Ebene: seelsorgerlich handelnde Menschen im Alltag, geschulte seelsorgerliche Begleiterinnen, fachkompetent ausgebildete seelsorgerliche Lebensberater und zugelassene psychotherapeutisch tätige, gläubige Profis. Seelsorge, seelsorgerliche Begleitung, geistliche Begleitung usw. umfasst also ein breites Spektrum unterschiedlicher Qualifikationen und Methoden. Dabei kann man offensichtlich keine verbindlichen Qualitätsstandards setzen – die Wirkung von Gebet und Segnen, liebevoller Begleitung durch Freunde, Stärkung durch Texte und Lieder etc. entziehen sich weitgehend einer empirischen Überprüfung. Gleichwohl ist es sinnvoll, Standards für Schulungen und Ausbildungen in diesem Bereich zu beschreiben. Professionelle Psychotherapie oder fachkompetente Beratung kann also gleichzeitig Seelsorge sein, sollte es vielleicht idealerweise auch sein, muss es aber nicht immer notwendigerweise. Manchmal steht die Notwendigkeit der fachlichen Kompetenz so im Vordergrund, dass Beratung und Psychotherapie auch ohne Glaubensbezug wichtig und hilfreich, vielleicht sogar lebensrettend sein können. Wenn bei Beratung, Coaching, Supervision oder Mediation die geistliche Dimension integriert werden kann, wird die Hilfestellung umfassender, aber die fachliche Kompetenz steht in der Regel im Vordergrund.

4 Ein Blick über den Tellerrand Die juristischen und berufspolitischen Abgrenzungen von Psychotherapie, Bera­tung oder Seelsorge begründen sich nicht auf psychologischen oder humanwissenschaftlich fundierten klaren Bedingungen, sondern auf Regeln und Gesetzen, die innerhalb bestimmter Grenzen gelten. Sie stehen im Kontext gesell­schaftlicher und kultureller Gegebenheiten. So ist es in autoritären 46

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Staaten eher unüblich, Psychotherapie in Anspruch zu nehmen: die Furcht davor, dass Informationen aus dem Gesundheitswesen bei den Geheimdiensten landen, ist zu groß. Nur bei akutem psychiatrischen Bedarf wird fachärztliche Behandlung gesucht. Neurotische Störungen wie z. B. Ängste, Depression oder Zwänge dagegen werden selten in die Psychotherapie eingebracht, sondern bei anderen Helfern oder Heilerinnen besprochen. Das können Geistliche oder andere Vertraute aus dem persönlichen Umfeld sein, oft auch innerhalb der Familie. Andere Kulturen – z. B. in Ostafrika – habe einen reichen Schatz an oral tradierten, weisheitlichen Hilfsangeboten. Im Gegensatz zur westlichen Perspektive, die Afrika meist durch Mängellagen definiert, erleben sich Einheimische oft als reicher an Ressourcen im Umgang mit seelischen Nöten. Traditionen mögen nicht im Sinne einer westlichen Wissenschaft validiert sein, aber das macht sie noch nicht primitiv, okkult oder schädigend. Kulturelle Rituale regeln oft Streitigkeiten, Versöhnung und Wiedergutmachung, auch in familiären oder ehelichen Konflikten. Erziehungsberatung geschieht gegebenenfalls durch Pastorinnen oder Lehrer. Hier gibt es Dorfälteste, »Weise«, Pastorinnen und Naturheiler. Der Grund, warum Psychotherapie wenig genutzt wird, liegt aber weder an einem mangelnden Bedarf noch an der Angst vor Geheimdiensten, sondern an der Tatsache, dass professionelle Psychotherapie nur wenigen Menschen zugänglich und teuer ist. In anderen indigenen Kulturen – z. B. in manchen Regionen Südamerikas – ist die Gleichzeitigkeit verschiedener Strukturen Usus. So kann man dort wahrnehmen, dass Wunderheilerinnen, kirchliche Geistliche und medizinisch ausgebildete Kräfte parallel in Anspruch genommen werden. Man kann ja nie wissen – viel hilft vielleicht viel. Counseling, Counselling und Beratung Ein weiterer Begriff, der im deutschsprachigen Raum mit »Beratung« oft gleichbedeutend benutzt wird, ist der amerikanische Begriff »Counseling«. Im deutschsprachigen Kontext wird dieser allgemeine Beratungsbegriff auf die psychosozialen bzw. selbstreflektierenden Kontexte fokussiert und von anderen Beratungsfeldern (z. B. Finanzberatung, Rechtsberatung etc.) differenziert. Daher ist es sinnvoll, sich mit der US-amerikanischen Counseling-Praxis zu beschäftigen, um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen amerikanischen und deutschsprachigen Bedeutungsspektren des Begriffes zu verstehen. Ebenfalls nicht zu verwechseln ist Counseling mit dem britischen Verständnis von »Counselling« (mit zwei »l«), welches nicht gleichbedeutend ist. Beratung, Seelsorge und Psychotherapie

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Zur Lage in den USA Da die Zulassung und die beruflichen Qualifikationen Aufgabe der einzelnen Bundesstaaten sind, gibt es auch fünfzig verschiedene Regelwerke, die sich jedoch in ihren Grundvoraussetzungen mehr ähneln als zwischen den EU-­ Staaten. Ebenso existiert in den USA mehr staatenübergreifende Mobilität als innerhalb der EU. Trotzdem gibt es wichtige Unterschiede: Zum Beispiel sind dicht besiedelte und reiche Staaten wie Kalifornien meist strenger als dünn besiedelte Staaten wie Alaska oder ärmere wie Mississippi. Ein Vergleich zwischen den USA und Deutschland wäre insofern irreführend, als das Vergleichsobjekt die EU sein müsste. Nun sind in Europa Bedingungen und professionelle Standards teilweise sehr unterschiedlich. Behandlungs- und Beratungsangebote variieren, und niemand sollte überrascht sein, wenn sich die Bedingungen der psychosozialen Versorgungsangebote zwischen einer rumänischen Roma-Siedlung und einem Stockholmer Vorort erheblich unterscheiden. Im Vergleich zur EU sind die USA also zwar homogener, aber eben nicht so einvernehmlich geregelt wie in einem einzelnen Staat (z. B. in der Bundesrepublik Deutschland). Ökonomische Aspekte beruflicher Zulassungsbestimmungen Auch wenn die gesetzgebenden Organe am Ende entscheiden, gibt es treibende Kräfte in der Gesellschaft, die hinter den Gesetzesvorhaben stehen, z. B. Wählerinnen oder Lobbygruppen wie z. B. Ärzteverbände. In Deutschland und einigen anderen europäischen Ländern gibt es, international gesehen, eine Ausnahme: Psychotherapie wird von Krankenkassen bezahlt. Dabei erfolgt in Deutschland die Abrechnung und Zulassung über kassenärztliche Vereinigungen – somit werden die Zulassungsregeln von den Behandlern selbst bestimmt. Der Fuchs bewacht also die Gänse. Die Berufsinteressen von psychologischen und medizinischen Fachkräften scheinen bei den gesetzlichen Regelungen in erster Linie ausschlaggebend, nicht die Gesundheitsversorgung der breiten Bevölkerung. Angesichts der teilweise extrem langen Wartezeiten auf ambulante Therapieplätze und der hohen Kosten für die Allgemeinheit ist die enge Beschränkung der Zulassungen zur Psychotherapie, wie sie in Deutschland praktiziert wird, eher nicht im allgemeinen Interesse. Im Gegensatz zur Psychotherapie wird professionelle Beratung häufig durch kommunale Träger übernommen, wie. z. B. in Erziehungs- oder Suchtberatungsstellen, also mit Steuergeldern finanziert, und die ausführenden Profis sind nicht selbst über ihre Berufsverbände für die Verteilung der Gelder zuständig. Hier ist die Politik verantwortlich, und die Kosten-Nutzen-Rechnung wird politisch 48

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festgelegt. Ausbildungs- und Zulassungsschwellen liegen daher deutlich niedriger, ebenso auch die Vergütungen. Berufsbezogene Beratungsangebote wie Coaching und Supervision werden von Klientinnen selbst und in manchen Fällen durch Arbeitgeber übernommen, und es gibt keine Gesetze, die über Zulassungskriterien entscheiden. Wer zahlt, kann frei bestimmen. Von daher ist nicht überraschend, dass die Zulassungsbestimmungen zur Psychotherapie sehr restriktiv sind, für die kommunale Beratung eher ökonomisch bestimmt, und bei den berufsbezogenen Angeboten bestimmt der Markt, wer was darf und was es kosten kann. Das Land der »unbegrenzten Möglichkeiten« In den USA wird eine sehr viel größere Bandbreite professioneller Behandlungsmöglichkeiten praktiziert als in europäischen Staaten. Trotz aller politischen und gesellschaftlichen Unterschiede richten sich Beratung und Psychotherapie an Menschen, die in ihren psychologischen Gegebenheiten nicht so anders sind als Mitteleuropäer. Es besteht daher ein wesentlicher Unterschied zwischen der humanwissenschaftlichen Perspektive, in der sich die westlich geprägten Gesellschaften kaum unterscheiden, und der berufsrechtlichen, die erheblich anders ist. Kupfer et al.6 beobachten: »Zeigen sich […] im angloamerikanischen und insbesondere im großbritannischen Sprachraum weniger ausgeprägte Abgrenzungsdiskurse, ist das Verhältnis von Psychotherapie und Beratung in den Fachdiskussionen hierzulande ein prekäres Thema.« Forschung zur seelischen Gesundheit, zur Störungsentwicklung und Wirkung von unterschiedlichen Verfahren zeigen präventive, heilsame und destruktive Prozesse in allen Bereichen des Lebens. Die deutsche juristische Definition für Psychotherapie und die Abgrenzung beraterischer Kompetenz zu Heilbehandlungen wirken jedenfalls im internationalen Vergleich eher künstlich und humanwissenschaftlich unbegründet. Es ist klar, dass viele Berufe in der Pädagogik, Sozialarbeit, Gesundheitspflege, Psychologie oder Medizin emotionale Störungen feststellen, lindern und (hoffentlich!) wissenschaftliche Methoden anwenden, die auch im Rahmen psychotherapeutischer Behandlungen zum Einsatz kommen können. Das ist dann zwar eigentlich verboten, aber de facto kann man heilsame Beziehungen eben nicht verbieten. Glücklicherweise. 6 Annett Kupfer/Sandra Wesenberg/Silke Birgitta Gahleitner/Frank Nestmann: Beratung und Psychotherapie. Aktuelle Entwicklungen im Spannungsfeld von Abgrenzung und fruchtbarer Kooperation. Tübingen 2021, S. 12.

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Wer zahlt die Rechnung? Wie ist das in den USA? Ohne allgemeine Krankenversicherungspflicht sind – besonders für psychotherapeutische Behandlungen – viele Personen gar nicht versichert, einige über das betriebliche Gesundheitswesen ihrer Arbeitgeber abgedeckt und nur wenige sind privat versichert. Der Regelfall ist also, dass psychotherapeutische Behandlungen ganz oder teilweise selbst bezahlt werden müssen. Die meisten Klienten nehmen zur Psychotherapie bei psychischen Störungen die Dienste kommunaler oder gemeinnütziger Beratungsstellen (mental health services = Dienste für seelische Gesundheit) in Anspruch, die aber ebenfalls Erziehungs-, Paar-, Familien- oder Suchtberatung durchführen und die in der Regel gegen eine Kostenbeteiligung angeboten werden. Damit entsteht ein Bedarf an qualifizierten Behandlungsmöglichkeiten durch Personen, die gut ausgebildet, aber kostengünstiger als Psychiaterinnen oder klinische Psychologen sind. Hierzu zählen als Anbieter psychotherapeutischer Dienste eine Vielzahl auf Masterebene ausgebildete Therpeutinnen, wie z. B. in den Berufen der »Licensed Clinical Social Work« (Klinische Sozialarbeit), »Licensed Clinical Nurse Practice« (Klinische Gesundheits- und Krankenpflege), »Licensed Marriage, Family, and Child Counseling« (Paar-, Familien- und Erziehungsberatung), oder »Licensed Mental Health Counseling«. Sie alle verstehen sich als »Psychotherapeuten«, und manche eröffnen irgendwann als selbstständige Behandlerinnen eine private Praxis. Meistens haben sie ihren Ruf als »gute Therapeutinnen« in einer kommunalen oder gemeinnützigen Beratungsstelle erworben und oft auch ein Klientel, das sie in ihre Praxen mitnehmen. In allen 50 Staaten ist Psychotherapie ohne Zulassung untersagt, aber für die oben genannten und einige andere Berufsgruppen sind Zulassungen möglich. Counseling ist also meistens Psychotherapie und Psychotherapie ist oft Counseling. Voraussetzungen sind ein Studienabschluss auf Masterebene mit einer Spezialisierung in psychotherapeutischer Behandlung sowie viele hundert Stunden supervidierter Praxis. Allgemein kann man sagen, dass US-amerikanische Ausbildungsangebote praxisorientierter sind. Die praktischen Ausbildungen zur Psychotherapie sind in den universitären Curricula integriert (vergleichbar mit dem Studium der Medizin in Deutschland). »Psychotherapeutische Zusatzausbildungen« im Anschluss an ein Studium sind daher in den USA unbekannt, regelmäßige Weiterbildungen für die Praxis – ja nach Staat und Beruf in unterschiedlichem Umfang – vorgeschrieben. Wie in den USA üblich erheben die Hochschulen hohe Studiengebühren, und wie bei vielen Zusatzausbildungen in Deutschland sind Hochschulen in den USA kommerzielle Unternehmen. Von daher besteht zwischen Studium und Zusatzausbildung kein wesentlicher Unterschied. 50

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Im Sinne der praktischen Berufsausübung werden die Begriffe »Psycho­ therapy« und »Counseling« synonym verwendet. Die Behandlerinnen gehören zum System der Gesundheitsversorgung und sind berechtigt, über die Beihilfen der staatlichen Wohlfahrt/Sozialhilfe (Medicare/Medicaid) sowie der Versorgung für Militärangehörige (Veterans Administration) abzurechnen. Die Mehrheit der Bevölkerung zahlt jedoch selbst. Paradoxerweise ist das oft mit einer positiven Konnotation von Psychotherapie verbunden: Wer sie in Anspruch nimmt, kann und will es sich leisten – man kann also durch Inanspruchnahme von Psychotherapie den eigenen Status demonstrieren. Während also in der Münchner Schickeria vermutlich selten über die eigene psychotherapeutische Behandlungsbedürftigkeit gesprochen wird, gehört es in der »High Society« in New York oder Los Angeles schon eher dazu, auf der Cocktailparty mit den besten und teuersten Psychotherapeuten zu reüssieren, was sich auch in Hollywood-Produktionen zeigt. Psychotherapie ist ein beliebtes Unterhaltungsthema. Clinical Psychology und Psychiatry – die »hohe Hürde« in den USA Was in Deutschland die streng regulierte »Psychotherapie« ist, entspricht in den USA eher den Tätigkeitsbereichen »Clinical Psychology« bzw. »Psychiatry«. Klinische Psychologie und Psychiatrie haben ein deutlich höheres Niveau in Ausbildung und Bezahlung als die oben genannten Gesundheitsberufe. Der akademische Abschluss »Ph. D.« oder »Psy. D.« für Psychologinnen oder »M. D.« für Psychiater ist Grundvoraussetzung für die Ausübung der privaten Praxis als »Clinical Psychologist« bzw. »Psychiatrist«. Wie in Deutschland sind Psychiatrists immer zuerst einmal Ärzte. Mit entsprechenden Weiterbildungen ist in vielen Staaten der USA auch Psychologinnen die Verschreibung von Psychopharmaka gestattet. Des Weiteren kommen auch hier zur psychotherapeutischen Spezialisierung neben einer theoretischen Ausbildung mehrere tausend Stunden supervidierter Praxis und das Absolvieren von weiteren staatlichen Examina (je nach Staat teilweise sehr unterschiedlich). Die »Lizenz« muss auch hier, wie bei anderen therapeutischen Berufen, aufrechterhalten mit Fort- und Weiterbildungen werden, wobei in einzelnen Staaten auch bestimmte Themen verpflichtend sein können (z. B. Schulungen zur Therapie bei Migration, zu geschlechtergerechten oder rassismussensiblen Aspekten oder zur Einbeziehung spiritueller Ressourcen der Klienten). Der professionelle Umgang ist formaler: Im Gegensatz zu den psychotherapeutischen Beraterinnen auf Masterniveau, bei denen in der Regel der Vorname benutzt wird, ist die Anrede »Doc« oder »Doctor« mit Nachname oder teilweise Titel und Vorname üblich (»Dr. Bob«). In stationären Einrichtungen werden nur diese Berufsgruppen LeitungsaufBeratung, Seelsorge und Psychotherapie

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gaben wahrnehmen, so auch in Forschung und Wissenschaft. Verständlicherweise sind ihre Honorare bzw. Gehälter deutlich höher als die der auf Masterebene ausgebildeten Therapeuten. Die »American Psychological Association« (APA) definiert den Aufgabenbereich der »Klinischen Psychologie« umfassend. Sie beinhaltet Kompetenzen für alle Bereiche seelischer Störungen, Alters- und Bevölkerungsgruppen und Diversitäten sowie eine fundierte Kenntnis der Psychopathologie. Insbesondere gehören die Konsultation in Beratungsstellen und Institutionen sowie die Ausbildung und Supervision der anderen Behandlerinnenberufe zu ihren Aufgaben. Counseling und Psychotherapy – gleicher Beruf, andere Ansätze Sowohl auf dem »hohen Niveau« der Clinical Psychology und Psychiatry als auch in der normalen therapeutischen Praxis sind die Begriffe »Psychotherapy« und »Counseling« berufsrechtlich austauschbar. Wenn es um die Behandlung krankheitswertiger seelischer Störungen geht, drückt sich aber in der Begrifflichkeit durchaus ein unterschiedliches Psychotherapieverständnis aus. Im Bereich humanistischer, besonders personenzentrierter Psychotherapie, ist in der Regel die Rede von »Counseling«. Carl R. Rogers und der klientenzentrierte/ personenzentrierte Ansatz waren hier prägend. Bei diesen Ansätzen ist wichtig, dass möglichst wenig Machtgefälle in der Beziehung von Counselor und Klientin besteht. Die Tatsache, dass es im Englischen den Begriff »Klient«, »Client«, auch in anderen Kontexten gibt (vom Friseur bis zur Anwaltskanzlei), ebenso »Counselor« (von der Betreuung Jugendlicher im Sommercamp bis zur Finanzoder Steuerberatung), macht diese Begriffe eher neutral, was die Macht und den Status angeht. Die Behandlung seelischer Not wird durch sie entstigmatisiert. In der medizinischen Psychiatrie, Tiefenpsychologie und klinischen Verhaltenstherapie redet man dagegen eher von »Patients« und von »Psychotherapy«. Hier wird auch zum Ausdruck gebracht, dass Ausführende der Psychotherapie hochqualifizierte Expertinnen sind, die für Behandlung verantwortlich sind. Im Englischen ist die doppelte Bedeutung von »patient« (als Adjektiv »geduldig«, als Substantiv »Patient«) stimmig mit dieser Bezeichnung: Patienten lassen sich geduldig behandeln, Klienten müssen und sollen selbst eigenverantwortlich handeln. Der internationale Vergleich macht deutlich, dass die Unterscheidung und die Grenzen zwischen den Tätigkeitsfeldern Psychotherapie, Beratung, Counseling und teilweise Pädagogik berufsrechtlicher Natur sind. Es gibt keine wissenschaftlich begründeten Kriterien, die diese Bereiche im Wesentlichen unterscheiden, sondern juristisch mehr oder weniger eindeutig definierte 52

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Bedingungen für die Ausübung dieser Tätigkeiten. Eine Ausnahme ist die klar definierbare Behandlung mit Psychopharmaka, die in Deutschland ausschließlich ärztlicherseits erfolgen darf; in den USA auch durch entsprechend ausgebildete klinische Psychologinnen. Ob die strenge berufsrechtliche Einschränkung des deutschen Psychotherapiebegriffes der Qualität der gesundheitlichen Versorgung dient, bleibe dahingestellt. Es gibt keine Effektivitätsstudien, die eine höhere oder gar einzigartige Wirkung der Psychotherapie bei diesen Berufsgruppen nahelegt. Der Versuch, Scharlatanen das Handwerk zu legen, ist ehrbar, aber vermutlich nicht besonders effektiv. In der »alternativen Medizin« kann mit einer Heilpraktikergenehmigung so ziemlich jede alles machen. Diesen unregulierbaren Markt im weiten Feld von Esoterik, Wahrsagerei und alternativer Medizin gibt es erwartungsgemäß auch in den USA. Die vergleichbar laxe Regulierung für Psychotherapy in den USA entspricht dagegen wirtschaftlichen Bedingungen, abgesehen davon, dass die US-amerikanische Kultur insgesamt weit weniger regulierungsfreudig ist als die deutsche. In der diesbezüglichen Kulturdimensionen »Unsicherheitsvermeidung«7 sind beide Kulturen sehr verschieden. Der internationale Vergleich legt nahe, dass die Unterschiede und Gemein­ samkeiten von Counseling, Beratung und Psychotherapie in erster Linie nicht inhalt­lich, sondern im gesellschaftlichen, beruflichen und juristischen Kontext begründet sind.

5 Fazit für die Praxis integrativer Beratung Auch wenn gute Beratung und Seelsorge der Erhaltung der Gesundheit dient und bei der Wiederherstellung des Wohlbefindens eine wichtige Rolle spielen kann, ist es wichtig, die Bereiche zu differenzieren. Obwohl und gerade weil Beratung sich teilweise der gleichen Methoden wie die Psychotherapie bedient, ist ihr Ziel in der Regel nicht Genesung, sondern Entfaltung. Und auch wenn Entfaltung, emotionale Stabilisierung und Genesung nahtlos ineinander übergehen, hat Beratung eine eigene Berechtigung und in manchem auch eine größere Bandbreite an Möglichkeiten. Das gilt insbesondere, wenn die Integration der spirituellen Ressourcen auch seelsorgerliche Methoden nahelegt, die in einer weltanschaulich neutralen Psychotherapie nicht angemessen sind – z. B. die Verwendung von Bibelexten oder geistlichen Liedern in der Trauerbewältigung, den Zuspruch der Vergebung bei Konflikten oder den Zuspruch eines Segenswortes. 7 Siehe https://www.hofstede-insights.com/product/compare-countries/ (Zugriff am 18.07.2022).

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Literatur Holger Eschmann: Theologie der Seelsorge. Grundlagen – Konkretionen – Perspektiven. Neukirchen-­ Vluyn 2000. Michael Herbst: beziehungsweise. Grundlagen und Praxisfelder evangelischer Seelsorge. Neukirchen-Vluyn 2012. Annett Kupfer/Sandra Wesenberg/Silke Birgitta Gahleitner/Frank Nestmann: Beratung und Psychotherapie. Aktuelle Entwicklungen im Spannungsfeld von Abgrenzung und fruchtbarer Kooperation. Tübingen 2021. Manfred Seitz: Erneuerung der Gemeinde. Gemeindeaufbau und Spiritualität. Göttingen 1985. Rolf Sons: Seelsorge zwischen Bibel und Psychotherapie. Die Entwicklung der Seelsorge im letzten Vierteljahrhundert. Stuttgart 1995.

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Um einen einfachen Weidezaun zu bauen, braucht man nur zwei Hämmer. Einen großen für die Holzpfosten und einen kleinen für die Nägel. Je komplexer das Projekt, desto mehr Werkzeuge und Fähigkeiten sind gefragt. Für den Hausbau braucht man viele große und kleine Werkzeuge, Zimmerleute, Maurer, Elektrikerinnen, Klempner usw. – und eine Bauleitung, die das Ganze koordiniert. Noch weitaus komplexer als ein Haus sind Menschen, individuell und in ihren systemischen Bezügen. Gute Beratung braucht Tools und Kompetenzen aus unterschiedlichen Bereichen und ein gut koordiniertes (inneres) Team auf Seite der Beratenden.

Integration: aus Puzzlestücken Bilder zaubern Ulrich Giesekus

Dass die Welt insgesamt kurzlebiger, unsicherer, komplexer und widersprüchlicher geworden ist, stellen viele Beobachtende aus Wirtschaft, Soziologie oder Humanwissenschaften fest. Manchmal wird dafür das Akronym »VUCA« verwendet. Dieses Kunstwort geht zurück auf die Führungstheorien von Warren Bennis und Burt Nanus und steht als Abkürzung für die englischen Übersetzungen der Begriffe Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität (volatility, uncertainty, complexity, ambiguity).1 Zusammengefasst kann man sagen, dass wir die Welt immer weniger eindeutig steuern, begreifen und deuten können. Veränderungen und Komplexität machen es notwendig, soweit wie möglich Ideen, Menschen und Tendenzen zu verbinden. Wir müssen lernen, widersprüchliche Ideen zusammen zu sehen. Wir müssen lernen, Fremdes und Neues in unsere Gedankenwelt aufzunehmen. Wir müssen lernen, eigene Deutungen zu finden und dabei die anderen Deutungen aus anderer Perspektive stehen zu lassen. Alle diese Prozesse kann man auch mit dem Begriff »Integration« zusammenfassen. Unsere schnelllebige, vielschichtige und komplizierte Welt erfordert, dass wir neue und alte Erfahrungen miteinander verbinden, dass wir Vielfalt nicht nur aushalten, sondern als eine Art Reichtum erleben. Der Reichtum an 1 Warren Bennis/Burt Nanus: Leaders. The strategies for taking charge. New York 1985.

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Ideen, Normen, gesellschaftlichen und persönlichen Unterschieden ist wunderbar, aber nur zu handhaben, wenn wir es schaffen, das auch alles »unter einen Hut« bzw. in einen Kopf zu bekommen. Wir müssen Meister der Integration werden, sonst fliegt uns diese Welt in Fetzen um die Ohren. Das gilt natürlich ganz besonders für alle psychosozialen Tätigkeitsfelder. Dort prallen wie in wenig anderen Bereichen interkulturelle, interpersonale, intrapersonale, multidisziplinäre, traditionelle und innovative Kräfte aufeinander. Das erzeugt eine ganz besondere Energie. Wer mit der eigenen Person arbeitet und anderen in ihren sozialen Bezügen hilfreich begegnen will, muss diese Energie nutzen und darf nicht gegen sie ankämpfen. Natürlich ist es einfacher, in klaren und eindeutigen »Wahrheiten« zu denken, Menschen und Gesellschaften in Kategorien einzuordnen und sie sich so verständlich zu machen und genau zu wissen, was richtig und was falsch ist. Die Sache hat nur einen Haken: Unsere Realität macht da nicht mit und bleibt »VUCA«, ob wir wollen oder nicht. In den vergangenen 70 Jahren hat in der Beratung, wie auch in der Psychotherapie, ein erheblicher Wandel stattgefunden. In den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts gab es »Schulen« – eindeutige Ansätze, die sich scheinbar widersprachen und nicht kompatibel waren. Beratung als von der Psychotherapie gelöstes und emanzipiertes professionelles Hilfsangebot gab es kaum, sie hatte keine eigenen Ansätze und bediente sich dann zunächst hauptsächlich psychotherapeutischer Methoden. Die erste große Schule war, ausgehend von Sigmund Freud, die Psychoanalyse. Auch ihre Anhänger waren schon bald zerstritten und bildeten viele Splitterparteien. »Dissidenten« wurden regelmäßig aus Fachgesellschaften ausgeschlossen und gründeten dann selbst neue. Der gemeinsame Feind – die behavioristisch und auf psychologischen Lerntheorien begründete »zweite Schule« der Verhaltenspsychologie – einigte diese »Glaubensgemeinschaften«, allerdings nur in der Ablehnung dieser zweiten großen Schule – der gemeinsame Feind verbindet. Vertreterinnen tiefenpsychologischer Ansätze warfen den an der Lerntheorie orientierten Verhaltenstherapeutinnen vor, an Symptomen herumzudoktern und dabei die wirklichen Probleme zu kaschieren. Diese wiederum bezichtigten die Tiefenpsychologie, unwissenschaftlich, spekulativ und wirkungslos zu sein und daher jahrelange und sündhaft teure Behandlungen anzubieten. Eine neue Mitspielerin auf dem Markt der Hilfsangebote war dann die »dritte große Schule« der humanistischen Ansätze, allen voran die personenzentrierte Beratung und Therapie. Sie behauptete, dass die Expertise und die Techniken der bisherigen Ansätze gar nicht eigentlich wirkten, sondern leidglich die Beziehung 56

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selbst heilsam sei – »Der Arzt ist die Medizin«. Der Gründer, Carl R. Rogers, wurde zuerst von Vertretern beider Richtungen als »Simpel« verunglimpft. Auch sein neuer Ansatz zur Erforschung der psychotherapeutischen Wirksamkeit von Gesprächen mit aufwändigen Tonaufnahmen wurde anfänglich belächelt. Eine Therapiesitzung, die aufgenommen werde, sei ja nicht mehr echt und damit irrelevant. Diese drei großen Richtungen forderten also eine Art Bekenntnis zur eigenen Schule, ähnlich wie es Religionsgemeinschaften tun. Als dann in den 1960erJahren die vierte große Schule – der systemische Ansatz – auf die Bühne trat, lief es schon etwas anders ab. Hauptschwerpunkt dieses neuen Ansatzes war, dass die eigentlichen Behandlungsfelder nicht mehr im Individuum gesucht wurden. »Der Patient« war nicht mehr die Person, sondern die Beziehungsmuster und Vernetzungen, die in sozialen Systemen wirksam sind. Das war kompatibel und mit den eigenen Vorstellungen aller großen Schulen vereinbar. Der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter veröffentlichte z. B. 1970 das Buch »Patient Familie«2. Alle drei großen Schulen adaptierten wesentliche systemische Theorien und bauten sie in ihre jeweiligen Menschenbilder und Behandlungsansätze ein. So wurde der »systemische Ansatz« tatsächlich von den bestehenden Schulen absorbiert. Man konnte zwar die anderen Schulen wie bisher als irrelevant betrachten, doch es gab etwas gemeinsames Neues: das systemische Denken. Ich kam 1976 mit 19 Jahren als Zivildienstleistender in eine psychotherapeutische Rehabilitationsklinik, wo ein sozialpsychiatrisches, familientherapeutisches Vorgehen praktiziert wurde. Gespräche mit Familien, Paaren und Gruppen wurden unter Supervision hinter Einwegspiegeln geführt, und das gesamte Team (einschließlich der Zivis) gehörte zum therapeutischen System. Das war bereits ein Paradigmenwechsel, bedeutete es doch, dass man nicht jahrelange psychoanalytische Ausbildung absolviert haben musste, um therapeutisch wirksam sein zu können. Trotzdem wurde die personenzentrierte Beratung und Therapie, die eben jene personale Wirkung (im Gegensatz zur Expertenwirkung) in den Mittelpunkt stellt, dort kaum oder nur negativ wahrgenommen und sicher nicht als ernsthafter Beitrag zur Wissenschaft gedeutet. Im Vergleich zum englischen Sprachraum, besonders in den USA, war die Psychotherapie in Deutschland vergleichsweise spät entwickelt. Von 1933 bis 1945 gab es die somatische Psychiatrie, doch die sogenannte »jüdische Wissenschaft« aus Wien wurde nicht praktiziert. In der Nachkriegszeit waren die zentralen gesellschaftlichen Fragen, besonders die Auseinandersetzung mit dem National2 Horst-Eberhard Richter: Patient Familie. Entstehung, Struktur und Therapie von Konflikten in Ehe und Familie. 2. Aufl. Gießen 2012.

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sozialismus, oft tiefenpsychologischer Natur. Prominente Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytiker wie Alexander Mitscherlich oder etwas später Alice Miller beschäftigten sich mit der Psychologie autoritärer Strukturen und ihrer Entstehung.3 Es gab natürlich auch einen Nachholbedarf für die Entwicklung der Psychotherapie, deren renommierteste Vertreterinnen tiefenpsychologisch arbeiteten. Derweil entdeckten andere Länder, dass die tiefenpsychologischen Ansätze auf viele ihrer akuten Lebens- und Gesundheitsfragen keine ausreichenden Antworten gaben. Die massenhafte Rückkehr von traumatisierten Kriegsheimkehrern in die USA überforderte das bestehende System, und so wurde ein beispielloses Regierungsprogramm zur Weiterentwicklung psychologischer Behandlungen aufgesetzt. Während also in Deutschland die Psychotherapie erst entdeckt wurde, wurde sie in den USA bereits neu erfunden. Der Nabel der psychotherapeutischen Innovationen war nun nicht mehr in Wien oder Zürich, sondern beim »Mental Reasearch Institute« in Palo Alto, dem »Center for Studies of the Person« in San Diego oder dem »Esalen Institute« in Big Sur – allesamt in Kalifornien. Dass unterschiedliche Ansätze dann doch irgendwie alle Recht haben, wurde in den 1970er-Jahren in den USA zunehmend populär. Es begann eine Entwicklung hin zu einer allgemeinen psychotherapeutischen und beraterischen Qualifizierung, die sich aus verschiedenen Quellen nährt. Und es gab Brückenbauer – wie den Wiener Freud- und Adler-Schüler Viktor E. Frankl, dessen Ansatz (die Logotherapie) in den USA zu den humanistischen Ansätzen (also in die »dritte große Schule«) gezählt wird. In Deutschland zählt Frankl weiterhin zu den Tiefenpsychologen (also in die »erste große Schule«), was sich nicht zuletzt der Abrechnungsmöglichkeit von kassenzugelassenen tiefenpsychologischen Verfahren verdankt. Als ich 1978 ein Psychologiestudium an der Ostküste der USA (an der »University of Delaware«) begann, hatten dort die Grabenkämpfe zwischen den Schulen längst aufgehört. Im Rahmen eines Masterstudienganges mit dem Schwerpunkt Beratung (»Counseling«) wurden selbstverständlich tiefenpsychologische, verhaltenspsychologische und personenzentrierte Ansätze fröhlich und sehr pragmatisch gemischt. Und die noch relativ neue systemische Sichtweise war aus allen drei Perspektiven faszinierend. In der folgenden fünfjährigen prakti3 Siehe z. B. Alexander Mitscherlich/Fred Mielke: Das Diktat der Menschenverachtung. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Quellen. Heidelberg 1947 und Alice Miller: Am Anfang war Erziehung. Frankfurt a. M. 1980. In diesem Buch werden unter anderem die Ursprünge der nationalsozialistischen Diktatur im Kontext der Kindheit Adolf Hitlers und der damaligen »schwarzen Pädagogik« gesehen.

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schen Weiterbildung und Promotion als klinischer Psychologe an der »US International University« in San Diego war das gar nicht anders denkbar. Zu den Professoren dieser Hochschule gehörte unter anderem der tiefenpsychologische Familientherapeut James Framo, ebenso wie Viktor E. Frankl und zu früherer Zeit Carl R. Rogers. Ein Studiengang mit dem Schwerpunkt »Suchtbehandlung« arbeitete selbstverständlich mit verhaltenspsychologischem Schwerpunkt. Als ich in meiner Dissertation die Paardynamik suchtkranker Paare (systemisch), dabei die Rolle der Herkunftsfamilie (tiefenpsychologisch), der Attributionsstile (kognitiv-verhaltenstherapeutisch) und der Empathiestile (personenzentriert), untersuchte, hat sich niemand gewundert. Carl R. Rogers wurde – durch einige glückliche Zufälle – zu einem väterlichen Freund und Begleiter und nutzte seine guten Kontakte mit dem kognitiven Verhaltenstherapeuten und Forscher Martin E. P. Seligman, um mir die Nutzung seiner neu entwickelten und noch nicht veröffentlichten Inventare zu sichern. Auch die Begründerin der systemischen Familientherapie, Virginia Satir, wurde gern gesehen und zu Trainings eingeladen, an denen ich teilnehmen konnte. Man kannte sich, mochte sich und hatte verstanden: Wir ergänzen uns. Die Psychologie hatte den Schritt von der Moderne mit ihren absoluten Wahrheitsansprüchen zur Postmoderne und dem Wissen um subjektive Wirklichkeitskonstrukte geschafft. Was in den 1970er-Jahren aber für alle Beratungs- und Behandlungsansätze trotzdem noch stimmte, war das Fremdeln gegenüber allen biologischen, medizinischen und somatischen Bezügen. Und umgekehrt: Die Hirnforscher und Psychophysiologinnen belächelten die Behandlung durch Gespräche und sagten voraus, dass die Zukunft der Behandlung mit Medikamenten und sogar unterschiedlichen Eingriffen in das Gehirn gehöre. Das sollte sich jedoch bald ändern. Mit der Entwicklung von Abbildungsverfahren wie der Spektroskopie konnten zum ersten Mal Stoffwechselprozesse im lebenden Gehirn beobachtet werden. Diese zeigten überraschend deutlich, wie stark soziale Begegnungen die Hirnfunktionen beeinflussen. Man sah plötzlich schwarz auf weiß – oder besser noch in farbigen Hirnscans – dass z. B. Empathie im Angstzentrum enorme positive Effekte hat. Anstatt die Psychotherapie infrage zu stellen oder gar ad acta zu legen, stellte die Hirnphysiologie nun ihre Wirkung überzeugend dar. Aus der ehemaligen Feindschaft zwischen den Physiologen und den Psychologinnen wurde eine Liebeshochzeit – mit dem Ergebnis, dass körperliche und emotionale Prozesse in ihrer Verquickung wahrgenommen werden. Heute gibt es keine zeitgemäße Beratung oder Psychotherapie, die die körperliche Dimension außen vor lassen. Auch im deutschsprachigen Raum kam mit einer gewissen Verzögerung die Sinnhaftigkeit einer allgemeinen Psychotherapie und Beratung, die sich von Integration

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ideologischen Grabenkämpfen verabschiedet hat, ins Bewusstsein von Praxis und Forschung. Der Psychotherapieforscher Klaus Grawe hatte bereits viel Wirkungsforschung an einzelnen Ansätzen betrieben, als er 1994 zusammen mit Ruth Donati und Friderike Bernauer das Buch »Psychotherapie im Wandel – von der Konfession zur Profession« veröffentlichte.4 Diese Veröffentlichung war schnell in aller Munde und wurde ein echter Game Changer: Die psychotherapeutische Welt nahm zur Kenntnis, dass es Wirkfaktoren gibt, die bei unterschiedlichen Zielen mehr oder weniger wirksam sind und die in allen Schulen unterschiedlich praktiziert werden. Bis wissenschaftlich anerkannte Tatsachen dann auch ihren Weg in die allgemeine Praxis und Gesetzeslage finden, dauert. »Nur« 25 Jahre später wurde z. B. in Deutschland ein neues Psychotherapiegesetz (2021) beschlossen, in dem ein generisches Psychotherapiestudium möglich wurde. Die bisherige Zugangsregelung, dass nur ein abgeschlossenes Medizin- oder Psychologiestudium mit einer zusätzlichen Weiterbildung in einem spezifischen Ansatz die Praxis ermöglicht, zementierte die schulen­zentriete Behandlung. Die Möglichkeit zur Kassenabrechnung erfolgt bis heute immer noch nur mit einer entweder tiefenpsychologischen oder verhaltenstherapeutischen Zusatzausbildung, eine geradezu antiquierte Praxis angesichts von 50 Jahren Psychotherapieforschung und der nachgewiesenen Effektivität vieler anderer Verfahren. Natürlich geht es bei der Eingrenzung nicht wirklich um das Wohl der Patientinnen oder um die Qualität der Behandlung, sondern um die Bewahrung von Pfründen, also um Macht und Zugang zu finanziellen Mitteln. Bis in die 1990er-Jahre kam es also in der Psycho-Szene zu einer Integration der tiefenpsychologischen, verhaltenspsychologischen, humanistischen, seelischen und körperlichen Perspektiven.

1 Integration der spirituellen und psychischen Dimensionen Eine wesentliche weitere Änderung in Forschung und Praxis der Psychologie brachte dann – etwa um die Jahrtausendwende – die sogenannte »Positive Psychologie«. Im 20. Jahrhundert haben Psychotherapeuten ein eher schlechtes Bild von der ungesunden Wirkung des Glaubens gezeichnet. Das mag daran liegen, dass sie durch die therapeutische Praxis oft mit seelisch gestörten Menschen konfrontiert wurden. Diese Wahrnehmung ist aber negativ selektiv: Man 4 Klaus Grawe/Ruth Donati/Friederike Bernauer: Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession. Göttingen 1994.

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erlebt häufig, wie die religiöse Dimension zur Zementierung lebensfeindlicher Einstellungen benutzt wird. Dass auch lebensfördernde Einstellungen durch religiöse Haltungen gestützt werden, dass also Glaube von vielen gesunden Menschen als eine wichtige Quelle ihres Wohlseins erlebt wird, ist aus diesem Blickwinkel weniger sichtbar. So sah Sigmund Freud die Religion als »kollektive Neurose« an. Die Kultur versucht, Kontrolle auf den einzelnen Menschen auszuüben, und erfindet zu diesem Zweck die Religion. Religion dient der moralischen Kontrolle und der Verschleierung: »Göttliche Aufgabe wird es nun, die Mängel und Schäden der Kultur auszugleichen, die Leiden in acht zu nehmen, die die Menschen im Zusammenleben einander zufügen, über die Ausführung der Kulturvorschriften zu wachen, die die Menschen so schlecht befolgen. […] So wird ein Schatz aus Vorstellungen geschaffen, geboren aus dem Bedürfnis, die menschliche Hilflosigkeit erträglich zu machen, erbaut aus dem Material der Erinnerungen an die Hilflosigkeit der eigenen und der Kindheit des Menschengeschlechts.«5 Auch der Begründer der Rational-Emotiven Verhaltenstherapie (REVT), Albert Ellis, hatte für Religion nicht viel mehr als Spott übrig. Er sah in ihr eine kindische Abhängigkeit, aufrechterhalten durch irrationale und unvernünftige Überzeugungen, die in der Folge zu dysfunktionalen Verhaltensmustern führen würden. Besonders im Kontext sexualmoralischer Vorstellungen sah Ellis die Religion als Mittel zu lustfeindlicher Unterdrückung einer gesunden sexuellen Entfaltung.6 Der Gründer der Gesprächstherapie, Carl R. Rogers, war zwar ursprünglich sehr religiös und studierte zuerst Theologie – distanzierte sich dann aber zunehmend von den Wahrheitsansprüchen der Religionen und fand sich oft in der Gegnerschaft zu Kirchen und religiösen Organisationen.7 Wenngleich er gegen Ende seines Lebens die positive Rolle seiner eigenen Spiritualität betonte und zu seinen engen Mitarbeitenden auch Geistliche gehörten, sah Rogers die Religion, besonders in jeder institutionalisierten Ausprägung, insgesamt sehr kritisch und für die Selbstverwirklichung des Menschen hinderlich.8 5 Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion. In: Gesammelte Werke, Bd. 14. London 1927/1948, S. 325–380. 6 Albert Ellis: Reason and emotion in psychotherapy. Oxford 1962. 7 Carl R. Rogers: On becoming a person. A therapist’s view of psychotherapy. London 1961. 8 Im persönlichen Gespräch mit dem Autor, in Diskussionsbeiträgen und Vorträgen in San Diego 1983–1987.

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Trotzdem hat sich in der westlich geprägten Psychotherapie und Psychiatrie inzwischen ein deutlicher Wandel der Einstellungen zur Religion gezeigt. Die fast durchgängige Pathologisierung der Religiosität, z. B. durch wichtige Gründer der Psychotherapie, ist Vergangenheit. Die gegenwärtige Gesundheitsforschung schreibt religiösen Ressourcen einen hohen positiven Stellenwert zu. Ein Problem bei der Auswertung der bestehenden Forschungen ist jedoch, dass es keinen Konsens darüber gibt, wie »Spiritualität« bzw. »Religiosität« zu definieren ist. So werden eine Vielzahl unterschiedlicher Konstrukte betrachtet: von einer allgemeinen inneren Einstellung, bei der es ein »höheres Wesen« geben kann, aber nicht muss (z. B. »Ich finde Wohlbefinden, Sinn oder Orientierung durch Meditation«), bis hin zu einer sehr spezifischen Religiosität, die sich in der Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft und in religiösen Verhaltensmustern zeigt (»Ich besuche Gottesdienste und bete regelmäßig«). Es ist also möglich, z. B. die Liebe zur Natur als spirituelle Erfahrung zu sehen (»Meine Kirche ist der Wald«) oder Religiosität an einem Bekenntnis zu einer Konfession zu messen. Inzwischen zeigen viele Therapeutinnenen und Forscher eine sehr viel positivere Sicht religiöser Einflüsse als noch in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Maßgeblich für diese neue Sichtweise sind vermutlich zum einen die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschungen in verschiedenen Humanwissenschaften, zum anderen die generelle Wende zur »positiven« Forschung: Durch die Beschäftigung mit gesunden, starken, widerstandsfähigen Menschen zeigen sich die Ressourcen der Gesundheit noch deutlicher, als es in der »negativen« Forschung geschieht. Der Psychologe Michael Utsch fasst in »Psychologie Heute« zusammen: »Für die veränderte Haltung der Psychologie und Psychotherapie zur Religion ist der Gesinnungswechsel des bekannten Psychoanalytikers Tilmann Moser exemplarisch. 1976 veröffentlichte Moser seinen Bestseller ›Gottesvergiftung‹, in dem er mit dem strafenden Richtergott seiner Kindheit abrechnete. Sein Gottesbild zeigte einen gewalttätigen und unbarmherzigen Patriarchen, der über den absoluten Gehorsam seiner Untergebenen wacht. Durch empirische Befunde, die unmissverständlich einen positiven Einfluss des Glaubens auf die Gesundheit belegen, änderte sich seine Einstellung. Heute kann Moser bestimmte religiöse Glaubenshaltungen als eine Quelle von Kraft und seelischem Reichtum würdigen.«9 9 Michael Utsch: Spirituelle Psychotherapie Modetrend oder Modell mit Zukunft? Psychologie Heute, 2008/2, 52–55.

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Seit den 1950er-Jahren gab es in der gesamten westlichen Welt unzählige empirische Untersuchungen, die ergeben haben: Religiös gläubige Menschen sind gesünder, glücklicher, leben länger und haben weniger zwischenmenschliche Störungen als der Bevölkerungsdurchschnitt. So zeigt z. B. eine Studie der amerikanischen Entwicklungspsychologin Emmy Werner, die 550 Männer jahrelang wissenschaftlich begleitet hat, dass es eine erhebliche Anzahl von Personen gibt, die als sogenannte »Risikokinder« aufgewachsen sind und trotzdem rundherum lebenstüchtig werden.10 Ein Ergebnis dieser Studie ist, dass es wichtige Bezugspersonen geben muss, die die fehlenden gesunden Elternbindungen ersetzen können. Das sind häufig Mitglieder einer Glaubensgemeinschaft, die in einer Art Großfamilie fehlende familiäre Bindungen ersetzen können. Bei einer besonders gefährdeten Untergruppe dieser »Glück-im-Unglück«-Lebenskünstlerinnen gab es in der Teenagerzeit ernste Probleme, aber als junge Erwachsene lebten sie ein gutes Leben. Werner stellt dazu fest: »Der Beitritt zu einer Religionsgemeinschaft, die ihnen Struktur, das Gefühl für Gemeinschaft und die Gewissheit der Erlösung vermittelte, war für viele Jugendliche mit Problemen ein wichtiger Wendepunkt im Leben.«11 Religion ist also für viele Menschen ein wichtiger Faktor seelischer Gesundheit. Das gilt für viele Religionen mit der Einschränkung, dass angstbesetzte und streng restriktive religiöse Ausprägungen die Glaubenspraxis zum Schadensfaktor werden lassen. Tugenden wie Weisheit, Mut, Gerechtigkeit, Liebe und Mäßigung – die in religiösen Kontexten vermittelt werden – helfen Menschen, gut zu leben.12 Der Glaube selbst bietet vielen Menschen offensichtlich emotionale Entlastung, moralische Orientierung, soziale Unterstützung und die Möglichkeit für eine positivere Sicht auf die eigenen Lebensumstände als schicksalhafte Deutungen. Die vielleicht umfangreichste europäische Untersuchung zum Thema »Glaube und Gesundheit« ist eine Langzeitstudie von Ronald Grossarth-­Maticek, bei der 36.814 ältere Personen über mehr als 20 Jahre lang wissenschaftlich begleitet wurden.13 Grossarth-Maticek untersuchte neben vielen anderen Faktoren auch das persönliche Glaubenserleben und konnte zeigen, dass der Glaube mit großem Abstand vor allen anderen Faktoren den weitaus größten Anteil zur körperlichen und emotionalen Gesundheit beitragen kann. Insgesamt fanden die Forscher 10 Emmy E. Werner: Risiko und Resilienz im Leben von Kindern aus multiethnischen Familien. In: Handbuch Resilienzförderung. Wiesbaden 2011, S. 32–46. 11 Werner 2011, S. 39. 12 Martin E. P. Seligman: Der Glücks-Faktor. Warum Optimisten länger leben. München 2003. 13 Ronald Grossarth-Maticek: Systemische Epidemiologie und präventive Verhaltensmedizin chronischer Erkrankungen. Strategien zur Erhaltung der Gesundheit. Berlin/New York 1999.

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15 Faktoren – einer davon die erbliche Veranlagung, an der man nichts ändern kann –, die anderen 14 sind jedoch verhaltensbedingt. Sie liegen im körperlichen, psychologischen, sozialen und spirituellen Bereich. Was Grossarth-Maticek »spontan emotionale Gottesbezogenheit« nennt, ist ein Glaube, der ohne äußeren Druck und nicht aus Angst gelebt wird (»spontan«) und der Auswirkungen auf die emotionale Befindlichkeit hat (»emotional«). Mit »Bezogenheit« ist eine Beziehung gemeint, die identitätsstiftend wirkt, also ähnlich der Eltern-Kind-Beziehung zur Definition des eigenen Seins beiträgt. Diese Art des persönlichen Glaubens ist unabhängig von anderen Faktoren nachweisbar das mit Abstand Beste, was man für sich tun kann. In anderen Worten: Menschen, die auf diese Art gläubig sind, sind nicht nur deswegen glücklicher, gesünder oder leben länger, weil sie als fromme Leute »tugendhafter« leben – z. B. weniger rauchen, nicht so viel Alkohol trinken oder weniger Autounfälle haben. Nicht nur die unterschiedliche Lebensführung, sondern die Glaubenseinstellung selbst hat eine direkte Wirkung auf die Befindlichkeit Ein Mythos, der besonders hartnäckig zum Vorurteil über die negativen Folgen christlicher Prägung gehört, ist die Vorstellung, Christinnen und Christen hätten weniger Spaß im Bett. Dass – ganz im Gegenteil – der Glaube auch Einfluss auf eine erfüllende Sexualität hat, zeigen viele Studien. Andreas Bochmann und Ralf Näther fassen zusammen: »Christen haben eine erfüllte und erfüllende Sexualität: je gläubiger, desto mehr. Gerade in christlichen Kreisen höre ich immer wieder Zweifel, ob Christen tatsächlich so glücklich und zufrieden seien. Offensichtlich werden die Klischees der Medien, die gläubigen Menschen sexuelle Genussfähigkeit fast schon per Definition absprechen, leichter geglaubt, als gerechtfertigt ist. Umgekehrt: Menschen mit geringer Glaubensbindung erreichen sehr viel seltener hohe sexuelle Zufriedenheit.«14 Auch die von diesen Autoren in Deutschland erhobenen Daten bestätigen eine größere Anzahl vorheriger Untersuchungen, besonders im amerikanischen Raum, bei denen deutlich wird, dass christlicher Glaube im Durchschnitt auch in sexueller Hinsicht mit mehr Lebensfreude verbunden ist als ohne Glaube.15 Glaube ist der wichtigste Faktor überhaupt – wenn es um Prävention (d. h. Vermeidung) seelischer und körperlicher Erkrankungen geht. Das überrascht auch manche Fromme, die es gar nicht glauben mag. Klar: Christen erleben in der christlichen Gemeinde neben allem Guten auch erdrückende Moralisten, 14 Andreas Bochmann/Ralf Näther: Sexualität bei Christen. Wie Christen ihre Sexualitöt leben und was sie dabei beeinflusst. Empirische Studien und Diskussionsbeiträge. Gießen/Basel 2002, S. 141. 15 Archibald Hart: Lust oder Last. Wie Mann mit seiner Sexualität glücklich werden kann. Asslar 1995.

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sie kennen »fromm« begründeten Machtmissbrauch und autoritäre Strukturen, ahnen das verschwörerische Schweigen welches einen »guten Ruf« der Kirche vor die Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Hilfe für Opfer sexuellen Missbrauches stellt. Neben der Sinnhaftigkeit einer Integration religiöser und spiritueller Ressourcen in der Beratung besteht in der Psychotherapie in Deutschland auch ein Rechtsanspruch darauf. Im Sozialgesetzbuch (SGB V) heißte es im § 2, Abs. 3: »Bei der Auswahl der Leistungserbringer ist ihre Vielfalt zu beachten. Den religiösen Bedürfnissen der Versicherten ist Rechnung zu tragen.« In anderen Worten: Patientinnen haben ein Recht darauf, in ihrer Psychotherapie nicht gegen ihren Glauben behandelt zu werden. Wie Integration eine Biografie prägen kann Ein junger deutscher Student mit konservativ evangelischen Wurzeln findet sich in San Diego, Kalifornien, im Mekka der humanistischen Psychologie, wieder. Und er hat in mehrfacher Hinsicht »Integrationsarbeit« zu leisten – zwischen Kulturen, Weltanschauungen, Glaube und Generationen. Dabei darf er nicht assimilieren und die eigene Identität verlieren, soll aber auch nicht fremd bleiben, sondern dazugehören. Das gelingt – weil das Gegenüber ebenfalls bereit ist, Unterschiede auszuhalten, Perspektiven zu übernehmen und Vielfalt als Reichtum zu begreifen. Viele Menschen, die Carl R. Rogers begegnet sind, stellten fest, dass er selbst der beste Beweis für seine Sicht vom Menschen sei. In Begegnungen mit ihm fühlten sie, dass bei Carl R. Rogers die Person im Mittelpunkt der Wirklichkeit stand – und zwar sowohl seine eigene als auch die seines jeweiligen Gegenübers. Status und Rollen schienen bei ihm unwichtig. Eigentlich war ich »nur« eine studentische Hilfskraft und habe mir als Doktorand in der Psychologie in San Diego von 1983 bis 1988 die Teilnahme an einigen Workshops finanziell erleichtern wollen. Doch dann kam mitten in der »Glasnost«Entwicklung eine Delegation von hochrangigen Vertretern russischer Psychologen, um Rogers kennen zu lernen. Das Problem: sie sprachen nur wenig englisch, aber fließend deutsch. So wurde ich gebeten, die Gästebetreuung zu unterstützen und bei den Übersetzungen zu helfen. Ich sollte die Gäste von Rogers’ Privathaus abholen. Die erste persönliche Begegnung mit ihm war seine telefonische Wegbeschreibung – deutlich non-direktiv, was bei einer Wegbeschreibung eigentlich eher nicht hilfreich ist: »… then you come to a choice point, where you could go left and downhill, or turn right up the hill. If you want to come to my house, you would have to turn right …« (»… dann kommst du an einen Entscheidungspunkt, an dem

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du links den Berg herunter fahren oder rechts hoch fahren könntest; wenn du zu mir kommen möchtest, müsstest du dann rechts abbiegen …«) Ich war ungeheuer aufgeregt, dass ich in die Wohnung dieses bedeutenden Mannes eingeladen war, aber das hatte ich in wenigen Minuten vergessen. Rogers war es offensichtlich nicht wichtig, ob jemand »nur« Student oder ein international anerkannter Wissenschaftler war, und behandelte mich mit spürbarem persönlichen Interesse. Er interessierte sich dafür, wer ich war, behandelte mich mit der gleichen Wichtigkeit wie seine »hohen« Gäste, wir sprachen über die Friedensbewegung in Deutschland, über die Uni, über meine Dissertation – und er war einfach Carl. Und der Leiter der Moskauer Psychologiefakultät trank seinen Orangensaft – wie Carl und ich – aus einem bunten Tupperbecher. Die Personen standen im Mittelpunkt, nicht ihre Funktion oder Bedeutung. Etliche weitere Begegnungen sollten folgen, und bis zu seinem Tod 1987 war ich nicht nur für weitere Gästebetreuungen gefragt, sondern Carl half mir wie ein väterlicher Freund als Mentor. Er hatte Ideen, wie ich bei meiner Doktorarbeit bessere Messergebnisse bekommen würde, knüpfte für mich Verbindungen, besorgte mir Fragebögen und Literatur von anderen Forschern aus den USA und aus Australien, die in den USA noch nicht erhältlich waren. Bei einem Spaziergang am Strand fragte ich ihn, wie er seine eigene Bedeutsamkeit erleben würde. Er griff eine Hand voll Sand und erklärte mir, dass er sich in seiner direkten Umgebung und bei den Menschen mit denen er zu tun hat schon sehr wichtig fühlte, aber dass er angesichts der Größe des Universums sehr wohl auch fühle, dass er nicht mehr Bedeutung hätte als jedes andere Sandkorn an dem kilometerlangen Strand, an dem wir entlanggingen. Ich glaube, dass er das ehrlich so meinte. »Trust your feelings« – vertaue deinen inneren Wahrnehmungen – war ein häufig wiederkehrender Rat, den er nicht nur in Seminaren weitergab. Besonders spannend wurde das für mich an dem Punkt, an dem es um den persönlichen Glauben ging: Ich war und bin gläubiger Christ. Carl wusste das auch, und doch verzichtete er gänzlich auf den »missionarischen Eifer«, den ich bei manchen anderen humanistischen Psychologen erlebt hatte. Diese schienen ihr Menschenbild und Wirklichkeitsverständnis als »wahr« zu verstehen. Carls Einstellung war »Trust your feelings«. Der Mensch im Mittelpunkt der Wirklichkeit – aber eben nicht als Mittelpunkt einer absoluten Wahrheit. In seiner Beurteilung staatlicher und religiöser Institutionen war Carl äußerst kritisch, doch nicht in der Beurteilung eines persönlichen Glaubens: »Wenn du Christ bist, dann möchte ich dir helfen, ein noch echterer und authentischerer Christ zu sein.« Menschen, die sich in Psychotherapie, Beratung und Seelsorge anderen zuwenden, sind wohl immer in der Versuchung, ihre eigene Wirklichkeit als Wahrheit miss66

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zuverstehen. Immer wieder gibt es »Verkündiger von absoluten Wahrheiten« (wie z. B. Bert Hellinger), die auch heutzutage einen immensen Zulauf haben – und zwar querbeet, von Psychologen und Ärztinnen wie von Geistlichen und Esoterikern. Die Herausforderung, Orientierung zu finden, und die sich daraus ergebende Zielverwirrung macht Menschen bereit, zu Jüngerinnen und Jüngern anderer Menschen zu werden. Doch wir brauchen keine Helden, die sich als Führer der Wahrheit anbieten. Unsere Wirklichkeit ist zutiefst persönlich, und wir brauchen Menschen, die helfen, diese im Inneren zu erkennen. Im christlichen Wirklichkeitsverständnis ist das übrigens klar: Die Wahrheit ist immer Person (Gott selbst; Jesus sagt »Ich bin die Wahrheit«) und diese Person – Gott – lässt sich nicht vereinnahmen, auch nicht von den »Frommen«. Ich bin heute – fast vier Jahrzehnte später – immer noch froh darüber, dass Carl R. Rogers und andere Menschen aus seinem Umfeld mich nicht »umkrempeln« wollten, sondern Mut dazu machten, das Eigene zu spüren und zum eigenen Inneren, einschließlich des Glaubens, zu stehen. Nicht zuletzt auch deswegen, weil die damals entstandenen Beziehungen mein Leben bis heute bereichern – beruflich und persönlich.

2 Integration auf allen Ebenen Integrativ drückt in der aktuellen beratungswissenschaftlichen und psychotherapeutischen Diskussion also in erster Linie die Entwicklung aus, die unterschiedlichen Schulen und Verfahren (allen voran die vier großen Schulen der tiefenpsychologischen, humanistischen, verhaltenstherapeutischen und systemischen Ansätze) nicht gegeneinander auszuspielen, sondern situations- und kontextspezifisch zu integrieren. Integration beschränkt sich im Kontext der Beratung aber nicht nur auf die Integration von Methoden einschließlich der Nutzung religiöser bzw. spiritueller Ressourcen. Diese angewandte Vielfalt unterschiedlicher Vorgehensweisen ist allerdings Voraussetzung für ein weitergehendes Integrationsverständnis. Das äußert sich ebenso: Ȥ im Menschenbild: Integrative Beratung vertritt eine ganzheitliche Sicht des Menschen, bei der spirituell-religiöse, psychisch-seelische und medizinischbiologische Wirklichkeiten zusammenhängen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf einer »Integration« dieser Aspekte zu einer Entität, die über eine monistische oder dualistische Sichtweise hinausreicht. Eine wesentliche Zielrichtung der beraterischen Arbeit liegt darin, Kontakt zwischen diesen verschiedenen Aspekten herzustellen. Integration

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Ȥ in der zwischenmenschlichen Haltung und interkulturellen Wertschätzung: Integrativ formuliert eine Qualität und Haltung, in der es um Öffnung und Wertschätzung geht – im Gegensatz zu einer Bewegung des Ausschließens, Separierens, Trennens oder Abwertens. Eine echte wertschätzende Offenheit für die Begegnung mit fremden Lebensstilen, Denkweisen, gesellschaftlichen Milieus, Kulturen und Religionen setzt eine eigene integrierte Identität voraus. Ȥ in der Persönlichen Identität: Die Integration innerer Persönlichkeitsanteile (im Gegensatz zur Abspaltung) ist ein wesentliches Ziel von Beratung und Seelsorge. Kohärenz (medizinisch-präventiv), Kongruenz (psychisch-­ persönlich) und Heil/Heiligung (spirituell) sind Beispiele für solche intrapsychisch integrativen Konzepte, die dabei zum Tragen kommen. Insgesamt gesehen ist Integrative Beratung ein Beratungsansatz, der Ȥ religiösen Glauben und sozialwissenschaftliche Beratungsansätze integriert, Ȥ westlich geprägte, sozialwissenschaftlich fundierte Beratungsansätze in multikulturellen Kontexten zu integrieren sucht sowie interpersonelle und intra­ personelle Integration als Beratungsziel definiert.

Abb. 1: Ebenen Integrativer Beratung (eigene Darstellung)

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Literatur Warren Bennis/Burt Nanus: Leaders. The strategies for taking charge. New York 1985. Andreas Bochmann/Ralf Näther: Sexualität bei Christen. Wie Christen ihre Sexualitöt leben und was sie dabei beeinflusst. Empirische Studien und Diskussionsbeiträge. Gießen/Basel 2002. Albert Ellis: Reason and emotion in psychotherapy. Oxford 1962. Sigmund Freud: Die Zukunft einer Illusion. In: Gesammelte Werke, Bd. 14. London 1927/1948, S. 325–380. Klaus Grawe/Ruth Donati/Friederike Bernauer: Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession. Göttingen 1994. Ronald Grossarth-Maticek: Systemische Epidemiologie und präventive Verhaltensmedizin chronischer Erkrankungen. Strategien zur Erhaltung der Gesundheit. Berlin/New York 1999. Archibald Hart: Lust oder Last. Wie Mann mit seiner Sexualität glücklich werden kann. Asslar 1995. Alice Miller: Am Anfang war Erziehung. Frankfurt a. M. 1980. Alexander Mitscherlich/Fred Mielke: Das Diktat der Menschenverachtung. Der Nürnberger Ärzte­ prozeß und seine Quellen. Heidelberg 1947. Horst-Eberhard Richter: Patient Familie. Entstehung, Struktur und Therapie von Konflikten in Ehe und Familie. 2. Aufl. Gießen 2012. Carl R. Rogers: On becoming a person. A therapist’s view of psychotherapy. London 1961. Martin E. P. Seligman: Der Glücks-Faktor. Warum Optimisten länger leben. München 2003. Michael Utsch: Spirituelle Psychotherapie Modetrend oder Modell mit Zukunft? Psychologie Heute, 2008/2, 52–55. Emmy E. Werner: Risiko und Resilienz im Leben von Kindern aus multiethnischen Familien. In: Handbuch Resilienzförderung. Wiesbaden 2011, S. 32–46.

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Auch Koryphäen haben eine eigene, ganz private und vielschichtige Persönlichkeit – die uns der Vater des »Inneren Teams«, Friedemann Schulz von Thun, hier ein Stück weit öffnet. Mit den Widersprüchlichkeiten und inneren Kämpfen, die den Glauben ausmachen: Wer glaubt, kennt den Zweifel. Und wer zweifelt, sucht den Glauben. Das Markusevangelium in der Bibel (Kapitel 9, Vers 24) erzählt von einem solchen Gebet des Glaubens – »Ich glaube; hilf meinem Unglauben!« – nicht als Kritik am Zweifel, sondern als Beispiel für einen ehrlichen Glauben.

Glaube ich an Gott? Eine Selbstbefragung mit dem Inneren Team1 Friedemann Schulz von Thun

Die Gläubigen und die Atheisten auf dieser Welt haben es gut: Sie haben auf die Frage nach Gott eine klare und eindeutige Antwort. Es gibt jedoch eine dritte Gruppe, zu der ich mich auch zählen muss, die das klare Ja und das klare Nein entbehren, stattdessen in einer mehr oder weniger diffusen Unentschiedenheit leben. Nicht selten geraten sie in ein Stottern, Stammeln und Stocken. Mit Goethes Faust sind sie in guter Gesellschaft: »Geschrieben steht: ›Am Anfang war das Wort‹ – hier stock ich schon – wer hilft mir weiter fort?« Wer hilft mir weiter fort? Wir leben im Zeitalter der spirituellen Selbstbestimmung. Die meisten von uns glauben nicht daran, dass etwa der Papst als Nachfolger von Petrus den direkten Draht nach oben hat und von daher unfehlbar und mit letztgültiger Verbindlichkeit verkünden kann, wer Gott ist und was er im Sinn hat und (von uns, von mir) will. Wir müssen schon selbst unsere eigene Wahrheit suchen, wie auch immer auf welchem Weg. Aber wie finde ich selbst zu meiner eigenen Wahrheit? Als Mensch lebe ich nicht nur, ich mache mir auch einen Reim auf mein Leben: Wie kommt es, dass es mich überhaupt gibt? Welchen Sinn hat das? Was darf, was soll, was muss ich hier auf Erden? Mit diesen Fragen bin ich nicht allein, ich bin in Kontakt mit 1

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Abdruck des Textes mit freundlicher Genehmigung von Friedmann Schulz von Thun (© Friedemann Schulz von Thun).

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anderen Menschen, die dazu etwas zu sagen haben. Manche waren und sind um mich herum, manche sind gestorben und haben ihre Gedanken hinterlassen. Und in meinem eigenen Leben mache ich Erfahrungen, die auf diese Fragen eine mögliche Antwort enthalten. Zum Beispiel kenne ich einige, die aus großer Gefahr errettet wurden und seitdem, sozusagen »evidenzbasiert«, an einen »Schutzengel« glauben. Im Kontakt mit klugen Menschen und im Kontakt mit meinem eigenen Erleben vollzieht sich ein geistiger Werdegang, aus dem ein Credo über die eigene Existenz hervorgeht. Wenn ich allerdings mein Credo formulieren sollte, bin ich mit sehr unterschiedlichen inneren Wortmeldern konfrontiert. Es sind viele, und sie sind sich zum Teil sehr uneinig. Die Entdeckung dieser »inneren Pluralität« war für mich sehr wichtig, um die Lehre von einer stimmigen Kommunikation zu entwerfen. Deine Kommunikation ist gut, wenn sie stimmig ist – und stimmig ist sie, wenn sie eine zweifache Passung aufweist: eine Übereinstimmung mit der Herausforderung der Situation und eine Übereinstimmung mit dir selbst. Aber wie komme ich zu einer Übereinstimmung mit mir selbst, wenn ein inneres Durcheinander und ein inneres Gegeneinander herrschen? Mein Modell vom Inneren Team versteht sich hier als entscheidende Hilfe zur Selbstklärung: Wer in mir meldet sich, will gehört und verstanden werden? Was hat er auf dem Herzen, wofür tritt er ein? Wie könnte ich diesen Wortmelder nennen, und wie lautet seine Botschaft? Und dann der nächste, und dann der nächste. Vielleicht habe ich zum Schluss ein Gremium von 5 bis 8 Mitgliedern. Und dann: Wie können sie, unter Leitung eines integralen, allparteilichen Oberhaupts, zu einem Team werden? Einem Team, in dem anstelle des Durcheinanders und Gegeneinanders ein Miteinander vorherrschend wird? Einem Team, bei dem die eigene Wahrheit zu zweit beginnt, oder zu dritt, zu viert, zu fünft, zu sechst? Dieses Modell und diese Methode lassen sich nicht nur für stimmige Kommunikation, sondern ebenso für Lebensthemen aller Art nutzbar machen. Und so habe ich denn für die Frage »Bin ich religiös, glaube ich an Gott?« einmal mein Inneres Team erhoben. Was dabei herausgekommen ist, stelle ich im Folgenden vor. Vielleicht ist das auch für Sie eine aussichtsreiche Möglichkeit für die Abb. 1: Innere Wortmelder zu einer innere Selbstbefragung, die innere Selbst- Frage oder einem Thema mit der Chance klärung? auf Teamqualität Glaube ich an Gott?

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1 Das schutzbedürftige Menschenkind Die erste Stimme, die sich bei mir meldet, ist viele Jahrzehnte alt. Als 12-jähriger Schüler bekam ich es manchmal abends vor dem Einschlafen mit der Angst zu tun, und dann habe ich die Hände gefaltet und ein Stoßgebet zum Himmel gesandt: »Lieber Gott, beschütze mich und meine Eltern! Dass ihnen nichts passiert, und dass mir keine Knochen brechen, das muss so schrecklich wehtun! – Und, lieber Gott …« Und dann zählte ich noch manches auf, was ebenfalls schlimm ausgehen konnte und wo ich dringend nach der schützenden Hand suchte. Dieser Teil in mir hat sich nicht völlig überlebt – in kritischen Momenten kommt er wieder hoch und schickt ein Stoßgebet zum Himmel. Besonders dann, wenn ich es nicht in der Hand habe, ob etwas gut oder schlecht ausgeht. Ein Stück von ihm hat überlebt, auch wenn er inzwischen seine »Kollegen« im Inneren Team kennt, die große Zweifel daran haben, ob ein solcher Gott, der ein Auge auf mich hat und an meinem persönlichen Wohl und Weh interessiert ist, überhaupt existiert. Diesem Teil in mir, der sich nach göttlichem Beistand sehnt, geht das Herz auf, wenn er etwa die Zeilen von Dietrich Bonhoeffer liest: »Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag!«2 Oder wenn er den Chor aus dem Elia von Mendelssohn Bartholdy hört, geht es ihm durch Mark und Bein – mit diesem Text aus dem 91. Psalm: »Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest!« Diesem Teil in mir tut es richtig gut, den Psalm 23 zu hören: 2 Dietrich Bonhoeffer: Von guten Mächten, in seinem Brief an Maria von Wedemeyer (19.12.1944), in: Eberhard Bethge (Hg.): Dietrich Bonhoeffer. Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, München 1951.

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»Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. Er erquicket meine Seele. Er führet mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal, fürchte ich kein Unglück, denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich …«

Abb. 2: Der erste Wortmelder

Ach, schön wär’s! Und ich beneide all die, die das vorbehaltlos glauben und nicht tiefer fallen können als in Gottes Hand. Wenn Religion einen solchen Trost spendet, ist es eine große Leistung, über die wir nicht die aufgeklärte Nase rümpfen sollten, indem wir vom »Opium fürs Volk« sprechen oder über das ganze Heiapopeia im Himmel spotten. Dieser Teil in mir jedenfalls findet hier etwas, wonach er sich zutiefst sehnt. Ich gebe ihm einen Namen und nenne ihn das schutzbedürftige Menschenkind.

2 Der aufgeklärte Agnostiker Dieser Teil in mir, von dem jetzt die Rede sein soll, reagiert auf den, der soeben zu Wort gekommen war, mit nachsichtiger Skepsis und Überlegenheit: »Bewahre dir nur deinen Kinderglauben – und wenn es dir hilft, dann umso besser!« Der aufgeklärte Agnostiker hatte sich im letzten Absatz schon eingemischt, er konnte nicht an sich halten und reagierte mit den Worten »Schön wär’s!«. Schön wär’s, wenn ein Hirte mich fürsorglich erquickt und im finsteren Tal tröstet. Leider können wir, so ist der Agnostiker überzeugt, überhaupt nichts darüber wissen, ob ein solcher Hirte existiert oder ob er – was viel wahrscheinlicher ist – eine Erfindung des bedürftigen Menschenkindes ist. In Wahrheit hat nicht Gott den Menschen aus einem Klumpen Erde nach seinem Ebenbild geformt, sondern genau umgekehrt: Der Mensch hat sich einen Gott geschaffen und ihn nach seinem Ebenbild geformt: Der Gott der Bibel weist zum Teil sehr menschliche Eigenschaften auf (Eifersucht, Zorn, Rachsucht), er »menschelt« geradezu, er ist menschlich – allzu menschlich, wenn ihm auch zusätzlich Allwissenheit, Allmacht und Vollkommenheit und Güte zugeschrieben werden. Überhaupt alles, was in der Bibel steht, ist Menschenwerk, zum Teil großartiges Menschenwerk. Dieses Werk zeugt von der geistigen Kraft einiger unserer Vor-Vorfahren, und von ihrem Bedürfnis, sich einen Reim auf unsere Existenz auf Erden zu machen. Aber Menschen können irren, und glauben heißt: nicht wissen. Wie Glaube ich an Gott?

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sollen sie auch wissen? Unser Gehirn ist so konstruiert, dass es »Diesseitiges« erkennen und beeinflussen kann – ein Organ für die Erkennung eines möglichen Jenseits ist es nicht. Wir können glauben, was PropheAbb. 3: ten, selbst ernannte Propheten, uns verkünden. Aber ob Der zweite diese Propheten wirklich ein Organ für die Erkennung innere Wortmelder einer jenseitigen Transzendenz besitzen oder dies nur selbst glauben, wissen wir nicht. Skepsis ist angebracht. Wo ein starkes Bedürfnis ist, entstehen auch starke Überzeugungen. Und die Erzählung, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geformt habe, ist erkennbar von narzisstischen Bedürfnissen gespeist – setzt es doch dem Menschen die »Krone der Schöpfung« auf und macht ihn zu etwas sehr Besonderem. Mit dieser Krone und samt den mit ihr verbundenen Vollmachten darf er dann, darf ich dann gottähnlich durchs Leben gehen. Aus der Erkenntnis, dass der Gott der Bibel ein menschliches Narrativ ist, folgt nicht zwangsläufig, dass es keinen Gott gibt und keinen geben kann. Nur können wir darüber ehrlicherweise nichts wissen. So etwa spricht der aufgeklärte Agnostiker in mir.

3 Das Geschöpf Eines aber ist evident: Es gibt mich in einem Universum, das es gibt. Nanu, wieso das denn? So viel ist sicher: Ich kann nichts dafür! Ich finde mich als ein Geschöpf innerhalb einer Schöpfung vor. In einer Gesellschaft, die zur Eigenverantwortlichkeit und zur Steigerung der Selbstwirksamkeit auffordert, tritt das Bewusstsein von der eigenen Geschöpflichkeit in den Hintergrund. Sobald ich aber der Tatsache wieder innewerde, ein Geschöpf zu sein, kommt bei mir Demut, Ehrfurcht und Dankbarkeit auf. Je nachdem, welches Gefühl gerade vorherrscht, melden sich etwas andere Stimmen – deshalb unterscheide ich im Folgenden drei innere Teammitglieder: das demütige, das ehrfürchtige und das dankbare Geschöpf: Das demütige Geschöpf Das demütige Geschöpf in mir weiß: Ich habe alles vorgefunden, den Himmel, die Sterne, die Erde und alles, was da drauf ist, lebt und gedeiht – und mich selbst habe ich auch nicht gemacht, sondern von Anbeginn an vorgefunden. In Gedichtform drücke ich es so aus: 74

Friedemann Schulz von Thun

Ich hab mir das nicht ausgedacht, ich hab mich selber nicht gemacht, ich wurde ungefragt entbunden und habe mich so vorgefunden. Wurde gleich mit Mund und Ohren in die Welt hineingeboren. Hab die Knochen nicht gebaut, hab mein Blut nicht selbst gebraut,

Abb. 4: Der dritte innere Wortmelder

Habe Arme, habe Beine, hab das alles nicht bestellt, und mit Nase, Ohren und Augen bin ich nun in fremder Welt. Neben die Demut bezüglich meiner Existenz tritt auch noch die Demut bezüglich meines Schicksals hinzu! Zum Leben erweckt und zum Sterben bestimmt, ohne dass ich etwas dafür kann. Und zwischen Geburt und Tod kann und soll ich selbstwirksam meines Glückes Schmied werden – ja, ein wenig! Aber ich bin auch das heiße Eisen auf dem Amboss meines Lebensschicksals! Welche Bedingungen ich vorfinde, was mir zustößt, welches Krankheitsschicksal in meiner DNA vorgesehen ist – alles dies ist nicht in meiner Hand. Statt »Ich lebe« könnte ich auch sagen: »Ich werde gelebt« – dies wäre nicht weniger zutreffend. Der stolze Schmied in mir hat allen Anlass, dies demütig zuzugeben, ohne damit eine völlige Ohnmacht zu erklären. Es gibt offenbar eine »höhere Macht«, die über mein Dasein und über mein Lebensschicksal bestimmt. Ob diese höhere Macht etwas denkt und ob sie Absichten verfolgt, kann ich nicht wissen. Ich kann nur wissen, dass sie sehr mächtig ist – allein dadurch, dass sie mich und das ganze Universum hervorgebracht hat. Es liegt mir nahe, angesichts dieser Schöpfung von einem »Schöpfer« zu sprechen. Das ehrfürchtige Geschöpf Während das demütige Geschöpf in mir vom Bewusstsein erfüllt ist, dass mit ihm zeitlebens etwas geschieht, wovon es nicht selbst der Urheber ist, ist das ehrfürchtige Geschöpf staunend ergriffen von der unglaublichen Sensation, von dem unfassbaren Mysterium des Weltgeschehens. Die Schöpfungsgeschichte, die uns die Wissenschaften, zum Beispiel die Evolutionstheorie und die Astrophysik, darlegen, ist für mich noch sensationeller und ehrfurchtsgebietender Glaube ich an Gott?

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als die Schöpfungsgeschichte der Bibel. Wie bitte? Ich soll aus Zellen hervorgegangen sein, die so winzig waren, dass man sie nur unter dem Mikroskop sehen kann? Und wie bitte? Eine davon stammt von Vater und eine von der Mutter? Und dann soll diese vereinigte Doppelzelle im Bauch einer Nachfahrin von Säugetieren millionenfach gewachsen sein, nach einem genauen Bauplan, der uralt ist und doch etwas Erstmaliges, Einmaliges und Letztmaliges hervorbringt, nämlich mich?! Und wie bitte? Meine Ahnen und Urahnen lassen sich zurückverfolgen bis in die Anfänge des Lebens auf Erden, und noch immer ist etwas vom Fisch in mir, jenem Vorfahren, der im Wasser lebte, der fraß und gefressen wurde? Und alle meine Vorfahren haben sich ohne eine einzige Ausnahme »fortgepflanzt«, bevor sie gefressen wurden oder sonst wie starben? Und wie bitte? Der einzellige Urahn ist aus unbelebter Materie entstanden, aus einem Staubkorn Erde? Das ist doch alles zu wunderlich, um wahr zu sein?! Und nun kommt noch das Wunder hoch zwei: Dieses Staubkorn des Universums, dieser Nachfahre von Einzellern, Fischen und Säugetieren kann jetzt darüber nachdenken, welchen Reim er sich auf das Ganze machen soll und welchen Sinn er seinem Leben geben will? In dem Moment und in dem Maße, wie ich dieses großen Mysteriums innewerde (und nicht wie üblich im normalen Leben, polypragmatisch befangen bin in den tausend Erledigungen des Alltags), in dem Moment, wo ich dieses unglaubliche Mysterium ganz an mich heranlasse, kann jeder Augenblick meines Daseins voller Staunen und Ehrfurcht als »heilig« empfunden werden. Muss ich nicht einen unbekannten Ur-Urheber dieses unglaublichen Geschehens annehmen? Warum ihn nicht »Gott« nennen? Das naturwissenschaftlich Begreifbare ist der Modus, in dem er sichtbar und wirksam wird. So etwa spricht das ehrfürchtige Geschöpf in mir.

Abb. 5: Der vierte innere Wortmelder

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Friedemann Schulz von Thun

Das dankbare Geschöpf Ich bin ein »Geschenk des Himmels« – dies ist kein frommer Spruch und kein esoterisches Gedöns, sondern der Stand der Wissenschaft. Paradoxerweise bin ich das Geschenk und der Beschenkte zugleich. Und der Beschenkte ist zuweilen und auch letztendlich voller Lebensdankbarkeit: Wenn warme Sonne mich umschmeichelt und kühler Wind mich sachte streichelt, dann fühl ich leise vor mich hin: wie schön, dass ich geboren bin! Diese Dankbarkeit entsteht auch aus dem Kontrast meines ersten Lebensjahres: Damals, 1944/45, jeden Tag Krieg, fast jede Nacht Bomben und Luftschutzkeller, fortwährend Angst und Hunger – mein Vorname »Friedemann« kaum mehr als eine Sehnsucht der Mutter. Aber dann doch überlebt, dann Garten und Blumen, liebe Großeltern, Spielgefährten, in die Schule dürfen, studieren dürfen, Liebe und Partnerschaft erleben, einen erfüllten Beruf erlernen, einen Sohn und eine Tochter »geschenkt« bekommen, sogar zwei Enkelkinder. Zudem wunderbare Hilfe in größter Not (z. B. nach einem Schlaganfall). 75 Jahre lang sind auf meine Heimatstadt Hamburg keine Bomben gefallen – was für ein gnädiges Schicksal! Mir ist nur eine Stippvisite in dieses unglaubliche Universum vergönnt, aber wie unglaublich schön, am Leben gewesen zu sein, auch wenn Sorgen, Leid und Schmerzen dazugehören. Und über 75 Jahre alt geworden zu sein – das ist schon fast ein wenig mehr als eine Stippvisite! Wohin mit der Lebensdankbarkeit? »Gott« ist der unbekannte Adressat meiner Dankbarkeit als Geschöpf.

Abb. 6: Der fünfte innere Wortmelder

Glaube ich an Gott?

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4 Der Sinnstifter meines Daseins Nachdem ich meiner Geschöpflichkeit mit Demut, Ehrfurcht und Dankbarkeit innegeworden bin, meldet sich eine andere Stimme und hält dagegen – genauer gesagt, hält daneben: Gewiss, ich werde geboren, gelebt und gestorben – aber ich bin auch aktiver Gestalter meines Lebens! Ich bin es, der aus dem Leben, das mir vorgegeben und geschenkt worden ist, etwas machen darf, etwas machen soll, etwas machen kann! Der auf die Frage »Was soll ich hier, wofür lebe ich?« eine eigene Antwort finden muss. Denn die Wissenschaft kann das für mich nicht erledigen, und die Bibel – obwohl höchst inspirierend und anregungsreich – kann das für mein persönliches Leben nicht verbindlich machen. Genauso wenig können es Vater, Mutter, Influencerinnen und andere Autoritäten. Wie komme ich also zu meinem ureigenen Credo? Immerhin gibt es einen »gottgegebenen« Anhaltspunkt, der geradezu evidenzbasiert ist: Ich bin als Mensch geboren – nicht als Schnecke, nicht als Birke, nicht als Schmetterling. Daraus leite ich ab: Mensch zu sein und Mensch zu werden ist mein Auftrag hier auf Erden! Und die Humanisten haben recht, wenn sie sagen: Dem Menschen ist das Menschliche nicht (nur) gegeben (so wie dem Schmetterling das Schmetterlingshafte gegeben ist), sondern aufgegeben. Meine Aufgabe sehe ich darin, das Menschliche zu verwirklichen, das meiner Einmaligkeit auf Erden entspricht. Und als Mensch zu existieren enthält die Besonderheit der Erkenntnisfähigkeit und der Willensfreiheit – beides eingeschränkt, aber doch in nennenswerter Qualität. Hinzu kommt die Fähigkeit, mein Leben nach ethischen Leitlinien auszurichten: eine gelingende und das Geschenk des Lebens preisende Koexistenz aller Lebewesen dieser Schöpfung anzustreben. Eigenartigerweise bin ich beides zugleich: ein Staubkorn des Universums, ein winziger Teil des Ganzen, das ich nur anstaunen und verehren kann, wie ein Winzling das Große und Erhabene. Und doch bin ich auch ein Teil von diesem Großen und Ganzen, ein Teilhaber der Schöpfung, mit besonderer und exklusiver Zuständigkeit für die Menschwerdung dieses Teils. Und daraus leite ich als mein Credo eine zweifache Dienstpflicht ab: 1. zum Gelingen des Ganzen beizutragen, von dem ich ein Teil bin (ich bin ein Teil meiner Partnerschaft, meiner Familie, meiner Freundschaften, meines Teams, meiner Institution, meiner Nachbarschaft, meiner Stadt, meines Landes, ein Teilhaber der Weltinnenpolitik) 78

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2. und zum Gelingen des Ganzen beizutragen, der ich selbst bin. Ich bin ja auch ein Ganzer, der leben, aufblühen und sich selbstverwirklichen will – ein Ganzer, der auch um seiner selbst willen lebt. Diese zweifache Dienstpflicht ist durchaus ten­den­ ziell in Übereinstimmung mit meiner »gegebenen« Abb. 7: Der sechste innere Natur. Denn Kooperation und Füreinanderdasein Wortmelder ist in der Menschheitsentwicklung zur Lebensgrundlage geworden, auch das liebevolle Miteinan­der. Und es ist ein Grundbedürfnis der menschlichen Seele, einen Sinn im Leben zu haben. Und das heißt, dass ich (auch) dienstbar werden möchte für etwas, was nicht ich selbst bin. Viktor E. Frankl spricht von dem Bedürfnis nach Selbsttranszendierung. Bleibt es unerfüllt, entsteht ein Sinn-Vakuum und eine existenzielle Frustration. Dieses Credo ist in mir lebendig. Ist es »gottgegeben«? Stammt es von dem Gott, der nicht außer mir thront und richtet, sondern in mir wohnt? Wer weiß, vielleicht lebt das, was mich schuf, in mir weiter und ist hier wirksam. Mensch zu sein und Mensch zu werden ist mein Auftrag hier auf Erden! Und was ist der Sinn dieser Menschwerdung? Teilzuhaben an einer Schöpfung, bei der ich keine Einwände habe, sie göttlich zu nennen, auch wenn ich diesen Gott nicht als ein persönliches Gegenüber annehme. Teilzuhaben an dieser Schöpfung und an ihrer Vollendung mitzuwirken.

5 Meine inneren Stimmen – mein Inneres Team Meine inneren Wortmelder sind sich »weiß Gott« nicht einig – und doch vertragen sie sich ganz gut miteinander. Für mich ist es stimmiger, mit dieser inneren Pluralität zu leben und jede einzelne Stimme gelten zu lassen, als wenn ich mir eine eindeutige Glaubensgewissheit auferlegen würde, die mit der inneren Wahrheit nicht übereinstimmt. Es ist für mich stimmig, die Frage nach Gott als Frage (und nicht als Antwort) existieren zu lassen. Und zwar im Sinn und Geist von Rainer Maria Rilke »Über die Geduld«: »Geduld haben mit dem Ungelösten im Herzen, und versuchen die Fragen selber lieb zu haben […] Wenn man die Glaube ich an Gott?

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Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.« Oder in Anlehnung an den sterbenden Bauern, der seine Söhne um das Sterbebett versammelt und ihnen verheißt, auf dem Acker sei ein Schatz vergraben. Nach seinem Tod graben und pflügen die Söhne den Acker um und um – und finden: nichts! Aber im nächsten Frühling geht die Saat doppelt und dreifach auf – das Buddeln hat sich gelohnt! Die Frage nach Gott ist zutiefst menschlich und überaus menschenwürdig. Denn sie ist die Frage nach dem Hintergrund unseres Daseins: Wieso gibt es mich, in einer Welt, die es gibt? In der Entwicklung unserer Menschheitsgeschichte sind wir so weit gekommen, dass wir nicht nur leben und überleben, sondern uns auch einen Reim machen wollen auf uns und unsere Existenz. Und es ist nicht gleichgültig, welchen Reim wir uns machen. Er ist nicht bloß ein Epiphänomen, sondern hat eine Rückwirkung auf das Leben selbst. Ob ich mich selbst als ein nichtiges und flüchtiges, belangloses Staubkorn eines geistig leeren Universums begreife, das irgendwie zufällig entstanden ist und seine eigene Dynamik entfaltet hat, oder ob ich mich selbst begreife als ein einzigartiges Wesen mit dem Auftrag, mit der Berufung, dienstbar zu werden für das Gelingen des Ganzen, von dem ich ein Teil bin – das ist für mein Lebensgefühl und für den Kompass meiner Lebensführung ein sehr bedeutsamer Unterschied. Mit dem Thema »Gott« ist mir etwas Merkwürdiges passiert. Es gibt eine Frau, die vor 70 Jahren als einjähriges Kind meine Stiefschwester werden sollte, ich selbst war acht Jahre alt. Daraus ist nichts geworden, meine Mutter blieb letztlich doch bei meinem Vater. Daher habe ich diese Beinahe-Stiefschwester nicht mehr wiedergesehen. 63 Jahre später habe ich mich im Rückblick auf mein Leben gefragt, was aus ihr geworden sein mochte. Ob sie wohl noch lebte? Ich habe sie dann privatdetektivisch suchen lassen und schließlich im Ausland gefunden und aufgesucht. Sie hieß jetzt Safi Nidiaye und hatte gerade ein Buch geschrieben mit dem Titel »Das Gott-Experiment« (Integral Verlag, 2014).3 Ich finde das Buch gut, man wird darin angeleitet, eine eigene, stimmige Konzeption von Gott zu entwerfen und eine Zeit lang probehalber so zu leben, als wäre diese Konzeption wahr. Bei mir sind zum Beispiel folgende probeweise Annahmen dabei herausgekommen, durchaus in Übereinstimmung mit meinen inneren Wortmeldern: »Gott« nenne ich das Mysterium meines Daseins in diesem Universum. Das Innewerden dieses Mysteriums lässt mein ganzes Dasein zur staunenswerten und ehrfurchtgebietenden Sensation werden. Gott 3 Vgl. Friedemann Schulz von Thun: Glaubensbekenntnis. Süddeutsche, 30.04.2016. https:// www.sueddeutsche.de/leben/glaubensbekenntnis-friedemann-schulz-von-thun-1.2970412 (Zugriff am 16.09.2022).

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Friedemann Schulz von Thun

ist der Ursprung aller Dinge in diesem Universum und setzt sich in ihnen fort, so auch in mir. Er ist gleichsam die Seele des Universums, und ich bin ein Teil davon. Gott ist im Werden, und ich bin Teil dieses Werdens. Der Himmel (= das Göttliche) berührt die Erde (= das Irdische), auch wenn wir es nicht merken. Aber ich kann lernen, das allgegenwärtige Himmlische auf Erden mehr und mehr zu spüren. In dem Maße, wie mir das gelingt, bin ich Gott nahe, bin ich dem Göttlichen in mir, in dir und in allen Dingen nahe. Ich probiere jetzt aus, mit diesen Annahmen zu leben. Wer weiß, vielleicht lebe ich noch ein wenig in die Antworten hinein? In Abbildung 8 sind meine inneren Wortmelder noch einmal alle versammelt:

Abb. 8: Mein Inneres Team zu der Frage nach Gott

Literatur Safi Nidiaye: Das Gott-Experiment. Eine Erfahrung, die alles verändern kann. München 2014. Friedemann Schulz von Thun: Miteinander reden: 3. Das »Innere Team« und situationsgerechte Kommunikation. Reinbek 1998. Friedemann Schulz von Thun: Glaubensbekenntnis. Süddeutsche, 30.04.2016. https://www.sueddeutsche.de/leben/glaubensbekenntnis-friedemann-schulz-von-thun-1.2970412 (Zugriff am 16.09.2022). Friedemann Schulz von Thun: Erfülltes Leben. Ein kleines Modell für eine große Idee. München 2021.

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In seinem berühmten Abendgebet schreibt Matthias Claudius 1779: »Lass uns einfältig werden, und vor dir hier auf Erden, wie Kinder fromm und fröhlich sein!« Im heutigen Sprachgebrauch bedeutet »einfältig« wohl flach, ein bisschen dumm oder simpel. Und das ist dieses Kapitel sicher nicht. Was Claudius aber mit »einfältig« meint, würden wir heute eher authentisch, aufrichtig, echt, transparent nennen. In diesem Sinne ist das folgende Kapitel »einfältig«, weil die Autorin uns einen aufrichtigen Einblick in ihre eigene Seele gibt. Und die ist eben vielfältig. Integrative Haltung in »Personalunion« ist gefragt – gerade beim Entwickeln integrativer Ansätze. Im Folgenden darf ein neugieriger Blick durchs Schlüsselloch in die persönliche »Werkstube« von Eva Maria Jägers Innerem Team geworfen werden, in dem es ganz schön bunt zugeht und sich verschiedene Stimmen tummeln:

Das Innere Team im Selbstgespräch zu Integrativer Beratung Eva Maria Jäger

Der neugierige Blick: Eva, wie kam es dazu, dass du dem Inneren Team auf der Spur bist? Eva: Hast du 15 Minuten? Denn da muss ich ausholen und ein paar innere Teammitglieder zu Wort kommen lassen. Zum Beispiel … …   die begeisterte Eva: Vor einigen Jahren habe ich eine Sendung über das Innere Team von Schulz von Thun und Dagmar Kumbier im Radio gehört, in der eine Klientin von sich und ihren inneren Konflikten erzählte. Ich war sofort begeistert. Ungefähr in dieser Zeit habe ich auch meine Traumaausbildung zu Psycho­ dy­na­misch Imaginativer Traumatherapie (PITT) bei Luise Reddemann gemacht und mich getraut, mit einem eigenen Thema ein Demogespräch mit ihr im Kurs zu führen, das mich nachhaltig, ja, über Jahre hinweg beeindruckt, ermutigt und gestärkt hat. 82

Eva Maria Jäger

Vor ca. acht Jahren bin ich dann auf einer »Teile-Konferenz«, die ich als Hypnotherapeutin in Heidelberg besuchte, in eine Demo-Beratungssitzung mit Kai Fritzsche gestolpert und habe sofort wieder gestaunt. Die Idee der Ego-StateTherapie (EST) hat mich gepackt – und nicht mehr losgelassen. Dass mich der Gedanke einer inneren Pluralität, um einen Begriff von Friedemann Schulz von Thun zu verwenden, so beschäftigt, hat vielleicht auch damit zu tun, dass ich seit jeher in meinem eigenen Leben »mehrere Töpfe« auf dem Herd stehen habe und viele verschiedene Interessen unter einen Hut bringen möchte. Für ein gutes inneres Miteinander in meiner inneren »Multikulti-Küche« war das ein Angebot auf der Metaebene, auf das ich vielleicht unbewusst schon lange gewartet habe. Dass es dann auch von seiner Grundhaltung so gut zum Aufbau eines integrativen Beratungsstudiengangs passt, ist mir erst mit der Zeit klar geworden. Obwohl ich offiziell schon am Ende meiner hypnotherapeutischen Ausbildung war und die Kurse im Grunde nicht mehr gebraucht hätte, beschloss ich, für die EST-Kurse bei Kai Fritzsche nach Berlin zu reisen. Ja, obwohl ich ein Reisemuffel bin und sonst für Fortbildungen eher im süddeutschen Raum bleibe! Dort beeindruckte mich immer wieder die wertschätzende Haltung, dass es keine Berührungsangst gab, dass es etwas so Frisches ausstrahlte, ja, eine Freude ist, in Begegnung zu kommen. Auch ganz viele meiner eigenen inneren EgoStates haben das sehr gesucht. Sie hatten eine Sehnsucht nach solch einer Art von Begegnung und wollten dabei sein. Neben den wunderbaren Demo-Beratungen hat mich auch die Lehrbarkeit beeindruckt: dass es für ein so sensibles Arbeiten mit dissoziierten und traumatisierten Ratsuchenden Strukturen gibt, einzelne Stationen, an denen man wie an einem Geländer entlanggehen kann. Die Gott-Sucherin: Darf ich mich auch dazu melden? Ungefähr zeitgleich habe ich wegen einer persönlichen Krise eine Geistliche-Begleiter-Ausbildung gemacht und schon bald haben mich die Parallelen zwischen dem psychotherapeutischen und dem spirituellen Prozess bewegt: dass in dieser Weise, wie man als ESTler nach innen geht – und das ist ja im Grunde der mystische Weg in allen Weltreligionen –, eine Verbindung zu »spiritual growth« liegen könnte. Für mich wäre genau diese Form und Haltung, die beim Inneren Team oder EST zum Tragen kommen, auch ein Angebot oder einer Handreichung für einen spirituellen Weg.

Das Innere Team im Selbstgespräch zu Integrativer Beratung

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Die Strukturierte: Ojojoj! Da werft ihr aber viel in einen Topf! Wo soll das noch hinführen?? Das schaut schwer nach Überforderung und Maßlosigkeit aus. Wenn nicht gar nach einem Ding der Unmöglichkeit! Die Integrative: Ja, was soll man machen, wenn’s ums Ganze geht? Die Hochschuldozentin: Jetzt mal bitte pragmatischer! Ich frage nach der Lehrbarkeit für Studierende einer Hochschule, denen wir integrative Beratung vermitteln wollen. Was davon passt in ein Modul über das »Innere Team«? Als ich für den Studiengang vor sieben Jahren zum ersten Mal solch ein Modul ausarbeiten wollte, kam ich ganz schön ins Schleudern. Einerseits war in mir diese Begeisterung, den Studierenden einen Umgang mit der »Vielheit« zu vermitteln. Diese Vielheit, die ja auch Paulus mit dem »Leib und seinen Gliedern« im Korintherbrief 12 beschreibt und die ihn so begeistert und beflügelt, dass er direkt im Folgekapitel 13 daraus möglicherweise den berühmten Text über die Liebe entwickelte. Andererseits war ich, was die Lehrbarkeit anbelangt, im Konflikt. Sollen sie eher das »Innere Team« von Schulz von Thun studieren – oder eher den Ansatz der Ego-State-Therapie? Das Innere Team liegt viel näher am Beratungsstudiengang und bietet sich für das allgemeine Beratungssetting wunderbar an. Es ist didaktisch sorgfältig ausgearbeitet, ja, es »flutscht« richtig. Obwohl Introspektion, Selbstwahrnehmung schon ein wahrhaft anspruchsvolles Thema ist – man denke nur an den Satz, der in Delphi über dem Eingang stand: »Erkenne dich selbst!« –, ist es eine freundliche Einladung für die Studierenden und streckt ihnen eine warme Hand entgegen. Es schafft außerdem einen niederschwelligen Einstieg, der inneren Unübersichtlichkeit mit einem strukturierten Vorgehen auf dem Papier Überblick anzubieten. Und nicht selten wird die Erhebung des Inneren Teams mit viel Vergnügen (!) durchgeführt; ich höre oft Lachen, wenn zu den Botschaften Gesichter und Sprechblasen gemalt werden. Dagegen sind klinische Vokabeln und diagnostische Begriffe der Ego-StateTherapie wie »dissoziativ« oder »symptom-assoziiert« erst einmal wie Fremdkörper in einem Coaching- und Beratung-Studiengang. Da wird es ernst! Da geht es um Pathologisches und »Klinisches«! Vom Ursprung her wurde die EST-Arbeit im Rahmen der Hypnotherapie-Ausbildung auch für den klinischen Bereich entwickelt, was sich daran zeigt, dass bisher ausschließlich approbierte, psychologische und medizinische Psychotherapeutinnen diese Ausbildung absolvieren können. 84

Eva Maria Jäger

Wenn ich »integrativ« aber konsequent durchbuchstabieren möchte, nähere ich mich hier schwierigeren Themen. Darüber habe ich nachgedacht und glaube, dass es an den Themen liegt, die in dieser auch aufdeckenden Arbeit auftauchen und tatsächlich traumatische Inhalte haben können. Es liegt nicht an unterschiedlichen Berufsgruppen, die sich gegenseitig möglicherweise »exkludieren« und ausschließen könnten. Es hat mit dem Respekt vor der Arbeit mit traumatisierten, dissoziierten Ratsuchenden zu tun. Die Möchtegernpolitikerin: Ja, an dieser Stelle wäre ich gern politisch aktiver! So viele meiner Studierenden sind als Sozialarbeiterinnen in Berufsfeldern unterwegs, in denen sie es mit Flüchtlingsarbeit zu tun haben, oder in der Beratung in Gefängnissen, in Frauenhäusern oder von Sexarbeiterinnen. Das sind Arbeitsbereiche, in denen sie wesentlich mehr mit Traumatisierung in Kontakt kommen als ich selbst in meiner offiziellen Praxis für Verhaltenstherapie. Für eine Therapie in einer Praxis müssen sich Patienten selbstwirksam entscheiden und das setzt schon ein ganz anderes Ressourcenniveau voraus. Daher habe ich eher selten Fälle, in denen komplexe Traumatisierungen ein Thema sind. Und ich habe den Verdacht, dass es bei den meisten meiner Kolleginnen so ähnlich ausschaut: dass wir mit den eigentlich traumatisierten Menschen unserer Gesellschaft in unseren psychotherapeutischen Praxen kaum in Kontakt kommen. Die, die es am nötigsten hätten, wissen es ja oft gar nicht. Bis jemand so weit ist, seine Not so ernst zu nehmen, bei einer Therapeutin anzurufen, die Wartezeit durchzustehen und dann endlich an der Tür einer Praxis zu klingeln – das ist ein so langer Weg, für den man die Ressourcen braucht, die man eigentlich erst in der Therapie entwickelt. Ich meine, wer das schafft, ist schon auf einem ganz anderen Weg. Doch meine Studierenden, die zuvor Sozialarbeit – oder auch Lehramt – studiert haben, kommen tagtäglich in Kontakt mit betroffenen Ratsuchenden. Für mich sind das berufspolitische Fragen. Da würde ich mir wünschen, dass gerade Sozialarbeiter Wissen und Handwerkszeug über Traumainterventionen mit auf den Weg bekämen, um darüber nachzudenken, was ihre Aufgaben im Allgemeinen sein könnten, z. B. über Förderungsideen für Stabilisierung nachzudenken, oder was ihre Aufgaben im Speziellen sein könnten. Bei Betroffenen haben wir es – im Bild gesprochen – mit einer unsichtbaren, inneren Landschaft zu tun, die noch nicht »kartografiert« ist. Sie kann stabilisierende Ressourcen enthalten, aber auch vermintes Gelände. Die professionellste Antwort wäre auch die ehrlichste Antwort: Man kann nicht wissen, ob und wann Traumathemen auftauchen und ein Klient dissoziativ aus dem Kontakt geht. Daher müssten Das Innere Team im Selbstgespräch zu Integrativer Beratung

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auch diejenigen, die mit größerer Wahrscheinlichkeit tagtäglich mit traumatisierten Menschen zu tun haben, Kompetenzen ausbilden dürfen. Die Akademikerin: Stopp! Stopp! Stopp! Hier werden momentan viel zu viele eigene Behauptungen aufgestellt, zu denen es gar keine Belege gibt. So wird das übrigens auch nichts mit den Peer-Review-Publikationen! Die Hochschuldozentin und Integrative: Die Publikationsliste müssen wir jetzt mal zugunsten der Lehre zurückstellen. Daher: Zurück zu meinem Zwiespalt in der Frage, was ich vermitteln möchte. Für den Umgang mit dissoziierten Ratsuchenden ist das Vorgehen, wie es die Ego-State-Therapie anbietet, meiner Erfahrung nach sehr wertvoll und ökonomisch. Helen und John Watkins haben es auch aus der Not im Umgang mit den vielen traumatisierten Soldaten der 1970er-Jahre in den USA heraus entwickelt. Da eine lange Psychoanalyse nicht für jeden Soldaten realisierbar war, hatte ihre Idee, nicht mit der ganzen Persönlichkeit, sondern nur mit dem verletzten Ego-State therapeutisch zu arbeiten, auch eine geniale ökonomische Qualität. Es wäre zu überlegen, ob man diesen Ansatz nicht auch für Sozialarbei­ terinnen als Beratungsmodell modifizieren könnte. Zugleich verstehe ich, dass es ja nicht nur um eine Methode geht, es geht um Begegnung – und dann ist man selbst in Kontakt. Und damit ist Selbsterfahrung ein zentrales Thema. Die Ego-States der Beratenden treffen auf die Ego-States der Ratsuchenden. Und je mehr Bewusstsein für die eigenen Ego-States bei den Beratenden entwickelt ist, desto wertvoller wird diese Begegnung. Das gilt auch für die Regulation insgesamt: Je mehr eine Beraterin gelernt hat, sich selbst zu regulieren, desto besser kann sie auch in der Beratung Koregulation anbieten. Ich merke, dass Studierende das für sich entdecken wollen, dass da eine große Neugier und ein Interesse ist. Im Rahmen eines Studiengangs, noch dazu in meiner Doppelrolle als bewertende Professorin, aber auch als Therapeutin, die ihren Studierenden Selbsterfahrungen ermöglichen will, ist es aber nicht umsetzbar. Die Therapeutin: Ja, genau! Warum eigentlich nicht? Das ist ja alles schön und gut mit der Lehre, aber was ist mit der Haltung der Beratenden, auf die es wesentlich ankommt? Zur therapeutischen Beziehung als wirksamstem Faktor für Therapieerfolg ließe sich viel sagen – aber lernt man nicht Haltung vor allem dadurch, dass man 86

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sie bei anderen erfährt und erlebt? Durch selbsterfahrene Beziehungsmodelle – und nicht aus Büchern? Da geht es doch um persönliches Überzeugt-Werden! Nur wo ich überzeugt bin, kann ich auch überzeugen …? Die Hochschuldozentin: Die Selbsterfahrung kann in die Supervisionen »ausgelagert« werden. Und das wird auch gern in Anspruch genommen. Insgesamt ist das ja schön mit der Haltung – aber wie soll das vermittelt werden? Sozusagen objektiv lehrbar und nicht an eine spezielle charismatische Lehrerinnenpersönlichkeit gebunden sein? Vielleicht mit einem Manual? Die Integrative: Insgesamt ist mein Beitrag noch im Prozess und nicht »ausgegoren«: Ich schätze die Leichtigkeit und die wertschätzende Haltung, die die Arbeit mit dem Inneren Team vermittelt. Ich fragte mich, ob es da einen »Link« zu spirituellen Themen geben könnte. Das führte auch zu einem Anklopfen bei Friedemann Schulz von Thun, ob er nicht über die »Gretchenfrage« im Inneren Team nachdenken könne und ob ich ihn nach Liebenzell einladen dürfte. Und er hat mit einer (wunderbaren!) Gegeneinladung nach Hamburg reagiert und gefragt, ob es nicht eine Idee wäre, einen Workshop zum Thema »Bin ich religiös und glaube ich an Gott?« in seinem Institut in Hamburg anzubieten. Es hat mich sehr berührt und ermutigt, dass er selbst voranging und sein eigenes, Inneres Team zu dieser Frage vorstellte. Die Gottsucherin: Ja, genau! Besonders an dieser Kontaktstelle: Inneres Team und Spiritualität. Es gibt immer mehr Bewegungen in der christlichen Landschaft, die sich mit Spiritualität beschäftigen, mit Gebetsprozessen, mit innerer Arbeit, ja, Mystik. Zahlreiche Bücher beginnen mit diesem berühmten Wort von Karl Rahner aus dem Jahr 1966: »Der Fromme der Zukunft wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.« Gott in allem suchen, sagte Ignatius von Loyola. Wenn ich mich aktuell im christlich-spirituellen Feld umschaue, so gibt es zum Beispiel das »Forum Integrales Christsein«, das den Begriff »integral« schon in seinem Namen trägt. Und bei einer Eden-CultureTagung von Johannes Hartl im letzten Jahr bin ich der Idee des »Heartsync« von Andrew Miller begegnet, in dem Teile-Arbeit von Anfang an aus der Jesusund Gottesbegegnung, dem »Immanuel-Moment«, entwickelt wird. Dort wird nicht von »Integration«, sondern von »Synchronisation« gesprochen. Das hört sich sehr wertvoll an. Meines Erachtens kommen körperliche und erlebnisDas Innere Team im Selbstgespräch zu Integrativer Beratung

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orientierte Aspekte in der christlichen Spiritualität bisher zu kurz – und wurden stiefmütterlich (und nicht mütterlich) behandelt. Obwohl der körperliche Aspekt und damit der Embodiment-Blickwinkel immer wichtiger wird. Um es mit einem Wortspiel zu sagen: Im weitesten Sinne bräuchte es eine Korp-Oration, um die Ko-Operation zu fördern. Eva: Ja, stimmt! All das beschäftigt mich und ich möchte das mit offenem Herzen und meinem ganzen, bisherigen Inneren Team prüfen. Überhaupt fällt mir auf, dass ich ein »Zwischen-den-Stühlen-Ego-State« habe: so ein Anteil, der auch gern zwischen allen Ego-States sitzt und sich interdisziplinär herumtummelt. Dort, wo ich auch meistens meine Klienten finde: zwischen allen Kategorien. Ich bin gespannt, wo das noch hinführt …

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Nachdem Friedemann Schulz von Thun und Eva-Maria Jäger die Arbeit an dem eigenen »Inneren Team« dokumentiert haben, laden wir Sie ein, das Gleiche zu tun. Mit Personen, die Sie beraten – und natürlich immer zuerst mit sich selbst. Wenn wir wichtige Anteile nicht zur Verfügung haben, fehlt uns ein Teil von uns; von unseren Gefühlen, von unserem Verstand, von unserer Geschichte und von unseren Ressourcen. Lassen Sie sich einladen: Was da ist, darf da sein und gehört dazu.

Integrative Beratung mit Ego-States und dem Inneren Team Eva Maria Jäger

1 Ein Salut auf die Tischgemeinschaft In einer alten Pilgergeschichte klopft ein hungriger Pilger abends an eine Tür. Er bittet um Wasser, damit er sich eine Suppe kochen kann, genauer gesagt: eine »Steinsuppe«. Aus seinem Rucksack holt er dafür einen Stein heraus. Der Gastgeber schaut ihm beim Kochen über die Schulter und schüttelt den Kopf: Das schmeckt doch nach nichts, außer nach Wasser und Stein! Er geht Zwiebeln holen, damit die Suppe mehr Geschmack bekommt. Neugierige Nachbarinnen schauen vorbei. Nach und nach kommen sie dazu und steuern weitere Zutaten bei: Rüben, Sellerie, Kräuter, Zucchini und sogar ein Suppenhuhn. Am Ende sitzen alle zusammen um den Tisch und genießen eine überraschend bunte und reichhaltige Suppe. Um Zusammenzufinden braucht es nicht große Schätze, manchmal genügt ein Stein, um Gemeinschaft zu erfahren und ins Rollen zu bringen. Wie bereits im ersten Kapitel »Mahlzeit!« angesprochen: Tischgemeinschaften sind bereichernd. Schon aus der Verbindung zweier Elemente kann ein ganz neues, eigenes Drittes entstehen, Unterschiede fördern im Austausch Überraschendes zutage; ein solches System kann »emergent« werden. In diesem Beitrag geht es um die Ermutigung, in der Beratung Ambivalenzen, ja, Polyvalenzen anzuerkennen und sie nicht als »Entscheidungsschwäche« zu deuten, nach dem Motto »Jetzt mach mal! Zacki-zacki«. Entweder – oder! Dass es mehrere Sichtweisen gibt, eine Art Vielfalt im inneren Parlament muss Integrative Beratung mit Ego-States und dem Inneren Team

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nicht schwach sein, sondern kann als innerer Reichtum anerkannt werden. Beratung kann einen Raum für erlebte »Zwie-Spältigkeiten« oder gar »Drei-/ Vier-/Fünf-Spältigkeiten« anbieten. Die Mutter einer Klientin sagte immer zu ihr: »Sei doch einfach du selbst« Doch »einfach« ist das nicht. Das Selbst ist in der Regel nicht einfach. Wenn es bis heute überleben konnte, ist es komplex – und Aufgabe Iintegrativer Beratung kann sein, dieser Mehrfachheit einen Entwicklungsraum zu geben. Denn genau im Wahrnehmen der mehrfachen Anteile wird und wächst das Selbst. Ich möchte das Bild der vielseitigen Tischgemeinschaft als Anregung für den Umgang mit der Identität in der Beratung nehmen. Der Grundgedanke der sogenannten »Teile-Arbeit« ist, die Identität eines Menschen nicht als eine Einheit, sondern eine Vielheit, als ein Zusammenspiel einzelner Seiten und Anteile zu betrachten. Mit diesen verschiedenen Persönlichkeitsanteilen zu arbeiten kann also ein Kernanliegen von Beratung sein, was im Folgenden entfaltet werden soll: Unter den verschiedenen Beratungsmodellen, die mit Anteilen arbeiten, habe ich mich hier für einen Ansatz entschieden, der mit sogenannten »EgoStates« arbeitet, da er den Integrationsgedanken in besonderer Weise umsetzt. Inwiefern er sich vom »Inneren Team« von Friedemann Schulz von Thun unterscheidet – ein Modell, das sich in der in der Beratungslandschaft sehr bewährt hat –, wird skizziert. Anschließend soll Raum für eine weitere Integration sein: Nach meinen Erfahrungen in der Praxis mit christlichen Ratsuchenden lässt sich die innere Tischgemeinschaft um eine wesentliche Qualität erweitern, wenn auch spirituelle Ressourcen eingeladen werden. Dazu ein kleiner Ausflug in Kirchen: Dort finden sich durch die vergangenen Jahrhunderte hindurch neben vielen Altären Bilder, auf denen eine Tischgemeinschaft zu sehen ist: Inmitten einer Gruppe sitzt Christus und feiert das »Abendmahl«. Jahrhundertelang luden diese Bilder ihre Betrachter ein, nachzudenken und nachzusinnen – zum Beispiel über solche Fragen wie: Was geschieht, wenn Gott selbst in der Mitte einer Tischgemeinschaft, meiner Tischgemeinschaft Platz nimmt? Wenn er ins Spiel kommt? Oder schon längst im Spiel ist? Das Spiel geschaffen hat? Wie diese Integration im Praxisfall einer ressourcenorientierten Beratung mit christlichen Ratsuchenden aussehen kann, möchte ich mit einigen konkrete Fallbeispielen verdeutlichen.

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2 Ego-State-Therapie als »Teile-Arbeit« Matthias Varga von Kibed unterscheidet zwei grundlegende Formen von Interventionen: Trennung (Unterscheidungskunst, Differenzierung des Vermengten) und Verbindung (Einbeziehung des Ausgeschlossenen).1 Während noch vor Jahrzehnten in der Beratung das Trennen ein leitendes Motiv war2, rückt in der therapeutischen Praxis mehr und mehr das Thema des Verbindens in den Vordergrund. Verbundenheit, »bindungs«theoretische und -therapeutische Ansätze werden immer bewusster reflektiert.3 Augenblicke von Verbundenheit, von ungeteilter Aufmerksamkeit sind wertvoll geworden – vielleicht sogar ein Kriterium für seelische Gesundheit. Nichts wird in der heutigen Medienwelt so umworben wie die Aufmerksamkeit. Sie gleicht einer wertvollen Schafherde, die einem zunehmenden Wettbewerb um Aufmerksamkeit ausgesetzt ist und sich mehr und mehr zerstreut. Auch im Inneren gibt es, wie es der Soziologe Andreas Reckwitz beschreibt, eine »Gesellschaft der Singularitäten«.4 Wer »sich sammeln« möchte, spürt bald, dass es nicht einfach ist, diesen »Zentrifugalkräften« im eigenen Inneren zu begegnen. Doch es scheint sich zu lohnen, denn aus der Sozialpsychologie ist das Prinzip bekannt: Verbesserte Kohäsion führt zu verbesserter Lokomotion. Je einiger sich ein Team ist, desto leichter kommt es auch zu einem gesteckten Ziel.5 Der Physiker Hans-Peter Dürr spricht vom »Teilhaben an einer unteilbaren Welt« – einer Welt, in der alles in Beziehung ist, und wir als Menschen gefragt sind, die Fähigkeit zu schulen, das Ganze anzuschauen.6 Luise Reddemann betont in ihrem Buch »Die Welt als unsicherer Ort« Verbundenheit als übergeordnetes Thema – erst recht in Krisenzeiten.7 Paradoxerweise scheint es auf dem Weg zu mehr Verbundenheit hilfreich zu sein, zuerst das Getrennte zu würdigen. So gehen die sogenannten »TeileKonzepte« davon aus, dass der Mensch nicht aus einem Guss, homogen und 1 Vgl. Matthias Varga von Kibed: Die Logik von Lösungen, Vortrag Wien, 04.12.2010, Auditorium. Müllheim 2011. 2 Wie schon der Begriff »Analyse« von analysis = auflösen verrät; oder: »wissenschaftlich« arbeiten von »sciencia« von secare = zerschneiden. 3 Vgl. Karl-Heinz Brisch: Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. Stuttgart 2010. 4 Andreas Reckwitz: Gesellschaft der Singularitäten. Berlin 2017. 5 Vgl. Rolf van Dick/Michael A. West: Teamwork, Teamdiagnose, Teamentwicklung. Praxis der Personalpsychologie. Bd. 8. 2. Aufl. Göttingen 2013. 6 Hans-Peter Dürr: Teilhaben an einer unteilbaren Welt. In: Gerald Hüther/Christa Spannbauer (Hg.): Verbundenheit. Warum wir ein neues Weltbild brauchen. 2. Aufl. Bern 2018. 7 Luise Reddemann: Die Welt als unsicherer Ort. Stuttgart 2021, S. 133 f.

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einstimmig unterwegs ist, sondern dass sich seine Identität aus unterschiedlichen »Teilen« zusammensetzt. Auch wenn manche Ratsuchenden dieses Unterscheiden von verschiedenen Personen-Aspekten anfangs mit Befremden als »irgendwie schizophren« kommentieren, erfahren sie häufig die identitätsstiftende Auswirkung dieser Verfahren. Tatsächlich entwickelte die Psychotherapie bereits in ihren Anfängen zahlreiche Teile-Konzepte: So unterschied z. B. Sigmund Freud Aspekte des Selbst (Es/Ich/Über-Ich) und auch in der Transaktionsanalyse Eric Bernes wurden unterschiedliche Kategorien vorgeschlagen (Kinder-/Erwachsenen-/Eltern-Ich). Roberto Assagioli formulierte bereits Anfang des letzten Jahrhunderts den »Psychosynthese«-Ansatz, der von Piero Ferrucci weiter aufgegriffen wurde.8 Aus der Gestalttherapie ist die Arbeit mit verschiedenen Stühlen bekannt; in der systemischen Arbeit kann auch die »innere Familie« oder das Innere Team aufgestellt werden. Auch Ansätze von Richard C. Schwartz zur Inneren-Familien- oder der Inneren-Kind-Arbeit insgesamt können hier eingeordnet werden.9 Virginia Satir griff in ihrem Band »Meine vielen Gesichter« die Idee der Teile auf.10 Luise Reddemann arbeitet im Kontext der Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (PITT) mit InnerenTeam-Mitgliedern.11 Gunther Schmidt spricht in der systemischen Beratung vom »inneren Parlament« und Frank M. Staemmler entwickelte das Konzept des »Dialogischen Selbst«.12 Einen festen Platz im Beratungs- und Coachingbereich hat das »Innere Team« von Friedemann Schulz von Thun, das sich als wertvolles Werkzeug im Umgang mit der inneren Pluralität erwiesen hat.13 Im Folgenden möchte ich den Ansatz, der »Ego-State-Therapie« vorstellen, die sich in den vergangenen Jahren im psychotherapeutischen und klinischen Feld als ein besonders integratives und anregendes Verfahren der Teile-Arbeit durchgesetzt hat. Auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede vom Inneren Team und dem Ego-State-Ansatz soll unter 2.5 genauer eingegangen werden. Was verbirgt sich hinter den »Ego-States«, übersetzt: den »Ich-Zuständen«? Der Begriff »Ego-State« stammt von John und Helen Watkins, Schüler des 8 9 10 11

Roberto Assagioli: Psychosynthese und transpersonale Entwicklung. Rümlang 2008. Richard C. Schwartz: Systemische Therapie mit der inneren Familie. Stuttgart 2016. Virginia Satir: Meine vielen Gesichter. Wer bin ich wirklich? München 2001. Luise Reddemann: Psychodynamisch imaginative Traumatherapie PITT – Das Manual. 10. Aufl. Stuttgart 2020. 12 Gunther Schmidt: Konferenz mit dem inneren Parlament, der inneren Familie und ihre hypnotischen Wirkungen, Auditorium. Heidelberg 2004; Frank M. Staemmler: Das dialogische Selbst. Postmodernes Menschenbild und psychotherapeutische Praxis. Stuttgart 2015. 13 Friedemann Schulz von Thun: Miteinander Reden: 3: Das »Innere Team« und situationsgerechte Kommunikation. Reinbek 2013.

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Psychoanalytikers Paul Federn, der wiederum Schüler Freuds war.14 Ausgangspunkt ihrer Entwicklungen war die Frage, wie Traumatisierung anders behandelt werden kann als durch eine langwierige Psychoanalyse. Dabei flossen auch die Erkenntnisse von Pierre Janet über strukturelle Dissoziation ein sowie der hypnotherapeutische Ansatz Milton H. Ericksons zur Aktivierung von Selbstheilungskräften. Aus einer Methode, die ursprünglich als Traumamethode eingesetzt wurde, hat sich die heutige »Ego-State-Therapie« (EST) entwickelt, die sich mit vielen Verfahren auf ermutigende Weise verbinden lässt und durch die unterschiedlichsten Vernetzungen gewinnt, z. B. mit dem Wissen um psychodynamische Zusammenhänge, verhaltenstherapeutische Kenntnissen zu Problembewältigung, gesprächstherapeutische Haltung und informative, systemische Perspektiven. Ego-State-Therapie ist nicht nur in ihrem inhaltlichen Anliegen, in dem es um das Kontaktschaffen und Integrieren von Ego-States geht, sondern auch in ihrer Offenheit gegenüber anderen therapeutischen und seelsorglichen Verfahren »integrativ«. Sie kann in der Therapielandschaft viele verschiedene »Dialekte« sprechen und Grundlage einer »integrativen Beratung« sein. Dem Defizit nach Verbundenheit, auch innerer Verbundenheit und Identität, kommt die Arbeit mit Ego-States in besonders anregender Weise entgegen: Dabei geht es darum, sich den unterschiedlichen »Ich-Zuständen«, den »EgoStates« (im folgenden Text: ES), in mir einzeln zuzuwenden und sie dann wertschätzend zu einem Team zu verbinden. Der Ansatz geht wie die bereits erwähnten Teile-Konzepte davon aus, dass das »Ich« keine einheitliche, heile, homogene Instanz ist, sondern geteilt, ein gebrochenes oder zumindest in sich unterschiedliches Ich ist. ES können auf unterschiedliche Weise entstehen: Im Sinne eines gesunden Lernens und Reagierens auf die vielgestaltige Wirklichkeit dienen sie als Anpassungsreaktionen an Umweltanforderungen, als »Überlebensidee« der Seele.15 Auch durch Modelllernen, Nachahmen und Introjektion von Vorbildern in der Umgebung bilden sich ES. So geht Hubert J. M. Hermans, ähnlich wie es Schulz von Thun mit der Parallelitätshypothese formuliert, davon aus, dass 14 Vgl. Kai Fritzsche: Praxis der Ego-State-Therapie. Heidelberg 2013. 15 »Ich-Zustände sind Energien der Persönlichkeit, die aus der Interaktion mit der Umwelt entstanden sind und oft aus der Notwendigkeit entspringen, Probleme zu lösen oder Konflikte zu bewältigen. Sie sind kreative Ausgestaltungen sowohl des Gehirns als auch der Persönlichkeit im Bemühen des menschlichen Organismus, durch die Welt zu kommen, in der er lebt.« Claire Frederick: Ausgewählte Themen der Ego State Therapie. Hypnose – Zeitschrift für Hypnose und Hypnotherapie, 2 (1+2), 2007, 19. https://www.meg-stiftung.de/index.php/de/ component/phocadownload/category/1-artikel?download=26:hypnose-zhh-0703-­fredericks (Zugriff am 22.10.2022).

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äußere Erfahrung und innere Dialoge äquivalent gesehen werden können: »So what happens between people can also happen within the mind.«16 Diese verschiedenen inneren Modelle können in friedlicher Koexistenz leben, doch häufig treten auch Meinungsverschiedenheiten auf, die sogar produktiv sein können. Die dritte Entstehungsmöglichkeit, nämlich ES als Anpassungsreaktionen auf traumatische, schmerzhafte Erfahrungen und Verletzungen, kann hingegen zu tiefen Abspaltungen führen und ES ausbilden, die weniger zugänglich und »dissoziiert« sind, die eigene, abgespaltene Energien entwickeln.17 Die Folgen solcher Erfahrungen können bis zu strukturellen »dissoziativen Identitätsstörungen« (DIS)18 und »multiplen Persönlichkeitsstörungen« reichen, in denen einzelne Seiten der Persönlichkeit, von den Betroffenen auch oft als »Innies« bezeichnet, keinen Kontakt mehr zur anderen Seite haben (vgl. Abb. 1 rechts) und eine verbindende, wissende und koordinierende Instanz fehlt (bei Serge K. D. Sulz die »tertiäre Instanz« oder der »tertiäre Selbstmodus«). 19

Abb. 1: Dissoziationskontinuum: Der Kontakt unter den Ich-Anteilen nimmt mit der Schwere und Pathologie von links nach rechts ab bzw. Abkapselung und Dissoziation nehmen zu (eigene Darstellung)

Die Grundannahme der EST lautet, dass es für alle Seiten in mir, für alles, was »da« ist, einen guten Grund gibt. Und dass sich die Seele – ähnlich wie unser Körper bei der Verdauung – von Elementen löst, die sie nicht mehr braucht. Was von der Seele jedoch aufgrund der Intensität der Erfahrung als »notwendig« eingeordnet wird, bleibt wie in einer Vorratskammer bereit für weitere Einsatz16 Hubert J. M. Hermans/Thorsten Gieser: Handbook of Dialogical Self Theory. Cambridge 2010. Vgl. Vortrag: Dialogical Self – Hubert Hermans, 31.05.2017. https://recoverynet.ca/2017/05/31/ dialogical-self-hubert-hermans/ (Zugriff am 23.09.2022). 17 Vgl. Woltemade Hartman/Luise Reddemann/Gunther Schmidt: Einführung in die Ego-StateTherapie. Ich bin viele. Multiple Ich-Prozesse und wie man sie nutzen kann, Auditorium. Müllheim 2009. 18 Otto van der Hart/Ellert R. E. S. Nijenhuis/Kathy Stele/Theo Kierdorf: Das verfolgte Selbst. Strukturelle Dissoziation. Die Behandlung chronischer Traumatisierung. Paderborn 2008. 19 Vgl. Serge K. D. Sulz/Thomas Bronisch (Hg.): States of Mind, Ego States, Selbstmodus – von der zerrissenen zur integrierten Persönlichkeit. München 2013, S. 38–64.

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fälle. Sind ES durch besonders ungewöhnliche, vielleicht auch traumatisierende Situationen entstanden, kann sich dasselbe ES, das ursprünglich für das Überleben in bestimmten Zeiten so wertvoll war, in einer weniger bedrohten und harmloseren Wirklichkeit jedoch (z. B. in Form unerwarteter und unkontrollierbarer Flashbacks) auch als störend und hinderlich erweisen. Sulz spricht im Rahmen seiner Strategisch-Behavioralen Kurzzeittherapie auch von »Überlebens-Regeln«, die dem Über-Leben dienten, in den meisten Fällen jedoch leider keine »Lebens-Regeln« sind.20 Rauswerfen ist also keine Option – auch wenn manche Ratsuchenden als Erstes denken: »Weg damit!« Es gilt, Vielfalt auch innerseelisch anzuerkennen und zu fördern, denn – um eine Metapher aus der Ökologie zu nutzen – Monokulturen sind (zumindest auf längere Sicht) weniger ertragreich und Biodiversität ist ein Überlebensasset, das auch vor Totalausfällen schützt. Es stellt sich die Frage nach einer neuen Eingliederung aktuell »störender« ES. Zentrale Qualitäten sind in diesem Zusammenhang innere Beweglichkeit und Perspektivenwechsel, denn sie erlauben bei äußerlicher Unverändertheit innere Umdeutungen (bei Milton H. Erickson »Reframing« genannt21). Im Bild der Tischgemeinschaft gesprochen, geht es letztlich darum, immer mehr Seiten der eigenen Person bewusst zu machen, sie nicht »unter den Tisch« zu kehren, sondern an den Tisch einzuladen. 2.1  Ziele und Vorgehen der Ego-State-Arbeit in der Beratung Ziel der ES-Arbeit ist es, zunächst mehr Informationen über die einzelnen, unterschiedlichen Anteile zu bekommen, die zu einem bestimmten Thema auftauchen. Systemisch formuliert geht es, wie Gunther Schmidt es beschreibt, um Informationsgewinn durch »Unterschiedsbildung«: Welche unterschiedlichen Seiten in mir melden sich zu einem bestimmten Anliegen? Wenn es z. B. darum geht, die Eltern in ein Heim zu geben oder selbst zu pflegen, können sich unterschiedliche »Stimmen« bemerkbar machen: eine fürsorgliche und familienloyale Stimme (»Wenn Not am Mann/an der Frau ist, dann möchte ich da sein und nicht einfach delegieren!«), eine Stimme mit Angst vor Überforderung (»Das kann grenzwertig werden, wer weiß, wie lange das gut geht?«) und weitere. Im Gegensatz zur Transaktionsanalyse oder anderen Verfahren wie Richard C. Schwartz’ »Innerer Familie« werden in der EST keine festen Kategorien wie 20 Vgl. Serge K. D. Sulz/Gernot Hauke (Hg.): Strategisch-Behaviorale Therapie. Theorie und Praxis eines innovativen Psychotherapieansatzes. München 2009. 21 Vgl. Sidney Rosen (Hg.): Die Lehrgeschichten von Milton H. Erickson. Salzhausen 1994.

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»Eltern-Ich«, »Kinder-Ich« oder »Verbannte«, »Wächterinnen« und »Firefighter« vorgegeben. Die Unterscheidung wird bewusst offengehalten und die Namen für die verschiedene ES – hier z. B. die »Loyale« oder »der Besorgte« – werden von den Ratsuchenden selbst gewählt. Nach dem Kennenlernen der verschiedenen Seiten geht es um das Würdigen, Nutzen und Versorgen dieser Seiten in mir, um schließlich einen Zustand der Integration zu unterstützen, in dem die einzelnen ES in vollständiger Kommunikation miteinander stehen, mentale Inhalte austauschen und in harmonischen Beziehungen miteinander existieren. Unter 2.4. wird das konkrete Vorgehen in einzelnen Schritten vorgestellt. 2.2 Vorteile der Arbeit mit inneren Anteilen oder: Her mit den Ambivalenzen! Ein großer Vorteil der Unterscheidung verschiedener innerer ES liegt darin, Identität differenziert wahrzunehmen und damit »minimal invasiv« zu beraten: Nicht alles ist betroffen oder verletzt, nicht die ganze Ratsuchende hat »ein Problem«. Es muss einen Anteil geben, der z. B. dafür gesorgt hat, dass die Ratsuchende in das aktuell stattfindende Beratungsgespräch kommen konnte – sonst wäre sie jetzt nicht da. »Was hat dazu beigetragen, dass Sie es geschafft haben, heute hier zu sein? Wer und was hat Ihnen geholfen?« Vielleicht erscheint der Ratsuchenden diese Frage in der ersten Stunde banal, doch sie kann das Wahrnehmen ressourcenreicher ES fördern und damit bereits eine Grundlage legen – zudem macht es Beratende und Ratsuchenden erfahrungsgemäß Freude, sie zu beantworten. Von der ersten Stunde an können ressourcenreiche ES gewürdigt und anerkannt werden und destruktiv wirkenden ES unterschieden werden. Differenzierung und Verflüssigung, wie sie in den systemischen Kurzzeittherapien Usus sind, können so auf eine spielerische, elegante Weise stattfinden. Oder wie es eine Klientin an einer entscheidenden Stelle ihres Weges formulierte: »Ich habe gemerkt: Ich bin nicht mein Schmerz. Ich bin mehr.«22 Diesen Satz gilt es als Beraterin aufzugreifen und als Anteil gleich zu bestätigen: »… und dieses ›Mehr‹, das Sie sind und das Sie jetzt bemerken können, ist herzlich willkommen.« Auf die Wirklichkeit unterschiedlicher Anteile in mir – im Sinne von »Wirklichkeit als das, was wirkt« – wird von Anfang an aufmerksam geschaut, um sie dann auch therapeutisch nutzen zu können. Auch wenn Ratsuchende 22 Vgl. Übung bei Reddemann 2021, S. 57: »Um hilfreiche Distanz zu schaffen, hat es sich als sehr hilfreich erwiesen, sich sagen zu können: ›Da ist (meine Angst, Wut, Schwermut, Schmerz) – und ich bin mehr als meine …‹«

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eine Situation z. B. schon von sich aus wertfrei und achtsam beschreiben, kann dies ein Anlass sein, anzuerkennen, dass es eine »innere Beobachterin« oder einen »Zeugen« gegeben haben muss, die bzw. der nicht wertend oder kritisch ist – und die bzw. den wir dankbar würdigen und auch in Zukunft als Ressource bewahren können. Das »Mehrere-in-sich-Sein« hat auch Vorteile, welche die Philosophin Hannah Arendt in ihrem Pluralitätsgedanken aufgreift. Die »Zwei-in-einem-seinIdee« war für sie zentrale Voraussetzung für das Denken: »Das Denken ist, existentiell gesehen, etwas, das man allein tut, aber nicht einsam: allein sein heißt mit sich selbst umgehen; einsam sein heißt allein sein, ohne sich in das Zwei-in-einem aufspalten zu können, ohne sich selbst Gesellschaft leisten zu können.«23 Das abstrakte Denken ist ein Dialog, der erst durch die innere Gespaltenheit möglich wird. Sokrates betont im 4. Dialog von Platons Phaidon, dass es kein Zusammenfinden ohne Reflexion gäbe.24 »Re-Flexion« setzt eine Zweiteilung voraus: Es muss einen Teil geben, der wahrnimmt, und einen Teil, der gesehen wird, Beobachter und Beobachtetes. Hannah Ahrendt entwickelt den Gedanken des »Zwei-in-einem« noch weiter, indem sie annimmt, dass es das Wesen des Bösen ist, diesen inneren Dialog nicht zu ermöglichen. Das »Andere« darf es nicht geben, ein Perspektivenwechsel darf nicht stattfinden. Das Böse ist dadurch böse, dass es nicht dialogfähig ist. Wird es dialogfähig, das heißt, öffnet es sich dafür, andere Wahrnehmung und andere Stimmen anzuerkennen, ist es nicht mehr böse.25 Das Böse ist das, was nicht in Beziehung ist, was vom Dialog ausgeschlossen ist oder sich selbst ausschließt. Es darf gefragt werden: Will es selbst nicht in Beziehung treten? Dann ist es die Würde seiner freien Entscheidung und es bleibt nur, immer wieder um diese Beziehung zu werben und einzuladen. Oder 23 Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. Das Denken. München 1989, S. 184. Sie setzt den Gedanken fort, indem sie einerseits bemerkt, dass das Zusammenleben mit anderen damit beginne, dass man mit sich selbst zusammenlebe. Andererseits könne diese »Zwei-in-einemGespaltenheit« nicht durch das Denken selbst beendet werden, sondern nur durch das Gespräch mit anderen, das einen »herausreißt und wieder zu Einem macht – zu einem einzigartigen Menschen, der nur mit einer Stimme spricht und von allen als ein einziger Mensch erkannt wird« (S. 184). 24 Hannah Arendt: Sokrates, Apologie der Pluralität. Berlin 2016, S. 57. 25 Vgl. Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 2011.

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kann es nicht in Beziehung kommen, obwohl es möchte? Weil ihm bisher keine Chance gegeben wurde, weil es nicht einmal gesehen wurde? Für viele Ratsuchenden ist es neu, verschiedene innere Seiten in sich anzunehmen, mit sich selbst »innere Dialoge« zu führen, ohne dass man dabei »verrückt« ist, weil man doch dann mit sich selbst spricht. Oft braucht es Ermutigung und ein Vorbild. Das kann die Berater selbst anbieten, indem sie fragt, ob er mit dieser Seite sprechen darf und ein einfaches Gespräch wie »von mir zu dir« beginnt. Wer diesen Schritt für sich ausprobiert – und es kommt ja nichts dabei zu Schaden – erfährt, dass solche Dialoge im wahrsten Sinne des Wortes befriedigend sein können. Denn die Seiten in uns, vor allem diejenigen, die besonders bedürftig sind, wollen gesehen werden und nicht unter den Tisch fallen. Gerade in der Förderung von innerer Beziehung und Identität zeigen sich die außerordentlichen Vorzüge der ES-Arbeit. Selbstfreundschaft lässt sich so in konkrete Aufgaben übersetzen, auch mit dieser und jener mir ungefälligen Seite Freundschaft zu schließen. Und der biblische Begriff »Selbstliebe« bekommt ein konkretes Gesicht, oder vielmehr: viele Gesichter. Die innere Vielfalt ist auch beim Entwickeln von »Selbsttröstungs-Kompe­ tenz«26 sehr nützlich, wenn es um Bedürfnisse geht, die von anderen nicht gesehen und deshalb bisher auch nicht gestillt werden können. Eine sich selbst zugewandte Tröstung kann über die Vorstellung einer Matrjoschka verdeutlicht werden: Außen ist die biografisch aktuelle Schicht und nach innen werden die Figürchen immer kleiner und jünger. Wenn man die Figuren nebeneinander aufstellt, ergibt sich eine biografische Reihe bzw. um den Tisch herum eine Runde unterschiedlich alter Anteile oder »innerer Kinder«. Vorausgesetzt, dass es zumindest rudimentäre, äußere Erfahrungen für Trost, Zuwendung und Fürsorge gibt, können nun eigene, ältere, erwachsene und fürsorgliche ES die jüngeren, bedürftigeren und unterversorgten Anteile selbst versorgen, wiegen oder beruhigen: So kann »Selbsttröstung« stattfinden. Im Sinne einer »Selbst­ beelterung« oder eines »Reparenting« führen die erwachseneren ES die kleineren, bedürftigeren ES auf gute Weise: Sie suchen den Kontakt, lernen Bedürfnisse zu lesen und zu erfüllen. Diese Phase kann der »Inneren-Kind-Arbeit« zugeordnet werden und hat auch rückwirkende Effekte. Indem ungeborgene, jüngere Anteile liebevoll versorgt werden, kann sich auch das erwachsene Ich nach und nach in einer niemals ganz sicheren Welt zurechtfinden.27 Kai Fritzsche formuliert als Ziel der ES-Arbeit 26 Luise Reddemann: Imagination als heilsame Kraft. Ressourcen und Mitgefühl in der Behandlung von Traumafolgen. 19. Aufl. Stuttgart 2016, S. 23. 27 Reddemann 2016, S. 72.

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»die Befähigung von Menschen mit Hilfe ihrer ESs eine höhere innere Konsistenz und Kohärenz im Austausch-Prozess mit der Umwelt herzustellen und damit Wachstumsprozesse, Entwicklungspotentiale, Beziehungsfähigkeit und Selbstbestimmtheit zu fördern. Es geht um Integration von Persönlichkeitsanteilen. Die Integration erhöht die Fähigkeit, sich in der Welt zurechtzufinden, also den Anforderungen, die das Leben stellt, angemessen begegnen zu können und Zufriedenheit und Glück zu erleben.«28 Das Bild der Tischgemeinschaft und einer einladenden Gastgeberin ist nur eine Möglichkeit von vielen, um innere Verbundenheit zu vermitteln. Je nach persönlichem Hintergrund kann man sich sein Inneres Team auch als Orchester oder Chor mit Dirigenten vorstellen, als Fußballteam mit Trainerin, Bergsteigergruppe oder Seilschaft mit Führer, Schiffsmannschaft mit Kapitänin, als Whatsapp-Gruppe u. v. m. Bei einem Klienten waren seine innere Teammitglieder eher »fliegend oder kriechend unterwegs« und so dachte er über einen »Bauernhof« nach. Die Frage nach der Passung der Metapher und dem Rapport gehört von Fall zu Fall neu gestellt.29 Vorteile von Teile-Arbeit am Beispiel der Beratung mit Ego-States *Differenzierung und Unterscheidung betroffener und ressourcenreicher Anteile: Nicht der ganze Mensch ist vom Anliegen betroffen, sondern einzelne Anteile. Dadurch werden Ratsuchende sensibel für die Unterscheidung zwischen unbetroffenen/stabilen und betroffenen Anteilen. In der systemischen Beratung wird von »Verflüssigen« gesprochen: Greta ist nicht depressiv, sondern zeigt sich bzw. einen Anteil in bestimmten Situationen depressiv. Hier kann Stuhlarbeit eine wertvolle Hilfe sein: Der betroffene Anteil/das Anliegen oder Problem bekommt einen Extra-Stuhl (bzw. -Stühle). *Ressourcen-Orientierung: Durch die Eingrenzung des Fokus auf die betroffenen Anteile werden indirekt die restlichen, anderen Anteile als stabilisierende Ressourcen und kompetente Seiten gesehen und gewürdigt.

28 Fritzsche 2013, S. 84. 29 Vgl. Bernhard Trenkle: Dazu fällt mir eine Geschichte ein. Direkt-indirekte Botschaften für Therapie, Beratung und über den Gartenzaun. Heidelberg 2017.

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*Fokus auf den betroffenen Teil der Identität und »minimalinvasive Intervention« Die Begegnung konzentriert sich direkt auf den bedürftigen und betroffenen Anteil, mit dem die Ratsuchenden allein nicht weiterkommen. Dadurch kann die Intervention viel punktgenauer gesetzt werden im Sinne einer »minimalinvasiven Intervention«. *Externalisieren des Themas und Aktualisieren des Problems 30 *Perspektivenwechsel durch Disidentifikation (Ich und mein Anliegen): Der Abstand, beim Arbeiten mit Stühlen auch äußerlich sichtbar, schafft neue Blickwinkel und Perspektiven auf den inneren Anteil. *Aufwertung der »betroffenen Seiten«: Durch den Blickwechsel und den offenen, wertschätzenden Umgang entwickeln sich im Sinne von Reframing eine Umbewertung und Transformation des ES (Utilisation). *Therapeutinnen können durch den unmittelbaren Umgang mit dem betroffenen Anteil modellhaft einen wertschätzenden, aufmerksamen Umgang vormachen und vermitteln. *Synchronisieren und Koordinieren der verschiedenen Seiten und Anteile: Durch gegenseitiges Wahrnehmen, Erkennen und Anerkennen) wird innere Kooperation und Kohäsion identitätsstiftend gestärkt.

2.3 Vorgehen für traumatisierte Ratsuchende Wenn aus der Vorgeschichte deutlich wird, dass bei Ratsuchenden dissoziative Bewältigungsmuster zum Selbstschutz notwendig geworden sind, ist vor der Begegnung mit inneren Anteilen Stabilisierung angebracht. Für Traumatisierte gleicht die Einladung, ihre Aufmerksamkeit auf sich selbst zu richten, oft einem Gang in die »Höhle des Löwen«. Wenn sie die Augen schließen und sich auf sich selbst konzentrieren, tauchen nicht selten bedrohliche Zustände auf, manches ist gar nicht auszuhalten und führt direkt in Dissoziationen. Daher ist ein Vorgehen gefragt, das ein hohes Maß an Kontrolle und Einfluss erlaubt, um Sicherheit im Umgang mit sich selbst entwickeln zu können. Ein Weg nach innen mit Haltegriffen, mit »Netz und doppeltem Boden«. Wieder heil aus den Reisen nach 30 Vgl. die Wirkfaktoren bei Klaus Grawe: Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession. Göttingen 2001.

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innen zurückzukommen, ist eine essenziell wichtige Erfahrung, denn oft wird die innere Landschaft als »vermintes« Gelände erlebt. Um Wege zu finden, auf denen man sicher um die »Tretminen« herumfindet und es womöglich sogar noch ganz gut mit sich hat, ist das Erleben von Sicherheit und Stabilität im Selbstumgang zentral. Die Vorgehen, wie sie Reddemann sowie Hartman und Fritzsche entwickelt haben, beginnen zunächst mit der Verankerung in der äußeren Wirklichkeit:31 Während einer Entspannungseinleitung wird die Aufmerksamkeit einer Klientin auf den Bodenkontakt und die Atembewegungen gelenkt. In einem zweiten Schritt wird die Klientin eingeladen, sich einen »sicheren Ort«, ein »Wohlfühlort« oder »Ort der Geborgenheit« vorzustellen. Das ähnelt einem »Basislager«, von dem aus man seine Exkursionen und Entdeckungsreisen nach innen beginnen und wieder abschließen kann: ein Ort, an dem man ausruhen, regenerieren, Kraft tanken und Mut fassen kann. Der Ort in der Vorstellung der Klientin kann ein reiner »Fantasieort« sein, es kann sich aber auch um reale Orte aus ihrer Erinnerung handeln, an denen sie sich absolut sicher fühlt. Von dort aus geht die innere Vorstellungsreise dann weiter zu einem zweiten Ort, der als Treffpunkt zum Kennenlernen mit einem der ES dient. Hilfreich ist die Vorstellung eines Gastraums. Man selbst ist der Gastgeber, der die Initiative ergreift, der Gäste einladen, aber auch verabschieden kann und Kon­trolle über die Situation hat. Die Unterscheidung zwischen dem ersten, »sicheren Ort« und dem zweiten »Treffpunkt-Ort« ist wichtig, da beim zweiten Ort auch Begegnungen mit inneren Anteilen stattfinden können, mit denen sich die Klientin gar nicht mehr so sicher fühlt. Die meisten ES, die man sich mit therapeutischer Begleitung anschauen möchte, sind mit Ängsten verbunden. Oft handelt es sich dabei nicht um ein »ressourcenreiches Ego-State«, das man ja gern einlädt, sondern um sogenannte »symptomassoziierte, bedürftige Ego-States« (z. B. »mein Gefühl der Verlassenheit«, auch »traumatisierte Anteile« genannt) oder um »destruktive Ego-States« (z. B. »mein strenger, innerer Kritiker, auch »Täter-Introjekt« genannt), mit denen man seine liebe Not haben kann. Wäre der Kontakt einfach, hätte er sich schon von allein ergeben – doch die Ängste verhindern die Integration und an dieser Stelle ist therapeutische Unterstützung von außen besonders wichtig. Diese Seiten oder Symptome können in der sogenannten »Hausgastübung« aus der Hypnotherapie als »ungebetene Hausgäste« an den Treffpunkt eingeladen werden.32 31 Vgl. Reddemann 2020; Kai Fritzsche/Woltemade Hartman: Einführung in die Ego-State-­ Therapie. 7. Aufl. Heidelberg 2019. 32 »Hausgastübung« in Anlehnung an Ortwin Meiss, vgl. Dirk Revenstorf/Burkhard Peter: Hypnose in Psychotherapie, Psychosomatik und Medizin. Manual für die Praxis. Heidelberg 2015, S. 503 f.

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Um für die Begegnung mit symptomassoziierten oder destruktiven ES besser gerüstet zu sein, kann es eine wichtige Unterstützung sein, Ressourcen vorzubereiten: Ressourcenreiche ES wie »innere Beobachterin«, »innerer Helferin« oder »innere Stärke« sind wertvolle, oft unverzichtbare Unterstützungen in der Tischrunde, wenn es darum geht, schwierige ES kennenzulernen, die bisher eine Überforderung waren. Schritt für Schritt wird auf diese Weise – wie mit mehrstufigen »Absicherungshaken« – die Begegnung mit den ES vorbereitet, die der Klientin Kummer oder Angst in Form von Derealisation und Depersonalisation bis hin zu Dissoziation bereiten. Für das Einladen von inneren, ressourcenreichen ES im Vorfeld nimmt man sich in der Beratung Zeit. Im Sinne eines »Stepped-Care-Programms« kann nach jedem Schritt unterbrochen und geprüft werden, ob und welche Verbesserung bereits erlebt wird. Erst, wenn sich die Ratsuchende stabil genug fühlt, wenn ein sicherer Ort, ein Treffpunkt und die innere Gastgeberin sowie innere Helferin oder Stärke vorbereitet sind, wird der Anteil »eingeladen«, mit dem es die Ratsuchende bisher schwer hat, um ihn kennenzulernen, zu versorgen und einzubeziehen. Dieser Prozess darf jederzeit (mit Rückweg über den »sicheren Ort«) abgebrochen werden, da Kontrolle, Freiwilligkeit und »self-efficacy« (Selbstwirksamkeit) zentrale Voraussetzungen für die Kontaktaufnahme sind. In der Begegnung mit dem Anteil geht es ums Kennenlernen (»Woran erinnert mich dieser Teil? Wie alt ist er?«), um das Erfragen seiner Aufgabe (»Wofür ist er hilfreich? Was ist seine gute Absicht?«) und seiner Bedürfnisse (»Was braucht er?«). Ziel ist es, diesen Anteil unter eigener »Regie« in das innere Team zu integrieren, mit all seinen Rechten und Pflichten. Die Rückführung findet dann über den »sicheren Ort« in die äußere Realität statt – nach einer Verabschiedung und einem Dank an diesen Anteil, der auf die Einladung reagiert hat.

Einladen von

»Sicherer Ort« Entspannung

Ort der Geborgenheit

Treffpunkt, z. B. »Gastraum«

1. ressourcen­ reichen ES (wie Innere Beobachterin, Innerer Helfer, Innere Stärke) 2. symptomassoziierten ES (wie Angst, Verlassenheit etc.) 3. destruktiv wirkenden ES/ Inneren Kritikerinnen

Abb. 2: Vorgehen »mit Netz und doppeltem Boden« bei dissoziierten, traumatisierten Ego-States (eigene Darstellung)

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Das sogenannte SARI-Modell von Woltemade Hartman, ein Akronym, das für Stabilisierung, Aktivierung ressourcenvoller und traumaassoziierter ES, Restabilisierung und Integrationsarbeit steht fasst diese Schritte zusammen.33 2.4 Vorschlag für ein allgemeineres Vorgehen Integrativer Beratung Was in schweren Fällen hilfreich ist, das ist es auch oft in den leichteren – mit dieser Erfahrung lassen sich aus dem Umgang mit traumatisierten Ratsuchenden Erkenntnisse für allgemeinere Beratungsprozesse übernehmen. Auch wenn es »so eine Sache ist« mit methodischen Vorschlägen –»The map is not the territory« (Alfred Korzybski), eine Landkarte kann nur eine verkürzte Abbildung der Wirklichkeit anbieten –, so möchte ich doch im Folgenden, auch um die Lehrbarkeit zu unterstützen, ein Vorgehen für ein allgemeineres Beratungssetting vorschlagen. Es verbindet einzelne Schritte des ES-Modells, wie sie Kai Fritzsche vorstellt mit Aspekten des inneren Teams nach Friedemann Schulz von Thun.34 In der Regel gibt es ein Anliegen oder Problem, das die Klientin in die Beratung führt, eine Frage, einen Konflikt, eine innere Not, Ambivalenzen, Symptome oder Störungen. Beim Beschreiben durch die Klientin tauchen häufig schon Formulierungen auf wie: »Da meldet sich bei mir aber eine kritische Stimme …« Aufmerksames Zuhören und Fragen schaffen Akzeptanz, wie zum Beispiel: »Stellen Sie sich vor, diese kritische Stimme sitzt Ihnen gegenüber – spüren Sie einmal, wie das ist?« Oder die Klientin beginnt, eine Ambivalenz in sich zu reflektieren: »Einerseits bin ich …, andererseits bin ich …« Durch Rückmelden können die unterschiedlichen Perspektiven zurückgespiegelt werden und die Klientin erfährt, dass Ambivalenzen in der Begegnung mit der Beraterin Raum haben, geschätzt und gewürdigt werden. Auch Begriffe wie »Zwei-fel« oder »Ver-zwei-flung« können beispielsweise deutlich machen, dass sich »zwei« oder mehr Stimmen melden dürfen. Die Hinweise der Klientin auf unterschiedliche Anteile können aufmerksam aufgenommen werden und Neugier und Interesse an weiteren Anteilen geweckt werden. Die Kontaktaufnahme zu den Anteilen kann über Stuhlarbeit oder Gestaltung (Kunst, Musik), über körperliche Symptome oder Emotionen (Affektbrücken), Leitsätze und Gedanken erfolgen. Sie lässt sich jedoch nicht verordnen. Bei Anteilen, die befürchtet oder verhasst sind, kann es sehr lange dauern oder unmöglich werden.

33 Vgl. Fritzsche/Hartman 2019. 34 Vgl. Fritzsche 2013.

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Um so transparent wie möglich zu sein und damit die Mündigkeit und Selbstbestimmung der Ratsuchenden zu unterstützen, können edukative Informationen über ES oder das Innere Team sinnvoll sein. Für die Übersicht der Ratsuchenden ist es eine Hilfe, in zwei Schritten vorzugehen: 1. Als Erstes klären, welche Anteile sich in Zusammenhang mit dem Anliegen melden (bei Schulz von Thun die Erhebung erster Ordnung). Für die Kontaktaufnahme zu diesen Anteilen können den Ratsuchenden unterschiedliche Wege zur Auswahl angeboten werden: Ȥ die Erhebung der Anteile des Inneren Teams auf Papier als bewährtes, strukturiertes Vorgehen35, Ȥ die Einladung der Anteile auf verschiedene Stühle im äußeren Beratungsraum, das den Vorteil hat, beim Setzen auf den Stuhl unmittelbar in Kontakt mit dem inneren Anteil zu kommen – und zugleich den sicheren Rahmen durch den Kontakt zur Beraterin zu nutzen, Ȥ das innere Vorgehen mit »sicherem Ort«, Treffpunkt und inneren Ressourcen (vgl. 2.3), das den Vorteil hat, dass die Ratsuchenden auch in »Eigenregie«, wenn sie später mit sich alleine sind, auf die in der Beratungsstunde vorgebahnten Kontakte zurückgreifen können. Kontakt ist jedoch noch nicht Austausch und Kommunikation. 2. In einem zweiten Schritt kann entschieden werden, welchem einzelnen Anteil man sich in der Beratung zuwenden möchte, welcher Anteil ausdrücklich Unterstützung und »Entwicklungshilfe« braucht. Hilfreiche Fragen wären: »Wenn Sie Ihr Team so vor sich sehen: Welcher Anteil interessiert Sie besonders? Mit welcher Seite haben Sie es schwer? Welchen Anteil würden sie gern näher kennenlernen? Wo gibt es Störungen und Probleme in diesem Inneren Team?« Die leitende Frage ist: Wer leidet und wer braucht Hilfe?36 Sehr gute Erfahrungen habe ich damit gemacht, diesen zweiten Schritt über Stuhlarbeit zu vertiefen, z. B. im ersten Schritt über eine Erhebung des Teams auf dem Papier eine Übersicht zu schaffen, sich dann aber über Stuhlarbeit einem einzelnen Teil zuzuwenden.

35 Vgl. Dagmar Kumbier: Das innere Team in der Psychotherapie, Methoden- und Praxisbuch. 4. Aufl. Stuttgart 2016. 36 Reddemann 2021, S. 110.

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Häufig überspringe ich auch den ersten Schritt einer Gesamterhebung des Inneren Teams und wir konzentrieren uns auf die Anteile, die am »Wegrand« liegen – oder vielmehr im Weg zu liegen scheinen, stören, irritieren, nerven, noch unbekannt sind. Manche Anteile sind sprachlich nicht zugänglich, z. B. zu jung oder zu ängstlich, uninteressiert, frustriert oder verbittert. Über den Körper oder Bilder und Zeichnungen, mitgebrachte Musik Zugang zu finden, ist dann wertvoll. In einem weiteren Schritt geht es um das Vermitteln von Akzeptanz und Annahme für die inneren Anteile. Und dann um ein Verständnis, wofür die Anteile da sind und welche Funktionalität sie haben. Wichtig ist die Anerkennung der Ratsuchenden: »Es ging nicht anders! Dieser Anteil war in einer bestimmten Zeit notwendig!« In einem weiteren Schritt geht es um die Unterstützung des Anteils: Gemeinsam wird gesucht und geprüft, was dieser Anteil tatsächlich braucht. Dann darf gefragt werden, wie er genutzt werden kann, welche neuen Aufgaben, Bündnisse oder Kooperationen im Inneren Team möglich sind, was zum Ziel führt, in dem es um die Entwicklung eines Inneren Teams geht. Oft ist diese Entwicklungsaufgabe unklar. Das kann z. B. mit Fragen wie dieser angeregt werden: »Angenommen, Sie könnten sich selbst bzw. diesem Anteil in Ihnen einen ›Herzensbildungskurs‹ zusammenstellen, ein bisschen so, als könnten Sie selbst ein Curriculum basteln und einen Kursplan, der das enthält, was Sie schon lange einmal aufbauen und entwickeln wollten: Worum könnte es hier gehen? Bei diesem Anteil mit diesem, Ihrem Anliegen?!« Und zu guter Letzt darf die Frage gestellt werden: »Wie kann ich die Anteile zu mir nehmen und damit in der Welt herumgehen?« Und auch: »Welche Freude kann ich mit diesem Team erleben?«37 Eine besonders stärkende Intervention ist das Hin-und-Herpendeln zwischen dem Anteil, mit dem gearbeitet wird, und einem anderen, ressourcenreicheren Anteil, da er die intrapsychische Vernetzung stärkt und bereits vorhandene eigene Ressourcen ins Spiel bringt. Wenn es um ein weiteres punktgenaues Nachentwickeln und Nähren geht, besteht die Möglichkeit, dem einzelnen Anteil, das sich (nach-)entwickeln möchte, Interventionsangebote zu machen. Das können z. B. Folgende sein:

37 Vgl. Reddemann 2021, S. 148.

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Ȥ eine SORKC-Analyse aus der Verhaltenstherapie38 (um zu verstehen, wo, wann es sich meldet, mit welchen inneren Prinzipien und äußeren Reaktionen und Konsequenzen), Ȥ einer Bilderwahl mit dem Zürcher Ressourcenmodell ZRM (um zu erfahren, welche Mottoziele und Bedürfnisse es bewegen), Ȥ das Ausformulieren einer Überlebensregel nach Sulz39, Ȥ eine Pesso-Struktur, um gezielte Nachsorge anzubieten, Ȥ Soziale-Kompetenz-Rollenspielen (GSK-Training nach Hinsch/Pfingsten40) Ȥ Achtsamkeitsaufgaben usw. An dieser Stelle zeigt sich die integrative Vorgehensweise besonders bereichernd. Vorschlag eines Vorgehens integrativer Beratung im Inneren Team: 1. Anliegen klären 2. Zuhören, Spiegeln und bei Interesse Information über Teilekonzepte einführen 3. Erhebung der verschiedenen Anteile, die sich zu dem Anliegen melden Ȥ über Papier Ȥ über Stuhlarbeit Ȥ über inneren Treffpunkt (Gastgeber-Metapher) Ȥ über Bilder, körperliche Zugänge, Musik, Puppen u. a. 4. Konzentration auf einen Anteil, mit dem man weiter arbeiten möchte Ȥ Kontaktaufnahme und Kennenlernen: • Wann kam er in das Leben der Ratsuchenden? • Welches Alter hat er? Welches Entwicklungsniveau? • Wie könnte man ihn nennen? • Wie ist sein gegenwärtiger Zustand? Wie geht es ihm? • Welche zentralen Überzeugungen, Werte, Emotionen, körperlichen Besonderheiten und Verhaltensweisen zeichnen ihn aus? • Welche Schwierigkeiten, Symptome weist er auf? Ȥ Anerkennen und akzeptieren

38 Vgl. Peter Neudeck/Stephan Mühlig: Therapie-Tools Verhaltenstherapie. Therapieplanung, Probatorik, Verhaltensanalyse. Weinheim 2020. 39 Vgl. Serge K. D. Sulz/Sabine Burkhardt: Das Coaching-Fall-Buch. 13 Berichte über effektive Business-Coachings. München 2014. 40 Vgl. Rüdiger Hinsch/Ulrich Pfingsten: Gruppentraining sozialer Kompetenzen GSK. Weinheim 2015.

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Ȥ Seine Funktion und Kompetenz verstehen: • Was kann er? • Über welche Fähigkeiten verfügt er? • Welche Funktion hat er? Wofür ist er da? • Was würde fehlen, wenn es ihn nicht gäbe? Wenn er im Urlaub wäre? Ȥ Seine Bedürfnisse klären: • Was braucht er? • Welche zentralen Bedürfnisse hat er? Ȥ Beziehung zu anderen Anteilen klären: • Wie steht er zu den anderen Anteilen? • Weiß er von weiteren Ego-States? Ist er bereit zu Kooperation? Ȥ Beziehung zu Gott erfragen: • Weiß dieser Anteil von Gott? Wie erlebt er ihn bisher? Ȥ Interventionsangebote wie SORKC, ZRM, SOKO usw. 5. Integration dieses Anteils in das Innere Team mit Aussicht auf »neue Aufträge«, neue Kooperationsmöglichkeiten und Anerkennung Für die Haltung der Beratenden ist die integrative Grundhaltung wichtig, das heißt, zu vertrauen, dass jeder existierende Selbstanteil eine Funktion hat und eine meist implizite Auswahl getroffen wurde, welche inneren Aspekte überlebensnotwendig sind. Wäre er irgendwann unnötig, würde er – ähnlich wie beim körperlichen Verdauen- ausgeschieden. Und ein »barmherziger Blick« aufseiten der Beratenden ist wertvoll: Auf schwäbisch formuliert gilt es, »warm hinzuguggen« (vgl. Kap. 1). Damit öffnet sich das Feld »supernaturaler«, sprich: spiritueller Ressourcen: In der Mitte darf ich mir Gott vorstellen, wie ich ihn mir in allerherzlichster, freundlichster, weisester, zugewandtester Art vorstellen kann (vgl. Bays Lagerfeuer-Metapher41). Verlangsamung ist eine wichtige Beratungshilfe, die neue Informationen einbringt und bisherige Konflikte in Kontakte wandeln kann: »contingere« – aus dem Lateinischen für berühren – unterscheidet sich von »confligere« – aus dem lateinischen für aufprallen, aufeinanderstoßen – dadurch, dass das Tempo rausgenommen ist. In beiden Fällen geht es um eine Verbindung – die Qualität ändert sich jedoch mit der Verlangsamung, der Kontrolle und Selbstbestimmung, die damit einhergehen. »Friedensarbeit« im Inneren oder Identitäts- und Persönlichkeitsentwicklung bekommen durch dieses Vorgehen eine ganz konkrete Handhabung.

41 Brandon Bays: The Journey. Kassel 2020.

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Mit einer kleinen »Handhabung«, die im wahrsten Sinne des Wortes in der »Hand« liegt, können die Schritte auch für Kinder konkret werden: »HAND aufs Herz« für Kinder – und innere Kinder 1. DAUMEN: Daumen hoch für mich! Ich fange mit dem an, was da ist. Ich baue auf die guten Steine. Sicherheit und Wertschätzung: Wo fühle ich mich sicher? Was kann ich schon? Wer hilft mir weiter? Ressourcen suchen. 2. ZEIGEFINGER: Guck mal! (Ich drehe den Zeigefinger zu mir.) Ich achte auf das, was da ist. Ich lerne es kennen und beobachte es. Wahrnehmung: Ich höre auf mit Verachten, Abwerten und Rauswerfen. Ich darf anders sein, und das ist ok. Achtsamkeitsübungen. 3. MITTELFINGER: Wie geht Vermitteln? Wie geht Mit-Gefühl? (Ich zeige nicht den Stinkefinger) Ich stelle mich in die Mitte zwischen alles, was unterschiedlich ist in mir, und suche nach Austausch und Verbindungen. Ich lade mich selbst wie einen Freund und Gastgeber zu einem Treffen ein. Mitgefühl, Akzeptanz. 4. RINGFINGER: Der reiche, kompetente Finger – mit dem (Ritter-)Ring. Ich frage jede Seite: Was kannst du? Wofür bist du gut? Welche Kompetenz hast du schon? Welchen Ritterauftrag/Ring hast du? Funktion von innerem Anteil erkennen. 5. KLEINER FINGER: Das bedürftige Kleine berücksichtigen. Ich frage jede Seite: Was brauchst du von mir, damit du dich weiterentwickeln und wachsen kann? Bedürfnis erkennen

2.5 Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Ego-State-Beratung und Innerem Team Auch wenn in diesem Beitrag der Schwerpunkt auf der Ego-State-Arbeit liegt, soll Raum für ein paar Seitenblicke auf die Beratung mit dem Inneren Team sein: In allgemeinen Beratungssituationen bietet das Innere Team einen besonders einladenden und niedrigschwelligen Zugang an. Das Vokabular ist aus dem Alltag vertraut: »Oberhaupt, Ratsversammlung, Stammspielerin, Frühmelder, Spätmelderin, Neueinstellungen usw.« sind so sympathische Begriffsangebote, dass sie allen zugänglich sind und zum Blick nach innen einladen. Klinische oder »pathologische« Begriffe, die Ratsuchende abschrecken können, bleiben 108

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außen vor. Auch das Erheben der inneren Teammitglieder auf Papier mit Bildern, Sprechblasen und Namen kann eine geradezu fröhliche Angelegenheit werden und bietet eine Strukturierungshilfe, die entlastende und willkommene Übersicht schafft und zu Introspektion ermutigt. Die innere Dynamik zu reflektieren und Einfluss beim Gestalten einer zweiten Ordnung des Inneren Teams zu nehmen, unterstützt und stärkt die Selbstwirksamkeit und den Einfluss des Oberhaupts. Auch Erweiterungen des Inneren Teams, wo bisher Lücken sind, durch Ausschreibungen neue Teammitglieder einzustellen, unterstützen die Identitätsentwicklung. Mit anderen Worten: Das Innere Team ist ein wunderbares und ausbaufähiges Werkzeug im Rahmen einer integrativen Beratung. In manchen Beratungsfällen muss jedoch – nicht nur im klinischen Umfeld – mit traumatisierten Hintergründen gerechnet werden. Wenn dies schon im Vorfeld bekannt ist, ist das EST-Vorgehen möglicherweise der sichere Weg, auch wenn erfahrene, innere Teamberater in solchen Fällen auch Möglichkeiten haben, stabilisierend und feinfühlig aufdeckend zu arbeiten.42 Der Vorteil der EST ist in diesem Fall ihre konkrete Abstimmung auf innere Anteile, die durch traumatische Erfahrungen dissoziiert wurden: Durch das schrittweise Vorgehen über den sicheren Ort, den Treffpunkt und die Ressourcenvorbereitung auf innere Begegnungen wird den Ratsuchenden eine Idee für einen Zugang und damit verbunden auch eine Zuversicht vermittelt, wie schrittweise und trotz »laufendem Betrieb« inneres Aufräumen, Entwickeln und Unterstützen möglich werden. Stärker betroffene, traumatisierte und möglicherweise dissoziierte Anteile können dabei aus »sicherem« Hintergrund miterleben, wie in der Beratung auf einer äußeren oder »inneren Bühne«43 mit den anderen Anteilen umgegangen wird und wie es zu Erleichterung und Verbesserung kommt. Dadurch können sie Vertrauen fassen und werden ermutigt, sich zu gegebener Zeit zu melden. Eine bewusste Vorbereitung auf die innere Begegnung durch vorherige Stabilisierung am eigenen, sicheren Ortes oder die äußerliche Stabilisierung durch die Gegenwart der Therapeutinnen während einer Stuhlarbeit vermitteln den Ratsuchenden indirekt, dass hier ein »tragfähiges Angebot« gemacht wird, das auch Themen und Selbstbegegnung erlaubt, die in einer Inneren-Team-Erhebung vielleicht nur am Rande angedeutet werden. Der Fokus liegt auf der therapeutischen Arbeit und der Unterstützung einzelner ES, um ihre Entwicklung zu fördern. Es besteht sowohl die Möglichkeit, ES in Zusammenhang mit einem bestimmten Anliegen oder Anlass anzuschauen, als auch, im Rahmen einer zeitlich übergreifende 42 Vgl. Kumbier 2016. 43 Vgl. Reddemann 2016, S. 25.

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Identitätsarbeit durch ein biografisches Arbeiten mit »inneren Kindern« ES in verschiedenen Altersstufen einzuladen und sie gezielt zu versorgen. Dem Inneren Team und der EST gemeinsam ist die Wertschätzung von »allem, was kommt«. Kein Anteil wird verbannt oder rausgeworfen. Eine integrative Grundhaltung und der wertfreie Umgang mit den Anteilen ist wichtig, was sich z. B. daran zeigen kann, dass ein neutraler bis positiv konnotierter Name für den Anteil gesucht wird. Durch den Prozess des Kennenlernens und Bewusstmachens und dem damit verbundenen Perspektivenwechsel wird die Funktion des Anteils deutlicher, wodurch es zu einem Reframing kommt bzw., wie es im Inneren Team heißt, aus der Not eine Tugend gemacht wird. In beiden Verfahren wird die Selbstwirksamkeit gestärkt: Nicht das Team hat mich, sondern ich habe dieses Team! Dadurch wächst der Mut, innerlich zu unterscheiden, zu wählen und zu gestalten. Die Idee einer Instanz, die für das Team eine Leitungs- und Koordinierungsrolle hat, die mit einzelnen Anteilen in Kontakt kommt, ist jeweils von großer Bedeutung: Sei es das Oberhaupt (Inneres Team) oder die Gastgeberin- und Hausgast-Metapher (EST) – in jedem Fall bestehen deren Aufgaben darin, Verbindung und Zugang zu schaffen, eine innere »Willkommenskultur« zu entwickeln und dabei nicht selbst im Sinne einer Überidentifikation mit einzelnen Anteilen zu verschmelzen, sondern sich heilsam abzugrenzen (Disidentifikation).44 Besondere Zuwendung der Beratenden gilt in beiden Verfahren den Anteilen, mit denen die Ratsuchenden selbst nicht gut oder gar nicht umgehen können: abgespaltene Anteile, bei Schulz von Thun z. B. finstere Gestalten, Saboteurinnen oder auch stille Wasser hinter den Kulissen, in der ES-Arbeit die mehr oder weniger dissoziierten Anteile. Wenn stabilere Zeiten dafür genutzt werden, den Kontakt mit diesen Anteilen zu bahnen und zu stärken, sind Ratsuchende für künftige Krisenzeiten anders aufgestellt und vorbereitet. Durch die Verbesserung von Teambildung, innerer Kohäsion und intrapsychischer Vernetzung im Umgang untereinander kann zwischen den Anteilen ein konstruktiver Austausch entwickelt werden, wie z. B.: »Da bin ich völlig fehl am Platz! Aber du kannst das – übernimm mal!«

44 Dabei können immer wieder »Herrschaftsklärungen« nötig werden, da perfektionistische, leistungsorientierte und kontrollierende Anteile wie die inneren Kritiker öfters dazu neigen, sich als Oberhaupt aufzuspielen. Es muss ihnen freundlich und bestimmt erklärt werden, dass sie nicht die »Chefs«, sondern »Angestellte« vom Oberhaupt sind bzw. Eingeladene von der Gastgeberin.

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Was für eine Freude, dass Friedemann Schulz von Thun sein Inneres Team auf die Frage nach »Glaube ich an Gott?« in diesem Buch vorstellt. Im folgenden Kapitel möchte ich dem »Inneren Team« die Frage umgekehrt stellen: Ist spirituelles Wachstum überhaupt getrennt von Identitätsentwicklung möglich? Und wenn es diese wesentlichen Überschneidungen gibt, wovon ich persönlich ausgehe, wäre es von großem Interesse, in welcher Weise Gott »ins Spiel« kommt.

3 Ego-States in der christlichen Seelsorge – es geht ums »Ganze« Um leben und überleben zu können, muss sich die menschliche Seele immer wieder an die vielschichtige Wirklichkeit anpassen und selbst »vielgestaltig« werden. Dass dabei der einheitliche, »heile« Zustand verloren geht, wird in der Ego-State-Arbeit als überlebensnotwendige Entwicklung angenommen. Diese Grundannahme ist christlichen Seelsorgern vertraut und korrespondiert mit der biblischen Anthropologie, die den Menschen, sobald er auf diese Welt kommt, als nicht mehr »heil«, sondern von Gott getrennt und unbefriedet beschreibt. In einer der Heilungsgeschichten mit Jesus wird deutlich, welches dramatisch, pathologische Ausmaß die Zerspaltung oder Zersplitterung annehmen kann. Jesus begegnet einem Menschen, der ihm seinen Namen nennt: »Legion heiße ich; denn wir sind viele.« (Mk 5,9)45 Diese Legionen »fuhren« in eine große Herde Schweine, die sich den Abhang hinab in den See Tiberias stürzte – »etwa zweitausend« (Mk 5,13). Die Frage nach der Unterscheidung von »Dämonen« und Ego-States wäre ein Thema für sich. Daran knüpft sich auch die Unterscheidung zwischen Integration und Exorzismus als »Dämonenaustreibung« an. In der ES-Arbeit, deren Prinzip das Differenzieren und anschließende Integrieren46 ist, wird eine Austreibung nicht unterstützt, da dies nur zu weiterer, unheilvoller Vertiefung von Dissoziationen führen würde. Das Geteilt-Sein muss jedoch nicht pathologisch sein – es kann auch zu einem »Gespräch des Herzens« im Inneren führen, einem Gebet werden, wie 45 In der klinischen Arbeit mit multiplen Persönlichkeiten kann es bis zu hundert abgespaltene Unter-Ego-States geben. 46 »Wenn eine Seite nicht Introjekt, sondern Identifikant ist, also ein Teil vom Selbst, kann ich ihr nicht damit drohen, sie zu eliminieren oder zu vernichten, sonst wird das die Zersplitterung noch mehr verstärken und eine größere Dissoziation wird entstehen. Auch die ›bösen Seiten‹ haben eine Schutzfunktion. Da geht es um Konfrontation, nicht um Elimination. Wenn ich mit ihr Tee trinken kann und sie fragen kann: Warum bist du so böse? Erzähl mir mal, was passiert ist? Dann finde ich oft: Behind intense anger is intense sadness. […] So kommt es, dass ich in meiner Praxis schon wesentlich mehr mit dem ›Teufel‹ gesprochen habe als mit Gott.«

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es Psalm 19,15 formuliert: »Lass dir wohlgefallen das Gespräch meines Herzens vor dir, HERR, mein Fels und mein Erlöser.« Das Zwie-Gespräch ermöglicht das Gebet. Und zugleich geht es um ein »Ganz-Werden« im Herzen: Beim Propheten Jeremia (29,13–14) steht das Wort: »Wenn Ihr mich mit ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden lassen.« Liest man dieses Wort im Sinne einer Implikation und dreht es etwas spielerisch, können verschiedene Deutungen möglich werden: Wo das Herz, das Innere Team ganz wird, ist Gott schon da. Vielleicht gar rückwirkend im Sinne von »the whole is the holy«: Da, wo Gott ist, wird das Herz ganz? Oder wie es der Philosoph Volker Gerhardt formuliert: »Schon in der Bemühung um das Ganze kann sich der Mensch mit dem Göttlichen verbunden wissen.«47 Es scheint ums Ganze zu gehen! Das biblische Ideal ist die Seele, die zur Ruhe kommt, das heißt, ganz bei sich und ganz bei Gott ist. Ihr gilt der Friedensgruß »Shalom!« – »Friede sei mit dir!«. Die verschiedenen Seiten können miteinander und mit Gott versöhnt werden. Für den Frieden im Ganzen lohnt sich jeder Einsatz: Der gute Hirte lässt 99 Schafe zurück und geht auf die Suche nach dem einen verlorenen. Das ist ein starkes Bild, in dem deutlich wird, dass es Gott nicht um die Menge geht, denn 99 ist eindeutig mehr als eins – sondern darum, mit dem einen Verlorenen das Ganze wiederherzustellen. Wie sehr Jesus Gemeinschaft und Verbundenheit schon im Kleinen unterstützen und ermöglichen möchte, zeigt seine Verheißung: »Denn wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.« (Mt 18,20) Während im Judentum mindestens zehn (!) im jüdischen Sinne erwachsene Männer (d. h. mit Bar Mizwa) notwendig sind, um einen Gottesdienst zu feiern, verheißt Jesus den Beginn von »Mitten-unterihnen-Sein« schon bei zwei oder drei Mitgliedern. Und das gilt auch für das »Innere Team«: Schon ein kleines Team ist ein Team! Gottes Anliegen ist die Wiederherstellung der Beziehung – die Verbundenheit und der Kontakt mit ihm, mit dem Nächsten, in mir. Vielleicht kann man sogar davon sprechen, dass Gott in der Verbundenheit wohnt und dass die Seele ein »Kontaktorgan« ist, das gerade im Augenblick des Kontaktes aufscheint und präsent wird.48

(Bem.: Selbstvernichtende Anteile, die von den Ratsuchenden selbst so bezeichnet werden) Aus: Woltemade Hartman: Ich bin viele. Multiple Ich-Prozesse und wie man sie nutzen kann, Auditorium. Müllheim 2009. 47 Volker Gerhardt: Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche. München 2014, S. 43. 48 Vgl. Staemmler 2015.

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Im Folgenden möchte ich entlang des Ego-State-Vorgehens (vgl. Abb. 2) auf eine Bilderreise einladen. Ich möchte Bibel-Bilder-Worte als Angebote in der Beratung mit christlichen Ratsuchenden vorstellen. Wohlgemerkt: als Angebot. Das ist in diesen Zusammenhang zentral. Es geht darum, aufmerksam zu beobachten und abzuwarten, ob die Bilderangebote passen – oder nicht. Nonverbale Reaktionen von der Mimik bis zur Atmung als »somatische Marker« sind wertvolle Anzeichen, ob ein Angebot stimmig ist, ob es »integriert« werden möchte. Diese kleinen, im Protokoll scheinbar überflüssigen Momente machen einen großen Unterschied. Es kann nicht darum gehen, »mit einem Bibelvers dem Körper zu sagen, was er jetzt eigentlich spüren soll«49. Das käme einem »spiritual bypassing« gleich, in dem wesentliche Momente der Integration übersprungen würden, um die es jedoch in der integrativen Beratung als zentrales Anliegen geht. Wenn ein Bildvorschlag, das Angebot einer Metapher bei Ratsuchenden jedoch innerlich landet, kann es beispielsweise an einer Vertiefung der Atmung sichtbar werden. Ein leichtes Lächeln kann ein Hinweis sein, auch Gesichtszüge oder der ganze Körper entspannen sich. Biblische Bilder können bei christlichen Ratsuchenden ein Angebot sein, das direkt »ins Allerheiligste« durchgereicht wird und in noch tieferer Weise als Ressource wirken kann. Es ist die »Sprache«, zu der man eine Beziehung entwickelt hat. Mit Anton Mesmer und Pierre Janet kann man von »Rapport« sprechen, wenn es gelingt, in der Beratung eine tiefere Verbindung zur Ratsuchenden herzustellen.50 Die folgenden Seiten sind als eine Art »Metaphern-Büfett« zu lesen, das dem inneren Prozess »Nahrung« geben kann. Die einzelnen Häppchen wollen in bestem Sinne den Appetit anregen – und jede wird auf ihre Weise spüren, was ihr schmeckt. Und natürlich ist das Buffet bei Bedarf ausbaufähig! 3.1 »Sicherer Ort« in der Seelsorge Geht es um einen »sicheren Ort«, in dem sich Schutz und Geborgenheit findet, malt die biblische Bilderwelt sprachliche Bilder: »Er wird dich mit seinen Fittichen decken« (Ps 91,4) oder »Unter dem Schatten deiner Flügel habe ich Zuflucht, bis das Unglück vorübergehe« (Ps 57,2). Unter den Flügeln können viele ES wie kleine Küken in Sicherheit gebracht werden. 49 Peter Lincoln: Zu den Worten hin oder von der Sprache weg. Focusing und Meditation im Vergleich, Focusing Journal, 48/2021, 19. 50 Vgl. Pierre Janet: L’influence somnambulique et le besoin de direction. Revue Philosophique, 43, 1897, 113–143.

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Aus der Architektur kann das Bild des Tempels mit seiner äußeren Bauform und einem inneren heiligen Raum als Metapher für den »Wohnsitz« der Seele im Körper dienen.51 In vielen Bibeln ist hinten im Anhang ein Grundriss der Stiftshütte oder des späteren Tempels zu sehen. Mit den Ratsuchenden diese Grundrisse anzuschauen, kann die Vorstellung anregen, dass die Seele über mehrere Stufen und Schwellen geschützt ist: Wer in den Tempel möchte, betritt zuerst den Vorhof. Der Vorhof schützt den Tempel, der Tempel schützt das Heiligste, das Heiligste schützt das Allerheiligste. Wenn Übergriffigkeit und Missbrauch Thema sind, werden solche Analogien wertvoll: Wie können die schützenden Schwellen repariert oder neu aufgebaut werden? Wie kann ein Gespür für dieses »Allerheiligste« entwickelt werden – oder regenerieren? Könnte es um ein heilsames Sensorium für die unterschiedlichen Schwellen zum Allerheiligsten gehen, dem man sich nur mit bestimmter Vorbereitung nähern, das man selbst als Hohepriester nur einmal im Jahr betreten darf. Im Allerheiligsten selbst spricht Gott zu mir. Der kleine Samuel durfte in einer Übergangszeit sogar seinen Schlafplatz dort unter der Bundeslade haben (vgl. 1. Sam 3,3). Ein echtes Privileg an einem Ort, an dem die Zeit anders »tickt«, an dem schon in den Vorhöfen »ein Tag besser ist als sonst tausend« (Ps 84,11). Tatsächlich ändert sich auch häufig das Zeitempfinden bei der Arbeit mit inneren Ich-Anteilen. Jungen Ratsuchenden, die den Eindruck haben, am falschen Ort zu sein oder Wichtiges zu verpassen, die »FOMO« (»Fear of missing out«) kennen, gibt der Vers aus Psalm 84,11 Stoff zum Nachdenken: »Ich will lieber die Tür hüten in meines Gottes Hause, als wohnen in der Gottlosen Hütten.« Jesus selbst stellt sich schützend vor den Tempel, als es ihn nicht kalt lässt, was dort abgeht, und er mit »heiligem« Zorn die Händler im Tempel austreibt. Wenn einem etwas »heilig« ist, wird es schwierig, unbeteiligt hinzusehen und cool zu bleiben. Mit dieser »hot emotion« macht er deutlich, dass Handel und Kommerz in den Vorhöfen des Heiligsten nicht hilfreich, sondern hinderlich sind. Besonders im Alltag junger Klientinnen und Klienten wimmelt es von Störfaktoren, Angeboten und Ablenkungen. »Handel und Kommerz« haben sich ausgebreitet und es schaut nicht danach aus, dass sie ihre Tische und Zelte wieder mitnehmen und sich zurückziehen, im Gegenteil: Es gibt die Tendenz von Ausbreitung. Oft ist zusätzlich die Zahl der »inneren Kritiker«52 hoch, die im Inneren Team Druck machen und maximale Erwartungen stellen. Mit der 51 Vgl. 1. Kor 3,16: »Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?« 52 Vgl. Jochen Peichl: Rote Karte für den inneren Kritiker. Wie aus dem ewigen Miesmacher ein innerer Verbündeter wird. 7. Aufl. München 2014.

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Energie, die Jesus in die Verteidigung des Tempels steckt, zeigt er, wie wichtig es ist, »heilige Ruhezonen« in sich zu bewahren. Der sichere Ort ist auch ein Ort, an dem es ein Höchstmaß an Wahl- und Gestaltungsfreiheit gibt. Und: Es ist ausdrücklich ein schöner und angenehmer Ort, an dem sich Sinne voll entfalten können. Das Psalmbuch beginnt just im ersten Psalm mit dem Bild eines Baumes, der an den Quellen Gottes gepflanzt ist.53 Die »grüne Aue« und das frische Wasser, von dem in Psalm 23 die Rede ist, sind archetypische Bilder für »Wohlfühlorte«. Und an einem solchen Wohlfühlort tritt Gott in Psalm 23 auch selbst als Gastgeber dazu. Er deckt mir einen Tisch – sogar im Angesicht meiner Feinde. Und damit sind wir beim nächsten Punkt. 3.2 Gastgeberin und Treffpunkt mit biblischen Beispielen Die liebevolle Gastgeberin am Treffpunkt ist Einladung pur. Sie repräsentiert Willkommenskultur. Und ist im Grunde ein innerer Selbstanteil, der für die Koordination, die Verbindung und Vernetzung der verschiedenen Seiten in mir zuständig ist. Schulz von Thun beschreibt als Qualitäten des »Oberhauptes« des Inneren Teams ein »weites Herz«, Barmherzigkeit54, Freundlichkeit, Wärme und das Vertrauen, dass alle »Tischgenossen« wertvoll sind, auch wenn sie das möglicherweise selbst noch nicht erkennen können. Es gilt, »allem, was auftaucht, mit interessierter Neugier und Freundlichkeit zu begegnen.«55 Mit den Worten »Begrüße und bewirte sie alle!« beschreibt der sufistische Mystiker Rumi in seinem Gedicht vom Gasthaus diesen offenen Raum für jedwede Art von Gefühlen. Für jeden Gast gibt es ein Tischkärtchen, auf dem sein Name steht. Keiner muss unter dem Tisch versteckt bleiben. Was da ist, darf da sein – und was da sein darf, darf sich verändern. Über die Haltung der Gastgebenden, die so entscheidend für die Atmosphäre der Begegnung ist, könnte vieles gesagt werden. Hier jedoch das Wesentliche: Die Gastgeberin sieht die Anteile. Dieses Sehen ist ein zentrales, wenn nicht gar das zentrale Moment einer Begegnung (wie es Bachg in seinem Ansatz des »Fee-

53 Das konkrete Bild vom Baum wird als Stabilisierungsübung in der Traumatherapie eingesetzt, vgl. Luise Reddemann 2020. 54 Barmherzigkeit – oder »Compassion« – ist m. E. das wesentliche Element, um innerliche Beweglichkeit und damit auch Transformationen zu ermöglichen, denn im eingefrorenen Zustand ist keine Umdeutung möglich. Vgl. dazu auch Paul Gilbert/Guido Plata: Compassion Focused Therapy. Paderborn 2013. 55 Kristin Neff: Selbstmitgefühl. Wie wir uns mit unseren Schwächen versöhnen und uns selbst der beste Freund werden. München 2013, S. 517.

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ling-seen« betont).56 Eine gute Gastgeberin kann Bedürfnisse lesen, erkennen und moderieren, sodass ihre Gäste zufrieden sind. Diesen Aspekt der Bedürfnisse stellt Klaus Grawe in seiner Definition in den Mittelpunkt, wenn er EgoStates als Mittel beschreibt, »die das Individuum im Laufe seines Lebens entwickelt, um seine Grundbedürfnisse zu befriedigen. Nämlich das Bedürfnis nach 1. Bindung, 2. Kontrolle und Autonomie, 3. Selbstwerterhöhung und 4. Lustgewinn – und sie vor Verletzungen zu schützen.«57 Dass Beratung und Therapie zentral mit dem Erkennen von Bedürfnissen (auch als Auslöser von Emotionen) zu tun haben, rückte auch im Zuge der emotionalen Wende der vergangenen Jahre mehr und mehr in den Mittelpunkt (vgl. Schematherapie, Gewaltfreie Kommunikation usw.).58 Wie in meinem Einführungskapitel »Mahlzeit!« beschrieben trägt im biblischen Menschenbild das hebräische Wort »nefesch« eine Doppeldeutung von »Seele« und »Kehle«.59 Damit ist ein Ort umschrieben, an dem sich Bedürftigkeit konzentriert, nach Wasser, Nahrung und Atem und mehr (vgl. Kap. 7). Aufmerksamkeit für diese Bedürftigkeit am »Grund der Seele« ist auch ein wesentlicher Bestandteil einer achtsamen Selbstmitgefühlspraxis, wie Christopher Germer betont: Die Haltung eines »wohlwollenden Gastgebers« kann dafür sorgen, dass seine Gäste nach jeder Begegnung glücklicher gehen, als sie gekommen sind.60 In der Bibel taucht die Gestalt des empathischen Gastgebenden in vielen Variationen auf: Ein Beispiel gleich aus dem Genesis-Buch beschreibt ein Gastmahl, das Abraham und Sara für den Besuch dreier Männer im Hain Mamre liebevoll bis ins kleinste Detail mit Brot und Zicklein zubereiten. Aus der Per­ spektive der »Teile-Arbeit« gibt es in dieser Begegnung noch mehr zu entdecken: das rätselhafte Erscheinen der drei Männer, die zu diesem Gastmahl eingeladen sind und danach als »ein HERR« gehen (1. Mose 18,2.33). Wozu es bereits in der jüdischen Literatur interessante Deutungsversuche gibt, findet sich im Christentum als vorausweisendes Bild der Dreifaltigkeit Gottes wieder. Da erscheinen drei zum Essen – und einer geht. Was für eine hoffnungsvolle Analogie für die »innere Mahlgemeinschaft«. 56 Vgl. Michael Bachg: Feeling Seen. Einführung in eine körperorientierte Psychotherapie für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern. In: Serge K. D. Sulz (Hg.): Wer rettet Paare und Familien aus ihrer Not? München 2009, S. 137–149. 57 Vgl. Klaus Grawe: Neuropsychotherapie. Bern 2004. 58 Vgl. Jeffrey Young: Schematherapie. Ein praxisorientiertes Handbuch. Paderborn 2013; Marshall B. Rosenberg: Gewaltfreie Kommunikation. 12. Aufl. Paderborn 2016; Leonhard Schrenker: Pesso-Therapie: Das Wissen zur Heilung liegt in uns. Stuttgart 2008. 59 Vgl. Bernd Janowski/Hans Walter Wolf: Anthropologie des Alten Testamens. Gütersloh 2010. 60 Christopher Germer: Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl. Freiburg 2015, S. 118.

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Auch wenn hier nur wenige Beispiele ausgewählt werden können, soll aus dem Neuen Testament das erste Wunder Jesu nicht fehlen. Seine »Premiere« findet nämlich bemerkenswerterweise bei einem festlichen Hochzeitsmahl statt und verwöhnt die Gäste am Ende mit vorzüglichem Wein. Von Genussfeindlichkeit ist an dieser Stelle nichts zu lesen (vgl. Joh 2,1–11). Beim »Picknick mit Jesus« auf dem Berg (Bergpredigt) werden Tausende auch leiblich gesättigt, während für die kanaanäische Frau schon die Brosamen, die unter den Tisch fallen, genug sind (Mt 15,27). Der ältere, »verlorene Sohn« gerät in Anfechtung, als sein jüngerer, heimgekehrter Bruder ein »Böcklein« zubereiten lässt für ein Mahl. Der Vater bittet ihn inständig, doch auch mitzufeiern – ein Gleichnis, das unten in Gretas Fallbeispiel (3.3) auftaucht: »Du solltest aber fröhlich und guten Mutes sein; denn dieser dein Bruder war tot und ist wieder lebendig geworden, er war verloren und ist wieder gefunden.« (Lk 15,32) Daneben gibt es aber auch zahlreiche Gastmahl-Einladungen, die von Gästen abgeschlagen werden, weil sie zu beschäftigt sind und »Wichtigeres« zu erledigen haben. Erfinderische Gastgeber geben die Idee für ein gemeinsames Mahl aber nicht so schnell auf und laden – Plan B! – Gäste von den »Hecken« und »Zäunen« ein, damit das Mahl doch stattfinden kann (Lk 14,15–24). Dann heißt es von Jesus, dass er ausgerechnet mit den Zöllnern und Sünderinnen am Tisch sitzt (Mt 9,11), also denjenigen, die normalerweise »ausgeladen« sind – ein Modell für das Innere Team, die finsteren Gestalten und Schattenwesen in sich, die bisher bildlich unter dem Tisch waren, an den Tisch heraufzuholen. Otto Hofius beschreibt diese Tischgemeinschaft Jesus mit den Sündern in besonderer Weise: »Gott selbst geht in Jesus seinen verlorenen Söhnen nach, umarmt sie und küsst sie und holt sie heim in sein Haus und seinen Tisch zum Freudenmahl […]. Tischgemeinschaft verbindet nicht nur Menschen untereinander, sondern sie verbindet sie VOR Gott und MIT Gott […]. Durch die gemeinsame Mahlzeit werden die Mahlgenossen zu einer Mahlzeit zusammengeschlossen, die unter dem Segen und der Verheißung Gottes steht.«61 61 Otto Hofius: Jesu Tischgemeinschaft mit den Sündern. Stuttgart 1967, S. 25. »Für den Juden besteht der Sinn einer gemeinsamen Mahlzeit nicht darin, dass mehrere Menschen miteinander etwas unternehmen, was jeder auch für sich alleine tun könnte, sondern das Wesen des gemeinsamen Essens liegt darin, dass es die Mahlteilnehmer untereinander und miteinander zu einer Tischgemeinschaft zusammenschließt. Sie ist ein Zeichen enger menschlicher Verbundenheit und Zusammengehörigkeit und setzt Freundschaft voraus.« (S. 8) »Jede Tischgemeinschaft ist für den Morgenländer Gewährung des Friedens, des Vertrauens, der Bruderschaft. Tischgemeinschaft ist Lebensgemeinschaft.« »Der rettende Besuch Gottes auf Erden findet seinen greifbarsten Ausdruck darin, dass Jesus, der Erlöser Israels und aller Heiden, mit den verlorenen Menschen isst und trinkt.« (S. 8)

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Beim letzten Abendmahl teilt Jesus bewusst das Brot mit Judas, seinem Verräter (Joh 13,26). In dieser aufgeladenen Situation, in der vermutlich auch Spannung im Raum, im Jüngerteam war, heißt es jedoch, dass der Jünger Johannes an der Brust von Jesus »ruhte«. Mitten in der ganzen Unerlöstheit des letzten Abendmahls, ja sogar in unmittelbarer Nähe des Verrats sucht und findet Johannes diese Verbundenheit zu Jesus, liegt an seinem Herz und bleibt an seinem »Pulsschlag«. Wie die Mitte im Wirbelsturm, in der selbst eine Baby schlafen kann, zeigt sich diese Ruhe im Team. Dieses Bild fand in der Kirchenkunstgeschichte der Frühgotik zu Beginn des 12. Jahrhunderts vor allem im süddeutschen Raum eine besonders liebevolle Form: Johannes und Jesus wurden aus dem großen Abendmahlsszenario der zwölf Jünger herausgenommen und als »Johannesminne« zu einem eigenen Andachtsbild, vor dem sicher schon viele Menschen spürten: Mitten in den unglaublich ungelösten, oft nicht auszuhaltenden Fragen meines Lebens darf ich am Herzen Jesu ausruhen und trotz allem tiefen Frieden finden.62

Abb. 3: Der Apostel Johannes an der Brust Christi (Christus-JohannesGruppe; Johannesminne), Schwaben (Bodenseegebiet), Anfang 14. Jh. (Details auf Wikimedia Commons: https://commons.wikimedia.org/ wiki/Template:PD-self) 62 Justin Lang: Herzens-Anliegen. Die Mystik mittelalterlicher Christus-Johannes-Gruppen. Ostfildern 1998.

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Am Ende des Abendmahls wird Jesus selbst Brot und Wein, eine Identifizierung mit einem maximalen Angebot für die Tischgemeinschaft: Jesus will selbst Nahrung sein für den Hungrigen, er kann leibhaft ein »Teil« von ihm werden. Eine Integration auf innerlichster Ebene, etwas, was »mir bleibt«. Es ist nicht rückgängig zu machen und transformiert mich von Beginn an. Das Abendmahl, die Eucharistie ist ein Herzstück christlichen Glaubens und für Katholiken das »Sakrament der Sakramente«63. Das geht soweit, dass der Mensch kein »animal rationale«, sondern ein »animal eucharisticum« ist.64

Abb. 4: In Analogie zu Abbildung 3 eine Darstellung des Abendmahls mit Jesus unter den zwölf Jüngern, in der Mitte Brot und Wein, um 1100; italo-byzantinischer Meister (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Italo-Byzantinischer_Meister_002.jpg – als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons: https://commons.wikimedia.org/wiki/ Template:PD-Art-YorckProject)

3.3 Innere Helfer und Innere Stärke bei Gott Treten wir nochmals einen Schritt zurück und blicken auf äußerlichere Ressourcen. Um sich für schwierige Begegnungen zu wappnen, braucht es »Helfer«. Die Vorstellungen von einem idealen Helfer können sehr unterschiedlich sein. Auch die Angebote in der Bibel sind so vielfältig, dass ich im Folgen63 Karl Josef Wallner: Sinn und Glück im Glauben. Illertissen 2008, S. 57. 64 Vgl. Erzbischof Paul/Orthodoxe Kirche von Finnland: Unser Glaube. Wachtendonk 1983.

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den nur einige wenige benennen und mit einigen Fallbeispielen konkretisieren möchte. In verdichteter Form ein Blick durchs Schlüsselloch: Gott zeigt sich dem Menschen als Schöpfer, der ihm den Atem einbläst (1. Mose 2,7), als Vater (Lk 15 u. a.), als starker Herrscher und König (Ps 24), als Arzt (2. Mose 15,26), als Weingärtner (Joh 15), als Freund (Joh 15,14) oder Bräutigam (Mt 25), als tröstende Mutter (Jes 49,13–16 und 66,13) oder als gerechter Richter (Ps 75,7). Als guter Hirte (Ps 23, Joh 10) erscheint er Ella65, die mit einer AutismusSpektrum-Störung in meiner Praxis sitzt: Die 25-jährige Klientin ist scheu und meidet Kontakte, auch Augenkontakte auf verschiedenen Ebenen. Auf die Frage, wen oder was sie für eine spezielle Situation als inneren Helfer wählen möchte, meint sie, dass es Jesus sein soll. Jesus, der wie ein guter Hirte ist. Es braucht ein wenig Zeit, diese Vorstellung bildhafter und konkreter werden zu lassen, denn heutzutage sind Hirten nicht so präsent. Da sie jedoch oft in der Schweiz wandern geht, hat sie ihn vor Augen. Auf meine Frage hin: »Wie macht es der Hirte denn, dass Sie merken, dass er Sie mag, dass er gut ist?«, meint sie: »Er hat nur wenig gesprochen …« und nach einer Pause: »Ja, er kann das mit dem Hirtenstab machen. Mit seinem Hirtenstab kann er mir das zeigen und mich berühren.« Nähe lässt sich auch auf Distanz vermitteln. Ihre Hirtenvorstellung geht ihr nach und so fällt ihr in einer weiteren Stunde ein, dass der Hirte sie auch ermutigen würde: »Ermutigen ist wichtig!« Ich frage: »Wie macht er das?« »Er sagt zu mir: Probier’s noch mal!«

Im folgenden Beispiel erscheint ein fußballtrainierender Jungscharleiter: Ein 23-jähriger Student kommt mit Prüfungsängsten in die Praxis. Zusätzlich hat ihn seine langjährige Freundin kurz zuvor verlassen und er fragt sich, ob er unter diesen Umständen die Prüfung überhaupt machen möchte. Er spielt gern Fußball und ich schlage ihm vor, sich vorzustellen, er hätte ein inneres Fußballteam. Auf die Frage, wie viele Fußballspieler nach dem Verlust seiner Freundin überhaupt noch spielfähig seien, meint er, dass ca. sieben Spieler ausgefallen wären und jetzt nur noch vier auf dem Feld mitspielen könnten. Kann er dieses Spiel zu Ende spielen oder möchte er es unter diesen Bedingungen abbrechen? Er denkt nach und wägt ab. Ja, er könnte sich vorstellen, das Spiel mit den übrig gebliebenen vier Spielern zu spielen – unter der Voraussetzung, dass er einen ordentlichen Trainer hätte. 65 Name und Fallbeispiel sind anonymisiert.

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Und es wäre wichtig, dass die sieben ausgefallenen Spieler einen guten Pfleger hätten und neue Hoffnung bekämen. Wie so ein »ordentlichen Trainer« wäre, frage ich nach. Er kann sich für diesen Job seinen ehemaligen Jungscharleiter vorstellen, der wäre genau der Richtige.

Die stärkste Ausdrucksform von Gott als »Helfer« im neuen Testament ist Jesus selbst. Das Christentum unterscheidet sich als »specificum christianum« von anderen Religionen dadurch, dass Gott in Jesus leibhaftig als »Heiland« zum Menschen kommt. »Heiland« deutet in seinem Wort bereits das »Heil-­ Werden« an, dass »Zerbrochenes« wieder »heil«, wieder ganz werden kann. Das kann wie eine Verheißung über der Arbeit mit noch einzelnen Fragmenten und »Teilen« liegen: dass es ein Unterwegs-Sein gibt zu einer heileren, »zweiten Ordnung«. In vorausschauender Fürsorge lässt Jesus seine Kinder nicht als »Waisen« zurück. Als er Abschied nimmt, kündigt er jenen an, den er sogar wortwörtlich »Helfer« und »Tröster« nennt: den heiligen Geist. »Innere Helfer« sind in der Ego-State-Arbeit Ressourcen, mit denen man sich noch nicht ganz identifiziert ist, die jedoch sehr erwünscht sind: Was täte mir gut in dieser Situation, in der ich feststecke? Wen wünschte ich mir an meine Seite, wie man vielleicht als kleines Kind sagte: »Mein rechter, rechter Platz ist leer/frei, ich wünsche mir … her/herbei!« Bei welchem Gesicht ginge mir innerlich das Herz auf und ich würde mich sofort anders fühlen? Das kann man im Körper spüren. Was soll im besten, heilsamsten Sinne draußen vor der Tür auf mich warten? Die Offenbarung erzählt vom »Anklopfen« Gottes vor der Türe meines Herzenskämmerchen (Offb 3,20). Wenn ich seine Stimme höre und (das will als Prozess gesehen werden, der seine Zeit braucht) und ihm dann öffne (und nur dann), wird er hereinkommen, um das Tisch-Mahl mit mir zu feiern. Wer steht dort draußen und wartet auf mich? Welches Gesicht ist meine Hilfe? (Nebenbemerkung: Der Philosoph Ludwig Feuerbach würde an dieser Stelle von Projektionen sprechen. Doch selbst wenn es so wäre, können es doch sehr wirkungsvolle und hilfreiche Projektionen sein.) In Kapitel 1 wird ein beraterischer Weg beschrieben, der sogenannte »Immanuel-Moment«, der mit dieser Frage nach der Gottesbegegnung einsteigt. Die »Innere Stärke« im Ego-State Modell geht noch einen Schritt weiter: Das Bildhafte und Konkrete verschwindet zugunsten von etwas, das weniger fassbar, innerlicher und abstrakter ist. Vielleicht ein Prozess, wie ihn Emmanuel Jungclaussen für die Herzensgebet-Meditation beschreibt: Die Bildervorstellungen und »Ikonen« dienen anfangs dazu, sich bewusst zu machen, dass der Herr da ist, »ganz nah, näher als ich mir selbst bin«, wie es Meister Eckhart Integrative Beratung mit Ego-States und dem Inneren Team

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so wunderschön formulierte.66 Im vertieften Gebet können Bilder überflüssig werden.67 Gott kann dann als reine »Barmherzigkeit« erlebt und gespürt werden oder als »bedingungslose Liebe«. Die »innere Stärke« wird als ein Teil vom Selbst erlebt, das man nicht mehr »re-flektieren« kann, sie ist nicht mehr Introjekt, sondern schon Identifikation. Wobei die Übergänge auch fließend sein können. Gott als innere Stärke zu erkennen, als »mein Trost und mein Teil«68 zu erleben, birgt eine tiefe Verbundenheit. Dann ist Gott »in der Mitte«, wie es Tersteegen im Lied »Gott ist gegenwärtig« (Evangelisches Gesangbuch 165) beschreibt oder der »Grund« (1. Kor 3,11), der »Seelengrund« (Meister Eckhart)69 in mir. Und wenn »wir in ihm leben, weben und sind« (Apg 17,28), dann kann sich möglicherweise auch die schwierige Frage nach dem Selbst lösen.70 Die Dialoge, wie sie in der mittelalterlichen Mystik z. B. bei Heinrich Seuse oder Ramon Llull entwickelt wurden, die zwischen dem »Freund« (»jeder treue und gläubige Christ«) und dem »Geliebten« (»Gott, unser Herr«) geführt werden, versuchen diese innere Beziehung zu beschreiben und die Sehnsucht nach einer »unio mystica«. Manche Ratsuchenden beschreiben die Verbindung zu Gott auch weniger innig und eher respektsvoll wie den Kontakt zu einer »Hochspannungsleitung«, ein Bild, das auch an die Begegnung von Mose mit Gott im brennenden Dornbusch am Sinai erinnert (2. Mose 33): Da taucht eine so starke Energie auf, dass Zurücktreten die stimmigere Reaktion ist. Ratsuchende, die Krisen oder Todesnähe erfahren haben, in denen eine Flut von Information über das Leben, einen selbst und die Wirklichkeit in kurzer Zeit auf sie einstürmen, berichten, dass sie ihren »Wesenskern« und diesen »Seelengrund« erst durch diese Situation 66 Vgl. Emmanuel Jungclaussen: Einführung in das Herzensgebet. Vier Meditationsübungen zum Jesusgebet. Müllheim 1997. 67 In der christlichen Mystik kann unterschieden werden zwischen kataphatischer, d. h. sich in die Bilder, Symbole, Worte hineinorientierende Meditation, und apophatischen Kontemplation, die sich von Bildern, Worten und Symbolen weg bewegt und löst. Vgl. Willigis Jäger: Einführung in die Kontemplation. Müllheim 1995. 68 »Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil.« (Ps 73,26) 69 Vgl. Michael Egerding: Die Metaphorik der spätmittelalterlichen Mystik, Bd. 2. Paderborn 1997, S. 283–289. 70 Der Ego-State-Therapeut Jochen Peichl sagte bei einer Fortbildung (KIRINUS CIP München, 2013): »Das Selbst zu ergründen, ist aussichtslos.« Tom Holmes öffnet in seinem Ansatz in der Tiefe des Selbst »buddhistische Fenster« und Türen. Vgl. Tom Holmes: Reisen in die Innenwelt. Systemische Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen. München 2010. Edwin Yager ermutigt, das Selbst für »extra«-außerhalb von mir liegende Instanzen zu öffnen. Vgl. Edwin Yager: Subliminal Therapy. Using the Mind to Heal. Carmarthen 2011.

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kennengelernt haben. Daran schließt sich die Frage an, inwiefern »posttraumatic growth« durch eine Gottesbegegnung im Wesentlichen gefördert wird, also das Erleben, dass bei eigenem Kontrollverlust ein anderer die Kontrolle bewahrt (sog. Sekundärkontrolle).71 Innere Helfer können auch menschliche Gestalten aus der Bibel sein, wie z. B. Jonathan, der Freund Davids oder Naomi, die ihre Schwiegertochter Ruth in eine neue Zukunft begleitet oder Maria Magdalena, wie folgendes Fallbeispiel zeigt: Eine Klientin, die vor 30 Jahren aus Siebenbürgen nach Deutschland gekommen ist, verheiratet mit einem Unternehmer, Mutter zweier fast erwachsener Söhne, selbst erfolgreiche Zahnärztin, kommt wegen Depressionen in die Praxis. Sie kann seit längerer Zeit nachts nicht mehr richtig schlafen. Meistens liegt es an den Sorgen um ihren jüngeren Sohn, doch auch andere Unruhe hält sie wach: Die Nacht zuvor sei ihr z. B. eingefallen, dass sie vergessen habe, die Auskunft zur Betriebsprüfung, die alle zwei Jahre stattfinde, ans Arbeitsamt zu schicken. Das sorge nicht nur bei ihrem Mann, der ihre Buchhaltung mitbetreut, für Spannungen, sondern habe sie selbst nicht schlafen lassen. Die ganze Nacht hätte die Sorge sie geplagt, dass sie drei Tage über dem Rücksendetermin sei. Wir laden diese sorgenvolle Seite, die sie so lange wach gehalten hat, in den »inneren Gastraum« ein. Sie beschreibt den Anteil als einen penibel genauen Buchführer, eine Art »To-do-Listen-Vertreter«-EgoState. Auf die Frage, wie lange es ihn schon gibt, wird ihr bewusst, dass es eine Angst vor Obrigkeit und Bürokratie in ihrem Leben gibt, die (mindestens) aus der Zeit rührt, in der ihr Vater wegen politisch nicht konformer Haltung in Rumänien durch die Securitate in ein Lager gebracht wurde, aus dem er so krank nach Hause kam, dass er bald danach starb. Die Sorge wird ihr verständlicher und ebenso die wichtige Aufgabe dieses Anteils wachsam zu sein, was ja eine gewisse Zeit in ihrem Leben überlebensnotwendig war. In Kontakt mit dieser Seite kann sie ins Gespräch kommen: Weiß diese »To-do-Listen-Seite« wie alt sie heute ist? Und weiß sie auch, wo sie jetzt ist? In welchem politischen System? Kann sie sich einmal in Ruhe umschauen und prüfen, wie unabhängig und autonom sie selbst heute aufgestellt ist? Wo sie wohnt, welchen Kontostand sie hat? Sie nickt langsam. Auf die Frage, ob ihr eine Idee zu einer inneren Stärke oder einem Helfer komme, meint sie: »To-do-Listen habe ich immer. Das wird nie aufhören … Der wird wohl bei mir bleiben.« Und sie assoziiert weiter im Dialog mit sich ein Bibelzitat: »Arme habt ihr allezeit. Das wird auch nie aufhören.« 71 August Flammer: Erfahrung der eigenen Wirksamkeit. Einführung in die Psychologie der Kontrollmeinung. Bern 1990.

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Im Gespräch darüber fällt ihr Maria Magdalena ein, die irrationalerweise das Jahresgehalt eines Arbeiters für ein kostbares, duftendes Öl ausgegeben hat, mit dem sie die Füße Jesu salbte. Eine ganz andere Ebene kommt ins Spiel: Vielleicht eine innere Helferin? Sie denkt nach und meint, dass Maria Magdalena zufrieden mit dieser Entscheidung war, auch wenn sie von den Jüngern damals kein Verständnis bekam, sondern angegriffen wurde. Auf die Nachfrage, ob Maria Magdalena wohl danach auch schlafen konnte, nickt sie: »Sie hat etwas getan, das würde zwar mein Mann auch nicht verstehen, aber sie war im Reinen mit sich und ich glaube, sie hat es nicht bereut. Das war wichtig für sie. Sehr wichtig sogar.«

Gott klopft in vielen verschiedenen Gestalten und Formen an. Wie folgendes Fallbeispiel verdeutlicht, das sich mit Ansätzen des Embodiments verbindet, kann das auch auf körperlicher Ebene stattfinden:72 Eine Klientin, deren Biografie viele Lücken im Bedürfnisbereich von Unterstützung und Nahrung hinterlassen hatte, die sich auch durch psychosomatische Symptome immer wieder bemerkbar machten, entwickelte folgende Körperübung für sich: Sie legte beide Handflächen etwas unterhalb des Bauchnabels auf ihren Bauch in der ungefähren Scheitelhöhe des Kindergartenkindes, das sie gewesen war, und sprach dieser kleinen Seite in sich den Aaronitischen Segen zu, als würde sie diesem Kind die Hände auf den Kopf legen.73 Auch für die älteren Anteile auf Taillenhöhe (Grundschulkind) und auf Brusthöhe (junges Mädchen) usw. wiederholte sie diesen Zuspruch bis in die Gegenwart (Hände auf dem Kopf).

Das folgende Fallbeispiel zu Gretas »starkem Trio« beschreibt ausführlich einen Prozessverlauf, in dem ihr am Ende ein biblisches Gleichnis hilft, mehr Selbstakzeptanz zu entwickeln: Greta, eine Studentin Mitte zwanzig, möchte ihr Persönlichkeitsstrukturtest-Ergebnis besprechen. Es zeigen sich hohe Werte bei Warmherzigkeit und Korrektheit. Und es wird deutlich, dass für Greta gilt: Was ich anderen versprochen habe, möchte ich auch halten. Und weil sie als warmherziger Mensch viel verspricht, muss sie viel halten. Sie merkt, dass ihr wichtig wäre, besser Nein sagen zu können. Dann muss sie sich nicht so oft hinterher über ihre Zusagen und »Versprecher« (Versprechen und 72 Wolfgang Tschacher/Maja Storch: Die Bedeutung von Embodiment für Psychologie und Psychotherapie, Psychotherapie, 17, 2/2012. 73 Vgl. 4. Mose 6,24; vgl. Maja Storch/Eva Maria Jäger/Stefan Klöckner: Spirituelles Embodiment. Stimme und Körper als Schlüssel zu unserem wahren Selbst. München 2021.

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Versprecher) ärgern, die sich manchmal wie selbstgestellte Fallen für ihre korrekte Seite anfühlen. Wir wollen uns das durch die Brille des Inneren Teams anschauen und stellen die Frage, ob es schon Anteile gibt, die Erfahrungen mit Nein-Sagen und Abgrenzen haben. Greta meint, dass sie im Grunde schon eine innere »Nein-Sagerin« habe, die sich aber in bestimmten Situationen nicht so recht heraustraut. Wir stellen ihrer Nein-Sagerin einen »Stuhl« hin und laden sie ein. Wann sie denn in letzter Zeit einmal so richtig zum Zuge gekommen sei (Bemerkung: Die Fragen können einer Art SORKC-Verhaltensanalyse mit dem »Nein-Anteil« entsprechen). Ausgerechnet da nicht, wo es nötig wäre! Ihr fällt eine Situation ein, in der sich ihre Nein-Sagerin getraut hat – dabei aber in einem, wie sie es nennt, »unglücklichen Nebenkriegsschauplatz« gelandet ist: Dort habe sie sich selbst ein stückweit sabotiert. In dem Chor, in dem sie so gern mitsingt, wurde während der Coronapandemie vor einem Chorkonzert nach der 3G-Regel ein PCR-Test erforderlich. Ihre Nein-Sagerin meldete sich spontan und laut mit einem klaren: »Nein, unter diesen Umständen singe ich nicht mit!« Die Konsequenzen mussten in Kauf genommen werden. Greta sang nicht mit. Sie habe sich danach aber eingestehen müssen, dass sie das verpasste Konzert doch trauriger gemacht hatte, als sie es erwartet hatte. Gelungene Abgrenzung erfordert ein bewusstes Zusammenspiel, wenn sie längerfristig zufriedenstellen soll. Aber wie? Greta wollte etwas schützen, hatte aber auf der anderen Seite einen Wert in sich verraten, der ihr im Nachhinein mehr bedeutete. Um das zu sortieren, sind innere Team-Reflexionen hilfreich. Bei der Erhebung ihrer inneren Teamseiten melden sich in der 1. Ordnung eine freudige »Chor-Konzert-ja-bitte-Sagerin« und die »PCR-Test-Nein-Sagerin«. Unter der Leitung ihres inneren Oberhauptes versucht Greta zu klären und abzustimmen, welche innere Dynamik da ist und welche Rangreihe von Werten in diesem Konflikt hilfreich sein könnte. Vielleicht ließe sich in diesem Konflikt mit der Nein-Sagerin verhandeln? Wenn sie vor dem nächsten Chorkonzert doch den teuren PCR-Test macht: Wie kann sie es der Nein-Sagerin vermitteln und welchen Ausgleich kann sie ihr anbieten? Wie kann sie ihrer Nein-Sagerin an anderer Stelle einen Auftritt anbieten, der auch sie langfristig zufrieden macht? Ihr wird klar, dass ein Nein auf der anderen Seite der Medaille auch ein Ja enthält: Als Greta Nein zum PCR-Test sagte, hatte sie nicht im Blick, dass das auch ein Ja zu einem Abend allein zu Hause war, den sie eher als unglücklich erlebte. Das ist es aber nicht, was die »Ja-Bitte-Greta« in ihr wollte! Wie könnte sie die Nein-Sagerin und die Ja-bitte-Sagerin noch besser miteinander abstimmen? Und überhaupt: Was ist das für eine Nein-Sagerin, die sie noch gar nicht so gut kennt? Greta möchte es noch genauer wissen. Sie möchte ihren nein sagenden EgoState noch besser kennenlernen und verstehen, was genau sein Anliegen ist. In

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einer Runde, in der ihre Nein-Sagerin auf einen Stuhl eingeladen wird, entdeckt sie, dass es eine Seite in ihr gibt, die kämpfen und schützen möchte, die einen Sinn für Freiheit, ja eine Sehnsucht hat. Der es mehr um Selbstbestimmung und weniger Fremdbestimmung geht. Dieser Seite, die sich nach mehr Freiheit sehnt, kann sie (so von Stuhl zu Stuhl) einen Plan-B-Vorschlag machen im Sinne von: »Liebe NeinSchützerin, ich möchte mit Dir noch viel gezielter »auf die Barrikaden« gehen – und zwar da, wo ich zu etwas stehen will, was mir wertvoll und wichtig ist!« Mit diesem Versprechen bittet sie ihre Nein-Sagerin, auf der anderen Seite beim Chorkonzert einen Schritt zurückzugehen und sich die Power für zukünftige, passgenauere Aufträge aufzuheben. Und die Nein-Seite lässt mit sich reden! Greta merkt, dass sie mit den inneren Stimmen, wenn sie sie besser kennt, verhandeln kann. Sie wünscht sich noch eine weitere Runde. Es ist ihr klar geworden, dass sie noch wenig Ahnung hat, welche zukünftigen Aufträge sie der »Nein-Kämpferin« geben möchte. Um welche Barrikaden geht es eigentlich? Was gehört eigentlich geschützt und wann braucht sie dieses Nein ganz dringend? Auch die Ja-bitteSagerin und das Oberhaupt fragen: Es geht um Werte, die noch unklar sind. Ihr Nein kann schützen – das ist schon einmal klar. Aber wo ist dieser Schutz sinnvoll? Um welche Grenzziehungen geht es, wenn sich Greta nicht selbst ein Bein stellen will? Die Chefzentrale in Greta, ja, alle überlegen zusammen: Wo geht es um den echten Schutzbedarf? Um welche »Ja-Bitte« geht es? Auf innere Wünsche hat Greta in ihrem Leben bisher wenig geachtet. »Ich will, ich will.« Das kam gar nicht gut: »Den Will-i gibt’s nicht bei uns« hieß es in ihrer Herkunftsfamilie. Offen etwas für sich zu wollen galt in ihrer christlichen Sozialisation als viel zu selbstbezogen. Darüber nachdenken dürfen andere, sie nicht. Zuerst müssen wir daher unterscheiden, dass Bedürfnisse zu klären nichts mit Egoismus oder Hedonismus zu tun hat. Gott freut sich, wenn Bedürfnisse gestillt werden können und Zufriedenheit ins Spiel kommt: Wenn ein kleiner Vogel seinen Schnabel öffnet, dann nicht, um zu schikanieren, sondern weil er leben und wachsen möchte. Und wenn er satt ist, ist er zufrieden, kann schlafen und weiterwachsen – und es geht wieder von vorn los. Weil die Fragen nach eigenen Wünschen bisher so selten erlaubt waren, hat Greta wenig »Übung« darin, Antworten zu finden. Ihr »Ja-Bitte« ist noch ganz schön klein und spricht kaum einen Satz. Wie kann Greta herausfinden, was ihre persönlichen Bedürfnisse sind, wenn ihr diese möglicherweise noch gar nicht bewusst sind? Wer hilft, das klar zu bekommen? Es müsste eine Greta-Bedürfnis-Forscherin oder -Ausgräberin sein. Diese Neueinstellung muss ausgeschrieben werden! (An dieser Stelle könnte mit der Ja-bitte-Seite von Greta auch eine Zürcher-Ressourcen-Modell-Runde sehr hilfreich sein, um die noch unbewussteren Bedürfnisse klarer herauszustellen.) 126

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Wir entscheiden uns, eine Seite in ihr zu suchen, die über ihre Bedürfnisse Bescheid weiß, danach zu schauen, auch wenn sie es sich selbst sonst selten erlaubt. Zur allgemeinen Überraschung taucht eine Idee auf: Keine Seite in ihr weiß so gut Bescheid, was für sie erstrebenswert ist, wie die »Neidische« in ihr. Die Neidische merkt ganz genau, wofür ihr Herz schlägt: Das versetzt ihr nämlich »einen Stich«. Doch Hilfe! Ist Neid nicht der »Ursprung allen Übels«? Schon wieder ein Zweispalt! Greta muss sich ehrlicherweise eingestehen, dass die Neidische in ihr, wenn sie bewusst und offiziell zurate gezogen würde, wirklich eine Menge spürt. Sie weiß, was Greta eigentlich mag, auch wenn sie sich selbst dazu nicht offiziell die Erlaubnis gibt. Greta beschließt, wachsamer und wertfreier hinzuschauen, wenn ihr etwas einen Stich versetzt, was sie bei anderen erlebt. Denn das ist etwas, was ihr viel bedeutet, was sie nicht kalt lässt, ein echter Wert, den sie nicht in sich verraten sollte und dem sie offizieller folgen könnte – auch wenn die Erfüllung der Wünsche auf einem anderen Blatt Papier steht. Die überraschende Frage, die sie mit nach Hause nimmt, ist: »Auf wen bin ich neidisch? Und worauf?« Die Antworten auf diese Fragen, mit offenen und wohlwollenden Augen betrachtet, sind erstaunlich aufschlussreich für sie. Ans Licht gebracht sind die Wünsche »gar nicht so schlimm«. Nun beginnt ein konstruktives Team, ein zunehmend starkes Trio, seinen Austausch: Die Erkenntnisse der »neidischen Greta« werden an die »Ja-bitte-Greta« weitergeleitet, die nach Umsetzungswegen sucht, und der »Nein-Greta« wird der Auftrag gegeben, diese Wege zu schützen und zu verteidigen. Bei Greta bleibt immer noch ein etwas komisches Gefühl: Kann man mit der »neidischen Greta« überhaupt wertschätzend umgehen? Sie schämt sich auch für die Neidische, fast als müsste sie sich doppelt verstecken. Ja, wie kann man sie »reframen«? Wie soll sie denn an ihrem inneren, »frommen Tisch« einen offizielleren Platz bekommen? Ein Blick in die Bibel könnte in den Augen von Gretas Oberhaupt nicht schaden. Im neuen Testament in Lukas 15finden wir ein Gleichnis, in dem es auch um versteckte Bedürfnisse gehen könnte, um verborgene Wünsche, die es schwer hatten, bewusst zu werden, weil sie keine innere Erlaubnis bekamen: Der ältere Sohn im Gleichnis des »verlorenen Sohns« reagiert auffallend auf den Lärm, den das Fest zur Feier seines heimgekommenen, jüngeren Bruders macht. Im Text steht: Er wurde zornig. Was ist das für ein Zorn? Hier bleibt uns nur zu interpretieren und es sind verschiedene Hypothesen möglich: Es könnte sich beim älteren Sohn ein Schmerz melden. Es könnte »der Stich« sein! Genau – da ist er: der Neid! Sein Bruder wird gefeiert – und er nicht. Da gibt es in dem Älteren eine ambivalente Beziehung zum Feiern: Vielleicht hat er sich das Feiern bisher verboten, doch auf der anderen Seite lässt es ihn auch nicht kalt, sonst gäbe es nicht solch eine heiße Emotion

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wie »zornig« zu sein. Dahinter könnte die Sehnsucht stecken, auch das Leben feiern zu wollen, mitzufeiern, aber das nach bisherigen Wertvorstellungen nicht tun zu dürfen. Mindestens aber steckt hinter seinem Zorn und der Klage der Wunsch, Zuwendung und Anerkennung vom Vater zu bekommen. Wie geht der Vater mit dieser versteckten, sehr indirekt gezeigten Sehnsucht um? Zu Gretas Erstaunen wertet er sie nicht ab, sondern wendet sich auch diesem Sohn mit Barmherzigkeit zu. Er geht ihm nach, er verlässt das Fest, um ihn zu suchen und mit ihm zu reden. Während er dem jüngeren Sohn mit offenen Armen entgegengelaufen kam, ist die Zuwendung dem Älteren gegenüber weniger körperlich und expressiv – eher leiser, sprachlich, intellektuell. Wenn man einmal rein protokollarisch die Worte der Dialoge zählt, die der Vater mit dem jüngeren im Vergleich zum älteren Sohn wechselt, so bekommt der ältere Sohn deutlich mehr Worte vom Vater. Vielleicht passt diese andere Art des Zugangs auch zu ihm. Greta ist berührt. Sie merkt, dass Gott kein Problem mit ihrem Neid hat, ja, dass er sogar nach diesen versteckten Hinweisen auf ihr inneres Unbefriedigt-Sein sucht. Er geht ihrer inneren Sehnsüchtigen nach – und lädt sie ein mitzufeiern! Um am Ende zufrieden zu sein. Gretas Perspektive auf die Neidische ändert sich und sie wird dankbar, dass es diese wache Seite in ihr gibt, die ihr hilft, mit der versteckten Sehnsucht umzugehen. Die neidischen »Stiche« sind wie »Wecker«, sie würde sie gern umbenennen in »die wache Greta«. Nach diesen Klärungsrunden fühlen sich die Nein-Schützerin-Greta, die Jabitte-Greta und die wache Greta auf ihren Plätzen im Inneren Team zunehmend wohler und anerkannt. Vom verpassten Chorkonzert, über das sie traurig war, ist sie jetzt in ihrer Teamentwicklung erstaunlicherweise bei der Einladung zum Mitfeiern gelandet – beim »Fest der verlorenen Söhne«. Dabeisein und Mitfeiern kann wirklich zufrieden machen. Dass sie satt, zufrieden, im Frieden sein darf – darum geht es am Ende, wenn das Leben weitergehen soll.

Die Idee, ein inneres Team zu einem bestimmten Anliegen, zu einer inneren Gebetsgemeinschaft einzuladen, soll am Ende auch die Runde der Fallbeispiele in diesem Beitrag schließen: Viele christliche Ratsuchende kennen Gebetsgemeinschaften. Wenn Ratsuchende das als Ressource erleben, kann die Idee einer »Gebetsgemeinschaft« für das Innere Team aufgegriffen werden: Auf einem großen Bogen Papier kann jedes einzelne Ego-State, das auftaucht, betitelt werden und in einer Runde sein Gebetsanliegen, aber auch einen Satz des Dankes formulieren und z. B. in eine Sprechblase schreiben. So wird der aktuelle, innere Status quo bewusst und mit Gottes Gegenwart verbunden. 128

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4 Fazit für die Praxis In der Beratung mit religiösen Ratsuchende eignen sich Verfahren mit dem Inneren Team und Ego-States in besonderer Weise dafür, spirituelle Ressourcen zu integrieren und als Mitte, als »Herzstück« in das Puzzle der inneren Identitätsanteile einzusetzen.74 Was in schweren Fällen wie Traumatisierung und Dissoziation hilfreich ist, kann auch in leichteren Lebensfragen die Identität stärken und inneren Frieden fördern. Analog zu den Etappen des Vorgehens in der EgoState-Arbeit wurden in diesem Artikel ein kleines »Auswahl-Büfett« nahrhafter, biblischer Ressourcen vorgestellt: ein religionssensibles Angebot, das tiefere Verbindung und Rapport zwischen einer Beraterin und einem christlichen Ratsuchenden schaffen kann. Vorausgesetzt, dass die Beraterin in aufmerksamem Kontakt mit ihm ist und auf die Hinweise des Ratsuchenden reagiert. Und da der Ratsuchende es ist, der über die »Passform« entscheidet: Bei der Passung soll das Bild den Ratsuchenden dienen – und nicht die Ratsuchenden dem Bild. Die Vorstellung einer Tischgemeinschaft vermittelt die Idee für die Willkommenskultur in der Inneren-Team-Beratung. Dabei braucht es, um zusammenzukommen, keinen Fünf-Sterne-Koch. Die Pilgergeschichte vom Anfang erinnert daran, dass schon ein Stein im Rucksack genügt, um neue Gemeinschaft zu schaffen. Ein Stein, den man an jeder Ecke finden kann. Kein Beitrag ist zu klein dafür. Und wenn eine so bunt gewordene Steinsuppe vor sich hin köchelt, kann es sein, dass noch ein himmlischer Gast anklopft. Einer – dieser Schlusssatz möchte hier noch rein – einer, der sogar Steine verwandeln kann.75

Literatur Hannah Arendt: Vom Leben des Geistes. Das Denken. München 1989. Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. München 2011. Hannah Arendt: Sokrates, Apologie der Pluralität. Berlin 2016. Roberto Assagioli: Psychosynthese und transpersonale Entwicklung. Rümlang 2008. Michael Bachg: Feeling Seen. Einführung in eine körperorientierte Psychotherapie für Kinder, Jugendliche und ihre Eltern. In: Serge K. D. Sulz (Hg.): Wer rettet Paare und Familien aus ihrer Not? München 2009, S. 137–149. Brandon Bays: The Journey. Kassel 2020. Karl-Heinz Brisch: Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. Stuttgart 2010. Rolf van Dick/Michael A. West: Teamwork, Teamdiagnose, Teamentwicklung. Praxis der Personalpsychologie. Bd. 8. 2. Aufl. Göttingen 2013. 74 Jäger 1995. 75 Bilder zum Bilderbuch »Herzsteinsuppe« unter https://www.picdrop.com/evajaeger/Herzsteinsuppe (Zugriff am 30.09.2022).

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Hans-Peter Dürr: Teilhaben an einer unteilbaren Welt. In: Gerald Hüther/Christa Spannbauer (Hg.): Verbundenheit. Warum wir ein neues Weltbild brauchen. 2. Aufl. Bern 2018. Michael Egerding: Die Metaphorik der spätmittelalterlichen Mystik, Bd. 2. Paderborn 1997. Erzbischof Paul/Orthodoxe Kirche von Finnland: Unser Glaube. Wachtendonk 1983. August Flammer: Erfahrung der eigenen Wirksamkeit. Einführung in die Psychologie der Kontrollmeinung. Bern 1990. Claire Frederick: Ausgewählte Themen der Ego State Therapie. Hypnose – Zeitschrift für Hypnose und Hypnotherapie, 2 (1+2), 2007, 5–100. https://www.meg-stiftung.de/index.php/de/ component/phocadownload/category/1-artikel?download=26:hypnose-zhh-0703-fredericks (Zugriff am 22.10.2022). Kai Fritzsche: Praxis der Ego-State-Therapie. Heidelberg 2013. Kai Fritzsche/Woltemade Hartman: Einführung in die Ego-State-Therapie. 7. Aufl. Heidelberg 2019. Klaus Grawe: Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession. Göttingen 2001. Klaus Grawe: Neuropsychotherapie. Bern 2004. Volker Gerhardt: Der Sinn des Sinns. Versuch über das Göttliche. München 2014. Christopher Germer: Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl. Freiburg 2015. Paul Gilbert/Guido Plata: Compassion Focused Therapy. Paderborn 2013. Otto van der Hart/Ellert R. E. S. Nijenhuis/Kathy Stele/Theo Kierdorf: Das verfolgte Selbst. Strukturelle Dissoziation. Die Behandlung chronischer Traumatisierung. Paderborn 2008. Woltemade Hartman: Ich bin viele. Multiple Ich-Prozesse und wie man sie nutzen kann, Auditorium. Müllheim 2009. Woltemade Hartman/Luise Reddemann/Gunther Schmidt: Einführung in die Ego-State-Therapie. Ich bin viele. Multiple Ich-Prozesse und wie man sie nutzen kann, Auditorium. Müllheim 2009. Hubert J. M. Hermans/Thorsten Gieser: Handbook of Dialogical Self Theory. Cambridge 2010. Vgl. Vortrag: Dialogical Self – Hubert Hermans, 31.05.2017. https://recoverynet.ca/2017/05/31/dialogical-self-hubert-hermans/ (Zugriff am 23.09.2022). Rüdiger Hinsch/Ulrich Pfingsten: Gruppentraining sozialer Kompetenzen GSK. Weinheim 2015. Otto Hofius: Jesu Tischgemeinschaft mit den Sündern. Stuttgart 1967. Tom Holmes: Reisen in die Innenwelt. Systemische Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen. München 2010. Willigis Jäger: Einführung in die Kontemplation. Müllheim 1995. Pierre Janet: L’influence somnambulique et le besoin de direction. Revue Philosophique, 43, 1897, 113–143. Bernd Janowski/Hans Walter Wolf: Anthropologie des Alten Testamens. Gütersloh 2010. Emmanuel Jungclaussen: Einführung in das Herzensgebet. Vier Meditationsübungen zum Jesusgebet. Müllheim 1997. Dagmar Kumbier: Das innere Team in der Psychotherapie, Methoden- und Praxisbuch. 4. Aufl. Stuttgart 2016. Justin Lang: Herzens-Anliegen. Die Mystik mittelalterlicher Christus-Johannes-Gruppen. Ostfildern 1998. Peter Lincoln: Zu den Worten hin oder von der Sprache weg. Focusing und Meditation im Vergleich, Focusing Journal, 48/2021, 19. Kristin Neff: Selbstmitgefühl. Wie wir uns mit unseren Schwächen versöhnen und uns selbst der beste Freund werden. München 2013. Peter Neudeck/Stephan Mühlig: Therapie-Tools Verhaltenstherapie. Therapieplanung, Probatorik, Verhaltensanalyse. Weinheim 2020. Jochen Peichl: Rote Karte für den inneren Kritiker. Wie aus dem ewigen Miesmacher ein innerer Verbündeter wird. 7. Aufl. München 2014. Luise Reddemann: Imagination als heilsame Kraft. Ressourcen und Mitgefühl in der Behandlung von Traumafolgen. 19. Aufl. Stuttgart 2016.

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Luise Reddemann: Psychodynamisch imaginative Traumatherapie PITT – Das Manual. 10. Aufl. Stuttgart 2020. Luise Reddemann: Die Welt als unsicherer Ort. Stuttgart 2021. Andreas Reckwitz: Gesellschaft der Singularitäten. Berlin 2017. Dirk Revenstorf/Burkhard Peter: Hypnose in Psychotherapie, Psychosomatik und Medizin. Manual für die Praxis. Heidelberg 2015. Sidney Rosen (Hg.): Die Lehrgeschichten von Milton H. Erickson. Salzhausen 1994. Marshall B. Rosenberg: Gewaltfreie Kommunikation. 12. Aufl. Paderborn 2016. Virginia Satir: Meine vielen Gesichter. Wer bin ich wirklich? München 2001. Gunther Schmidt: Konferenz mit dem inneren Parlament, der inneren Familie und ihre hypnotischen Wirkungen, Auditorium. Heidelberg 2004. Leonhard Schrenker: Pesso-Therapie: Das Wissen zur Heilung liegt in uns. Stuttgart 2008. Friedemann Schulz von Thun: Miteinander Reden: 3: Das »Innere Team« und situationsgerechte Kommunikation. Reinbek 2013. Richard C. Schwartz: Systemische Therapie mit der inneren Familie. Stuttgart 2016. Frank M. Staemmler: Das dialogische Selbst. Postmodernes Menschenbild und psychotherapeutische Praxis. Stuttgart 2015. Maja Storch/Eva Maria Jäger/Stefan Klöckner: Spirituelles Embodiment. Stimme und Körper als Schlüssel zu unserem wahren Selbst. München 2021. Serge K. D. Sulz/Thomas Bronisch (Hg.): States of Mind, Ego States, Selbstmodus – von der zerrissenen zur integrierten Persönlichkeit. München 2013, S. 38–64. Serge K. D. Sulz/Sabine Burkhardt: Das Coaching-Fall-Buch. 13 Berichte über effektive BusinessCoachings. München 2014. Serge K. D. Sulz/Gernot Hauke (Hg.): Strategisch-Behaviorale Therapie. Theorie und Praxis eines innovativen Psychotherapieansatzes. München 2009. Bernhard Trenkle: Dazu fällt mir eine Geschichte ein. Direkt-indirekte Botschaften für Therapie, Beratung und über den Gartenzaun. Heidelberg 2017. Wolfgang Tschacher/Maja Storch: Die Bedeutung von Embodiment für Psychologie und Psychotherapie, Psychotherapie, 17, 2/2012. Matthias Varga von Kibed: Die Logik von Lösungen, Vortrag Wien, 04.12.2010, Auditorium. Müllheim 2011. Karl Josef Wallner: Sinn und Glück im Glauben. Illertissen 2008. Edwin Yager: Subliminal Therapy. Using the Mind to Heal. Carmarthen 2011. Jeffrey Young: Schematherapie. Ein praxisorientiertes Handbuch. Paderborn 2013.

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Dem Geheimnis der Bedürfnisse auf der Spur! Auf Umwegen wurde Albert Pesso eine Art Sherlock Holmes in dieser Frage: Als Tänzer und Tanzpädagoge beobachtete er, dass viele Tänzerinnen individuelle Schwierigkeiten hatten, ein bestimmtes Gefühl darzustellen. Das änderte sich, wenn er ihnen in einem Zwischenschritt als menschliches Gegenüber eine »passendere Form« anbot. Aus diesen Beobachtungen entwickelt sich eine neue, körperorientierten Therapieform, die Pesso-Therapie. Um dem Geheimnis der Bedürfnisse näherzukommen, bediente sich Pesso eines »Kunstgriffs«: Über das Angebot einer idealen Passform, der »Antidot«, wird auf eine indirekte, schützende Weise inneres Suchverhalten angeregt.

Die Pesso-Therapie Waltraud Belser

Die Pesso-Therapie (Pesso Boyden System Psychomotor – PBSP) ist eine international verbreitete körperorientierte, individuelle Psychotherapie mit dem Ziel des emotionalen Wachstums. Albert Pesso und seine Frau Diane Boyden entwickelten diese Methode in den 1960er-Jahren in den USA. Ihre Anwendung ist bei vielen psychologischen und emotionalen Anliegen hilfreich. Sie hebt sich aber durch die symbolische Befriedigung der aus der Entwicklungsgeschichte entstandenen unerfüllten Bedürfnisse hervor und ermöglicht heilsame Erfahrungen bei Schädigungen durch traumatische Ereignisse sowie bei den durch Brüche im Rollengefüge der Familie entstandenen schädigenden Dynamiken. Die Einzigartigkeit dieser Methode liegt im Wesentlichen in der Konstruktion heilsamer synthetischer Erinnerungen, die nicht nur kognitiv, sondern auch körperlich-emotional erlebbar werden. Die körperorientierte Arbeitsweise vereint sowohl kognitiv behaviorale, wie auch tiefenpsychologische und systemische Perspektiven und geht konform mit aktuellen neurowissenschaftlichen Erkenntnissen, unter anderem zur Plastizität des menschlichen Gehirns und der Bedeutung von Erinnerungen bei der Wahrnehmung der Gegenwart. Für die psychotherapeutische Behandlung von Kindern, Jugendlichen und deren Eltern wurde die Pesso-Therapie von Michael Bachg zu einem eigenen Ansatz weiterentwickelt, der unter der Bezeichnung Feeling-Seen bekannt wurde. 132

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1 Grundsätze der Bedürfnisbefriedigung – Form und Passform Grundsätzlich wird in der Pesso-Therapie davon ausgegangen, dass jedes Kind bereits bei seiner Geburt in seinem evolutionären Gedächtnis seine »ureigene ›Form‹« gespeichert hat und diese Form so kreiert ist, dass durch eine passende Interaktion, von Albert Pesso »Passform« genannt, erst eine gesunde Gesamtform entstehen kann.1 Um eine gesunde körperliche und psychische Entwicklung und Entfaltung eines Menschen zu ermöglichen, benötigt es ausreichend passgenaue Interaktionen mit seiner Umwelt, mit den richtigen Bezugspersonen, zur richtigen Zeit und im richtigen Alter, sodass die ureigene Form des Kindes eine geeignete Passform erlebt.2 Nach Pesso müssen als Grundvoraussetzung für die optimale Entwicklung und Entfaltung eines sich im Entstehen befindenden Menschen die in unseren Genen festgelegten Entwicklungsaufgaben erfüllt werden, die jedem Menschen innewohnen.3

2 Die Entwicklungsaufgaben Die Vergangenheit ist es, die laut Albert Pesso unser Verhalten im Hier und Jetzt bestimmt. Er führt aus, dass der Akt des Wahrnehmens selbst weitgehend ein Akt des Erinnerns ist und wir ein Ergebnis unserer Geschichte sind. Eric Kandel, Gedächtnisforscher und Mediziner, untermauert Pessos Annahme, dass nicht nur unsere Wahrnehmung Erinnerung ist, sondern »unsere Persönlichkeit selbst ist Erinnerung«4. Es sind unsere Erfahrungen, wie diese Welt ist und was wir von dieser Welt zu erwarten haben, und diese Erfahrungen sind wie eine Linse, durch die wir die Welt sehen und auf diese wir reagieren. Dabei unterscheidet Pesso zwei Formen des Gedächtnisses: das genetische oder evolutionäre und das autobiografische. Das genetische Gedächtnis ist das,

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Barbara Fischer-Bartelmann: Folgenschwere Familiengenerationen, in: Sulz: Wer rettet Paare und Familien aus ihrer Not? Paar- und Familientherapie als Hauptstrategie in der Behandlung psychischer Störungen. Gießen 2009, S. 89 f. 2 Vgl. Fischer-Bartelmann 2009, S. 90. 3 Vgl. Fischer-Bartelmann 2009, S. 90. 4 Albert Pesso, Werden, wer wir wirklich sind. In: Albert Pesso/Lowijs Perquin: Die Bühnen des Bewusstseins. Oder: Werden, wer wir wirklich sind: PBSP – ein ressourcenorientierter, neurobiologisch fundierter Ansatz der Körper-, Emotions- und Familientherapie. München 2008a, S. 44.

Die Pesso-Therapie

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was wir mit in die Welt bringen. In unseren Genen ist das Wissen vorhanden, wie unsere Grundbedürfnisse optimal befriedigt werden können. »Die evolutionäre Vergangenheit, die in unseren Genen gespeichert ist, ist unverkennbar die wesentliche Quelle des Überlebensverhaltens in der Gegenwart. Die persönliche, autobiographische Vergangenheit der Befriedigung oder Frustration von Lebensbedürfnissen, wie sie in den Erinnerungen jedes Individuums niedergelegt ist, ist die sekundäre Quelle.«5 Albert Pesso erklärt, dass in jedem Kind genetisch festgelegt ist, was für seine gesunde Entwicklung notwendig ist, was es von seinen Eltern und seiner Umwelt braucht, um sich optimal entwickeln zu können. Für eine gesunde Entwicklung hin zur Selbstständigkeit und Autonomie müssen unsere grundlegenden Entwicklungsaufgaben oder die Aufgaben unserer Existenz bewältigt werden.6 Albert Pesso spricht von genetischen Entwicklungsaufgaben. Die erste genetische Entwicklungsaufgabe ist also die Befriedigung der fünf Grundbedürfnisse.7 Diese fünf Grundbedürfnisse sind: –  »Platz, wir brauchen das Gefühl einen Platz auf dieser Welt zu haben; –  Nahrung, genährt zu werden; –  Unterstützung, getragen zu werden; –  Schutz, abgeschirmt zu werden; –  Grenzen, definiert zu sein.«8 Wichtig ist dabei, dass diese Grundbedürfnisse im richtigen Alter und von der richtigen Person im Sinne des richtigen Verwandtschaftsverhältnisses bzw. Beziehungsverhältnisses erfüllt werden müssen.9 Auch müssen diese Grundbedürfnisse in einer ganz bestimmten Abfolge gestillt werden, zuerst real, körperlich und später im übertragenen Sinne symbolisch, metaphorisch von

5 Albert Pesso: Wie Löcher im Rollengefüge in der Vergangenheit mit den richtigen Leuten aufgefüllt werden können. Ein neuer und überraschender Weg, um die Tür zum Glück in der Gegenwart zu öffnen. In: Albert Pesso/Lowijs Perquin: Die Bühnen des Bewusstseins. Oder: Werden, wer wir wirklich sind: PBSP – ein ressourcenorientierter, neurobiologisch fundierter Ansatz der Körper-, Emotions- und Familientherapie. München 2008b, S. 212. 6 Vgl. Pesso 2008a, S. 46. 7 Pesso 2008a, S. 46. 8 Pesso 2008a, S. 46. 9 Vgl. Pesso 2008a, S. 46.

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den richtigen Bezugspersonen, sodass sie schließlich von uns selbst autonom befriedigt werden können.10 Zur Veranschaulichung soll das Beispiel einer stillenden Mutter herangezogen werden. Zunächst wird durch das Stillen das Bedürfnis des Säuglings nach Nahrung in konkretem Sinne erfüllt. Die symbolische Befriedigung erfolgt dann, wenn das Kind durch Lob und Anerkennung genährt wird, sein Selbstwert wird genährt und schließlich gelingt es dem Kind, sich selbstständig zu nähren, indem es sich bei Hunger selbst mit Nahrung versorgt.11 Wir können nicht wirklich autonom werden, wenn wir nicht zuvor durch diese Stadien einer guten Abhängigkeit und Bindung gegangen sind. »Werden diese Grundbedürfnisse in unserer frühen Entwicklung in ausreichender Weise befriedigt (sie finden eine ›Passform‹), so erfahren wir sie und ihren Ausdruck als legitimen und selbstverständlichen Teil unseres Seins. Wir lernen dadurch auch, in unserem späteren Leben gut für uns zu sorgen und unsere Beziehungen in befriedigender Weise zu gestalten.«12 So ist es letztendlich die Interaktion mit den Bezugspersonen, die uns zu dem machen, wer wir sind, und dies gilt ganz besonders für die sensible und prägende Phase der Kindheit.

3 Fehlentwicklungen durch unpassende Interaktionserfahrungen Wenn nun diese Grundbedürfnisse in der frühen Entwicklungsgeschichte nicht zufriedenstellend beachtet und befriedigt wurden und es zu negativen Erfahrungen und Mangel kommt, weil es keine Passform für unsere Bedürfnisse in für uns ausreichender Weise, sondern eher unzureichende oder sogar grenzüberschreitende, uns schädigende Interaktionen gab, entsteht eine Diskrepanz zwischen dem, was genetisch angelegt und erforderlich wäre, und der persönlichen Geschichte. Diese Defizite im Reifungsprozess führen zu Frustra-

10 Vgl. Almuth Roth-Bilz: Pessotherapie – Grundlagen und Methode. o. O 2003, S. 5. https://www. ruth-dalheimer.de/pdf/Pesso-Therapie_Grundlagen-Methode.pdf (Zugriff am 30.09.2022). 11 Vgl. Christine Höhne: PBSP. Die Wirksamkeit von »Feeling-Seen« im Erstgespräch. Gießen 2009, S. 17. 12 Arbeitsgemeinschaft für Pesso-Therapie: Was ist Pesso-Therapie? O. J. https://pesso-therapie. de/methode.html (Zugriff am 30.09.2022).

Die Pesso-Therapie

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tion und Unzufriedenheit, Resignation, Angst und Aggression.13 Es kommt zu Fehlentwicklungen in der Persönlichkeitsstruktur, da die notwendige Passform nicht gefunden werden konnte. Bleiben die Bedürfnisse des Kindes unbefriedigt, dann besteht die Möglichkeit der Unterdrückung der Bedürfnisse oder aber die Möglichkeit der Verformung dieser Bedürfnisse, was zumindest eine Ersatzbefriedigung ermöglicht.14 Das Kind lernt eine negative Sichtweise der Gegenwart und eine ebensolche Erwartungshaltung für die Zukunft, was sich später auch im Erwachsenenalter manifestiert. Unsere Wahrnehmung ist stärker auf Signale möglicher Ablehnung sensibilisiert. Mögliche positive Erfahrungen werden weniger gewichtet und es kann eine schmerzhafte Sehnsucht nach der Befriedigung unserer ungestillten Bedürfnisse bleiben.15 Diese unerfüllten Bedürfnisse warten dann darauf zum Abschluss zu kommen. Es besteht unter Umständen der lebenslange Antrieb, im falschen Alter, zur falschen Zeit und von der falschen Person die Befriedigung zu suchen. Albert Pesso führt hier das Beispiel der Ehe an, in der häufig die Befriedigung der unerfüllten Bedürfnisse beim Partner gesucht wird. Bildlich gesprochen klopfen Menschen mit diesem »erinnerten, bedürftigen, inneren kindlichen Selbst[es]« immer wieder an die Türen all derer an, von denen sie glauben, ihre Bedürfnisse erfüllt zu bekommen.16 Die Hoffnung und Erwartung, dass heutige Beziehungspartner alte Defizite ausgleichen, den alten Schmerz heilen, führt meistens zur Überforderung der Beziehung und zur Reaktivierung des aus der Entwicklungsgeschichte bekannten alten Schmerzes. Die zweite Entwicklungsaufgabe beinhaltet die »Aneignung und Integration aller Polaritäten unseres Seins«17. Um eine vollständige Person zu werden, müssen unterschiedliche Polaritäten in die Persönlichkeit aufgenommen werden, da sich laut Pesso nahezu »alle Phänomene des Lebens in Form von Polaritäten präsentieren und beschreiben lassen«18.

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Vgl. Arbeitsgemeinschaft für Pesso-Therapie o. J. Vgl. Fischer-Bartelmann 2009, S. 92. Vgl. Arbeitsgemeinschaft für Pesso-Therapie o. J. Vgl. Pesso 2008b, S. 208. Pesso 2008a, S. 46. Silke Wächter: Pesso-Psychotherapie (PBSP). Eine Evaluationsstudie zur Wirksamkeit. München 2009, S. 19.

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Gemeint ist damit die »genetische Polarität (zwischen väterlichem und mütterlichem Genmaterial)«19. Hinzu kommt die »neurologische Polarität« (die Funktionsweisen der rechten und linken Gehirnhälfte), die »sensorischmotorische Polarität« (ausgewogener Einsatz des afferenten und efferenten Nervensystems). Die letzte zu integrierende Polarität bezieht sich auf die eigenen »weiblichen und männlichen Anteile«20. Neben der Erfüllung der Grundbedürfnisse und der Integration der Polaritäten folgt die dritte Entwicklungsaufgabe, die »Entwicklung des Bewusstseins des eigenen Seins«21. Sich bewusst zu sein, »nicht nur auf einer konkreten Ebene zu existieren, sondern sich des Seins bewusst zu sein, so dass man eine Perspektive hat«22. Der Mensch soll die Fähigkeit entwickeln, zur selben Zeit »›subjektiv im Zentrum des Erlebens zu stehen‹ und […] ›zurückzutreten und uns wie Objekte in der Welt [zu] betrachten‹ (Pesso, 1999, S. 233). Die Etablierung dieser Fähigkeit, ein Geschehen subjektiv zu erleben und gleichzeitig als Objekt des Erlebten zu betrachten, ist von besonderer Wichtigkeit für das therapeutische Vorgehen innerhalb des Pesso-Ansatzes. Sie ist notwendig für das Arbeitsbündnis zwischen Klient und Therapeut sowie für die Integration des therapeutischen Ergebnisses auf mehreren Ebenen.«23 Hier spielt die Entwicklung von Sprache eine bedeutende Rolle. Damit ist gemeint, die Fähigkeiten und Möglichkeiten zu entwickeln, auf Geschichten zu reagieren, nicht nur durch das Internalisieren von Bildern, sondern die Fähigkeit zu entwickeln, die äußere Realität in ein »verbales inneres Universum« zu übersetzen und abzuspeichern, »das ist ein Teil des Antriebes zur Bewusstseinsentwicklung, zu wissen und zu sein«24. Die vierte Entwicklungsaufgabe beschreibt Albert Pesso als das Konzept des »Piloten«:25 der Teil in uns, der Aufsicht und Regie führt, über alles was wir tun, der für die »Selbstregulation, Kontrolle, Urteilsbildung und Entscheidungsfindung sowie -umsetzung«26 verantwortlich ist. Diese innere Instanz, von 19 Barbara Fischer-Bartelmann: Einführung in die Pesso-Therapie. In: Serge K. D. Sulz/Leonhard Schrenker/Christoph Schricker (Hg.): Die Psychotherapie entdeckt den Körper. Oder: Keine Psychotherapie ohne Körperarbeit? München 2005, S. 291. 20 Fischer-Bartelmann 2005, S. 290 f. 21 Höhne 2009, S. 16. 22 Pesso 2008a, S. 47. 23 Wächter 2009, S. 20. 24 Pesso 2008a, S. 47. 25 Wächter 2009, S. 20. 26 Wächter 2009, S. 21.

Die Pesso-Therapie

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Pessos innerer »Pilot« genannt, trifft Entscheidungen, führt diese durch und übernimmt dafür die Verantwortung. »The President of the United States of Consciousness«, der Präsident der Vereinigten Staaten unseres Bewusstseins, »oversees the rest of our self«27, so beschreibt Albert Pesso den »exekutiven Teil des Selbst«28. In der »Ich- und Autonomieentwicklung des Kindes«29 ist die Entwicklung dieses exekutiven Teils, dieser Steuerungs- und Ausführungszentrale von großer Bedeutung. Die letzte und fünfte genetische Entwicklungsaufgabe ist, die »persönliche Einzigartigkeit und Entwicklungsmöglichkeit zu verwirklichen«30. Die Metapher, mit der Albert Pesso diese Erfüllung der persönlichen Einzigartigkeit und der eigenen Möglichkeiten verdeutlicht, ist der Samen eines Baumes, der Frucht bringt, aus dem wieder etwas Neues entsteht. Wobei damit nicht zwangsläufig gemeint ist, Kinder zu zeugen, sondern dass wir etwas schaffen, das uns übersteigt, überlebt und nach uns existiert, und zwar nicht aus narzisstischen Gründen.31 Albert Pesso sieht darin einen der beiden grundlegenden evolutionären Antriebe, den er neben dem »survival of the species« als den »survival of the self« bezeichnet.32 Er merkt an: »Ich glaube, der wirkliche Antrieb ist ein biologischer, spiritueller Drang, an diesem endlosen Akt des Werdens teilzuhaben.«33

4 Das Konzept von »Holes in Roles« Der Pesso-Therapie liegt eine sehr komplexe und umfangreiche Theorie zugrunde und es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, sie hier umfassend darzustellen. Dennoch soll das Konzept von »Holes in Roles« – welches die Einzigartigkeit dieser Methode nochmals hervorhebt – kurz skizziert werden. Das Konzept der Grundbedürfnisse wurde von Pessos im Jahr 2004 durch die Annahme ergänzt, dass das Kind auch über angeborene Informationen bzw. über ein Modell verfügt, welche Funktionen die einzelnen Familienmitglieder innerhalb einer Familie haben und wie diese verschiedenen Rollen ausgefüllt werden 27 28 29 30 31 32 33

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Albert Pesso: Gene und Genogramme, Auditorium CD. Mühlheim 2012, Track 9 f. Pesso 2008a, S. 47. Wächter 2009, S. 21. Pesso 2008a, S. 47. Vgl. Pesso 2008a, S. 47. Pesso 2012, Track 3 f. Pesso 2008a, S. 48.

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sollten. Albert Pesso spricht von einer »Grammatik der Familienbeziehungen«34 und er geht davon aus, dass diese Informationen genetisch in jedem Menschen angelegt sind. Die verschiedenen Rollen reifen in einer angeborenen, neurologischen und biologischen Zeitlinie, was bedeutet, dass sich zunächst instinktiv die Rollen Sohn/Tochter, Enkelkind, Schwester/Bruder etc. ausdifferenzieren, um dann in späteren Entwicklungsstadien die erwachsenen, gebenden Familienrollen zu übernehmen.35 Diese Ordnung bzw. Rangfolge wird gestört, wenn Eltern ihren Rollen nicht gerecht werden, sei es durch tatsächliche oder emotionale Abwesenheit, Desinteresse, Krankheit, Tod, Scheidung oder aber wenn die Eltern selbst in ihrer eigenen Kindheit in ihrer Ursprungsfamilie ihre Entwicklungsbedürfnisse nicht befriedigend erfüllt bekamen. Dabei führen sowohl das Erzählen der Eltern von ihren eignen Nöten in ihrer eigenen Kindheit als auch die vom Kind selbst erfahrene Lücke im Rollengefüge der Familie zu dem meist unbewussten Wunsch, diese Ungerechtigkeit wiedergutzumachen. Nicht nur, dass die grundlegenden Entwicklungsbedürfnisse eines Kindes aufgrund dieser entstandenen Lücken im Rollengefüge einer Familie nicht mehr erfüllt werden, das Kind übernimmt unbewusst oder faktisch die fehlende Rolle und die damit verbundene Funktion innerhalb der Familie (»Holes in Roles«36) und zwar »mit einem noch unausgereiften Teil seines Selbst«37. Da das Kind diese Funktion entsprechend einer gesunden neurologischen wie biologischen Entwicklung erst im Erwachsenenalter wirklich ausfüllen kann, übernimmt es eine Rolle, die es ständig überfordert, um den Preis, dass seine eigenen Bedürfnisse nicht befriedigt werden. Wie kommt es zu dieser vorzeitigen, entgegen jeder gesunden Entwicklung strebenden frühzeitigen Rollenübernahme? Ein Ursprung ist die Empathie, das tief im Herzen des Kindes empfundene Mitgefühl, das es für seine verwundeten Eltern fühlt. Dieses Mitgefühl hält oft lebenslang.38 Der andere Ursprung, die andere Triebfeder ist laut Pesso der Glaube des Kindes, dass die Bemühungen, die Löcher in den Rollen zu füllen, irgendwie dazu führen, dass die Eltern endlich in der Lage sein könnten, ihrer Fürsorgepflicht und ihren Erziehungsaufgaben nachzukommen. Das Mitgefühl treibt es dazu, die fehlende Verwandtschaftsfigur durch einen Teil seines eigenen Wesens zu ersetzen. 34 Barbara Fischer-Bartelmann/Almuth Roth-Bilz: Holes in Roles. Löcher im Rollengefüge der Familie. Pesso-Bulletin 11/2004, S. 2. 35 Vgl. Fischer-Bartelmann/Roth- Bilz 2004, S. 2. 36 Pesso 2008b, S. 210. 37 Fischer-Bartelmann/Roth-Bilz 2004, S. 3 f. 38 Vgl. Fischer-Bartelmann/Roth-Bilz 2004, S. 3 f.

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Hauptmotivation für die frühzeitige Übernahme von Rollen innerhalb des Familiensystems ist allerdings die unbewusste Überzeugung, »dass durch das Ausfüllen der Löcher endlich Gerechtigkeit eintritt, und dieses Gefühl bringt eine tiefe Befriedigung mit sich, einen click of closure, die Vollständigkeit einer Gestalt«39. »Der Sog, in die Lücken des Familiensystems einzuspringen, wirkt auf alle Familienmitglieder.«40 Der Preis für diese frühzeitige Rollenübernahme ist enorm. Das Kind übernimmt vor der Zeit die Rolle eines Erwachsenen und überschreitet damit die Generationengrenze. Die gesunde Reihenfolge der altersgemäßen Stufen der Bedürfnisbefriedigung wird verletzt.41 Die normale Entwicklung des Kindes wird auf den Kopf gestellt. Statt erst seinem Selbst-Interesse folgen zu dürfen und erst später als erwachsene Person die Fürsorge und Verantwortung für andere zu übernehmen, nimmt das Kind »sein Selbst-Interesse zurück und investiert in den anderen auf Kosten der Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse«42. Zunächst ist dies ein Verzicht und stellt auch einen Verlust dar, gleichzeitig aber hat das Kind auch einen versteckten Gewinn. Da es selbst eine Passform zur bedürftigen Person entwickelt, entsteht das Gefühl der »Omnipotenz«43, denn es scheint der einzige Retter dieser bedürftigen Person zu sein. Damit wird ein Gefühl der Grandiosität genährt, da das Kind ja die Aufgaben eines Erwachsenen und dessen Verantwortung übernimmt, sein Selbstwert wird übersteigert, und gleichzeitig ist es das Kind, das die Sehnsucht nach Liebe und Fürsorge unterdrückt und tief in seinem Inneren nach Hilfe schreit.44 Die beelternde Rolle, die es übernimmt, führt dazu, dass bestimmte Grundbedürfnisse nicht gestillt werden und es, anstatt zu empfangen, zum Gebenden wird. Eigene Bedürfnisse werden nicht erfüllt und die Bedürfnisse des zu beelternden Erwachsenen treten in den Vordergrund. Damit ist kein Annehmen von Fürsorge mehr möglich, denn das Kind kennt nur die Rolle des Gebenden. Im Mittelpunkt stehen die Bedürfnisse des zu Beelternden, nicht aber die des Kindes.45 »Die Verbindung zur Seele mit ihren Impulsen und Bedürfnissen geht verloren.«46

39 40 41 42 43 44 45 46

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Fischer-Bartelmann/Roth-Bilz 2004, S. 2. Fischer-Bartelmann 2009, S. 102. Vgl. Fischer-Bartelmann 2009, S. 98. Fischer-Bartelmann/Roth-Bilz 2004, S. 4. Fischer-Bartelmann/Roth-Bilz 2004, S. 2. Vgl. Fischer-Bartelmann/Roth-Bilz 2004, S. 4. Vgl. Fischer-Bartelmann/Roth-Bilz 2004, S. 4. Vgl. Fischer-Bartelmann/Roth-Bilz 2004, S. 4.

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Das Phänomen, dass Kinder ihre Eltern bemuttern, deren Rolle ausfüllen und Verantwortung für deren Fürsorge und emotionales Wohlergehen übernehmen, ist in der Psychotherapie schon seit Langem bekannt. Das Konzept »Holes in Roles« der Pesso-Therapie geht allerdings weit über den in der Psychotherapie dafür verwendeten Begriff der Parentifizierung hinaus.

5 Die Auswirkungen und Folgen von »Holes in Roles« Geht ein Kind in die Rolle eines »idealen Vaters« für seine früh verwaiste Mutter, so überspringt das noch unausgereifte Selbst des Kindes zwei Generationen und tritt eine Funktion an, die es heillos überfordert. Die Person, die solche Löcher ausfüllt, ist in ihrer Entwicklung noch nicht in diese Rolle hineingewachsen, sie füllt also eine Funktion aus, die sie viel zu früh in eine gebende erwachsene Rolle zwingt. Sie muss »anderen geben, was sie selbst nicht bekommen hat«47. Die eigentlichen entwicklungsgemäßen Schritte, Freiheiten, Aufgaben und Möglichkeiten kommen zu kurz bzw. werden übersprungen, sodass das Kind um viele altersangemessene Erfahrungen beraubt wird. Dadurch können keine individuellen Ressourcen aufgebaut werden, aus denen Kraft und Freude geschöpft werden kann, da das Ausfüllen der Löcher immer auch mit einem Verzicht auf eigene Wünsche und Bedürfnisse einhergeht.48 Das Dilemma dabei ist aber, dass das Kind zwar die fehlende Rolle versucht auszufüllen, das aber nie gänzlich vermag. Das ist unmöglich und so bleibt es immer nur ein Ersatz.49 Es hat nie die wirkliche soziale Position dieser Rolle, allerdings die Funktion und oft auch die Erwartungen, die an diese Rolle geknüpft sind. Damit ist ein Scheitern häufig vorprogrammiert, Überforderung und das Gefühl des Versagens stellen sich ein. Fischer-Bartelmann beschreibt, dass diese Menschen mit einer solchen Lebensgeschichte im Erwachsenenalter häufig mit einer Symptomatik in die Praxis kommen, die einem Burnout-Syndrom gleicht.50 Gerade in Umbruchphasen, in Übergangssituationen werden diese Menschen an den Rand ihrer Belastbarkeit gedrängt, da sie all die Jahre zuvor schon gemäß ihrer verfügbaren Kräfte entwicklungsunangemessene Aufgaben erfüllten und nun in zusätzlich belastenden Lebensphasen auf keine Ressourcen zurückgreifen können. Auch die Fähigkeit, etwas annehmen zu können, 47 48 49 50

Fischer Bartelmann 2009, S. 104. Vgl. Fischer Bartelmann 2009, S. 104. Vgl. Fischer-Bartelmann 2009, S. 103, Vgl. Fischer-Bartelmann 2009, S. 105.

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die eigenen Bedürfnisse und Wünsche zu behaupten, ist verloren gegangen, sodass in sozialen Beziehungen diese Seite ebenfalls nicht gelebt werden kann. Häufig geht es so weit, dass diese Menschen auch in ihren späteren sozialen Beziehungen wiederum die Rolle des Gebenden und die Rolle des Verantwortlichen übernehmen, da sie nicht selten ebenfalls bedürftige Partnerinnen für ihre Beziehung aussuchen. Auch finden sich gerade in sozialen Berufen Menschen mit einer solchen Lebensgeschichte.51 Sie spüren sich und ihre eigenen Bedürfnisse kaum. Eine weitere innere Balance gerät ins Ungleichgewicht, wenn Kinder in Rollen von Familienmitgliedern einspringen, nämlich die »männlichen und weiblichen Polaritäten der Persönlichkeit«52. Übernimmt ein Kind die Rolle des Vaters, so werden seine männlichen Eigenschaften und Züge verstärkt, ist es die Rolle der Mutter, so erfährt das Kind häufig eine Verstärkung der weiblichen Seite der Persönlichkeit.53 Hinzu kommt eine »Über-Aktivierung der genannten Kern-Energien. Die Klienten sind sozusagen an dieses erhöhte Grund-Niveau der Aktivierung gewöhnt, die Überhitzung des gesamten Systems habituiert, ist als üblicher Ausgangszustand vertraut«.54 Überforderung und Scheitern treten anstelle von Befriedigung und Erfolg, was zu »Symptome[n] wie globalisierte körperliche Spannungs- und Schmerzzustände (z. B. als Fibromyalgie diagnostiziert), Depression, Schuldgefühle, Projektion bzw. Retroflexion der ›dämonischen Energien‹, Dissoziation, obsessives Verhalten und Zwänge und die Vermeidung, Projekte zum Abschluss zu bringen, Erfolg zu haben«55, führen kann. Diese Symptome werden innerhalb der Pesso-Therapie auch als »›systemische‹ Abwehrmechanismen«56 bezeichnet. Das Leid, der Schmerz, die Frustration, die Verzweiflung und das Gefühl der Entfremdung und Isolation, welche durch die Erfahrung von »Holes in Roles« in der Kindheit verursacht werden können, führen zu fortdauernden Konsequenzen in der psychischen Struktur eines Menschen. Sie machen psychisch und physisch krank.

51 52 53 54 55 56

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Vgl. Fischer-Bartelmann 2009, S. 105. Fischer-Bartelmann 2009, S. 106. Vgl. Fischer-Bartelmann 2009, S. 106. Fischer-Bartelmann 2009, S. 108. Fischer-Bartelmann 2009, S. 108. Fischer-Bartelmann 2009, S. 108.

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6 Die therapeutische Arbeit: die Struktur und ihr Verlauf »Menschen benötigen für eine neue Erfahrung nicht die Realität – das Bild einer Realität ist ausreichend.«57 Die therapeutische Arbeit innerhalb der PessoTherapie wird »Struktur« genannt. Dabei handelt es sich um eine Einzeltherapie, allerdings um eine Einzeltherapie in der Gruppe. Die Gruppenmitglieder fungieren hierbei als Rollenspieler. Die Pesso-Therapie kann – mit verändertem Setting – auch als Einzeltherapie angewendet werden; dafür stehen dann zur körperlichen Interaktion keine Rollenspieler zur Verfügung. Wichtig ist dabei, sich nochmals die Grundannahme der Pesso-Therapie vor Augen zu führen: Die Gegenwart – das Hier und Jetzt, in dem sich die Patientin befindet – ist immer geprägt von Interaktionserfahrungen aus ihrer Vergangenheit. In jedem Moment des gegenwärtigen Bewusstseins werden Erinnerungsprozesse aktiviert, die meist unbewusst, aber dennoch die Wahrnehmung der Patientin steuern. Da eine Wahrnehmung auch eine körperliche Reaktion auslöst, Erinnerungen (bewusst oder unbewusst) uns mit dem Körper reagieren lassen, werden diese Reaktionen im Gesicht einer Person, als Emotion, aber auch in ihrer Körperhaltung und dem Klang ihrer Stimme erkennbar. Das ermöglicht dem Therapeuten, diese wechselnden Reaktionen zu benennen und damit dem Bewusstsein des Patienten zugänglich zu machen.58 Unbewusste Emotionen können so erkannt und benannt werden. Die »Kunstfigur des ›Zeugen‹, der die Gefühle ›sieht‹«59 wird eingeführt; dieser Zeuge benennt die Gefühle im jeweils konkreten Kontext. Dadurch öffnen sich die damit verbundenen Assoziationen, Erinnerungen und innere Stimmen und der Körper reagiert. Durch dieses Benennen der Gefühle wird die benannte Emotion dem Klienten bewusst. Obwohl sich das Fühlen des Zustandes zwar im Hier und Jetzt abspielt, wird es dennoch vom Erlebten in der Vergangenheit evoziert. Es wird der Patientin durch das vor ihrem geistigen Auge auftretende Szenario, das innere Bild aus der Vergangenheit, ermöglicht, die damit verbundenen Emotionen, Affekte und Gedanken zu erleben und gleichzeitig zu erkennen, dass das Gefühlte aus der Erinnerung geschieht, während sie sich selbst in der Gegenwart befindet.

57 Albert Pesso, Osnabrück 1999: https://www.albert-pesso-institut.de/pbsp (Zugriff am 30.09.2022). 58 Vgl. Michael Bachg: Microtracking in der Pesso-Therapie. Brückenglied zwischen verbaler und körperorientierter Psychotherapie. Psychotherapie 9, 2/2004, 289. 59 Roth-Bilz 2003, S. 8.

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Das genaue Sehen und Benennen der Emotionen durch den Therapeuten könnte zu Abhängigkeiten führen: »Endlich jemand, der mich genau versteht …« – und schon ist der Therapeut selbst zur Projektionsfigur geworden. Um dies zu verhindern, hat Pesso die Kunstfigur des »Zeugen« erfunden. Der Therapeut zeigt mit einer kleinen Handbewegung neben sich und sagt: »Wenn ein Zeuge hier wäre, würde er sagen: ‚Ich sehe, wie betroffen du dich fühlst, wenn du daran denkst, wie wenig deine Mutter dich verstanden hat.«60 Eine von der Patientin als passend empfundene Zeugenaussage lässt diese unmittelbar mit einem bejahenden Kopfnicken antworten.61 Der Zeuge hat die Emotion der Patientin abgebildet. Wenn sich nun ein Klient »in seiner affektiven Wahrheit gesehen und erkannt fühlt, stimuliert dies den internen Dialog. Der Klient wird sich innerlicher, verbotener oder verurteilender Botschaften bewusst, die ihn im alltäglichen Leben fortwährend beeinflussen.«62 Während der emotionale Zustand des Klienten durch die Figur des Zeugen abgebildet wird, werden die Kognitionen des Klienten, seine Gedanken und inneren Dialoge, durch die sogenannten »inneren Stimmen« ins Bewusstsein gebracht.63 Wenn der Klient zum Beispiel äußert: »Ich kann nichts, mit mir stimmt was nicht!«, dann ist das ein innerer Glaubenssatz, den er äußert und diese Benennung bzw. Wiederholung der geäußerten »inneren Stimme« durch die Therapeutin dient wie die Zeugenfigur zur »Externalisierung innerer Prozesse«.64 »Beide Elemente zusammen, die Abbildung der Emotionen mit Hilfe der Zeugenfigur und der Kognitionen mit Hilfe der Stimmen, werden ›Microtracking‹ genannt.«65 Dieser Prozess des Microtrackings stellt innerhalb der Pesso-Therapie eine bedeutende Interventionstechnik dar. Das, was nun vor dem geistigen Auge der Klientin, auf ihrem inneren Bildschirm erscheint, »wird auf einer äußeren Bühne inszeniert.«66 Nun wählt die Klientin eine Rollenspielerin, die die Rolle der »inneren Stimme« übernimmt. Die Klientin gibt an, wo die Rollenspielerin stehen muss. Diese wiederholt nun genau in dem Tonfall, den die Klientin zuvor verwendet hat, deren Äußerung. 60 Bachg 2004, S. 291. 61 Vgl. Bachg 2004, S. 290. 62 Lowijs Perquin/Petra Rehwinkel: Pesso-Psychotherapie – Eine körperorientierte psychotherapeutische Methode. In: Albert Pesso/Lowijs Perquin: Die Bühnen des Bewusstseins. Oder: Werden, wer wir wirklich sind: PBSP – ein ressourcenorientierter, neurobiologisch fundierter Ansatz der Körper-, Emotions- und Familientherapie. München 2008, S. 17. 63 Vgl. Fischer-Bartelmann 2005, S. 294. 64 Wächter 2009, S. 31. 65 Barbara Fischer-Bartelmann 2005, S. 295. 66 Roth-Bilz 2003, S. 8.

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»Der Therapeut beobachtet wieder die Reaktion, vielleicht zeigt sich ein Gefühl im Gesicht des Klienten, vielleicht kommt ein Körperimpuls, vielleicht taucht eine Erinnerung auf. Schritt für Schritt folgt der Therapeut den sich immer weiter öffnenden neuronalen Netzwerken des Klienten, so dass der Klient in das ›Zentrum seiner inneren Wahrheit‹ kommt. Pesso nennt dies die ›true scene‹, das Muster, die Architektur der Seele. Ist diese innere Wahrheit bewusst, tauchen aus dem Gedächtnis alte Szenen auf, Pesso nennt dies die ›historical scene‹.«67 Vor dem geistigen Auge sieht nun die Klientin Szenen aus ihrer Kindheit, schmerzliche Situationen, aus denen sie Entscheidungen abgeleitet und aus denen Reaktionsmuster entstanden sind. »Rollenspieler können nun Menschen repräsentieren, die damals zum Entstehen des inneren Konflikts beigetragen haben.«68 Im Gegensatz zum Psychodrama nach Jacob Levi Moreno oder auch bei einigen Familienaufstellungen unterschiedlicher Vertreter müssen sich die Rollenspieler in der Pesso-Therapie an vorgegebene Regeln und Einschränkungen halten.69 Der Therapeut erarbeitet nun gemeinsam mit der Patientin die Sätze heraus, die die Figuren aussprechen sollen, und zwar genau so, dass Betonung und Formulierung für die Patientin passen.70 Die Vergangenheit, die vergangene schmerzliche Erfahrung der Klientin wird in Szene gesetzt, allerdings mit einer anderen Handlungsperspektive, wobei der Therapeut und die Klientin gemeinsam die passende Interaktion zu dieser »historischen Szene« suchen.71

7 Korrigierende emotionale Erfahrung: der Antidot Mit dem Äußern der damals nicht befriedigten Bedürfnisse oder schmerzlich erlebten Emotionen kann noch keine Verbesserung des Wohlempfindens nach Pesso erreicht werden.72 Deshalb haben die Pessos ein Gegengift, den Antidot, gegenüber den früheren Erinnerungen in ihre Therapie eingeführt. Es werden gezielt solche Interaktionen entworfen, wie sie damals zwischen dem Klienten 67 68 69 70 71 72

Roth-Bilz 2003, S. 8. Perquin/Rehwinkel 2008, S. 18. Vgl. Wächter 2009, S. 27. Vgl. Wächter 2009, S. 27. Vgl. Perquin/Rehwinkel 2008, S. 18. Vgl. Höhne 2009, S. 31.

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und seinen »idealen Eltern« oder »idealen Bezugspersonen« hätten sein sollen.73 Dies ist das besondere und auch das Alleinstellungsmerkmal der Pesso-Therapie: Es werden zu den »Fehlprägungen der Lebensgeschichte solche ›synthetische Erinnerungen‹«74 aufgebaut, »die dem Klienten den Eindruck davon vermitteln, wie es hätte sein sollen (›Antidot‹). So wie die tatsächliche Lebenserinnerung bzw. Anpassung an den damaligen Kontext zu Ver-Formungen geführt hat und gegenwärtige Wahrnehmungs- und Verhaltensoptionen einengt, so können diese ›idealen‹ Erinnerungsbilder die eigentliche ›Form‹ bestätigen und wiederherstellen (Fischer-Bartelmann, 2005).«75 Der Klient kreiert nun gemeinsam mit der Therapeutin und mithilfe der Rollenspieler ein Szenario, das mit »Idealen Figuren« konstruiert wird, also nicht mit der Mutter, wie sie tatsächlich erlebt wurde, wie sie damals war, sondern mit der »idealen Mutter«, wie sie der Klient damals gebraucht hätte, und der Klient spürt, wie es hätte sein können.76 Die Frage nach Schuld und Schuldzuweisungen wird offen gelassen. Der Klient erlebt in dem neu inszenierten Ablauf »ideale Eltern«, die seine Bedürfnisse erfüllen und er erlebt positive Interaktionen, die seine ungestillten Sehnsüchte befrieden. Meist ist der Klient davon tief berührt, weil der lebendige Kontakt mit den Gruppenmitgliedern, die die »idealen Eltern« oder die »idealen Bezugspersonen« verkörpern und genau das sagen und tun, was der Klient sich gewünscht hat, die Glaubhaftigkeit der Interaktion verstärkt. Diese spezifische Rollenspieltechnik, die in der Pesso-Therapie angewandt wird, wird dort als »Akkomodation« bezeichnet.77 »Was die Pesso-Therapie allerdings anstrebt, ist, der realen Erinnerung die hypothetische so an die Seite zu stellen, dass die neue, in der Therapiesitzung synthetisch hergestellte Erinnerung in zukünftigen Situationen zusammen mit der ursprünglichen aktiviert wird; dass sie also mit denselben assoziativen Verbindungen im Gehirn verknüpft wird.«78 73 Vgl. Barbara Fischer-Bartelmann: Beitrag Pesso-Therapie. In: Konferenzmappe Symposion »Gehirn und Körper«. Heidelberg 2008, S. 5. 74 Fischer-Bartelmann 2009, S. 109. 75 Fischer-Bartelmann 2009, S. 109. 76 Vgl. Fischer-Bartelmann, Pesso-Therapie, in: Konferenzmappe, Symposium: »Gehirn und Körper«, 6. 77 Perquin/Rehwinkel 2008, S. 14. 78 Fischer-Bartelmann 2008, S. 6.

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Die Erfahrung der »idealen Eltern« mit den dazugehörigen »idealen Interaktionen«, die im Therapieraum mithilfe von Vorstellungsbildern, Objekten und Rollenspielern inszeniert werden, wird vom Klienten in seinem Gehirn als Alternative und Ergänzung zu seinen bisherigen Erfahrungen gespeichert. Das »Wahre Selbst« wird bestätigt und »das Ego« so aufgebaut, wie es ihm entspricht.79 Die neu gemachten Erfahrungen sollen ein Gegengewicht »gegenüber der alten negativen Konditionierung (Old Memory) bilden«.80 Das Wissen um passende Alternativerfahrungen bzw. alternative Interaktionen, Handlungsund Beziehungserfahrungen liegen im Klienten selbst. Der Begriff »Antidot« bringt zum Ausdruck, dass in dieser Szene »das symbolische ›Gegengift‹ zum ›Gift‹ der negativen oder traumatischen biographischen Erfahrung verabreicht wird (Pesso, 1999, S. 247). Diese Szene wird auch als die ›heilende Szene‹ bezeichnet, weil hier die heilende Alternativerfahrung stattfindet.«81 Die Wünsche und die Sehnsüchte des Klienten, was er damals gebraucht hätte, wie seine Bedürfnisse befriedigt hätten werden können. Dieses Wissen liegt allein im Klienten und die Aufgabe des Therapeuten ist es, dieses gemeinsam mit dem Klienten zu erarbeiten. Der Klient erlebt, wie es sich anfühlt, in einer solch bedürftigen Situation das erfüllt zu bekommen, was er zur optimalen Bedürfnisbefriedigung gebraucht hätte. Dabei ist es von Bedeutung, dass der Klient sich darüber im Klaren ist, in welchem Alter, welches Bedürfnis und welche Person er für die Erfüllung seiner Bedürfnisse gebraucht hätte.82 »Der Klient erlebt durch das Antidot, dass seine Bedürfnisse befriedigt werden können, und sieht die Gegenwart nicht mehr nur auf der Grundlage der negativen Erfahrungen der defizitären Bedürfnisbefriedigung.«83 Die Erinnerung an die tatsächliche Situation verbindet sich mit den Erfahrungen aus der »heilenden Szene« und dies ermöglicht es dem Klienten, die Gegenwart aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten, sodass die Erfüllung seiner Bedürfnisse durch die Außenwelt nun möglich erscheint und wieder Hoffnung einkehrt.84 Erleichterung tritt ein und »blockierte Emotionen kommen wieder in Bewegung und werden dann als Wirklichkeit zur Person gehörend integriert«85. 79 80 81 82 83 84 85

Vgl. Fischer-Bartelmann 2008, S. 6. Perquin/Rehwinkel 2008, S. 22. Wächter 2009, S. 41. Vgl. Höhne 2009, PBSP, S. 32. Höhne 2009, S. 32. Vgl. Höhne 2009, S. 33. Perquin/Rehwinkel 2008, S. 7.

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Wichtig ist es, dass der Klient die »Antidot-Szene« mit allen Sinnen aufnimmt, auf der dazugehörigen Altersstufe abspeichert und körperlich verankert.86 Diese bildet Grundlage und Ausgangspunkt für neue, alternative Erfahrungen in der Gegenwart und Zukunft.87 Ist nun aber die angestrebte Antidot-Szene für den Klienten nicht zugänglich, der Klient prinzipiell nicht in der Lage, etwas aufzunehmen, oder er lehnt die idealen Figuren sogar ab, dann ist ein Zwischenschritt notwendig. Dann findet ein Wechsel des Therapeutenverhaltens statt, der Therapeut wird in dieser Phase sehr direktiv und übernimmt die Kontrolle über die Situation, ganz im Gegensatz zum bisherigen therapeutischen Stil.88 Die tief empfundene Verantwortlichkeit für das Wohlergehen der zu beelternden, bedürftigen Bezugsperson muss zuerst aufgelöst werden, damit die eigene Erfahrung von Mangel an positiven Interaktionen und Defiziten elterlicher Fürsorge überhaupt erst therapeutisch bearbeitet werden kann.89 Dafür ist es notwendig zu klären, für welche Person der Klient damals gesorgt hat, welche Rolle er für wen übernommen hat und was und von wem er in dieser Situation selbst gebraucht hätte. Die Pesso-Therapie unterscheidet zwischen verschiedenen Ebenen ihrer therapeutischen Arbeit. – »Schicht 1: Die Befriedigung entwicklungsgeschichtlicher Defizite des Klienten (zu wenig ›Input‹) – Schicht 2: Die Bearbeitung der verschiedenen Effekte von Traumatisierungen (zu viel ›Input‹) – Schicht 3: Die Arbeit an den Auswirkungen von Löchern in Rollen (zu viel bzw. vorzeitiger ›Output‹). Wenn also diese Art Widerstand auftritt, der eine Entität zugrunde liegt, ist ein Wechsel von Schicht Eins auf Schicht Drei notwendig.«90 Hier soll nun nicht für den Klienten selbst eine geeignete Passform, ein geeignetes Antidot hergestellt werden, sondern für die Person, für die der Klient gesorgt hat. Für diese wird nun für sie zur richtigen Zeit, von der richtigen Bezugsperson eine synthetische Erinnerung hergestellt, ideale Figuren für die bedürftige Person werden kreiert. 86 87 88 89 90

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Vgl. Wächter 2009, S. 42. Wächter 2009, S. 42. Vgl. Pesso 2008b, S. 239. Vgl. Fischer-Bartelmann 2005, S. 299 f. Fischer-Bartelmann/Roth-Bilz 2004, S. 3.

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So kann zum Beispiel ein idealer Vater für die reale Mutter oder ideale Eltern für die realen Eltern eingeführt werden. Erst die Befriedigung der zu beelternden Person ermöglicht es dem Klienten von seiner Verantwortung für diese Person abzulassen und sich selbst die Befriedigung der eignen Bedürfnisse zu erlauben bzw. erst den Zugang zu den eigenen Entbehrungen zu schaffen.91 Empfänger der Fürsorge der Antidot-Szene ist also nicht der Klient, sondern das bedürftige Familienmitglied, für das der Klient gesorgt hat. Mit dem Einführen der idealen Figuren für das bedürftige Familienmitglied im Familiensystem wird Gerechtigkeit hergestellt, »niemand leidet mehr, ›alles stimmt‹, der click of closure ist gegeben«92. Hier sprechen Pesso und Boyden-Pesso von einer tiefen Erleichterung, »eine zentnerschwere Last scheint ihm [dem Klienten] von den Schultern zu fallen – eine Last, von der er zuvor nicht einmal wusste, dass er sie trug«93. Auch die Entität, der Impuls, der Sog, das Loch im Rollengefüge der Familie zu füllen, verschwindet. Ist die zu beelternde Person versorgt, dann kann eine Rückkehr zur Schicht 1, erfolgen, der Klient kommt mit seinen ungestillten Bedürfnissen nun in Kontakt, er spürt seine Not, sich selbst und seine eigene Bedürftigkeit.94 »Zusätzlich ist das Annehmen von Fürsorge nicht mehr mit irgendwelchen Schuldgefühlen verbunden.«95 Die zuvor noch offen gebliebene Antidot-Szene für die Bedürfnisse des Klienten kann nun zum Abschluss kommen, der Klient kann nun ohne Widerstand die für ihn eingeführten idealen Eltern annehmen. Der letzte Schritt im Verlauf einer Struktur ist die Integration der gemachten therapeutischen Erfahrungen.

8 Anwendungsbereiche der Pesso-Therapie Die Pesso-Therapie findet sich in unterschiedlichen Anwendungsfeldernwieder.96 Zunächst wurde sie als Einzeltherapie in der Gruppe konzipiert, sie wird aber zunehmend als Einzeltherapie angeboten.

91 92 93 94 95 96

Vgl. Fischer-Bartelmann 2005, S. 300. Fischer-Bartelmann/Roth-Bilz 2004, S. 4. Fischer-Bartelmann/Roth-Bilz 2004, S. 4. Vgl. Fischer-Bartelmann/Roth-Bilz 2004, S. 4. Fischer-Bartelmann/Roth-Bilz 2004, S. 4. DGSF Tagung. Was Pesso-Therapie leistet. Pesso Bulletin, 17/2013, S. 22.

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Indikationen: – »Pesso-Psychotherapie ist für Klienten, die bei sich selber erkennen, dass psychische Beschwerden auch eine körperliche Seite haben, nützlich. Diese Klienten haben bereits selbst erfahren, dass Sprechen alleine keine ausreichende Veränderung bringt, unter anderem wegen der Neigung, Dinge zu rationalisieren oder zu somatisieren. – Beschwerden, die mit dem Unvermögen, Kraft und Aggressionen zu regulieren, zusammenhängen, sowie Angstbeschwerden, depressive Beschwerden, Gefühle von Depersonalisation und Probleme mit Selbstbehauptung sind gute Indikationen. – Durch die deutliche Struktur und die Aufmerksamkeit auf Begrenzung ist Pesso-Psychotherapie indiziert bei Klienten mit Omnipotenz-Proble­men. Wenn acting-out-Verhalten sowie Selbstverletzung oder Suizidversuche nicht im Vordergrund stehen, können Menschen mit narzisstischer und Borderline-Problematik ebenso wie auch mit anderen Persönlichkeitsveränderungen Vorteil aus dieser Methode ziehen.«97 – Psychisch und sexuell traumatisierte Menschen.98

9 Ziele der Pesso-Therapie Nicht das Aufarbeiten schmerzlicher Erfahrungen oder die Verbesserung einer Verhaltensweise ist Ziel der Pesso-Therapie, auch nicht Katharsis oder Trauerarbeit. Laut Albert Pesso ist das Ziel seiner Therapie mehr zu »werden, wer wir wirklich sind«, so der Untertitel seines Buches »Die Bühnen des Bewusstseins«.99 Die Pesso-Therapie möchte ihren Klientinnen helfen, ein neues Gedächtnis zu kreieren, das heißt, neben »die alte Gedächtnisspur, jetzt ein neues Gedächtnis schaffen, wo man genau das gehabt hätte, was man gebraucht hätte. So dass von hier aus auch der Hintergrund geschaffen wird für ein anderes Welterleben und einen anderen Zugang auf die Welt.«100 97 98 99 100

150

Perquin/Rehwinkel 2008, S. 24 f. Vgl. Perquin/Rehwinkel 2008, S. 25. Vgl. Roth-Bilz 2003, S. 7. Roth-Bilz 2003, S. 4.

Waltraud Belser

Die Arbeit in der Pesso-Therapie unterscheidet sich von anderen Psychotherapiemethoden darin, dass sie nicht nur verbale Interaktionen mit der Therapeutin im Hier und Jetzt anbietet, sondern »körperbezogene Erfahrungen, Körperausdruck und körperliche Interaktion in den therapeutischen Prozess« miteinbezieht und dass sich Interaktionen »auch in der ›symbolischen Vergangenheit‹ abspielen«101. Belastende Erfahrungen und Verletzungen sowie Vernachlässigungen in der Lebensgeschichte einer Klientin beeinflussen ihr gegenwärtiges Leben und sie können sie daran hindern, ihre heutigen Erfahrungen und Handlungen frei und positiv zu bewerten bzw. zu gestalten, ihr Leben mit Freude und Befriedigung, Sinn und Verbundenheit mit sich und ihrer sozialen Umwelt zu erleben. Die Defizite aus der Biografie der Klientin, all der Schmerz, die Enttäuschungen, die Entbehrungen bis hin zu Misshandlungen legen sich wie ein Schatten aus der Vergangenheit auf ihr jetziges Leben, füllen dieses mit Schwere und lassen sie auch für die Zukunft solches erwarten. »Der Erwachsene erwartet Schmerz anstelle von Freude, Frustration anstelle von Zufriedenheit, Hoffnungslosigkeit anstatt Sinngebung, Gefühle der Entfremdung sind stärker als die Verbundenheit mit anderen Menschen.«102 Der Lebensfluss, die Gestaltung des Lebens aus der eigenen Lebenskraft, die Freude, der Kontakt zu sich selbst und den eigenen Bedürfnissen geht verloren. Die Pesso-Therapie möchte den Klienten helfen, »neue interaktive Möglichkeiten zu entwerfen. Diese neu entstandenen ›symbolischen Erinnerungen‹, die näher an den genetisch vorprogrammierten Erwartungen liegen, sollen es den Klienten ermöglichen, die negativen Auswirkungen ihrer autobiografischen Erinnerungen auszugleichen.«103 Die eigene Lebensgeschichte wird dabei nicht ausgelöscht, sondern es werden den realen Erinnerungen synthetische Erinnerungen an die Seite gestellt, die »unseren genetisch geprägten Erwartungen besser entsprechen«104. Dadurch gelingt es den Klientinnen mehr »Zufriedenheit, Freude, Sinnerfüllung und Verbundenheit«105 in ihrem Leben zu erfahren. 101 Albert Pesso: Die Bühnen des Bewusstseins. Psychotherapie, 2/9, 2004, 262. https://sbt-inberlin.de/cip-medien/2004-2-09-Pesso.pdf (Zugriff am 30.09.2022). 102 Perquin/Rehwinkel 2008, S. 9. 103 Pesso 2004, 263. 104 Roth-Bilz 2003, S. 7. 105 Roth-Bilz 2003, S. 7.

Die Pesso-Therapie

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Literatur Arbeitsgemeinschaft für Pesso-Therapie: Was ist Pesso-Therapie? O. J. https://pesso-therapie.de/ methode.html (Zugriff am 30.09.2022). Michael Bachg: Microtracking in der Pesso-Therapie. Brückenglied zwischen verbaler und körperorientierter Psychotherapie. Psychotherapie 9, 2/2004, 283–293. DGSF Tagung. Was Pesso-Therapie leistet. Pesso Bulletin, 17/2013, S. 22. Barbara Fischer-Bartelmann: Einführung in die Pesso-Therapie. In: Serge K. D. Sulz/Leonhard Schrenker/Christoph Schricker (Hg.): Die Psychotherapie entdeckt den Körper. Oder: Keine Psychotherapie ohne Körperarbeit? München 2005, S. 277–301. Barbara Fischer-Bartelmann: Beitrag Pesso-Therapie. In: Konferenzmappe Symposion »Gehirn und Körper«. Heidelberg 2008. Barbara Fischer-Bartelmann: Folgenschwere Familiengenerationen. In: Serge K. D Sulz (Hg.): Wer hilft Paaren und Familien aus ihrer Not? München 2009, S. 89–119. Barbara Fischer-Bartelmann/Almuth Roth-Bilz: Holes in Roles. Löcher im Rollengefüge der Familie. Pesso-Bulletin 11/2004, 3–11. Christine Höhne: PBSP. Die Wirksamkeit von »Feeling-Seen« im Erstgespräch. Gießen 2009. Lowijs Perquin/Petra Rehwinkel: Pesso-Psychotherapie  – Eine körperorientierte psychotherapeutische Methode. In: Albert Pesso/Lowijs Perquin: Die Bühnen des Bewusstseins. Oder: Werden, wer wir wirklich sind: PBSP – ein ressourcenorientierter, neurobiologisch fundierter Ansatz der Körper-, Emotions- und Familientherapie. München 2008, S. 3–26. Albert Pesso: Die Bühnen des Bewusstseins. Psychotherapie, 2/9, 2004, 260–266. https://sbt-inberlin.de/cip-medien/2004-2-09-Pesso.pdf (Zugriff am 30.09.2022). Albert Pesso, Werden, wer wir wirklich sind. In: Albert Pesso/Lowijs Perquin: Die Bühnen des Bewusstseins. Oder: Werden, wer wir wirklich sind: PBSP – ein ressourcenorientierter, neurobiologisch fundierter Ansatz der Körper-, Emotions- und Familientherapie. München 2008a, S. 43–60. Albert Pesso: Wie Löcher im Rollengefüge in der Vergangenheit mit den richtigen Leuten aufgefüllt werden können. Ein neuer und überraschender Weg, um die Tür zum Glück in der Gegenwart zu öffnen. In: Albert Pesso/Lowijs Perquin: Die Bühnen des Bewusstseins. Oder: Werden, wer wir wirklich sind: PBSP – ein ressourcenorientierter, neurobiologisch fundierter Ansatz der Körper-, Emotions- und Familientherapie. München 2008b, S. 207–249. Albert Pesso: Gene und Genogramme, Auditorium CD. Mühlheim 2012. Almuth Roth-Bilz: Pessotherapie – Grundlagen und Methode. o. O 2003, S. 5. https://www.ruthdalheimer.de/pdf/Pesso-Therapie_Grundlagen-Methode.pdf (Zugriff am 30.09.2022). Silke Wächter: Pesso-Psychotherapie (PBSP). Eine Evaluationsstudie zur Wirksamkeit. München 2009.

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Sarah Bolz schrieb ihre Masterarbeit über das Zürcher Ressourcen Modell (ZRM) im Umgang mit Identitätsfragen junger chinesischer Einwanderer. Da treffen unterschiedliche »Kulturen« aufeinander! Als Sozialpädagogin beschäftigt sie sich mit christlichen Programmen für junge Erwachsene und für die Studierendenberatung. Dabei hat sie es täglich mit Fragen interkultureller, -personeller und spirituell-­religiöser Art zu tun – also dem »integrativen Stammland«. Dass gerade dort ein so ressourcen- und bedürfnisorientiertes Verfahren wie das ZRM Wurzeln schlagen kann, zeigt ihr Fallbeispiel aus dem Alltag: Eine junge Studentin sehnt sich nach spirituellem und geistlichem Wachstum und »erntet« einen fruchtbaren Ideenkorb.

Geistlich-spirituelle Lebensthemen coachen mithilfe von Elementen des Zürcher Ressourcen Modells Sarah Bolz

1 Die Ausgangssituation Lena, eine junge Frau Anfang 20, kommt zu mir in die Beratung. Sie studiert im zweiten Semester Medizin. Auf ihrem Campus nimmt sie regelmäßig an Treffen christlicher Gruppen teil. Sie versichert mir, wie wichtig ihr ihr Glaubensleben und ihre persönliche Beziehung zu Gott ist. »Ich möchte aber nicht nur mit anderen meinen Glauben leben, sondern auch immer wieder selbst Zeit mit Gott verbringen. Doch das gelingt mir kaum.«, berichtet die Studentin. »Ich weiß einfach nicht, wie ich das auf die Reihe bekommen kann. Das typische Bibellesen morgens nach dem Aufstehen ist so schwierig für mich. Manchmal habe ich keine Lust, dafür früher aufzustehen, weil ich bis in die Nacht zuvor noch gelernt habe. Manchmal schaffe ich es, mich aufzuraffen, nehme aber inhaltlich nichts mit. Das ärgert mich richtig.« Im weiteren Gespräch legt Lena »Regelmäßig mit Gott persönliche Zeit verbringen« als ihr Zielthema fest.

Geistlich-spirituelle Lebensthemen coachen

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2 Die Wissensgrundlage Ich stelle Lena das Grundprinzip des Zürcher Ressourcen Modells vor – die beiden Bewertungssysteme: Verstand und Unbewusstes, dessen »wichtiger Teil […] das Selbst«1 ist. Als Medizinstudentin sind Lena Aspekte der Neurologie bekannt. Wir reden über Selbstregulation, also dem Lustprinzip, bei dem das Unbewusste die Führung übernimmt.2 Lena zieht Parallelen zu ihrem Thema: »Ja, da bleibe ich morgens dann lieber länger im Bett, als Zeit mit Gott zu investieren.« Dann sprechen wir über Selbstkontrolle, dem kurzfristigen Zwang zur vernünftigen Handlung.3 Auch hier findet sich Lena wieder: »Das geht dann eine Zeit lang gut, aber wenn mich das Studium stresst, sind alle guten Vorsätze wieder vergessen.« Die Schwachstellen beider Verhaltensweisen kann Lena gut nachvollziehen. Die Lösung nach dem Zürcher Ressourcen Modell wäre Selbstmanagement, also die Zusammenarbeit beider Systeme. Um Lenas bewussten Vorsatz erfolgreich umzusetzen, werden Verstand und Unbewusstes miteinander in Kommunikation gebracht.4 Zur Exploration des Unbewussten eignet sich die Affektbilanz des Zürcher Ressourcen Modells. Die Affektbilanz hilft, Gefühle wahrzunehmen.5 Negative Gefühle, die als Alarmsignale dienen können, sowie positive Gefühle, die als Hinweis dienen können, was gut für einen selbst ist.6 Mit der Affektbilanz lassen sich zudem auch gemischte Gefühle gut darstellen.7

3 Die Anwendung Nach der Erklärung des Tools der Affektbilanz zeichne ich eine Affektbilanzabbildung an das große Whiteboard im Beratungsraum. Gemeinsam mit Lena gehe ich die unterschiedlichen Gefühlszustände auf den beiden Skalen (positiv, negativ und gemischt) durch.8 Wir sammeln Beispiele für die einzelnen 1 Julia Weber/Daniel Berthold: Am Lebensende zu sich selbst finden. Methoden zur Stärkung des Selbstzugangs von Schwerstkranken, Angehörigen und Begleitern. Bern 2020, S. 24 ff. 2 Vgl. Johannes Storch/Dieter Olbrich/Maja Storch: Burn-out, ade. Wie ein Strudelwurm den Weg aus der Stressfalle zeigt. Bern 2018, S. 18 ff. 3 Vgl. Storch/Olbrich/Storch 2018, S. 18 ff. 4 Vgl. Johannes Storch/Corinne Morgenegg/Maja Storch/Julius Kuhl: Ich blicks. Verstehe dich und handle gezielt. Bern 2016, S. 88 ff. 5 Vgl. Maja Storch/Julius Kuhl: Die Kraft aus dem Selbst. Sieben PsychoGyms für das Unbewusste. Bern 2012, S. 126 ff. 6 Vgl. Maja Storch: Das Geheimnis kluger Entscheidungen. Von Bauchgefühl und Körpersignalen. Zürich 2013, S. 62 ff. 7 Vgl. Storch 2013, S. 62 ff. 8 Vgl. Storch/Morgenegg/Storch/Kuhl 2016, S. 90 ff.

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Affekte und Lena nennt konkrete Situationen aus ihrem Leben. Nun bitte ich Lena, sich auf ihr Zielthema zu fokussieren und ihr »Zeit mit Gott verbringen«Thema auf der Skala der Affektbilanz einzuzeichnen. »Ich ordne das eher als gemischte Gefühlslage ein«, sagt die junge Frau. »Ich mag das total, deshalb ein hoher Ausschlag auf der Plus-Skala, aber manchmal ist es so ein Krampf, deshalb auch die negative Bewertung.« Im weiteren Gespräch bitte ich Lena, zu beschreiben, welche Aspekte die Bewertung auf der negativen Skala ausmachen. Sie nennt unterschiedliche Faktoren, die sie wie folgt zusammenfasst: »Eigentlich geht es darum, dass ich noch kein richtiges Format für mich gefunden habe. Also eine Art, die mir so richtig gefällt, um Zeit mit Gott zu verbringen. Ich bin da aber auch zu unkreativ!« Um Lenas Kreativität anzuregen, stelle ich ihr die Brainstorming-Methode des Zürcher Ressourcen Modells vor: den Ideenkorb.9 Er eignet sich besonders gut die Ideen von Fremdgehirnen anzuzapfen.10 Ich frage Lena nach Menschen in ihrem Umfeld, die sie zu deren »Zeit mit Gott« befragen kann, um sich kurze, knackige Ideen dazu in ihren imaginären Ideenkorb werfen zu lassen. Die Studentin denkt kurz nach: »Ja, da fallen mir schon ein paar Leute ein.« Nach kurzer Zeit nennt sie über 10 Personen. Wir vereinbaren, dass sie bis zur nächsten Beratungseinheit Ideen nach der IdeenkorbTechnik sammelt. Zwei Wochen später betritt Lena mit einem fröhlichen Lächeln auf dem Gesicht mein Beratungszimmer. »Ich habe es zeitlich leider nicht geschafft, alle Personen auf meiner Liste zu befragen, doch mein Ideenkorb hat sich auch mit weniger Personen gut gefüllt«, erzählt sie. Ich bitte Lena, die Ideen, die sie gesammelt hat, vorzulesen. Schon beim Lesen der einzelnen Ideen verändern sich jeweils Lenas Mimik und Stimmlage. Wie im Gespräch zuvor zeichne ich eine Skala der Affektbilanz an das Whiteboard. Diesmal bitte ich Lena für jede Idee aus dem Ideenkorb eine Affektbilanz zu erstellen. Relativ schnell bekommt Lena dadurch einen Überblick, welche Ideen bei ihr welche Gefühle hervorrufen. Ich stelle ihr unterschiedliche Fragen und biete ihr Verbalisierungsmöglichkeiten für die einzelnen Gefühle an. Dadurch ist es Lena mehr und mehr möglich, ihre unterschiedlichen Gefühle zu benennen. Dann möchte ich von ihr wissen, welche Idee den größten positiven und niedrigsten negativen Affekt auslöst. »Komisch«, sagt die junge Frau verwundert, »das hätte ich nicht gedacht, aber es ist die Idee mit ›dem Spaziergang mit Gott‹.« Im weiteren Gespräch reden wir über diese Idee und anhand von weiteren Ideen, die Lena mit einem hohen 9 Vgl. Weber/Berthold 2020, S. 90. 10 Vgl. Maja Storch: Machen Sie doch, was Sie wollen! Wie ein Strudelwurm den Weg zu Zufriedenheit und Freiheit zeigt. 2. Aufl. Bern 2016, S. 61 ff.

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positiven Affekt bewertet, gestaltet sich Lena eine eigene Vorstellung, wie eine »richtig gute Zeit mit Gott« für sie aussehen kann. Ihr Zielergebnis am Ende des Beratungsgesprächs ist: »Ich mache eine Gebetszeit joggend bei Sonnenuntergang in meinem Lieblingspark.«

Literatur Johannes Storch/Corinne Morgenegg/Maja Storch/Julius Kuhl: Ich blicks. Verstehe dich und handle gezielt. Bern 2016. Johannes Storch/Dieter Olbrich/Maja Storch: Burn-out, ade. Wie ein Strudelwurm den Weg aus der Stressfalle zeigt. Bern 2018. Maja Storch: Das Geheimnis kluger Entscheidungen. Von Bauchgefühl und Körpersignalen. Zürich 2013. Maja Storch: Machen Sie doch, was Sie wollen! Wie ein Strudelwurm den Weg zu Zufriedenheit und Freiheit zeigt. 2. Aufl. Bern 2016. Maja Storch/Julius Kuhl: Die Kraft aus dem Selbst. Sieben PsychoGyms für das Unbewusste. Bern 2012. Julia Weber/Daniel Berthold: Am Lebensende zu sich selbst finden. Methoden zur Stärkung des Selbstzugangs von Schwerstkranken, Angehörigen und Begleitern. Bern 2020.

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»Ganzheitlichkeit« ist in. Menschen suchen vermehrt ganzheitliche Medizin, Beratung, Bildung, Ernährung … Was mit diesem Begriff gemeint ist, bleibt aber häufig offen. Für manche ist bereits ausreichend, eine Aromakerze im Wartezimmer zu haben. Für Matthias Samlow, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, reicht das nicht aus. Er schlägt vor, dass wir den Zusammenhang von medizinisch-biologischen, psychisch-sozialen und psychosomatisch-spirituellen Aspekten verstehen und weiter erforschen müssen, um wirklich ganzheitlich zu denken, wahrzunehmen und zu beraten.

Pneumatopsychosomatik Matthias Samlow

Die Begründung eines Lehrstuhles für Pneumatopsychosomatik innerhalb der Medizin steht noch aus. Während die Psychosomatik seit 1950 in Deutschland gut etabliert ist und mit ihr das entsprechende Forschungsgebiet Psychophysiologie, findet die Einbeziehung des Geistlichen in diese Fächer gerade erst, aber immerhin schon in Ansätzen statt. Gelehrt werden pneumatopsychosomatische Inhalte unterdessen bereits in verschiedenen Institutionen1, so auch im Masterstudiengang, den die Herausgeberin und der Herausgeber dieses Buches leiten und in dem manche Dozentinnen und Dozenten als Autorinnen und Autoren vertreten sind: Theologen, Psychologinnen und ich als Mediziner. Während meines Promotionsstudiums habe ich mit großem Interesse Kurse in der Philosophie belegt und mich immer schon mit großem Gewinn theologischen Studien an biblischen Texten gewidmet. Dort habe ich eine für die Psychotherapie hochgeeignete Anthropologie entdeckt. Diese möchte ich im Folgenden in kurzen Zügen darlegen. Vor allem aber geht es um die Begründung und Darstellung biologischer und medizinischer Aspekte, die für eine integrative psychologische Beratung hilfreich sind.

1

Workshop »Spirituelle Kompetenz in Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik« an der Akademie für Psychotherapie Pforzheim: https://afpp.de/fortbildung/workshop-spirituellekompetenz-psychiatrie-psychotherapie-und-psychosomatik (Zugriff am 10.10.2022); Akademie für Psychotherapie und Seelsorge – APS, Frankenberg: https://www.akademieps.de/start. html (Zugriff am 10.10.2022).

Pneumatopsychosomatik

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1 Anthropologie Die zugrunde liegende Anthropologie entnehme ich einer an biblischen Texten orientierten Theologie. Die Genesis berichtet, dass der Schöpfer einer aus Materie modellierten Figur seinen Atem einblies. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen.« (Gen 2,7) Die Septuaginta übersetzt nefesch zwar mit »Psyche« und viele deutsche Übersetzungen mit »Seele«. Es gibt jedoch kein hebräisches Wort, mit dem das Wort »Psyche« in seiner griechisch-abendländischen Semantik wiedergegeben werden könnte. Verfolgt man das hier eingesetzte Wort nefesch durch die über 700 Vorkommen im Alten Testament, zeigt sich ein vielfältiges Bedeutungsfeld: Es bezeichnet sehr körpernahe Phänomene wie Durst, Kehle, Atem; weiterhin psychische Phänomene wie Betrübnis und geistliche Phänomene – die nefesch kann auf Gott harren (Ps 42,6.12). Die über Jahrtausende bis in die Gegenwart reichende anthropologische Dreiteilung in Körper – Seele – Geist kennt das hebräische Denken und somit die hebräische Sprache nicht. Zumindest zu seinen Lebzeiten wird der Mensch als einheitliches Wesen aufgefasst. Zwar kennen wir widerstrebende Tendenzen in uns – »Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach« (Mt 26,41) –, daraus jedoch mehrere unabhängige Entitäten abzuleiten, entspricht ebenso wenig dem hier geschilderten Sprachgebrauch noch unserem Kohärenzgefühl bezüglich der eigenen Person. Aus der Sicht der griechischabendländischen Anthropologie mögen wir das Körperliche, Seelische und Geistliche als Facetten dieser Einheit betrachten. Damit ist einem physikalischen Reduktionismus jedoch nicht das Wort geredet. Einem solchen, wie ihn etwa Eric Kandel in seinem zentralen Werk »Neurowissenschaften« oder Niels Birbaumer und Robert F. Schmidt in deren Lehrbuch »Biologische Psychologie« vertritt, kann ich mich nicht anschließen.2 Wenn ich die Katze nicht im Sack finde, ist damit nicht gezeigt, dass sie nicht existiert. Dieser Reduktionismus beruht nach meiner Beobachtung auf der vorwissenschaftlichen Grundannahme, dass eine auf die Materie wirkende nicht physikalische Welt, eben eine Metaphysik nicht existiere. Der Tübinger Philosoph Johannes Brachtendorf trägt in seiner Vorlesungsreihe über das Leib-Seele-Problem eine Fülle von Hinweisen auf die grundsätzliche Unterscheidbarkeit des Physischen vom Mentalen vor.3 Eine Auswahl sei hier genannt: 2 3

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Eric R. Kandel/James H. Schwartz/Thonas M. Jessell (Hg.): Neurowissenschaften. Eine Einführung. Heidelberg 1995, S. 6; Niels Birbaumer/Robert F. Schmidt: Biologische Psychologie. 7. Aufl. Heidelberg 2010, S. 7. Johannes Brachtendorf: Vorlesung Phil. Anthropologie – Leib und Seele, 3. Stunde. Tübingen, 26.04.2016. https://timms.uni-tuebingen.de/tp/UT_20160426_001_philanth_0001 (Zugriff am 20.10.2022).

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Das folgende Beispiel stammt vom Philosophen Frank Jackson.4 Stellen wir uns eine Wissenschaftlerin vor – Jackson nennt sie Mary –, die buchstäblich alles lernt und schließlich weiß, auch über die Neurophysiologie, selbst aber in einer lediglich schwarz-weißen Welt aufgewachsen ist. So weiß Mary insbesondere alles über die physikalischen Vorgänge in der Optik: Welche Wellenlängen die Farben jeweils haben, wie sich Photonen im Raum ausbreiten und wie sie elektrophysiologische Veränderungen an der Netzhaut bewirken, die in bestimmte Muster von Aktionspotenzialen umgesetzt werden, die wiederum über Sehnerv und Sehbahn an das Gehirn im Hinterhaupt weitergeleitet wird, dort dekodiert werden und so weiter und so fort. In ihrer schwarz-weißen Welt hat Mary selbst jedoch nie Farben gesehen. Sie hat also nie die Erfahrung gemacht, wie es ist, rot, grün und gelb zu sehen. Sie weiß alles aus der Außenperspektive, der Dritten-Person-Perspektive (Er, Sie, Es), das Farbensehen jedoch nicht aus der eigenen, der Ersten-Person-Perspektive (Ich). Schon hier kann man fragen, ist das eine Diskrepanz? Oder ist beides das Gleiche? Mary wird schließlich aus dem Schwarz-Weiß-Raum herausgeführt und kann auf einmal Farben wie Rot wahrnehmen. Weiß Mary nun mehr, als sie vorher wusste? Sie hat eine von Brachtendorf sogenannte mentale, wenn man so will, seelische Erfahrung gemacht, die über das rein physikalische/physiologische Wissen hinausgeht. Wir können zwar die neurophysiologischen Erregungsmuster, die mit der Rot-Empfindung oder der des Vanillegeschmacks korrelieren, erforschen. Wieso dieses jedoch mit der spezifischen Empfindung von Vanille korreliert, bleibt geheimnisvoll. Hier klafft eine »explanatorische Lücke« (explanatory gap).5 So beschreibt auch Thomas Nagel, dass ein theoretisch absolutes Wissen über die Fledermaus noch nicht das Lebensgefühl einer Fledermaus vermittelt.6 Aussagen in der Perspektive der dritten Person (Er, Sie, Es) über physische Vorgänge sind grundsätzlich diskutierbar. Der Aussage in der Ersten-PersonPerspektive »Ich habe keine Schmerzen« kann jedoch nicht widersprochen werden, auch wenn der Röntgenologe anhand des Bildes einer massiv deformierten Wirbelsäule wie selbstverständlich von einer notwendigen Schmerztherapie ausgehen mag. Die Aussage der Patientin erstaunt den Arzt. Ein Vorgang, der in Praxen und Kliniken häufig vorkommt. 4 Frank Jackson: What Mary Didn’t Know. The Journal of Philosophy, 83, 5/1986, 291–295. http://www.jstor.org/stable/2026143 (Zugriff am 10.10.2022). 5 Zu Joseph Levine, Die explanatorische Lücke. In Thomas Metzinger (Hg.): Grundkurs Philosophie des Geistes. Bd. 1: Phänomenales Bewusstsein. Paderborn 2009, S. 101–116. 6 Thomas Nagel: What Is It Like to Be a Bat?/Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? Eng-lisch/ Deutsch. Übers. und hrsg. von Ulrich Diehl. Stuttgart 2016.

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Was aber ist das Mentale, das über das Physische hinausgeht und von vielen weiterhin »Seele« genannt wird? Dies hat zudem die Facette des Geistlichen, des Pneumatischen. Wir sind in der Lage, Ewigkeit zu denken sowie eine nicht materiale, metaphysische Welt – ganz unabhängig davon, ob wir sie als existent annehmen oder nicht. Menschen sind in der Lage, Gott zu denken, zu beten, in der Gewissheit, mit diesem in Beziehung zu sein. Theologisch gefragt: Was ist es, das Jesus bei seinem Sterben in die Hände seines Vaters befahl (Lk 23,46)? Im griechischen Grundtext steht hier das Wort pneuma – Geist. Die vielfach berichteten Nahtoderfahrungen in diesem Zusammenhang zu ignorieren, fällt schwer. Diese werden wissenschaftlich weiterhin intensiv untersucht und sowohl in der Popular- als auch in der wissenschaftlichen Literatur heftig diskutiert. Laut einer Untersuchung in Ost- und Westdeutschland aus dem Jahr 1999 haben 4 bis 5 Prozent der Gesamtbevölkerung eine solche Erfahrung gemacht, in einer Untersuchung von 2001 waren es 18 Prozent aus einer Gruppe von 344 erfolgreich reanimierter Personen nach Herzstillstand.7 Diese Menschen berichten sehr bewegt und mit einem hohen Grad an Gewissheit über den Realitätsgehalt ihrer Erlebnisse, die nicht dem in den Humanwissenschaften vorherrschenden deterministischen Naturalismus entsprechen. Außerkörperliche Erfahrungen, in denen die Betroffene aus der Vogelperspektive Dinge wahrnimmt, die aus der Perspektive eines im Bett liegenden, unter Reanimation stehenden Menschen schlicht nicht wahrgenommen werden können, erinnern viele eher an Spuk als an reale Erfahrung. In der wissenschaftlichen Literatur sind bisher wenige solcher verifizierten Erlebnisse beschrieben8, retrospektive Einzelberichte gibt es viele. Betroffene tauchen in eine Atmosphäre voller Licht und Liebe ein, begegnen zugewandten, wohlmeinenden Gestalten und verstorbenen Verwandten. Dies verändert das Leben der Nahtoderfahrenen nachhaltig: Sie sind zu einer größeren Ausgeglichenheit und innerem Frieden gelangt, haben mehr Distanz zu materiellen Dingen gewonnen, die Angst vor dem Tod verloren und die Gewissheit über ein positives Leben nach dem Tod gewonnen. Den Betroffenen dieses intensiven Erlebens sind die naturalistischen Erklärungsversuche fremd. Lebensfern und artifiziell kommt ihnen die Deutung vor, 7 Ina Schmied-Knittel/Hubert Knoblauch/Bernt Schnettler: Todesnäheerfahrungen in Ost- und Westdeutschland. In: Hubert Knoblauch/Hans-Georg Soeffner (Hg.): Todesnähe. Interdisziplinäre Zugänge zu einem außergewöhnlichen Phänomen. Konstanz 1999, S. 217–250; vgl. Pim van Lommel/Ruud van Wees/Vincent Meyers/Ingrid Elfferich: Near-death experience in survivors of cardiac arrest: a prospective study in the Netherlands. Lancet, 358/2001, 2039–2045. 8 Vgl. van Lommel 2001; Sam Parnia et.al.: AWARE – AWAreness during REsuscitation. A prospective study. Resuscitation, 12/85, 2014, 1799–1805.

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dass ihr Erleben ausschließlich das Ergebnis sich auflösender neuronaler Strukturen sei. Die Erklärung, es seien Halluzinationen, hervorgerufen durch aus Neuronen austretende Neurotransmitter und Enzyme, werten sie als abwertenden Vorwurf, zumal die Betroffenen meist keine psychische Erkrankung aufweisen. Folgt man der Ich-Perspektive dieser Menschen, so bleibt es eine zwar außergewöhnliche, dennoch reale Erfahrung.9 Es gibt auch unangenehme Erlebnisse wie die Erinnerung einer vergangenen Lebenssituation, in der die Person anderen Schaden zugefügt hat. Interessanterweise wurde diese im Perspektivenwechsel erlebt. Die Betroffene erlebte sich als Geschädigte und konnte so nachempfinden, was sie anderen angetan hat.10 Dies erinnert an das biblische Prinzip, dass der Mensch ernten wird, was er gesät hat (vgl. Gal 6,7). Weiterhin werden auch angsterfüllte Szenen berichtet wie die Begegnung mit schrecklichen Tieren. Diese können zu einer posttraumatischen Belastungsstörung nach Nahtoderfahrungen führen.11 Die großen Fragen der jahrhundertealten Monismus-Dualismus-Debatte können die Erkenntnisse aus den Nahtoderfahrungen nicht lösen, jedenfalls nicht mit der klassischen naturwissenschaftlichen Exaktheit, die wir gewohnt sind. Sofern es hier um metaphysische Vorgänge geht, ist es grundsätzlich nicht möglich, diese mit naturwissenschaftlichen, also physischen Begriffen zu beschreiben. Die Frage wird im Fall der Nahtoderfahrung jedoch sehr konkret: Gibt es etwas, was sich hier vom Körper ablöst? Die Betreffenden erleben das. Werden sie gefragt, was es ist, fehlen oft die Worte. Etwas, das zu Lebzeiten so eng mit dem Körper in Interaktion steht, dass es schwer möglich ist, es als getrennt vom Körper zu erleben. Es bleibt geheimnisvoll! Hier empfehle ich mit der Unschärfe zu leben, mit der auch Physiker ihren Studierenden raten, die Quantenphysik nicht verstehen zu wollen, sondern sich daran zu gewöhnen. Insbesondere in der Teilchenphysik scheint man sich an die Widersprüchlichkeiten und Unschärfen gewöhnt zu haben. Glücklicherweise ist Beratung und Therapie sehr gut möglich, ohne diese bedeutsamen Fragen exakt beantwortet zu haben. Die hier dargestellte Sichtweise einer differenzierten Philosophie des Geistes lässt viele Fragen offen. Ich stelle hier Erkenntnisse über Zusammenhänge dar, die den Praktikerinnen in den angewandten Wissenschaften plausibel 9 An der Schwelle zum Jenseits. Nahtod-Erlebnisse aus der Sicht von Wissenschaftlern und Betroffenen. Regie: Rainer Fromm/Simone Kienast. Deutschland: Matthias-Film, 2009. 10 An der Schwelle zum Jenseits 2009, Minute 22:30. 11 Yongmei Hou/Qin Huang/Ravi Prakash/Suprakash Chaudhury: Infrequent near death experiences in severe brain injury survivors. A quantitative and qualitative study. Ann Indian Acad Neurol, 16/1, 2013, 75–81.

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erscheinen: Grundannahmen über das Wesen der Welt mit unsichtbaren, nicht materiellen Wirklichkeiten. Was weiterhilft, ist die Empirie. Im Folgenden sollen drei Befunde zu Wechselwirkungen und Verschränkungen des Somatischen, Psychischen und Pneumatischen dargelegt werden: Ȥ die Psychophysiologie der Muskulatur Ȥ der Zusammenhang von Religiosität/Spiritualität und Mortalität Ȥ Erkenntnisse aus der Psychoneuroimmunologie

2 Psychophysiologie der Muskulatur Edmund Jacobson, der Begründer der progressiven Muskelentspannung, kommt in einer zusammenfassenden Schau seiner muskelphysiologischen Ergebnisse zu der Aussage, dass die Menschen mit ihren Muskeln denken. Elektromyografische (EMG; gr. myos = der Muskel) Untersuchungen legen dies in der Tat nahe. Legt man eine EMG-Elektrode beispielsweise dem Musculus bizeps am vorderen Oberarm auf, kann man dessen muskuläre Spannung messen, dies auch im Bereich der muskulären Vorspannung, also bevor eine Bewegung sichtbar ist. Bestückt man nun die Hauptgruppen der Muskulatur seitengleich symmetrisch mit Elektroden, so kann man Bewegungsabläufe virtuell abbilden. Vollzieht die Versuchsperson Schwimmbewegungen, zeigen sich in der Muskulatur von Armen und Beinen jeweils seiten- (links/rechts) und zeitgleiche Kontraktionen, während Arme und Beine (oben und unten) zeitversetzt kontrahieren. Dies entspricht dem Kontraktionsmuster beim Brustschwimmen. Wir vollziehen erst den Schwimmzug mit den Armen, danach mit den Beinen. Jacobson hat nun die interessante Beobachtung gemacht, dass dies auch messbar ist, wenn die Versuchsperson einen Bewegungsablauf lediglich imaginiert. Die Person stellt sich vor, sie würde brustschwimmen. Im EMG sind die gleichen Kontraktionsmuster beobachtbar, allerdings im Bereich der muskulären Vorspannung mit niedriger Amplitude. Man sieht keine Bewegung. Die Versuchsperson liegt entspannt im psychophysiologischen Labor. In der Psychophysiologie ist dieser Vorgang soweit ausgearbeitet, dass im EMG Bewegungsabläufe erkannt werden können: kraulen, Fahrrad fahren, schreiben, ein bestimmtes Musikinstrument spielen. Teilt man der Versuchsperson deren Imagination mit, könnte sie meinen, die Untersuchenden könnten Gedanken lesen. Die physiologischen Vorgänge können jedoch schnell plausibel gemacht werden: Die im motorischen System des Gehirns durch Übung einprogrammierten Muster werden durch die reine Vorstellungskraft aktiviert. Die entsprechenden 162

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Erregungsmuster verbleiben nicht lediglich im Bereich des zentralen Nervensystems, sondern finden ihren Weg in abgeschwächter Form durch die motorischen Bahnen zu den entsprechenden Muskelgruppen, die sich mit leichten Kontraktionen voranspannen. Diese sind im EMG messbar. Auf diese Weise können Muskelgruppen durch mentales Training aktiviert werden. Ein Vorgang, den sich Sportlerinnen, Musiker und Einrichtungen der medizinischen Rehabilitation zunutze machen. Die Muskulatur denkt zumindest mit. Weiterhin scheinen Kognition und Emotion die Muskulatur zur Feinabstimmung zu nutzen. Dies zeigen Untersuchungen mit Botulinumtoxin, das in der Kosmetik eingesetzt wird.12 Das Toxin der Botulinus-Bazillen wirkt bereits in geringsten Mengen lebensgefährlich blockierend am neuromuskulären Übergang. Pharmazeutische Verdünnungen setzen den Tonus der Muskeln herab, in die es injiziert wird. Eingebracht in bestimmte Muskeln der Gesichtsmuskulatur glättet es Hautfalten. Personen, die sich aus kosmetischen Gründen diesen Injektionen unterzogen, wurden zuvor und danach auf ihre Empathiefähigkeit untersucht. Nach der Injektion konnten die gleichen Versuchspersonen die Emotionen ihnen vorgelegter Gesichtsausdrücke deutlich weniger genau identifizieren. Sie waren weniger empa­thiefähig. Wenn wir emotionale Ausdrücke von Menschen wahrnehmen, löst dies entsprechende Empfindungen in geringerer Intensität in uns aus. Diesen Empfindungen entsprechen biologische Veränderungen in unserem Körper: Blutdruck, Puls, Atemfrequenz, Hautfeuchte. Dazu gehören auch bestimmte Kontraktionsmuster unserer mimischen Muskulatur. Dem Gesichtsausdruck eines glücklichen Menschen entspricht ein bestimmtes Kontraktionsmuster der Gesichtsmuskulatur. Dieses Kontraktionsmuster entsteht auch in der Gesichtsmuskulatur des Beobachters – überwiegend im Bereich der muskulären Vorspannung. Über die Spannungsrezeptoren der Muskulatur wird dies an das zentrale Nervensystem in einer Feedbackschleife zurückgemeldet. Dies trägt zur Feinabstimmung der Empathie bei. Wird diese Feedbackschleife durch eine neuromuskuläre Blockade unterbrochen, ist die Empathie eingeschränkt. Selbst das Lesen emotionaler Texte verändert sich

12 David T. Neal/Tanya L. Chartrand: Embodied Emotion Perception. Amplifying and Dampening Facial Feedback Modulates Emotion Perception Accuracy. Social Psychological and Personality Science. 2/6, 2011, 673–678; Jenny C. Baumeister/Giovanni Papa/Francesco Foroni: Deeper than skin deep. The effect of botulinum toxin-A on emotion processing. Toxicon, 118, 2016, 86–90.

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unter Einfluss von Botulinum­toxin.13 Diese Vorgänge beziehen sich wahrscheinlich nicht nur auf das Gesicht, sondern auch auf weitere Körperregionen. Wir fühlen also auch mit der Muskulatur. Schauspielerinnen machen sich diese Vorgänge zunutze, indem sie vor dem Spiegel emotionale Gesichtsausdrücke und Körperhaltungen einüben. Sie tragen so zu einer intensiveren Identifizierung mit ihrer Rolle bei. Wenn wir Menschen beobachten, die Szenen betrachten (Sport, Theater, Film), kommt gelegentlich der Eindruck auf, dass manche mitspielen, indem sie Bewegungen und mimische Ausdrücke nachvollziehen. Dies trägt sicher zu einer lebendigeren kognitiven und emotionalen Beteiligung bei. In der Beratung können wir bei der Begleitung selbstunsicherer Ratsuchender, etwa im Rollenspiel, zu selbstsicherer Körperhaltung und Mimik anleiten. Dies fördert die entsprechende Emotionalität und erleichtert die kognitive Bearbeitung dysfunktionaler Gedanken. Die Psychophysiologie der Muskulatur zeigt sehr deutlich, wie verschränkt das Psychische und das Somatische wirkt. Gleichzeitig lassen sich hieraus beraterische Interventionen ableiten.

3 Pneumatophysiologie Die oben angesprochene Fähigkeit des Menschen (nefesch), das Metaphysische, die Ewigkeit, Gott zu denken und in sein inneres Erleben zu integrieren, wird in der Religiosität gepflegt. Die Zusammenhänge von Spiritualität/Religiosität und seelische und körperliche Gesundheit zu erforschen, ist in Westeuropa ungewohnt. Wir haben eine diffuse Vorstellung davon, dass Religiosität irgendwie die Bewältigungsfähigkeit von Leben beeinflussen kann. Sie wurde in der Folge des Materialismus nach der Aufklärung häufig als negativer Faktor aufgefasst: Religion sei Opium fürs Volk (Marx), die rigide körper- und lustfeindliche Lehre mancher Kirchen mache unfrei und neurotisch. Weiterhin wird vielen Wissenschaftlern unwohl durch die Annahme, nicht fassbare Wirkfaktoren sollten Einfluss haben auf die Materie. So wurde den Wissenschaften die Religiosität zunehmend fremd und sie zunehmend ausgegrenzt. In asiatischen Ländern wie auch in Nordamerika besteht eine geringere Scheu, diese Zusammenhänge wissenschaftlich zu untersuchen. 13 David A. Havas/Arthur M. Glenberg/Karol A. Gutowski/Mark J. Lucarelli/Richard J. Davidson: Cosmetic use of botulinum toxin-A affects processing of emotional language. Psychological Science, 7/21, 2010, 895–900.

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Die epidemiologisch fundierteste und ausführlichste Untersuchung zu diesem Thema stammt unter anderem von dem japanischen Forscher Yoichi Chida und der renommierten, amerikanischen Gesundheitsepidemiologin Lynda Powell aus dem Jahre 2009.14 Die Metaanalyse publizierter Daten schließt 91 aus etwa 240 von 1872 bis 2008 zur Verfügung stehenden Untersuchungen ein. Die Ein- bzw. Ausschlusskriterien orientierten sich an den strengen MOOSEKriterien, die auch in Deutschland eingeführt sind.15 Wesentliches Einschlusskriterium war die Kontrollierbarkeit weiterer Varia­blen, die die Lebenserwartung beeinflussen können, wie zum Beispiel die in Gemeinschaften übliche soziale Unterstützung und die Förderung eines gesunden Lebensstiles. Insgesamt wurden in diesen Studien mehrere 10.000 Menschen untersucht in Follow-up-Zeiträumen von einem halben bis 23 Jahren. Religiosität wird weltweit komplex und vielfältig gelebt. Chida und Powell haben daher die relativ einfache unabhängige Variable »religious activity« gewählt: »Mindestens einmal die Woche Gottesdienst, Tempel-, SynagogenBesuch, Gebet u. Ä.« vs. »keine religiöse Aktivität«. Als abhängige Variable wurde schlicht die Mortalität in den jeweiligen Untersuchungsgruppen über dem Follow-up-Zeitraum festgelegt. In den religiösen Gruppen fand sich eine um 25 Prozent niedrigere Mortalität. Das bedeutet vereinfacht, dass in einer religiösen Gruppe von 100 Studienteilnehmerinnen und Studienteilnehmern bei Studienende noch alle Personen am Leben waren, in einer nicht-religiösen Gruppe noch 75. Nicht unterschieden wurde in der Studie die Art und Weise der Religiosität, z. B. ob diese positiv erlebt wurde, ob sie einer intrinsischen Motivation folgte oder eher der Tradition der jeweiligen sozialen Umgebung. Diese Variablen zeigen einen noch intensiveren Effekt auf die Gesundheits- und Lebenserwartung. Dennoch ergibt sich dieser Zusammenhang zwischen religiöser Aktivität und Lebenserwartung. Linda Powell äußert sich erstaunt über diesen hohen Zusammenhang, mit dem sie nicht gerechnet hatte.16 Psychophysiologische Hypothesen bietet die sie nicht an. Das Ergebnis regt zum Nachdenken 14 Yoichi Chida/Andrew Steptoe/Lynda H. Powell: Religiosity/Spirituality and Mortality. A systematic quantitative review. Psychother Psychosom, 2/78, 2009, 81–90. 15 Vgl. Donna F. Stroup/Jesse A. Berlin/Sally C. Morton/Ingram Olkin/David Williamson/ Drummond Rennie/David Moher/Betsy J. Becker/Theresa Ann Sipe/Stephen B. Thacker: Meta-analysis of Observational Studies in Epidemiology. A Proposal for Reporting. Fort he Meta-analysis Of Observational Studies in Epidemiology (MOOSE) Group. JAMA, 15/283, 2000, 2008–2012; Meike Ressing/Maria Blettner/Stefanie J. Klug: Systematische Übersichtsarbeiten und Metaanalysen. Teil 6 der Serie zur Bewertung wissenschaftlicher Publikationen. Deutsches Ärzteblatt, 27/106, 2009, 456–463. 16 Zur persönlichen Stellungnahme Powells siehe Claudia Kalb: Faith & Healing. Newsweek, 03.10.2011. http://www.newsweek.com/faith-healing-133365 (Zugriff am 13.10.2022).

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an: Auf welche Weise könnte eine »geistliche« Aktivität das harte somatische Kriterium Lebenserwartung beeinflussen? Ergebnisse aus der Psychoneuroimmunologie könnten hier weiterhelfen. Eine lebendige Forschungsaktivität zu diesen Fragestellungen hält jedenfalls bis in die jüngste Zeit an. Für die Beratung bedeutet dies, dass eine Religiosität/Spiritualität zur Bewältigung unterschiedlichster Herausforderungen akzeptiert, wenigstens aber nicht abgelehnt werden sollte. Besteht bei der Klientin Offenheit oder bereits eine gelebte Religiosität, kann diese exploriert und gegebenenfalls dazu ermuntert werden, diese auch zur Bewältigung des anstehenden Problems auszubauen. Teilt der Berater die Religiosität der Klientin, können die entsprechenden Ressourcen sehr effektiv nutzbar gemacht werden. Haben beide etwa Zugang zu biblischen Texten im Rahmen einer christlichen Religiosität, können diese sehr hilfreich zur Erarbeitung von Lösungswegen herangezogen werden.

4 Psychoneuroimmunologie Das seit 1975 bestehende Fachgebiet der Psychoneuroimmunologie (PNI) hat für die Beratung äußerst hilfreiche Erkenntnisse gewonnen. Eine der vielen lehrreichen Ergebnisse präsentiert die britische Forscherin Kaviter Vedhara.17 Menschen, die ihre demenzkranken Angehörigen pflegen, weisen ein deutlich erhöhtes Stressniveau auf. Die von der Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse gesteuerte erhöhte Cortisolausschüttung führt zu einer Reduktion der immunologischen Aktivität, die auch die Wundheilung beeinträchtigt. Vedhara konnte nachweisen, dass die »cargiver« deutlich weniger effektiv auf Impfungen ansprechen als die entspannten Kontrollgruppen. Unterziehen sich die pflegenden Personen einer Stressmanagementschulung (Entspannungsverfahren, kognitive Kontrolle selbstentwertender Kognitionen und Insuffizienzgefühle, besseres Management der Pflegezeiten mit Einbeziehung von Kooperationen und Einhalten von Erholungszeiten), so spricht sogar ein höherer Prozentsatz auf Impfungen an als in den Kontrollgruppen. Weiterhin verbessern sich die Heilungszeiten von Wunden deutlich nach einer Stressmanagementschulung. Der Einfluss psychischer Faktoren auf das Immunsystem war in den 1970er-­ Jahren noch erstaunlich. Heute kennt man die physiologischen Wirkungsmecha­ nismen: An Kapillaren gibt es direkte Verbindungen von Ner­venendi­gung­en 17 Kavita Vedhara: Mind-body Connections. Psychoneuroimmunology (PNI). Vortrag auf der 21. HPH-Konferenz. Göteborg, 22.–24.05.05.2013. https://www.youtube.com/watch?v=wwpZUGBDgeQ (Zugriff am 13.10 2022).

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des autonomen Nervensystems zu immunkompetenten Zellen (Lymphozyten). Nervenendigungen nehmen direkten Kontakt mit vorbeifließenden Lymphozyten auf.18 In seinem bahnbrechenden Buch »Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit« hat Aaron Antonowski die Bedeutung des Kohärenzgefühls für die Salutogenese (die Wirkfaktoren zur Entstehung von Gesundheit) dargelegt.19 Religiöse Überzeugungen vermitteln ein intensives, sinngebendes Kohärenzgefühl insbesondere in schwierigen Lebenssituationen. Dies führt zur Reduktion des allgemeinen Anspannungsniveaus und damit zur Reduktion des Cortisolspiegels und zur Intensivierung der Immunantwort. Dies könnte ein Wirkmechanismus des von Powell beschriebenen Zusammenhangs zwischen religiöser Aktivität und verringerter Mortalität sein. Einen weiteren Wirkfaktor innerhalb religiöser Aktivität möchte ich hier lediglich andeuten: das Phänomen der Vergebung. Eine Literaturrecherche in der National Library of Medicine (PubMed.gov) zeigt, dass es zu diesem Thema seit etwa 25 Jahren eine vitale Forschungsaktivität gibt.20 Überwiegend wird die intensive positive Wirkung angemessener Vergebung auf die seelische Gesundheit beschrieben. Selbst in der Therapie der posttraumatischen Belastungsstörung könnte sie eine wirksame Rolle spielen.21 Konrad Stauss, langjähriger Leiter der psychosomatischen Klinik Bad Grönenbach im Allgäu, fasst seine Erfahrungen mit diesem Thema in der klinischen Arbeit zusammen.22 Eine der zentralen Projekte des Christus ist die Schaffung der Möglichkeit von Vergebung.

5 Die Neurophysiologie der Angst Nehmen wir ein Beispiel aus der Praxis: Ein Mann in seinen Dreißigern ist unzufrieden an seinem Arbeitsplatz. Seine erste Stelle vor drei Jahren, nach dem Ingenieursstudium, hatte er gern angenommen. Einige Kollegen und Vorgesetzte, mit denen er »gut konnte«, kannte er aus dem Studium. Die übliche Belastung zu Beginn einer ersten Arbeitsstelle bewältigte er gut, bewährte sich in seinen Aufgaben und fand 18 Vgl. Suzanne Y. Felten/David L. Felten: Innervation of lymphoid tissue. In: Robert Ader/David L. Felten/Nicholas Cohen (Hg.): Psychoneuroimmunology. 3. Aufl. San Diego 2001. 19 Aaron Antonowski: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen 1997. 20 Überblick bis 2005 bei Everett L. Worthington Jr./Charlotte van Oyen Witvliet/Andrea J. Lerner/ Michael Scherer: Forgiveness in health research and medical practice. Explore, 3/1, 2005, 169–176. 21 Andreas Maercker/Andrea B. Horn: A socio-interpersonal perspective on PTSD: the case for environments and interpersonal processes. Clin Psychol Psychother, 6/20, 2013, 465–481. 22 Konrad Stauss: Die heilende Kraft der Vergebung. Die sieben Phasen spirituell-therapeutischer Vergebungs- und Versöhnungsarbeit. München 2012.

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Anerkennung bei den meisten seiner Kollegen. Dennoch wurde er im Verlauf der letzten anderthalb Jahre zunehmend unzufrieden. Er wünschte sich eine Tätigkeit mit mehr technischen Inhalten und weniger administrativ wirtschaftlichen Aufgaben. Im Rahmen einer Persönlichkeitstestung und der Exploration des Tätigkeitsprofils wurde eine Diskrepanz zwischen den Persönlichkeitseigenschaften und den Anforderungen am Arbeitsplatz deutlich. Die Beratung beinhaltete daher in einer Phase hauptsächlich ein Berufscoaching. Es wurden verschiedene Möglichkeiten innerhalb oder außerhalb der Firma erörtert, ohne dass zu diesem Zeitpunkt schon konkrete Handlungsschritte unternommen wurden. Vor drei Monaten wechselte sein »Chef«, mit dem er sich gut verstanden hatte, auf eine andere Position. Mit dem neuen Vorgesetzten entstanden Spannungen. Der Klient wurde wiederholt geringschätzend kritisiert bei Tätigkeiten, die zuvor wertgeschätzt oder akzeptiert wurden. In einer Beratungssitzung berichtete er, er sei vor etwa einer Woche nachts »schweißgebadet« aufgewacht. Das unangenehme Herzklopfen habe ihn geängstigt. Er hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und tiefer atmen zu müssen. »Verschiedene unangenehme Gedanken schossen durch meinen Kopf, die die Sache noch schlimmer machten.« Sehr langsam sei diese Symptomatik in dieser Nacht abgeklungen. Nach etwa anderthalb Stunden konnte er wieder einschlafen. Zwei Nächte später trat das gleiche Ereignis auf. Dieses Mal war er so beunruhigt, dass er den Notarzt rief. Dieser stellte jedoch kein akutes kardiovaskuläres Ereignis fest und riet, am nächsten Tag einen Arzt aufzusuchen. Am nächsten Tag konnte der internistisch orientierte Hausarzt nach einer recht ausführlichen Untersuchung auch keine somatische Erkrankung diagnostizieren. Der Arzt meinte, es sei wahrscheinlich »psychisch«. Nun war der Klient froh, diese Sache in der Beratung besprechen zu können.

Im Rahmen eines Moduls zu den biologischen und medizinischen Aspekten der psychologischen Beratung wird ausführlich die Neurophysiologie der Angstreaktion erläutert. Entsprechende Kenntnisse sind äußerst hilfreich zur Bewältigung von Situationen, die in der psychologischen Beratung häufig thematisiert werden. Leidvolle Ängste hat wohl fast jeder Mensch bereits erlebt. Immerhin erreicht die Angstsymptomatik bei 15 Prozent der Bevölkerung der westlichen Industrienationen die Schwelle der diagnostischen Kriterien für behandlungsbedürftige Angststörungen. Die beiden zentralen Lehrsätze lauten: 1. Die Angst ist eine Bereitstellungsreaktion für schnelle und anhaltende Bewegung – Kampf oder Flucht. 2. Angst braucht Bewegung. 168

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Der erste Satz impliziert, dass die Angstreaktion keine pathologische ist, sondern zu schützenden Verhaltensweisen in real gefährdenden Situationen führt. Leidvoll pathologisch wird sie erst bei Auftreten in Abwesenheit gefährdender Situationen: der Panikattacke, der phobischen Reaktion oder im Flashback nach Traumatisierungen. Aber auch erst dann bringt die Angstreaktion eine ungünstige Prognose für körperliche und seelische Gesundheit mit sich, wenn sie häufig auftritt und zu dysfunktionalen Bewältigungsmustern führt (z. B. Vermeidungsverhalten, Gebrauch von Suchtmitteln). Auch nicht medizinisch geschulten Studierenden ist die Physiologie der Angstreaktion leicht verständlich zu machen: Allen ist bekannt, dass die körperlichen Vorgänge im Schreck durch Adrenalin hervorgerufen werden. Die vertiefte und beschleunigte Atmung, subjektiv zunächst als stockender Atem empfunden, kann man sich aus eigenen Schrecksituationen bewusst machen. Die mit Asthma vertrauten Studierenden berichten, dass bei einem Asthmaanfall Adrenalinderivate verabreicht werden. Hieraus lässt sich ableiten, dass Adrenalin zur Erweiterung der Bronchien führt. Dass diese Vorgänge zur erhöhten Diffusion von Sauerstoff ins Blut führen, lässt sich nun leicht erläutern. In der Angstreaktion kommt es weiterhin zur Abspaltung von Glukose aus den Speicherorganen Leber und Muskulatur ins Blut. Die erhöhte Konzentration des zentralen Energieträgers jeder Zellfunktion, Sauerstoff und Glukose (= Traubenzucker = Blutzucker), ist die Folge. Die beschleunigte Kreislaufzeit (Herzklopfen) ist auch allen aus der subjektiven Schreckreaktion bekannt. Die Energieträger können nun beschleunigt und in erhöhter Konzentration zu dem Zielorgan Muskulatur transportiert werden. Interessant ist, dass das arterielle Verteilungsmuster auf die Versorgung der groben Kraftmuskulatur, weniger auf die Versorgung der Feinmotorik ausgerichtet ist. Auf der Flucht vor dem Bären brauchen wir nicht den Faden durch das Nadelöhr bekommen. Informiert wird weiterhin über die Reduktion des Immun- und Verdau­ ungs­systems. Letzteres verspüren viele in Form eines trockenen Mundes in Anspannungssituationen (z. B. vor zu haltenden Vorträgen). Nicht nur der Mund wird »trocken gelegt«, sondern das gesamte Verdauungssystem, nur ist es dort weniger spürbar. Dies findet ebenfalls unter Einfluss des Adrenalins statt sowie des wenige Sekunden später in erhöhter Konzentration nachfolgenden Cortisols. Die Reduktion der Immunreaktion durch Cortisol ist durch deren Einsatz bei Autoimmunerkrankungen und zur Verhinderung von Abstoßungsreaktionen nach Transplantation bekannt. Durch die massive Absenkung der Aktivität von Immun- und Verdauungssystem werden immense Mengen Energie freigesetzt und der Muskulatur zur Verfügung gestellt. Pneumatopsychosomatik

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Diese Erfahrung schlägt sich in der Sprache nieder: »Ich hätte nie gedacht, dass ich solche Bärenkräfte entwickeln könnte.« Ohne die adrenalin- und cortisolgesteuerte Angstreaktion sind wir in der Tat nicht in der Lage, solche Kraft zu entwickeln. So gibt es Berichte, dass Menschen in lebensgefährdenden Situationen einen Felsbrocken beiseiteschaffen konnten, den sie später nicht in der Lage waren, nur einen Millimeter zu verrücken. Da bekanntlich feuchte Materialien leichter Wärme ableiten und Verdunstung Kälte erzeugt, schützt die feuchte Haut (Angstschweiß) vor der Überwärmung des Körpers. Diese entsteht durch die in Gefahrensituationen bevorstehende massive exotherme Muskelarbeit. Wie beim Motor wird die Energie nicht nur in Bewegungs-, sondern auch in Wärmeenergie umgesetzt. Wie bedeutsam die Wärmeregulation ist, zeigen Notfälle, bei denen Personen mit einer deutlich erhöhten Körpertemperatur nach stundenlangem Tanzen zum Beispiel bei Technopartys versorgt werden müssen. Oft unter Einfluss erregender Substanzen (Ecstasy o. ä.) verliert der Körper mehr Flüssigkeit, als er aufnimmt. Hierbei kommt es zum vital gefährdenden Zusammenbruch der Wärmeregulation. In der normalen Angstreaktion wird der Körper schon einmal vorsorglich gekühlt, bevor es »gleich losgeht«. Beim Sport ist es umgekehrt: erst die Bewegung, dann das Schwitzen. Die ebenfalls unter Einfluss von Adrenalin auftretende Beschleunigung der Nervenleitgeschwindigkeit ist ein weiteres hilfreiches Phänomen zur Bewältigung gefährlicher Situationen. Sie reduziert die Reaktionszeit. Bei der Abwendung von Gefahren geht es häufig um Millisekunden. Wenn Ratsuchende und Patientinnen sich diese fein abgestimmte Reaktionskaskade vergegenwärtigen, geraten viele ins Staunen. Die Kaskade entwickelt sich innerhalb von Millisekunden und steht innerhalb von wenigen Sekunden, ausgerichtet auf das eine Ziel: Schutz durch schnelle Bewegung. Bei Menschen, die unter ihren Ängsten leiden, führt dieses Wissen zur Entkatastrophisierung der Ängste selbst. Dies beruhigt spürbar den sich aufschaukelnden Angstkreislauf, in dem die Angst vor der Angst eine so bedeutende Rolle spielt. Ratsuchende können sich »aussöhnen« mit der Angstreaktion. Manche kommen sogar zu Dankbarkeit dem Schöpfer gegenüber, der uns mit diesen Schutzschutzmechanismus in dieser so gefährlichen Welt versorgt hat. Sehr entlastend wirkt auch die Information, dass die Angstreaktion in real gefährdenden Situationen neurophysiologisch die gleiche ist wie die in der Panikattacke, in der phobischen Reaktion und im posttraumatischen Flashback. Es handelt sich lediglich um einen Fehlalarm, nicht jedoch um einen gefährlichen pathologischen Vorgang an sich. Es ist auch kein Vorbote für Psychosen, Herz- oder Hirninfarkt oder gar den bevorstehenden Tod. 170

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In der Beratung ist zunächst ärztlich abzuklären, ob eine kardiopulmonale Erkrankung oder eine Gefäßerkrankung vorliegt und inwieweit die Person durch sportliche Betätigung belastbar ist. Das gibt der Beraterin Sicherheit, die wiederum auf den Ratsuchenden zurück wirkt. Berater sollten sich unbedingt daran halten, die Ratsuchenden nach ihrer ärztlichen Betreuung zu fragen, insbesondere dann, wenn körperliche oder körpernahe Symptome vorliegen. Wie auch in der psychologischen Psychotherapie eine ärztliche Untersuchung Voraussetzung für die kassenärztliche Kostenübernahme ist, muss auch in der Beratung auf die ärztliche Abklärung von Beschwerden geachtet werden. Die Beobachtung, dass jedes psychische Symptom auch durch eine körperliche Erkrankung hervorgerufen werden kann, macht dies umso erforderlicher. Auch bei der Beratung im Kontext von Angst und Stress braucht es eine hohe Sensibilität dafür, welche Erkrankungen zu den gleichen Symptomen führen können (z. B. Herzrhythmusstörungen, Hyperthyreose etc.). Angst braucht Bewegung Wenn nun deutlich gemacht wurde, dass die Angstreaktion eine Vorbereitungsreaktion für Bewegung ist, so ist plausibel, dem Körper das zu geben, wofür er Energie bereitstellt: Bewegung. Die erste größere Untersuchung zu diesem Thema im deutschsprachigen Raum wurde im Jahr 2000 von Andreas Broocks veröffentlicht.23 Er hat eine Gruppe von 15 Patienten mit Panikstörung und Agoraphobie ausschließlich zu einem zehnwöchigen Lauftraining angeleitet. Zehn dieser Patienten »beurteilten ihren Behandlungserfolg als viel oder sehr viel gebessert«. Schon die regelmäßige körperliche Betätigung führt zur Reduktion der Angstsymptome, auch ohne Psycho- oder Pharmakotherapie. Zum allgemeinen Gebrauch und zur Prävention bietet sich hier das 3-30-­130-Schema an: Dreimal pro Woche eine Bewegungseinheit für mindestens 30 Minuten mit einem Puls von 130 pro Minute (+/− 10). Dreimal wöchentliche Bewegungseinheiten führen zu einem aufbauenden Trainingseffekt. Dieser tritt vor allem dann auf, wenn 30 Minuten nicht unterschritten werden. Nach 20 Minuten werden zudem Serotonin und Endorphine ausgeschüttet, was zur angstlösenden Wirkung beiträgt. Ein höherer Puls ist nicht wünschenswert: Wenn ein Bewegungspuls bei wenig Trainierten von 140 überschritten wird, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Person die Laktatschwelle von 4 mmol/l 23 Andreas Broocks: Körperliche Aktivität und psychische Gesundheit. Psychische und neurobiologische Effekte von Ausdauertraining bei Patienten mit Panikstörung und Agoraphobie. Darmstadt 2000.

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im Blut überschreitet und somit nicht mehr im aeroben Stoffwechselbereich der Muskulatur bleibt. Damit würden die positiven Wirkungen der Bewegungseinheiten deutlich vermindert werden. Diese Weise der Bewegung hat nun eine positive Wirkung nicht nur auf das Angstsystem, sondern auch auf fast alle Systeme im somatischen und psychosomatischen Bereich. Aufgrund des genannten Anstiegs des Serotoninspiegels ist Bewegung auch bei Zuständen hilfreich, die mit depressiver Symptomatik einhergehen. Natürlich ist auch hier die ärztliche Abklärung somatischer Faktoren erforderlich. So fördern Bewegungseinheiten die Gesundheitserwartung und Lebensqualität und der Beraterin ist ein entsprechendes, hilfreiches Instrument an die Hand gegeben. Die erforderlichen physiologischen Hintergrundinformationen (Lungenfunktion und Gasaustausch, aerober/anaerober Stoffwechsel, Funktion von Serotonin- und Endorphinsystem u. a.) kann man mithilfe von Fachliteratur nachvollziehen. Durch die Vermittlung all dieses Wissens kann auch der psychologische Berater einen Beitrag zur Gesundheitsförderung leisten und deutlich zur Verbesserung der Prognose beitragen. In Beratung und Therapie ist es sehr befriedigend, die wohltuende Entlastung der Ratsuchenden und Patientinnen mitzuerleben. Die Amygdala Für den Klienten ist ein weiterer physiologischer Vorgang hilfreich zu wissen: die Neurophysiologie der Amygdala. Diese ist eine Ansammlung dicht gepackter Nervenzellen, ein Neuronenkern, deren es viele im Gehirn gibt. In diesem Fall hat sie Größe und Form einer Mandel. Deswegen haben die alten Anatomen diesen medizinischen Namen gegeben: Amygdala – griechisch für Mandel. Sie befindet sich beidseits jeweils in der Tiefe des Schläfenlappens und hat dort eine zentrale Funktion zur Steuerung der Angstreaktion. Ihren wichtigsten Input erhält sie über Bahnen aus unseren fünf Sinnen. Beispiel Sehsystem: Als analog-digitaler Wandler erzeugt die Netzhaut aus den von z. B. einer Schlange reflektierten Photonen Aktionspotenziale, die über die Sehnerven zur Sehnervkreuzung weitergeleitet werden. Dort werden die Informationen des rechten Seefeldes nach links und des linken Seefeldes nach rechts geleitet, um schließlich zur Sehrinde im Hinterhaupt zu gelangen. Nach einem komplexen Dekodierungsvorgang auf hierarchisch immer höheren neuronalen Ebenen wird uns das Gesehene bewusst, gelangt Anschluss an das Sprachzentrum und wir können sagen: »Schlange«. Dies findet innerhalb von 172

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Millisekunden statt. In dieser Zeit könnte die giftige Schlange jedoch schon zugeschnappt haben. Aus der Sehnervkreuzung wird daher eine abgespeckte Kopie der Amygdala zugeleitet – mit weniger Datenvolumen und daher schnellerer Leitgeschwindigkeit mit dem Preis einer reduzierten Erkennungsgenauigkeit. Ein weiterer Zufluss zur Amygdala findet aus unseren Erinnerungsfeldern statt: Hippocampus und Scheitellappen. Neben den schönen und hilfreichen Erinnerungen sind dort auch Situationen gespeichert, in denen Schmerz, Gefahr, Verletzung und gegebenenfalls Todesnähe erlebt oder vermittelt wurde. Mit diesen Zentren steht die Amygdala per Standleitung 24/7 in Verbindung. Ihre Aufgabe ist es nun, einen Abgleich von Ähnlichkeiten zu schaffen. Sobald Ähnlichkeiten zwischen dem aktuellen sensorischen Input und dem in der Erinnerung archivierten Material festgestellt werden, löst die Amygdala über mehrere Zwischenschritte im autonomen Nervensystem die adrenalin- und cortisolgesteuerte Angstreaktion aus. Dieser Vorgang findet wenige Millisekunden vor der bewussten Erkennung des angstauslösenden Objektes statt – ein zusätzlicher Mechanismus zum Schutz in real gefährdenden Situationen. Diese Vorgänge sind der Hintergrund für unsere Erfahrung, dass wir gelegentlich einen Schrecken bekommen, bevor wir wahrnehmen können, wovor wir uns erschreckt haben. Ich bleibe nun schon stehen, bevor ich bewusst erkannt habe, dass es sich um eine Schlange handelt. Das geringere Datenvolumen, das zwischen Sehnervkreuzung und Amygdala weitergeleitet wird – schneller, aber unschärfer –, kann nun dazu führen, dass ein Tau als Schlange fehlinterpretiert wird. Aber besser fälschlicherweise vor einem Tau schreckhaft stehen bleiben, als im nächsten Schritt auf die Schlange zu treten und gebissen zu werden. Dummerweise löst die Amygdala nicht nur in realen gefährlichen Situationen die Angstreaktion aus, sondern auch gelegentlich in ungefährlichen, sofern diese kognitiv als gefährlich interpretiert werden. Auch in Abwesenheit jeglicher gefährlicher Situation kann die Angstreaktion auf beschriebene Weise von katastrophisierenden Bewertungen ausgelöst werden. Weiterhin können diese Gedanken um die Bewusstseinsschwelle fluktuieren, sodass sie gar nicht bewusst wahrgenommen werden. Die Bewusstwerdung muss dann erst mühsam erarbeitet werden. Bei erhöhtem, allgemeinen Anspannungsniveau, also in Stressphasen, reagiert das Angstsystem mit der Amygdala als zentrale Schaltstelle empfindlicher als in entspannteren Phasen. Wir können davon ausgehen, dass dies bei unserem Klienten aus dem Beispiel der Fall war. Weiterhin ist bei Patientinnen, die unter ihren Ängsten leiden, etwa bei einer Panik- oder phobischen Störung, das Angstsystem hyperreagibel. So wie auch bei einem hyperPneumatopsychosomatik

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reagiblen Bronchialsystem bei Menschen, die unter Asthmabeschwerden leiden, kann jedes psychosomatische System empfindlich oder auch weniger empfindlich sein: die Magenschleimhaut, der Rücken, die Blase und so weiter – oder eben die Amygdala. Die Mitteilung all dieser Vorgänge an unseren Klienten im Fallbeispiel führt dazu, dass er sich zunächst unabhängig von seinem subjektiven Erleben mit dem Thema »Angst« auseinandersetzen kann. Dies führt zur Versachlichung seines subjektiv leidvollen Erlebens und somit zur Reduktion von Anspannung. Bei der Erläuterung dieser Vorgänge im Beratungsprozess nimmt der Berater zwar immer wieder Bezug auf das persönliche Erleben des Klienten, dennoch sprechen sie über Vorgänge, die unabhängig von ihm stattfinden – bei Millionen von Menschen täglich, weltweit (15 Prozent der Bevölkerung). Auch über diese zentralnervöse Physiologie kommen Klienten gelegentlich ins Staunen, erkennen sie doch hier einen Vorgang, der sie zwar in einer nächtlichen Panikattacke erschüttert, jedoch in anderen Situationen wahrscheinlich das Leben gerettet hat. Dieses Staunen trägt in intensiver Weise zur Selbstdistanzierung, Selbstreflexion und somit zur Emotionsregulation bei. Menschen, die eine jüdisch-christliche Weltsicht teilen, sage ich häufig: Der Schöpfer hat uns die Angst für die Zeit zwischen Fall und Vollendung geschenkt – zur Bewältigung des bedrängten Lebens. Damit beziehe ich mich auf eine Aussage des Neuen Testamentes. Christus sagt: »In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.« (Joh 16,33) Klientinnen, die bereits eine gewisse, an der Bibel orientierte heilsgeschichtliche Perspektive haben, hilft dies zur Bewältigung. Es gibt eine weitere gute Botschaft. Die Bearbeitung einer Angstreaktion führt zu stabilisierenden neurophysiologischen, mikroanatomischen Veränderungen. In Kindheit und Jugend sind die erregenden Nervenbahnen, die von der Amygdala ausgehen, relativ stark. Kinder reagieren intensiver und körpernäher auf angstauslösende Situationen und können diese noch nicht gut regulieren. Im Verlauf der Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von auslösender Situation und Emotionen findet der Reifungsprozess der Adoleszenz zunehmend statt. Hierzu gehört auch das Thema »Angst und angstauslösende Situationen«. Diese Auseinandersetzung wird durch Anleitung intensiviert sowohl in der Erziehung als auch im Beratungs- und therapeutischen Prozess. Hirnphysiologisch können wir nun beobachten, dass hemmende Bahnen, die unter anderem aus dem Frontalhirn die Amygdala erreichen, im Rahmen dieser Auseinandersetzung morphologisch wachsen und sich die entsprechenden Synapsen differenzieren. Dies findet sowohl in einem angeleiteten (Beratung, Therapie) als auch in einem nicht angeleiteten Prozess (Selbsthilfe/Selbst­management) 174

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statt. Diese Bahnen entstehen und differenzieren sich im Rahmen der Neuroplastizität aus und sind tatsächlich morphologisch nachweisbar.24 Die Erläuterung dieser psychophysiologischen Vorgänge ermutigte den Klienten, sich mit dem Thema »Angst« zu beschäftigen, sich zu bemühen, die Zusammenhänge zu erkennen, empfohlene Selbsthilfebücher zu lesen und sich Tools zur Überwindung der Ängste anzueignen. Zu allererst sollte hier vermittelt werden, dass Angst Bewegung braucht. Für die nächtliche Situation wurde empfohlen, sich kleine zur Bewegung anregende Geräte anzuschaffen, die auch in jedes Einzimmerapartment passen: Schwingstab, Balanceteller, Terraband, weich aufgehängtes Kleintrampolin. Auch diese können nachts in der Wohnung genutzt werden und tragen immens zur Reduktion der Anspannung bei. All dieses Wissen kann sich auch die integrative Beraterin aneignen und vermitteln. Da im Fall des Klienten eine somatisch-medizinische Abklärung bereits stattgefunden hatte, konnte so eine aufwendige Psychotherapie vermieden werden. Es handelt sich hier nicht um eine Panikstörung nach der ICD, sondern lediglich um wenige aufgetretene Panikattacken vor dem Hintergrund eines beruflich bedingten, erhöhten Anspannungsniveaus.

6 Myelinisierungsmuster und Phasensynchronisation – Fallbeispiel Ein weiteres Beispiel aus der Praxis: Das Paar, jetzt in der ersten Hälfte ihrer vierziger Jahre, hatte schon einmal vier Jahre lang die Beratung aufgesucht. Bei einer grundsätzlich stabilen Beziehung kam es dennoch immer wieder zu Streitereien über Alltagsthemen. Diese eskalierten häufiger, führten zu tagelangen Spannungen und beeinträchtigten die Beziehungsqualität deutlich. Gegensteuernde Maßnahmen der beiden griffen nur geringfügig. Ein differenziertes Konfliktmanagement (Einüben eines verstehensorientierten Gesprächs mit Rollenverteilung, Einüben des Perspektivenwechsels, Einüben des strukturierten, lösungsorientierten Gesprächs) führte seinerzeit erfreulicherweise zu einer deutlichen Deeskalation. Das Paar konnte in den folgenden Jahren eine entspannte und erfüllte Beziehung leben. Die Kinder waren inzwischen 7, 11 und 14 Jahre alt. Jetzt melden sich die beiden aufgrund von Konflikten mit dem ältesten Kind wieder. Während es mit 11 Jahren noch sehr umgänglich war, bisweilen fast erwachsen, einfühlsam und kooperativ, schlug die Stimmung nun vor einigen Monaten innerhalb weniger Wochen um. Das Kind wurde emotional unausgeglichen, impulsiv gereizt, vorwurfsvoll. Zu Beginn dieser schwie24 Klaus Grawe: Neuropsychotherapie. Göttingen 2004, S. 101 ff.

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rigen Phase führten die Eltern dieses Verhalten noch auf die berühmte Pubertät zurück. In der letzten Zeit wurde es jedoch zunehmend aggressiver, beschimpfte die Eltern, auch aufgrund geringster Anlässe: »Ihr wisst doch, dass ich Erbsen nicht mag. Scheiß Erbsen, scheiß Eltern.« Schließlich verunsicherten Sätze wie »Ich will hier nicht mehr leben. Ich hau hier ab« das Paar derart, dass es erneut die Beratung aufsuchte.

Direkt erkenntnis- und handlungsleitend für Eltern von Teenagern wirkt sich das Wissen über das Myelinisierungsmuster zerebraler Neurone in den ersten zweieinhalb Lebensdekaden aus. Der Neuroanatom Paul Flechsig (1847–1929) hat bereits Ende des 19. Jahrhunderts mit einer eigens entwickelten Färbemethode hierzu grundlegende Untersuchungen unternommen. Dunkel färbt sich hier die fetthaltige Myelinummantelung der Nervenbahnen, der Axone. Es zeigt sich, dass die Myelinisierung der motorischen und sensorischen Bahnen bei Neugeborenen schon stattgefunden hat, nicht aber die der Bahnen aus dem Frontalhirn. Bei Jugendlichen findet die Myelinisierung statt, ist aber noch nicht ausgereift (Frontalhirn blass) wie beim Erwachsenen (Frontalhirn dunkel).25 Dies entspricht dem Verhalten Jugendlicher in der Entwicklung: Nach in der Regel relativ ruhigen Jahren um den Wechsel vom ersten zum zweiten Lebensjahrzehnt nimmt die erregende neuronale Aktivität im limbischen System deutlich zu. Dies ist die neurophysiologische Grundlage für die typischen emotionalen Schwankungen dieses Lebensalters. Die impulsleitenden hemmenden Fortsätze der Nervenzellen des Frontalhirns sind in dieser Zeit noch nicht ausreichend myelinisiert, das heißt, von einer Fettschicht ummantelt. Letztere lässt die Nervenleitgeschwindigkeit deutlich schneller werden als die Impulse aus dem limbischen System. Die Myelinisierung ist erst im Alter von ca. 23 Jahren abgeschlossen. Das Frontalhirn ist das kognitive Kontrollorgan des limbischen Systems. Ersteres zeigt eine erhöhte Aktivität, wenn wir Empathie zeigen – eine Eigenschaft, die nicht gerade zu den typischen des Teenageralters gehört. In Alltagssituationen Jugendlicher wird nun das Frontalhirn vom limbischen System »überholt« und führt zu den oft verletzenden Verhaltensimpulsen, die nicht mehr kontrolliert werden können. Die hierzu typische Alltagssituation findet am familiären Mittagstisch statt: »Blöde Erbsen! Mag ich nicht.« Der Vater oder die Mutter: »Du musst Erbsen nicht mögen, blöd sind sie deswegen nicht.« Pause. »Immer musst du so etwas 25 Siehe die grafische Darstellung bei Manfred Spitzer: Pubertät im Kopf. Nervenheilkunde 27/2008, 674. https://www.vfa-ev.de/wp-content/uploads/2016/02/Pubert%C3%A4t-im-Kopf. pdf (Zugriff am 30.09.2022).

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Doofes kochen.« Antwort: »Erstens kochen wir nicht immer ›so etwas‹. Zweitens ist es nicht doof. Ich gebe dir noch eine Chance. Dann gehst du in dein Zimmer.« Pause. Der Teenager kämpft mit sich, dem Essen und dem Leben. »Ihr seid blöd!« Mit ruhiger, sachlicher, aber bestimmter Stimme wird das Mädchen oder der Junge in sein Zimmer verwiesen. Nach einer Viertelstunde kehrt sie oder er zurück, emotional aufgeräumt, wärmt den Teller in der Mikrowelle auf und isst den Rest. Der Bauch füllt sich. Das entsprechende Wohlgefühl stellt sich ein und es kann von der Schule erzählt werden. Zu diesem Vorgang kann ernährungsphysiologisches Wissen ebenfalls sehr hilfreich sein. Während des Timeout im Zimmer konnte sich das noch langsam arbeitende Frontalhirn mit seinen ethischen und empathischen Überlegungen altersentsprechend seinen Weg bahnen. Wenn sich am Übergang zum nächsten Lebensjahrzehnt die Bahnen des Frontalhirns myelinisieren, kann dieser Prozess zügiger – noch am Esstisch – stattfinden. Auch der Zusammenbruch der Phasensynchronisation innerhalb des Gammabandes im EEG (35–100 Hz) kann das seltsame Verhalten im Teenager­ alter erklären: Wir wissen, dass die Zellen eines Neuronenverbandes der Hirnrinde dann in einem synchronisierten Muster feuern, wenn relevante Vorgänge bewusst wahrgenommen werden. Sehen wir beispielsweise einen heranhüpfenden Ball, feuern größere Neuronenverbände in der Sehrinde synchron. Durch die vom Ball übermittelten Geräusche entstehen in der Hörrinde Muster von Aktionspotenzialen, die sich kurzfristig, über Millisekunden, mit denen der Sehrinde synchronisieren. Dieser Vorgang scheint die Voraussetzung dafür zu sein, dass eine Wahrnehmung die Schwelle zum Bewusstsein überschreitet und verschiedene Situationsmerkmale einer komplexen Szene zu einem kohärenten Bild zusammengesetzt werden können. Die Synchronisationen finden in bestimmten Frequenzbereichen statt, die von komplexen EEG-Untersuchungen erfasst werden können. Es hat sich gezeigt, dass die Fähigkeit zur Synchronisation auch weit voneinander entfernter Neuronenverbände (Sehsystem, akustisches System, somatosensorisches System u. a.) bis zum Alter von etwa zwölf Jahren kontinuierlich zunimmt.26 Dann jedoch nimmt sie rapide ab. Sie bricht quasi zusammen, um dann im Alter von 16 bis 20 Jahren wieder über das Vorniveau anzusteigen. Stellt man dies grafisch dar, sieht man im Verlauf der Entwicklung eine Zunahme der Fähigkeit, syn26 Peter J. Uhlhaas/Frederic Roux/Wolf Singer/Corinna Haenschel/Ruxandra Sireteanu/Eugenio Rodriguez: The development of neural synchrony reflects late maturation and restructuring of functional networks in humans. PNAS, 24/106, 2009, 9866–9871. www.pnas.org/cgi/ doi/10.1073/pnas.0900390106 (Zugriff am 13.10.2022).

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chrone Oszillationen zu bilden. In der frühen Kindheit noch gering, zunehmend über die späte Kindheit bis in die frühe Adoleszenz. In der späten Adoleszenz bricht die Gamma-Oszillation sogar auf ein etwas niedrigeres Niveau als in der frühen Kindheit ein, um sich dann im Erwachsenenalter voll zu entwickeln. Das Gehirn wächst dann quasi über sich hinaus. Das bedeutet: Der Mensch gewinnt in der späten Adoleszenz am Übergang zum Erwachsenenalter zunehmend die Fähigkeit, unterschiedliche Situationsmerkmale als eine kohärente Szene zu erkennen, auch komplexe Situationen zu erfassen, sich darin zu orientieren und adäquat, empathisch zu verhalten – z. B. Erbsen, die nicht schmecken müssen, aber dennoch nahrhaft sind, die mögliche Reaktion Eltern, die Antizipation einer fortbestehenden schönen Tischgemeinschaft usw. Die Entwicklung von Myelinisierung und Phasensynchronisation machen deutlich, dass Teenager ihre emotionalen Impulse noch nicht durchgängig kontrollieren und in komplexen Situationen noch nicht durchgängig adäquat reagieren können. So empfiehlt Barbara Strauch, dass Eltern das »Frontalhirn ihrer Kinder« sein mögen.27 Sowohl Studierende, die zum Teil auch Eltern sind, als auch Eltern in meiner Praxis zeigen sich durchgängig dankbar für diese hilfreichen Informationen. »Das hätte ich wissen müssen, bevor meine Kinder in dieses Alter kamen. Dann hätten wir wesentlich gelassener reagieren können.«

Literatur An der Schwelle zum Jenseits. Nahtod-Erlebnisse aus der Sicht von Wissenschaftlern und Betroffenen. Regie: Rainer Fromm/Simone Kienast. Deutschland: Matthias-Film, 2009. Aaron Antonowski: Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit. Tübingen 1997. Jenny C. Baumeister/Giovanni Papa/Francesco Foroni: Deeper than skin deep. The effect of botulinum toxin-A on emotion processing. Toxicon, 118, 2016, 86–90. Niels Birbaumer/Robert F. Schmidt: Biologische Psychologie. 7. Aufl. Heidelberg 2010. Johannes Brachtendorf: Vorlesung Phil. Anthropologie – Leib und Seele, 3. Stunde. Tübingen, 26.04.2016. https://timms.uni-tuebingen.de/tp/UT_20160426_001_philanth_0001 (Zugriff am 20.10.2022). Andreas Broocks: Körperliche Aktivität und psychische Gesundheit. Psychische und neurobiologische Effekte von Ausdauertraining bei Patienten mit Panikstörung und Agoraphobie. Darmstadt 2000. Yoichi Chida/Andrew Steptoe/Lynda H. Powell: Religiosity/Spirituality and Mortality. A systematic quantitative review. Psychother Psychosom, 2/78, 2009, 81–90. Suzanne Y. Felten/David L. Felten: Innervation of lymphoid tissue. In: Robert Ader/David L. Felten/Nicholas Cohen (Hg.): Psychoneuroimmunology. 3. Aufl. San Diego 2001. 27 Barbara Strauch: Warum sie so seltsam sind. Gehirnentwicklung bei Teenagern. München 2014.

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Klaus Grawe: Neuropsychotherapie. Göttingen 2004. David A. Havas/Arthur M. Glenberg/Karol A. Gutowski/Mark J. Lucarelli/Richard J. Davidson: Cosmetic use of botulinum toxin-A affects processing of emotional language. Psychological Science, 7/21, 2010, 895–900. Yongmei Hou/Qin Huang/Ravi Prakash/Suprakash Chaudhury: Infrequent near death experiences in severe brain injury survivors. A quantitative and qualitative study. Ann Indian Acad Neurol, 16/1, 2013, 75–81. Frank Jackson: What Mary Didn’t Know. The Journal of Philosophy, 83, 5/1986, 291–295. http:// www.jstor.org/stable/2026143 (Zugriff am 10.10.2022). Claudia Kalb: Faith & Healing. Newsweek, 03.10.2011. http://www.newsweek.com/faith-healing-133365 (Zugriff am 13.10.2022). Eric R. Kandel/James H. Schwartz/Thonas M. Jessell (Hg.): Neurowissenschaften. Eine Einführung. Heidelberg 1995. Pim van Lommel/Ruud van Wees/Vincent Meyers/Ingrid Elfferich: Near-death experience in survivors of cardiac arrest: a prospective study in the Netherlands. Lancet, 358/2001, 2039–2045. Andreas Maercker/Andrea B. Horn: A socio-interpersonal perspective on PTSD: the case for environments and interpersonal processes. Clin Psychol Psychother, 6/20, 2013, 465–481. Thomas Metzinger (Hg.): Grundkurs Philosophie des Geistes. Bd. 1: Phänomenales Bewusstsein. Paderborn 2009, S. 101–116. Thomas Nagel: What Is It Like to Be a Bat?/Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? Englisch/Deutsch. Übers. und hrsg. von Ulrich Diehl. Stuttgart 2016. David T. Neal/Tanya L. Chartrand: Embodied Emotion Perception. Amplifying and Dampening Facial Feedback Modulates Emotion Perception Accuracy. Social Psychological and Personality Science. 2/6, 2011, 673–678. Sam Parnia et al.: AWARE – AWAreness during REsuscitation. A prospective study. Resuscitation, 12/85, 2014, 1799–1805. Meike Ressing/Maria Blettner/Stefanie J. Klug: Systematische Übersichtsarbeiten und Metaanalysen. Teil 6 der Serie zur Bewertung wissenschaftlicher Publikationen. Deutsches Ärzteblatt, 27/106, 2009, 456–463. Ina Schmied-Knittel/Hubert Knoblauch/Bernt Schnettler: Todesnäheerfahrungen in Ost- und Westdeutschland. In: Hubert Knoblauch/Hans-Georg Soeffner (Hg.): Todesnähe. Interdisziplinäre Zugänge zu einem außergewöhnlichen Phänomen. Konstanz 1999, S. 217–250. Manfred Spitzer: Pubertät im Kopf. Nervenheilkunde 27/2008, 674–678. https://www.vfa-ev.de/ wp-content/uploads/2016/02/Pubert%C3%A4t-im-Kopf.pdf (Zugriff am 30.09.2022). Konrad Stauss: Die heilende Kraft der Vergebung. Die sieben Phasen spirituell-therapeutischer Vergebungs- und Versöhnungsarbeit. München 2012. Barbara Strauch: Warum sie so seltsam sind. Gehirnentwicklung bei Teenagern. München 2014. Donna F. Stroup/Jesse A. Berlin/Sally C. Morton/Ingram Olkin/David Williamson/Drummond Rennie/David Moher/Betsy J. Becker/Theresa Ann Sipe/Stephen B. Thacker: Meta-analysis of Observational Studies in Epidemiology. A Proposal for Reporting. Fort he Meta-analysis Of Observational Studies in Epidemiology (MOOSE) Group. JAMA, 15/283, 2000, 2008–2012. Peter J. Uhlhaas/Frederic Roux/Wolf Singer/Corinna Haenschel/Ruxandra Sireteanu/Eugenio Rodriguez: The development of neural synchrony reflects late maturation and restructuring of functional networks in humans. PNAS, 24/106, 2009, 9866–9871. www.pnas.org/cgi/ doi/10.1073/pnas.0900390106 (Zugriff am 13.10.2022). Kavita Vedhara: Mind-body Connections. Psychoneuroimmunology (PNI). Vortrag auf der 21. HPHKonferenz. Göteborg, 22.–24.05.05.2013. https://www.youtube.com/watch?v=wwpZUGBDgeQ (Zugriff am 13.10 2022). Everett L. Worthington Jr./Charlotte van Oyen Witvliet/Andrea J. Lerner/Michael Scherer: Forgiveness in health research and medical practice. Explore, 3/1, 2005, 169–176.

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Ob die Welt früher wirklich homogener war als heute? Vieles spricht dafür, dass Komplexität und Vielfalt unterschiedlicher Lebenswelten zunehmen. Und dass die Selbstverständlichkeit, mit der wir oft davon ausgehen, auf der gleichen Wellenlänge mit anderen zu sein, nicht die Wirklichkeit abbildet. Um in einer komplexen Praxis gute Wege zu finden, braucht es eine Theorie, die diese Praxis abbildet. Damit wir uns verstehen, ist es hilfreich, die verschiedenen Perspektiven nachvollziehen und übernehmen zu können.

Kommunikation mit und zwischen unter­ schiedlichen Mindsets als Herausforderung für Seelsorge und Beratung Heinzpeter Hempelmann

1 Zur Einführung: notwendige Vorüberlegungen a) Die Normalitätsunterstellung Eine ebenso unumgängliche wie schwierige Voraussetzung im Umgang mit anderen Menschen ist die doppelte Unterstellung: (1) Ich bin in meinem Denken, Empfinden, Reden und Handeln »normal«. Würde ich mich sonst nicht um eine Änderung bemühen? (2) Die andere, der ich begegne, tickt im Grundsatz ähnlich wie ich. Würde ich mich sonst überhaupt auf eine Kommunikation mit ihr einlassen? Die beiden Unterstellungen sind – zunächst – notwendig, weil wir ja instinktiv von etwas ausgehen müssen, wenn wir in eine Begegnung mit anderen eintreten. Sie können aber die gelingende Kommunikation gefährden, wenn wir bei ihnen bleiben. Die Infragestellung der Voraussetzung (2) ist gängige Praxis und Konsens eines hermeneutisch eingestellten Kommunikationskonzeptes. Wir müssen den anderen freigeben; wir müssen bereit sein, unser Bild von ihm zu differenzieren und zu verändern, um ihm gerecht zu werden. Wie aber steht es um die Voraussetzung (1)? Wie gerechtfertigt ist die Normalitätsunterstellung – für uns? Sind wir es nicht, zu denen die anderen kommen, um von uns Hilfe zu erhalten? Ist es da nicht angemessen und legitim, zu unterstellen, dass wir in der Weise, wie wir ticken, richtig liegen? 180

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Wenn die andere nicht zurechtkommt, müssen wir ihr dann nicht aus ihrer Denke heraushelfen? Wenn sie mit ihrem gegebenen oder fehlenden Lebenskonzept zu scheitern droht, käme es dann nicht darauf an, dass wir ihr helfen, so zu denken und zu empfinden, wie wir es tun? Moderne Konzepte von Beratung und Seelsorge wissen um die Gefahren, die auch hier lauern. Sie beanspruchen darum, dem Klienten und der Ratsuchenden nicht eine »fremde« Lösung aufzuoktroyieren, sie wollen, dass sie diese selbst finden. Das Verhältnis wird emanzipativ, hierarchiefrei und auf Augenhöhe gedacht. Das Gegenüber, das mich aufsucht, wird als Subjekt konzipiert. Die Selbstverständlichkeit, mit der dies geschieht, offenbart nun aber noch einmal eine andere, tiefere Ebene der vollzogenen Normalitätsunterstellung. Wie passt das, was wir hier als Rahmen der seelsorgerlichen oder beratenden Tätigkeit unterstellen, zu der Grundorientierung, die der Mensch mitbringt, der von mir etwas erwartet? Es geht um die transzendentale Dimension der Beratung: um die Bedingungen der Möglichkeit von Beratung. Es geht um die Frage, inwieweit hier nicht nur etwas möglich und eröffnet wird, sondern umgekehrt auch etwas verschlossen wird. Inwieweit erschließen und verschließen Konzepte von Beratung den Zugang zu anderen Menschen? Diese Frage soll im Folgenden aus der Per­ spektive der Mindset-Theorie (MSTh) erörtert werden. Wir vergegenwärtigen uns drei grundverschiedene Basismentalitäten und werden so erst in den Stand gesetzt, Ansatz und Anliegen von Beratung und Seelsorge als etwas Spezifisches, nicht Normales zu identifizieren. b) Die Grundunterscheidungen der Mindset-Theorie Methodologisch ist klar: Je ausdifferenzierter ein Kategoriensystem ist, umso mehr Distinktionen zur Verfügung stehen, desto besser kann man unterscheiden, desto unübersichtlicher wird aber im Endeffekt auch das Bild. Und umgekehrt: Je geringer die Zahl der Kategorien ist, desto übersichtlicher wird das Bild, desto weniger werden wir aber dann auch den Einzelnen gerecht. Wir wählen hier zu Demonstrationszwecken eine sehr einfache Typologie, die mit drei Kategorien auskommt. Die MSTh unterscheidet prämoderntraditionsorientierte, modern-kritische und postmodern-pluralistische Grundorientierungen. Das ist sehr grob, ermöglicht aber eine erste Verdeutlichung der Unterschiede im Fundamentalen. Zugleich ist diese Trias anschlussfähig z. B. für das SINUS-Milieumodell und seine Unterscheidung seiner Lebenswelten, weil die drei Typen von Mindsets den drei Säulen der »Kartoffelgrafik« des SINUS-Milieu-Modells, wie sie auf der horizontalen Achse eingezeichnet Kommunikation mit und zwischen unter­schiedlichen Mindsets

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sind, entspricht. SINUS spricht von Tradition, Modernisierung und Neuorientierung.1 c) Prämodern, postmodern, modern: nicht Epochen, sondern Mindsets Für das Verständnis der MSTh ist es fundamental, die Kategorisierungen prämodern-traditionsorientiert, modern-kritisch und postmodern-pluralistisch nicht im Sinne der Bezeichnung von Epochen zu verstehen, sondern als Kennzeichnungen von Grundorientierungen. Diese haben sich nicht etwa abgelöst, sondern bestehen nebeneinander. Die in der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts zu findende Überzeugung, eine Post-Moderne werde die Moderne ablösen, genauso wie Neuzeit und Moderne das dunkle prämoderne Mittelalter abgelöst hätten, lässt sich philosophie-, geistes- und kulturgeschichtlich nicht halten. Genauere Analysen zeigen, dass diese sehr groben Versuche einer Orientierung übersehen, dass wir heute nach wie vor prämodern-traditionsorientierte Strömungen in unserer Gesellschaft finden, zum Teil noch sehr wirksame, und dass die Überzeugung, diese seien überwunden, genauso falsch ist wie die eine Zeit lang vertretene These, die Moderne sei an ihr Ende gekommen. Wenn man unsere Gesellschaft soziokulturell angemessen beschreiben will, gewinnt man am meisten Erklärungskraft2, wenn man davon ausgeht, dass es in ihr sowohl prämodern-traditionsorientierte wie modern-kritische wie postmodern-pluralistische Kräfte und Populationen gibt. Unter dem Dach einer inzwischen sehr unübersichtlichen, postsäkularen Gesellschaft treffen drei Mindsets aufeinander, die nicht nur einfach nebeneinander bestehen, wie die senkrechten Striche in der Grafik suggerieren, sondern in einem dynamischen Verhältnis zueinander stehen: das heißt, um gesellschaftlichen Einfluss ringen und sich dabei zu verdrängen suchen.

1

Siehe Sinus-Milieus in Deutschland 2021: https://www.sinus-institut.de/media-center/presse/ sinus-milieus-2021 (Zugriff am 30.09.2022). 2 Das SINUS-Milieu-Modell hilft, diese Trias noch einmal auszudifferenzieren, indem für die verschiedenen Grundorientierungen noch einmal die Haltungen in verschiedenen Schichten (Y-Achse) unterschieden werden.

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Abb. 1: Mindsets in pluralen Gesellschaften (eigene Darstellung)

d) Die mentale Segmentierung unserer Gesellschaft und das sich ergebende Konfliktpotenzial Die angesprochenen Mindsets stellen ganzheitliche, das Denken, Empfinden, Reden und Handeln von Menschen leitende Einstellungszusammenhänge dar. Sie sind keine primär kognitiven Größen, sondern eine Person in ihrem Verhalten intuitiv leitende Orientierungen. Sie verbinden einen Menschen mit anderen, die sie teilen. Sie haben stützende und stabilisierende, abgrenzende und so identitätgebende Wirkung. Moderne wollen nicht zu den »Gestrigen« gehören, Diversitäts- und Pluralitätsorientierte wehren sich gegen die einengenden Vorgaben, die eine rationalitätsorientierte Moderne einer ganzen Gesellschaft machen will. Traditionsorientierte sehen dagegen ihre kulturelle Aufgabe darin, einem Verfall von Sitten und einem Verlust identitätgebender Tradition entgegenzuwirken. Beides nehmen sie in einem postmodernen Mindset wahr, dessen Auflösungserscheinungen durch die alles zersetzende, respektlose Kritik in Aufklärung und Moderne vorbereitet wurde. Kommunikation mit und zwischen unter­schiedlichen Mindsets

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Die in unserer Gesellschaft spürbaren unterschiedlichen Grundorien­tie­ rungen wirken auf die Einzelnen verunsichernd und führen dazu, dass diese sich Lebenswelten anschließen, in denen sie auf Menschen treffen, die ticken wie sie, die sie darum vergewissern und stabilisieren können. Gleich und Gleich gesellt sich gern.3 Das gilt umso mehr für eine Gesellschaft, in der ich durch die »alternative« Lebensweise anderer unmittelbar in der Geltung meiner Überzeugungen herausgefordert werde. Die in sich geschlossenen Kommunikationsräume, Echokammern, bubbles, sind die viel beschriebenen Ergebnisse. Paradoxes Resultat der mentalen Zerspaltung der Gesellschaft ist, dass auch Tradition zur Option wird, Retro zum Trend werden kann, das Herkömmliche eben nicht mehr das ist, was als solches Geltung und Bestand hat. Mindsets haben eine große soziale Bedeutung: Sie verbinden also ebenso sehr mit anderen Menschen, wie sie mich von anderen trennen. Sie haben ebenfalls eine hohe anthropologische Bedeutung: Die Einbettung in das Eigene stabilisiert ebenso sehr, wie die Begegnung mit anderen verunsichert. Das erklärt die hohe emotionale Bedeutung der Mindsets: Eine instinktive Ablehnung und Distanzierung sind die Folge. Die ist mikrogeografisch fassbar in räumlichen Verdichtungen von Menschen mit ähnlichen Lebensstilen, die sich ebenso zusammenfinden, wie sie sich von anderen distanzieren. Sie ist im Regelfall nur mental in Expressionen von Ekel und Abwehr gegenüber denen greifbar, die so ganz anders leben, wenn man das überhaupt Leben nennen kann. Räumliche und mentale Distanzierungen helfen dabei, mir das vom Leibe zu halten, was sonst bei mir und anderen zu Aggressionen führen und Konflikte auslösen könnte. Schon die Versuche, mit der faktisch bestehenden Pluralität von Einstellungen und Lebensstile umzugehen, führt in den verschiedenen Mindsets zu völlig unterschiedlichen Bewältigungsstrategien. Es leuchtet sofort ein, dass die von dem einen Mindset propagierte Forderung und Förderung von Diversität und Pluralität von anderen als ärgerlich und problematisch, ja als Infragestellung der eigenen Identität empfunden werden muss. Die Forderung nach Diversität stellt ja die normative Kraft der alle verbindenden Tradition infrage, mehr noch: Sie führt zu der Frage, ob eine solche Position ohne Selbstwidersprüche formulierbar ist. So soll ja alles bestehen können, nur keine Tradition, die sich als allgemein normativ versteht und sich damit zufrieden geben kann, nur eine Option zu sein. Die Intoleranz eines konservativ-traditionsorientierten Mind3 Die Milieutheorie beschreibt diese Lebenswelten, indem sie die Grundorientierungen noch einmal auf die Schichtzugehörigkeit bezieht. Für unseren Zusammenhang reicht es, sich die mentale Segmentierung und Fragmentierung unserer Gesellschaft zu vergegenwärtigen.

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sets findet hier schnell ein postmodern-pluralistisches Pendant, das ja dazu auffordert, nicht nur stehen zu lassen, sondern zu akzeptieren, was den eigenen Überzeugungen widerspricht. e) Mindset-Theorie: nicht normativer, sondern allein deskriptiver Anspruch Es wäre ein Missverständnis, die MSTh selbst als postmoderne Position im Sinne der Forderung eines Pluralismus der Anerkennung aller gegebenen Grundorientierungen zu verstehen.4 Die MSTh selbst hat als wissenschaftliche Theorie keinen normativen, sondern allein einen deskriptiven Anspruch. Sie will beschreiben, was ist. Welche Konsequenzen daraus zu ziehen und abzuleiten sind, steht auf einem anderen Blatt. Sie will deutlich machen, wie sehr unsere Gesellschaft durch tiefgehende mentale Gräben bestimmt ist und dass es eine Vielzahl von nicht zu vereinenden Positionen und in Spannung zueinander stehenden Lebensentwürfen gibt (SUVs als »Panzer«, die die Mitmenschen gefährden oder gar töten, oder als Merkmal einer liberalen Gesellschaft, in der ich Lebensfreude und Wohlstand manifestieren darf). Ob diese Vielfalt gut ist, welche Mindsets zu verurteilen oder zu favorisieren sind – das zu beurteilen, liegt jenseits ihrer deskriptiven Kompetenz. f) Mindsets als inkommensurable Größen Es gibt einen wissenschaftstheoretischen Sachverhalt, der von allergrößter praktischer Bedeutung ist. Die drei Mindsets sind inkommensurabel. Sie sind nicht ineinander überführbar oder von einem vierten Standpunkt aus zu bewerten.5 Das wäre anders, wenn ein Mindset aus dem anderen hervorgegangen wäre und so als Veränderung, Verbesserung etc. des vorangehenden verstanden werden könnte. Das eine würde auf dem anderen aufbauen, dabei seine Voraussetzungen teilen und so einen systeminternen Vergleich und entsprechende Urteile erlauben. Es könnte dann etwa als Fortschritt, 4

Vgl. Harald Seubert: Wahrheit in Zeiten der Postmoderne. Replik auf Heinzpeter Hempelmann. Theologische Beiträge, 1/49, 2018, 36–44; Heinzpeter Hempelmann: Wahrheit in Zeiten von Moderne, Prämoderne und Postmoderne. Versuch eines Brückenschlags. Theologische Beiträge, 1/49, 2018a, 45–59. 5 Zur weiteren Begründung vgl. den zweiten Teil meiner Einführung in die MSTh: Heinzpeter Hempelmann: Prämodern, Modern, Postmodern. Warum »ticken« Menschen so unterschiedlich? Basismentalitäten und ihre Bedeutung für Mission, Gemeindearbeit und Kirchenleitung. Neukirchen-Vluyn 2013.

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also als etwas Überlegenes qualifiziert werden. Genau diese Denkweise liegt zugrunde, wenn wir Prämoderne, Moderne und Postmoderne als Epochen verstehen, die logisch auseinander hervorgehen. Gegenüber dieser diachronischen Betrachtungsweise hat die MSTh einen synchronen Blick; gegenüber dem rationalen Schema, das einen Standpunkt voraussetzt, von dem aus alles überschaubar und einordbar ist, setzt sie voraus, dass es einen solchen god’s point of view nicht gibt. Urteile über das jeweils andere Mindset sind zwar möglich und werden auch vielfältig gefällt. Sie gehen aber immer von den eigenen Voraussetzungen aus, sind darum nur für die schlüssig, die diese Voraussetzungen teilen. Den Kritisierten leuchten sie nicht ein, weil diese von einem anderen Set von Voraussetzungen ausgehen. Dass Wandel, Veränderung, Fortschritt erstrebenswert sind, bedeutet für ein modernes Mindset, dass die Traditionsorientierung oder gar -verhaftung des traditionsorientierten Mindsets negativ zu werten ist. Hier hängt man dann an alten Zöpfen, ist unfähig zu Veränderung, erlebt keinen Fortschritt, verharrt in Vorurteilen etc. So werden aber vor allem Fortschrittsgewinnler urteilen, die es meistens gibt. Und so werden eher Menschen urteilen, die durch das Risiko des Wandels noch nicht so viel zu verlieren haben. So werden optimistische Menschen urteilen, vielleicht auch solche, denen es so schlecht geht, dass jede Veränderung nur Besserung bedeuten kann. Das prämodern-traditionsorientierte Mindset wird dem gegenüber ganz anders werten und von anderen Voraussetzungen ausgehen, die erfahrungsbasiert sind und eine eigene Logik mit sich bringen. Diese Welt ist ein gefährlicher Ort. Viele Erfahrungen zeigen, dass Veränderungen zur Verschlechterung der Lage führen oder gar die eigene Existenz bedrohen können. Da wir nicht wissen können, wie sich Veränderung auswirkt, spricht sehr viel dafür, dass wir bei dem bleiben, was ist; dass wir uns nicht auf unsichere Zustände einlassen, sondern von dem ausgehen, was sich bereits bewährt hat, über lange Zeit, und was uns bisher auch bewahrt hat. Kulturkritische Beispiele, die umgekehrt den modernen Fortschritt angreifen und infrage stellen, ließen sich in Menge anführen: vom auto-mobilen Individualverkehr, der erheblich zur Klimakrise beiträgt, oder der hygienischen und praktischen Plastikprodukte, die eine gigantische Verschwendung von wertvollem Rohstoff darstellen. Abstrakt formuliert: Jedes Mindset geht von anderen Voraussetzungen aus. Diese haben axiomatischen Charakter, das heißt, sie sind nicht weiter begründbar und beruhen auf einer Wahl. Für sie kann man nicht argumentieren, wenn argumentieren bedeutet, auf Gründe zu rekurrieren, die für alle – mindsetunabhängig – gültig und einsichtig sind. 186

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Das hat Konsequenzen. Wenn ich als Moderner gegen Traditionsorientierung argumentiere, wird das meine Gesinnungsgenossen überzeugen, womöglich begeistern, aber Angehörige des prämodern-traditionsorientierten Mindsets nicht ansprechen – und umgekehrt. Logisch gesehen handelt es sich um eine klassische Form eines Zirkelschlusses, kommunikativ um einen Teufelskreis, in dem ich mich und die meinen vergewissere, vielleicht sogar immer überzeugter von der eigenen Position werde, die, die ich ansprechen will, aber gerade nicht erreiche. Bewege ich mich vorwiegend in der eigenen bubble, werde ich immer weniger verstehen, warum die andere denn meinen so guten Argumenten nicht folgt. Schließlich bin ich geneigt – es kann ja eigentlich gar nicht anders sein, so gut sind meine Argumente, so sehr leuchtet mir und uns das ja ein, was wir vertreten –, dass sich der andere aus bösem Willen verweigert. Da diese Reaktionsmuster oft wechselseitig oder gar in allen Mindsets anzutreffen sind, sind Konflikte geradezu vorprogrammiert, inklusive der entsprechenden emotionalen Aufladung, die sich auch gewaltsam, rhetorisch oder physikalisch Ausdruck verschaffen kann. Ein Beispiel: die in westlichen Gesellschaften oft beklagte Wahlmüdigkeit, Wahlzurückhaltung inklusive steigender Nichtwähleranteile führen vonseiten politischer Verantwortungsträger in Vorwahlzeiten regelmäßig zur Appellen, die eigene individuelle Verantwortung für die Mitwirkung an einer demokratischen Gesellschaft doch wahrzunehmen und wählen zu gehen. Die, an die sich diese Appelle de facto wenden, Menschen, die den konsum-hedonistischen oder prekären Lebenswelten zugeordnet werden können, werden aber durch solche Aufrufe nicht erreicht.6 Sie teilen die (modernen) Voraussetzungen dieser Appelle nicht. Entweder ist die in ihren eigenen schweren Lebensverhältnissen sichtbare und erfahrbare Desolidarisierung der Gesellschaft Grund dafür, in eine Totalopposition zu einer Gesellschaft zu gehen, die sie offenbar abgeschrieben hat, an die sie nicht mehr glauben können und die in Zeiten von Wahlen dann bitteschön auch nicht um ihre Stimmen nachsuchen soll. Oder eine antikonventionelle Haltung lässt sie in Formen von Gegengesellschaften (subkulturellen Gegenwelten, »Szenen«) leben, die sich lange von der »Gesellschaft« abgekoppelt haben und mit ihr gerade so wenig wie möglich zu tun haben möchten. Eine auf staatsbürgerliche Partizipation, gesamtgesellschaftliche Solidarität und demokratische Verantwortung abhebende Argumentation läuft hier ins Leere, weil sie auf soziokulturelle Prägungen trifft, die sie abperlen lässt wie Wasser an einer 6 Vgl. Robert Vehrkamp/Klaudia Wegschaider: Populäre Wahlen. Mobilisierung und Gegenmobilisierung der sozialen Milieus bei der Bundestagswahl 2017. Gütersloh 2017. https://www. bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/ZD_Populaere_ Wahlen_Bundestagswahl_2017_01.pdf (Zugriff am 13.10.2022).

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Gummiwand. Die moralisch empörte Reaktion modern orientierter politischer Eliten hilft auch nicht weiter, sondern trägt zu weiterer Ausgrenzung und Entfremdung bei. Auf ähnliche Kommunikationssackgassen treffen wir, wenn es um die Ausgrenzung von antidemokratisch gesinnten AfD-Wählerinnen geht Prozent, oder um unsolidarische, »querdenkende« und verschwörungsgläubige offene Impfverweigerer. Aus Sicht der MSTh sind das kommunikative Kata­ strophen, weil sie nicht zur Verständigung beitragen, sondern eher dazu, die Gräben zu vertiefen. Wer die Inkommensurabilität der Mindsets einsieht und damit die begrenzte Reichweite seiner eigenen plattformbezogenen Argumentation, wird sich um effektivere Formen der Kommunikation bemühen und etwa versuchen, nicht nur zu argumentieren, sondern andere Menschen auch anders zu erreichen. g) Das moderne Beratungskonzept und seine Rollenzuweisungen Die MSTh wirft noch einmal ein ganz anderes Licht auf die therapeutisch und psychologisch oft verhandelte Frage: Wer bin ich eigentlich im Prozess der Beratung (und Seelsorge)? Inwieweit fördere ich als beratende Person diesen Prozess? Inwieweit stehe ich seinem Gelingen durch meine Person, meine Prägung, meine Voraussetzungen im Wege? Die MSTh macht mehr als deutlich, dass ich als – moderne – Beraterin Positionen vertrete (s. Abschnitt 3), die sich für mein prä- oder postmodernes Gegenüber alles andere als von selbst verstehen. Das beginnt mit der Rolle, die ich als Beraterin meinem Klienten zuweise: als für sich selbst verantwortliches, zu kritischer Reflexion, zu Artikulation und Veränderung fähiges Subjekt, das mir auf Augenhöhe begegnet. Wie sehr setzen wir auf Argumentation, kritische Reflexion und Analyse, auf verbale Kommunikation, auf die Fähigkeit, sich artikulieren, »ausdrücken« zu können? Wie groß ist das Unbehagen, die Ungeduld, der unterdrückte Ärger über alle, die das nicht können oder schlicht nicht wollen? In spezieller Weise fordern die bei der Beraterin wie beim Klienten vorhandenen Distinktionsgrenzen und mentalen Ekelgrenzen heraus. Sie stellen die Kehrseite der vorhandenen, oft gar nicht bewussten Selbstverständlichkeiten dar, die uns tragen. Sie sind die Abwehrreaktion auf das, was uns fundamental infrage stellt und was uns Identität gibt, weil es uns sagt, was und wer wir mit Sicherheit nicht sein wollen, etwa Fundamentalist oder Hedonist.

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h) Das moderne Beratungskonzept und die Evidenz prämoderntraditionsorientierter und postmodern-pluralistischer Mindsets Alle drei Mindsets sind in sich geschlossene, evidente und – geht man von ihren Voraussetzungen aus und lässt sich auf sie ein – überzeugende Grundorientierungen. Das gilt nicht nur für das moderne Mindset, sondern provozierenderweise auch für das prämodern-traditionsorientiert-konservative wie für das postmodern-pluralistische. Für Berater bedeutet das zunächst eine Einsicht, dann stellt es vor eine Frage. Die Einsicht: Moderne Beratungs- und Seelsorgekonzepte verdanken sich wesentlich einem modernen Mindset. Die anschließende Frage: Wie weit ist dann ihre Reichweite? Inwieweit ist es sinnvoll und legitim, ein Konzept, das sich einem spezifisch modernen Standpunkt verdankt, das aus den Traditionen der Aufklärung erwachsen ist und eine spezifisch moderne Anthropologie zur Basis hat, zum Rahmen einer Begegnung mit Menschen zu machen, die ganz anders ticken und entweder reflektiert oder intuitiv diese Voraussetzungen ablehnen? Sei es, dass sie einen Horizont voraussetzen und in ihm leben, der sich kritisch-rationaler Reflexion mindestens teilweise entzieht, sei es, dass sie umgekehrt jeden allgemeinen, überindividuellen Horizont und universale normative Zumutungen abwehren? i) Salvatorische Klauseln Da es in diesem Beitrag vor allem um die praktische Dimension der MSTh geht, ist es nur begrenzt möglich, methodologische und methodische Fragen zu behandeln. Für diese verweise ich auf bereits vorhandene Veröffentlichungen.7 Grundsätzlich kann das sehr grobe Raster nur eine Grundorientierung liefern. Für weitere Differenzierungen verweise ich auf die Lebensweltperspektive mit ihren viel weitergehenden Differenzierungsmöglichkeiten.8 Die theoretische, idealtypische Unterscheidbarkeit der drei Mindsets bedeutet nicht, dass sich diese in Reinkultur exklusiv bei einer Person finden. Ein Katalog von umfangreichen Gesichtspunkten9 bietet die Möglichkeit, sich zu verorten und jeweils die Einstellung zu markieren, die einem am nächsten liegt. Die Mindset-­ Analyse zeigt dann, dass es im Regelfall zwar einen Mindset-Schwerpunkt gibt, 7 Vgl. neben Hempelmann 2013, Heinzpeter Hempelmann: Ist das Evangelium konservativ – und die Postmoderne unchristlich? Klärungen aus der Sicht der Mindset-Theorie. Theologische Beiträge, 1/49, 2018b, 17–35. 8 Vgl. Heinzpeter Hempelmann/Berthold Bodo Flaig: Aufbruch in die Lebenswelten. Die zehn Sinus-Milieus als Zielgruppen kirchlichen Handelns. Wiesbaden 2019. 9 Vgl. meine Homepage www.heinzpeter-hempelmann.de.

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durchaus aber auch Elemente mindestens eines weiteren Mindsets. Die logische Inkommensurabilität schließt nicht aus, dass sich im »Denken« einer Person nicht auch sehr spannungsreiche Positionen nebeneinander finden lassen. Auch wenn wir Entwicklungen in der Reifung durchmachen, wird es vielfach so sein, dass wir an bestimmten Einstellungen und Überzeugungen hängen, die zwar nicht kohärent mit unserer heutigen Haltung sind, die aber für unser Empfinden wichtig sind, etwa weil sie uns einmal Sicherheit und Geborgenheit gegeben haben. Die resultierenden Spannungen und Ungleichzeitigkeiten können für Beratung und Seelsorge von großer Bedeutung sein. Wir leben in Übergängen. Diese lassen sich gerade durch eine Mindset-­Analyse gut dia­ gnostizieren.

2 Wie blicken die verschiedenen Mindsets auf Wahrheit, Toleranz, Wandel, Gott und Glaube? Um die MSTh zu plausibilisieren und gleichzeitig an beratungsrelevanten Sachverhalten zu exemplifizieren, stelle ich tabellarisch vor, wie sich aus dem jeweiligen Mindset Wahrheit, Toleranz, Wandel/Veränderung und – als religiös relevante Konzepte – Glaube und Gott darstellen. Es ist einleuchtend, dass es sich hier nur um Skizzen handeln kann, die illustrieren sollen, was gemeint ist. a) Wahrheit10 Selbstverständlich sind die Beschreibungen standortbezogen und mindsetbestimmt, bei allem Bemühen, möglichst wertfrei zu formulieren. Schon der Versuch, nicht zu urteilen, versteht sich ja nicht von selbst. Ist es nicht wichtig, »Dinge auch beim Namen zu nennen« und zu kennzeichnen, was verwerflich ist? Die wissenschaftstheoretisch gebotene Trennung zwischen Erhebung, Interpretation und Wertung ist spezifisch modern und alles andere als selbstverständlich. Die Charakterisierung von Vor- und Nachteilen verdankt sich natürlich erst recht der Fundierung durch ein modernes Mindset, das die Kriterien vorgibt.

10 Vgl. zum Folgenden: Heinzpeter Hempelmann: Faktisch, postfaktisch, postmodern? Kommunikation von Wahrheit(sansprüchen) in pluralistischen Gesellschaften als Problem und Herausforderung. Theologische Beiträge, 1/48, 2017, 6–23.

190

Heinzpeter Hempelmann

Perspektive

Prämodern-traditionsorientiertes Mindset

Modern-kritisches Mindset

Postmodern-pluralistisches Mindset

Zentraler Fokus auf

Traditionsorientierung

(Kritische) Rationalität

Pluralität, programmatischer Pluralismus

Epistemologischer Kern: Wahrheitskonzepte

Ȥ Es gibt nur eine Wahrheit Ȥ Es ist klar, was die Wahrheit ist Ȥ Um sie kann man nicht streiten Ȥ Man kann nur für sie kämpfen

Ȥ Es gibt zwar nur eine Wahrheit Ȥ Es ist aber überhaupt nicht evident, was wahr ist, was Irrtum ist Ȥ Wir kennen die Wahrheit nicht Ȥ Wir müssen um die Wahrheit ringen Ȥ Formulierbar sind nur Wahrheitsansprüche

Ȥ Es gibt Wahrheit Ȥ Aber es gibt nicht nur eine, es gibt viele Ȥ Jedes Individuum hat als Subjekt das Recht auf seine individuelle Wahrheit Ȥ Jedes Individuum ist sich seine Wahrheit Ȥ Ein Ringen um die Wahrheit ist unnötig und verwerflich

Wahrheitsquelle/ Medium der Erkenntnis der Wahrheit

Tradition, Autorität (für die Gemeinschaft)

Rationalität, ggf. gegen alle Autorität, gegen alle Gemeinschaft

Individuelle Erfahrung, individuelle Option

Sozialität

Wahrheit verbindet: kollektiv (»Wahrheitsmeer«: wir alle sind eins)

Wahrheit scheidet: disjunktiv (»Wahrheitsufer«: wir hier, die dort drüben)

Wahrheit authentifiziert: isoliert (»Wahrheitsinsel«: ICH lebe meine eigene, individuelle Wahrheit)

Erkenntnisrichtung

Ȥ Top-down Ȥ Gefälle Ȥ autoritativ, autoritär Ȥ Wahrheit ergeht im Monolog der Autorität

Ȥ auf Augenhöhe Ȥ im Gegenüber Ȥ Diskurs Ȥ Wahrheit wird gefunden im Dialog

Ȥ solipsistisch Ȥ insular Ȥ Austausch, optional Ȥ absolut gültige individuelle Wahrheiten im Polylog

Konstruktionsprinzip

Ȥ metaphysisch: Wahrheit bildet ewige, unveränderliche Ordnung ab Ȥ essenzialistisch: durch Wesensschau, phänomenologische Analyse oder religiöse Offenbarung das Wesen einer Sache erkennen Ȥ traditionsorientiert (Übereinstimmung mit dem urspr. Wahren)

Ȥ rationalitätsorientiert: durch Kritik der Wahrheit näher kommen Ȥ faktenbasiert (empirisch), kritisch und überholbar Ȥ Konsens der Vernünftigen als Kriterium für das, was als Wahrheit gelten soll

Ȥ individuell geschaffen und gewählt Ȥ wechselnd und flexibel Ȥ individuelle Passung

Wahrheitsartikulation

kollektiv (»Bekenntnisse«)

intersubjektiv (»objektiv«)

subjektiv

Vorteile

Ȥ offenbare Wahrheit Ȥ sichere, fraglose Orientierung Ȥ Entlastung Ȥ keine Interpretation (nötig) Ȥ Verbundenheit der die Wahrheit Sehenden (Gemeinschaftsaspekt)

Ȥ kein Ansehen der Person Ȥ Rationalität als Kriterium Ȥ allgemeine Verbindlichkeit der Erkenntnis Ȥ Es sterben Positionen, nicht Personen

Ȥ Erkennen nur in Relation zum Erkannten, d. h. konkret, nicht abstrakt; relevant Ȥ Engagement, Betroffenheit durch persönliche Wahrheit Ȥ Parteilichkeit der Wahrheit Ȥ keine Konflikte, weil kein Ringen um die Wahrheit

Nachteile

Ȥ Exklusion der Nicht-Gläubigen/-Sehenden Ȥ Exklusivität und Distinktion Ȥ Intoleranz Ȥ Bestreitung von Interpretation Ȥ Beanspruchung eines »Gottesstandpunktes«

Ȥ Kälte, Unberührtheit Ȥ Ausblendung der sozialen Dimension Ȥ Unsicherheit: keine Erkenntnis der Wahrheit Ȥ die Vernunft als Popanz Ȥ Generierung von Konflikten

Ȥ keine Bildung von Konsens Ȥ Wahrheit vereinzelt Ȥ keine allgemein(verbindlich)e Wahrheit Ȥ fehlende Kommunikabilität Ȥ Hypostase des Individuums als Subjekt (»Gott«)

Gesellschaftliche »Biotope«

Ȥ Kameradschaften Ȥ Traditionsvereine Ȥ katholisches Milieu und konservative Evangelikale und Muslime Ȥ Teile von Migrantengruppen

Ȥ Bildungseinrichtungen (Schule, Hochschule) Ȥ Wissenschaft Ȥ Jurisprudenz

Ȥ Design Ȥ Kunst Ȥ hedonistische Gegenwelten

Kritische Außenperspektive als …

»Fundamentalisten« Erzkonservative, Traditionalisten, Unbewegliche, Verhinderer von Fortschritt

»Kritizisten«, »Skeptikerinnen«, Menschen ohne Fundament; denen nichts heilig ist; die meinen, sie könnten alles analysieren; Rationalisten, die die Vernunft anbeten

»Relativisten«, die ein anything goes vertreten und leben; die das Individuum verabsolutieren, keine Verbindlichkeit kennen und keine Gemeinschaft bilden können

Kommunikation mit und zwischen unter­schiedlichen Mindsets

191

b) Toleranz Gesichtspunkte

Prämodern-traditionsorientiertes Mindset

Modern-kritisches Mindset

Postmodern-pluralistisches Mindset

Haltung zu Toleranz

Keine Toleranz, wenn es um die Wahrheit geht

Toleranz ist nötig

Toleranz ist selbstverständlich

Gründe

Toleranz ist gefährlich, weil sie die Gewissheit der Wahrheit verdunkelt; weil sie Menschen verunsichert; weil sie einer Gemeinschaft die Grundlage nimmt; weil man Gott/der Offenbarung/ der Vernunft nicht zuwiderhandeln soll

Wir wissen nicht genug, um absolut richtige Orientierungen vertreten zu können; wir können Irrtümer und Fehler nicht ausschließen und müssen darauf verzichten, absolute Ordnungen durchzusetzen;

Toleranz ist das einzig Vernünftige angesichts der Vielzahl der Orientierungen, der Vielfalt der Lebensstile, der Begrenztheit unserer Einsichten und der furchtbaren Opfer, die Intoleranz gefordert hat

Unbedingte Vorordnung der Wahrheit vor der Toleranz: Es ist um der Sache und um der Menschen willen unverantwortlich, die – absolute, offenbare – Wahrheit nicht mit allen Mitteln durchsetzen zu wollen. Toleranz gegenüber der Unwahrheit kann es eigentlich nicht geben

Toleranz heißt, die Wahrheitsansprüche anderer stehen zu lassen und die Personen zu schützen, die abweichende Meinungen vertreten (Errungenschaft der Meinungs- und Religionsfreiheit). Sie bedeutet nicht die Akzeptanz im Sinne inhaltlicher Zustimmung

Die Wahrheit kennen wir nicht; angesichts der Vielfalt einander widersprechender individueller (und kollektiver) Wahrheiten bleibt als zentraler Wert für das Zusammenleben nur Toleranz.

Haltung zu Pluralität

Pluralität ist gefährlich; sie verunsichert und behindert den notwendigen Zusammenhalt. Toleranz löst darum den notwendigen Zusammenhalt auf. Pluralität überfordert die meisten Menschen

Pluralität ist nötig, um Einseitigkeiten zu vermeiden und festgefahrene Positionen herauszufordern. Toleranz ist nötig, um den notwendigen Zusammenhalt trotz Unterschieden zu gewährleisten

Nicht Pluralität von Wahrheitsansprüchen, sondern Pluralismus von Wahrheiten. Menschen können nur da zusammenleben, wo sie Pluralität als Programm leben; wo sie so divers sind wie möglich

Normen

gelten absolut; beruhen auf unhinterfragbaren Autoritäten. Deshalb kann es keine Toleranz geben

sind wichtig, gelten aber immer nur vorläufig,

gibt es – im strengen Sinne – nicht: Sie sind Angebote, Momente des Selbst-Designs, die auf Zeit gewählt werden

Identität ist vorgegeben durch Herkommen und Sippe/Familie. Es gibt eine wahre, wesenhafte Identität

Identität ist ein Konstrukt. Sie ist variabel und veränderbar.

Toleranz und Wahrheit

Identität

Identität ist ethischer und normativer Bezugspunkt: Sie sagt mir, wie es eigentlich sein soll. Von ihr – durch Toleranz – abzuweichen, wäre falsch und gefährlich. Es würde sich nicht bewähren

192

Heinzpeter Hempelmann

es ist human, Minderheiten zu schützen

sind immer neu (selbst-)kritisch zu hinterfragen

Identität wird gesellschaftlich hergestellt. Deshalb kann ihrer konkreten Ausgestaltung keine Letztbedeutung zukommen. Das bedeutet wiederum: Toleranz gegenüber anderen, ebenfalls historisch gewachsenen Formen von Identität

Toleranz bedeutet nicht nur Stehenlassen, sondern auch Akzeptanz der fremden Position

Identität ist eine Zumutung, weil sie mich festlegen soll (z. B. homosexuell oder heterosexuell). Sie ist eine autoritäre Vorgabe, die meine Freiheit und Subjektivität einschränkt. Toleranz kann nicht nur eingeräumt werden; sie ist das einzig denkbare Verhältnis unter Gleichen

c) Wandel und Veränderung Gesichtspunkte

Prämodern-traditionsorientiertes Mindset

Modern-kritisches Mindset

Postmodern-pluralistisches Mindset

Einstellung

Das Ewige ist das Gültige (Altersbeweis)

Die Welt ist nicht vollkommen

Wechsel als Norm und als Regelfall; darum die Notwendigkeit von Optionenvielfalt

Wandel ist notwendig

Das Gleichbleibende ist die Norm

Wechsel und Veränderung gehören zur Existenz. Sie sind kein Unglück Bewertung

Wandel daher von vornherein negativ akzentuiert: als Infragestellung des bisher und damit absolut Gültigen

Wandel ist daher von vornherein positiv akzentuiert: als Reform, Reformation und ggf. Revolution

Man erwartet Wechsel (bei Produkten und Partnern)

Wandel ist legitim nur als Variation des einen, im Kern/Wesen/ Prinzip immer Gleichen Soziale Dimension

Wechsel und Veränderung sind wünschenswert und im Grundsatz die Regel

Biografien werden am Ort, vor Ort, in einer Schicht, im Kontext einer Herkunft gelebt und erwartet

Veränderungen werden positiv als »Entwicklung« begriffen und nicht bloß unter dem Gesichtspunkt des Verluste des Vertrauten

Patchworkfamilien erscheinen nicht als defizitär, sondern als selbstverständlich.

Gesichtspunkte

Prämodern-traditionsorientiertes Mindset

Modern-kritisches Mindset

Postmodern-pluralistisches Mindset

Konzept

Gott als Schöpfer und Erhalter des Menschen und der Welt

Die Existenz Gottes lässt sich nicht beweisen oder widerlegen.

Er steht hinter allem und garantiert im Grundsatz eine geordnete Welt.

Gottesvorstellungen sind menschlich und nicht sakrosankt.

»Gott« im Sinne der Möglichkeit letzter, verbindlicher Horizonte »ist tot« (F. Nietzsche).

Familie, »Beruf«, Lebensorte wechseln – natürlich

d) Gott

Das Individuum ist das neue Absolute

In ihr gilt früher oder später der Tun-Ergehen-Zusammenhang Funktion

Glauben an Gott gibt Geborgenheit und Halt

Gott ist zentrale Grenzvorstellung des Menschen, mithilfe derer er sich definiert (Gottesbezug in Verfassung und Ethik)

»Gott« ist willkommen, wo er mir – als spirituelle Kraft – hilft, mein Dasein zu bewältigen

Religion

Religionen sind grundsätzlich gut. Sie geben dem Menschen Halt

Religionen werden oft funktionalisiert. Religionskritik ist nötig

Religionskritik ist unnötig und sinnlos, mag doch jeder/jede glauben, was er/sie will.

Theodizee: Gott und das Leid in der Welt

Leid, Not, Katastrophen sind letztlich Folge von Sünde/Fehlverhalten und Anlass zu Umkehr

Leid und Not – vor allem von Unschuldigen – stellen die Überzeugung eines gerechten und lieben Gottes infrage (Leid als »Fels des Atheismus«, G. Büchner)

Da Gott kein Wirkfaktor ist, wandelt sich Theodizee in Anthropodizee (O. Marquard)

Kommunikation mit und zwischen unter­schiedlichen Mindsets

193

3 Wie stehen die verschiedenen Mindsets zum Konzept Beratung und Seelsorge? Ich komme jetzt zur Pointe dieses Beitrages. Was leistet MSTh nicht nur für bestimmte alltagsrelevante Bereiche und Themen? Inwiefern hilft sie auch im Hinblick auf das Konzept von Beratung und Seelsorge? Vor dem – hier nur ansatzweise entfalteten – Hintergrund11 ist es nun sinnvoll und möglich, Rückschlüsse auf die Haltung zu ziehen, die die verschiedenen Mindsets im Blick auf das Konzept »Beratung« haben. Dies wiederum kann helfen, Angehörige unterschiedlicher Mindsets effektiver zu beraten bzw. ihnen angemessener in der Seelsorge zu begegnen. Gesichtspunkte

Prämodern-traditionsorientiertes Mindset

Modern-kritisches Mindset

Postmodern-pluralistisches Mindset

Voraus­ setzungen

Bestimmend ist ein metaphysisches Weltordnungsdenken. Es geht im Prinzip in der Welt gerecht zu

Aus der Aufklärung herausgewachsenes, emanzipatives und humanistisches Menschenbild

»Das Individuum ist etwas Absolutes« (F. Nietzsche)

Zur natürlichen Ordnung gehören auch Hierarchien

»Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!« (I. Kant) Wage zu denken! Wage zu leben!

Erwartung an das Gegenüber

Man will nicht beraten werden. Man erwartet eine autoritative, weise Weisung durch die Autorität, die man aufgesucht hat

Beratung auf Augenhöhe Selbstbestimmungswillen de Klientin ernst nehmen: Subjekt trifft auf Subjekt

Das Individuum ist solus ipse, sein eigenes Universum Es muss sich selbst finden und erfinden Letztlich kann es niemand verstehen, weil es sein eigener Horizont ist Aversion gegen jede normative Zumutung, auch gegen die eines emanzipativen oder sozial orientierten Menschenbildes Respekt vor dem eigenen Wertehorizont

Spezifische Störungen im Mindset

Ereignisse und Erfahrungen, die das Sicherheit und Geborgenheit gebende Weltordnungskonzept infrage stellen

Einschränkung der Selbstentfaltungs-möglichkeiten Ich komme als Mensch, der selbstbestimmt leben will, nicht mehr zu recht Schon das Aufsuchen von Beratung ist eine Peinlichkeit und zeigt die Störung

Probleme mit mo­ der­nen Bera­tungskon­zep­ten

Ich soll selbst herausfinden, was mein Problem ist. Die Diagnose erwarte ich aber vom Arzt, nicht von mir. Ich bin aber doch nicht kompetent

Ich soll selbst eine Lösung finden, obwohl ich ja die Erfahrung gemacht habe, dass ich das nicht schaffe. Sonst würde ich ja die Beratung nicht aufsuchen

Ich soll selbst herausfinden, was die Lösung und was der Weg ist. Warum suche ich dann eine Autorität auf?

Inwiefern kann die ichzentrierte Anthropologie Basis einer Lösung sein, wenn sie Auslöser des Problems ist?

Werde ich in meiner Hilfsbedürftigkeit ernst und wahrgenommen?

Kann ich die Lösung sein, wenn ICH das Problem ist?

Scheitern der eigenen Wahrheit Um das Recht auf eigene individuelle Wahrheit wissen und spüren, dass sie »falsch« ist; nicht funktioniert

Beratung im Prinzip nicht denkbar Misstrauen gegenüber dem Berater und der Seelsorgerin Letztlich fehlt ihm die Kompetenz. Sie lebt nicht auf meinem Archipel. Er kann mich nicht wirklich verstehen Wird sie versuchen, mir durch die Beratung ihre Werte aufzu­drängen?

Emanzipation und Selbstverwirk­ lichung als mindset-fremde Ziele

11 Vgl. umfassender und mehr Gesichtspunkte behandelnd: Hempelmann 2013.

194

Heinzpeter Hempelmann

Gesichtspunkte

Prämodern-traditionsorientiertes Mindset

Modern-kritisches Mindset

Postmodern-pluralistisches Mindset

Herausforderung für Beratung und Seelsorge

Enttäuschung und Überforderung bei der Klientin vermeiden

Enttäuschung und Überforderung beim Klienten vermeiden

Der Versuchung der vom Klienten erwarteten Dominanz widerstehen

Der Versuchung der von der Klientin erwarteten Dominanz widerstehen

Auf normative Horizonte gänzlich verzichten, auch auf normative Regeln für ein therapeutisches Gespräch, inkl. der üblichen Insze­nierungen einer Beratung

Der Versuchung widerstehen, das emanzipative Menschenbild der Beraterin durchzusetzen

Gefährdung des Klienten durch Überforderung des Subjektes, das so stark und kompetent nicht ist; das manche Situationen nicht einfach ändern kann; dem der Freiheitshorizont zum zusätzlichen Problem zu werden droht

Den mindset-spezifischen Voraussetzungen nicht schon durch die Inszenierung der Begegnung widersprechen

Wunsch nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung aufnehmen

Respekt und Achtung vor dem – gescheiterten – Selbstfindungswillen

Durchdiskutieren der Lebenssituation; die Beraterin/der Seelsorger unterstützt nur und wird nicht zum Vormund

Ins Gespräch kommen:

Lösungs­ ansätze

Für die Beratung bei den Voraussetzungen des Mindsets ansetzen Die zugewiesene Rolle als Autorität nicht zurückweisen, sondern annehmen Durch diese Rolle mindsetspezifische Spielräume für den Klienten erschließen

Ziel ist ein Lebenskonzept, das am Wunsch nach Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung festhält, es andererseits an die gegebenen Lebensverhältnisse und Möglichkeiten anpasst

Teilhabe an den Lebens­ umständen der Klientin

selbst Exempel sein, Geschichten erzählen und so alternative Wahrheiten vorstellen Alternative, anspruchsvolle Rahmung: Beratung als Geschichte von Begegnungen im Leben inszenieren Neue Erfahrungen konkret eröffnen Informelle Begegnungen ermöglichen

4 Konsequenzen für Beratung und Seelsorge Was sind die Konsequenzen für Beratung und Seelsorge? Ich formuliere drei Thesen, die weiterer Reflexion, Diskussion und Ausarbeitung bedürfen. 1. Die heute vertretenen Seelsorge- und Beratungskonzepte besitzen, sofern sie im Sinne der MSTh spezifisch modern sind, nur eine begrenzte Reichweite. 2. Beratung und Seelsorge vollziehen sich am besten kenotisch, indem sie sich auf das Mindset des Klienten einlassen. Die Kenose (Entleerung) bedeutet nicht nur ein Nicht-besser-wissen-Wollen der Beratenden, sondern – fundamentaler – ein Leer-Werden als Bedingung der Teilhabe an der Lebenswelt dessen, der Hilfe sucht, und – noch viel weiter gehend – ein Lernen durch Teilhaben, ja gegebenenfalls Mitleiden.12 Dieses soziokulturelle Teilhaben 12 Vorbild für dieses Konzept von Kommunikation als Voraussetzung auch für Beratung und Seelsorge ist das Kommunikationshandeln des dreieinigen Gottes durch und in der Kondeszendenz seines Sohnes. Zur weiteren Begründung vgl. Heinzpeter Hempelmann: Kenotische Partizipation. Philosophisch begriffene Postmoderne als theologische Herausforderung. In: Martin Reppenhagen/Michael Herbst (Hg.): Kirche in der Postmoderne. Beiträge zu Evange-

Kommunikation mit und zwischen unter­schiedlichen Mindsets

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geschieht mindestens mental, es kann aber, wenn es besonders effektiv sein soll, auch die physisch-soziale Dimension mitumfassen. 3. Beratung und Seelsorge brauchen trading zones 13, also dritte Räume der Begegnung, in denen Verständigung durch gemeinsames Handeln wachsen kann. Beratung und Seelsorge funktionieren angesichts der mentalen Barrieren nur über Teilgeben und Teilnehmen am eigenen wie am fremden Leben: über gemeinsame Erfahrungen, die dann Basis der Kommunikation werden können. 4. Das hat auch Konsequenzen für die Beraterin. Sie steht nicht als beobachtendes und moderierendes Subjekt über dem Prozess. Sie ist selbst Teil des Spiels, nicht nur als Teil der Beratungsbeziehung, sondern als jemand, die sich selbst in einem Mindset bewegt, das wie selbstverständlich ihr Denken, Reden, Handeln und Empfinden leitet.

Literatur Heinzpeter Hempelmann: Kenotische Partizipation. Philosophisch begriffene Postmoderne als theologische Herausforderung. In: Martin Reppenhagen/Michael Herbst (Hg.): Kirche in der Postmoderne. Beiträge zu Evangelisation und Gemeindeentwicklung, Bd. 6. NeukirchenVluyn 2008, 51–86. Heinzpeter Hempelmann: Der Spur des heruntergekommenen Gottes folgen. In: Heinzpeter Hempelmann/Michael Herbst/Markus Weimer (Hg.): Gemeinde 2.0. Frische Formen für die Kirche von heute. Neukirchen-Vluyn 2011, 35–61. Heinzpeter Hempelmann: Prämodern, Modern, Postmodern. Warum »ticken« Menschen so unterschiedlich? Basismentalitäten und ihre Bedeutung für Mission, Gemeindearbeit und Kirchenleitung. Neukirchen-Vluyn 2013. Heinzpeter Hempelmann: Faktisch, postfaktisch, postmodern? Kommunikation von Wahrheit(sansprüchen) in pluralistischen Gesellschaften als Problem und Herausforderung. Theologische Beiträge, 1/48, 2017, 6–23. Heinzpeter Hempelmann: Ist das Evangelium konservativ – und die Postmoderne unchristlich? Klärungen aus der Sicht der Mindset-Theorie. Theologische Beiträge, 1/49, 2018a, 17–35. Heinzpeter Hempelmann: Wahrheit in Zeiten von Moderne, Prämoderne und Postmoderne. Versuch eines Brückenschlags. Theologische Beiträge, 1/49, 2018b, 45–59.

lisation und Gemeindeentwicklung, Bd. 6. Neukirchen-Vluyn 2008, 51–86, 65 ff.; Heinzpeter Hempelmann: Der Spur des heruntergekommenen Gottes folgen. In: Heinzpeter Hempelmann/Michael Herbst/Markus Weimer (Hg.): Gemeinde 2.0. Frische Formen für die Kirche von heute. Neukirchen-Vluyn 2011, 35–61. 13 Vgl. Peter Galison: Image and Logic. A Material Culture of Microphysics, Chicago 1997. Der Wissenschaftstheoretiker hat diese Metapher gebildet angesichts der Verstehensschwierigkeiten, die sich schon im Bereich der Physik durch die Zugehörigkeit von Aussagen und Theorien zu unterschiedlichen Ansätzen, Positionen und Voraussetzungen gebildet haben und die eine Kommunikation nicht nur erschweren, sondern verhindern können.

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Heinzpeter Hempelmann

Heinzpeter Hempelmann/Berthold Bodo Flaig: Aufbruch in die Lebenswelten. Die zehn SinusMilieus als Zielgruppen kirchlichen Handelns. Wiesbaden 2019. Harald Seubert: Wahrheit in Zeiten der Postmoderne. Replik auf Heinzpeter Hempelmann. Theologische Beiträge, 1/49, 2018, 36–44 Robert Vehrkamp/Klaudia Wegschaider: Populäre Wahlen. Mobilisierung und Gegenmobilisierung der sozialen Milieus bei der Bundestagswahl 2017. Gütersloh 2017. https://www.bertelsmannstiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/ZD_Populaere_Wahlen_ Bundestagswahl_2017_01.pdf (Zugriff am 13.10.2022).

Kommunikation mit und zwischen unter­schiedlichen Mindsets

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11

»Du kennst mich doch, ich hab’ nichts gegen Fremde. Einige meiner besten Freunde sind Fremde. Aber diese Fremden da sind nicht von hier!« – die geflügelte Redensart der Cartoon-Figur Methusalix im Asterix-­Band »Das Geschenk des Cäsar« nimmt eine menschliche Schwäche aufs Korn: im Prinzip respektieren wir das Fremde, sind offen für Andersartiges und fühlen uns als Weltbürger. Zumindest solange, bis es tatsächlich zu Begegnungen kommt – dann ist uns Fremdes suspekt, wir verstehen Anderes nicht, und sind unsicher in einer Welt, die wir nicht gut einschätzen können. Beratung soll aber nicht nur prinzipiell offen sein für Alle, sondern braucht auch interkulturelle Kompetenz.

Beratung – integrativ und transkulturell Dietmar Czycholl

1 Zuwanderung in die BRD Seit ihrem Bestehen ist die Bundesrepublik Deutschland ein Land, in das viele Menschen einwandern. Dennoch wurde sie erstmals Ende der 1990er-Jahre auf bundespolitischer Ebene offiziell als Einwanderungsland charakterisiert. Nennt man nur die größten Zuwanderungsbewegungen in der Geschichte der BRD, ergibt sich die folgende Liste: Um 1950: 12,5 Millionen Vertriebene (BRD + DDR) 1955–1973 11 Millionen Arbeitsmigrantinnen und -migranten 1990–1993 1,2 Millionen Asylbewerberinnen und -bewerber 1990–2000 3,5 Millionen Aussiedler und Aussiedlerinnen 2007–2013 5 Millionen EU-Binnenmigranten und -migrantinnen 2015–2017 1,5 Millionen Asylbewerber und -bewerberinnen In Jahren mit schwächeren Zuwanderungsbewegungen, auch in den besonders seit 1990 seltenen Jahren, in denen das sogenannte Zuwanderungssaldo, also die Differenz von Zuzügen und Fortzügen, negativ ausfällt, gelangen stets mehr als 500.000 Menschen neu nach Deutschland. Wie auch schon in früheren Zeiten liegt seit dem Jahr 2010 die Zahl der jährlichen Zuzüge sogar noch deutlich 198

Dietmar Czycholl

höher: 2012 bis 2021 sind jährlich weit über eine Million Menschen in die BRD zugewandert, 2015 waren es mehr als zwei Millionen.1 Stets sind sehr verschiedene Arten von Zuwanderung zu unterscheiden. Die mit Abstand größten Zuwanderergruppen der vergangenen zehn Jahren sind EU-Binnenmigrantinnen und Asylbewerber, wobei erstere jeweils die deutlich größere Gruppe darstellen. Dies gilt auch für die Jahre 2015 und 2016, in denen in der öffentlichen Wahrnehmung die Zuwanderung von Asylbewerbern im Vordergrund stand. In der Größenordnung folgen dann die Gruppen der im Rahmen des Familiennachzugs, der als »Bildungsausländer« und der als Erwerbsmigrantinnen zuwandernden Menschen. Für alle Versorgungsbereiche der Sozialen Arbeit entsteht aus den Tatsachen der Zuwanderung die Notwendigkeit, alljährlich große Zahlen von Menschen, die mit den Systemen der BRD nicht vertraut sind, dennoch aber Versorgungsbedarf und Versorgungsanspruch haben, zu berücksichtigen und mit ihren Angeboten zu erreichen. Besonders hinsichtlich der EU-Binnenmigration ist festzustellen, dass in vielen Fachbereichen der Versorgungssysteme diese – wohlgemerkt aktuell größte – Zuwanderergruppe noch viel zu wenig Aufmerksamkeit findet. Es besteht die Gefahr, dass hier – auf gesellschaftspolitischer Ebene, auf System- und Fachebene wie auch auf individueller Ebene – die aus der Arbeitsmigration der 1960er- und 70er-Jahre wohlbekannten Verkennungen stattfinden: Benachteiligung, Diskriminierung, provisorische Wohnverhältnisse, vermeintlich vorübergehende Trennung von Familien, Rückkehrillusion, Rückkehrdruck, Übersehen der Hilfebedarfe. Betrachtet man nicht die jeweils aktuellen Zuwanderungsbewegungen, sondern die Zusammensetzung der Gesamtbevölkerung nach Migrationshintergrund, zeigt sich, dass im Jahr 2021 etwa 26 Prozent der Einwohner der BRD einen Migrationshintergrund haben, die meisten davon eigene Migrationserfahrung. In den bundesdeutschen Ballungsräumen sind die Anteile der Bevölkerung mit Migrationsgeschichte naturgemäß noch wesentlich höher. So kann Mikrozensus-Ergebnissen entnommen werden, dass beispielsweise in Frankfurt am Main etwa 70 Prozent der Bevölkerung im Alter bis 14 Jahre Migrationshintergrund haben. Geht es um Zuwanderung und insbesondere die Frage nach adäquater Versorgung von Zuwanderern in der BRD, handelt es sich also in vielerlei Hinsicht und in bestimmten Kontexten nicht mehr um

1 Statistisches Bundesamt (Destatis): Migration 2021: 329  000 Personen mehr zu- als abgewandert, 28.06.2022. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/06/ PD22_268_12411.html (Zugriff am 13.10.2022).

Beratung – integrativ und transkulturell

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ein Thema, das eine beträchtliche Minderheit betrifft, sondern längst um ein Thema, das die Mehrheit der Bevölkerung betrifft.

2 Psychologische Implikationen der Migration Wirklichkeit ist eine Konstruktion. An dieser Konstruktion wirkt stets ein Selbst in seiner strukturellen Differenziertheit und die dieses Selbst umgebende Welt in ihrer Vielfalt mit. Eine phänomenologisch orientierte Beschreibung kommt nicht umhin, zu erfassen, dass Psychisches nicht »Inneres« oder »Subjektives« ist. Vielmehr umfasst Psychisches all das, zu dem der Mensch in Beziehung steht, seine Kleidung, seine Wohnung, seine Umgebung, Menschen, Arbeit, Interessen usw. Psychisches ist eine ganze Welt. Unser Erfahrungs-, Bewegungs- und Vorstellungsraum umfasst die Vielzahl der Objekte. Im Laufe unserer Entwicklung wird diese Welt. Sie gewinnt Gestalt in einem fortwährenden Prozess. Dieser Gestalt gehört Subjektives wie Objektives gleichermaßen an. Im Laufe der menschlichen Entwicklung kommt es immer wieder zu Phasen, in denen sich die umfassende Wirklichkeit des Einzelnen radikal verändert. Ihre Gestalt wandelt sich grundsätzlich. Welt und Wirklichkeit, so wie sie einmal geworden waren, heben sich zu großen Teilen auf, eine neue Gestalt muss an ihrer Stelle entwickelt werden. Zwei dieser Phasen verlaufen verhältnismäßig rasch: die Geburt und der Tod des Menschen. So wenig über die Beschaffenheit der Welt des noch Ungeborenen gewusst werden kann, ist doch sicher, dass diese Welt der Welt des Geborenen sehr grundsätzlich verschieden sein muss. Was immer sich den Sinnen vor der Geburt offenbart, es offenbart sich ihnen anders als nach der Geburt. Wie immer sich Bindung und Beziehung als wesentliche Elemente der Wirklichkeitskonstruktion in der pränatalen Welt gestalten – nach der Geburt entstehen Bindungen und Beziehungen anderer Art. Die Geburt als Anfangspunkt unseres In-dieser-WeltSeins stellt einen gewaltigen Umbruch dar, eine vollkommene Umstrukturierung, den Verlust pränataler Sicherheiten und die Konfrontation mit den Notwendigkeiten der Entwicklung einer Position in dieser Welt und der dazu erforderlichen Beziehungs- und Interaktionsstrukturen. Indem die bis dahin gültige und funktionierende Struktur untergeht, findet ein Zerbrechen psychischer Ganzheit statt: das »Trauma der Geburt«.2

2 Otto Rank: Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1988 (1924).

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Dietmar Czycholl

In dieser Hinsicht Ähnliches markiert den Endpunkt unseres In-der-WeltSeins. Wenn Schopenhauer bemerkt, dass, immer wenn ein Mensch stirbt, eine Welt untergehe, nämlich seine Welt, weist er damit darauf hin, dass der Tod das Ende einer ganzen Wirklichkeitskonstruktion bedeutet. Das gesamte Weltgerüst, welches ein Mensch im Laufe seiner Entwicklung errichtet hat, geht im Tode unter, samt der physischen Konstruktion des Menschen selbst, der – bestenfalls – wieder, wie nach der Geburt, aber jetzt wohl auf einer anderen Ebene, aus neuen Gegebenheiten eine neue Welt und Wirklichkeit zu konstruieren haben wird. Zwischen Geburt und Tod kommt es indessen zu weiteren Phasen der Umstrukturierung der psychischen Wirklichkeit. So geht in der Phase des sogenannten Heranwachsens, in Pubertät und Adoleszenz, die Welt des Kindes mit ihren Orientierungen, Beziehungsstrukturen und ihrem meist auf die Elternwelt bezogenen Radius über in die Welt einer Erwachsenen, die eigene Sichtweisen, Wertungen, Beziehungen, ein eigenes Selbstbild und einen eigenen Horizont zu entwickeln hat. Einhergehend mit einem umfassenden physischen Gestaltwandel vollzieht sich in diesen Entwicklungsjahren ein Wandlungsprozess mehr oder weniger gewaltigen Ausmaßes: auch hier der Untergang einer Welt und die Errichtung einer neuen. Die Anforderungen, die das Leben an den Einzelnen stellt, sind wohl nie größer als in diesen Lebensmomenten oder -phasen, in denen ihm bisher Gültiges, Sicheres, Vertrautes abhandenkommt und durch Neues, Unbekanntes und damit Beängstigendes ersetzt werden muss. Die Belastungen, die mit diesen Anforderungen verbunden sind, sind vielleicht größer als die Belastungen, die sonst mit allen möglichen Lebensproblemen einhergehen. Während der kritische Charakter der Geburt und des Todes schon durch die Kürze der Zeit, in der sich diese Übergänge vollziehen, offensichtlich ist, scheint das Krisenhafte des Erwachsenwerdens durch seine Dauer von mehreren Jahren gemildert. Wie tief jedoch diese Krise greift, hat Hesse prägnant beschrieben: »Viele erleben das Sterben und Neugeborenwerden, das unser Schicksal ist, nur dies eine Mal im Leben, beim Morschwerden und langsamen Zusammenbrechen der Kindheit, wenn alles Liebgewordene uns verlassen will und wir plötzlich die Einsamkeit und tödliche Kälte des Weltraums um uns fühlen. Und sehr viele bleiben für immer an dieser Klippe hängen und kleben ihr Leben lang schmerzlich am unwiederbringlich Vergangenen, am Traum vom verlorenen Paradies, der der schlimmste und mörderischste aller Träume ist.«3

3 Hermann Hesse: Demian. Frankfurt a. M. 1974 (1919), S. 58.

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Die Vielzahl der Störungssymptome, die für diese Phase typisch und spezifisch sind, macht ihren kritischen Charakter deutlich. Zu diesen Symptomen gehören Störungen des sozialen Verhaltens wie Delinquenz und Störungen, die durch den Konsum psychotroper Substanzen oder auch durch nicht stoffgebunden süchtiges Verhalten bedingt sind. Zoja (1986) hat auf den Zusammenhang hingewiesen, der zwischen Drogenkonsum Jugendlicher, den Entwicklungsanforderungen des Erwachsenwerdens und dem gesellschaftlichen Umgang mit dieser kritischen Phase besteht. Ausgehend von Forschungen von Eliade beschreibt er die Bedeutung, die in Gesellschaften mit von Schamanismus geprägten Strukturen den Übergangsritualen zukommt. In der Initiation wird der Übergang vom Kindesalter in das Erwachsensein ritualisiert vollzogen. Dabei wird die Trennung von der Mutter, der Untergang des bisherigen Seins in einem irgendwie gearteten Todeserleben und die Auferstehung oder Wiedergeburt zum neuen Sein des Erwachsenen ins Werk gesetzt. In modernen Gesellschaften, die allenfalls noch Reste solcher Rituale kennen, ist die Jugendliche mit den enormen Entwicklungsanforderungen, die auf sie zukommen, weitaus mehr sich selbst überlassen. In Drogenkonsum, bestimmten Formen der Delinquenz und auch in anderen Arten des Risikoverhaltens finden sich Spuren von Initiationsritualen, die in subkulturellen Kontexten ersatzweise und kaum bewusst inszeniert werden. Den Übergangsphasen Geburt, Tod und Erwachsenwerden ist gemeinsam, dass sie Krisen darstellen. Sie bringen große Gefahr mit sich, die sich zunächst im Untergang der »alten« Welt manifestiert und dann im Risiko, mit der Aufgabe der Konstruktion einer neuen Welt zu scheitern, den Anforderungen, die damit gestellt werden, nicht gewachsen zu sein. Zugleich besagt ihre Krisenhaftigkeit, dass die Entscheidung auch zugunsten einer gelingenden Neukonstruktion fallen kann, dass den Anforderungen entsprochen wird, dass der – in jedem der drei Fälle – Neu-Geborene eine Fülle von Konstruktionsmöglichkeiten vor sich sieht und damit seine Welt entwickelt. Wie immer bedeutet die Krise Risiko und Chance zugleich. Der Gang der »gesunden« Entwicklung kommt an Krisen nicht vorbei, sie werden jedoch überwunden und führen in neue Entfaltungsmöglichkeiten. »Krisis« heißt aus dem Griechischen übersetzt u. a. »Entscheidung«. Immer wenn die Wirklichkeitskonstruktion eines Menschen infrage gestellt, aufgehoben und grundsätzlich erneuert wird – beispielsweise durch den Verlust wichtiger Strukturelemente, durch den Verlust von Bezugspersonen, von Aufgaben, von gesellschaftlicher Position, von Freiheit, von körperlicher Gesundheit – entstehen ebenfalls Übergänge und Krisenverläufe. Sie sind so zahlreich, dass Eliade zusammenfassend konstatieren kann, »dass sich jedes Menschen202

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leben aus einer Folge von Prüfungen, von Sterben und Auferstehen zusammensetzt«4. Fortwährende Gestaltung und Umgestaltung, zeitweise in Details, zeitweise in umfassenden Zusammenhängen, entsprechen dem Lebensprinzip des Gestaltwandels, wie es auch Goethe immer wieder beschrieben hat: »Und so lang du das nicht hast, / Dieses: Stirb und werde! / Bist du nur ein trüber Gast / Auf der dunklen Erde«5 Auch Migration impliziert ein »Stirb und werde!«. Sie bedeutet den Untergang einer Welt – der Welt, die der Migrant im Laufe seiner Entwicklung gestaltet hat. Zu ihr gehören alle denkbaren Elemente seiner Herkunftsumgebung, seine Beziehungen, Bindungen, Gewissheiten, Vorstellungen usw. Mit der Migration gibt er sie auf und findet sich in einem Übergang, der ihn vor die Aufgabe stellt, seine Welt in großen Teilen vollständig neu zu konstituieren, eine neue Wirklichkeit zu konstruieren. »Die Migration stellt eine Veränderung von solchem Ausmaß dar, dass die Identität dabei nicht nur hervorgehoben, sondern auch gefährdet wird. Der massive Verlust erfasst die bedeutsamsten und wertvollsten Objekte: Menschen, Dinge, Orte, Sprache, Kultur, Gebräuche, Klima, manchmal den Beruf, gesellschaftliche beziehungsweise ökonomische Stellung usw. An jedem dieser Objekte haften Erinnerungen und intensive Gefühle. Mit dem Verlust dieser Objekte sind die Beziehungen zu ihnen und manche Anteile des Selbst ebenfalls vom Verlust bedroht. Diese Veränderung trifft verschiedene Bindungen gleichzeitig. Dadurch verringert sich die Wahrscheinlichkeit, dass einige weniger betroffene Anteile des Selbst stabil bleiben und diejenigen Anteile stützen können, die diesen Veränderungen gerade ausgesetzt sind. Es handelt sich um eine Erschütterung, die die ganze psychische Struktur erbeben lässt […].«6 Auch in diesem Prozess liegen mannigfache Risiken wie auch Chancen, auch dieser Prozess ist Krise, in der sich entscheidet, ob den enormen Entwicklungsanforderungen entsprochen werden kann oder ob es zum Scheitern kommt. Symptome des Scheiterns können Krankheit, Tod, Stagnation, Drogenkonsum, Desintegration, Marginalisierung, Delinquenz u. a. sein. 4 Mircea Eliade: Das Mysterium der Wiedergeburt. Initiationsriten, ihre kulturelle und religiöse Bedeutung. Zürich 1961, S. 217. 5 Johann Wolfgang von Goethe: Selige Sehnsucht. In: West-oestlicher Divan. Stuttgart 1819, S. 16. 6 León Grinberg/Rebeca Grinberg: Psychoanalyse der Migration und des Exils. München 1990, S. 28 f.

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Migration stellt ein Lebensereignis dar, das Belastungen mit sich bringt, jenen ähnlich, die wir sonst nur aus den belastendsten Lebensphasen kennen. Zugleich kann Migration die Chancen eines Neubeginns bieten und enorme Entlastungen, z. B. durch Schutz vor Verfolgung und Lebensmöglichkeiten in friedlichen Verhältnissen. Gelingen oder Scheitern hängen von vielen Faktoren ab, von den Erfahrungen, Prägungen, Potenzialen, die der Migrant mit sich bringt, von zahllosen äußeren Umständen, aber auch von den Gelegenheiten, die die aufnehmende Gesellschaft dem Migranten zur Verfügung stellt, um seinem Entwicklungsauftrag nachzukommen. Kinder und Jugendliche, die Migration erleben, erfahren doppelte Belastung, da sie neben dem Entwicklungsauftrag, die neue Welt eines Erwachsenen zu konstruieren, den Entwicklungsauftrag, am neuen Ort eine neue Welt zu kon­ struieren, erledigen müssen. Die Risiken, denen sie in diesem Prozess ausgesetzt sind, sind entsprechend groß und vielfältig. Es ist eine Verpflichtung, die der aufnehmenden Gesellschaft obliegt, jungen Migrantinnen besondere Aufmerksamkeit zu schenken und sie in ihrer besonders belasteten Situation zu unterstützen. Risiken des Scheiterns müssen möglichst gemindert werden, wo sich aber Symptome des Scheiterns zu zeigen beginnen, ist die Bereitstellung adäquater und effizienter Hilfen erforderlich. Erwachsene Migranten erleben entsprechende Belastungen. Zwar kommt es nicht zu einer Überschneidung von Adoleszenzkrise und Migrationskrise, wohl aber kann aufgrund der strukturellen Ähnlichkeit der Entwicklungsanforderungen eine Neubelebung der schon früher durchgemachten Adoleszenzkrise stattfinden, eine Regression auf eine frühere Entwicklungsstufe. Und wieder gilt, wie bei jeder Krise, dass darin auch für die erwachsene Migrantin Entwicklungschancen liegen, aber auch das Risiko der Überforderung und des Scheiterns. Zusammenfassend ist zu sagen, dass Migrationserfahrungen zu einer spezifischen Krisenverfassung führen. Sluzki hat auf den typischen Verlauf hingewiesen, den die Befindlichkeitskurve von Migranten während des und nach dem Migrationsprozess nimmt: Nach Schwankungen in der Vorbereitungszeit kommt es nach dem tatsächlichen Migrationsereignis zu einer Phase der Überkompensation, der Freude über den gemachten Schritt, der hoffnungsvollen Erwartung des Kommenden.7 Daran schließt sich mit Regelmäßigkeit eine Phase der Dekompensation, begleitet von Angst, Depressivität, Hoffnungslosigkeit und Trauer über die Verluste an. Diese Phase dauert naturgemäß unter7 Carlos E. Sluzki: Psychologische Phasen der Migration und ihre Auswirkungen. In: Thomas Hegemann/Ramazan Salman (Hg.): Handbuch Transkulturelle Psychiatrie. Bonn 2001, S. 108–123.

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schiedlich lange, typischerweise aber dauert sie deutlich länger als die vorige. Der Höhepunkt – oder besser gesagt der Tiefpunkt – der Dekompensationsphase markiert die Krise im Migrationsprozess im oben beschriebenen Sinne. Selbstverständlich ist die Phase der Dekompensation, in der sich klassischerweise das sogenannte Heimweh bemerkbar macht, u. a. gekennzeichnet von dem Bedürfnis, möglichst viele Bestandteile der verlorenen Welt in die neue Welt hinüberzuretten oder auch wiederherzustellen. Deshalb ist es in jeder Hinsicht naheliegend, sich in Gruppen von Landsleuten zusammenzufinden, die Sprache, die Sitten, die Atmosphäre des Herkunftslandes zu suchen. In der Entstehung von »Parallelgesellschaften« liegt demnach nichts anderes als eine psychologisch begründete Notwendigkeit, Belastungen der Migration zu mildern und durch die »passende« Umgebung zu sich zu kommen, das heißt, den Prozess neuer Identitätsbildung, neuer Konstruktion psychosozialer Wirklichkeit vorzubereiten.

3 Sozialpsychologische Implikationen der Migration: Etablierte und Außenseiter Migration ist not-wendig, und sie war es in allen historisch bekannten Epochen. Sie ist für den Migranten not-wendig aus den verschiedensten persönlichen, politischen, wirtschaftlichen oder anderen Gründen. Und sie ist für die aufnehmenden Gesellschaften notwendig, da sie nach aller historischen Erfahrung in der Zuwanderung von Menschen kulturelle Impulse, Innovation, ihr gesamtgesellschaftliches Entwicklungspotenzial finden. Dennoch können Menschen, die in die BRD zuwandern, nicht nur mit freundlicher Aufnahme rechnen. Zu den Belastungen, die die Migration schon ohnehin für sie mit sich bringt, kommen zusätzliche Belastungen, die in der Reaktion der aufnehmenden Gesellschaft begründet sind. Xenophobie, ökonomisch begründete Befürchtungen, Ethnozentrismus u. a. führen zu Ablehnung und Ausgrenzung von Zuwanderern. Projektive Mechanismen führen zu Stigmatisierung des »Fremdartigen« und damit des »Fremden«. Soziologische und sozialpsychologische Forschungen zur Frage der Zuwan­ derung, der Vorurteilsbildung, der Xenophobie und Fremdenfeindlichkeit liegen in großer Zahl und Differenziertheit vor. Im vorliegenden Zusammenhang sei nur auf ein einziges Beispiel verwiesen, das Etablierten- und AußenseiterTheorem von Elias und Scotson.8 8 Norbert Elias/John L. Scotson: Etablierte und Außenseiter. Frankfurt a. M. 1990.

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Elias und seine Mitarbeitenden waren in den 1960er-Jahren beauftragt worden, zu untersuchen, aus welchen Gründen in einem Teil einer englischen Vorstadt vermehrt delinquentes Verhalten zu beobachten war. Sie stellten in einer umfangreichen Studie fest, dass sich die Bevölkerungsgruppe, in der tatsächlich auffälliges Verhalten überrepräsentiert war, überraschenderweise in ihren sozialen Merkmalen überhaupt nicht von der übrigen Bevölkerung dieser Vorstadt unterscheiden ließ. Weder bei Ausbildungsniveau noch in Rasse, Religionszugehörigkeit oder Einkommensdurchschnitt zeigten sich irgendwelche nennenswerten Unterschiede. Übliche soziologische Erklärungsansätze für die Auffälligkeit der Gruppe schienen also unbrauchbar zu sein. Die auffällige Gruppe unterschied sich jedoch hinsichtlich eines bestimmten Merkmales von der unauffälligen Gruppe: Ihre Mitglieder lebten erst verhältnismäßig kurze Zeit (einige Jahre) in der Stadt, die Mitglieder der unauffälligen Vergleichsgruppe schon lange Zeit (über Generationen hinweg). In der Auswertung der vor allem mittels ausführlicher (Tiefen-)Interviews ermittelten Befunde kamen die Autoren zu folgendem Ergebnis: In der untersuchten Vorstadt bildeten die bereits länger dort lebenden Einwohner die Gruppe der Etablierten, die zugezogenen eine Gruppe von Außenseitern. Die zwischen Etablierten und Außenseitern bestehende soziale Konfiguration ist geprägt von einem Machtdifferential. Die Etabliertengruppe verfügt über mehr Macht, weil innerhalb dieser Gruppe ein hohes Maß an Kohäsion und Strukturiertheit besteht. Aufseiten der Außenseitergruppen ist die Macht geringer, weil – schon aufgrund der kürzeren Anwesenheit – wenig Kohäsion und Strukturiertheit entstehen konnte. In der Etabliertengruppe existiert ein differenziertes Normsystem. Lohn für die Befolgung dieser Normen ist die Zugehörigkeit zur Etabliertengruppe, die der Einschätzung ihrer Mitglieder nach eine ausgezeichnete Gruppe, eine Gruppe von »besseren Menschen« ist. Die Befolgung der Gruppennormen ist jedoch auch mit Einschränkungen verbunden: Wünsche zur Abweichung müssen verdrängt oder vermieden werden. Das Hinzukommen einer anderen, fremden Gruppe bedeutet für die Etabliertengruppe eine Gefährdung ihres Normsystems, da das Fremde eben anders ist und möglicherweise andere Normierungen mitbringt. Abweichungswünsche von Mitgliedern der Etabliertengruppe werden auf die Fremden projiziert. Die seitens der Etablierten erlebte Bedrohung durch die Außenseiter wird durch eine Bewertung der Außenseiter abgewehrt: In den Augen der Etablierten sind die anderen »schlechtere Menschen«. Maßstab im Vergleich bilden immer die besten Beispiele der Etabliertengruppe und die schlechtesten Beispiele der Außenseitergruppe. Mitglieder der Letzteren sollen von 206

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Etablierten gemieden werden, um sich nicht mit Abweichungstendenzen zu infizieren. Den Mitgliedern der Außenseitergruppe werden bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen zugeschrieben. Elias weist darauf hin, dass sich in derartigen Etablierten-Außenseiter-Konfigurationen in kulturhistorischer und kulturvergleichender Perspektive immer wieder die gleichen Zuschreibungen nachweisen lassen – sei es in der Polis der griechischen Antike, sei es im indischen oder im japanischen Kastenwesen, sei es in der von ihm untersuchten britischen Vorstadt: Mitglieder von Außenseitergruppen werden als anomisch, roh, kriminell und gewalttätig stigmatisiert. In der Außenseitergruppe existiert kein differenziertes Normsystem. Wie in jeder Gruppe gibt es Ansätze zur Konvergenz, die jedoch aufgrund fehlender Strukturen wenig oder nur sehr allmählich fruchten. Auch in der Außenseitergruppe finden sich teilweise Tendenzen, zur Bewertung der eigenen Gruppe die schlechtesten Beispiele heranzuziehen und der Stigmatisierung im Sinne einer Selbststigmatisierung zu folgen. Versuche einer Gegenstigmatisierung, auf die Etabliertengruppe bezogen, werden mitunter gemacht, da die Außenseiter in dem Machtdifferential eine untergeordnete Rolle spielen, verhallen sie aber erfolglos. Verunsicherung, Selbststigmatisierung und Ohnmacht aufseiten der Mitglieder der Außenseitergruppe führen schließlich zu einem der Stigmatisierung entsprechenden Verhalten und – im Sinne des Phänomens der selbsterfüllenden Prophezeiung – zu einer Bestätigung der Zuweisungen. Das Beispiel dieser Forschungsergebnisse von Elias und Scotson zeigt, dass zu den Besonderheiten der migrationsbedingten Krisenverfassung nicht nur der Bruch psychischer Ganzheit und die anstrengende Aufgabe der Neukonstruktion von Wirklichkeit gehören. Ohnehin kommt dazu die Konfrontation mit und die Notwendigkeit der Verarbeitung von »objektiven« Belastungen: Verständigungsschwierigkeiten, finanzielle Probleme, Benachteiligungen usw. Und zu all dem kommt noch die Konfrontation mit Feindseligkeiten, die dem Fremden in der neuen Umgebung entgegengebracht werden. Fachdienste der Sozialen Arbeit, ihre Mitarbeiterschaft, andere, einheimische Klientinnen – sie alle sind Teil der Aufnahmegesellschaft, sie alle sind nicht frei von den Reaktionsbildungen, die Zuwanderung nach sich zieht. Dazu gehören xenophobe. aber auch Faszinationsreaktionen. Zu Ersteren zählen Ausgrenzungstendenzen, die Neigung zur Projektion verdrängter Normverletzungswünsche auf die Fremden und daraus abzuleitende Stigmatisierungen, wie sie von Elias und Scotson beschrieben wurden. In einer Facheinrichtung kann noch verkomplizierend hinzukommen, dass man aufgrund des professionellen Anspruchs derartige Beratung – integrativ und transkulturell

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Reaktionen nicht wahrhaben will, sie überspielt und verdrängt, während sie umso stärker aus dieser unterschwelligen Position heraus wirksam werden. Derartiges kann sich dann als pseudofachlich gerechtfertigte Diskriminierung in Form von Sprachverboten, Sonderregeln, Fallzahl-Quotierung, Kulturalisierung usw. manifestieren. Es wäre verwunderlich, wenn angesichts der aus »inneren« und »äußeren« Bedingungen resultierenden Belastungen Migrantinnen nicht Symptome dieser Belastung zeigen würden. Solche Symptome können z. B. in Gestalt von sozialer Auffälligkeit, in Gestalt von Erkrankung oder auch in der Kombination von beidem auftreten. Im günstigen Fall mündet die mehrfache Belastung eines Migranten in die Entwicklung besonderer sozialer Kompetenzen und einer auf Selbstbewusstsein und Autonomie basierenden besonderen psychischen Stabilität. Im ungünstigen Fall führt die komplexe, durch migrationsbedingte Faktoren komplizierte Entwicklungsproblematik in Pseudolösungen, wie die Pseudoautonomie des Anschlusses an delinquente und/oder drogenkonsumierende Gruppen und Subkulturen. Die Fixierung auf den Konsum von Alkohol und anderen Drogen hat in diesem Zusammenhang ihren besonderen Reiz, da zu der Wirkung der Mittel die Täuschung über die eigene Autonomie, die Autonomieillusion zu zählen ist.

4 Interkulturelle Kommunikation Sozialisation bedeutet, eine kaum überschaubare Vielzahl von Regeln des Lebens über viele Jahre der Entwicklung hin in einem konkreten umgebenden sozialen Feld kennengelernt, erlernt und verinnerlicht zu haben. Irgendwann im Leben oder sogar mehrfach in ein soziales Umfeld zu wechseln, das von dem der eigenen Sozialisation verschieden ist, bringt die Anforderung mit sich, andere Regeln als die vertrauten und verinnerlichten erlernen zu müssen, also in Teilen einen neuen Sozialisationsprozess durchlaufen zu müssen. Aus psychologischer Sicht ist dabei weniger wichtig, ob man bei einer Migration tatsächlich Staatsgrenzen überschreitet. Wichtiger ist vielmehr das Ausmaß der Veränderung, das gegenüber dem ursprünglichen Sozialisationsumfeld zu beschreiben ist. So gesehen handelt es sich auch bei einem Umzug im eigenen Land um eine Art von Migration, eben eine Binnenmigration, mit mehr oder weniger umfangreichen Erfordernissen einer Neusozialisation. Auch bei dem Verlassen einer Subkultur und folgendem Übergang in eine andere oder sogar bei Reisen sind zumindest teilweise Sozialisationsprozesse beschreibbar, gerade bei letzterem Beispiel aber eben nur ansatzweise und vorübergehend. Je größer das Ausmaß der Veränderung, desto 208

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eher ist von Migration im eigentlichen Sinne zu sprechen: Wechsel des Sprachsystems (übrigens auch nichts anderes als ein Regelsystem), des politischen Systems, der klimatischen und geografischen Bedingungen, der kulturellen Bezugssysteme wie Normierung, Sittenkodizes, Religion und viele mehr. Interkulturelle soziale Arbeit hat ihren Ausgangspunkt in der Begegnung der Sozialarbeiterin mit dem »Fremden«. Jeder nicht Bekannte ist zunächst ein Fremder. Ethologische Forschung hat deutlich gemacht, dass dem Fremden gegenüber ein Angstpotenzial besteht.9 Bekannt zu werden, sich kennenzulernen, ist ein komplexer Prozess, der u. a. davon abhängt, wie und auf welchen und wie vielen Ebenen Kommunikation funktioniert. Kommunikation aber ist sozialisations- und daher kulturvermittelt. Je weniger die verfügbaren Kommunikationsmuster funktionieren, desto fremder – und befremdender bleibt die andere, denn in der Begegnung wird Fremdes auf seine Vereinbarkeit mit eigenem hin überprüft. Was nicht vereinbar mit dem Eigenen zu sein scheint, stellt schließlich das Eigene infrage und wird so zur Bedrohung. Zudem besteht ein dunkler Zusammenhang zwischen dem Fremden und den Teilen des Eigenen, die als solche nicht mehr anerkannt werden: dem ebenfalls bedrohlichen Verdrängten. Aus diesen Voraussetzungen ist abzuleiten, dass Kommunikation zwischen Menschen, die verschiedenen Kulturen angehören, nicht ohne Weiteres reibungslos funktionieren kann. Dabei ist die Formulierung, den verschiedenen Kulturen anzugehören, nicht statisch zu verstehen, so als wären die Zugehörigkeit zu einer Kultur und auch diese Kultur selbst etwas Festes und Unwandelbares. Vielmehr ist hier selbstverständlich ein dynamischer Prozess zu denken, der die Menschen betrifft (bis hin zu unter Umständen auch wechselnder Zugehörigkeit) und der auch die Entwicklung, den Wandel der Kulturen und alle möglichen Übergangsphänomene betrifft. Aufgrund der Unterschiedlichkeit der in der jeweiligen Sozialisation erlernten Regelsysteme ist in interkultureller Kommunikation immer mit Störungen und Missverständnissen zu rechnen. Manche derartigen Störungen können erwartet und dann auch durch entsprechende Maßnahmen (Dolmetschereinschaltung, Vorbereitung von Unterlagen etc.) weitgehend vermieden werden. Interkulturelle Kommunikation ist aber nicht da schwierig, wo wir Verständnisschwierigkeiten erwarten, sondern da, wo wir davon ausgehen, dass etwas selbst-verständlich ist. Es besteht indessen die Neigung, all jene in der Sozialisation erlernten und verinnerlichten Regeln als eben dies anzusehen: 9 Z. B. Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriss der Humanethologie. München 1984.

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als selbst-verständlich. Missverständnisse sind daher in der interkulturellen Kommunikation unvermeidlich. Worauf es ankommt, ist also nicht, den aussichtslosen Versuch zu unternehmen, sie zu vermeiden, sondern darauf, nach Möglichkeit zu erkennen, wenn interkulturelle Missverständnisse eingetreten sind. Dies gelingt am ehesten, wenn Ȥ eigene Irritationen (Unklarheit, Verwunderung, Ärger) bewusst wahrgenommen werden, Ȥ Anzeichen für Irritationen des Gegenübers wahrgenommen werden, Ȥ für Irritationen auf beiden Seiten nicht kurzerhand übliche Interpretationen herangezogen werden, sondern Ȥ die Irritation zwischen den Beteiligten mit dem Bemühen um Aufklärung thematisiert wird, wo dies aber nicht möglich ist, Ȥ die Irritation (allein oder im Austausch mit Dritten) reflektiert wird. Schwieriger aber noch ist der Sachverhalt bei Missverständnissen, die nicht unwillkürlich entstehen, sondern darauf beruhen, dass durch verschiedene Kulturbrillen Dinge verschieden betrachtet werden und bewusst auf dieser unterschiedlichen Betrachtungsweise bestanden wird – was selbstverständlich von beiden Partnerinnen in der interkulturellen Kommunikation aus vorkommen kann. Hier geht es dann nicht um die Wirksamkeit verinnerlichter Überzeugungen aus dem Unbewussten heraus, sondern um ethnozentrische Überlegenheitsvorstellungen. Es wird nicht nur der entsprechende gewohnte Denkinhalt wirksam, sondern eine emotional getragene Dynamik, die mit einem Gefühl leichter Empörung (also Selbsterhöhung) die andere Sichtweise abwertet und als schlechthin ungültig erklärt. Dieser Themenaspekt ist von großer Bedeutung, aber auch von einer Komplexität, dass eine Darstellung im hier gegebenen Rahmen nicht möglich ist. Immerhin ist damit eine Problematik angesprochen, über die man sich bereits seit sehr langer Zeit Gedanken macht: »Denn wenn man an alle Völker der Erde die Aufforderung ergehen ließe, sich unter all den verschiedenen Sitten die vorzüglichsten auszuwählen, so würde jedes, nachdem es alle geprüft, die seinigen allen anderen vorziehen. So sehr ist jedes Volk überzeugt, dass seine Lebensformen die besten sind.« (Herodot)10

10 Herodot: Historien, hg. v. Josef Feix, 3, 38. Düsseldorf 2001, S. 395 ff.

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5 Migration, Soziale Arbeit, transkulturelle Kompetenz Die Häufung von Risikofaktoren, die im Zusammenhang mit Migrationserfahrungen zu beschreiben ist, führt, zumindest zeitweise, zu einer erhöhten Wahrscheinlichkeit problematischer Reaktions- und Verhaltensweisen. Dies wiederum führt zu einem entsprechenden Bedarf an psychosozialer Hilfestellung und Versorgung. Alle sozialarbeiterischen und sozialpädagogischen Arbeitsfelder sind mit dieser Situation konfrontiert. Die Sozialpädagogik findet sich dabei jedoch nicht in der Situation, ihre bewährten Konzepte ohne Weiteres auf hilfebedürftige Zuwanderer anwenden zu können. Es gilt vielmehr, eine Vielzahl von Zugangsbarrieren zu erkennen und überwinden zu helfen. Dies setzt in vielen sozialpädagogischen Arbeitsfeldern einen Veränderungsprozess voraus. Denn nicht die Hilfebedürftigen müssen sich den Hilfeangeboten anpassen, sondern die Hilfeangebote müssen so beschaffen sein, dass sie denen, die ihrer bedürfen, tatsächlich hilfreich sein können. Ob eine Einrichtung der Sozialen Arbeit überhaupt in die Lage kommt, fachliche Leistungen in der interkulturellen Begegnung erbringen zu können, hängt davon ab, ob sie Klientinnen mit Migrationshintergrund zugänglich sind. Zugangsbarrieren sind vielfältig, sie beginnen bei aufenthaltsrechtlichen und ähnlichen Bedingungen, welche von den Einrichtungen direkt kaum zu beeinflussen sind. Wohl zu beeinflussen sind andere Zugangsbarrieren. Es wurde vorgeschlagen, Zugangsbarrieren erster Ordnung von solchen zweiter Ordnung zu unterscheiden.11 Zugangsbarrieren erster Ordnung erschweren oder verhindern die Inanspruchnahme fachlicher Leistungen überhaupt, Zugangsbarrieren zweiter Ordnung treten in Erscheinung, wenn zwar schon fachliche Leistungen in Anspruch genommen werden, deren Wirksamkeit und Funktion jedoch erschwert oder verhindert wird. Zugangsbarrieren beider Ordnungen sind grundsätzlich als symmetrisch zu verstehen, das heißt, sie behindern nicht nur den Zugang des Migranten zum Hilfeangebot, sondern auch den Zugang des Hilfeangebots zum Migranten, und beide Seiten haben etwas mit der Entstehung und Aufrechterhaltung solcher Barrieren zu tun.

11 Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e. V. (AWO)/Fachverband Drogen und Rauschmittel (FDR) e. V. (Hg.)/Wolfgang Barth/Dietmar Czycholl: Sucht. Migration. Hilfe. Vorschläge zur interkulturellen Öffnung der Suchthilfe und zur Kooperation von Migrationsdiensten und Suchthilfe. Geesthacht 2006.

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Beispiele für Zugangsbarrieren erster Ordnung sind Sprachbarriere und Informationsmangel. Den Einrichtungen der Sozialen Arbeit können Informationen über die Existenz verschiedener Migrantengruppen fehlen, über deren Größe, Lebenslagen und Bedarfssituation. Migrantinnen können Informationen fehlen über das Suchthilfesystem insgesamt, über die Existenz von Beratungs- und Hilfeangeboten, über deren Angebote, Beschaffenheit und eventuellen Nutzen. Migranten verfügen möglicherweise nicht über Deutschkenntnisse, die ihnen ermöglichen, von Angeboten Sozialer Arbeit zu profitieren. Die Einrichtungen verfügen möglicherweise nicht über Sprachkompetenzen, die eine adäquate Beratung nicht deutschsprachiger Klientinnen ermöglichen würden. Wie gezeigt handelt es sich bei diesen beiden Beispielen für Zugangsbarrieren erster Ordnung um symmetrische Barrieren. Sie bestehen von beiden Seiten, sie wären grundsätzlich daher auch von beiden Seiten überwindbar. Die größere Verantwortung für die Überwindung muss aber auch hier wieder den Institutionen zugeschrieben werden: Der arabischsprachige Migrant müsste erst einmal jahrelang Deutsch lernen und sich – neben Kenntnissen über Tausende von Dingen im neuen Lebensfeld– auch Kenntnisse über das Hilfesystem, Beratungsangebote usw. verschaffen. Gehen wir von der schwierigen psychosozialen Situation vieler Zuwanderer und den damit verbundenen Krisenentwicklungen aus, hieße dies aber, eine vollkommen unrealistische Anforderung zu stellen. Beratungsdienste z. B. sollten dagegen viel eher imstande sein, die Bedarfe in der Bevölkerung zu analysieren, sich mit ihren Angeboten verständlich und bekannt zu machen und für eine personelle Ausstattung zu sorgen, die es ermöglicht, adäquate fachliche Angebote auch in anderen Sprachen bereitzustellen. Zugangsbarrieren zweiter Ordnung können mit den weiter oben beschrie­ benen Problemen zusammenhängen, mit den Besonderheiten interkultureller Kommunikation und der migrationsbedingten Krisenverfassung, aber auch mit xenophoben Reaktionen (von beiden Seiten). Fehlendes Bewusstsein für die Kulturbedingtheit eigenen Erlebens und Verhaltens, fehlendes Bewusstsein für die Kulturbedingtheit auch fachlicher Überzeugungen, mangelnde Reflexionskompetenz oder auch gegenseitige Stigmatisierungen sind Beispiele für derartige Zugangsbarrieren. Identifizierung von Zugangsbarrieren aller Art und ihre systematische Ausräumung und Überwindung ist Aufgabe der Facheinrichtungen. Praktisch heißt dies, dass aus der Verantwortung für die Leistungsfähigkeit einer Einrichtung heraus Zugangsbarrieren erfasst werden müssen, was durch Austausch- und Reflexionsprozesse möglich ist, besser aber durch Befragung von Mitgliedern entsprechender Migrantencommunitys gelingen kann. Der dazu wiederum 212

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erforderliche Zugang kann durch Kooperation und Vernetzung mit Migrantenorganisationen und Schlüsselpersonen in den Migrantencommunitys ermöglicht werden, wenn dabei bereits Grundbedingungen eines kultursensiblen und interkulturell kompetenten Vorgehens erfüllt werden.12 Einige erläuternde Überlegungen zu oben bereits erwähnten Beispielen von Zugangsbarrieren: Probleme in der sprachlichen Verständigung stellen eine häufige und wichtige Zugangsbarriere dar. Fast alle sozialpädagogischen Praxisbereiche aber sind auf sprachliche Verständigung angewiesen. Solche Probleme sind lösbar. Es ist schon viel wert, wenn Teammitglieder die eine oder andere der Sprachen wenigstens der großen Migrantengruppen, also z. B. Rumänisch, Russisch, Arabisch und Türkisch, ein wenig kennen. In Fortbildungen können Grundkenntnisse erworben werden, die zumindest helfen, Sprachbarrieren abzubauen und Klientinnen das Gefühl zu geben, ernst und wichtig genommen zu werden. Notfalls muss man die Unterstützung durch für die Belange der Sozialen Arbeit spezifisch geschulte Übersetzer in Anspruch nehmen. Ideal aber ist es, wenn Teammitglieder selbst Migranten sind oder aus Migrantenfamilien stammen und daher über für die Arbeit mit Migrantinnen ausreichende Sprachkenntnisse in deren Herkunftssprachen verfügen. Die eigene Erfahrung mit Migration erlaubt es auch unmittelbar, den Stellenwert des Migrationserlebnisses in der Biografie eines Klienten zutreffend zu erkennen. Aber auch für Mitarbeitende ohne eigene Migrationserfahrung muss gelten, dass die Besonderheiten und Implikationen dieses Erlebnisses wahrgenommen und berücksichtigt werden können. Dazu sind spezifische Fortbildungen ebenso erforderlich wie die Berücksichtigung dieser Zusammenhänge in den Handlungskonzepten. Gleichermaßen bedeutsam ist es, dass Handlungskonzepte die soziokulturellen Voraussetzungen berücksichtigen, die Migranten verschiedener Herkunft in ihrem Erleben und Verhalten mitbestimmen und die daher auch in der gemeinsamen Arbeit eine Rolle spielen werden. Religiöse, gesellschaftliche, traditionsbezogene Aspekte müssen bekannt sein und in methodischer Hinsicht wie auch in der Beziehungsarbeit überhaupt eine Rolle spielen. Dabei geht es jedoch nicht um eine bloße wohlwollende Rücksicht auf das »Fremde«, sondern besonders um die Reflexion der soziokulturellen Bedingtheiten der bislang vorliegenden und handlungsführenden Konzepte, Theoriebildungen und fachlichen Überzeugungen. Und es geht um diese Reflexion nicht nur auf der institutionellen Ebene, sondern auch auf der persönlichen 12 Vgl. Ramazan Salman/Soner Tuna/Alfred Lessing (Hg.): Handbuch interkulturelle Suchthilfe. Modelle, Konzepte und Ansätze der Prävention, Beratung und Therapie. Gießen 1999; Martina Schu/Miriam Martin/Dietmar Czycholl: Zugänge finden, Türen öffnen: transkulturelle Suchthilfe. Praktische Erfahrungen aus dem Modellprogramm transVer. Lengerich 2013.

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Ebene der Mitarbeitenden und auf der Ebene der Teams, das sie bilden. Dazu sind Auseinandersetzungen etwa in spezifischen Supervisionen erforderlich, die auch vor der Frage nach den persönlichen Vorurteilen der einheimischen Mitarbeitenden gegenüber Migrantinnen, nach deren Ängsten und deren persönlichen soziokulturellen Prägungen nicht haltmachen. Hiermit wird eine Vertiefung der Thematik auf Ebenen angesprochen, die jenseits der fachlichen Bildung liegen und gerade bei Angehörigen der sozialen Berufe aufgrund deren erlernter Überzeugungen schwer zu erreichen sind. Diesen Forderungen bezüglich der notwendigen Weiterentwicklung sozialpädagogischer Hilfen ist eine weitere, bereits erwähnte, hinzuzufügen, die, wenn sie erfüllt wird, die Erfüllung aller anderen Forderungen erleichtert: In den Fachteams werden nämlich Mitarbeitende benötigt, die selbst Migranten sind. Gerade in den psychosozialen Arbeitsfeldern sollte die Repräsentanz einer Bevölkerungsgruppe, die ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmacht, in vielen gesellschaftlichen Bereichen jedoch massiv unterrepräsentiert und unterprivilegiert ist, eine Selbstverständlichkeit sein. Allerdings sollte mit dieser Repräsentanz nicht die Vorstellung verbunden werden, wenn es genügend Migrantinnen in den Teams gäbe, könnten diese ja dann die Versorgung der Migranten in der Klientel gewährleisten und damit wäre dann das ganze Problem gelöst. Vielmehr geht es um die Entstehung von Multikulturalität als unmittelbare Realität in den Arbeitsfeldern und damit um die Entwicklung des gesamten Systems hin zu einer umfassenderen Kompetenz als der bisher vorhandenen. Ein multikulturelles Team kann sich den Anforderungen, die sich in der Arbeit mit Einheimischen und Migranten stellen und die sich auch jederzeit z. B. durch neue Zuwanderungsbewegungen wandeln können, schon aufgrund der Pluralität seiner soziokulturellen Vorkenntnisse und vor allem aufgrund seiner Erfahrung im Austausch und in Akkulturationsprozessen besser stellen als ein monokulturelles Team. Hiermit ist zweifellos die Verantwortung jeder Fachperson angesprochen. Besonders aber ist die Verantwortung derjenigen angesprochen, die bei Wohlfahrtsverbänden, Leistungsträgern und anderen beteiligten Institutionen über die Definition von Leitbildern, Standards und Qualitätsmerkmalen zu entscheiden haben: Interkulturelle Öffnung der Sozialen Arbeit muss als Organisationsprinzip, transkulturelle Kompetenz als Basisqualifikation angesehen werden. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Überwindung von Zugangsbarrieren durch die Entwicklung transkultureller Kompetenz in einem umfassenden Öffnungsprozess gelingt. Die folgenden Kriterien kennzeichnen eine migrations- und kultursensibel konzipierte, transkulturell kompetente Soziale Arbeit: 214

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Ȥ Die durch die Zuwanderungsdynamik entstehenden, sich verändernden konkreten Bedarfe werden wahrgenommen, beobachtet und durch die Entwicklung angemessener Angebote beantwortet. Ȥ Zielgruppen werden über die Angebote in einer angemessenen, das heißt, einer die Besonderheiten interkultureller Kommunikation berücksichtigenden Weise informiert. Ȥ Paritätische Kooperation mit Migrantenorganisationen findet routinemäßig statt. Ȥ Fachkonzeptionen und praktische fachliche Handlungen beziehen die psychologische Bedeutung des Migrationsprozesses und seiner Auswirkungen, auch auf Folgegenerationen, ein. Ȥ Zugangsbarrieren werden unter Berücksichtigung ihrer Symmetrie systematisch identifiziert und strategisch überwunden. Ȥ Sprachbarrieren werden durch den Einsatz von sprachkundigem Personal oder von geschulten, für den psychosozialen Arbeitsbereich qualifizierten Dolmetschern gesenkt. Ȥ Die Bedeutung soziokultureller Prägungen und der daraus folgenden Besonderheiten interkultureller Kommunikation wird in allen fachlichen Kommunikationsabläufen berücksichtigt. Ȥ Interkulturelle Öffnung wird als versorgungspolitische Strategie zur Verbesserung der Zugänge etabliert; dies geht einher mit umfassenden Veränderungen im ganzen Versorgungssystem und allen seinen Teilen (Leitbild, Leitungsentscheidung, Personalpolitik, Aus- und Weiterbildung, Entwicklung transkultureller Kompetenzen usw.). Ȥ Diversitätsorientierung bestimmt auch Stellenausschreibungen und Personalpolitik. Ȥ Transkulturelle Kompetenz wird systematisch (weiter-)entwickelt in ihren Aspekten Analyse-, Handlungs- und besonders Reflexionskompetenz. Ȥ Transkulturelle Reflexionskompetenz ermöglicht es, auf personaler Ebene Auseinandersetzungen mit Ängsten, Vorurteilen, Ethnozentrismen, soziokulturellen Prägungen zu führen und auf institutioneller Ebene fachliche Konzepte, Standards, Theoriebildung und jede Art von »Selbstverständlichkeit« auf ihre soziokulturelle Bedingtheit, Stereotypisierungen, Ethnozentrismen usw. hin zu überprüfen. Ȥ Transkulturelle Kompetenz wird als Grund-Haltung verstanden und eta­ bliert, nicht als Zusatzqualifikation oder Spezialisierung. Ȥ Gesellschaftliche Machtdifferentiale und die daraus folgenden Mechanismen von Ausgrenzung, Projektion, Stigmatisierung u. a. werden reflektiert und analysiert, um ihre Übernahme in Fachsettings zu verhindern. Beratung – integrativ und transkulturell

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Ȥ Die zur interkulturellen Öffnung und zur (Weiter-)Entwicklung transkultureller Kompetenz erforderlichen Prozesse werden auf der Meta-Ebene begleitet (regelmäßige spezifische Supervision, Routinethematisierung usw.). Der wohl bedeutendste Aspekt der Entwicklung transkultureller Kompetenz besteht in der Auseinandersetzung mit soziokulturellen Wirkungsgefügen. Hier geht es zunächst um die Erfahrung und das Bewusstsein, dass Sozialisationsgeschichte und soziokultureller Hintergrund von Migrantinnen in komplexer Weise in deren gesamten psychosozialen Wirklichkeit wirksam sind. Daraus folgt, dass zum Beispiel Themen wie Drogenkonsum, Beratungssettings, Familienstrukturen, Kontaktgestaltung, Vorstellungen von Krankheit, Heilung, Professionalität in einer Art aufgefasst werden können, die sich von der hierzulande üblichen stark unterscheidet. Ein erster Schritt interkultureller Verständigung, der zu leisten ist, besteht darin, diesen Sachverhalt wahrzunehmen und derartige prägende Hintergründe des Klienten zu erkunden und zu verstehen. Ein zweiter, womöglich noch wichtigerer Schritt besteht darin, die eigenen Prägungen zu reflektieren. Auch einheimische Fachleute haben eine spezifische Sozialisationserfahrung, unterliegen den Einflüssen soziokultureller Bedingungen und sind in ihrem Wahrnehmen, Denken und Handeln nicht frei davon, vieles als selbstverständlich anzusehen, was es bei genauerem Hinsehen gar nicht ist. Damit öffnet sich der Weg zu einer kritischen Befragung nicht nur persönlicher Einstellungen, sondern auch fachlicher Überzeugungen und Selbstverständlichkeiten, konzeptioneller Traditionen, theoretischer Vorstellungen. Die Entwicklung transkultureller Kompetenz in dem hier skizzierten Sinne ist nicht als eine Spezialisierung oder die Entwicklung von Zusatzqualifikationen misszuverstehen. Die Fähigkeit, von eigenen soziokulturellen Bedingtheiten zu abstrahieren, die Bereitschaft, in der Begegnung mit dem »Fremden« sich selbst zu erfahren, die Möglichkeit, die eigenen Konzepte, Vorstellungen, scheinbar klaren fachlichen Standpunkte zu hinterfragen und zu überprüfen, sollten grundsätzlich zu den Kompetenzen der Mitarbeitenden und der Teams psychosozialer Einrichtungen gehören. Transkulturelle Kompetenz ist nicht eine spezialisierte, also nur im Sonderfall brauchbare Abwandlung, sondern eine generelle Erweiterung menschlicher und professioneller Kompetenz. Psychosoziale Arbeit mit Migranten stellt nicht ein Sonderproblem dar, vielmehr akzentuiert und vertieft sie alle Aspekte, die für diese Arbeit und die damit zusammenhängenden Interaktionen mit Menschen überhaupt wesentlich sind. Das Spezifische ist, wie Hegel einmal bemerkt, nicht das Gegenteil, sondern die Vertiefung des Allgemeinen. 216

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6 Integration Im Zusammenhang mit Zuwanderung ist fortwährend von Integration die Rede. Integration soll sämtliche Probleme lösen, Integration soll der Schlüssel zum friedlichen Zusammenleben, das Erlernen der Sprache des Aufnahmelandes aber wiederum der Schlüssel zur Integration sein. Integrationsverweigerung ist demgemäß verrucht. Integration ist nämlich gut, und zwar dann, wenn sie in erster Linie als Pflicht des Zuwanderers verstanden wird. Gewiss, es wird auch betont, Integration sei »keine Einbahnstraße«, dies bedeutet jedoch zumeist, auch die Aufnahmegesellschaft habe sich darum zu kümmern, dass Zuwandernde in ihren pflichtgemäßen Integrationsbemühungen vorankommen. Da nämlich Integration als Eingliederung verstanden wird, müssen auch die Einheimischen so etwas zulassen, in Reih und Glied der Einheimischen muss gewissermaßen auch etwas Platz gelassen werden, damit sich andere dahineingliedern können. Fortschrittliche sozialpolitische Denker stellen sich dabei auch nicht mehr vor, die Einzugliedernden müssten sich der einheimischen Gliederung vollständig anpassen und unerkennbar darin aufgehen: Nach Eingliederung darf vielmehr noch erkennbar bleiben, dass es auch ein Vor-der-Eingliederung gab. Die psychologischen Implikationen der Migration bedingen indes, dass Eingliederung als Lösungskonzept gar nicht so ohne Weiteres funktionieren kann. Migrationserfahrungen gehen mit grundlegenden Entwicklungsvorgängen einher. Wie in anderen großen Lebensübergängen sind Krisenverläufe, Interaktionen, Kompromisse und die gesamte Entwicklungsdialektik zu beachten. Lebensübergänge sind Entwicklungen eines Ganzen, einer kompletten Welt, die nicht subjektiv zu fassen, also im einzelnen Menschen zu lokalisieren, sondern als Gestaltwandel, als Metamorphosen der Wirklichkeit zu verstehen sind. Komplette Wirklichkeitskonstruktionen werden in den Lebensübergängen umgebrochen. Das birgt unbegrenzte Gefahren und unbegrenzte Möglichkeiten zugleich. Brüche von Wirklichkeitskonstruktionen führen zu Wunden und Verletzungen. Auch diese betreffen nicht nur die einzelnen Menschen, die direkt damit zu tun haben, sondern die Welten, in denen sie leben. Das Leben in Parallelgesellschaften kann demgemäß als geeignete Methode zur Bewältigung migrationsbedingter Probleme fungieren (s. o.). Der Verlust vertrauter Wirklichkeitskonstruktion wird dann teilweise dadurch geheilt, dass Konstruktionen verwirklicht werden, die den verlorenen ähnlich sind. Das kann sich auf alle Ebenen von sprachlichen Symbolsystemen beziehen, aber auch auf alles »Kulturelle«, auf Sitten, Gewohnheiten, Umgebungsgestaltung, Musik etc. In der Tat hat die Bewältigungsmethode der Parallelwelt im Zusammenhang mit Migrationsbewegungen immer stattgefunden, zu allen Zeiten, in allen kulturBeratung – integrativ und transkulturell

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historischen Kontexten: Deutsche Einwanderer in Nord- und Südamerika, russische Einwanderer in Israel, türkische Einwanderer in Deutschland, französische Einwanderer in Preußen, pakistanische Einwanderer in England, römische Einwanderer in Germanien, gallische Einwanderer in Rom – immer entstanden, mindestens vorübergehend, Parallelgesellschaften der Einwanderer. Sie mussten entstehen, um Brüche abzumildern und Übergänge zu gestalten. Für die Aufnahmegesellschaften aber bedeutet die Entstehung immer neuer Gesellschaftsvarianten Innovation, Anregung und Pluralität. Auseinandersetzungs-, Aneignungs-, Umgestaltungs- und Akkulturationsprozesse sowie wesentliche Kulturimpulse bauen sodann darauf auf. Wird Integration als Eingliederung verstanden und soll eine solche Integration als Lösung für migrationsbedingte Probleme herhalten, werden die psychologischen Implikationen der Migration schlicht ignoriert – vielleicht absichtsvoll übergangen, wahrscheinlich aber gar nicht begriffen. Wie könnte sonst z. B. auch nur die Idee entstehen, es sei eine migrationspolitisch vernünftige Maßnahme, für viele Migranten den Familiennachzug zu verhindern oder zu erschweren? Wie sollen migrationsbedingte Lebenskrisen überwunden werden, wenn die Wiederherstellung wesentlich wichtiger Beziehungskonstruktionen verhindert wird? Die Entwicklung von Krisensymptomen kann mit derartigen Maßnahmen und aufgrund eines verfehlten Integrationsbegriffes nur geradezu provoziert werden. Dabei würde schon der Blick auf die Etymologie des Integrationsbegriffes einiges klarmachen und dazu beitragen können, fundamentale Fehler zu verhindern: Nach Schellers Handlexicon von 1796 bedeuten die zwei lateinischen Verbbildungen, die ins Deutsche mit »integrieren« zu übersetzen sind: integrasco, -ere, 1) sich erneuern, 2) ganz werden; integro, -avi, -atum, -are, 1) erneuern, wieder anfangen, 2) erfrischen, erquicken, 3) wieder herstellen, heilen, 4) ergänzen. Die substantivische lateinische Entsprechung zum deutschen »Integration« bedeutet: integratio, -onis, Erneuerung, Erfrischung, Ermunterung. In seinem wirklichen Wortsinn »Erneuerung« oder »Ganzwerdung« also ist der Integrationsbegriff psychologisch wirklich brauchbar. In dem Sinn, der sozialpolitisch oktroyiert wird, hingegen ist er deplatziert, kontraproduktiv und irreleitend.

Literatur Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e. V. (AWO)/Fachverband Drogen und Rauschmittel (FDR) e. V. (Hg.)/Wolfgang Barth/Dietmar Czycholl: Sucht. Migration. Hilfe. Vorschläge zur interkulturellen Öffnung der Suchthilfe und zur Kooperation von Migrationsdiensten und Suchthilfe. Geesthacht 2006.

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Dietmar Czycholl (Hg.): Sucht und Migration. Spezifische Probleme in der psychosozialen Versorgung suchtkranker und-gefährdeter Migranten. Berlin 1998. Dietmar Czycholl: Integration heißt Erneuerung. Beiträge zu Migration und Sucht. Lengerich 2017. Dietmar Czycholl: Suchtrehabilitation mit Patienten mit Migrationshintergrund. Migration, Rehabilitation, Integration. Suchttherapie 19, 3/2018, 126–131. Dietmar Czycholl/Solmaz Golsabahi-Broclawski: Migration und Sucht. In: Melanie Wolff/Winfried Looser/Gabriela Cvetanovska-Pllashniku (Hg.): Multiprofessionelle Behandlung von Suchtkranken. Praxishandbuch für Pflege- und Gesundheitsberufe. Bern 2021, S. 173–192. Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriss der Humanethologie. München 1984. Norbert Elias/John L. Scotson: Etablierte und Außenseiter. Frankfurt a. M. 1990. Mircea Eliade: Das Mysterium der Wiedergeburt. Initiationsriten, ihre kulturelle und religiöse Bedeutung. Zürich 1961. Johann Wolfgang von Goethe: Selige Sehnsucht. In: West-oestlicher Divan. Stuttgart 1819. León Grinberg/Rebeca Grinberg: Psychoanalyse der Migration und des Exils. München 1990. Hermann Hesse: Demian. Frankfurt a. M. 1974 (1919). Herodot: Historien, hg. v. Josef Feix, 3, 38. Düsseldorf 2001. Otto Rank: Das Trauma der Geburt und seine Bedeutung für die Psychoanalyse. Frankfurt a. M. 1988 (1924). Ramazan Salman/Soner Tuna/Alfred Lessing (Hg.): Handbuch interkulturelle Suchthilfe. Modelle, Konzepte und Ansätze der Prävention, Beratung und Therapie. Gießen 1999. Immanuel Johann Gerhard Scheller: Lateinisch-deutsches Handlexicon. Leipzig 1796. Martina Schu/Miriam Martin/Dietmar Czycholl: Zugänge finden, Türen öffnen: transkulturelle Suchthilfe. Praktische Erfahrungen aus dem Modellprogramm transVer. Lengerich 2013. Carlos E. Sluzki: Psychologische Phasen der Migration und ihre Auswirkungen. In: Thomas Hegemann/Ramazan Salman (Hg.): Handbuch Transkulturelle Psychiatrie. Bonn 2001, S. 108–123. Statistisches Bundesamt (Destatis): Migration 2021: 329 000 Personen mehr zu- als abgewandert, 28.06.2022. https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2022/06/PD22_268_12411. html (Zugriff am 13.10.2022). Luigi Zoja: Sehnsucht nach Wiedergeburt. Ein neues Verständnis der Drogensucht. Stuttgart 1986.

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»Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker« – das ist der Satz, der im deutschen Fernsehen wohl am häufigsten gesagt wird. Religion, Glaube und Spiritualität sind nicht nur wirksam, sondern können unerwünschte Nebenwirkungen haben. Auch wenn laut Friedrich dem Großen »jeder nach seiner eigenen Fasson selig werden soll«, ist es wichtig, wahrzunehmen, wie manche religiösen Struk­ turen eher zum Unglück als zur Seligkeit führen können. Eine selbstkritische Reflexion soll helfen, den Missbrauch des Religiösen zu verhindern.

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1 Dysfunktionaler Glaube: das Missbrauchspotenzial der Religionen In letzten beiden Jahrzehnten haben viele Studien die positiven Wirkungen religiösen Glaubens belegt.1 Ein interdisziplinäres Bonner Forschungsprojekt der Theologie, Psychiatrie, Neurowissenschaft und Psychologie untersucht aktuell die »Resilienz in Religion und Spiritualität«. Im Mittelpunkt des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts steht die Frage, mit welchen psychotherapeutischen und seelsorgerlichen Methoden religiöse und spirituelle Widerstandskräfte gestärkt werden können (Richter 2021).2 Bei aller Euphorie über die Gesundheitseffekte positiver Spiritualität darf das Missbrauchspotenzial der Religionen nicht vergessen werden. Zahlreiche Berichte zeugen davon, wie durch eine repressive religiöse Erziehung seelischer Schaden entstehen kann.3 Während religiöser Glaube aus theologischer Sicht 1

Michael Utsch/Raphael M. Bonelli/Samuel Pfeifer: Psychotherapie und Spiritualität. Mit existenziellen Konflikten und Transzendenzfragen professionell umgehen. 2. Aufl. Berlin 2018. 2 Cornelia Richter (Hg.): An der Grenze des Messbaren. Die Kraft von Religion und Spiritualität in Lebenskrisen. Stuttgart 2021. 3 Werner H. Ritter: Religiöse Erziehung als Schwarze Pädagogik. Beobachtungen und Überlegungen zum destruktiven Potenzial religiöser Erziehung. In: Marianne Leuzinger-Bohleber/ Paul-Gerhard Klumbies (Hg.): Religion und Fanatismus. Psychoanalytische und theologische

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Freiheit und Selbstverantwortung fördert, wird er unter bestimmten Umständen zum Machtmissbrauch instrumentalisiert, führt zu Abhängigkeiten und erzeugt Minderwertigkeitsgefühle.4 Zwingmann, Klein und Jeserich haben in einem Sammelband empirische Beiträge der dunklen Seite von Religiosität zusammengestellt.5 Dabei kommen negative Gottesbilder, das Konzept der »ekklesiogenen Neurose« sowie die Herausforderungen des wachsenden religiösen Fundamentalismus zur Sprache. Bis heute sind streng moralisierende, religiös überhöhte Erziehungskonzepte anzutreffen, in denen Gott als unbarmherziger Richter instrumentalisiert wird. Dadurch entstehen Gottesbildprobleme bis hin zu religiös bedingten Zwangsstörungen, die behandlungsbedürftig sind. Während man früher derartige Störungen als ekklesiogene (»kirchenbedingte«) Neurosen bezeichnete6, wird derzeit eher das Konzept »spirituelle Krise«7 verwendet. Dysfunktionale Religiosität, also Fehlformen der Religiosität oder durch Spiritualität bedingte Erkrankungen, beispielsweise religiöse Zwänge, sind erstaunlicherweise auch heute noch weit verbreitet. Ein Experte für Zwangserkrankungen geht von über 120.000 behandlungsbedürftigen religiös bedingten Zwangserkrankten in Deutschland aus.8 Zusammen mit einem Seelsorger hat er Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten untersucht und eine Strategie dazu entwickelt, wie Betroffene sich von einem einseitig-verzerrten Gottesbild befreien und ihren Glauben neu als eine Kraftquelle entdecken können. Ein besonders sensibles Gebiet, das manchmal professioneller Beratung bedarf, ist die religiöse Sozialisation. Aus entwicklungspsychologischer Sicht stellt es eine besondere Herausforderung dar, das Recht der Eltern auf religiöse Erziehung mit dem Schutz Minderjähriger vor Grundrechteverletzungen in Übereinstimmung zu bringen. In der Sozialen Arbeit und Familienhilfe

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Zugänge. Göttingen 2010, 308–324; Burkhard Ciupka-Schön/Hartmut Becks: Himmel und Hölle. Religiöse Zwänge erkennen und behandeln. Ostfildern 2018. Ute Aland: Die Gottesversprecher. Roman frei nach wahren Begebenheiten. Gießen 2015; Hanne Baar: Gottesverwechslung. Jana-Herzberg-Grafiken. Beiträge zu einer christlichen Tiefenpsychologie. Würzburg 2014; Jochen Sautermeister/Andreas Odenthal (Hg.): Ohnmacht. Macht. Missbrauch. Theologische Analysen eines systemischen Problems. Freiburg 2021; Martina Kessler (Hg.): Religiösen Machtmissbrauch verhindern. Gießen 2021. Christian Zwingmann/Constantin Klein/Florian Jeserich (Hg.): Religiosität: Die dunkle Seite. Beiträge zur empirischen Religionsforschung. Münster 2017. Ulrike M. S. Röhl: Macht Religion krank? Die Frage nach den »ekklesiogenen« Neurosen. Marburg 2015. Liane Hofmann/Patrizia Heise (Hg.): Spiritualität und spirituelle Krisen. Handbuch zu Theorie, Forschung und Praxis. Stuttgart 2017. Ciupka-Schön/Becks 2018.

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müssen immer wieder Familienkonflikte geschlichtet werden, bei denen das individuelle Recht auf Glaubensfreiheit der Erziehungsperson mit einer möglichen Kindeswohlgefährdung kollidiert.9 Diesbezüglich haben in den letzten Jahren familienrechtliche Konflikte im Kontext religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften, in denen auch psychologische Gutachten zur Gefahreneinschätzung eine wichtige Funktion übernehmen, zugenommen. Für diesen Kontext hat die »Sekten-Info NRW« eine hilfreiche Handreichung erarbeitet, in der die familienrechtlichen Grundlagen sowie konfliktträchtige Erziehungspraktiken und Glaubensvorstellungen religiöser und ideologischer Gemeinschaften und deren Auswirkungen auf das Kindeswohl an Fallbeispielen aus unterschiedlichen religiösen und spirituellen Milieus dargestellt worden sind.10 Diese Handreichung kommt zu dem Schluss, dass wirksamer Kinderschutz religionskundliches Grundlagenwissen erfordert und eine gelingende Zusammenarbeit unterschiedlicher Stellen, z. B. von Mitarbeitenden des Jugendamts, Sachverständigen, Verfahrensbeiständen u. a. voraussetzt. Das Kindeswohl hängt dabei nicht an der Größe der religiösen Gruppe. Das Klischee »eine Kirche tut Kindern gut, eine Sekte schadet ihnen« lässt sich nicht halten. In einer multireligiösen Gesellschaft ist der Umgang mit religiösen Minderheiten wichtig, um ihnen nicht mit Vorurteilen zu begegnen und ihre Mitglieder zu stigmatisieren.

2 Gefahr der Stigmatisierung: zum Begriff »Sekte« Nach den kollektiven Selbstmorden der Davidianer in Waco 1993, der (Selbst-) Morde der Sonnentempler 1994/1995 sowie dem Giftgasanschlag der AumShinrikyo-Gruppe in Tokio 1995 entwickelte sich in den 1990er-Jahren in den europäischen Staaten eine Auseinandersetzung mit den »neuen religiösen Gemeinschaften«, die landläufig als »Sekten« bezeichnet werden. Es folgten Verschärfungen von Strafverfolgungsbestimmungen in Frankreich, Belgien, Spanien und Deutschland sowie auch die Installierung ministerieller Arbeitsgruppen. In Deutschland gab es eine vom 13. Deutschen Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission, die in ihrem Endbericht empfahl, den stigmatisierenden

9 Michail Logvinov: Kindeswohlgefährdung im Kontext fundamentalistischer Pädagogik. Forum Kriminalprävention, 2/2019, 37–40. 10 Anja Gollan/Sabine Riede/Stefan Schlang: Glaubensfreiheit versus Kindeswohl. Familienrechtliche Konflikte im Kontext weltanschaulicher Gemeinschaften. Essen 2018.

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Begriff »Sekte« durch »konfliktträchtige Gruppe« zu ersetzen.11 Doch dieser sperrige Begriff hat sich nicht durchgesetzt. Auch eine Ehe oder ein Sportverein sind »konfliktträchtig«, deshalb ist der Begriff nicht trennscharf. Der Begriff »Sekte« ist insofern missverständlich, weil er alltagssprachlich zumeist stigmatisierend verwendet wird.12 Während er im religionswissenschaftlichen Kontext wertneutral eine Abspaltung von einer Mutterreligion bezeichnet, z. B. das Christentum aus dem Judentum herkommend oder die Protestantinnen und Protestanten als Abkömmlinge der Katholikinnen und Katholiken, wird er in der Alltagssprache häufig mit negativer Konnotation verwendet, um eine manipulative Gruppe oder eine Guru-Bewegung zu charakterisieren. Dabei darf nicht vergessen werden, dass in einer rückblickenden Erzählung »Betroffener« oder »Aussteiger« durch ihre Perspektive keine neutrale Beschreibung der Gruppe liefern, sondern subjektive »Sektenbilder« entstehen, die der persönlichen Sichtweise auf die eigene Leidensgeschichte entspringen.13 Solche subjektiven Erfahrungen bedürfen der objektivierenden Einordnung durch außen, was eine professionelle Beratung leisten kann und soll. Wegen der schwammigen Begrifflichkeit gibt es keine belastbaren Zahlen zur Größe neureligiöser Gruppen. Eine grobe Einteilung stellt ca. 3 Prozent Mitglieder neureligiöser Bewegungen der großen Mehrheit von Mitgliedern traditioneller Religionsgemeinschaften (67 Prozent) gegenüber und etwa 30 Prozent der deutschen Bevölkerung sind kein Mitglied einer Glaubensgemeinschaft.14 Obwohl in den letzten Jahren zahlreiche regionale Religionsführer publiziert wurden, in denen die recht unübersichtliche Vielfalt alter und neuer religiöser Gruppen in einer Region vorgestellt werden – oftmals mehrere hundert – gibt es derzeit außer einem kirchlichen Handbuch15 keine solide religionswissenschaftliche Übersicht. Da der im »Verlag der Weltreligionen« erschienene Band über »Neureligionen und ihre Kulte« primär die amerikanische Religionskultur behandelt, lässt er sich nur sehr eingeschränkt auf die europäische Situation

11 Deutscher Bundestag (Hg.): Endbericht der Enquete-Kommission »Sogenannte Sekten und Psychogruppen«. Bonn 1998. https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/13/109/1310950.pdf (Zugriff am 10.10.2022). 12 Sebastian Murken/Franziska Dambacher: Neue religiöse Bewegungen, Sekten oder religiöse Minderheiten? In: Edith Franke (Hg.): Religiöse Minderheiten und gesellschaftlicher Wandel. Wiesbaden 2014, S. 237–250. 13 Melanie Möller: Sektenbilder in Erfahrungsberichten. Hybriditäten zwischen Literatur und Religion. Bochum 2019. 14 Murken/Dambacher 2014. 15 Matthias Pöhlmann/Christina Jahn (Hg.): Handbuch Weltanschauungen. Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen. Gütersloh 2015.

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anwenden.16 Zur Erstinformation über die deutschsprachige Situation ist das »ABC der Weltanschauungen« besser geeignet.17 Als ein zentrales Merkmal für eine »konfliktträchtige Gruppe« mit ideologischer Ausrichtung kann ihre Konstituierung über eine charismatische Führerpersönlichkeit bezeichnet werden, deren narzisstische Bedürfnisse durch die Gruppe gestillt werden. Die damit verbundenen Phänomene einer autoritären Persönlichkeitsstruktur, faschistoider Dynamiken oder fundamentalistischer Weltdeutungen sind in der letzten Zeit recht präzise beschrieben worden.18 Wenn eine sozial geschlossene Gruppe, der man nur in einem längeren Prozess beitreten kann, dann noch eine apokalyptisch-endzeitliche Ausrichtung hat, wird sie besonders gefährlich. Immer noch erschütternd ist der Massensuizid, bei dem Jim Jones, der Gründer des »Peoples Temple«, im Jahr 1978 über 900 seiner Anhänger im Urwald von Guyana in den Tod führte.19 Die Angehörigen des Sonnentempelordens rechneten mit dem baldigen Weltuntergang, bevor es in den Jahren 1994/1995 zu 53 simultanen Suiziden in Kanada und in der Schweiz kam.20 Im Jahr 1997 begingen 39 Mitglieder des UFO-Kults »Heaven’s Gate« durch Autoabgase Suizid. Dabei finden sich bei solchen Gruppen zwei zentrale Faktoren, nämlich ein totaler Rückzug aus der sozialen Umwelt und deren Interpretation als universell böse. Weltweite Aufmerksamkeit erhielt die japanische synkretistische Neureligion Aum Shinrikyo im Jahr 1995. Bei einem von Mitgliedern verübten Giftgasanschlag in der U-Bahn in Tokio wurden mehr als 6.000 Personen verletzt, 13 starben. Infolge dieses Sarin-Anschlags wurden zwölf führende Mitglieder der Gruppe zum Tode verurteilt und die Urteile im Jahr 2018 vollstreckt. Diese Gruppe wird als ein herausragendes Beispiel charismatischer Führung gepaart mit einer totalitären Gruppenstruktur und blinden Gefolgschaft der Mitglieder betrachtet. Durch gezielte Anwendung von Meditationstechniken wie schnellem Atmen seien die Mitglieder in einen Zustand religiöser Erregung versetzt und an die Gruppe 16 Douglas E. Cowan/David G. Bromley: Neureligionen und ihre Kulte. Berlin 2010. 17 Michael Utsch (Hg.): ABC der Weltanschauungen. EZW-Texte 272. Berlin 2021. 18 Peter Conzen: Fanatismus. Psychoanalyse eines unheimlichen Phänomens. Forum der Psychoanalyse, 23, 2007, 99–119; Arthur Deikman: Them and Us. Cult Thinking and the Terrorist Threat. Berkley 2003; Bernhard Grom: Mitgliedschaft in einer spirituellen Gruppe. In: Bernhard Grom: Religionspsychologie. 3. Aufl. München 2007, 272–289; Vamik D. Volkan: Blindes Vertrauen. Großgruppen und ihre Führer in Krisenzeiten. Gießen 2005. 19 Literarische Verarbeitung von Celeste Jones/Kristina Jones/Juliana Buhring: Nicht ohne meine Schwestern. Gefangen und missbraucht in einer Sekte. Bergisch Gladbach 2009; Deborah Layton: Selbstmord im Paradies. Mein Leben in der Sekte. Frankfurt 2008. 20 Hans-Peter Kapfhammer: Religiöser Wahn und wahnhafte Religiosität in religiösen Gruppierungen. Das Beispiel von apokalyptischer Suizidalität und Gewalt. Persönlichkeitsstörungen. Theorie und Therapie, 12, 2008, 123–136.

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gebunden worden. Sie hätten mit der Zeit eine »Aum-Identität« entwickelt, zu der es gehört habe, Gewaltanwendung der Gruppe nicht wahrzunehmen und mögliche, von ihrer »Nicht-Aum-Identität« ausgehende Fragen zu unterdrücken.21 Der amerikanische Soziologe Elliot Benjamin hat eine »Kult-Checkliste« entwickelt, in der das Gefährdungspotenzial einer manipulativen Gruppe gewichtet wird.22 Dabei wurden folgende 15 Faktoren unterschieden, die jeweils zwischen »sehr niedrig« (1) und »sehr hoch« (10) zu gewichten sind. Kult-Checkliste – Gefährdungspotenzial einer manipulativen Gruppe23 – Interne Kontrolle: Wie viel Macht übt der Gruppenleiter oder die Gruppenleiterin auf die Mitglieder aus? – Wahrheitsanspruch: Sind Lehre und heilige Schriften unanfechtbar? – Zugeschriebene Weisheit: Wie viel Vertrauen setzen die Mitglieder in ihren Leiter bzw. ihre Leiterin? – Dogma: Starrheit der Realitätskonzepte, Fundamentalismus – Rekrutierung: Wie wichtig ist die Anwerbung neuer Mitglieder? – »Front«-Gruppen: Anzahl versteckter Ableger, die andere Namen als den der Hauptgruppe benutzen – Materialismus: Wie viel Wert wird auf Spenden der Mitglieder gelegt? – Politische Macht: Wie viel politische Macht sucht oder hat die Gruppe? – Sexuelle Manipulation: Inwieweit wird die Sexualität der Mitglieder kontrolliert? – Zensur: Wie viele externe Meinungen über die Gruppe sind zulässig? – Aussteigerkontrolle: Werden Mitglieder vom Ausstieg aus der Gruppe zurückgehalten? – Gewalt: Arbeitet die Gruppe oder der Leiter bzw. die Leiterin mit Gewalt? – Verschwörungstheorien: Werden reale oder imaginäre Feinde gefürchtet? – Humor: Sind Witze über die Gruppe, ihre Lehre und ihren Leiter bzw. ihre Leiterin möglich? – Willensaufgabe: Wird den Mitgliedern weisgemacht, für ihre Entscheidungen nicht verantwortlich zu sein?

Dieses Bewertungsschema wurde nun an vier Gruppen angelegt, die Benjamin aus persönlichem Erleben wie auch der Literatur kannte. Nach einer exakten Auswertung der einzelnen Kategorien ging er bei der Scientology-Organisation 21 Benjamin Beit-Hallahmi: Death, Fantasy, and Religious Transformations. In: Jerry S. Piven (Hg.): The psychology of Death in Fantasy and History. Westport 2004, S. 87–117. 22 Elliot Benjamin: Spirituality and Cults: An Experimental Analysis. June 2005. http://integralscience.org/spiritualitycults.pdf (Zugriff am 10.10.2022). 23 In Anlehnung an Benjamin 2005, S. 4.

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von hoher Kultgefahr aus, während die drei anderen esoterisch geprägten Persönlichkeitstrainings vergleichsweise wenig Manipulationspotenzial enthielten. Neben den beiden erwähnten Faktoren hinsichtlich der Gruppenleitung und struktureller Aspekte ist jedoch auch eine Analyse von rekrutierten Gruppenmitgliedern und ihrer Lebenssituationen bedeutungsvoll. In Zeiten persönlicher Instabilität, eines beruflichen Wechsels oder einer »spirituellen« Lebenskrise liegen die stabilisierenden Funktionen eindeutiger Antworten und klarer Strukturen auf der Hand, die eine straff organisierte Gruppe bieten kann. Gerade Menschen, die sich von einer Optionsvielfalt überfordert fühlen, suchen einfache, klare Antworten in scheinbar geordneten Strukturen. Auch im 21. Jahrhundert gibt es einen erstaunlich hohen Bedarf an Gurus, Meisterinnen und Erleuchteten, sei es im Bildungs- oder Personalentwicklungsbereich, dem Coaching oder auch der Alternativmedizin.24 Dabei wird insbesondere auf dem esoterischen Lebenshilfemarkt die Sehnsucht von Menschen nach Sicherheit und Führung durch viele der Meister oder spirituellen Lehrerinnen mit einfachen Lösungsvorschlägen perfekt bedient. Daher wurde bereits vor mehr als zehn Jahren deutliche Kritik am Machtmissbrauch in solchen psycho-spirituellen Gruppen geübt.25 Hierbei wurde nachgewiesen, wie Spiritualität bei manchem Gruppenleiter eher zum Ausleben egoistischer Motive gedient hat und dass gerade Jugendliche und junge Erwachsene anfällig für Idealisierungen und ideologische Vereinnahmung seien. Ein wichtiger Abhängigkeitsfaktor stellt die Lehrer-Schüler-Beziehung dar, die oft zu einem klassischen Fallstrick religiöser und spiritueller Gruppen wird. Dabei beschäftigt dieses Thema nicht nur die christlichen Kirchen, deren missbräuchlicher Umgang mit Macht und vor allem deren sexuelle Gewalt auch in Deutschland durch Studien offengelegt wurde und zu massivem Vertrauensverlust der Kirchen in der Gesellschaft geführt hat26, sondern auch buddhistische Organisationen. Radikalisierungsprozesse und eine »Versektung« finden nicht

24 Vgl. Ursula Baatz: Spiritualität, Religion, Weltanschauung. Landkarten für systemisches Arbeiten. Göttingen 2017; Almut-Barbara Renger (Hg.): Meister und Schüler in Geschichte und Gegenwart. Von Religionen der Antike bis zur modernen Esoterik. Göttingen 2012. 25 Angelika Doerne: Ein Leitfaden zur kritischen Auseinandersetzung mit (psycho-)spirituellen Gruppen – am Beispiel der Bhagwan-Bewegung. Transpersonale Psychologie und Psychotherapie, 2/15, 2009, 19–34. 26 Harald Dreßing/Dieter Dölling/Dieter Hermann/Andreas Kruse/Eric Schmitt/Britta Bannenberg/Andreas Hoell/Elke Voss/Hans Joachim Salize: Sexueller Missbrauch durch katholische Kleriker. Retrospektive Kohortenstudie zum Ausmaß und zu den gesundheitlichen Folgen der betroffenen Minderjährigen (MHG-Studie). Deutsches Ärzteblatt, 22/116, 2019, 389–396.

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nur im Christentum und Islam27 statt, sondern auch in buddhistischen Gruppen, selbst und gerade wenn diese sich des Stereotyps buddhistischer Friedfertigkeit bedienen.28

3 Beratungsbedarf in Weltanschauungsfragen Auf der Suche nach Orientierung und Sinn geraten manche Menschen in Sackgassen oder Einbahnstraßen. Sie vertrauen etwa einer spirituellen Lehrerin, die sich als »astrologisch hellsichtig« vorstellt und sichere Prognosen für die Zukunft bereithält. Im Rückblick stellt sich das aber als falsch und übergriffig heraus. Sie hat stärker ihre eigenen finanziellen Interessen als das Wohlbefinden ihrer Klienten im Blick und deshalb mehr geschadet als genutzt. Weil der Leidensdruck bei einer spirituellen Krise manchmal so massiv wird, dass sie die seelische Gesundheit beeinträchtigt, wurde sie als eine Störungsdiagnose in psy­chia­trische Klassifikationssysteme aufgenommen.29 Bei Ratsuchenden, die sich von einem weltanschaulichen Konflikt überfordert fühlen, weil eine Glaubensgemeinschaft sie enttäuscht hat, werden in einer spirituellen Krise Expertise und Begleitung gesucht. Dabei ist zunächst genau zu unterscheiden, in welcher Position die ratsuchende Person in den Konflikt verstrickt ist: Ist die Person primär betroffen, leidet sie in einer Gruppe und will möglicherweise »aussteigen«? Ist sie als Freundin oder Familienmitglied sekundär betroffen und von dem Rückzug und den Veränderungen der primär Betroffenen irritiert? Oder werden Informationen über eine Gruppe oder Bewegung für einen Zeitungsbericht oder eine schulische oder studentische Qualifizierungsarbeit gesucht oder um etwa eine Entscheidungsgrundlage bei einer Vermietungsanfrage zu erhalten? Die Mitgliedschaft in einer geschlossenen ideologischen Gruppe beschäftigt Ärzte, Therapeutinnen und Berater zunehmend, weil sie immer wieder pathologische Auffälligkeiten nach sich zieht. Studien aus der Psychiatrie und der

27 Vgl. zum Islam Herbert Csef: Faszination Dschihad. Was junge Deutsche beim IS suchen und finden. Journal für Psychologie, 1/25, 2017. https://www.journal-fuer-psychologie.de/index. php/jfp/article/view/430/473 (Zugriff am 10.10.2022); Jan Ilhan Kizilhan/Alexandra Cavelius: Die Psychologie des IS. Die Logik der Massenmörder. München 2016. 28 Anne I. M. Anders/Michael Utsch: Missbrauch in religiösen Gemeinschaften anhand von Fallbeispielen buddhistischer Gruppen. Persönlichkeitsstörungen 24/3, 2020, 222–240. 29 Vgl. Liane Hofmann/Patrizia Heise (Hg.): Spiritualität und spirituelle Krisen. Handbuch zu Theorie, Forschung und Praxis. Stuttgart 2017.

Beratungsherausforderungen im welt­anschaulichen Pluralismus

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Sozialen Arbeit belegen dies eindeutig.30 Bei weltanschaulichen Konflikten ist weltanschauliche Beratung in besonderer Weise herausgefordert, die verschiedenen Konfliktdimensionen zu unterscheiden und angemessen einzubeziehen. Aus unterschiedlichen Anlässen wird Beratung in Weltanschauungsfragen in Anspruch genommen (vgl. Tab. 1). In vielen deutschen Metropolen präsentieren mittlerweile viele hundert religiöse und weltanschauliche Kleingruppen auf dem »Markt der Sinnanbieter« ihre Kurse und Seminare. Hier helfen differenzierte Informationen zu einer sachgerechten Einschätzung. Oft werden die Angebote solcher Gruppen in biografischen Umbruchsituationen in Anspruch genommen – ein vorgeschobener »Sektenkonflikt« entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als fehlende Ablösung in einer Eltern-Kind-Beziehung oder als Sorgerechtsstreit einer gescheiterten Ehe. Die »Sekte« wird vorgeschoben, um die nötige Beziehungsklärung zu vermeiden. Hier sind psychosoziale und bisweilen psychotherapeutische Kompetenzen für eine weiterführende Beratung unverzichtbar. Tab. 1: Drei Aspekte der weltanschaulichen Beratungsarbeit Information

Beratung

Orientierung

Beratungsanlass

Wissensmangel

Konflikte

Werte-/Sinnkrise

Beratungsinhalte

sachlich/juristisch

psychosozial

weltanschaulich

Beratungs­ kompetenz

religions­ geschichtlich/ theologisch/ juristisch

therapeutisch

reflektierte eigene Position

Beratungsstelle

kirchliche/ staatliche/freie Arbeitsstellen

psychosoziale Beratungsstellen

Orientierungsstellen unterschiedlicher Träger

Kompetente Beratung zeichnet sich dadurch aus, dass die Grenzen zwischen sachlicher Information, persönlicher Beratung und der existenziell-weltanschaulichen Orientierung wahrgenommen und eingehalten werden, weil sie jeweils unterschiedliche Vorgehensweisen erfordern. In einer spirituellen Krise sind die Beziehungen, das Selbstverständnis und die Wirklichkeitsdeutung der ratsuchenden Person durch eine neureligiöse 30 Vgl. Kapfhammer 2008; Anders/Utsch 2020; Michael Utsch (Hg.): Pathologische Religiosität. Genese, Beispiele, Behandlungsansätze. Stuttgart 2011; Kathrin Kaufmann/Laura Illig/Johannes Jungbauer: Sektenkinder. Über das Aufwachsen in neureligiösen Gruppierungen und das Leben nach dem Ausstieg. Köln 2020.

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Gruppe irritiert oder gestört. Beratung in Weltanschauungsfragen will Menschen in einer spirituellen Krise unterstützen, die emotionale Abhängigkeit zu beenden und einen Lösungsweg aus der Krise zu finden.31 Die Beratung will die Verständigung zwischen den Generationen, unterschiedlichen Wertesystemen und Lebensorientierungen und weltanschaulichen Milieus fördern. Die Beratung und Begleitung in einer spirituellen Krise ist komplex und erfordert die Berücksichtigung verschiedener Ebenen. Die Psychotherapeutin Sylvia Neuberger, die bei der österreichischen Bundestelle für Sektenfragen tätig ist, hat für diese staatliche Einrichtung aus systemischer Sicht ein Beratungsmodell entwickelt, um Betroffene aus der Krise zu führen.32 Dazu legt sie fünf Aspekte der Identität zugrunde: die Leiblichkeit, das soziale Netz, die materielle Sicherheit, einen Lebenssinn und persönliche Werte und Normen. Durch ein genaues Erfassen, welche Säule der Identität in der aktuellen Lebenssituation der Betroffenen instabil ist, kann die Ursache des Ausweichverhaltens besser verstanden werden. Wenn der Weg in eine sogenannte Sekte systemisch als Lösungsversuch für einen persönlichen Mangel identifiziert wurde, kann sie durch die Behebung des Mangels im Idealfall überflüssig behoben werden.

4 Beratung bei Mitgliedschaft in konfliktträchtigen Gruppen Vor gut 20 Jahren hatte der Bericht der Enquete-Kommission »Sogenannte Sekten und Psychogruppen« des Deutschen Bundestags mit der Feststellung Entwarnung gegeben, dass von religiösen Extremgruppen keine gesellschaftliche Gefahr ausgehe.33 Deshalb solle der abwertende Begriff »Sekte« durch die Umschreibung »konfliktträchtige Gruppe« abgelöst werden (s. o.). Auch wenn sich der sperrige Begriff nicht durchsetzen konnte, hebt er einen wichtigen Tatbestand hervor: Auch heute noch gibt es Gruppen, deren Zugehörigkeit massive Konflikte im sozialen Umfeld des Neumitglieds auslöst, die manchmal auch juristische Konsequenzen nach sich ziehen. Wo Radikalisierungsprozesse in religiösen Extremgruppen so weit fortgeschritten sind, dass das Risiko der Selbst- und Fremdgefährdung besteht, bedarf es professioneller Deradikalisierungs- bzw. Ausstiegsbegleitung. Dazu gibt es staatlich geförderte Modellprojekte, die Qualitätsstandards erarbeitet 31 Vgl. Baatz 2017. 32 Sylvia Neuberger: Menschen auf der Suche. Beratung und Psychotherapie im Umfeld von sogenannten Sekten und weltanschaulichen Gemeinschaften vor dem Hintergrund systemischen Denkens. Wien 2008. 33 Vgl. Deutscher Bundestag 1998.

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haben. Die Beratung von radikalisierten Menschen und/oder ihres sozialen Umfelds stellt vor allem besondere Anforderungen an die Haltung der Beraterin. Die Handreichung des Netzwerks der Beratungsstelle »Radikalisierung« des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge betont, dass ihre Beratung sich an den Bedürfnissen der ratsuchenden Person orientiert und durch Achtung, Wertschätzung und die Anerkennung der Gleichwertigkeit aller Menschen bestimmt sei.34 In der Beratung soll zwischen der Meinungs- bzw. Glaubensfreiheit und einem religiös begründeten Extremismus unterschieden werden. Wenn religiöser Glaube zur Durchsetzung und Legitimation eines Machtanspruchs instrumentalisiert wird, verteidigt die Beratung die menschlichen und demokratischen Grundrechte von Betroffenen. Die Beratung von Betroffenen religiöser Extremgruppen gleicht in mancher Hinsicht der Suchtberatung. Selten melden sich Betroffene selbst, sondern Angehörigen von »Sektenmitgliedern«. Während die Angehörigen sich Sorgen machen (Persönlichkeitsveränderung, Verdacht einer »Gehirnwäsche«), kann das die betroffene Person nicht verstehen, weil die Gruppe vordergründig die individuellen Bedürfnisse exakt befriedigt. Auch bei einer Suchterkrankung leiden die Angehörigen in der ersten Phase viel mehr, weil die betroffene Person mit der »Sucht-Krücke« den Alltag leidlich bewältigen kann. Die Forschungsprojekte der Enquete-Kommission haben hier das Modell der »Bedürfnis-Kult-Passung« entwickelt. Religiöse Extremgruppen vermitteln Kontrolle und Geborgenheit angesichts einer potenziell chaotischen und bedrohlichen Zukunft und können damit eine Vielzahl spiritueller Bedürfnisse stillen. Religionspsychologische Studien belegen, dass sogar religiöse Extremgruppen neben Nachteilen auch Vorteile besitzen. Fundamentalistische Religiosität stillt nämlich die Sehnsucht nach Gewissheit und bietet klare Handlungsanweisungen angesichts unübersichtlicher Vielfalt. Was in brüchigen Übergangszeiten stabilisierend als »Lebenskrücke« dient, führt aber bei einer länger anhaltenden Bindung oft zu Konflikten, weil der gesunde Menschenverstand die rigide Enge der Gruppe verlassen oder die Abhängigkeit vom Gruppenleiter beenden will und Schritte der Eigenverantwortung und individuellen Selbstentfaltung gehen möchte. Wenn dann kritische Rückfragen verboten werden und mit massivem moralischen und sozia34 Beratungsstellen-Netzwerk der Beratungsstelle »Radikalisierung« des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF): Standards in der Beratung des sozialen Umfelds (mutmaßlich) islamistisch radikalisierter Personen. Allgemeine Handreichung des Beratungsstellen-Netzwerks. 2. Aufl. Nürnberg 2020.https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Forschung/ deradikalisierung-standardhandreichung-2020.pdf;jsessionid=63930D263332B78804A7FC4532486BEE.intranet241?__blob=publicationFile&v=10 (Zugriff am 10.10.2022).

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I Kulthintergrund Religion Philosophie

II Bewusstseinskontrolle Psychologische Theorien

III Präkultphase Persönliche Motive und prädisponierende Faktoren

Abb. 1: Drei-Stufen-Modell der Ausstiegsberatung (eigene Darstellung nach Dieter Rohmann 2000)

len Druck der Ausstieg verhindert werden soll (»Du begibst dich zurück in die Fänge Satans«), sind die früheren Angehörigen und Freundinnen oft wichtige Helfende zurück in die Welt der »Normalität«. Angehörigen von Mitgliedern in religiösen Extremgruppen ist deshalb zu empfehlen, den neuralgischen Streitpunkt der Gruppenzugehörigkeit zu meiden – die Positionen sind nach etlichen Diskussionen sowieso bekannt. Langfristig erfolgversprechender ist es, einen günstigen Moment der Problemeinsicht abzuwarten und dann mit ermutigenden Worten die kritische Selbsteinschätzung zu unterstützen und Wege in die Selbstständigkeit und heraus aus der vereinnahmenden Gruppenbindung zu begleiten. Das wird aber nur möglich sein, wenn die manchmal lange Durststrecke der Gruppenbindung der Betroffenen tolerant ausgehalten und die Beziehung nicht gänzlich abgebrochen wird. Der Münchener Psychologe Dieter Rohmann hat auf der Grundlage seiner langjährigen Erfahrungen in der Beratung bei Weltanschauungsfragen ein DreiStufen-Modell der Ausstiegsberatung entwickelt (vgl. Abb. 1).35 An der »Spitze des Eisbergs« treten zunächst die Glaubenspraktiken und Lehren der Gruppe 35 Dieter Rohmann: Darstellung der therapeutischen Arbeit mit Kultmitgliedern bzw. -aussteigern anhand eines Drei-Stufen-Modells. Report Psychologie, 5–6/2000, 356–359. https:// kulte.de/3-stufen-modell/ (Zugriff am 10.10.2022).

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in Erscheinung. Erst später können die psychologischen Bindungsmechanismen innerhalb der Gruppe analysiert werden. Eine psychotherapeutische Vorbildung ist nötig, um dann genauer die individuelle »Bedürfnis-Kult-Passung« zu analysieren und Motive und prädisponierende Faktoren zu benennen, die in die Extremgruppe geführt haben. Erst dann können ungefährlichere Methoden eingeübt werden, um die spirituelle Entwicklung ohne Freiheitseinschränkung und Machtmissbrauch zu fördern.

5 Fazit: Weltanschauliche Beratungskompetenzen verbinden Theologie und Psychologie Für eine hilfreiche Beratung bildet eine vertrauensvolle Beziehung eine unabdingbare Grundlage. Hinzu kommt die Fähigkeit, die Komplexität der spirituellen Krise zu erfassen und festzustellen, was die Beratung in der aktuellen Situation leisten kann und was nicht. Manchmal ist die Einbeziehung anderer psychosozialer Hilfsangebote sinnvoll und geboten. In manchen Fällen ist die Vermittlung zu Seelsorgeangeboten hilfreich, wenn dies vom Ratsuchenden gewünscht wird. Viele Beschäftigte im psychosozialen Bereich fühlen sich im Umgang mit spirituellen Krisen schlecht ausgebildet. Hier sind Weiterbildungen wichtig, die konfessionskundliches Wissen auffrischen, die eigene Gesprächskultur im Umgang mit fremden Glaubensüberzeugungen fördern und vor allem Selbsterfahrungsmöglichkeiten anbieten, um selbst einen Standort angesichts der religiös-spirituellen Vielfalt zu finden.

Literatur Ute Aland: Die Gottesversprecher. Roman frei nach wahren Begebenheiten. Gießen 2015. Anne I. M. Anders/Michael Utsch: Missbrauch in religiösen Gemeinschaften anhand von Fallbeispielen buddhistischer Gruppen. Persönlichkeitsstörungen 24/3, 2020, 222–240. Hanne Baar: Gottesverwechslung. Jana-Herzberg-Grafiken. Beiträge zu einer christlichen Tiefenpsychologie. Würzburg 2014. Ursula Baatz: Spiritualität, Religion, Weltanschauung. Landkarten für systemisches Arbeiten. Göttingen 2017. Benjamin Beit-Hallahmi: Death, Fantasy, and Religious Transformations. In: Jerry S. Piven (Hg.): The psychology of Death in Fantasy and History. Westport 2004, S. 87–117. Elliot Benjamin: Spirituality and Cults: An Experimental Analysis. June 2005. http://integralscience.org/spiritualitycults.pdf (Zugriff am 10.10.2022). Beratungsstellen-Netzwerk der Beratungsstelle »Radikalisierung« des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF): Standards in der Beratung des sozialen Umfelds (mutmaßlich) islamistisch radikalisierter Personen. Allgemeine Handreichung des Beratungsstellen-Netzwerks.

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2. Aufl. Nürnberg 2020.https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Forschung/deradikalisierung-standardhandreichung-2020.pdf;jsessionid=63930D263332B78804A7FC4532486BEE. intranet241?__blob=publicationFile&v=10 (Zugriff am 10.10.2022). Burkhard Ciupka-Schön/Hartmut Becks: Himmel und Hölle. Religiöse Zwänge erkennen und behandeln. Ostfildern 2018. Peter Conzen: Fanatismus. Psychoanalyse eines unheimlichen Phänomens. Forum der Psychoanalyse, 23, 2007, 99–119. Douglas E. Cowan/David G. Bromley: Neureligionen und ihre Kulte. Berlin 2010. Herbert Csef: Faszination Dschihad. Was junge Deutsche beim IS suchen und finden. Journal für Psychologie, 1/25, 2017. https://www.journal-fuer-psychologie.de/index.php/jfp/article/ view/430/473 (Zugriff am 10.10.2022). Joachim Heinrich Demling: Gesunde Religiosität oder religiöser Wahn? Der Neurologe & Psychiater, 2/17, 2016, 44–51. Arthur Deikman: Them and Us. Cult Thinking and the Terrorist Threat. Berkley 2003. Deutscher Bundestag (Hg.): Endbericht der Enquete-Kommission »Sogenannte Sekten und Psychogruppen«. Bonn 1998. https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/13/109/1310950.pdf (Zugriff am 10.10.2022). Angelika Doerne: Ein Leitfaden zur kritischen Auseinandersetzung mit (psycho-)spirituellen Gruppen – am Beispiel der Bhagwan-Bewegung. Transpersonale Psychologie und Psychotherapie, 2/15, 2009, 19–34. Harald Dreßing/Dieter Dölling/Dieter Hermann/Andreas Kruse/Eric Schmitt/Britta Bannenberg/Andreas Hoell/Elke Voss/Hans Joachim Salize: Sexueller Missbrauch durch katholische Kleriker. Retrospektive Kohortenstudie zum Ausmaß und zu den gesundheitlichen Folgen der betroffenen Minderjährigen (MHG-Studie). Deutsches Ärzteblatt, 22/116, 2019, 389–396. Eckhard Frick/Isgard Ohls/Gabriele Stotz-Ingenlath/Michael Utsch (Hg.): Fallbuch Spiritualität in Psychotherapie und Psychiatrie. Göttingen 2018. Anja Gollan/Sabine Riede/Stefan Schlang: Glaubensfreiheit versus Kindeswohl. Familienrechtliche Konflikte im Kontext weltanschaulicher Gemeinschaften. Essen 2018. Bernhard Grom: Mitgliedschaft in einer spirituellen Gruppe. In: Bernhard Grom: Religionspsychologie. 3. Aufl. München 2007, 272–289. Liane Hofmann/Patrizia Heise (Hg.): Spiritualität und spirituelle Krisen. Handbuch zu Theorie, Forschung und Praxis. Stuttgart 2017. Celeste Jones/Kristina Jones/Juliana Buhring: Nicht ohne meine Schwestern. Gefangen und missbraucht in einer Sekte. Bergisch Gladbach 2009. Hans-Peter Kapfhammer: Religiöser Wahn und wahnhafte Religiosität in religiösen Gruppierungen. Das Beispiel von apokalyptischer Suizidalität und Gewalt. Persönlichkeitsstörungen. Theorie und Therapie, 12, 2008, 123–136. Kathrin Kaufmann/Laura Illig/Johannes Jungbauer: Sektenkinder. Über das Aufwachsen in neureligiösen Gruppierungen und das Leben nach dem Ausstieg. Köln 2020. Martina Kessler (Hg.): Religiösen Machtmissbrauch verhindern. Gießen 2021. Jan Ilhan Kizilhan/Alexandra Cavelius: Die Psychologie des IS. Die Logik der Massenmörder. München 2016. Deborah Layton: Selbstmord im Paradies. Mein Leben in der Sekte. Frankfurt 2008. Michail Logvinov: Kindeswohlgefährdung im Kontext fundamentalistischer Pädagogik. Forum Kriminalprävention, 2/2019, 37–40. Melanie Möller: Sektenbilder in Erfahrungsberichten. Hybriditäten zwischen Literatur und Religion. Bochum 2019. Sebastian Murken/Franziska Dambacher: Neue religiöse Bewegungen, Sekten oder religiöse Minderheiten? In: Edith Franke (Hg.): Religiöse Minderheiten und gesellschaftlicher Wandel. Wiesbaden 2014, S. 237–250.

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Sylvia Neuberger: Menschen auf der Suche. Beratung und Psychotherapie im Umfeld von sogenannten Sekten und weltanschaulichen Gemeinschaften vor dem Hintergrund systemischen Denkens. Wien 2008. Matthias Pöhlmann/Christina Jahn (Hg.): Handbuch Weltanschauungen. Religiöse Gemeinschaften, Freikirchen. Gütersloh 2015. Almut-Barbara Renger (Hg.): Meister und Schüler in Geschichte und Gegenwart. Von Religionen der Antike bis zur modernen Esoterik. Göttingen 2012. Cornelia Richter (Hg.): An der Grenze des Messbaren. Die Kraft von Religion und Spiritualität in Lebenskrisen. Stuttgart 2021. Werner H. Ritter: Religiöse Erziehung als Schwarze Pädagogik. Beobachtungen und Überlegungen zum destruktiven Potenzial religiöser Erziehung. In: Marianne Leuzinger-Bohleber/Paul-Gerhard Klumbies (Hg.): Religion und Fanatismus. Psychoanalytische und theologische Zugänge. Göttingen 2010, 308–324. Ulrike M. S. Röhl: Macht Religion krank? Die Frage nach den »ekklesiogenen« Neurosen. Marburg 2015. Dieter Rohmann: Darstellung der therapeutischen Arbeit mit Kultmitgliedern bzw. -aussteigern anhand eines Drei-Stufen-Modells. Report Psychologie, 5–6/2000, 356–359. https://kulte. de/3-stufen-modell/ (Zugriff am 10.10.2022). Jochen Sautermeister/Andreas Odenthal (Hg.): Ohnmacht. Macht. Missbrauch. Theologische Analysen eines systemischen Problems. Freiburg 2021. Michael Utsch (Hg.): Pathologische Religiosität. Genese, Beispiele, Behandlungsansätze. Stuttgart 2011. Michael Utsch/Ulrike Anderssen-Reuster/Eckhard Frick/Werner Gross/Sebastian Murken/Meryam Schouler-Ocak/Gabriele Stotz-Ingenlath: Empfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie. Positionspapier der DGPPN. Spiritual Care, 1/6, 2017, 141–146. Michael Utsch/Raphael M. Bonelli/Samuel Pfeifer: Psychotherapie und Spiritualität. Mit existenziellen Konflikten und Transzendenzfragen professionell umgehen. 2. Aufl. Berlin 2018. Michael Utsch: Persönlichkeitswachstum durch religiös-spirituelles Praktizieren. Persönlichkeitsstörungen, 3/24, 2020, 155–165. Michael Utsch (Hg.): ABC der Weltanschauungen. EZW-Texte 272. Berlin 2021. Vamik D. Volkan: Blindes Vertrauen. Großgruppen und ihre Führer in Krisenzeiten. Gießen 2005. Christian Zwingmann/Constantin Klein/Florian Jeserich (Hg.): Religiosität: Die dunkle Seite. Beiträge zur empirischen Religionsforschung. Münster 2017.

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Man kann das Verhältnis von Theologie und Psychologie in ihrem Bezug zu Beratung und Seelsorge hochtheoretisch und auf vielen Seiten darlegen. Und in der Tat gibt es etliche Theologen und Humanwissenschaftler, die das in dicken Büchern getan haben – nicht zuletzt der Autor des folgenden Kapitels. Wenn es aber darum geht, einen eigenen kritischen Lebensübergang zu bewältigen, wird aus der Theorie plötzlich gelebte Praxis. Der Theologieprofessor Michael Herbst lädt uns ein – in seine eigene Lebenswirklichkeit, und entwickelt die Bedeutung von Theologie und Psychologie anhand des eigenen kritischen Übergangs in den Ruhestand.

»Verkaufe alles, was du hast …« Der Eintritt in den Ruhestand als kritisches Lebensereignis Michael Herbst

1 »Mein Name ist Lohse, ich kaufe hier ein.«1 Was haben wir gelacht, über Herrn Lohse, den frisch pensionierten Einkaufsdirektor der »Deutsche Röhren AG«, den »Pappa ante portas«, der seiner Familie ziemlich auf die Nerven geht, Berge von Senfgläsern kauft (einmal Einkaufsdirektor, immer Einkaufsdirektor), das eigene Haus als Filmset vermietet und seinen 16-jährigen Sohn rührend hilflos in die Geheimnisse der Liebe meint einführen zu müssen. Auch ich habe gelacht – bis ich selbst zum »Pappa ante portas« wurde. Ruhestand, was, schon jetzt? Es mag Menschen geben, die den Ruhestand herbeisehnen, exakte Vorstellungen davon haben und der Arbeit ohne Bedauern Lebewohl sagen. Wunderbar! Es gibt Menschen, für die der Ruhestand gerade noch zur rechten Zeit kommt, weil ihnen die Arbeit immer mehr Mühe bereitet und die Kräfte spürbar nachlassen. Von Herzen gegönnt! Für mich war es immer »das böse R-Wort«.2 Von Vorfreude keine Spur. Natürlich dürfte es etwas weni1 Zitate des Films auf: https://de.wikiquote.org/wiki/Pappa_ante_portas (Zugriff am 28.01.2022). 2 Robert S. Weiss: The Experience of Retirement. Ithaca und London 2005, S. 2. Weiss unterscheidet als emeritierter Soziologe beim Ruhestand ökonomische Aspekte (ich arbeite nicht mehr für Geld), psychologische (ich halte mich selbst für einen Rentner) und soziologische

»Verkaufe alles, was du hast …«

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ger Stress geben und mehr Zeit für diese(s) und jene(s), aber deswegen muss man mir doch nicht gleich den Job rauben! Da hört das Lachen auf. Der arme Leidensgenosse Lohse! Insofern ist dieser Beitrag ein Selbstversuch. Was hat es auf sich mit dem Ruhestand? Inwiefern kann gerade dessen Beginn, also der Eintritt in den Ruhestand, ein Beitrag zum Thema der »Integrativen Beratung« sein? Ein Thema ist dieser Übergang von der Berufstätigkeit in das Dasein als Rentner oder Pensionärin auf jeden Fall. Das zeigt schon die Fülle der Filme. Neben dem eher satirischen Zugriff bei Loriot (»Pappa ante portas«, 1991) zeigte Jack Nicholson auf beeindruckende Weise, in welche Krisen jemand stürzt, der zeitgleich Job und Ehepartnerin verliert (»About Schmidt«, 2002): »Was hältst du davon, dass diese Rotznasen unsere Jobs übernehmen? Kommt mir langsam vor wie eine Verschwörung.«3 Dass man sich im Alter zu viel vornehmen kann, demonstrieren Robert Redford und Nick Nolte 2015 in »Picknick mit Bären«. Und die leicht depressive Stimmung zu Beginn dieser neuen Lebensphase hat Horst Krause 2003 in »Schultze gets the Blues« auf die Leinwand gebracht. Die Reihe ließe sich fortsetzen. Was das Kino immer wieder thematisiert, ist jedenfalls ein Thema – und offenbar kein einfaches.4 Wie aber gehen wir methodisch dieses Thema im Sinne Integrativer Beratung an?

2 Zur Methode: der »pastoral cycle« David Heywood fragt in seinem Buch über »Kingdom Learning«, wie Erwachsene lernen können, sodass sich ihr Leben in eine gute, der Nachfolge Christi gemäße Richtung verändert.5 Er schlägt vor, mit Christen den »pastoral cycle« einzuüben, das heißt: eine Art der theologischen Reflexion der Lebensereignisse und -widerfahrnisse, die zielgerichtet fragen lässt, wo Gott in dem zu finden ist, was (andere halten mich auch für einen Rentner), um dann zu schlussfolgern: »I do not want to think of myself as retired.« 3 Zitate des Films auf: https://www.magicofword.com/filmzitate/filme/about-schmidt (Zugriff am 28.01.2022). 4 Das zeigt auch die populäre Ratgeber-Literatur, die schon im Titel mit großen Versprechungen lockt: »Zeit für Neues. Wie Sie herausfinden, was Sie im Ruhestand machen möchten« (2018), »Endlich im Ruhestand. Und jetzt?« (2020), »Mein neues Leben. Glücklich und aktiv im Ruhestand« (2021), »Ruhestand für Anfänger« (2012), »99 Dinge, die du im Ruhestand endlich tun kannst« (2019), »Ihr Ruhestand – Das Beste kommt zum Schluss« (2022), »Erfüllt im Ruhestand« (2020), »So geht Ruhestand für Männer« (2021) usw. 5 Vgl. David Heywood: Kingdom Learning. Experiential and Reflective Approaches to Christian Formation. London 2017.

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ich zu tun habe oder was mir widerfährt. »Where is God in this situation?«6 Es ist ein bestimmter Umgang mit einem »critical incident«7, den Heywood nahelegt, ein Weg mit vier – unter Gebet – durchschrittenen Abschnitten:8 Ȥ Experience: Was genau erlebe ich gerade? Wann begann es, wie ging es weiter? Wer ist dabei? Was hat sich geändert? Und wie fühlt sich das an? Heywood legt Wert darauf, in dieser Phase das Erlebte »zu Wort kommen« zu lassen, unzensiert, offen für all die verwirrenden Gefühle, freundlich (»to allow them to tell the story in their own words«9), ohne schnelles Urteil. In der Seelsorge wird diese Wahrnehmung dessen, was geschah, zustieß oder herausfordert, durch empathisches Zuhören eingeübt. Ȥ Exploration: Hier wird die Erfahrung tiefer erkundet. Dazu werden frühere Erlebnisse herangezogen, also die eigene Lebenserfahrung. Zugleich ist hier der Raum, um andere Wissensgebiete zu integrieren und z. B. nach psychologischen oder soziologischen Einsichten zu fragen, die das kritische Lebensereignis beleuchten, deuten, durchdringen – und Vorschläge machen, wie diese Situation erfolgreich bestanden werden kann. Wollen Seelsorge und Beratung integrativ sein, dann werden sie diesen Zugewinn an Perspektiven nutzen. Anders gesagt: Sie werden das Erlebte, Widerfahrene und Herausfordernde aus möglichst vielen Perspektiven betrachten. In der praktisch-theologischen Erkundung der Seelsorge war es ein weiter Weg, bis eine solche partnerschaftliche Zusammenschau verschiedener Perspektiven mehr oder weniger selbstverständlich wurde.10 Herrschte zunächst große Skepsis z. B. gegenüber psychologischen Einsichten und psychotherapeutischen Interventionen, so wurde später (z. B. bei Eduard Thurneysen) die Psychologie immerhin als »Hilfswissenschaft« anerkannt. In den 1960er-Jahren schlug das Pendel radikal in die andere Richtung um. Waren zuvor – zur Zeit der Dominanz der kerygmatischen Seelsorge11 – Sozial- und Humanwissenschaft »Mägde« der Theologie, die bestenfalls etwas Menschenkenntnis beizutragen hatten, so schien sich jetzt das Verhältnis geradezu umzukeh6 7 8 9 10

Heywood 2017, S. 86. Heywood 2017, S. 83. Vgl. zu den vier Phasen: Heywood 2017, S. 76–81. Heywood 2017, S. 77. Vgl. zu diesem Exkurs ausführlicher: Michael Herbst: Beziehungsweise. Grundlagen und Praxisfelder evangelischer Seelsorge. 2. Aufl. Neukirchen-Vluyn 2013, S. 240–244. 11 Unter »kerygmatischer Seelsorge« versteht man Ansätze, die in der Seelsorge eine Sonderform der Verkündigung, also der Weitergabe der Botschaft (des Kerygmas) sahen, nur eben in Form eines Gesprächs und bezogen auf eine bestimmte menschliche Lebenslage. Diese Lebenslage sollte durchaus ernst genommen werden, aber »am Ende des Tages« ging es darum, den Menschen neu in eine Beziehung zu Gott zu rufen.

»Verkaufe alles, was du hast …«

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ren. Die Seelsorge übten, waren so fasziniert von den neuen therapeutischen Möglichkeiten, dass genuin Theologisches im Seelsorgegespräch geradezu als Störung erschien. Peter Bukowski bringt dies auf den Punkt: »In der Phase der heißen Auseinandersetzung konnte man bisweilen den Eindruck gewinnen, als stritten hier bibelfreundliche Menschenfeinde mit menschenfreundlichen Bibelfeinden.«12 Mit der Zeit beruhigte sich der Streit zwischen den »Kerygmatischen« und den »Therapeutischen«. Eine neue Generation von Seelsorgeübenden und Praktischen Theologen erkannte in den verschiedenen Zugängen zum Erleben, Denken und Handeln des Menschen eher sich ergänzende Perspektiven, sodass keine Sicht auf den Menschen allein ausreicht. Zudem kann jetzt die christliche Seelsorgerin die Einsichten der Psychologie nutzen, um Lebenslagen besser zu verstehen und mit basalen Kenntnissen aus psychotherapeutischen Schulen (auch diese: im Plural) ihre Hilfsmöglichkeiten zu erweitern, ohne sich anzumaßen, selbst Psychotherapie leisten zu können, und ohne das Spezifische und Eigene »geistlicher« Interventionen preiszugeben. So kann Integrative Beratung beim Übergang in den Ruhestand kaum ohne die solide Kenntnis der sozialwissenschaftlichen Erforschung des beginnenden Ruhestands auskommen. Ȥ Reflection: In dieser dritten Phase geht es um den Schritt vom Beschreiben zum Deuten. Jetzt wird der spezifisch christliche Charakter des »pastoral cycle« (der keineswegs nur für Pastoren gedacht ist) sichtbar. Es geht darum, die spezifische Lebenssituation durch die Linse der Bibel, des christlichen Glaubens und der Nachfolge Christi zu betrachten, zu bewerten und zu deuten. Hier legen nicht wir die Bibel aus, vielmehr legt die Bibel uns aus.13 Mit der Brille der biblischen Geschichte kann und soll es zu einer klareren Einsicht in die Lebenslage kommen, in die ich geraten bin, nämlich: was Gott damit zu tun hat und wozu er mich gerade in dieser Phase meines Lebens ruft. Dies ist allerdings kein mechanischer Vorgang, sondern eben ein geistlicher. Er kann nicht »gemacht« werden. Ich kann mich nur der Bibel und damit dem persönlichen und gemeinsamen, dem betenden, suchenden, ausharrenden und nachdenklichen Forschen in der Schrift öffnen – und warten, ob und wann Gott meine Lage durch die Schrift »auslegt«. Ȥ Response: Daraus kann sich eine neue Sicht, eine veränderte Haltung, ein sicherer Umgang und ein erneuertes Tun ergeben, eben: meine, mir jetzt mögliche Antwort auf den Ruf, der mir in dieser und durch diese Lebenslage widerfährt. 12 Peter Bukowski: Die Bibel ins Gespräch bringen. 4. Aufl. Neukirchen-Vluyn 1999, S. 11. 13 Vgl. Oswald Bayer: Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung. 2. Aufl. Tübingen 2004, S. 62–65.

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Diese Schritte gilt es nun, auch im Blick auf den Eintritt in den Ruhestand – im Sinne einer Integrativen (Selbst-)Beratung – der Reihe nach zu gehen:

3 Experience: Wie fühlt sich das an, wenn der Beruf »über Nacht abhanden gekommen war«14? Der Selbstversuch im Blick auf den Eintritt in den Ruhestand beginnt weit vor dem Ruhestand. Nicht 1991, als Loriots Film ins Kino kam. Da konnte man noch lachen, denn das schlimme R-Wort war noch weit, weit weg. Aber ca. drei Jahre vor dem Übergang vom Lehrstuhlinhaber zum sogenannten »Emeritus« fing das Zählen an: noch drei Jahre, zwei Jahre, ein Jahr, noch 6 Monate, nächste Woche! Und das Etikett »zum letzten Mal« klebte auf allem: die letzte Semestereröffnung (und das auch noch in Zeiten von Corona), die letzte Vorlesung, das letzte Seminar, zum letzten Mal im Fakultätsrat (o. k., Gremien sind nicht das, was der Emeritus vermissen wird!). Und dann reden andere dauernd davon: »Bald geht Ihre Zeit hier ja zu Ende …« Heißt das nicht auch: »Muss man den noch ernst nehmen?« Schlimmer noch: Beim Blick in die Zeitung wird der Blick von den Todesanzeigen angezogen. Erleichterung, wenn jemand mit viel früherem Geburtsdatum gegangen ist. Ein flaues Gefühl, wenn da auch die 1950er-Jahrgänge auftauchen. Ganz andere »Übergänge« geraten in den Blick. Zum Selbstversuch gehören Gewinne und Verluste. Robert Weiss trifft es gut, wenn er als forschender Ruheständler feststellt: »I find my present status both gratifying and frustrating.«15 Zu den Privilegien der akademischen Berufe gehört, dass man vieles weiterhin im Ruhestand tun darf. Ja, ein Kollege, kurz hinter dieser Schwelle, rief begeistert: »Der Ruhestand ist der finale Sieg der Forschung über alle lästigen Pflichten im Universitätsgeschäft!« Wohl dem, der es so erlebt! Trotzdem verliert, wer in den Ruhestand verabschiedet wird, etwas: gewiss Einfluss und Reputation, man tritt nicht gleich ab von der Bühne, aber doch ins zweite Glied. Andere bestimmen jetzt den Kurs. Bei vielem ist man nicht mehr dabei und irgendwann auch nicht mehr gefragt. Manche Türen 14 Der ehemalige ARD-Journalist Sven Kunze beschreibt den grundlegenden Verlust so: »Als ich am ersten Tag in meinem neuen Leben aufwachte und erwartungsvoll um mich blickte, schien alles beim Alten zu sein, mit Ausnahme des Berufs, der mir über Nacht abhanden gekommen war.« Das Zitat findet sich bei Anita Christians-Albrecht/Dagmar Henze/Inken Richter-­Rethwisch: Übergangsweise. Gottesdienste zum Übergang in den Ruhestand (Zen­ trum für Seelsorge im Haus Kirchlicher Dienste der Ev.-Luth. Landeskirche Hannovers). Hannover 2020, S. 18. 15 Weiss 2005, S. 3; S. 14: »All retirees face the same two challenges of retirement: to manage its threat of marginality and utilize its promise of freedom.«

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bleiben nun verschlossen. Man wird nicht mehr um Unterschriften gebeten, ja ist dazu auch gar nicht mehr befugt. Das Büro ist geräumt, Mitarbeitende und Sekretärin verabschiedet. Manche Akten sind im Archiv, einige bringt man mit nach Hause (und die Partnerin zum Seufzen), vieles – ach so Wichtige – landet früher oder später im Altpapier. Plötzlich ist man zu Hause, öfter als früher. Soll man nun (neben der selbstverständlichen Hausarbeit): Nur noch Bienen züchten? Die Rosen beschneiden? Die alten Dias digitalisieren? Hand aufs Herz: ernsthaft??? Zum Selbstversuch gehören auch die »anderen«: Herr Lohse als »Pappa ante portas« hat ja nicht nur ein inneres Problem. Er wird auch anderen zum Problem: Ȥ Zuerst einmal zu Hause: Wie bei jedem Einschnitt in der Biografie müssen sich alle Beziehungen und Verhältnisse im Familiensystem sortieren. Dass das für Lebenspartner und Kinder nicht ganz einfach ist, illustriert Loriots Satire ja aufs Feinste! Aber hier liegt auch eine Chance, die Rolle als Ehepartnerin oder eben als Eltern- und Großelternteil neu anzunehmen und gemeinsam zu formen – zu allseitiger Freude. Wie z. B. wollen sie es nun miteinander (nicht nur: aus-)halten? Ȥ Und dann in der Berufswelt: Zur Firma gehört er nicht mehr. Die muss sich umstellen (auf einen neuen Kollegen) und (auf neue Weise) mit dem Ehemaligen umgehen. Was, wenn er dauernd auftaucht? »Ach, da kommt Herr …, das ist ja fast wie früher!« Oder: »Was will der noch hier? Kann wohl nicht loslassen!« Jedenfalls denkt der frisch Verabschiedete, dass die anderen so etwas denken. Was, wenn man ihn (gar nicht, kaum, etwas, ziemlich, sehr) vermisst? Probehalber kann man sich auch vor den Spiegel stellen und laut sagen: »Jetzt bin ich Rentner«. Wenn »Pensionär« weniger weh tut – sei’s drum! Und selbst dann müsste der »emeritierte« Professor, der sich zum Forschungsgegenstand macht, doch sagen: Das ist Jammern auf hohem Niveau. Viele andere gehen in Rente und verlieren neben der Arbeit, die ihnen Freude bereitete, auch die sozialen Netzwerke, die Tagesstruktur, die sinnreich alles in Arbeit und Freizeit/Urlaub teilte, die Anerkennung, die die eigene Leistung eintrug – und mehr als beim Pensionär ist die Rente ein schmerzhafter Einschnitt beim monatlichen Einkommen. Unter Christinnen und Christen, sogenannten Hauptamtlichen allzumal, gibt es besonders vollmundige Bekenntnisse: »Bei Gott« oder mindestens »in der Bibel« gebe es demnach keinen Ruhestand. Darum: Rather burn than rust! Der »tätige Unruhestand« wird proklamiert. Der Kalender soll so voll bleiben wie seit jeher. Das eigene Versprechen (z. B. bei der Ordination) und der Ruf in 240

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den Dienst (und die damit gesetzte Wichtigkeit) gelten lebenslang, oder nicht? Schließlich ist man innen drin immer noch der Alte – oder besser gesagt: der Junggebliebene. Immer noch »allzeit bereit«. Immer noch gefragt und gebraucht. Wer jetzt mild den Kopf schüttelt über so viel Realitätsverweigerung, wer sich gar um die narzisstisch gekränkte Seele des nimmermüden Ex-Hauptamtlichen sorgt, der sei gewarnt: Abwarten, bis Sie selbst so weit sind! Aber Vorsicht! Es gibt auch die anderen. Der Erschöpfte »erreicht den Hof mit Müh und Not«, hat es geschafft und ist geschafft, froh, dass das Hamsterrad sich nicht mehr dreht. Die Dankbare, die die Arbeit wirklich abschloss und heiter alles Weitere in die Hände der Jüngeren legt. Der Erfüllte, der endlich Zeit für so vieles hatte, wozu nie Zeit war. Die Neugierige, die jetzt auf Reisen geht, innerlich und äußerlich. So oder so, horchen wir ein wenig nach innen: »Wer bin ich denn noch, wenn ich das alles nicht mehr tue, nicht mehr bin? Was rechtfertigt mein Dasein, wenn es nicht mehr die Arbeit ist?« Der Übertritt in den Ruhestand ist herausfordernd, ja durchaus eine der Lebenswenden, die man als »major live event« oder auch als Krise16 bezeichnen darf. »Major live events« begleiten uns ja entlang des Lebenslaufs: Geburt und Tod stellen nur die äußeren Eckpunkte eines Kontinuums dar, auf dem es immer wieder zu vorhersehbaren (wie dem Eintritt in den Ruhestand) und unvorhersehbaren (wie einer plötzlichen schweren Krankheit) Einschnitten kommt. Die großen »Ereignisse« sind Entwicklungsaufgaben und/oder Erfahrungen mit Kontingenz, mit dem Unverfügbaren und Unausweichlichen. Für den gesunden ca. 65-Jährigen ist der Eintritt in den Ruhestand in der Regel der seit Langem tiefste Einschnitt im eigenen Lebenslauf. Der Eintritt in den Ruhestand als »major live event« macht »Stress« und fordert unsere Fähigkeit zur Bewältigung und Anpassung, also unser »Coping« heraus. Wie gut wir damit klarkommen, hängt nicht nur von Faktoren wie unserem Alter, Geschlecht und Status ab. Unser »Coping« hängt auch von persönlichen Ressourcen ab, z. B. von der Fähigkeit, sich von den negativen Emotionen nicht überfluten zu lassen, sondern das Denken in eine sinnvolle Richtung zu lenken und Handlungsoptionen wahrzunehmen. Es hängt schließlich von sozialer Unterstützung ab.17 Es geht also um Aspekte der Wahrnehmung, der Empfindungen und Gefühle, des Denkens, der Einstellungen, der Deutung des eigenen Lebens und des Handelns. Dabei ist es sehr selten so, dass Menschen sofort souverän und handlungssicher auf 16 Vgl. Antje Schmitt: Übergang in und Anpassung an den Ruhestand als Herausforderung aus psy­ chologischer Perspektive. Organisationsberatung, Supervision, Coaching (OSC), 25, 2018, S. 341. 17 Vgl. Sigrun-Heide Filipp/Peter Aymanns: Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen. Vom Umgang mit den Schattenseiten des Lebens. 2. Aufl. Stuttgart 2018, S. 32 f.

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eine Krise reagieren. Sie gehen in der Regel durch Phasen, die Ähnlichkeiten mit Phasen der Trauer besitzen, es gibt also so etwas wie einen Schock, es gibt ein Nicht-wahrhaben-Wollen, ein Verstehen, ein Grübeln und Trauern – und es gibt allmähliche Prozesse der Adaption an die neue Situation. Seelsorge ist im günstigen Fall soziale Unterstützung. Sie ist selbst eine Ressource und sie verweist auf Ressourcen, z. B. des Glaubens, aber auch der ganz irdischen Einsichten und Weisheiten.18 Sie hilft, zu deuten und zu verstehen. Sie hilft, sich emotional zu bergen. Sie hilft, Kräfte in Anspruch zu nehmen, die in geistlichen Übungen ruhen. Sie verweist auf Gründe, zu hoffen. Sie rät vorsichtig zu weiteren Schritten, besser: Sie berät mit der Betroffenen, welche Schritte sie einleuchtend und möglich findet. Integrative Seelsorge wäre also Begleitung und Hilfe in »major life events« aus Sicht des christlichen Glaubens.

4 Exploration: Wie geht’s den Rentnerinnen und Rentnern? Dazu sucht, wer Seelsorge übt, die Einsichten der Sozialwissenschaften, um das »major live event« Eintritt in den Ruhestand genauer und aus verschiedenen Perspektiven zu erfassen – eben: integrativ. Die Leitfrage soll sein: Wie geht es den Rentnerinnen und Rentnern? Gesundheitlich, aber auch im Blick auf das Wohlbefinden? Welche Entwicklungsund Anpassungsaufgaben stellen sich beim Eintritt in den Ruhestand? Und wird die Vorstellung eines u-förmigen Verlaufs der Lebenszufriedenheit (nach Andrew Oswald19) bestätigt, der zufolge die höchste Lebenszufriedenheit in der Jugend und dann wieder im Alter erlebt wird, während die Jahre dazwischen oft besonders anstrengend, sorgenvoll und belastend sein können?20 Gibt es tatsächlich dieses »Zufriedenheitsparadox«: Obwohl wir schwächer werden, werden wir zufriedener?21 Oder haben wir es hier nur mit einer Korrelation, aber nicht mit 18 Vgl. Schmitt 2018, S. 342. 19 Vgl. Andrew Oswald/David Blanchflower: Is well-being U-shaped over the life cycle? Social Science & Medicine, 6/662008, 1733–1749. 20 Vgl. die populär aufgearbeitete Version des U-Modells bei Eckart von Hirschhausen/Tobias Esch: Die bessere Hälfte: Worauf wir uns mitten im Leben freuen können. 5. Aufl. Hamburg 2018. 21 Vgl. ausführlich und mit einer teils kritischen, teils affirmativen Bewertung dieses Modells: Karin Ewert: So verändert sich die Zufriedenheit im Laufe des Lebens. 23.02.2021. https:// www.quarks.de/gesellschaft/psychologie/so-veraendert-sich-die-zufriedenheit-im-laufe-deslebens/ (Zugriff am 12.02.2022). Vgl. auch Felix Bittmann: Beyond the U‐Shape. Mapping the Functional Form Between Age and Life Satisfaction for 81 Countries Utilizing a Cluster Procedure. Journal of Happiness Studies, 22, 2021, 2343–2359.

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einer Kausalität zu tun? Will sagen: Alter und Zufriedenheit stellen sich zwar gleichzeitig ein, aber die Zufriedenheit kommt nicht vom Alter (allein), weil Zufriedenheit nicht nur von einem Faktor herrührt? Vermutlich spricht einiges für diese Sicht. Darum noch einmal: Welche Entwicklungs- und Anpassungsaufgaben stellen sich gerade beim Eintritt in den Ruhestand? Und hilft uns die sozialwissenschaftliche Exploration weiter für eine integrative Beratung und Seelsorge? Tatsächlich gibt es zum Eintritt in den Ruhestand zahlreiche Studien und sozialwissenschaftliche Deutungen, von denen drei exemplarisch vorgestellt werden sollen: Erstens: Phasen des Übergangs Es gibt eine eigene »Sociology of Retirement«.22 Mit der stetig wachsenden Lebenserwartung und dem früheren Ausstieg von Männern (und zunehmend von Frauen) aus der Erwerbstätigkeit stieg das Interesse an der sich dehnenden, eigenständigen Lebensphase »Ruhestand«.23 Robert Atchley sah 1976 den Ruhestand als ein Kontinuum mit mehreren Stadien, die erstaunlich kulturübergreifend und vom Geschlecht weitgehend unabhängig festzustellen seien. Sie stellen ein »Auf und Ab« dar, das aber am Ende mehr »Auf« als »Ab« zu sein scheint: 1. In der »pre-retirement stage« fängt die künftige Ruheständlerin an, über den Ruhestand nachzudenken, Pläne zu machen und sich den Übergang auszumalen. Das hilft meistens schon, diesen Schritt gut zu bewältigen. 2. Was die »honeymoon stage« bedeutet, ist fast selbsterklärend: Zu Beginn des Ruhestands fällt der Druck vom gerade noch so sehr geforderten NeuRuheständler ab, er hat plötzlich Zeit und kann lauter angenehme Dinge tun. Angela Merkel kündigte im Blick auf dieses Stadium an, sie werde erst einmal ausschlafen.24 Diese Phase fällt aus, wenn jemand mit negativen Gefühlen oder unfreiwillig aus dem Berufsleben ausscheidet. 3. »Immediate routine« betrifft den Aufbau erster neuer Rhythmen und Angewohnheiten. Das fällt leichter, wenn es schon vor dem Übergang wichtige, nicht arbeitsbezogene Aktivitäten gab. 22 Vgl. zum Folgenden Robert C. Atchley: The sociology of retirement. Hoboken (NJ) 1976. Kurz zusammengefasst wurden Atchleys Forschungen u. a. von Megan Flowers: The experience of retirement for individuals with an intellectual disability. 2010. https://ro.ecu.edu.au/theses_ hons/1357 (10.10.2022). 23 Vgl. Donald C. Reitzes/Elisabeth J. Mutran: The transition to retirement: stages and factors that influence retirement adjustment. International Journal Aging and Human Development, 1/59, 2004, S. 64. 24 Vgl. Flowers 2010.

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4. Die »rest and relaxation stage« lässt an noch mehr Ausschlafen denken. Zu Recht! Das Tempo des Lebens nimmt ab, alles wird etwas ruhiger. Zudem fängt man an, vermehrt über zurückliegende Lebenszeiten zu reflektieren. 5. Schwieriger ist dann die »disenchantment stage«.25 Was Ruhestand tatsächlich bedeutet, ist jetzt offenbar geworden. Werden die Hoffnungen und Erwartungen an die neue Lebensphase (überwiegend) nicht erfüllt oder kommt es zu gesundheitlichen oder finanziellen Einbrüchen, kann das Dasein als Rentnerin als sehr belastend erlebt werden. 6. »Reorientation« als Stadium kann sich aus 4 oder 5 ergeben. Jetzt werden neue Schwerpunkte in der Gestaltung der Zeit gelegt. Die Pläne und Erwartungen werden nachjustiert – und realistischer. Neue Aktivitäten werden begonnen oder der Kontakt zu Freunden und/oder Familie intensiviert. 7. »Retirement routine« nimmt 3 wieder auf. Jetzt aber sind die Routinen »stimmiger«. Im Ergebnis zeigen sich hier wieder positivere Bewertungen der eigenen Lebenssituation. Der Ruhestand ist »doch gar nicht so übel«. 8. »Termination of retirement« beendet irgendwann diese gute Zeit. Dabei ist noch nicht an den Tod gedacht, aber an das Ende der selbstständigen Lebensführung. Der Ruheständler wird jetzt z. B. pflegebedürftig. Größere gesundheitliche Einschränkungen reduzieren den Lebensradius erheblich. Von den Freuden des Ruhestandes bleibt wenig – von den Lasten umso mehr. Auch wenn man heute solche Phasenmodelle generell kritisch sieht, weil die individuellen Lebensläufe (gerade im Ruhestand!26) doch ganz anders und vielfältiger aussehen, die Wege selten so linear verlaufen und Menschen manche dieser »stages« durchaus mehrfach durchlaufen können, zeigt Atchley doch wesentliche Erfahrungen, die Menschen im Ruhestand mit sich und ihrer Lebenslage machen, egal ob sie alle »stages« durchlaufen, manche mehrfach und manche vielleicht gar nicht. 27 Wichtig ist mindestens zweierlei für unsere Wahrnehmung 25 Vgl. dazu auch Schmitt 2018, S. 342. 26 Mergenthaler u. a. schreiben als Resultat ihrer Forschungsarbeit: »Der Ruhestand ist somit die Lebensphase, welche die größte Vielfalt von Lebenslagen, Erfahrungen und Fähigkeiten im gesamten Lebenslauf aufweist.« In: Andreas Mergenthaler/Laura Konzelmann/Volker Cihlar/ Frank Micheel/Norbert F. Schneider: Vom Ruhestand zu (Un-)Ruheständen. Ergebnisse der Studie »Transitions and Old Age Potential« (TOP) von 2013 bis 2019, hg. v. Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung. Wiesbaden 2020, S. 80. 27 Schmitt 2018, S. 343 f. benennt im Anschluss an internationale Studien mehrere denkbare Verläufe: Demnach erleben durchaus 70 Prozent einen »Erhaltungsverlauf«, indem das eigene Wohlbefinden nahezu stabil bleibt, 25 Prozent einen »Erholungsverlauf«, bei dem der Start in den Ruhestand eine Verbesserung des Wohlbefindens z. B. nach sehr belastender Arbeit mit sich bringt, während 5 Prozent einen u-förmigen Verlauf durchmachen, mit rascher Minderung des Wohlbefindens zu Beginn und allmählicher Erholung

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des Ruhestands: zum einen das Schwanken der Bewertungen der eigenen Lage (freilich oft mit gutem Ausgang), zum anderen die spezifischen Aufgaben, die sich im Ruhestand stellen. Dabei ist nicht nur an den Aufbau von Routinen zu denken, sondern vor allem an die harte Arbeit, die eigenen Einstellungen und Erwartungen immer wieder an die tatsächlichen Verhältnisse anzupassen, will sagen: die Wünsche mit den Möglichkeiten zu versöhnen. Dann (nicht aber durch das Alter als solches) kann offenbar wirklich der erhoffte Effekt eintreten: Wohlbefinden und Zufriedenheit erreichen im Ruhestand ein neues »Hoch«. Zweitens: Wie geht es den Ruheständlerinnen und Ruheständlern denn gesundheitlich? Im Blick auf die (ärztlich bewertete) Gesundheit und das (selbst erlebte) Wohlbefinden der Ruheständler gibt es unterschiedliche Ansätze: Während die einen auf die gestiegene Lebenserwartung verweisen und auf die berechtigte Hoffnung, nicht nur mehr Jahre, sondern mehr gesunde Jahre erwarten zu dürfen, benennen andere die Risiken des Ruhestandes, vor allem durch soziale Isolation und erlebte Ziellosigkeit.28 Unter dem Strich aber zeigt etwa die Studie von Aspen Gorry u. a.: »Retirement improves self-reported health.«29 Das Ende des beruflichen Stresses und die Einübung eines gesünderen Lebensstils tragen dazu bei. Man kann das sehen, wenn man Menschen über längere Zeit befragt. Die gesundheitlichen Effekte zeigen sich unter Umständen nicht sofort, sondern erst mit etwas Abstand, dann aber für längere Zeit nachhaltig: »It is likely that a longer horizon may uncover even more benefits of retirement. These health improvements are also consistent with other literature that finds healthy lifestyle changes upon retirement. The literature suggests that individuals exercise more, have less work stress, sleep better, reduce smoking, and spend more time preparing food at home.«30 Zu sehr ähnlichen Ergebnissen kommt 2020 eine Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung (»TOP-Studie« = »Transitions and Old Age Poten-

28 »Retirement can also lead to social isolation and a diminished sense of purpose […] which may worsen health and subjective well-being.« In: Aspen Gorry/Devon Gorry/Sita Nataraj Slavov: Does retirement improve health and life satisfaction? Health Economics, 27, 2018, 2068. 29 Gorry/Gorry/Slavov 2018, S. 2084. 30 Gorry/Gorry/Slavov 2018, S. 2084.

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tial«).31 Die großangelegte Längsschnittstudie hat mehrere Tausend »Babyboomer« kurz vor und nach Eintritt in den Ruhestand zwischen 2013 und 2019 in drei Befragungswellen befragt. Die meisten zeigten sich mit dem Ruhestand überwiegend zufrieden. Vor allem wer eine belastbare Gesundheit aufweist und in einer funktionierenden Partnerschaft lebt, kann die Vorzüge des Ruhestands genießen. Dabei hilft es, wenn der Übergang selbst geordnet war: als ein geplantes und fristgerechtes Ausscheiden aus dem Berufsleben (und nicht z. B. aus der Arbeitslosigkeit). Auch der Übergang in die Rolle von Großeltern, eine geringfügige weitere Erwerbstätigkeit oder ein freiwilliges Engagement tragen zum Gelingen bei. Hingegen sind vor allem soziale Isolation, aber auch gesundheitliche Probleme und finanzielle Sorgen als Belastungen klar hervorgetreten. Die TOP-Studie belegt unter dem Strich nicht nur die ungeheure Vielfalt der Lebenslagen von Menschen im Ruhestand, sondern auch die bereits mehrfach erwähnte Verschiebung in der Wahrnehmung des Alters. Sie zeigt, »dass die Lebensphase Alter in Deutschland immer seltener mit dem Eintritt in den Ruhestand zusammenfällt. Es kommt vielmehr zu einer Verlängerung des mittleren Lebensalters in die ersten Jahre des Ruhestands hinein.«32 Wie gut diese Lebensphase gelingt, hat mit früheren Entscheidungen und Lebenspraktiken zu tun. Anders gesagt: »Das Alter entsteht pfadabhängig.«33 Diese Pfadabhängigkeit zeigt sich auch in der dritten und ertragreichsten Studie, die hier vorgestellt werden soll. Drittens: In welchen Lebensbereichen stellen sich Entwicklungsund Anpassungsaufgaben? Der amerikanische Soziologe Robert S. Weiss hat im Großraum Boston eine explorative, qualitative Langzeitstudie mit ca. 30 Probandinnen und Probanden durchgeführt, die er mehrfach um den Zeitpunkt des Eintritts in den Ruhestand herum interviewte, um der »Experience of Retirement« auf die Spur zu kommen.34 Fünf Details aus seinen Forschungsergebnissen sind für unseren Zusammenhang besonders relevant:35 31 32 33 34

Vgl. Mergenthaler/Konzelmann/Cihlar/Micheel/Schneider 2020. Mergenthaler/Konzelmann/Cihlar/Micheel/Schneider 2020, S. 80. Mergenthaler/Konzelmann/Cihlar/Micheel/Schneider 2020, S. 80. Vgl. zum Folgenden durchgängig: Weiss 2005; zum Ansatz und zur Methode: Weiss 2005, S. 1–15. 35 Dabei sind stets die kulturellen und politischen Unterschiede zwischen einem Ruhestand in den USA und in Deutschland zu beachten, die sich insbesondere (aber nicht nur) in der finanziellen Selbstorganisation der Ruheständler in den USA zeigen. Vgl. Weiss 2005, S. 77–92.

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1. Der Eintritt in den Ruhestand: Offensichtlich hilft es zur Bewältigung des Übergangs, wenn der Abschied von der Arbeitsstelle zu einem klar verabredeten Zeitpunkt, im gegenseitigen Einvernehmen von Arbeitgeber und (bald ehemaliger) Mitarbeiterin und in jeder Hinsicht geordnet geschieht (und nicht im Konflikt oder plötzlich, weil das Unternehmen sich von Mitarbeitenden trennen muss oder der Arbeitsplatz wegfällt). Dazu gehört auch – neben dem Räumen des Arbeitsplatzes und dem Rückzug aus arbeitsbezogenen Projekten – die innere Vorbereitung: Was soll nun geschehen? Was werde ich tun – und was nicht mehr? Wie werden meine finanziellen Spielräume aussehen? Wo und wie werde ich wohnen? Hier geht es um mehr als Planung, es geht auch um frühzeitigen Beginn von erfüllenden Aktivitäten jenseits der Arbeit. Denn hier zeigt sich die Pfadabhängigkeit: Wenn jemand vor dem Ruhestand schon anderes in seinem Leben wichtig fand (z. B. Ehrenamt, Hobby oder Freundschaften), wird es ihm im Ruhestand leichter fallen, daran anzuknüpfen und darin Erfüllung zu finden. Eine interessante Rolle in der Studie von Weiss spielen Abschiedsfeste mit ihrer eigenen »Liturgie« von Essen und Trinken, Reden (Dank, Abschied, Zusage bleibender Verbundenheit) und Geschenken. Weiss wechselt hier vom nüchternen Forscher zum Ratgeber: Nicht nur sei es in jedem Fall besser, »on good terms«36 zu gehen, vielmehr solle man es sich trotz verständlicher »mixed feelings« gut überlegen, bevor man solche Abschiedsfeste ablehne. Sie seien in fast jedem Fall hilfreich, um den Absprung zu schaffen – und später mit guten Erinnerungen zurückzublicken.37 2. Gewinne und Verluste: 38 Der Ruhestand »is likely to bring with it extra­ordinary freedom. It may also expose the retiree to social isolation.«39 So lassen sich die Gewinne und Verluste am besten auf den Punkt bringen. Der Druck der Arbeit hört auf, der Stress nimmt ab. Beziehungen können intensiver gelebt werden. Man kann für die Enkel da sein. Wie zuletzt vielleicht in der Jugend verfügt der Ruheständler über seine Zeit. Zugleich verliert er vieles: angefangen von der klaren Tages- und Jahresstruktur, die die Arbeit bereitstellte, weiterhin die Zugehörigkeit zu einer Arbeitsgemeinschaft, die doch manchmal mehr war als nur eine Arbeitsgemeinschaft, schließlich die Anerkennung, den Respekt, schlicht die »Bedeutung«, die man hatte, weil man »jemand« war, der seinen Platz eingenommen und sich dort bewährt hatte. Wer ist man ohne diese Rolle und Resonanz? Jetzt gehört man nicht 36 37 38 39

Weiss 2005, S. 183. Weiss 2005, S. 184. Vgl. insgesamt zu »Gains and Losses«: Weiss 2005, S. 58–76. Weiss 2005, S. 178.

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mehr dazu, gehört stattdessen zur »community of old men«40, ja muss sich (und wird sich) vergegenwärtigen: »I may be retiring from life.«41 3. Darum stellt sich die Frage nach Aktivitäten, die den Tagen Bedeutung geben42: Erstaunlich viele Ruheständlerinnen und Ruheständler arbeiten noch weiter, meist in (moderater) Teilzeit (2 bis 3 Tage pro Woche), manche aus finanzieller Notwendigkeit, andere freiwillig, teils an der alten Arbeitsstelle, teils woanders. Dieses Ergebnis wird die TOP-Studie für den deutschen Kontext bestätigt.43 Viele motiviert es, weiter »einen Beitrag leisten zu können«, ohne den alten Arbeitsdruck ertragen zu müssen. Ebenso wichtig ist bürgerschaftliches Engagement, also irgendeine Form von (kulturellem, sozialem, kirchlichem, politischem, sportlichem usw.) Ehrenamt. Gerade sozial und kulturell aktive Organisationen leben nicht zuletzt von der »Workforce« der jüngeren Seniorinnen. Das zeigen auch die Surveys der deutschen Bundesregierung zum Ehrenamt. Das freiwillige Engagement von Ruheständlern erwies sich auch in der letzten Befragung 2019 als »Wachstumsfaktor«.44 Der Soziologe im Ruhestand Weiss empfiehlt aber auch hier Mäßigung: »Try for an optimal mix of engagement and freedom.«45 4. Weiterhin spielen Beziehungen eine wesentliche Rolle. Das größte Risiko im Ruhestand betrifft, mindestens in den ersten Jahren, nicht in erster Linie die Gesundheit oder die Finanzen, sondern die soziale Isolation. 46 Der Eintritt in den Ruhestand ist der Austritt aus vielen, beruflich vermittelten Beziehungen. Manche, vor allem die, die vor dem Ruhestand nicht-berufliche Beziehungen pflegten, kommen gut klar. Reitzes und Mutran konnten in ihrer Längsschnittstudie zeigen, dass die Selbstwahrnehmung als »guter Freund« zum Selbstwertgefühl der Ruheständler erheblich beiträgt.47 Freundschaf40 41 42 43 44

Weiss 2005, S. 69. Weiss 2005, S. 75. Vgl. insgesamt zu »Using the time of retirement«: Weiss 2005, S. 119–144. Vgl. Mergenthaler/Konzelmann/Cihlar/Micheel/Schneider 2020, S. 31–42. »Die Anteile freiwillig Engagierter haben seit 1999 in allen Altersgruppen zugenommen. Das Ausmaß des Anstiegs unterscheidet sich jedoch zwischen den Altersgruppen. Besonders ausgeprägt ist der Anstieg bei den 65-Jährigen und Älteren, in dieser Altersgruppe ist die Engagementquote von 18,0 Prozent im Jahr 1999 auf 31,2 Prozent 2019 gestiegen.« In: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.): Freiwilliges Engagement in Deutschland. Zentrale Ergebnisse des Fünften Deutschen Freiwilligensurveys (FWS 2019). Berlin 2021, S. 4. https://www.bmfsfj.de/resource/blob/176836/7dffa0b4816c6c652fec8b9eff5450b6/frewilliges-engagement-in-deutschland-fuenfter-freiwilligensurvey-data.pdf (Zugriff am 13.10.2022). 45 Weiss 2005, S. 187. 46 Vgl. insgesamt zu »Social isolation«: Weiss 2005, S. 93–112. 47 Vgl. Reitzes/Mutran 2004, S. 74–79: »friend identity meanings«.

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ten bleiben ja und können eine Brücke zwischen dem Leben »davor« und »danach« bilden. Nicht wenige aber erleben genau das nicht, leiden daran und/oder ziehen sich zurück. »Social isolation is a distressing emotional state that results specifically from the absence of membership in a community of emotional importance.«48 Besonders hart trifft die soziale Isolation Alleinlebende, z. B. Verwitwete.49 Isolation oder »a world gone quiet« mit monoton ablaufenden Tagen erweist sich auch als Gesundheitsrisiko. 5. Die Frage der lebenswichtigen Beziehungen führt zum letzten, hier vorzustellenden Aspekt, nämlich zu Ehe und Familie. 50 In der Tat geht es den verheirateten Pensionärinnen besser51, was auch die deutsche TOP-Studie bestätigt.52 Freilich stehen Ehepartner mit dem beginnenden Ruhestand vor neuen Herausforderungen – »Herr Lohse« lässt grüßen!53 Plötzlich gibt es erheblich mehr Zeit zum Zusammensein und für gemeinsame Unternehmungen. Das kann ein großer Gewinn sein (und wird meistens als solcher bewertet54), aber es bedarf auch einer Umstellung, sodass zu Beginn der neuen Lebensphase die Konflikte durchaus zunehmen.55 Es gilt, neue Abstimmungen über gezielte gemeinsame und »einsame« Zeiten zu finden wie auch eine Neujustierung der Erwartungen und Pflichten anzustreben. Oder, wie es eine Probandin klar auf den Punkt bringt: »I agreed to ›for better or for worse‹, I didn’t agree to ›for lunch‹.«56 Dann ist aber für viele die neue Gemeinsamkeit ein Geschenk: Vielleicht erstmals in der Geschichte einer Ehe hat man so viel Zeit für gemeinsame Erlebnisse und Aktivitäten. Zu denen gehört oft das Glück, Großeltern zu sein.57 Für viele Ruheständler gehört es zu den wichtigsten Aktivitäten, Zeit mit den Enkelkindern zu verbringen und die eigenen Kinder zu entlasten, aber auch den Enkelkindern kostbare Erinnerungen mitzugeben, Weisheit, Geborgenheit und Geschichten, die die Zeiten von ganz früher bis heute überbrücken.58 Manchmal geht es auch darum, für die Enkel die Aufmerksamkeit aufzubringen, die sie für 48 49 50 51 52 53 54 55 56 57 58

Weiss 2005, S. 103. Vgl. Weiss 2005, S. 105. Vgl. insgesamt zu »Marriage and Family«: Weiss 2005, S. 146–166. Vgl. Reitzes/Mutran 2004, S. 67. Vgl. Mergenthaler/Konzelmann/Cihlar/Micheel/Schneider 2020, S. 23–30. Weiss 2005, S. 152, wo eine Probandin es drastisch formuliert: »It’s a pain in the butt to have him around in the morning.« Weiss 2005, S. 146: »Marital companionship benefits from retirement.« Weiss 2005, S. 147: »Couples tend to experience an upsurge of conflict during the first year or two after retirement.« Weiss 2005, S. 146. Vgl. Mergenthaler/Konzelmann/Cihlar/Micheel/Schneider 2020, S. 28–30. Vgl. Fulbert Steffensky: Schwarzbrot-Spiritualität. Stuttgart 2006, S. 216 f.

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die eigenen Kinder nicht immer hatten. Auch die Beziehung zu diesen ist übrigens nicht ohne Risiko: Wenn die erwachsenen Kinder die Großeltern als allzeit bereite und verfügbare (»standby«) Ressource sehen, kann dies mit dem Freiheitsbedürfnis der aus der beruflichen Beanspruchung Befreiten durchaus kollidieren. Zu den Risiken im Verhältnis zu den Kindern gehört es auch, wenn diese »vor der Zeit« die Rollen umkehren, zu viel Einfluss nehmen und die Eltern zu Kindern werden lassen.59 Unter dem Strich zeigen die diversen Studien, dass sich das Leben mit dem Eintritt in den Ruhestand noch einmal sehr verändert: Es gilt, von vielem Abschied zu nehmen, und zwar endgültig. Es hilft, sich darauf rechtzeitig vor dem Tag X einzustellen und den Übergang proaktiv zu planen.60 Dabei werden Risiken sichtbar (vor allem die soziale Isolation) und Aufgaben sind in Angriff zu nehmen (vor allem die Neujustierung von Beziehungen und das Planen neuer Aktivitäten). Die gute Nachricht ist, dass heutige Ruheständler nicht nur (mehrheitlich) weitaus gesünder und (überwiegend) wirtschaftlich besser situiert sind als frühere Generationen, sondern im Großen und Ganzen gut klarkommen und den Ruhestand als eine positive Erfahrung verbuchen.61 Dabei gibt es zwar kein festes Muster (wie Atchleys »stages« suggerieren könnten), wohl aber wiederkehrende Erfahrungen mit dem Übergang in den Ruhestand. Tatsächlich findet sich häufig ein Auf und Ab: anfangs Euphorie, gefolgt von einer gewissen Ernüchterung, bis dauerhaft die positive Sicht der eigenen Lebenslage dominiert.62 Damit haben wir das Erlebte (»Experience«) tiefer und vor allem sozialwissenschaftlich erkundet (»Exploration«). Was kann die Deutung des Lebens aus der Sicht des Glaubens noch beitragen?

59 Vgl. Weiss 2005, S. 158. 60 Vgl. Reitzes/Mutran 2004, S. 63–82, bes. S. 68. 61 Weiss 2005, S. 178: »Retirement means changing how one relates to the social world. It means leaving a career, a community of work, and a way of life. It is likely to bring with it extraordinary freedom. It may also expose the retiree to social isolation.« 62 Reitzes/Mutran 2004, S. 65 u. 75.

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5 Theologische Reflexion: Welche Aspekte der christlichen Glaubenspraxis sind für eine integrierte Beratung von Menschen an der Schwelle des Ruhestandes zu bedenken? Erstens: Der Beitrag des Glaubens zur Gesundheit Es fällt (jedenfalls dem Theologen) auf, dass die Studien, die im Blick auf unser Thema zurate gezogen wurden, gerade nicht integrativ hinsichtlich des Einflusses von Religiosität bzw. Spiritualität waren. Einfacher gesagt fragen die Forscher nicht nach einem möglichen Einfluss von »Glauben« auf die Bewältigung des Übergangs in den Ruhestand oder auf die positive Gestaltung des Ruhestandes. Wohlgemerkt: Die Ergebnisse der religionspsychologischen Forschung hinsichtlich der Förderung von Gesundheit durch Religiosität und Spiritualität sind ambivalent.63 Glaube kann zu stabiler/erneuerter Gesundheit beitragen. Freilich gibt es auch Erfahrungen mit Religiosität und Spiritualität, die weniger förderlich wirken. Dennoch ist es ein Thema: Religiosität und Spiritualität wirken in vielfältiger Weise auf Gesundheit und Wohlbefinden ein. Das ist auch im Blick auf ältere Menschen gut erforscht. Neil Krause etwa hat sich mit dem Einfluss von Dankbarkeit auf depressive Stimmungen und größere finanzielle Sorgen im Alter beschäftigt und attestiert denen, die eine intensivere Glaubenspraxis pflegen, einen günstigeren Umgang mit altersbedingten Schwierigkeiten.64 Ebenso können religiös bedingte Hoffnungen nachweislich im Alter Ängste vor Krankheit, Sterben und Tod mindern.65 Umso mehr mag es überraschen, dass die Studien zum Ruhestand, die hier vorlagen, den gesamten Lebensbereich von Religiosität und Spiritualität mit keinem Wort erwähnen.66

63 Alle Einsichten und Verweise in diesem Unterabschnitt verdanke ich Hinweisen von Norina Ullmann, Doktorandin in Praktischer Theologie in Heidelberg, die an einer Dissertation zum Einfluss von Religiosität und Spiritualität auf die Gesundheit von Menschen arbeitet. Dabei arbeitet sie u. a. die Multivalenz von Religiosität und Spiritualität heraus: »Glaube« ist demnach möglicherweise förderlich oder hinderlich oder auch förderlich und hinderlich für die Gesundheit (im umfassenden Sinn verstanden) von Menschen. 64 Vgl. Neal Krause: Religious Involvement, Gratitude, and Change in Depressive Symptoms Over Time. International Journal for the Psychology of Religion, 3/19, 2009, 155–172. 65 Vgl. Neal Krause/Kenneth I. Pargament/Gail Ironson: In the Shadow of Death. Religious Hope as a Moderator of the Effects of Age on Death Anxiety. The journals of gerontology. Series B, Psychological sciences and social sciences, 4/73, 2018, 696–703. 66 Dies ruft geradezu nach einer eigenen Studie, die dieser Frage explorativ nachgeht.

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Zweitens: Christliche Schwellenkunde Ein erster Beitrag zum Thema ist die spezifische Expertise von Religionen für Übergänge. Auch der christliche Glaube ist außerordentlich »schwellenkundig«. In praktisch-theologischen Überlegungen spielt die Begleitung von Menschen »von Fall zu Fall«67 eine große Rolle: An den Wendepunkten der Biografie (also anlässlich der »major live events«) ist die Kirche erfahren und kundig. Zugleich ist dieser Dienst für viele Menschen ein plausibles Angebot, und zwar für mehr Menschen als sich sonst regelmäßig sonntags im Gottesdienst einfinden. Die sogenannten Kasualien (vor allem Taufe, Konfirmation, Trauung und Bestattung) sind fallbezogene Dienste der Kirche, die seelsorgliche Begleitung und besondere, biografiebezogene Gottesdienste umfassen. Sie gehören zu den zentralen Diensten der Gemeinden und ihrer Pfarrpersonen. In den letzten Jahren hat sich der Katalog der Kasualien erweitert (z. B. durch den Schulbeginn als Übergang im Leben von Kindern – und Eltern). Dabei geriet auch der Ruhestand in das Blickfeld derer, die über Kasualien nachdenken.68 Dahinter steht die Einsicht, dass Schwellen nicht immer leicht zu bewältigen sind. Der Übergang von einer Lebensphase in die andere verlangt nach einem Abschied, unter Umständen mit Trauer, und führt zu einem Neuanfang, der »spannend« im Sinne von »erwartungsvoll«, aber auch von »angsteinflößend« ist. Die Kasualie als »rite de passage«69 ist ein Beitrag der christlichen Gemeinschaft, die Menschen beisteht, damit sie den Schritt über die Schwelle in Gemeinschaft mit anderen schaffen. Dabei soll der kirchliche Dienst helfen, den Abschied und Neuanfang aus der Sicht des Glaubens, also vor Gott selbst, zu bedenken, zu begehen und im Vertrauen auf Gottes Segen zu feiern. Friedrich Nieber­gall schrieb schon 1909, dass sich hier Menschen »an einem wichtigen Lebenswendepunkt […] vor Gottes Angesicht stellen« und dass es gelte, an »besonderen Höhepunkten des Einzel- oder Gemeindelebens das Göttliche mit seinem Segen und seiner verpflichtenden Macht an die Menschen heran[zu]bringen.«70 67 Vgl. Kristian Fechtner: Kirche von Fall zu Fall. Kasualien wahrnehmen und gestalten. Gütersloh 2011. 68 Vgl. Christian Albrecht: Kasualtheorie. Geschichte, Bedeutung und Gestaltung kirchlicher Amtshandlungen. Tübingen 2006. Dort heißt es: »Diese neuen Anlässe stehen aber hinsichtlich der mit ihnen gegebenen einschneidenden individuell-biographischen oder familienbiographischen Veränderungen den klassischen Anlässen in nichts nach.« (S. 120) Vgl. auch Ulrich Fischer/Reiner Marquard (Hg.): Gelegenheit macht Gottesdienst. Liturgische Hilfen für lebensgeschichtliche Anlässe. Stuttgart 1996. 69 Vgl. Arnold van Gennep: Übergangsriten (Les rites de passage). Frankfurt a. M. 1986. 70 Friedrich Niebergall: Die Kasualrede. 2. Aufl. Leipzig 1907, S. 18 f.; zitiert nach Kristian Fechtner und Christian Mulia (2009), 186, Anm.

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Auch hier geschieht Integration: Ethnologische Einsichten in Übergangsrituale71 verknüpfen sich mit praktisch-theologischen Ritualtheorien. Die Erkundung der allgemeinen, schlicht menschlichen Herausforderung durch »Schwellen« wird so theologisch gedeutet und für den kirchlichen Dienst fruchtbar gemacht. Schon in der Zeit der Weimarer Republik kommt die Goldene Konfirmation zu den »klassischen« Kasualien hinzu, wie Kristian Fechtner und Christian Mulia zeigen konnten.72 Das hat mit einer allmählichen Veränderung des Blicks auf das Alter zu tun: »Alter ist endgültig spätestens zur Mitte der Weimarer Republik nicht länger eine durch Qualitäten des nahen Lebensendes, durch Gebrechlichkeit und zunehmende Kraftlosigkeit geprägte, kurze Phase des Ablebens. […] Alter wird jetzt, retrospektiv gesehen, immer mehr zu einer erwerbsarbeitsfernen Lebensphase, die neu organisiert, gesichert und mit Sinn gefüllt werden muß.«73 Etwa zur Zeit der Versetzung in den Ruhestand, 50 Jahre nach der Konfirmation, laden seither Kirchengemeinden zur Goldenen Konfirmation ein. Es soll nicht verschwiegen werden, dass dies nicht selten mit stark eingeschränkter Motivation geschah: Mühsam ist es, allein die Anschriften zu sammeln. Zudem hat man es häufig mit »Jubelkonfirmanden« zu tun, deren letzter Besuch in einem kirchlichen Gebäude geraume Zeit zurückliegt. Der Bezugspunkt Konfirmation ist dabei so entlegen, dass es schwierig ist, dazu jetzt noch Substanzielles zu sagen. So ist diese Kasualie etabliert, aber kirchlicherseits nicht immer geliebt. Bei aller Individualisierung der Lebensläufe liegt die Goldene Konfirmation immer noch für die meisten mindestens »in der Nähe« ihres beginnenden oder vor einiger Zeit begonnenen Ruhestands. Das lässt unter Umständen noch einmal neu auf diese Kasualie blicken und ihre Chancen neu bewerten. Das sogenannte »dritte Alter«74 beginnt für die meisten in dieser Lebensphase: die Entpflichtung von Erwerbstätigkeit und der Beginn einer eigenen und im Unterschied zur Hilfsbedürftigkeit im »vierten Alter« durchaus aktiven Lebensphase – nur eben auch 71 Vgl. vor allem Viktor Turner (2000). 72 Vgl. Kristian Fechtner/Christian Mulia: Goldene Konfirmation zwischen Jubiläumsfeier und Alterskasualie. PrTh, 44, 2009, 184–192. 73 Gerd Göckenjan: Das Alter würdigen. Altersbilder und Bedeutungswandel des Alters. Frankfurt a. M. 2000, S. 329, zitiert nach Fechtner/Mulia 2009, S. 185, Anm. 7. 74 Vgl. Peter Laslett: Das Dritte Alter. Historische Soziologie des Alterns. Weinheim/München 1995, S. 261–284.

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»als eine riskante Schwellenzeit im Lebenszyklus«75. Die Risiken und Nebenwirkungen des beginnenden Ruhestandes kamen ja ebenso zur Sprache wie die gewachsenen »Möglichkeitsräume im Alter«76. Wie der Aufbruch in das eigene Leben mit der Konfirmation zusammenhängt, vermag die Goldene Konfirmation als »Initiation ins Dritte Alter«77, den Aufbruch in neue Freiheiten und Möglichkeiten zu feiern (und nicht nur das Altwerden zu beklagen oder nostalgisch an die alte Heimat und längst verlorene jugendliche Gemeinschaften zu erinnern).78 Insofern die Goldene Konfirmation wie die Konfirmation im Jugendalter auf die Taufe zurückbezogen ist, diese erinnert und ihre Zusage vergewissert, wie diese aber auch Ruf in die Nachfolge79 ist, ist sie nicht allein rückwärtsgewandt, sondern auf eine sich eröffnende Zukunft im Glauben ausgerichtet. Neben diesem bereits älteren Format der Goldenen Konfirmation gibt es auch spezifische neuere Liturgien für den Eintritt in den Ruhestand, so z. B. vom Zentrum für Seelsorge der Hannoverschen Landeskirche (»Übergangsweise«).80 Die Liturgien thematisieren den Umbruch und sprechen in Liedern, Gebeten und Ansprachen die »riskante Schwellenzeit« seelsorglich an: den Dank, das Abschiednehmen, die Sorgen, aber auch die neuen Möglichkeiten, denkbaren Aufgaben und gewährten Freiheiten. Aufschlussreich ist die Textauswahl für die Predigt: Die Favoriten unter den erwägenswerten biblischen Gestalten sind Abraham und Sara, insbesondere Gottes Anruf und ihr später Aufbruch in ein abenteuerliches Leben.81 Vielleicht lassen sich verschiedene Aspekte unseres Themas hier verknüpfen: An die oftmals mäßig geliebte Kasualie Goldene Konfirmation könnte sich das Ruhestandsthema neu anlagern. Das kirchliche Ritual, angereichert durch Gesprächsangebote, könnte Menschen an der Schwelle zwischen Berufsleben und Ruhestand von hier nach dort begleiten: mit Dank und auch mit der Chance, manches Ungute in Beichte und Klage zurückzulassen, mit Bitte und Segen für das, was nun kommt. Es wäre eine festliche Gelegenheit, die zur feierlichen Verabschiedung in der jeweiligen »Firma« hinzuträte, aber Ähnliches zu leisten imstande wäre, nun aber mit Blick auf Gottes Wort und Gebet. 75 76 77 78

Fechtner/Mulia 2009, S. 188. Fechtner/Mulia 2009, S. 188. Fechtner/Mulia 2009, S. 190. Fechtner/Mulia 2009, S. 190: »Gegen die rückwärtsgewandte Dominanz des Gewesenen gilt es aber, erinnerte Hoffnung und Möglichkeitssinn nach vorne zu wenden […].« 79 Vgl. Dietrich Bonhoeffer: Nachfolge. München 1971, S. 201. 80 Vgl. Anita Christians-Albrecht/Dagmar Henze/Inken Richter-Rethwisch: Übergangsweise. Gottesdienste zum Übergang in den Ruhestand (Zentrum für Seelsorge im Haus Kirchlicher Dienste der Ev.-Luth. Landeskirche Hannovers). Hannover 2020. 81 Vgl. Christians-Albrecht/Henze/Richter-Rethwisch 2020, S. 10 u. 15–17.

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Im Sinne »gestreckter« Kasualien wäre hier auch Erwachsenenbildung gefragt, also die gemeinsame Vorbereitung der nun anhebenden Lebensphase. Die Themen, die in der sozialwissenschaftlichen Exploration angesprochen wurden, ließen sich jetzt im gemeindlichen Gespräch auch vom christlichen Glauben her beleuchten (beispielsweise an vier Abenden oder einem Wochenende – Zeit sollte es jetzt ja geben!): Ȥ Abschied aus dem Berufsleben »on good terms«, Bilanz und »Erntedank« für das Gelungene und Erfolgreiche, aber auch Klage im Blick auf das Unfertige, Zerbrochene, Misslungene, Unerfüllte. Ȥ Rechtfertigung erleben: Bei aller gesunden Freude über das Geleistete bin ich nicht, was ich leiste; bei aller Trauer über das Zurückbleiben gehe ich nicht auf in dem, was nicht genügte, denn durch Christus bin ich Gott recht, für immer und ewig! So predigt der im Glauben gedeutete Ruhestand Gnade. Mehr noch: Nicht die »Verwendbarkeit« macht den Menschen aus – er darf einfach da sein.82 Ȥ Gewinne und Verluste: Nüchterne Wahrnehmung, dass nun etwas zu Ende geht und zu verabschieden und loszulassen ist, dass nun mehr denn je die Ewigkeit in den Blick zu nehmen ist; aber auch Schatzsuche im Blick auf die neuen Möglichkeiten, die Gott hier und jetzt eröffnet. Ȥ Neue Aktivitäten, verbunden mit dem Recht darauf, in der Freiheit der Kinder Gottes »von den Werken zu ruhen«, aber auch mit Lust und Freude die eigenen Charismen neu zu entdecken und ins Spiel zu bringen. Sich an der Schöpfung und am Geschaffenen erfreuen. Ȥ Beziehungen: die Zeit für Menschen genießen und Beziehungen/Freundschaften wieder neu pflegen, vielleicht (bei Verheirateten) das Trauversprechen erneuern und sich den einst zugesagten Segen neu zusprechen lassen, Zeit für Kinder und Enkel haben und etwas Empfangenes an die nächsten Generationen weiterreichen, sich freuen an der Gemeinschaft der Jungen mit den Alten (Sach 8,4 f). Drittens: Jünger im Alter. Was/Wie glaubt ein Rentner bzw. eine Rentnerin? Natürlich können bibelkundlich bewanderte Menschen hier sofort Vorschläge machen. Alternde und alte Menschen bewohnen in großer Zahl die Geschichte, die beide Testamente zu erzählen wissen.83 Im Blick auf den Ruhestand, den 82 Vgl. Steffensky 2005, S. 218 f. 83 Vgl. z. B. Malte Cramer/Peter Wick: Alter und Altern in der Bibel. Exegetische Perspektiven auf Altersdiskurse im Alten und Neuen Testament. Stuttgart 2021.

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sich die Protagonisten der Bibel wohl kaum hätten vorstellen können, könnten wir Heutige vielleicht zwischen zwei Extremen wählen: dem Modell »Abraham/ Sara« und dem Modell »Simeon«: Ȥ Der eine, der 75-jährige Abraham, hat – auch nach eigener Überzeugung – das Leben weitgehend hinter sich. Der große Lebenstraum vom eigenen Kind wird ihm wie seiner Frau Sara wohl unerfüllt bleiben. Er aber wird als Alter nicht in den Ruhestand, sondern auf Reisen geschickt, mehr noch: in ein äußerst ungewisses Abenteuer, auf das er sich einlässt, mit nichts als einem großen Versprechen, aber ohne klaren Plan, von einer spannenden Episode zur nächsten: »in ein Land, das ich dir zeigen will« (Gen 12,1). Werden heutige Ruheständler davon angezogen? Noch einmal neu anfangen, weil die größten Abenteuer nicht hinter, sondern vor ihnen liegen? Oder werden sie eher abgestoßen, weil sie nicht glauben, dass ihre Spannkraft für weitere Abenteuer reicht? Sind Abraham und Sara »Modell« für den frommen Ruheständler? Vielleicht! Vielleicht auch nicht! Ȥ Der andere, der ebenfalls greise Simeon, hat das große Glück, den neugeborenen Jesus in den Armen zu halten und in dem Säugling mehr als ein Bündel Mensch sehen zu dürfen. Das aber ist für ihn der Zeitpunkt, an dem es genug sein darf. Er hat gesehen, wonach er sich sehnte. Mehr kann es jetzt nicht mehr geben: »Herr, nun lässt du deinen Diener in Frieden fahren, wie du gesagt hast, denn meine Augen haben deinen Heiland gesehen« (Lk 2,29 f). Sollten auch heutige Ruheständlerinnen, zumal wenn ihnen das Glück widerfuhr, mit den »erleuchteten Augen des Herzens« (Eph 1,18) wie Simeon »deinen Heiland gesehen« zu haben, auch zur Ruhe kommen und sich allmählich in Frieden zurückziehen, also auf die Ewigkeit hin leben? Ist Simeon ein »Modell« für die fromme Ruheständlerin? Vielleicht! Vielleicht auch nicht! Hier soll ein dritter Vorschlag gemacht werden. Allerdings ist dieses biblische Modell nicht auf den ersten Blick attraktiv. Es gibt ja biblische Texte, die fast jeder gerne hört (oder liest), wenn z. B. von der unverwüstlichen Geduld und Barmherzigkeit Gottes erzählt wird, wie im Gleichnis vom Vater und den beiden verlorenen Söhnen (Lk 15,12–32). Andere Texte haben es schwer, den gleichen Wohlfühlfaktor zu erreichen. Dazu gehört definitiv die Begegnung Jesu mit dem »reichen Jüngling« (Mt 19,16–26). Der sympathische und obendrein fromme junge Mann geht am Ende der Erzählung traurig davon und schließt sich Jesus nicht an. Er hielt die Gebote, aber er konnte es nicht übers Herz bringen, seinen beachtlichen Reichtum loszulassen und sich ohne Wenn und Aber Jesus anzuschließen. Als Christ in westlichen Gefilden muss diese Geschichte 256

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Unbehagen auslösen: »Was, wenn Jesus Ähnliches von mir möchte?« Vielleicht sind wir nicht ausgesprochen reich, aber mit einem festen Dach über dem Kopf, einem monatlichen Gehalt und einer Kranken- und Rentenversicherung ist jede im Weltmaßstab wohlhabend. Wie wäre es, würde Jesus auch so zu uns reden (Mt 19,21): »Willst du vollkommen sein, so geh hin, verkaufe, was du hast, und gib’s den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben; und komm und folge mir nach!« In lutherischer Diktion sind solche Worte auf den ersten Blick »Gesetz«: Sie zeigen uns nicht nur Gottes Willen, sondern decken zugleich unerbittlich auf, wie wenig wir diesem Willen entsprechen (wollen!). Inwiefern aber kann gerade dieses unbequeme Jesus-Wort die Lage von Menschen zu Beginn des Ruhestands (auf-)klären? Wie deutet hier das biblische Wort unser Leben? Um diese Frage beantworten zu können, ist ein kleiner Umweg vonnöten. Dietrich Bonhoeffer musste am 3. August 1941 Hans-Friedrich von Kleist Retzow, einen ehemaligen Konfirmanden, beerdigen, der im Krieg gefallen war.84 Er wählte als Bibelwort einen Satz aus dem Buch der Sprüche (23,26): »Gib mir, mein Sohn, dein Herz, und lass deinen Augen meine Wege wohlgefallen.« Dieser Satz war Hans-Friedrichs Konfirmationsspruch gewesen, nur 3 Jahre vor seinem Tod an der russischen Front. Bonhoeffer deutet nun das Leben des jungen Mannes, indem er durch die Linse des Bibelwortes die wesentlichen Stationen dieses kurzen Lebens betrachtet. Immer wieder neu war es die Bitte Gottes an Hans-Friedrich, ihm sein Herz anzuvertrauen: »Gib mir, mein Sohn, dein Herz …« Immer wieder antwortete Hans-Friedrich auf den Ruf, der an ihn erging: in der Taufe, dann in der »für jedes Leben entscheidende[n] Wendung zum bewussten Glauben«85, im Ringen um ein christliches Leben in Zeiten, in denen das etwas kostete, und auch in der viel zu frühen letzten Stunde seines irdischen Lebens. Bonhoeffer leuchtet den Ruf Gottes aus: »Das heißt ja: Gib mir dich selbst, so wie du bist, enthalte mir nichts vor; gib mir alle deine Gedanken, deine Wünsche, deine Seele und deinen Leib; gib mir alles, gib mir dein Herz, denn es gehört Gott.«86 Zugleich betont er, dass dieser Ruf aus dem väterlichen Herzen Gottes kommt: »Das Herz Gottes, das in Jesus Christus für uns geschlagen, gelitten und geblutet hat, zieht unser Herz an sich.«87 Dieser Gedanke, dass Gott immer wieder nach uns ruft und uns an den Wegkreuzungen unserer Biografie aufs Neue bittet, ihm unser Herz anzutrauen, wirft 84 Dietrich Bonhoeffer: Gesammelte Schriften. Bd. 4: Auslegungen – Predigten. München 1975, S. 578–583. 85 Bonhoeffer 1975, S. 579. 86 Bonhoeffer 1975, S. 580. 87 Bonhoeffer 1975, S. 582.

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ein neues Licht auf die unbequemen Worte Jesu gegenüber dem reichen Jüngling. Es wäre ja auch ein kräftiger Euphemismus, sich als rüstiger Prä-Ruheständler mit einem »Jüngling« zu identifizieren. Aber in Verbindung mit Bonhoeffers Auslegung von Sprüche 23 fällt ein neues Licht auf diesen Bibelabschnitt – und die Existenz des Ruheständlers, insofern Worte Jesu für ihn von Belang sind. Beim »Jüngling« geht es ja um das, was ihn reich macht, aber auch sein Herz bestimmt, sodass er Jesus nicht folgen und das Leben gewinnen kann, zu dem Jesus ihn jetzt ruft. Das ist ja bekanntlich (nach Luther) unser Gott: woran wir unser Herz hängen. Könnte es sein, dass dieser Ruf den Christenmenschen im Laufe seiner Biografie je neu trifft und dass Reichtum Verschiedenes bedeutet, je nachdem, wann uns das Wort Jesu ruft, trifft und bittet, uns ihm neu anzuvertrauen? Dann legt dieses Wort Jesu den Eintritt in den Ruhestand aus. Diese Weggabelung in der eigenen Biografie wäre dann: eine erneute Bitte Gottes, ihm unser Herz anzuvertrauen, und ein erneuter Ruf Jesu, Reichtum loszulassen, um ihm nachzufolgen – in unbekanntes Terrain, aber in den Fußspuren des Meisters. Der Reichtum, der jetzt unser Herz nicht länger besetzen und besitzen soll, wäre dann: die berufliche Position, die Macht und der Einfluss, die innere Bindung daran, wichtig zu sein, weil man eine bestimmte Stellung bezogen hat, die anvertrauten Menschen im beruflichen Feld, die Aufgaben und Zuständigkeiten, Verdienste und Verfügungen, Reputation und Resonanz. All das loslassen, was sich – je näher der Ruhestand rückt – von manchmal sauren Pflichten in süßen Reichtum wandelt! Nicht nur äußerlich (dafür sorgen schon Entlassungsurkunde, Rentenbescheid und geräumtes Büro)! Innerlich! Mit Dank, mit einem Seufzen, mit etwas Aufatmen, aber: loslassen. Verkaufe, was du hast – und überlass es den Armen, die nun den Staffelstab übernehmen (Scherz!). Wir dürfen durchaus den Schmerz spüren, den der reiche Jüngling spürte – nur hoffentlich mit einem anderen Ende. Den Schmerz, nicht mehr »am Drücker« zu sein und irgendwann auch nicht mehr gebraucht zu werden. Nun gut, vom Loslassen sprechen auch die schlauen Ratgeber, die es zum Eintritt in den Ruhestand gibt.88 Aber jetzt wird dieses Loslassen mit einer besonderen Deutung verbunden: Es ist nicht die Aufforderung, »etwas« gegen »nichts« einzutauschen. Vielmehr zieht uns dieser Ruf in die Nähe des liebenden Gottes und lockt uns aufs Neue in die Nachfolge Jesu. Es folgt nicht nichts, aber anderes, und dieses andere wird je nach Lebenslauf auch anders aussehen: Es kann sein, dass ein klarer Schnitt nötig wird oder eine Fortsetzung zu neuen 88 Vgl. z. B. das »Ruhestands-Navi«: https://www.ageforce1.com/component/jdbuilder/page/46 (Zugriff am 4.10.2022).

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Bedingungen und in veränderter Rolle. Es kann sein, dass nun – endlich – die zum Zuge kommen, die im geschäftigen Berufsleben hintenan stehen mussten. Vielleicht geht es wirklich darum (s. o.), das Eheversprechen noch einmal zu erneuern, daran Freude zu finden, den Enkelkindern vorzulesen, oder freundschaftliche Kontakte wiederzubeleben. Es kann eine neue Beauftragung sein, ein neues Tun mit beachtlichen Restkräften. Es kann auch bedeuten, Ja zu den schwindenden Kräften und der fragilen Gesundheit zu sagen und im engeren Lebensradius das Mögliche zu genießen. Es wird einschließen, die Ewigkeit in Augenschein und auch zu Herzen zu nehmen, sozusagen »das Zeitliche zu segnen«. Denn: So erfreulich heutzutage die kurz- und mittelfristigen Aussichten vieler gesunder Ruheständlerinnen sind, so klar ist der Eintritt in den Ruhestand auch ein weiterer Schritt auf jene »Ruhe« zu, die dem Volk Gottes noch vorhanden ist und auf die wir zugehen (Hebr 4,9 f.). Wer da eingeht, der »ruht auch von seinen Werken.« Finaler Ruhestand! Für Christinnen und Christen wird es immer diesen inneren Bezugspunkt geben: Wo geht jetzt der Herr vor mir her und wie folge ich ihm auf seinem Weg durch unsere Lebenswelt, auch als Ruheständler? Wie öffne ich ihm mein Herz? Nachfolge ist nach Bonhoeffer etwas prinzipiell Inhaltsloses.89 Es ist nicht ein Programm (»Zehn Schritte für Ruheständlerinnen und Ruheständler in der Nachfolge Christi«), es ist nur ein Ruf, dem ich folge, und ein Abenteuer, auf das ich mich einlasse – dem Herrn folgen, wo immer er hingeht. Er voran – ich hinterher. Mehr Gemeinsames wird solche Nachfolge vielleicht auch nicht haben. Da mag es dann Abraham und Sara geben, aber auch Simeon. Und ganz andere. Nur dass ich einwillige und den »Reichtum« abgebe, um in der Nachfolge Neues zu empfangen: an Gaben, an Beziehungen, an Aufträgen, an Ruhe, an Grenzen des Irdischen und Zeitlichen und an Hoffnung auf die Erfüllung in der Ewigkeit.

6 Response: »Entschuldige, das ist mein erster Ruhestand. Ich übe noch!« (Heinrich Lohse)90 Turbulenzen sind normal. Auch der »Pappa ante portas« sieht das irgendwann ein und kann es seiner Renate eingestehen: »Ich übe noch!« Eigentlich ist Heinrich Lohses Satz von besonderer Weisheit. Es ist nie einfach, die Schwellen im Leben zu überschreiten und das Alte zurückzulassen, das so vertraut war, 89 Vgl. Bonhoeffer 1971, S. 29. 90 Zitate des Films auf: https://de.wikiquote.org/wiki/Pappa_ante_portas (Zugriff am 28.01.2022).

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selbst wenn es meist mühsam war. Es ist immer ein wenig furchterregend, den neuen Lebensraum zu betreten, den wir noch nicht kennen. Immerhin bedeutet Nachfolge: Der, den wir kennen, ist uns immer einen Schritt voraus und stets in unserer Nähe. So gesehen ist der Ruhestand eine Übung in des Wortes mehrfachem Sinn: Wir müssen es erst einüben, Ruheständlerin zu sein. Unsere »Response« nach erzählter Erfahrung, sozialwissenschaftlicher Exploration und theologischer Reflexion ist eben kein Programm. Es ist ein anfängliches Üben: Es ist nicht schlimm, wenn der Anfang manches Stolpern einschließt, wenn sich Ehepartner erst wieder finden müssen, die Tage sich komisch anfühlen und der frisch Verrentete sich so merkwürdig benimmt wie Herr Lohse. Es ist aber auch eine Übung im Sinne des regelmäßigen Übens. Es bedeutet Arbeit, im Ruhestand neu anzufangen; die »Baustellen« sind oft genug genannt worden. Und dann ist es Übung im Sinne des Ausübens. Irgendwann sind wir im neuen Stand angekommen. Jetzt leben wir in dieser besonderen Variante der Nachfolge Christi. Und hoffentlich merken wir dann: Auch das ist ein gesegneter Stand.

Literatur Christian Albrecht: Kasualtheorie. Geschichte, Bedeutung und Gestaltung kirchlicher Amtshandlungen. Tübingen 2006. Robert C. Atchley: The sociology of retirement. Hoboken (NJ) 1976. Oswald Bayer: Martin Luthers Theologie. Eine Vergegenwärtigung. 2. Aufl. Tübingen 2004. Felix Bittmann: Beyond the U‐Shape. Mapping the Functional Form Between Age and Life Satisfaction for 81 Countries Utilizing a Cluster Procedure. Journal of Happiness Studies, 22, 2021, 2343–2359. Dietrich Bonhoeffer: Nachfolge. München 1971. Dietrich Bonhoeffer: Gesammelte Schriften. Bd. 4: Auslegungen – Predigten. München 1975. Peter Bukowski: Die Bibel ins Gespräch bringen. 4. Aufl. Neukirchen-Vluyn 1999. Anita Christians-Albrecht/Dagmar Henze/Inken Richter-Rethwisch: Übergangsweise. Gottesdienste zum Übergang in den Ruhestand (Zentrum für Seelsorge im Haus Kirchlicher Dienste der Ev.-Luth. Landeskirche Hannovers). Hannover 2020. Malte Cramer/Peter Wick: Alter und Altern in der Bibel. Exegetische Perspektiven auf Altersdiskurse im Alten und Neuen Testament. Stuttgart 2021. Karin Ewert: So verändert sich die Zufriedenheit im Laufe des Lebens. 23.02.2021. https://www. quarks.de/gesellschaft/psychologie/so-veraendert-sich-die-zufriedenheit-im-laufe-des-lebens/ (Zugriff am 12.02.2022). Kristian Fechtner: Kirche von Fall zu Fall. Kasualien wahrnehmen und gestalten. Gütersloh 2011. Kristian Fechtner/Christian Mulia: Goldene Konfirmation zwischen Jubiläumsfeier und Alterskasualie. PrTh, 44, 2009, 184–192. Sigrun-Heide Filipp/Peter Aymanns: Kritische Lebensereignisse und Lebenskrisen. Vom Umgang mit den Schattenseiten des Lebens. 2. Aufl. Stuttgart 2018.

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»Verkaufe alles, was du hast …«

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Autorinnen und Autoren

Waltraud Belser, Lehrerin Realschule, Lerntrainerin, M. A. in Systemischer Beratung, Ausbildung in Pessotherapie, Hypnosystemischer Kommunikation und Emotionsfokussierter Therapie, ist seit 2019 selbstständig als Beraterin und Coach von Familien, Paaren und Einzelpersonen tätig. Sarah Bolz, Diplom-Sozialpädagogin, M. A. Integrative Beratung, ZRM®Trainerin, DiSG®-Trainerin, ist seit 2022 als Psychosoziale Beraterin beim Studierendenwerk Thüringen tätig. Dr. rer. nat. Dietmar Czycholl, Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Supervisor BDP, Fachpsychologe für Verkehrspsychologie BDP, Klinischer Psychologe BDP, ist seit 2003 als Psychotherapeut in eigener Praxis mit Niederlassungen in Freudenstadt, Reutlingen, Göppingen und Schwäbisch Gmünd tätig. Dr. Ulrich Giesekus, Psychologe, ist Professor für Psychologie und Counseling an der Internationalen Hochschule Liebenzell und klinischer Psychologe in freier Praxis. Dr. Heinzpeter Hempelmann, evangelischer Pfarrer, Philosoph, ist Honorarprofessor an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg und an der Internationalen Hochschule Liebenzell. Er ist wissenschaftlicher Direktor von TANGENS – Institut für Kulturhermeneutik und Lebensweltforschung in Marburg. Dr. Michael Herbst, evangelischer Pfarrer, war von 1996 bis 2021 Professor für Praktische Theologie an der Universität Greifswald und ist seit 2004 Direktor des Instituts zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung der Universität Greifswald. Dr. Eva Maria Jäger, Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin (VT), Supervisorin und Selbsterfahrungsleiterin (DGVT, KIRINUS-CIP), ist Professorin für Soziale Arbeit mit dem Schwerpunkt Lebens- und Sozial­beratung 262

Autorinnen und Autoren

an der Internationalen Hochschule Liebenzell. Zusätzliche Ausbildungen in Rational-­Emotive Therapie, Systemischer Beratung, Hypnotherapie, Traumatherapie, Körpertherapie, Ego-State-Therapie sowie als SAFE-Mentorin, Geistliche Begleiterin und Spiritualin. Dr. med. Matthias Samlow, Krankenpfleger, Humanmediziner, Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie (VT, PT, EA, EMDR), ist in kassenärztlicher Praxis für Psychotherapie in Stuttgart tätig sowie Dozent bei der Bildungsinitiative für Prävention, Seelsorge und Beratung, Kirchheim unter Teck, am de’ignis-­Institut für Psychotherapie und christlichen Glauben und an der Internationalen Hochschule Liebenzell. Dr. Dr. h. c. Friedemann Schulz von Thun war von 1975 bis 1999 Professor für Pädagogische Psychologie, mit besonderer Ausrichtung auf Kommunikationspsychologie. Bekannt wurde er durch seine Trilogie »Miteinander reden 1–3«, in der er u. a. das Kommunikationsquadrat sowie das Modell vom Inneren Team entfaltet. Seit seiner Emeritierung leitet er das Schulz von Thun Institut für Kommunikation in Hamburg. 2012 erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität St. Gallen. Dr. Michael Utsch, evangelischer Theologe, Psychologischer Psychotherapeut, ist seit 1997 Referent der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen. Er ist seit 2013 Honorarprofessor für Religionspsychologie der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg und gibt Seminare für kultursensible klinische Religionspsychologie an deutschsprachigen Universitäten, Kliniken und Einrichtungen. Nebenberuflich ist er in einer christlichen Praxisgemeinschaft in Berlin tätig.

Autorinnen und Autoren

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